Religion - Imagination - Ästhetik: Vorstellungs- und Sinneswelten in Religion und Kultur 9783666540318, 9783525540312, 9783647540313

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Religion - Imagination - Ästhetik: Vorstellungs- und Sinneswelten in Religion und Kultur
 9783666540318, 9783525540312, 9783647540313

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Critical Studies in Religion/ Religionswissenschaft (CSRRW) Herausgegeben von Gregor Ahn, Oliver Freiberger, Jürgen Mohn, Michael Stausberg

Band 7

Vandenhoeck & Ruprecht

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Religion – Imagination – Ästhetik Vorstellungs- und Sinneswelten in Religion und Kultur

Herausgegeben von Lucia Traut und Annette Wilke

Vandenhoeck & Ruprecht

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Mit 43 Abbildungen und 11 Farbtafeln

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-54031-2 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Martin Radermacher, Judith Stander, Lennart Bohmann Druck und Bindung: CPI buchbücher.de, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt Vorwort ..........................................................................................................9 Annette Wilke

Einleitung .....................................................................................................17 Lucia Traut, Annette Wilke

Weiterführende Literatur ..............................................................................71

Teil I: Imaginationstechniken Imaginationstechniken .................................................................................75 Anne Koch, Brigitte Luchesi, Annette Wilke, Katharina Wilkens

Götter zu Gast im Bazar Nordindische Jhanki-Bilder als Stimuli der Einbildungskraft .....................81 Brigitte Luchesi

Inkorporierte Imagination Geistertänze und Exorzismus in Ostafrika .................................................107 Katharina Wilkens

Imagination, Suggestion und Trance Suggestionsforschung und Religionsästhetik zu Heilung ..........................131 Anne Koch, Karin Meissner

Aktive Imagination im Tantra Am Beispiel des Ritualmanuals Parasurama-Kalpasutra ...........................155 Annette Wilke

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Inhalt

Teil II: Imaginationsräume Imaginationsräume .....................................................................................193 Adrian Hermann, Isabel Laack, Sebastian Schüler

Glastonbury als spirituelles Zentrum Imagination einer religiösen Topographie zwischen sinnlicher Wahrnehmung und religionsgeschichtlicher Deutung ....................197 Isabel Laack

Kreativität, Moral und Metapher Gebetsräume als Orte imaginativer Praxis .................................................213 Sebastian Schüler

Imagining Mount Meru Mediale Bedingungen räumlicher Imagination und der Wandel kosmo-geographischer Vorstellungen im buddhistischen Modernismus des 19. Jahrhunderts .................................................235 Adrian Hermann

Teil III: Imaginationspolitiken Imaginationspolitiken .................................................................................271 Katja Rieck, Lucia Traut, Katja Triplett

Jesuitische Imagination und katholische Identitätsbildung Imaginationsstilistik, -didaktik und -politik in den Großen Exerzitien des Ignatius von Loyola ..................................................................275 Lucia Traut

Religiöse Ästhetik, Imagination und die Politisierung des Fortschritts in Indien 1870–1930........................................................................315 Katja Rieck

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Inhalt

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Buddhist Superman Imagination und Bild im buddhistischen Diskurs des japanischen Mittelalters am Beispiel der narrativen Bildrolle über den Heiligen Hōnen ...............................................................................351 Katja Triplett

Teil IV: Imaginationsgeschichte Imaginationsgeschichte ..............................................................................383 Alexandra Grieser, Jens Kreinath, Jens Kugele

„Zusammengebraute kollektive Bilder“ Stationen des Hexen-imaginaire ................................................................387 Jens Kugele

Imagination – Visualität – Repräsentation Religionsästhetische Konstruktion der Kategorie der zentralaustralischen Aborigines und das Paradigma der Fotografie ........................................................................................407 Jens Kreinath

Imaginationen des Nichtwissens Zur Hubble Space Imagery und den Figurationen des schönen Universums zwischen Wissenschaft, Kunst und Religion ..............451 Alexandra Grieser (unter Mitarbeit von Kathrin Baumstark)

Schlussreflexionen – Ergebnisse des Bandes.............................................487 Annette Wilke

Farbtafeln ...................................................................................................511 Angaben zu den Autoren ............................................................................521 Index ...........................................................................................................527

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Vorwort Manche Topoi und Forschungsthemen, so evident und gewinnbringend sie auch erscheinen mögen, bleiben im wissenschaftlichen Diskurs – zu Unrecht – zuweilen lange unentdeckt und kaum bearbeitet. Die sinnliche Ästhetik von Religion war lange Zeit solch ein unterbelichtetes Thema im religionswissenschaftlichen Diskurs und ähnlich steht es mit dem Begriffsfeld und Gegenstand ‚Imagination‘. Dies ist erstaunlich, denn eigentlich leuchtet es intuitiv ein, dass Imagination – die menschliche Einbildungsund Vorstellungskraft – grundlegend mit Religion zu tun hat und somit in das Arbeitsgebiet der Religionswissenschaft fällt. Imagination stellt eine religiöse und religionswissenschaftliche Schlüsselkategorie dar, weil Imagination maßgeblich an religiöser Sinnbildung beteiligt ist und Religion und Imagination Wesentliches teilen und funktional ineinander übergreifen, indem sie Nichtanwesendes anwesend machen und in Erfahrungs-Welten überwechseln lassen, die räumliche, zeitliche und körperliche Grenzen überschreiten, aber dennoch zugleich nur über sinnliche, körperliche und materielle Medien soziale Wirksamkeit entfalten und kognitiv-affektive Wahrnehmungsschemata erzeugen. Der Band bearbeitet erstmals das bislang zu wenig explorierte enge Verhältnis von Religion und Imagination und legt einen Hauptfokus auf ihr Wechselspiel mit der Ästhetik, d. h. der Sinneswahrnehmung zugänglichen Verkörperungen und Medien. Die zugrunde gelegte These „keine Religion ohne Imagination“ wird kontextsensitiv, analytisch fundiert und variantenreich dargelegt, ohne in problematische Vereinseitigungen zu verfallen, die dem Alltagsverständnis von Imagination häufig anhaften und selbst wissenschaftliche Darstellungen immer wieder eingefärbt haben: Weder wird Imagination als reines Wahngebilde verstanden, noch ihre schöpferische Kraft idealisierend überhöht. Mit der differenzierten systematischen Erarbeitung von ‚Imagination‘ als critical term1 zeigt der Band, welch hohes Analyse- und Erklärungspotenzial ein vertieftes Nachdenken über Imagination, Imaginieren und über die vielfältigen kulturellen Formen und historischen Dynamiken des (kollektiven) Imaginären besitzt, etwa um longuedurée-Phänomene wie auch religiösen Wandel zu erfassen, rituelle Effizienz zu erklären und die interaktive Verknüpfung von Individuum und Gesellschaft, Sinneswelten und Sinnwelten, Somatik und Semantik zu beleuchten. Es ist die komplexe Wechselseitigkeit von innerer Wahrnehmung ————— 1

Dieser Begriff findet sich in der Einleitung (Kap. 1) breiter ausgeführt.

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Annette Wilke

und äußeren Sinneseindrücken, von individueller Phantasie und kulturellsymbolischer Kommunikation, die Imagination zu einem besonders fruchtbaren Gegenstand gerade der Religionsästhetik macht. Das Unterfangen dieses Bandes, Imagination, Religion und Ästhetik zusammen zu denken, ist insofern innovativ zu nennen. Die Aufsatzsammlung bringt neue Perspektiven in die kulturwissenschaftliche Religionswissenschaft und in bisherige Imaginationstheorien ein. Zum Thema Religion und Imagination und ihren materiellen und sinnlichen Ausdrucksformen und zur kulturellen Vielfalt der Imagination, des Imaginierens und des Imaginären in der Religionsgeschichte Europas und anderer geographischer Räume gibt es bislang nur sehr wenig Material. Die Ausnahmen, die die Regel bestätigen, sind oft außerhalb der Religionswissenschaft entstanden – etwa in der theologischen Literatur und den Geschichtswissenschaften, wobei entsprechend Religion christozentrisch akzentuiert oder peripher blieb. Der Band bezweckt, zur Schließung dieser Forschungslücke beizutragen. Er tut dies in einer engen Verschränkung von Theorie und Empirie und aus spezifisch religionsästhetischer Perspektive. Dieser Fokus verdankt sich einem innovativen Entstehungsprozess innerhalb des „Arbeitskreises Religionsästhetik“ der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft (DVRW), der Einzelforschungen und intensiven wechselseitigen Austausch untereinander verband. Zum methodischen Vorgehen wurden dabei nicht nur gemeinsame Fragehorizonte entwickelt, die sich in den Theorieteilen Imaginationstechniken, Imaginationsräume, Imaginationspolitiken und Imaginationsgeschichte und ihrer wechselseitigen Verknüpfung niederschlugen. Vielmehr wurden diese Theorieteile nach einem im Arbeitskreis bereits ‚altbewährtem Rezept‘ in Gemeinschaftsarbeit und wechselseitiger Kritik verfasst. Auch der Entstehungsprozess dieses Sammelbandes war somit innovativ. Die Verknüpfung von Einzelforschungen mit gemeinsam erarbeiteter Fragestellung und Konzeptualisierung ist ein in der Forschung selten praktiziertes Verfahren und ein näherer Blick auf diese Praxis und die religionsästhetische Klammer ist deshalb von Interesse. Als sich im Jahr 2007 der Arbeitskreis Religionsästhetik in München erstmals formierte, war mit dem religionsästhetischen Fokus auf den sinnlichen Wahrnehmungsräumen von Religion einer Forschungsausrichtung Raum gegeben, die sich erst seit wenigen Jahren in der Religionswissen-

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Vorwort

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schaft zu etablieren begonnen hatte2. Auf viele junge und auch nicht mehr so junge Religionswissenschaftler/innen wirkte der religionsästhetische Ansatz erfrischend, da er einen neuen bzw. noch zu wenig explorierten Gegenstandsbereich eröffnete und eine Lücke in der fachlichen Theoriebildung zu füllen versprach. Das erste und die folgenden Vernetzungstreffen stießen deshalb auf großen Enthusiasmus. Sie brachten Austausch unter den Beteiligten über ihre unterschiedlichen religionsästhetischen Projekte und Interessen und wirkten anregend nicht nur auf weitere Einzelstudien – etwa zu Bewegung, Körper, materieller Kultur, Visualität oder Klanglichkeit in den Religionen unterschiedlicher kultureller Kontexte. Es begann vielmehr auch eine ausgesprochen fruchtbare Phase der Kooperation. In den jährlichen Arbeitskreistreffen fanden Workshops zu unterschiedlichen relevanten Themen statt, die von einzelnen Standorten ausgewählt, schon im Vorfeld auch von den anderen Mitgliedern des Arbeitskreises zum Austausch in intensiver Diskussion aus ihrer je eigenen Forschungsperspektive vorbereitet wurden. Dabei entstand der Gedanke, in Gemeinschaftsarbeit Grundbegriffe oder critical terms der Religionsästhetik zu erarbeiten und zu publizieren und damit über das materialreiche Gegenstandsfeld hinaus auch auf Theorieebene einen Beitrag zur religionswissenschaftlichen Systematik zu leisten. Ein erster Band war der „Musealität“ gewidmet. Er erschien 2011 als Sonderausgabe im Journal of Religion in Europe 3. Der vorliegende zweite Band hatte am 5. Arbeitskreistreffen Religionsästhetik in Münster (17.–19.06.2011) seine ‚Geburtsstunde‘. Der Vorschlag „Imagination“ in den religionsästhetischen ‚Kanon‘ aufzunehmen, kam von den Münsteraner Religionswissenschaftler/innen und erklärt sich durch ————— 2

Zwar war bereits 20 Jahre zuvor der programmatische Artikel „Religionsästhetik“ im Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe erschienen (Cancik/Mohr 1988: 121–156). Eine intensive Arbeit in diesem Forschungsbereich etablierte sich jedoch erst zu Anfang des neuen Jahrtausends. Für einen ersten Forschungsüberblick siehe Annette Wilke. 2008. „Religion/en, Sinne und Medien: Forschungsfeld Religionsästhetik und das Museum of World Religions (Taipeh)“. In: Wilke, Annette und Esther-Maria Guggenmos. Im Netz des Indra. Das Museum of World Religions, sein buddhistisches Dialogkonzept und die neue Disziplin Religionsästhetik. Münster&Zürich: Lit Verlag, 205–294; hier 205–232, 244. Seither sind viele weitere Studien zur Religionsästhetik oder religionsästhetischer Prägung erschienen. Das Thema hat sich in der Religionswissenschaft bereits so stark etabliert, dass im Vorwort auf eine weitere Einführung verzichtet wird. Die Gegenstandsfelder und theoretische Verortung der Religionsästhetik sind in der folgenden Einleitung zusammengefasst. Siehe auch die Homepage des Arbeitskreises Religionsästhetik: www.religions-aesthetik.de. Mit Ausnahme des Vorworts werden in den Fußnoten dieses Bandes nur Name, Erscheinungsjahr und Seitenzahl und die vollständigen Angaben in den einzelnen Literaturverzeichnissen genannt. 3 „Relocating Religion(s) – Museality as a Critical Term for the Aesthetics of Religion”. In: Journal of Religion in Europe, 2011, 4.1 (URL: http://brill.publisher.ingentaconnect.com/content/brill/jre/2011).

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Annette Wilke

einen glücklichen Zufall. Lucia Traut, Annette Wilke und Sebastian Schüler (damals noch wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar) hatten sich nämlich fast gleichzeitig in ganz unterschiedlichen Forschungskontexten intensiv mit dem Thema Imagination und Aisthetik/Ästhetik – der menschlichen Vorstellungskraft und ihrer Liaison mit sinnlicher Wahrnehmung – zu beschäftigen begonnen. An erster Stelle ist hier Lucia Traut zu nennen, die mit ihrer Magisterarbeit zu „ritualisierter Imagination“ die eigentliche Inspiratorin des Tagungs- und nun auch Buchthemas war und die ersten Schritte zu einer Promotionsarbeit zu Imagination unternommen hatte. In ihrer unterdessen publizierten Magisterarbeit4 zeigte sie am Beispiel des populären Pen and Paper-Rollenspiels „Das schwarze Auge“, wie ein virtueller Raum gemeinsamen Erlebens aufgebaut wird, ein Raum geteilter Imagination, indem mehrere Faktoren zusammenspielen: die Aktivierung der Vorstellungskraft und Phantasie durch ein rudimentäres Erzählgerüst und den strukturierten Einsatz sinnlicher Medien wie Bilder, Musik und Würfelspiel. Weit über das DSA-Spiel hinaus entwickelte sie die zentrale These: Kein Ritual ohne Imagination, und machte damit eine Leerstelle in bisherigen Ritualtheorien dingfest – und diese Leerstelle gilt auch für die Religionsforschung insgesamt. Wie es der Zufall so wollte, war ich (Annette Wilke) zeitgleich ebenfalls auf das Thema Imagination gestoßen und auch dies in einem rituellen Kontext, nämlich im Rahmen eines DFGForschungsprojektes zu einem tantrischen Ritualmanual. Neben teilweise heterodoxen Körperriten enthält dieser Text zahlreiche Visualisationen, also bewusste aktive Imaginationen, die als spirituelle Techniken eingesetzt werden, um z. B. exzessiven Alkoholgenuss als Gottbesessenheit wahrzunehmen. Ein Erklärungsmodell schien mir hier, was die Kognitionswissenschaftler cognitive blending nennen. Intensiver mit Kognitionswissenschaft und implizit auch mit Imagination beschäftigte sich aber ebenso Sebastian Schüler in seiner Promotionsarbeit und dies anhand anderer Modelle der cognitive science. Es gab am religionswissenschaftlichen Seminar in Münster somit einen guten Nährboden, sich für das Thema Imagination zu interessieren, sich in unterschiedlicher Weise damit zu befassen und es für fruchtbar zu halten, als Tagungsthema für den Arbeitskreis Religionsästhetik vorzuschlagen. Ziel war am entsprechenden Treffen 2011 noch kein Sammelband. Vielmehr sollte ein in der Religionswissenschaft bislang unterdeterminierter Begriff diskutiert und untersucht werden – inhaltlich-religionshistorisch, systematisch-theoretisch und methodisch. Es schien uns gewinnbringend zu —————

4 Traut, Lucia. 2011. Ritualisierte Imagination: Das Fantasy-Rollenspiel „Das Schwarze Auge“. Münster: Lit.

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Vorwort

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reflektieren, wie sich Imagination in den je eigenen Forschungsfeldern der Arbeitskreismitglieder artikuliert. Dies war der Auftakt zu einer vertieften Reflexion auf einer abstrakteren Ebene und hier kam der theoretische Anspruch, Imagination intensiver als critical term der Religionswissenschaft zu erarbeiten, mit hinein. In der Tat bewies sich die Fruchtbarkeit der Thematik für uns alle, sodass der Wunsch nach einer gemeinsamen Publikation entstand. Der vorliegende Band zeigt, wie anregend das Thema war, wie spannend und vielfältig es ist und wie multimethodisch es bearbeitet werden kann. Die Idee, Imagination als religiöse Schlüsselkategorie herauszuarbeiten und darüber hinaus als analytischen critical term der Religionswissenschaft und Religionsästhetik zu etablieren, verdankt sich somit einem längeren Entstehungsprozess und Forschungsaustausch, der die innere Konsistenz der vorliegenden Aufsatzsammlung erklärt, ungeachtet der großen inhaltlichen, methodischen und theoretischen Bandbreite, welche die Einzelbeiträge bieten. Die erste Münsteraner Tagung umfasste nach altbewährtem Rezept einen öffentlichen Teil in Form von key-lectures und einen zweiten Teil im engeren Kreis mit Workshops. Das zweite Treffen (2012) war konzeptuellen Überlegungen die Publikation betreffend gewidmet, insbesondere der Strukturierung und Bündelung der geplanten Einzelbeiträge zu bestimmten Clusterthemen, was zu den vier Teilen dieses Buches führte – Imaginationstechniken, -räume, -politiken und -geschichte, denen theoretisch ausgerichtete Einleitungen vorangestellt sind. In der Folge war es für uns alle eine besondere und stimulierende Erfahrung, in den kleineren Gruppen von Autorinnen und Autoren der vier Teile unsere Einzelbeiträge gegenseitig zu lesen, uns auszutauschen und auch zu kritisieren. Besonders intensiv war der dialogische Austausch bei den theoretischen Einleitungen der vier Teile, die in Gemeinschaftsarbeit entstanden. Das ‚Zusammenraufen‘, um zu einem für alle befriedigenden Text zu kommen, war manchmal ein mühsamer und zeitaufwändiger, immer aber zugleich ein wechselseitig befruchtender Prozess, bei dem wir alle von den Perspektiven und Kompetenzen der Anderen profitieren durften. Es ist dabei ein in sich stringenter und zugleich sehr materialreicher Sammelband entstanden, sowohl was die historischen und gegenwartsbezogenen Fallbeispiele, wie auch die Methoden und Theorien ihrer Einordnung und Analyse betrifft. Im Anschluss an die folgende Gesamteinleitung sind Verweise auf einführende und vertiefende Literatur zu Imagination im Allgemeinen und den Einleitungen zu den vier Teilen im Speziellen zu finden, da zugunsten der besseren Lesbarkeit bei letzteren so weit wie möglich auf Zitate und ausführliche Quellenverweise verzichtet wurde. So soll dieser Band den Lesern nicht nur als ‚Lesebuch‘ eine vielfältige und ab-

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Annette Wilke

wechslungsreiche Lektüre verschiedener Beispiele von Imagination in Religion und Kultur bieten, sondern auch als ‚Handbuch‘, möglicherweise sogar ‚Lehrbuch‘, mittels der Einleitungen und der theoretischen Erörterungen in den Einzelbeiträgen einen Zugang zur systematischen Erschließung des Begriffsfeldes Imagination ermöglichen. Wir verstehen den Band – wie das ganze Projekt Religionsästhetik – keineswegs nur als fachinterne Diskussion, sondern als inter- und transdisziplinären Anknüpfungspunkt für alle Disziplinen und Personen, die sich für Religion, Imagination und Ästhetik interessieren. Die Herausgeberinnen danken den Autorinnen und Autoren dieses Bandes, die mit großem Einsatz und Kritikfähigkeit daran mitwirkten. Danken möchten wir aber auch jenen, die in den zwei vorbereiteten Arbeitskreistreffen mitgewirkt haben und maßgebliche Impulse gaben, aber aus unterschiedlichen Gründen nicht an der vorliegenden Publikation beteiligt sein konnten. Hierzu gehört allen voran Hubert Mohr, der als einer der ‚Gründerväter‘ der Religionsästhetik in allen Arbeitskreistreffen für uns alle stets ein unschätzbarer Diskutant war, aber aus persönlichen Gründen seinen Beitrag zurückziehen musste. Dank gilt auch dem Sozialanthropologen Iain Edgar aus Durham, einem der beiden key-lecturers der 5. Arbeitskreistagung, über dessen Thesen zu Imaginations-basierten Forschungsmethoden5 ein produktives Streitgespräch ausbrach. Aufgrund der sprachlichen Voraussetzungen wurde entschieden, nur die Arbeitskreismitglieder im engeren Sinne (außer einer Ethnologin alles Religionswissenschaftler/-innen) am Band zu beteiligen. Wir freuen uns, dass sich Jens Kreinath, unser zweiter key-lecturer, deshalb ebenfalls am Band beteiligen konnte. Zu großem Dank verpflichtet sind wir Judith Stander und Martin Radermacher, den wissenschaftlichen Hilfskräften des Seminars für Allgemeine Religionswissenschaft in Münster, und ebenso Lennart Bohmann, der studentischen Hilfskraft. Sie haben die mühsame Kleinarbeit der einheitlichen Formatierung und Gestaltung übernommen. Unser aller besonderer Dank gilt nicht zuletzt dem Verlag Vandenhoeck&Ruprecht und den Reihenherausgebern, insbesondere unseren ‚Betreuern‘ Jürgen Mohn und Michael Stausberg sowie dem externen Gutachter des peer reviewing für ihre konstruktiven Vorschläge, die Gesamteinleitung zu optimieren. Sehr zu Dank verpflichtet sind wir ferner der DVRW für die Gewährung eines Zuschusses für die Farbabbildungen, die den Band beschließen. Sie sollen verdeutlichen, dass Bilder, Farben und Arrangements nicht nur machtvolle Medien sind, Vor—————

5 Edgar, Iain R. 2004. Guide to Imagework: Imagination-Based Research Methods. London: Routledge.

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Vorwort

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stellungswelten sinnlich zu veranschaulichen, sondern auch Imaginationshilfen und -verstärker für die Rezipienten darstellen und möglicherweise zu neuen, eigenen Imaginationen anregen. Annette Wilke Münster, 18. August 2014

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Einleitung Lucia Traut, Annette Wilke

1. Imagination und Religion – ein Forschungsdesiderat Imagination – das Vorstellungsvermögen oder die Einbildungskraft – beeinflusst das menschliche Leben und Erfahren in vielfältiger Weise. Sie spielt sich nicht nur in Innenwelten und privaten Phantasien ab, sondern prägt all unsere Wahrnehmung, meist ohne dass wir es merken. Sie wirkt im Subjektiven, aber ebenso im Kollektiven – im kulturellen Gedächtnis, in Habitusformen, Werten, Ritualen, religiösen Vorstellungswelten, Weltbildern, Nationalismen, sozialen Zugehörigkeiten, in Dämonisierungen wie in Sakralisierungen, kurzum im kollektiven imaginaire ganzer Sozialverbände – und besonders in den Religionen. Imagination hat dabei nicht nur mit mentaler Bildproduktion und kollektiven ‚großen Erzählungen‘ zu tun, sie wird vielmehr auch sinnlich und materiell stimuliert, medialisiert, reproduziert und transformiert. Solcherart ästhetisch gesättigt und verkörpert ermöglichen die mediale Kommunikation von Imagination und Praktiken des Imaginierens neben der Stabilisierung des Bekannten und persönlicher Interiorisierung neue Erfahrungsräume und Sinnzusammenhänge, die über reine Subjektivität hinausgehen. Sie sind dabei aber nicht nur kreativ und Neues schaffend, sondern auch kanalisierend und disziplinierend. Gerade in Religionen wurde hiervon bewusst und unbewusst Gebrauch gemacht.

Das sind einige Thesen dieses Bandes, der mit ‚Imagination‘ einen Gegenstand und Begriff aufgreift, der in den letzten Jahrzehnten häufig in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskussion auftauchte, aber noch kaum religionswissenschaftlich ausgelotet und spezifisch auf Religionen hin bedacht wurde1. Dies mag verwundern, würde doch wahrscheinlich niemand, schon gar nicht Religionswissenschaftler und Religionswissenschaftlerinnen, bestreiten, dass Vorstellungskraft für Religionen wichtig ist.

—————

1 Erste systematische Ansätze finden sich innerhalb der Religionswissenschaft aber durchaus in Artikeln oder einzelnen Abschnitten von Monographien: Auffarth 2002; Grieser 2008; Koch 2006; Traut 2012; Monographie zum Thema: Traut 2011; Lexikonartikel: van den Doel/Hanegraaff 2006 (begriffsgeschichtliche Untersuchung bezogen auf westliche Begriffs- bzw. europäische Religionsgeschichte); kurzer Artikel zum Stichwort „Phantasie/Imagination“ im Metzler Lexikon Religion mit eher psychologischer Ausrichtung (Görnitz 2000). Keine Erwähnung findet sich jedoch im Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe.

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Lucia Traut, Annette Wilke

In den Religionen wird die Imagination der Gläubigen schon bei den Grundannahmen gefordert: Religionen handeln von transzendenten Wirklichkeiten, heiligen Kosmen, Gottheiten, Geistern und Dämonen, die man nicht mit den physischen Sinnesorganen wahrnehmen kann. In Religionen werden Welten jenseits ‚dieser‘ Welt erschaffen und alltägliche Gegebenheiten sakralisiert, so dass in ihnen etwas ganz anderes gesehen werden kann. Die Gestaltung des spannungsreichen Verhältnisses von Immanenz und Transzendenz kann als Basis für Religion angesehen werden (so u. a. Kleine 2012: 68 ff.). Dabei spielt Imagination eine grundlegende Rolle. Sie macht das Nicht-Beschreib- oder -Greifbare vorstellbar, beschreibbar, behandelbar – kurz: religiös verfügbar. Ohne Imagination wären die Leitunterscheidung Transzendenz – Immanenz und das epistemologische Konzept ‚Transzendenz‘ selbst überhaupt nicht denkbar. Imagination trägt maßgeblich dazu bei, in den religiösen Vorstellungs- und Sinneswelten das biologische Leben und die Welt der Alltagsroutinen zu überschreiten und von der ‚Alltagswelt‘ in die ‚religiöse Welt‘ überzuwechseln. Imagination ermöglicht aber ebenso, Immanentes und Transzendentes, Alltagswirklichkeit und religiöse Wirklichkeit zugleich präsent zu halten und aufeinander zu beziehen, ja zu verschmelzen und so dem Alltagsleben einen religiösen Sinn zu verleihen. Aus diesen Gründen wird die Vorstellungskraft in den Religionen auch oft explizit und bewusst als religiöse Technik eingesetzt, z. B. in Meditationen oder Visualisierungen. Sie ist letztlich jedoch bei jedem religiösen Vollzug implizit beteiligt. Generell lässt sich somit sagen: Imagination nimmt in Religionen eine Schlüsselrolle ein und Religion kann geradezu als Paradefall imaginativer Praxis gelten, da sie wichtige Eigenschaften teilen, nämlich Nicht-Präsentes anwesend zu machen und etwas als etwas anderes zu sehen als es sich den Sinnen darbietet. Imagination ist in Sachen Religion deshalb besonders leistungsstark. Sie ist ein hervorragendes Instrument der Sinngebung und Transformation, indem sie Sinneswelten in Sinnsysteme überführt und Sinnsysteme in Sinneswelten übersetzt. Die Religionswissenschaft war bisher sicherlich nicht blind für Imagination im Zusammenhang mit Religion. So wurden religiöse Vorstellungen und teils auch imaginative Praktiken und Techniken durchaus zum Gegenstand der Forschung, in der Regel allerdings ohne sie zu theoretisieren. Eine umfassende systematische Beschäftigung mit der Imagination als eigenem Gegenstandsbereich und eine Reflexion des Imaginationsbegriffs im Sinne eines metasprachlichen Grundbegriffs oder critical terms stehen bisher noch aus. Genau dieses Projekt verfolgt dieser Band.

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Einleitung

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Der Terminus ‚critical term‘ ist vom Werk Critical Terms for Religious Studies (1998) inspiriert. Der Herausgeber Mark C. Taylor (1998: 6–18) versteht critical term auf mehreren Ebenen, die alle im Imaginationsbegriff des vorliegenden Bandes zusammenkommen, angefangen mit der basalen Ebene eines religionswissenschaftlichen Grundbegriffs, der auf etwas Wichtiges und Zentrales rekurriert (z. B. ‚Gott‘, ‚Opfer‘). ‚Critical‘ meint auch ein selbstkritisches Vorgehen, was eigene (z. B. eurozentrische) Voraussetzungen betrifft. Entscheidend für einen critical term der kulturwissenschaftlichen Religionswissenschaft sind ferner ein multidisziplinärer und multikultureller Fokus und ein mehrperspektivisches Vorgehen. ‚Critical‘ will zudem andeuten, dass beim Begriffsfeld eines critical terms von Polysemie, Fluidität und potentiell offenen Grenzen auszugehen ist. Schließlich – und besonders zentral für unser Thema – ist eine weitere Ebene die metasprachliche Öffnung auf unerwartete Begrifflichkeiten. Genau solch eine unerwartete Begrifflichkeit ist ‚Imagination‘. Nicht nur mit Blick auf das imaginative Moment in Religionen, sondern auch hinsichtlich rezenter Fachdebatten ist es notwendig, ‚Imagination‘ systematisch aufzuarbeiten. Es ist auffällig, dass der Begriff in der Religionswissenschaft (ähnlich wie in den meisten anderen kultur- und humanwissenschaftlichen Fächern wie Indologie oder Soziologie) beständig ohne große Reflexion verwendet wird. Man denke an Jonathan Z. Smiths Imagining Religion, Ronald Indens Imagining India, die imagined homelands in der Diasporaforschung oder Benedict Andersons imagined communities zur Erklärung nationaler Identitäten. Dies sind nur einige Beispiele, die von hoher theoretischer Relevanz sind, aber mit einem ungeklärten Imaginationsbegriff arbeiten bzw. diesen unreflektiert objektsprachlich verwenden, ohne ihn auf eine metasprachliche Ebene hin zu bedenken. Imaginationstheorien andererseits, die sich um eine Klärung der Reichweite des Gegenstandes und eine Definition des Begriffs bemühen, finden sich bis ins 20. Jahrhundert hinein hauptsächlich in der Philosophie (s. u.). Dabei kamen jedoch kaum religionsgeschichtliche Inhalte und allfällige Kulturvarianzen in den Blick. Der vorliegende Band trägt seinen Teil dazu bei, dieses Forschungsdesiderat anzugehen, indem er erstmals das Thema ‚Religion und Imagination‘ in großer inhaltlicher, methodischer und theoretischer Breite aufarbeitet, um so eine fundierte Grundlage für einen metasprachlich reflektierten Imaginationsbegriff zu schaffen. Das ist in der Religionswissenschaft ein Novum. Bei der Unternehmung soll und kann allerdings nicht der Anspruch erhoben werden, für sämtliche Schulen, Richtungen und Ansätze der Religionswissenschaft zu sprechen. In diesem Band soll der Gegenstand Imagination aus der speziellen und immer noch relativ jungen Perspektive der Religionsäs-

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Lucia Traut, Annette Wilke

thetik2 heraus erschlossen werden, die sich mit der Erforschung der sinnlichen Wahrnehmungsräume, Medialisierungen und Semiotiken von Religion befasst und somit den sensorisch zugänglichen Zeichenvorrat religiöser Symbolwelten und die damit zusammenhängenden Praxisformen ins Zentrum stellt. 2. Imagination als ein critical term der Religionsästhetik?! Es mag verwundern, dass in diesem Band ausgerechnet ‚Imagination‘ als neuer Forschungsgegenstand und critical term der Religionsästhetik erscheint, einer Forschungsrichtung, die sich dem Feld ‚Religion und die Sinne‘ verschreibt. Dieses Programm wurde markant auf die Kurzformel gebracht: „‚[Z]urück zu Körper und Sinnen‘ und ‚zurück zu den Sachen‘“ (Wilke 2008: 210; Bräunlein 2004c). Unser übliches Alltagsverständnis von Imagination jedoch suggeriert mentale Aktivität und reine Subjektivität. Ähnlich statuiert auch Kant in seiner ‚klassischen‘ Definition von Imagination in Kritik der Reinen Vernunft: Imagination ist das Vermögen, „einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen“ (Kant, KdrV § 24). Diese weit verbreitete Beschränkung der Imagination auf eine mentale Operation, die gerade durch die Abwesenheit von sinnlich Wahrnehmbaren charakterisiert ist, erscheint aus religionsästhetischer Perspektive als unzulässige Reduktion. Diesem Band liegt die Überzeugung zu Grunde, dass ein Imaginationsbegriff zu kurz greift, der am platonischen Leib-Seele-Dualismus orientiert die Vorstellungskraft als rein mentalen Akt beschreibt, welcher nichts oder wenig mit dem Körper und der sinnlichen Wahrnehmung zu tun hat. Auf diese Spur führt bereits die Etymologie, da im Begriff ‚Imagination‘ das Wort imago (lat. Bild) steckt, welches nicht nur ein mentales Bild bezeichnet, sondern ebenso ein materielles Abbild meinen kann. Auch im deutschen Wort ‚Bild‘ sind beide Elemente enthalten, so bezeichnet ‚Gottesbild‘ eine mentale Vorstellung, während ‚Götterbild‘ auf bildliche Darstellungen rekurriert, die solche Vorstellungen visualisieren. Es versteht sich des weiteren, dass in diesem Band die Rolle der Imagination in der Religion nicht auf Einbildung, Projektion, Wahngebilde und Illusion reduziert wird, wie dies bei Feuerbach oder Freud geschehen ist. Diese Religionskritiker denken zwar ebenfalls Religion mit Imagination —————

2 Einen guten Kurzüberblick über die Gegenstandsbereiche und Fragestellungen der Religionsästhetik bietet die Homepage des DVRW-Arbeitskreises „Religionsästhetik“: www. religionsaesthetik.de [26.08.2013].

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zusammen, sehen aber das religiöse Imaginieren als geistige Verwirrung an, die der Aufklärung oder Heilung bedarf und letztendlich in die Abschaffung von Religion mündet. Diese Perspektive ist reduktiv sowohl hinsichtlich der Imagination als auch der Religion. Eine dritte Reduktion der Imagination sieht die Einbildungskraft nur im Zusammenhang mit Ästhetik und Kunst, insbesondere künstlerischer Schaffenskraft und Genialität. Diese ästhetische Pointierung des Imaginationsbegriffs in neuzeitlichen Diskursen der Kunstwissenschaft und Philosophie scheint sich auf einen oberflächlichen Blick für die Religionsästhetik besonders anzubieten. Doch sind künstlerische Produktivität und Gestaltung, Kunstästhetik und die für die neuzeitlichen europäischen Diskurse so typische Verquickung von Ästhetik mit Kunst und dem Schönen und Erhabenen nur ein partieller und untergeordneter Aspekt der Religionsästhetik. Die Religionsästhetik verfolgt weder eine künstlerische noch kunsttheoretische Perspektive und beschäftigt sich nicht nur mit religiöser Kunst. Sie reduziert Ästhetik nicht auf eine Lehre des Erhabenen und Schönen, sondern gründet vielmehr auf einem Begriff von Ästhetik, „der sich der griechischen Bedeutung der aisthesis annähert und den Prozess der menschlichen Wahrnehmungstätigkeit zur Grundlage der Untersuchung von religiösen Zeichenprozessen erhebt“ (Mohn 2004: 305; vgl. auch Cancik/Mohr 1988). Aus der religionsästhetischen Perspektive dieses Bandes ergibt sich, dass Imagination in ihrem Zusammenhang mit der sinnlichen Wahrnehmung im Mittelpunkt steht. Wir gehen davon aus, dass Imagination und aisthesis auf engste miteinander verknüpft sind, indem sie sich wechselseitig beeinflussen und formen. Imagination ist demzufolge eine kognitive Operation, die Vorstellungen/Vorstellungsbilder – perzeptionsähnliche, inhaltlich beschreibbare mentale Strukturen – hervorbringt. Diese Strukturen beeinflussen wie ein Filter die individuelle sinnliche Wahrnehmung. Imagination bewirkt, dass etwas ‚als etwas‘ gesehen, gehört, geschmeckt … wird: „This activity of semi-deliberate ‚seeing as‘, which falls between straight perception of a simple sensory signal and unconstrained imagining […], is surely the imagination’s most significant work in the world“ (Brann 1991: 369). Da Vorstellungen kommuniziert, gelernt und sozialisiert werden, bestimmen sie nicht nur die individuellen, sondern auch die kollektive Wahrnehmungsstrukturen. Ferner kann Imagination so stark sein, dass der Imaginationsprozess den Wahrnehmungsprozess überlagert (transzendiert) und Imaginäres bzw. Imaginiertes eine höhere Verbindlichkeit und ‚Realität‘ zugeordnet bekommt als die sinnliche Realität. Dies geschieht vor allem dann, wenn eine bestimmte Art des Imaginierens und das Imaginierte in einer Gruppe als sociomental bond (Chayko 2002: 101 ff.) fungiert, sich also die Mitglieder

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einer Gruppe dadurch auszeichnen, dass sie ähnlich und Ähnliches imaginieren und dies durch kommunikative Akte einander bestätigen. Das ist z. B. bei Religionen der Fall, wenn sich die Mitglieder gegenseitig die Existenz bestimmter transzendenter Wesen versichern, indem sie über Gott/die Götter oder zu ihnen sprechen, als wären diese sinnlich wahrnehmbar anwesend. Umgekehrt werden Imagination und die Vorstellungsinhalte auch durch Wahrnehmung beeinflusst und gesteuert, z. B. durch Bilder oder Performanzen. So wird dem Einzelnen Zugang zu imaginativen Inhalten geschaffen, die er aus sich selbst möglicherweise nicht hätte hervorbringen können. Durch sinnliche Wahrnehmung und Kommunikation können shared imaginary spaces hergestellt werden und die Sozialisation in ein ‚Imaginationskollektiv‘ wird möglich. Die meisten religiösen Imaginationen gehören zum Archiv kultureller imaginaires (s. u.) und sind antrainierte, habitualisierte Imaginationen. Jürgen Mohn betont in seinem viel rezipierten Artikel zur Religionsästhetik, dass diese Religion untersucht „als Prozess der Produktion und Rezeption von Orientierungsangeboten, der über Sozialisationsprozesse, individuelle Lernprozesse, über Wahrnehmen (Interpretieren) und Mitteilen als Lesen, Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Tasten, aber auch Denken und Kognition die individuellen und die kollektiven Wahrnehmungsstrukturen bestimmt und verändert“ (Mohn 2004: 305). Hier könnte ergänzt werden: „der […] die individuellen und kollektiven Wahrnehmungs- und Imaginationsstrukturen bestimmt und verändert“ – denn diese können nicht getrennt voneinander betrachtet werden: „Wahrnehmen lässt sich vom Imaginieren nicht trennen“ – schon gar nicht im Kontext von Religion (Hüppauf/Wulf 2006: 24). Solcherart Zusammenhänge werden im vorliegenden Band anhand von unterschiedlichen Beispielen aus der Religions- und Kulturgeschichte untersucht. Es wird beschrieben, wie Wahrnehmungs- und Imaginationsprozesse ineinander übergreifen und das Eine durch das Andere absichtlich oder unbewusst beeinflusst wird. Erforscht wird, wie religiöse Imaginationen sinnlich wahrnehmbar verkörpert werden und so Wirkung entfalten, aber auch bearbeitet werden können, z. B. in körperlichen Praktiken, sinnlich-materiellen Medien oder ihrer Kombination in performativen Abläufen und rituellen Settings. Aufgrund dieses interessanten und höchst komplexen Ineinanders, Miteinanders und Gegeneinanders von Imagination und Wahrnehmung, kann Imagination nicht als ein ‚randständiger‘, sondern muss als ein zentraler Gegenstand der Religionsästhetik gesehen werden, dessen Aufarbeitung im Sinne eines critical terms fruchtbar ist und lange notgetan hat. Als critical term umfasst ‚Imagination‘ in diesem Band sowohl die

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menschliche Fähigkeit und Tätigkeit des Vorstellens und Imaginierens, wie auch deren Inhalte und Produkte – und zwar sowohl persönliche wie kollektive Empfindungs-, Sinn- und Bildwelten (das ‚Imaginäre‘). Im Folgenden soll zunächst ein Überblick über die Begriffs- und Theoriegeschichte der Imagination geboten werden anhand von ausgewählten Schlaglichtern, die für den religionsästhetischen Ansatz relevant sind. Wie sich zeigen wird, ist die Begriffsgeschichte eng mit der Theoriegeschichte verhängt3. Dies gilt vor allem im reichhaltigen philosophisch-theoretischen Diskurs, der sich seit der Neuzeit im deutschsprachigen Raum hauptsächlich an Kant abarbeitet. Mit der Etablierung der akademischen Disziplinen kommt es ab Beginn des 20. Jahrhunderts aber auch zu weiteren Ausdifferenzierungen und diversen Neuansätzen insbesondere in Psychologie und Kulturwissenschaften. Diese Ansätze werden unmittelbar zu unserem Zugang einer religionsästhetischen Erforschung von Imagination und dem Mehrwert dieses Zugangs hinführen. 3. Imagination und aisthesis – Schlaglichter auf die europäische Begriffs-, Theorie- und Religionsgeschichte Der Ansatz dieses Bandes, Imagination und Wahrnehmung aufs engste aufeinander zu beziehen, ist nicht ‚vom Himmel gefallen‘, sondern Produkt einer langen und wechselvollen Begriffs- und Theoriegeschichte der Imagination. Betrachtet man diese Geschichte – bzw. die Geschichte der bis zum 18. Jahrhundert weitgehend synonym zu ‚Imagination‘ verwendeten Begriffe ‚Phantasie‘ und ‚Einbildungskraft‘ (Schulte-Sasse 2001: 89) –, so fällt auf, dass ‚Imagination‘ je nach Autor, geschichtlichem, kulturellem bzw. religiösem Kontext sehr unterschiedlich gefüllt und fast immer stark – im positiven oder negativen Sinne – gewertet wird. Von einem einheitlichen Imaginationsbegriff kann man bis heute nicht sprechen und dementsprechend sind auch die theoretischen Bestimmungen je nach begrifflicher Vorannahme und disziplinärem Zugang sehr unterschiedlich.

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3 Begriffsgeschichte und Begriff sind aber auch maßgeblich mit dem Gegenstand selbst verhängt, insofern ‚Begriff‘ nicht nur den Terminus ‚Imagination‘ bezeichnet, sondern auch das Konzept und semantische Begriffsfeld, das den ‚Gegenstand‘ Imagination in gewissem Sinne erst erschafft. Deshalb wird es im Folgenden unumgehbar sein, nicht immer ganz klar zu trennen zwischen dem Wort und Wortfeld Imagination und Imagination als Sache. Ähnliche kritische Ausführungen zum Zusammenhang von Imaginationstheorien, Begriffsgeschichte der Imagination und der Präformation des Gegenstandfeldes ‚Imagination‘ durch eben diese Theorien und Begriffe finden sich im Vorwort des Bandes von Behrens 2002.

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Es gilt somit, die oszillierende Begriffs-, Theorie- und Religionsgeschichte der Imagination kurz aufzuarbeiten, insofern sie für unseren religionsästhetischen Fokus auf den Zusammenhang von Imagination und aisthesis relevant sind4. Die Aufarbeitung bleibt dabei zunächst bewusst ‚eurozentrisch‘, denn ‚Imagination‘ ist ein Begriff, welcher der europäischen (inklusive der europäisch beeinflussten amerikanischen) Geistesgeschichte entstammt und entsprechend konnotativ aufgeladen ist 5. Diese Betrachtung scheint uns deshalb unerlässlich, als die Religionswissenschaft als Disziplin ebenfalls am Erbe dieser europäischen Geistesgeschichte partizipiert (Kippenberg 1983) und bei der Bestimmung von ‚Imagination‘ auf die vorliegende Tradition von Imaginationsbegriffen und -theorien reagiert. Sie steht dabei insbesondere vor der Herausforderung, einen Imaginationsbegriff zu erarbeiten, der möglichst weder werturteilend oder gar pathologisierend, noch selbst religiös geprägt oder idealisierend aufgeladen ist, wie dies öfters geschah. 3.1. Begriffsgeschichte der Imagination Schon im alltagssprachlichen Verständnis ist ‚Imagination‘ sehr unterschiedlich konnotiert. Einerseits ist eine pejorative Konnotation sehr häufig, im Sinne von ‚Phantasterei‘, ‚Einbildung‘ und ‚Wahngebilde‘. Andererseits ————— 4 Für eine ergänzende kurze Aufarbeitung der Begriffs- und Theoriegeschichte siehe auch den Artikel von Grieser in diesem Band. Für die oben skizzierte Begriffsgeschichte haben wir maßgeblich von Jochen Schulte-Sasse 2001 und Marieke van den Doel & Wouter Hanegraaff 2006 profitiert. Diese Autoren gehören zu den wenigen Forschern, die sich eingehend und in sehr überzeugender Weise mit der Geschichte des Imaginationsbegriffs beschäftigt haben. Van den Doel und Hanegraaff tun dies sogar mit besonderem Blick auch auf religionsgeschichtliche Aspekte – eine Dimension, die ansonsten bei einer Begriffs- und Theoriegeschichte der Imagination häufig unterschlagen wird. Desweiteren ist der Sammelband Imagination – Fiktion – Kreation: Das kulturschaffende Vermögen der Phantasie, hg. v. Thomas Dewender und Thomas Welt zu empfehlen. Er ist das Produkt der DFG-Forschergruppe „Imagination und Kultur“ (Universität Bochum, 1999–2002) und versammelt Einzelbeispiele aus der Begriffs- und Theoriegeschichte der Imagination von der Antike bis zur Neuzeit. Ausführliche Aufarbeitungen der Geschichte des Imaginationsbegriffs und der Imaginationstheorien finden sich auch in den ‚Klassikern‘ zur Imagination von Mary Warnock 1976 und Eva T. H. Brann 1991. Andere Monographien beschäftigen sich zumeist sehr detailliert mit einzelnen Philosophen, was für den Ansatz und die Fragestellung, die wir verfolgen, nicht notwendig ist. 5 Damit soll natürlich nicht aus dem Blick geraten, dass es auch in außereuropäischen Sprachen und Kulturen Äquivalente zum Imaginationsbegriff gibt, welche das Phänomen evtl. inhaltlich anders wahrnehmen und beschreiben. Bei der Beschäftigung mit dem Imaginationsbegriff bzw. der inhaltlichen Bestimmung des Phänomens Imagination in außereuropäischen Kulturen und Religionen sollte dementsprechend unbedingt immer auch die jeweilige begriffsgeschichtliche Tradition und sozio-kulturelle Einbettung mit berücksichtigt werden, um vorschnelle Eurozentrismen (wie z. B. einen Leib-Seele-Dualismus) zu vermeiden – siehe dazu die Artikel von Wilke, Wilkens und Triplett in diesem Band.

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wird der Begriff aber auch sehr positiv aufgeladen im Sinne von künstlerischer Schaffenskraft und der schöpferischen ‚Macht der Phantasie‘, die wunderbare Welten erschaffen und erschließen kann und Imagination idealisiert. Hier wird Imagination zu einem Vermögen stilisiert, das kreative Menschen besonders auszeichnet. Die europäische Begriffs- und Theoriegeschichte der Imagination neigte immer wieder zu solchen Dämonisierungen und Idealisierungen unabhängig davon, wie der Imaginationsbegriff im Einzelnen konzeptioniert wird. Nach Schulte-Sasse (2001: 88) lassen sich grundsätzlich zwei verschiedene Richtungen in der Konzeptionierung des Imaginationsbegriffs feststellen: 1. eine „erkenntnistheoretische Variante“, welche das Vermögen des Geistes bei der Konstruktion von „Realität“ umfasst und somit eher philosophisch bis kognitionswissenschaftlich ausgerichtet ist und 2. eine ästhetisch-kunsttheoretische Variante, welche die „Spontaneität des menschlichen Geistes bei der Konstruktion von Schein“ beinhaltet und mit Imagination eher die schöpferisch tätige Erfindungsgabe bezeichnet (vgl. auch Mainberger 1979: 31). Schon seit der Antike wird der Begriff zur Erklärung von künstlerischer Produktion herangezogen, vor allem wenn der Künstler nicht einfach die Natur nachahmen kann (mimesis), sondern selbst ein ungegenständliches Vorbild oder geistiges Idealbild als Vorlage erschaffen muss – wie z. B. im Falle der Herstellung von Götterbildern (MännleinRobert 2003). Der Diskurs über künstlerische Einbildungskraft hatte vor dem 18. Jahrhundert jedoch noch untergeordnete Bedeutung gegenüber epistemologischen Imaginationsbegriffen und -theorien. Dies ändert sich erst mit der Neubewertung der Kunst und des künstlerischen Genies im 18. Jahrhundert. Das Verständnis von Imagination als geistige Produktivität hat sich so sehr etabliert, dass wir heute intuitiv primär daran denken (negativ wie positiv besetzt) und das epistemologische Verständnis fast ganz aus dem Blick geraten ist6. Gemeinsam ist beiden Varianten des Imaginationsbegriffs, der epistemologischen und der ästhetisch-kreativen, dass die Konstruktion des Verhältnisses von ‚Außen- und Innenwelt‘, von sinnlicher Erfahrung und mentaler Operation, zum neuralgischen Punkt der jeweiligen Definition wird. Das lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen. In den Schulen der griechischen und römischen Antike (z. B. Aristotelismus, Galenismus, (Neu-)Platonismus) werden verschiedene Modelle des Geistes bzw. der Seele entworfen, welche die Gemeinsamkeit haben, dass es einen Seelenteil gibt, welcher die Trennung zwischen der physischen und —————

6 Der kreativ-schöpferische, kunsttheoretische Imaginationsbegriff ist auch meist in englischsprachiger Literatur gemeint, wenn von imagination (engl.) die Rede ist.

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der nicht-physischen Welt überbrückt, indem er die physisch geprägten Sinneseindrücke so übersetzt, dass sie von der nicht-physischen Seele bzw. dem Intellekt verstanden werden können. Bei Aristoteles7 heißen die übersetzten Sinneseindrücke phantasmata und ohne sie kann die Seele nicht denken. Das seelisch-geistige Vermögen der Vorstellungskraft wird in der griechischen Tradition in der Regel phantasia, in der römischen Tradition dann imaginatio genannt. Es hängt so eng mit der Physis zusammen, dass es von gewissen körperlichen Zuständen ungünstig beeinflusst werden kann, z. B. von einem Ungleichgewicht der vier Säfte (Galenismus/Humoralpathologie). Vormoderne medizinische Imaginationskonzepte greifen diesen Zusammenhang von Körperfunktion und Imagination auf (s.u. 4.1.). Die beständige Beeinflussung und damit auch Gefährdung der Imagination durch ihre physische Seite steht auch oft im Mittelpunkt der platonisch geprägten Imaginationstheorien, was dazu führt, dass die Imagination dort eher kritisch gesehen wird. Es herrscht einen starke Tendenz vor, dieses Seelenvermögen unter rationale Kontrolle zu bringen, um der Seele ein Sich-Erheben über die materielle Welt zu ermöglichen (van den Doel/Hanegraaff 2006: 606–8). Das neuplatonische philosophische Ideal ist es dann, vollends in die absolute Transzendenz – die reine Welt des Geistes und des Einen einzutauchen – und mit ihr zu verschmelzen. Auch wenn die platonische und zum Teil auch neuplatonische Sicht der Dinge – einer Leib-Seele-/Materie-Geist-Disjunktion und einer tendenziellen Zuordnung der Imagination zur Seite der Sinneswahrnehmung – vor allem durch die Weiterführung in der christlichen Tradition eine stark polarisierende Wirkung entfaltet hat, so darf nicht davon ausgegangen werden, dass eine grundsätzliche Verurteilung der Imagination in der Antike und Spätantike gang und gäbe war. In der Sekundärliteratur findet sich oft die pauschalisierende Ansicht, dass Imagination in den antiken Schulen stets als „niederes Vermögen“ des Menschen konstruiert und aus erkenntnistheoretischen und moralischen Gründen als fragwürdig angesehen wurde (Schulte-Sasse 2001: 89). Diese verkürzende Einordnung muss jedoch mit dem wichtigen Verweis auf die rituelle und religiöse Wertschätzung und Nutzbarmachung der Imagination in der Antike korrigiert werden. So umfasst der nicht nur philosophische, sondern auch religiöse Neuplatonismus den Gedanken einer vermittelnden Zwischenwelt von Göttern, Dämonen und Potenzen, aber auch Theurgen, Magiern und visionärer Schau, für die der Neuplatonismus- und Sufismusforscher Henry Corbin den Begriff mun-

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Aristoteles: De Anima, III.3.

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dus imaginalis prägte8. Imagination ist im Neuplatonismus Teil der etherischen Seele und kann eine Verbindung zur nicht-physischen Welt herstellen. Träume, Visionen und Prophezeiungen als wichtige Funktionen der Imagination bekommen aus dieser Tradition heraus eine magische Schlüsselrolle zugewiesen – wobei die Imagination auch in diesem Zusammenhang stets vom Verstand kontrolliert werden muss, damit die physische Seite nicht übermächtig wird, was der eigentlichen ‚Erlösung‘ im Weg stünde. Obwohl die Seelen- bzw. Geistmodelle und Weltbilder, die den Definitionen der Imagination in der Antike zu Grunde liegen, im Detail sehr verschieden sind und die Imagination unterschiedlich bewertet wird, so kann man doch sagen, dass allgemein die physische Seite (Sinneseindrücke/Körperfunktionen) und der Geist als grundlegende polare Definitionsbestandteile fungieren und Imagination meist als „Wirkung der Sinneswahrnehmung“ (Schulte-Sasse 2001: 89) angesehen wird. Im Mittelalter werden die neuplatonischen Gedanken für die Konzeptionalisierung von Imagination weitergeführt. Imagination wird als Teil des Sinnessystems angesehen, das sich aufteilt in die ‚äußeren‘ und die ‚inneren‘ Sinne. Die äußeren Sinne sind der Körperlichkeit unterworfen, die inneren Sinne dem Geistigen und Seelischen. Die imaginatio zählt als Teil der memoria zu den inneren Sinnen und die von ihr hervorgebrachten Bilder können als sanctae oder spirituales imaginationes von immenser spiritueller Bedeutung sein (Meier 2003: 176 f.). „Hinter dem äußeren Auge, dem äußeren Ohr, ist das innere Auge, das innere Ohr, die sehr viel wichtiger sind, denn sie nehmen die göttliche Vision wahr, das Wort und die Klänge der realsten Welt, der Welt der ewigen Wahrheiten.“ (Le Goff 1990(1985): 13) Das mittelalterliche Christentum bemüht sich nach Jacques Le Goff deswegen ständig um ein ‚Nach-Innen-Gehen‘. Visionäre, Ekstatiker und Mystiker perfektionieren die Kunst des inneren Schauens, Berührtwerdens und Schmeckens der göttlichen Geheimnisse, aber auch das einfache tägliche Gebet zielt auf intensive sinnlich-affektive Erfahrung auf der Basis der inneren Sinne (vgl. Largier 2003). Meister Eckhart (1260– 1327/28) prägt für die vis imaginationis den deutschen Ausdruck „înbilden“. Er beschreibt damit den mystischen Vorgang, „in dem sich Gott durch Christus in die Seele des Menschen ‚hineinbildet‘ („în-bildet“) und —————

8 Die Begriffskonstruktion mundus imaginalis wird noch in der heutigen NeuplatonismusForschung als fruchtbar erachtet, um die organische Kontinuität von Einheit und Vielheit und von monistischem Monotheismus und Polytheismus im Neuplatonismus zu beschreiben. Vgl. Athanassiadi 2009 in Schabert/Riedl 2009. Der Band enthält auch einen Artikel zu und ein Briefdokument von Henry Corbin, in welchem das mundus imaginalis-Konzept ebenfalls zur Sprache kommt.

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der Mensch von Gott ‚überbildet‘ wird“ (Steinhäuser 2011: 73). ‚Einbildung‘ ist hier also noch nicht ein psychopathologischer Begriff, sondern ein positiv besetzter theologischer Inkarnations-Begriff, der das Ziel des mystischen Bildungsprozesses, die unio mystica, zum Ausdruck bringt. Bei den christlichen Theologen wird die Imagination dennoch nicht als ungefährlich angesehen. Denn die von der imaginatio geprägten Vorstellungen (imaginationes) partizipieren am Bereich der körperlich wahrgenommenen Bilder. Augustinus (354–430) und Johannes Scotus Eriugena (9. Jh. n. Chr.), die noch im Hochmittelalter – u. a. von Meister Eckhart – stark rezipiert werden, verweisen auf die Gefahr, dass die Imagination und ihre Bilder nicht als Symbole oder Ähnlichkeiten (symbola oder similitudines) verstanden werden, sondern der sinnenhaften und körperlichen Ebene verhaftet bleiben und als „schlechte, entstellte oder schändliche Imaginationen“ (imaginationes turpes, deformes oder inhonistae) dem Aufstieg der Seele zur göttlichen Realität im Wege stehen können. Deswegen ist es für die Autoren wichtig, dass die imaginatio der Urteilskraft unterworfen bleibt (Meier 2003: 176 ff.). Die Konzeptionalisierungen von Imagination im Mittelalter sind nicht nur durch die antiken Traditionen, sondern auch durch arabische Schulen geprägt. Mittelalterliche arabische eschatologische Spekulationen (Avicenna, al-Suhrawardi) gehen z. B. davon aus, dass die Imagination im Jenseits die Sinneswahrnehmung ersetzt: Nur durch Imagination kann die Seele im Jenseits die Qualen der Hölle oder die Freuden des Paradieses erfahren. Umgekehrt können sich die Imaginations-Bilder aus dem Jenseits in der materiellen Welt manifestieren, z. B. in Form von Dämonen. Diese Idee, dass Imagination physisch wahrnehmbare Kräfte auf die materielle Welt entwickeln kann, ist religionsgeschichtlich und religionsästhetisch von besonderem Interesse. Hier liegen die Ursprünge bis heute gängiger esoterisch-magischer Vorstellungen und Funktionalisierungen der Imagination, welche die Vorstellungskraft nutzen, um die Materie zu beeinflussen (van den Doel/Hanegraaff 2006: 609)9. In der Renaissance werden die Konzepte von Imagination und Magie aus Antike und Mittelalter weiter ausgebaut. Die Verbindung zwischen physischer und nicht-physischer Welt und zwischen Perzeption und Intellekt bleibt das Leitmotiv und immer noch scheiden sich die Geister darin, ob die —————

9 Über die Wirkung von Heilungs-Imaginationen siehe den Artikel von Koch in diesem Band. Die Materie beeinflussende Wirkung wird der Imagination aber auch in hinduistischen oder buddhistischen tantrischen Vorstellungen zugeschrieben (vgl. die Artikel von Wilke und Triplett in diesem Band) und ist darüber hinaus z. B. bei den Gebetsimaginationen von Pfingstlern anzutreffen (vgl. Artikel von Schüler in diesem Band). Evtl. kann man hier von einem für religiöse Praktiken typischen Deutungsmuster sprechen.

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Imagination vom Intellekt besiegt werden soll oder eine eigene positive Wertigkeit hat. So sind Pico della Mirandola10 (1433–1499) und Marsilio Ficino11 (1463–1494) in ihren Bewertungen der Imagination immer wieder genau an diesem Punkt hin- und hergerissen, verbleiben jedoch hauptsächlich im neuplatonischen Denkkonzept. Pico della Mirandola zweifelt allerdings zunehmend an, ob die Imagination wirklich transformative Effekte auf die physische Welt haben kann, wie es in dieser Zeit von der Hermetik behauptet wird, und Ficino zieht erste Verbindungen zwischen dem Vermögen der Imagination und den Künsten (Schulte-Sasse 2001: 98 f.; van den Doel/Hanegraaff 2006: 610 ff.). Bei Ficino und della Mirandola zeigen sich bereits erste Ansätze, Imagination neu zu denken. Ab Paracelsus (1493–1541) findet sich ein seit dieser Zeit wirkmächtiger neuer Aspekt im Imaginations-Diskurs: die ‚kreative‘ Imagination. Imagination wird nun mit Schöpfungskraft gleichgesetzt, die dem Menschen zur Verfügung steht, aber theogonische und kosmische Ausmaße hat (van den Doel/Hanegraaff 2006: 612 ff.). Typisch für die Beschreibung des Vermögens der Imagination wird bei Paracelsus eine Sprache, die stark mit Metaphern der Verkörperung und Inkarnation arbeitet (incarnational language – van den Doel/Hanegraaff 2006: 613) – die Nähe der Imagination zur materiellen Welt ist nun positiv und religiös besetzt. Durch Paracelsus vorbereitet zieht ab dem 18. Jahrhundert der Imaginationsbegriff ins Zentrum ästhetischer Diskussionen ein und wird meist zusammen mit dem Geniebegriff abgehandelt (Schulte-Sasse 2001: 89). Dieser Bruch in der Einordnung und Bewertung der Imagination, der im 16. Jahrhundert mit Paracelsus seinen Anfang nimmt, aber erst im 18. Jahrhundert offensichtlich wird, kann mit der „Aufwertung der Sinnlichkeit im 18. Jh.“ (Schulte-Sasse 2001: 91) erklärt werden. Mit dieser geht auch eine „Aufwertung der Bilder gegen die Ikonophobie des begrifflichen Denkens“ (Hüppauf/Wulf 2006: 10) einher. Auch wenn die Imagination im ästhetischen Diskurs um die bildende Kunst eine sehr wichtige Rolle spielt, so wird sie nicht nur auf den visuellen Modus beschränkt, sondern wird auch auf ihre Funktion z. B. in Musik und Poesie hin diskutiert (van den Doel/Hanegraaff 2006: 610–12)12. Diese positive Neueinordnung der Imagination im Zuge der Herausbildung des ästhetisch-kunsttheoretischen Imaginationsbegriffs ist allerdings ————— 10

Gianfrancesco Pico della Mirandola. De Imaginatione. Marsilio Ficino. Theologica Platonica XIII; ders. De Vita Coelitus Comparanda. 12 Hier deutet sich schon eine wichtige systematische Verbindung an zwischen dem Konzept der Imagination und dem jeweiligen mediengeschichtlichen Stadium bzw. dem jeweils bevorzugten Medium der Wahrnehmung, die in dieser Einleitung weiter unten (4.2.) aus religionsästhetischer Sicht näher beschrieben wird. 11

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keineswegs Konsens, denn gerade der von der Aufklärung geprägte Diskurs über Imagination verfolgt nach wie vor eher einen epistemologischen Imaginations-Begriff oder schwankt zwischen der traditionellen, tendenziell platonisch geprägten Imaginations-Auffassung und dem neuen ästhetischen Diskurs. Diese Zwischenposition wird z. B. von Immanuel Kant (1724– 1804) vertreten, der seinen Imaginationsbegriff aufspaltet in die „reproduktive Einbildungskraft“, die eher ein empirisches, assoziatives Vermögen ist und die epistemologische Aufgabe hat, einen fehlenden Sinneseindruck in der geistigen Anschauung zu ergänzen, und die „produktive Einbildungskraft“ “, welche das spontane, kreative Phantasie -Vermögen bezeichnet13. Die produktive Einbildungskraft“ beinhaltet zwar die Erfahrung des Schönen und das damit verbundene Gefühl der Lust, wird bei Kant jedoch nicht unter dem künstlerisch-ästhetischen Genie-Diskurs verhandelt. Stattdessen wird die produktive Einbildungskraft“ als epistemologisch geprägter ästhetischer Grundbegriff konstruiert, der immer zusammen mit der reflektierenden Urteilskraft gedacht werden muss. So wird die begrifflich-rationale Anschauungsebene wieder mit in die kreative Imagination hereinholt und die Einbildungskraft auf der Ebene des Geschmacksurteils und des moralischen Urteils verhandelt14. Die ästhetische Erfahrung, die durch die Einbildungskraft ermöglicht wird, soll nicht die ‚aufgeklärten‘ Anschauungs- und Reflexionsverhältnisse aufheben (Schulte-Sasse 2001: 114 f.; s. auch Dürbeck 1998). Der ‚Gegendiskurs‘ zur Aufklärung, die europäische (v. a. die deutsche) Romantik (z. B. Schelling und Novalis), bringt ästhetische und künstlerischliterarisch orientierte Imaginationstheorien hervor, die größtenteils in einen religiösen Diskurs eingebettet sind. Die Imagination wird als Gegensatz zum ‚kalten und harten‘ rationalen Verstand als das Vermögen gesehen, das zur eigentlichen Natur des Menschen und der Welt vordringen kann und deswegen einen Zugang zur tieferen Wirklichkeit hat. Zu dieser gehört im romantischen Duktus auch die ‚Schatten-‘ oder ‚Nachtseite‘ der Natur, die sich in okkulten Phänomenen zeigt und deutlich macht, dass die Welt hinter der vermeintlichen Realität auch eine ‚verzauberte‘ Seite hat. Eine vermeintliche etymologische Verwandtschaft zwischen magia und imaginatio wird als Begründungsmuster dieser Auffassung und des damit verbundenen Weltbildes herangezogen. Imagination bekommt soteriologische Bedeutung, indem sie als der einzige Weg angesehen wird, den Sündenfall zu überwinden und sich mit der ewigen Natur bzw. Gott wieder zu vereinen (van den Doel/Hanegraaff 2006: 613; Zollna 1990: 71–112). ————— 13 14

Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, § 24. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 9 und Allgemeine Anmerkung zur Exposition.

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Hier fällt die totale Umkehrung platonischer und partiell auch philosophisch-neuplatonischer Erlösungsvorstellungen auf: Dort war die Imagination für das Erreichen der göttlichen Welt der idealen Ideen oder des reinen Geistes eher hinderlich, wenn sie nicht stark durch den Verstand bzw. den logoshaften Intellekt oder die Vernunft gezügelt wurde. Nun wird sie zum soteriologischen Mittel. Die religiös geprägte Einheitssehnsucht der romantisch-avantgardistischen Einbildungskraft wurde von der bürgerlichen Bildungsideologie durchaus auch politisch instrumentalisiert – mit den bekannten Auswirkungen bis ins 20. Jahrhundert hinein15, wie z. B. dem nationalsozialistischen Volksgedanken (Schulte-Sasse 2001: 115 ff.). Die Imagination, ihre explizite Instrumentalisierung und die Reflexion über sie, gehört – diesen Traditionen der Romantik und Renaissance-Magie folgend – ferner fest zum Diskurs der westlichen Esoterik bzw. des Okkultismus des 19. und 20. Jahrhunderts, z. B. in Mesmerismus, Hermetismus, in der Weiterführung später auch bei Rudolf Steiner, Gaston Bachelard, C. G. Jungs „aktiver Imagination“, Henry Corbins „mundus imaginalis“ und im weitesten Sinne auch Gilbert Durands „l’imagination symbolique“ (van den Doel/Hanegraaff Jahr: 614 f.; Brann 1991: 180 f.). Hier gehen Imaginationstheorie und Imaginationspraxis ineinander über. Corbin (1903– 1978) z. B. liegt es nicht nur an einer Beschreibung, sondern auch an einer Wiederbelebung des mundus imaginalis. Mit der Begriffsprägung ‚imaginalis‘ will er betonen, dass die Zwischenwelt visionärer Schau (der Propheten und Mystiker) keine Welt der Einbildung (imaginaire) ist, sondern unmittelbare Theophanie des einen und einzigen ineffablen und unerreichbaren Gottes, der sich den Menschen mitteilen will und sich in jeder einzelnen ‚forme théophanique‘ (ob in den antiken Göttern, Proklos’ Henaden, den Imamen der Schia, den Sephirot der Kabbalah) vollständig manifestiert. Über seine Rolle als Religionsforscher hinaus sucht Corbin mit dem ‚trojanischen Pferd‘ gnostischer Esoterik die ‚Festung des Monotheismus‘ einzunehmen. Neben diesen esoterischen, spekulativen und neuromantisch beeinflussten Konzeptionen entwickelt sich der Imaginationsdiskurs im 20. Jahrhundert meist auf einem Mittelweg zwischen kreativ-ästhetischer und epistemologischer Ausrichtung weiter und differenziert sich stark aus. Monographisch ausgearbeitete Imaginationstheorien des 20. Jahrhunderts stammen jedoch zum großen Teil weiterhin aus der Philosophie. Neben Kant werden Phänomenologie und Existenzialismus (angestoßen durch Sartre und —————

15 Vgl. hierzu auch Dietmar Kampers Kritik an der modernen Instrumentalisierung der Einbildungskraft zur Befriedigung individueller wie kollektiver Sehnsüchte (Kamper 1981 und Kamper 1986).

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Husserl) beerbt sowie die analytische Philosophie und die Philosophie des Geistes (angestoßen durch Wittgenstein und Ryle) (Brann 1991: Part I, Chapter IV)16. 3.2. Psychologische Imaginationstheorien Neben den philosophischen Imaginationstheorien entsteht durch die Etablierung der Psychologie eine zweite maßgebliche Richtung der Imaginationsforschung und –theoretisierung im 20. Jahrhundert, die in der Neurobiologie und den Kognitionswissenschaften weitergeführt wird17 (Brann 1991: Part II). Gerade in der Psychologie kommt es dabei zu sehr unterschiedlichen Einordnungen und Bewertungen der Einbildungskraft: Die Spannbreite bewegt sich zwischen Pathologisierung (wegen mangelnder Differenzierung zwischen Imaginationen und Phantasien und Halluzinationen – Torok 1997) und therapeutischer Nutzbarmachung der Imagination (z. B. in C. G. Jungs Konzept der „aktiven Imagination“). In der Psychoanalyse Sigmund Freuds wird der Imagination (er benutzt allerdings den Begriff ‚Phantasie‘) die Aufgabe von Verdrängung oder Ersatzbefriedigung des Libido- und Destrudo-Triebs in Wunschphantasien, z. B. in Gewalt- und Sexphantasien, zugeschrieben. Eine unkontrollierte Einbildungskraft in Form von unbewussten, d. h. verdrängten Phantasien wird als Störung der Wahrnehmungsfähigkeit und damit als unangemessener Abgleich des psychischen Apparats an die Realität eingestuft. Hysterische Neurosen mit Halluzinationen und Wahnvorstellungen als von der Realität völlig abgekoppelte Schöpfungen des psychisch kranken Geistes seien die Folge. So wird Imagination zur pathologischen Diagnose, die therapeutische Maßnahmen zur Rückführung ans „Realitätsprinzip“ notwendig macht. Freud geht zudem von so genannten „Ur-Phantasien“ aus, phylogenetisch verankerten Vorstellungen z. B. von Kastration oder Verführung (Kastrationsangst und Ödipuskomplex), die – so seine Theorie – —————

16 Wegen seiner starken Rezeptionsgeschichte sei hier als Literaturhinweis eigens genannt Sartre 1936 und 1940. Weitere Literaturangaben zu den oben genannten Autoren finden sich bei Brann 1991: 186 ff. Von der Phänomenologie inspirierte weiterführende Entwürfe sind z. B. jene von Merleau-Ponty 1993(1961), Casey 1976 und Johnson 1987; auf die analytische Philosophie und Philosophie des Geistes rückführbare Entwürfe sind z. B. bei Furlong 1961, Kieran&McIver Lopes (Hg.) 2003 und McGinn 2007(2004) zu finden. 17 Hier findet man nur wenig große theoretische Monographien zum Thema (z. B. Massey 2009), sondern eher Artikel in Fachzeitschriften oder programmatische Sammelbände, die Forscher aus unterschiedlichen kognitionswissenschaftlichen Disziplinen zu Wort kommen lassen und oftmals auch philosophische und kulturwissenschaftliche Autoren mit einschließen (z. B. Nichols 2006 und Roth 2007).

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psychische Überbleibsel von realen Erfahrungen der Urzeit sind (Doucet 1972: 124–127). Andere Psychologen schreiben der Imagination aber auch die Fähigkeit zu, heilende Wirkung auf gestörte psychische Prozesse zu entfalten, z. B. durch die Manipulation und damit Neubewertung Angst auslösender Situationen mittels der Vorstellungskraft. Imaginative Methoden werden in der Psychotherapie zur Neuprogrammierung von Wahrnehmungs- und Bewertungsmustern herangezogen (Singer/Pope 1986). Kognitionswissenschaftliche und neurobiologische Ansätze der jüngeren Zeit versuchen, mit Hilfe von Experimenten und bildgebenden Verfahren die Abläufe im Gehirn während imaginativer Prozesse zu beschreiben. Bei der überwiegenden Mehrzahl dieser Versuchsanordnungen wird von einer engen Verbindung bzw. parallelen Funktionsweise von sinnlicher Wahrnehmung und Imagination ausgegangen, die von der Hirn- und Verhaltensforschung scheinbar auch bestätigt wird. So sind z. B. beim Imaginieren eines Gegenstandes im Gehirn offensichtlich die gleichen Areale aktiv wie bei der visuellen Wahrnehmung dieses Gegenstandes18. Einen recht prominenten Platz nehmen Imaginationstheorien aus dem Bereich der Kinder- und Entwicklungspsychologie (z. B. Harris 2000) sowie aus dem Bereich der Lernpsychologie und Pädagogik ein. Das pädagogische Interesse am Einfluss der Imagination auf Lernprozesse und der methodische Einsatz von Imagination in Erziehung und Bildung ist schon ab dem 19. Jahrhundert nachweisbar, zum Beispiel in dem pädagogischen Klassiker Pädagogik als System von Karl Rosenkranz aus dem Jahre 1848 (66–74). Die Religionspädagogik greift dies auf, z. B. mit dem Godly PlayKonzept von Jerome W. Berryman, bei dem kindliche Imagination als Mittel zur religiösen Erziehung eingesetzt wird (Pranieß 2008; Steinhäuser 2011). Imagination wird in den entwicklungspsychologischen und pädagogischen Theorien als integraler und positiver Bestandteil kindlichen Denkens und Fühlens aufgefasst, der Kindern hilft, sich auf die unterschiedlichsten Situationen mental vorzubereiten. Der Entwicklungspsychologe Paul L. Harris begründet die Fähigkeit der Imagination darüber hinaus noch evolutionspsychologisch: Imagination half den Menschen schon immer dabei, prophylaktisch Entscheidungen für Stress-Situationen zu treffen, deswegen ist sie eine sinnvolle kognitive Fähigkeit. Zudem ist sie die Bedingung dafür, dass sich Sprache als Instrument, Informationen über Abwesendes zu vermitteln, überhaupt entwickeln —————

18 Eine Übersicht über Literatur zu diesem Thema findet sich bei Brann (1991: 371–80); neuere Aufsätze über Imagination von Psychologen und Evolutionsbiologen und Kognitionswissenschaftlern bei Nichols 2006 und Roth 2007.

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konnte. Die menschliche Faszination an Kunst und Theater ist dabei ein evolutionäres Nebenprodukt (Harris 2000: 84–90). Die folgenden Ansätze der Psychoanalytiker Donald W. Winnicott (1896–1987) und Paul W. Pruyser (1916–1987) können mit ihrer kulturpsychologischen Ausrichtung schon zu den kulturwissenschaftlichen Imaginationstheorien, der dritten Richtung der Imaginationsforschung des 20. Jahrhunderts, gezählt werden. Ihre Theorien sind für den religionsästhetischen Ansatz relevant, da sie körperlich-emotionale und kulturelle Forschungsgegenstände zu verbinden suchen. Außerdem haben beide eine religionspsychologische Religionstheorie, die mit ihrer Imaginationstheorie verschränkt ist, was sie für die Religionswissenschaft ebenfalls interessant macht. Im Gegensatz zu Freud werten Donald Wood Winnicott und Paul W. Pruyser Phantasie nicht tendenziell kritisch, sondern sehen sie als notwendige psychische Dimension. Winnicott (2008(1951)) begründet die Phantasie, die er meist „Illusion“ nennt, mit der frühkindlichen „Übergangsphase“ (transitional phase). In dieser lernt das Baby zwischen sich und der Welt zu unterscheiden, braucht aber „Übergangsobjekte“ (transitional objects), wie z. B. Kuscheltiere, um die Trennung von subjektiver und äußerer Realität zu verarbeiten. Auch erwachsene Menschen sind Winnicotts Meinung nach immer wieder vor die Aufgabe gestellt, die Realität zu prüfen und anzunehmen. Damit das leichter gelingt, gibt es einen „Zwischenbereich des Erlebens“ (transitional sphere), zu dem kulturelle Phänomene wie Kunst und Religion zählen, die es den Menschen ermöglichen, sich kreativ und schöpferisch mit der Realität auseinanderzusetzen und diese zu gestalten. Paul W. Pruyser greift in seiner Monographie The Play of the Imagination: Towards a Psychoanalysis of Culture (1983) auf Winnicotts Ausgangsthese zurück und ersetzt in seiner Imaginationstheorie die klassischpsychoanalytische Dichotomie von Lustprinzip und Realitätsprinzip durch das dreigeteilte Schema autistic world – realistic world – illusionistic world (Pruyser 1983: 63). Diese drei Welten sind laut Pruyser unterschiedliche Erlebnisbereiche des Subjekts. Die autistische Welt ist die private und nicht kommunizierbare Welt von Träumen, Tagträumen, unkontrollierten Allmachts-Phantasien. Die realistische Welt ist die öffentliche Erlebniswelt, gekennzeichnet durch Sinneswahrnehmung, reale Objekte, Personen und Ereignisse. Eindeutige sprachliche Bezeichnungen und Mittel-ZweckDenken gehören in diese Welt. Pruyser ist nun aber wichtig, dass Menschen nicht vor der Wahl stehen, „autistisch“ zu bleiben oder „realistisch“ zu werden, sondern dass es auch eine dritte Alternative gibt: A third choice is not only possible, but is in fact made by most civilized people: engagement in illusionistic activities, abounding in imaginative processes and entities

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that not only prove shareable, but are in fact institutionalized in the social order. As such, they are culturally transmitted, upheld, and valued (ebd. 63 f.).

Zwischen den Erlebniswelten der autistischen und der realistischen Welt steht also die illusionistische Welt, die zwischen den beiden anderen vermittelt, sie aber auch übersteigt. Zu ihr gehört die tutored fantasy – eine Phantasie, die durch die Aneignung kollektiver Imaginationen wie Märchen, Mythen oder religiöse Geschichten geprägt ist. Zur illusionistic world gehören auch Symbolsprache, Spiel, Musik, bildende Kunst, Literatur, Wissenschaft und Religion und eigentlich alle kulturellen Phänomene (ebd. 64 ff.). Der Begriff ‚illusionistisch‘ wird von Pruyser von lusus (lat. Spiel), hergeleitet und bezeichnet somit nicht Täuschung oder Wahn, sondern bezieht sich auf „transcendent entities that are the products of civilized man as being endowed with imagination.“ (ebd. 69) 3.3. Kulturwissenschaftliche Imaginationstheorien Die dritte wichtige Entwicklung im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert sind kulturwissenschaftliche Imaginationstheorien, die wertneutral die Rolle der Imagination im Wahrnehmungsprozess und in der Konstruktion von Welt und Sinn, aber auch umgekehrt die Wirkung sensueller Stimuli auf die Imagination beschreiben und analysieren. Dabei ist auffallend, dass Imagination nicht mehr (nur) im Subjektiven verankert wird, sondern im Kollektiven – nicht mehr das individuelle kognitive Vermögen, sondern kulturprägende Vorstellungsbilder, ihre Produktion, Tradierung und Wandlung stehen nun im Mittelpunkt. Damit geht meist auch eine Begriffsverschiebung weg von der ‚Imagination‘ hin zu dem ‚Imaginären‘ einher. Da in diesem Band sowohl das kognitive Vermögen und der Prozess des Imaginierens als auch die kulturellen Vorstellungsbilder betrachtet werden und insbesondere der Zusammenhang zwischen beidem erforscht wird, wird der Begriff ‚Imagination‘ als Bezeichnung für beide Bereiche beibehalten. Die disziplinäre Vielfalt der kulturwissenschaftlichen imaginationstheoretischen Ansätze reicht von der Geschichtswissenschaft zur Kunst- und Bildwissenschaft, Literaturwissenschaft, Soziologie, Ethnologie/Kulturanthropologie und politischen Philosophie. Neben einigen Ausblicken auf kognitionswissenschaftliche und kulturpsychologische Theorien sind es primär solche kulturwissenschaftlichen Theorien, an die die Autorinnen und Autoren dieses Bandes anschließen und die auch in die systematischen Überlegungen dieser Einleitung einfließen (s. u. 4.). Die Leser werden im Verlauf dieses Werkes über die Einleitung hinaus mit vielen Theorieansätzen bekannt gemacht. Aus diesem Grund beschränken wir uns als Ab-

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schluss des vorliegenden Durchgangs durch die Begriffs- und Theoriegeschichte auf einige ausgewählte kulturwissenschaftliche Imaginationstheorien, die uns als besonders fruchtbar erscheinen für religionswissenschaftliches und religionsästhetisches Arbeiten. Eine große Richtung findet sich in Frankreich ab 1920 bis in die 1980er Jahre mit der École des Annales und ihrem Programm einer neuen Geschichtsschreibung (nouvelle histoire). Sie prägte den Begriff des l’imaginaire („das Imaginäre“), worunter gesellschaftliche Leitbilder, Weltbilder, Wunschbilder fallen, aber auch das Wunderbare, das Dämonische und der Traum – kurzum: das gesamte kulturelle Archiv ‚kollektiver Bilder‘. Die mentalen Vorstellungswelten drücken sich in sichtbaren Zeichen – Worten, Kleidung, Wappen, Architektur etc. – aus. Das Zusammenspiel des Körperlich-Materiellen mit kollektiven und individuellen Vorstellungswelten ist ein unmittelbarer Anknüpfungspunkt für die Religionsästhetik. Dass auch insgesamt eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Religionswissenschaft an dieses Programm in weiten Teilen gut anschlussfähig ist, hat Hubert Mohr bereits im Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe Bd. I (267 f.) gezeigt. Für die religionsästhetische Perspektive sind die Forschungen der École des Annales eine – noch zu großen Teilen unentdeckte – Fundgrube19. Ziel der École ist es, nicht punktuelle und elitäre Ereignisgeschichte zu betreiben, sondern mittels eines interdisziplinären Ansatzes zu einer „totalen Geschichte“, einer allumfassenden Sozialgeschichte zu kommen, die auch Alltagsgeschichte umfasst. Diese Geschichtsschreibung berücksichtigt sowohl kulturelle (soziale, wirtschaftliche, religiöse, künstlerische etc.) als auch natürliche (biologische, psychische, geographische etc.) Faktoren und bringt sie in einen Zusammenhang, sodass die grundlegenden und über lange Zeiträume (longue durée) beobachtbaren Strukturen einer Gesellschaft und ihre Wandlungen offenbar werden (Le Goff 1990(1978), Pomian 1990(1978)). Zu diesen Strukturen gehören auch die so genannten „Mentalitäten“ – geistige Einstellungen z. B. zum Leben, zum Alter, zu Krankheit, zum Tod – die als „Weltsicht“ im Kollektiv verankert unbewusst das Denken, Handeln und Fühlen jedes Einzelnen bestimmen (Ariès 1990(1978)). Bei den Mentalitäten spielen die imaginaires (in der deutschen Übersetzung: das Imaginäre), eine große Rolle, bringen sie doch die Einstellungen zu den unterschiedlichsten Bereichen des menschlichen Lebens in sinn- und sinnenfällige Anschauung (Patlagean 1990(1978)). Die histoire des imaginaires20 nimmt die künstlerischen, literarischen, dramatischen, rituellen etc. ————— 19 20

Vgl. dazu auch den Artikel von Kugele in diesem Band, kurz dazu auch Grieser. Vgl. Teil IV dieses Bandes „Imaginationsgeschichte“.

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Produkte des Imaginären als (Ver-)Äußerungen der mentalen Bilder in den Blick. Sie untersucht, wie sich materielle (z. B. zeit-räumliche) Realitäten und imaginäre Realitäten verbinden und gegenseitig beeinflussen. Beispiele dafür finden sich etwa in Jacques Le Goffs Aufsatzsammlung Phantasie und Realität des Mittelalters (1990(1985) – frz. Original L’imaginaire médiéval. Der Körper, so Le Goff, ist im Mittelalter „voll von Imaginärem“; Paradebeispiele sind die Kirche als Leib Christi, der Staat als lebendiger Leib mit monarchischem ‚Kopf‘ oder der durch die Ordination geweihte Körper des Priesters (ebd. 24)21. Le Goffs Einleitung zu diesem Band ist folgendes Plädoyer für eine Imaginationsgeschichte entnommen, das die Imaginationstheorie der École des Annales gut zusammenfasst: Warum nun ein neues Gebiet der Geschichte, das Imaginäre? […] [D]urch Psychoanalyse, Soziologie und Anthropologie sowie der Reflexion über die Medien wissen wir mehr und mehr, daß das Leben des Menschen und der Gesellschaften mit Bildern genauso verbunden ist wie mit greifbaren Realitäten. Diese Bilder beschränken sich nicht auf die ikonographische und künstlerische Produktion, sie erstrecken sich genauso auf das Universum der mentalen Bilder. […] Die Bilder, die den Historiker interessieren, sind durch die Wechselfälle der Geschichte zusammengebraute kollektive Bilder, die entstehen, sich verändern und erneuern. Sie drücken sich durch Worte, durch Themen aus. Sie werden durch Überlieferungen weitergegeben, von einer Zivilisation einer anderen entlehnt, sie zirkulieren in der diachronischen Welt der menschlichen Klassen und Gesellschaften. Sie gehören auch zur Sozialgeschichte, ohne sich auf sie zu beschränken. […] Das Imaginäre nährt den Menschen und veranlaßt ihn zum Handeln. Es ist ein kollektives, soziales, historisches Phänomen. Eine Geschichte ohne das Imaginäre ist eine verstümmelte, körperlose Geschichte (Le Goff 1990(1985): 12f.).

Ein weiterer Vertreter der starken französischen Forschungstradition zum kollektiven (gesellschaftlichen) Imaginären ist der politische Philosoph, Kultur- und Gesellschaftstheoretiker Cornelius Castoriadis (1922–1997) mit seinem Hauptwerk Gesellschaft als imaginäre Institution: Entwurf einer politischen Philosophie (1990(1975) – frz. Original L’institution imaginaire de la societé). Er entwirft darin eine symboltheoretische Gesellschaftstheorie, in die ‚Imagination‘ konstitutiv eingewoben ist. Darin zeigt sich eine Nähe zu konstruktivistischen Gesellschafts- und Kulturtheorien, wie die von Berger/Luckmann (2009(1969)) und die von Clifford Geertz (1983). Ähnlich wie die École des Annales sieht Castoriadis Symbole als Ausdruck des gesellschaftlichen Imaginären. Sein Magmabegriff (s. u.) erlaubt es, das gesellschaftliche Symbolsystem dynamisch zu sehen. —————

21 Eine Aufarbeitung des imaginativen Potenzial des Körpers von der Antike bis zur Gegenwart findet sich bei Koschorke et al. 2007.

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Wie in der École des Annales ist Castoriadis‘ Imaginationsbegriff in eine umfassende Theorie der Gesellschaft eingebettet, in der unterschiedliche Denkgebäude miteinander verbunden werden: Lacansche Psychoanalyse, Praxistheorie, Sozialontologie, Phänomenologie und Logik/Mathematik (Gertenbach 2011). Der Rahmen seiner Überlegungen ist dabei entschiedene Kritik am Marxismus, dem Castoriadis vorwirft, der „rationalistischen Illusion“ einer „restlose[n] Erfassung der Welt durch ein System“ zu erliegen und bei diesem Totalitätskonzept zu vergessen, dass es „Unendliches und Unbestimmtes gibt“ und „jede rationale Bestimmung einen unbestimmten und nicht-rationalen Rest übrig läßt“ (Castoriadis 1990(1975): 95). Castoriadis wendet sich daher auch gegen eine rationalistischfunktionalistische Erklärung von Gesellschaft: Gesellschaftliche Institutionen seien nicht durch ökonomische Funktionalitäten oder die biologische bzw. anthropologische Verfasstheit des Menschen determiniert, sondern entstehen immer wieder neu dadurch, dass sie durch gesellschaftliche Selbstschöpfung imaginär hergestellt werden. Diese Fähigkeit des Menschen, etwas Neues schöpferisch hervorzubringen, nennt Castoriadis das „radikale Imaginäre“. Das radikale Imaginäre erschaffe das „gesellschaftliche“ oder „aktuale Imaginäre“ (ebd. 218 f.) – konkrete imaginäre Produkte, z. B. die Vorstellung der Gesellschaft von sich selbst, von der Welt, von der Zeit etc. Das Imaginäre heftet sich an materielle oder sprachlich-abstrakte Symbole (Signifikanten), belädt sie mit imaginärer Bedeutung (Signifikaten) und verknüpft sie untereinander zu einem Symbolsystem, welches den imaginären Bedeutungen Geltung verschafft, „das heißt, diese Verknüpfung innerhalb der jeweiligen Gesellschaft oder Gruppe mehr oder weniger obligatorisch“ macht (ebd. 200). Das Symbolische ist für Castoriadis nicht nur „Ausdruck“ des Imaginären, sondern seine „Existenzweise“ in der Welt – denn ohne die Symbole bliebe das Imaginäre rein virtuell (ebd. 218). Als Gegenbegriff zu einer strukturalistischen, systemischen oder „mengentheoretischen“ Bestimmung des Imaginären verwendet Castoriadis die vulkanische Metapher des „Magmas“. Magma ist die für ihn treffende Bezeichnung für eine Seinsweise, die sich nicht rational, also identitäts- und mengenlogisch beschreiben lässt. Sie umfasst vielmehr eine Vielheit, aus der immer wieder neue und andere Teilmengen entnommen werden können, deren Bestandteile aber nicht klar voneinander abgegrenzt werden können. Das Imaginäre ist für Castoriadis ein fluider „Vorstellungsstrom“, der ein immer wieder sich veränderndes Magma imaginärer Bedeutungen hervorbringt – Bedeutungen, die sich stets verändern, neu kombinieren, aufeinander aufbauen, sich voneinander lösen … können (ebd. 564 f.). Die scheinbar natürlichen Schemata, in denen wir wahrnehmen, denken, handeln und die für uns ‚Realität‘ konstituieren – sind also nicht vorgegeben,

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sondern imaginär-schöpferisch hervorgebracht und somit auch veränderlich. Hier kommt Castoriadis‘ politikphilosophische und marxismuskritische Intention ins Spiel: Die Konzeption der Gesellschaft als Produkt des Imaginären verankert schon auf der ontologischen Ebene die Möglichkeit zur Emanzipation und Revolution im Gegensatz zur Entfremdung und zum Determinismus eines marxistischen Gesellschaftsmodells. Eine weitere Theorie der Imagination bietet der Literaturtheoretiker Wolfgang Iser in seinen Werken Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wirkung (1976(1984)) und Das Fiktive und das Imaginäre: Perspektiven literarischer Anthropologie (1991). Obwohl seine Imaginationstheorie die Literatur als Ausgangspunkt hat, geht sie doch in dem späteren Band – ähnlich wie bei den anderen vorgestellten Theorien des Imaginären – darüber hinaus und bettet die Überlegungen in einen eher universaltheoretischen, anthropologischen Rahmen. Für eine religionswissenschaftliche und religionsästhetische Perspektive ist Isers Idee der Lenkung des Imaginationsprozesses beim Lesen und der Verschleierung oder Offenlegung des Fiktionsstatus von Interesse – hier können seine Überlegungen zur Literatur z. B. auf religiöse Texte, aber auch auf Rituale übertragen werden. Dabei ist zu beachten, dass sein Begriff des „Fiktiven“ in etwa dem des Imaginären entspricht. Die Existenz von Literatur ist für Iser nur durch „die anthropologische Ausstattung des auf Kosten seiner Phantasie lebenden Menschen“ zu erklären, dessen Grundreflex es sei, sich ständig selbst zu überschreiten (Iser 1991: 11 f.). Iser ersetzt in seiner Erklärung der Literatur als erstes die herkömmliche Opposition von Wirklichkeit und Fiktion durch „die Triade des Realen, Fiktiven und Imaginären“ (ebd. 19). Der „Akt des Fingierens“ bewirke nämlich einerseits, dass „lebensweltliche Realität“ im Text wiederkehrt, aber andererseits auch, dass Imaginäres zur Geltung gebracht und in eine Gestalt gezogen wird (ebd. 20). Die Fiktion sorgt dafür, dass Reales irreal wird und Irreales (d. h. Imaginäres) real. Das Imaginäre ist laut Iser „in seiner uns durch Erfahrung bekannten Erscheinungsweise diffus, formlos, unfixiert und ohne Objektreferenz“ (ebd. 21). Erst durch das Fingieren wird es in eine bestimmte Gestalt überführt und erhält dadurch ein „Realitätsprädikat“, wodurch ihm zumindest der „Anschein des Realen“ zukommt (ebd. 22) – hier gibt es theoretische Ähnlichkeiten mit Castoriadis‘ Imaginären, das der Materialisierung im Symbol bedarf, um bedeutsam zu werden. Für Iser sind diese Fiktionen, also die Realwerdung des Imaginären durch den Akt des Fingierens, nicht auf Literatur beschränkt, sondern „sie spielen in den Aktivitäten des Erkennens, Handelns und Verhaltens eine ebenso große Rolle wie in der Fundierung von Institutionen, Gesellschaften

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und Weltbildern“ (ebd. 35 f.) – auch hier sieht man eine Nähe zu den oben behandelten gesellschafstheoretischen Imaginationstheorien. Der Status der Fiktion wird aber in diesen Fällen verschleiert, „weil sie nur so als die transzendentale Bedingung der Konstitution von Realität funktionieren kann.“ (ebd. 36) Ein fiktiver Text gibt sich dahingegen als solcher mittels historisch vorgegebener „Fiktionssignale“ (ebd. 35) zu erkennen, so dass dem Leser klar ist, dass die Welt des Textes eine Als-ob-Welt ist. Das hat zur Folge, dass im Falle der verschleierten Fiktion die „‚natürlichen‘ Einstellungen“ fortbestehen, im Falle der gekennzeichneten Fiktion hingegen suspendiert werden können (ebd. 37 f.). Trotzdem reagiert der Rezipient auf die Als ob-Welt mit „Einstellungsaktivität“; er stellt sich das Beschriebene vor, macht so durch den Text Erfahrungen und setzt sich und seine Alltagswelt dabei temporär irreal (ebd. 49; vgl. auch Iser 1984: 226 f.). Der fiktive Text selbst produziert Realität durch den Einbezug des Lesers. Der literarische Text arbeitet mit „Leerstellen“, die der Rezipient mit seinen eigenen Vorstellungen imaginativ ausfüllen muss. Dabei kommt es zu einem ständigen Wechselspiel zwischen Text und Leser, durch das der Leser in die literarische (fiktive) Welt des Textes hineingezogen wird: Der Leser spielt mit den Leerstellen des Textes, der Text spielt mit der Imagination des Lesers. Die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt verschwimmen, der Leser und seine Lebenswelt werden durch den Text irrealisiert, der Leser wird vom Text gespielt. Dies bereitet ihm ästhetisches Vergnügen und „Lust am Text“, vergleichbar mit den unendlichen Möglichkeiten und dem Rausch des Spiels (Iser 1991: 468–80). Es ermöglicht ihm aber auch neue Erfahrungen – nicht nur innerhalb der Textwelt, sondern ebenso mit seiner Lebenswelt (Iser 1984: 227). Einen wichtigen Stellenwert bekommt die Auseinandersetzung mit ‚Imagination‘ im 20. Jahrhundert auch im Rahmen der wissenschaftlichen Selbstreflexion und der Metareflexion der Voraussetzungen und Methoden wissenschaftlichen Arbeitens. Ein früher Text hierzu, der in der angelsächsischen Soziologie längst Klassikerstatus erlangt hat, ist das Vorwort von Wright Mills Sociological Imagination (2000(1959)) (dt. Kritik der soziologischen Denkweise). Soziologische Imagination ist für Mills der Vorgang des Sich-Lösens von der individuellen lebensweltlichen Erfahrung und das Abstrahieren dieser Erfahrung auf eine gesellschaftliche Ebene hin, wodurch Theorien über die Gesellschaft, in der man lebt, entstehen. Dies betreiben nach Mills im Grunde eigentlich alle Menschen ständig, doch tun Soziologen dies bewusst und reflektiert und sind deshalb mit besonderer Expertise ausgestattet. Mills’ Konzept der wissenschaftlichen Imagination sticht in gewisser Weise heraus, da seine Theorie noch nicht – wie in den folgenden Jahrzehnten

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üblich – auf wissenschaftliche Selbstkritik ausgerichtet ist; es geht vielmehr um Wissensebenen erster Ordnung (der Mitglieder der Gesellschaft) und zweiter Ordnung (des Soziologen). Außerdem geht seine Kritik – ähnlich wie bei Castoriadis – in die politische Richtung und er sieht in der soziologischen Imagination einen Schlüssel zur Veränderung und Demokratisierung der Gesellschaft. Wichtig bleibt der Gedanke, dass wissenschaftliche Theorien etwas mit dem lebensweltlichen Kontext des Forschers zu tun haben. Die Krise des Historismus und Postkolonialismus haben zu kritischer Selbstreflexion in vielen Disziplinen geführt, die sich mit Geschichtsschreibung beschäftigen. Insbesondere gilt dies für Geschichtswissenschaften, Philosophiegeschichte, Ethnologiegeschichte und etwas verspätet Religionsgeschichte. Es setzte sich die Erkenntnis durch, dass bei allem Wissenschaftstreiben Imagination eine Rolle spielt. ‚Imagination‘ kommt dabei dem sehr nahe, was alltagssprachlich als ‚Phantasie‘ oder ‚Fiktion‘ bezeichnet wird, um zu betonen, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse dieser Disziplinen nicht wie zuvor proklamiert ‚objektive Realität‘ abbilden, sondern immer durch den Forscher, seinen Hintergrund und seine Phantasien über den Forschungsgegenstand geprägt sind. Johann Gustav Droysens (1882) Gedanken zur Topik, zu unterschiedlichen Darstellungsweisen von historischen Sachverhalten und seine Überlegungen zur Imagination der Vergangenheit durch den Historiker, Hayden Whites (1973) Hinweis auf den poetischen Charakter historischen Arbeitens sowie Reinhart Kosellecks (1979) Kategorien des „Erfahrungsraums“ und „Erwartungshorizontes“, welche die Arbeit des Historikers prägen, sind Beispiele für diese Selbstreflexion der Geschichtswissenschaft. Zu ähnlichen Erkenntnissen kommt auch die ethnologische Selbstreflexion, die zu heftigen Debatten über das Problem der Repräsentation geführt hat (Writing Culture-Debatte). Karl-Heinz Kohl weist in seinem Werk Abwehr und Verlangen: Zur Geschichte der Ethnologie (1987) darauf hin, dass die Bilder des ‚Fremden‘ immer auch Bilder des Eigenen waren. Neben diesem selbstkritischen Blick ist für die religionsästhetische Perspektive auf Imagination u. a. Kohls Aufsatz Über einige der frühesten graphischen Darstellungen der Bewohner der Neuen Welt in der europäischen Kunst (1987) von Interesse, da es hier um textliche und visuelle Darstellungsweisen von Forschungsergebnissen und die Generierung kollektiver Vorstellungen über fremde Völker geht22. Kohl arbeitet heraus, dass sowohl im Entdeckungsprozess als auch in den Entdeckerberichten über die Völker —————

22 Zur Rolle der bildlichen Darstellung in Forschungsberichten am Beispiel der Fotografie siehe Kreinath in diesem Band.

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der Neuen Welt zur Markierung und Kommunikation der Andersheit der ‚Wilden‘ auf Motive aus dem Fundus traditioneller spätmittelalterlicher Hexenvorstellungen zurückgegriffen wird, wie sexuelle Freizügigkeit, Mordlust und Kannibalismus23. Da diese Imaginationen kulturell etabliert sind, färben sie nicht nur den Wahrnehmungsprozess des Entdeckers ein und leiten den Illustrator bei der graphischen Umsetzung der Beschreibungen. Der Wiedererkennungswert der bekannten Motive führt auch dazu, dass sich die Informationen aus den Entdeckerberichten bei den Lesern besonders leicht festsetzen und sich so eine kollektive Vorstellung von den amerikanischen ‚Wilden‘ etabliert, die wiederum alle darauffolgenden Expeditionen und Berichte zu den Eingeborenen prägt.24 An solche Auseinandersetzungen mit dem imaginativen Anteil der eigenen Forschungsgeschichte schließt sich der Religionswissenschaftler Hans G. Kippenberg in seiner Monographie Die Entdeckung der Religionsgeschichte: Religionswissenschaft und Moderne (1997) unmittelbar an. Nach Kippenberg sind alle frühen Religionsforscher durch die Diskurse in der eigenen Gesellschaft geprägt. Ihr Erfolg besteht darin, dass sie durch ihre Forschungen Antworten auf die Fragen ihrer Zeit geben. Emile Durkheims Konzept der Gemeinschaftsrituale z. B. stehe im Kontext der Angst vor einem Zerfall der französischen Gesellschaft durch die industrielle Arbeitsteilung. Anders in Deutschland, wo eher die Gefährdung von Individualität und Suche nach Spiritualität im Blickfeld gewesen sei. Gegen die Nachteile einer kalten rationalisierten Gesellschaft der Moderne, die auch die Religion in ihren Bann zieht, werde bei Rudolf Otto nicht der Verstand, sondern das Gefühl zum Organ der religiösen Wahrnehmung. So wirkten Forscher an der historischen Sinnbildung mit, einmal in Bezug auf das gesellschaftliche Kollektiv, einmal in Bezug auf den Einzelnen (Kippenberg 1997: 269). Kippenberg schließt sich aber auch an den amerikanischen Religionswissenschaftler Jonathan Z. Smith an, der bereits im Jahr 1982 in seinem Buch Imagining Religion: From Babylon to Jonestown die provokante, vielzitierte und -rezipierte These aufstellt „[T]here is no data for religion. Religion is solely the creation of the scholar’s study.“ (Smith 1982: xi) Damit meint Smith nicht, dass es keine Menschen gibt, die an Götter glauben und mit ihnen interagieren, vielmehr will er darauf hinweisen, dass der universale Religionsbegriff erst im 19. Jahrhundert entsteht: [M]an has had his entire history in which to imagine deities and modes of interactions with them. But man, more precisely western man, has had only the last few centuries

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Zum Hexen-imaginaire siehe auch den Artikel von Kugele in diesem Band. Eine differenzierte Aufarbeitung der imaginären Konstruktion des ‚Primitiven‘ im Zusammenspiel zwischen Ethnologie und Literatur findet sich bei Schüttpelz 2005. 24

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in which to imagine religion […] It is created for the scholar’s analytic purposes by his imaginative acts of comparison and generalization (ebd. xi).

Smith vertritt – imaginationstheoretisch gesprochen – somit einen epistemologischen Imaginationsbegriff, der besagt, dass imaginative Prozesse aus Sinnesdaten und Erfahrungen abstrahierend begriffliche Konzepte erschaffen, welche wiederum strukturierend und sinnbildend auf die Wahrnehmung zurückwirken. 4. Imagination und systematische Themen der Religionsästhetik Der kursorische Durchgang durch die Begriffs- und Theoriegeschichte hat schon manche Punkte aufgezeigt, an denen typische religionsästhetische Themen und Fragestellungen ins Spiel kommen. Im Folgenden soll Imagination auf ihre Bedeutung für die drei zentralen religionsästhetischen Themen- und Theoriefelder der Wahrnehmung, Wahrnehmungsgeschichte und Wahrnehmungsästhetik, der Medien, Medialisierung und Mediengeschichte25 und der Semiotik, d. h. der Zeichen und Zeichendeutung beleuchtet werden. Dabei werden relevante Imaginationstheorien und -konzepte auf diese Themenbereiche bezogen und so für die Perspektive der Religionsästhetik erschlossen. 4.1. Imagination, der Körper, die Sinne und die Wahrnehmung26 [Imagination] is a power in the human mind which is at work in our everyday perception of the world, and is also at work in our thoughts about what is absent; which enables us to see the world, whether present or absent as significant, and also to present this vision to others, for them to share or reject. And this power, though it gives us ‚thought-imbued‘ perception (it ‚keeps the thought alive in the perception‘), is not only intellectual. Its impetus comes from the emotions as much as from the reason, from the heart as much as from the head (Warnock 1976: 196).

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Wir verwenden in diesem Band den Begriff ‚Medien‘ im weitesten Sinne, d. h. nicht nur beschränkt auf Schriftkultur, Presse und Fernsehen etc., vielmehr einer kulturanthropologischen Medientheorie entsprechend für alle greifbar-sinnlichen Kommunikations-, Ausdrucks- und Inszenierungsformen (s. u. 4.2.). Dieser Medienbegriff korreliert mit Birgit Meyers Religionstheorie der „Mediation“ und ist weitgehend austauschbar mit dem, was andernorts auch material religion genannt wird – dem angelsächsischen Pendant zur Religionsästhetik, als dessen Hauptvertreter David Morgan gilt (für Meyer und Morgan, s. Literaturverzeichnis). 26 Diese Überschrift ist inspiriert vom Abschnitt „Der Körper, die Sinne und die Wahrnehmung“ im Grundlagenartikel „Religionsästhetik“ von Cancik und Mohr im Handbuch religionswissenschaftliche Grundbegriffe (Cancik/Mohr 1988: 132).

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Dieses Zitat aus einem ‚Klassiker‘ der Imaginationstheorie veranschaulicht, wie eng Imagination mit einem der zentralsten Themen der Religionsästhetik – der aisthesis oder Wahrnehmung – zusammenhängt. Die Philosophin Mary Warnock ist Vertreterin eines weiten, epistemologischen Imaginationsbegriffs: Für Warnock läuft Imagination bei jeder Form ‚erkennender‘ Wahrnehmung mit, sie ermöglicht es, die immer nur fragmentarischen Sinneseindrücke von etwas zu erkennbaren, signifikanten Entitäten zu ergänzen. Allerdings funktioniert die Wahrnehmung nicht als unabhängiges System neben diskursivem Denken und Emotion, sondern alle drei spielen zusammen – auch bei imaginativen Prozessen. Für die Religionsästhetik sind Empfindungen bzw. „(innere) Emotionen“ neben der „Arbeit der Sinne“ und dem „Prozess der Wahrnehmung“ maßgeblicher Teil ihres Gegenstandsbereichs (Cancik/Mohr 1988: 122). Imaginationen können starke Emotionen hervorrufen, unabhängig davon, ob sie privat (in Form von Tagträumen) ablaufen oder als mediales Angebot, z. B. in Form von Erzählungen, Filmen o. ä., wahrgenommen werden. Der Entwicklungspsychologe Paul L. Harris nennt diese Art der durch Imaginationen und medialen Fiktionen hervorgerufenen Empfindungen „aesthetic emotions“ (Harris 2000: 80). Diese Emotionen können so stark ausgeprägt sein, dass körperliche Auswirkungen spürbar sind, z. B. Weinen oder Lachen, Schockstarre, Übelkeit, sexuelle Erregung. In experimentellen Untersuchungen wurde bei den Testpersonen z. B. ein erhöhter Puls und eine Veränderung des Hautwiderstandes gemessen (ebd. 71). Der Grund dafür ist nicht, dass eine Verwechslung der imaginierten Realität mit der Wirklichkeit vorliegt – selbst Vorschulkinder können Phantasie von Realität unterscheiden (ebd. 65; 73). Vielmehr – so die Hypothese von Harris – wird eine Beurteilung über den ontologischen Status der Situation kurzfristig ausgeschaltet, so dass die emotionale Reaktion genauso von statten geht, als ob die Situation in der Realität auftreten würde: [A]rt moves us not because we pretend that it is real but because thoughts about its ontological status are not fed into the appraisal system. Such considerations are only fed into the appraisal system when the material is graphic or disturbing and we seek to remind ourselves that it is merely fictional […] (Harris 2000: 82).

Auf diese „temporäre Irrealisierung“ hat auch schon Wolfgang Iser im Kontext des Lesens fiktiver Texte hingewiesen (s.o. 3.3.). Die Fähigkeit des Menschen der „Irrealisierung“, des Ausschaltens eines ontologischen Urteils, der Suspendierung der Alltagswirklichkeit machen sich auch Religionen zunutze, z. B. in Ritualen, bei denen von den Teilnehmern die „rituelle Akzeptanz“ der kosmischen Ordnung und sozialen Regeln abverlangt wird, unabhängig davon, ob sie diese Überzeugungen außerhalb des rituellen

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Rahmens weiterhin teilen (Rappaport 2008: 200 f.). Aufgabe der Religionsästhetik wäre es, zu untersuchen, welche imaginativen Angebote und Prozesse religiös eingesetzt werden, um bestimmte Arten von Emotionen zu erzeugen, und welche Prozesse dazu führen, dass die religiöse Realität nicht in Frage gestellt wird. Auch dann, wenn man einen weiten, epistemologischen Imaginationsbegriff, wie er u. a. von Warnock vertreten wird, nicht teilen möchte und sich auf die Funktion der Imagination beschränkt, sich von der unmittelbaren Sinnes-Gegenwart zu lösen und Fiktives oder Nicht-Anwesendes mental zu repräsentieren, so funktioniert Imagination im Modus von Wahrnehmung. Selbst wenn Imaginationen sprachlich bzw. narrativ auftreten, so muss angenommen werden, dass Sprache über körperlich-bildliche Schemata organisiert ist, die wiederum auf die aisthetische Ebene zurückverweisen – so die Metapherntheorien von Lakoff und Johnson (2011(1980)). Alternativ könnte man von einem sprachlichen Imaginationsmodus neben dem sinnlichen (nicht nur bildlichen) ausgehen.27 Eine weitere Ausnahme zur Imagination im Modus der Wahrnehmung bilden eventuell Prozesse höchst abstrakter Imagination, wie z. B. höhere Mathematik oder theoretische Physik, die mit mehreren Dimensionen operieren, was sinnlich streng genommen nicht mehr vorstellbar ist. Ähnliches gilt sicherlich für Vorstellungen des Nirvana bzw. der Unendlichkeit. Hier müsste allerdings überprüft werden, ob sprachliche Formen oder sinnlich greifbare Symbole oder Metaphern eine ‚Platzhalter-Funktion‘ für die nicht-vorstellbaren Elemente einnehmen und so die abstrakte Imagination sich eigentlich doch im sprachlichen oder sinnlichen Imaginationsmodus abspielt. Unzählige Konzeptionalisierungen der Imagination von der Antike bis zur Neuzeit arbeiten mit der Metapher der ‚inneren Bilder‘ oder der ‚Pseudo-Wahrnehmung‘, um Imagination zu beschreiben. Dabei lässt sich bei dem Versuch, Imagination näher zu beschreiben, auch immer ein Rückschluss auf die Wahrnehmungsgeschichte ziehen, wie ihn z. B. die Anthropologie der Sinne vornimmt. Denn je nachdem, welche „Körperbilder, Sinneshierarchisierungen und Wahrnehmungswelten“ (Münster 2001: 15), kurzum, welche Wahrnehmungsästhetik vorliegt, passt sich die ‚Imaginationsästhetik‘ (oder besser: ‚Imaginationsaisthetik‘) daran an. „Was und wie ich wahrnehme, ist ein historisches Sozialprodukt“ (Cancik/Mohr 1988: 134). Genauso kann man erweitern: Was und wie ich imaginiere, ist ein

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27 Vgl. auch Traut in diesem Band, sowie Wilke zu einem auditiven neben und mit dem bildlichen Modus.

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historisches Sozialprodukt28. Dabei bedingen sich Körperbild, Sinneshierarchisierung und Imaginationsästhetik gegenseitig, wie im Folgenden nochmals im Rückbezug auf die europäische Imaginationsgeschichte illustriert wird. Im christlichen Mittelalter sind – wie oben schon erwähnt – die ‚inneren Sinne‘ und damit auch die Imagination von großer spiritueller und soteriologischer Bedeutung. Sie sind den ‚äußeren Sinnen‘ übergeordnet. Die inneren Sinne sind ‚edler‘, weil sie Gott besonders nahe kommen können und deshalb sind sie besonders zu schützen vor einer Kontaminierung durch die äußeren Dinge. Darum ist es wichtig, die Vorstellungen (imaginationes) von weltlichen und körperlichen Dingen möglichst frei zu halten. Sie sind durch den Verstand zu kontrollieren und sollen dadurch im seelischgeistigen Bereich verbleiben. Zu diesem Zweck werden im Mittelalter Techniken der Sinneskontrolle eingesetzt, die sowohl die äußeren als auch die inneren Sinne umfassen. Zum Beispiel werden in Form von klösterlichen Meditations- und Imaginationsübungen, den so genannten ars memorativa, die inneren Sinne trainiert und der ratio unterstellt (Carruthers 1998). Aber auch die „Kontrolle von Auge, Blick und Angesicht“ bzw. „Zucht der Augen“ (Bräunlein 2004a: 214) ist wichtig. Über eine solche Kontrolle der äußeren Sinne sollen die inneren imaginationes vor dem Bereich der sinnlichen „Augenlust“ geschützt werden. Nach Auffassung der Theologen wäre eine imaginative Versenkung in sinnlich-leibliche Bilder keine Annäherung an das Geheimnis des Göttlichen, sondern käme Idolatrie gleich (Meier 2003: 178; Schulte-Sasse 2001: 94). Die Imagination, die in fast allen Imaginationskonzepten seit der Antike im Zwischenbereich zwischen ‚Äußerem‘ und ‚Innerem‘ angesiedelt wird, wird in diesem christlich-mittelalterlichen Kontext also idealerweise auf der Seite des Inneren und Geistigen gesehen und dort positiv gewertet. Jedoch gerade aufgrund der Nähe und Ähnlichkeit der Imagination zu den äußeren Sinnen ist sie in diesem Konzept auch Einfallstor für den schädlichen Einfluss des Äußeren und Körperlichen und darum stets gefährdet. Das Imaginationskonzept ist aber nicht nur mit SinneshierarchieModellen, sondern auch mit Körperkonzepten verbunden. Im europäischen Diskurs wird schon seit der Antike der Sitz der Imagination im Körper gesucht und als Teil der körperlich verortbaren Seele im Herzen oder Gehirn lokalisiert. Ab dem Mittelalter – etwa bei Albertus Magnus – werden ausführliche Spekulationen darüber angestellt, in welchem Hirnareal die Imagination angesiedelt sei und diese anatomischen Theorien z. B. auch in ————— 28

Siehe hierzu auch unten 4.2.

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Schemazeichnungen illustriert (Meier 2003; van den Doel & Hanegraaff 2006: 610)29. Die vormoderne Medizin des 17. bis 19. Jahrhunderts schließlich sieht Imagination als organisch lokalisierbare Kraft, z. B. beim Mann in der Milz und bei der Frau zusätzlich in der Gebärmutter verortet. Solche Verortungen der Imagination sagen viel über das Imaginationskonzept der jeweiligen Zeit aus. So lässt etwa die Lokalisierung der Einbildungskraft in den Organen der Bauchhöhle auf eine gegenüber dem Mittelalter neue Zuschreibung von Funktion und Bewertung der Imagination schließen. Die Imagination rückt aus dem Bereich der inneren Sinne oder des Geistigen mehr in den Bereich des Körperlichen. So wird bis ins 18. Jahrhundert hinein angenommen, dass in der Milz krankmachende Einbildungen – Hypochondrien – entstehen können, die (entgegen einem heutigen Verständnis von Einbildung und Hypochondrie) körperliche Realität besitzen. Etymologisch bedeutet ‚hypochondrisch‘ auf den weichen Teil des Körpers unter und hinter den Rippenknorpeln bezogen – also auf Magen, Leber und Milz. Der moderne psychopathogene Begriff von Hypochondrie hatte im 17. Jahrhundert also noch die ganz physiologische Bedeutung einer gestörten Milz, die physisch krankmachende Bilder produziert. Das englische ‚spleen‘ hat bis heute die Doppelbedeutung als anatomische Bezeichnung für die Milz und psychologischer Begriff für Einbildungen behalten (Fischer-Homberger 1979(1978): 108 ff.; Steigerwald 2003; Watzke 2003). Die weibliche Imagination ist in den physiologisch-medizinischen Imaginationsmodellen der frühen Neuzeit zusätzlich zur Milz noch dem Einfluss der Gebärmutter unterworfen, weswegen Frauen (aufgrund von Evas doppelter Sünde) sozusagen doppelt gestraft sind. Der GebärmutterImagination wird große materielle Schaffenskraft zugeschrieben, die mütterliche Einbildung kann z. B. einen schädlichen Einfluss auf den Fötus haben und zu Missbildungen oder Fehlgeburten führen. Die weibliche Imagination wird als gefährlich, monströs, emotional und (vom Mann) nicht steuer- und kontrollierbar angesehen. Diesem Vorstellungsmodell gemäß entsteht auch die als typisch weiblich erachtete Krankheit Hysterie aus der Einbildungskraft der Gebärmutter (Fischer-Homberger 1979(1978): 110; 115–27; Steigerwald 2003; Watzke 2003: 235 f.; Schulte-Sasse 2001: 95). Ein weiteres paradigmatisches Beispiel für pathologische weibliche Gebärmutter-Imagination war für die Mediziner des 18. Jahrhunderts die Nymphomanie. Auffällig ist, dass das Bild der Frau und ihrer Krankheiten in all diesen medizinischen Theorien stets Produkt männlicher Imagination ist (Steigerwald 2003: 283–89). Hier erkennt man das machtvolle Potenzial ————— 29

Bei Meier (2003: 176) findet sich auch ein Abdruck einer spätmittelalterlichen Bildquelle.

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und die ganze gesellschaftspolitische und in diesem Fall auch genderpolitische Reichweite solcher imaginativ-ästhetischer Zuschreibungsprozesse und wie sie die Wahrnehmung kanalisieren. Grundlage für die organisch lokalisierten Imaginationskonzepte und die Einordnung der Imagination als gefährlich ist ein „osmotisches Körperbild“30 , in welchem durch die Vorstellung von durchlässigen Körpergrenzen eine Wechselbeziehung zwischen dem Körper und der materiellen Umwelt möglich ist – nicht zuletzt weil ein Imaginationskonzept der Wechselbeziehungen von Innen und Außen vorherrscht (Schulte-Sasse 2001: 96). Wenn die körperlich-sinnliche Seite im Imaginationskonzept stärker betont wird, wird die Imagination zur materiell verstandenen ‚Ein-Bildung‘, die physisch-physiologische Auswirkungen auf die materielle Welt und den eigenen Körper haben kann – aber somit auch einen schädlichen Einfluss auf die im Körper beheimatete Seele ausüben kann und zu geistigen Störungen führt. Ab dem 18. Jahrhundert findet sich eine Neubewertung der Einbildungskraft. Diese hängt nach Schulte-Sasse essentiell mit dem Entstehen eines neuen, geschlossenen Körperbildes zusammen, welches in Europa bis heute vorherrschend ist: Körper werden voneinander und von anderen materiellen Entitäten isoliert. Innen und Außen sind nicht mehr osmotisch durchlässig und in unmittelbarer Wechselwirkung aufeinander bezogen. Die Imagination unterliegt einer Entphysiologisierung: So wird ab dem 18. Jahrhundert auch den Krankheits-Einbildungen allmählich ihr physiologischer Realitätscharakter aberkannt und Imaginations-Störungen werden eher im Bereich psychischer Erkrankungen angesiedelt, womit Imagination zunehmend in den Zuständigkeitsbereich der Psychologie fällt (Fischer-Homberger 1979(1978): 108 ff.). Laut Schulte-Sasse erfährt das Konzept der Imagination zudem Veränderungen durch eine neu konzeptionalisierte Visualisierung des SubjektObjekt-Bezugs, indem zwischen anschauendem (imaginierendem) Subjekt und angeschauten (imaginierten) Objekt nun eine Trennung herrscht. Im zuvor gültigen osmotischen Körperbild war das Schauen Teil des stofflichen Austausches zwischen der Welt und dem Subjekt gewesen. Das, was man ansah, hatte körperliche und seelische Auswirkungen auf den Schauenden – erblickte z. B. eine Schwangere etwas Grässliches, so ging man davon aus, dass dies Fehlbildungen beim Fötus verursachen könne. Auch das Angeschautwerden selbst konnte Schaden verursachen – so das Konzept des ‚Bösen Blicks‘. Mit der Umdeutung des Sehens weg von einem —————

30 Der Begriff ‚osmotisch‘ stammt aus der Biologie und bedeutet dort, dass zwischen dem ‚Innen‘ und ‚Außen‘ einer Zelle durch ihre durchlässige Membran ein Austausch von molekularen Teilchen stattfindet.

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stofflichen Austausch hin zu einer geistigen Tätigkeit des Subjekts verändert sich im 18. Jahrhundert analog das Konzept der Einbildungskraft weg von einer sich körperlich materialisierenden Kraft hin zu einem psychischen Vermögen. Aus der Imagination als materiell verstandene ‚Ein-Bildung‘ wird geistige ‚Vor-Stellung‘; aus der Imagination als somatisch-seelischem Vermögen wird Imagination als kognitive Operation des Subjekts (SchulteSasse 2001: 97; vgl. auch Iser 1991: 316): Einbildungskraft, seit dem 18. Jh. […] Kraft […] des Vor-Stellens und Vergegenwärtigens von Bildern, auf die das Ich sich als handelndes bezieht, wird in jenem historischen Moment zu einem wichtigen Begriff, in dem die Welt als Bild vorgestellt wird, d. h. vorstellendes Subjekt und vorgestelltes Objekt sich einander entfremden. Die Visualisierung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses, in die die Begriffsgeschichte von Einbildungskraft eingebunden ist, ist Teil eines psychischen Modernisierungsprozesses, in dessen Folge sich die körperliche in die blickende Einbildungskraft transformiert; parallel dazu werden die menschlichen Sinne neu bewertet: das Ohr wird gegenüber dem Auge, Oralität gegenüber dem Text abgewertet (Schulte-Sasse 2001: 104).

In dieser Tradition steht die oftmals in der aktuellen Literatur zur Imaginationstheorie vorzufindende Bevorzugung des Sehsinns. So bezweifelt zum Beispiel Eva T. H. Brann in ihrem umfassenden Werk, dass Imagination in einem anderen Modus als dem visuellen überhaupt möglich sei (Brann 1991: 196 ff.). Dahingegen ist eine wichtige Einsicht des vorliegenden Bandes, dass Imagination auch in anderen sinnlichen Modi auftreten kann. Nicht zuletzt die Beschäftigung mit anderen Religions- und Sinneskulturen macht darauf aufmerksam, dass an diesem Punkt viele der bekannten Imaginationstheorien durch eine eurozentrische Einordnung der Visualität als Leitsinn und dem dazu gehörenden geschlossenen Körperbild mit der daraus folgenden strikten Trennung zwischen Seher und Gesehenem geprägt sind. Dies ist in nicht-europäischen Kulturen wie auch in vorneuzeitlichen europäischen Kontexten nicht in diesem Maße wiederzufinden31 – oder vielleicht müsste man besser sagen, in ganz anderer Form zu finden. So wurden etwa in China mit den Yin-Yang-Energien und den ‚Körpergottheiten‘ oder in Indien mit den physio-psychologischen Körpercakras andere (‚osmotische‘) Körperbilder und Imaginationen entwickelt32. Im hinduistischen Indien wurde auch anders über Seher, Gesehenes und Sehen in ihrer ————— 31

Siehe z. B. zur Bedeutung von Klang und Oralität Wilke/Moebus 2011. Zu den Körpercakras, die der yogisch-tantrischen Tradition entstammen s. den Artikel Wilke und für die westliche Adaption der Cakras den Artikel Koch in diesem Band. Zum daoistischen Körper- und Weltbild und Entsprechungsdenken, auf das oben Bezug genommen wurde vgl. Bumbacher 2000, insb. 455; Linck 2000, insb. 30–52; Schipper 1993. 32

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Differenz und Verschmelzung nachgedacht, und Imagination (kalpana, bhāvanā, etc.) erscheint nur mit mentalen Prozessen und Empfindungen konnotiert, jedoch in unterschiedlichen Traditionen unterschiedlich bewertet. Insofern eröffnet die empirische bzw. historische Erforschung imaginativer Prozesse in verschiedenen Religionskulturen die Möglichkeit, europäische Imaginationstheorien zu erweitern. Der Band leistet einen Beitrag, ein Spektrum europäischer und außereuropäischer Imaginationsästhetiken zu beschreiben und anhand unterschiedlicher Theorieentwürfe systematisch einzuordnen und zu analysieren. Damit wird ein erster Schritt zur Bearbeitung eines Forschungsdesiderats geleistet, mittels einer kulturvergleichenden Perspektive Hypothesen über universell anzutreffende Zusammenhänge zwischen bestimmten Körperbildern sowie Sinneshierarchien und der Beschreibung, Bewertung und Nutzung von Imagination zu überprüfen und zu differenzieren. Wenn Imagination als anthropologische Größe bzw. universal-menschliche Fähigkeit betrachtet wird, wie dies in diesem Band und anderen kulturwissenschaftlichen Zugängen geschieht, so ist doch bei der Theoriebildung die jeweilige Einbettung in kulturspezifische Deutungssysteme bezüglich Wahrnehmungsprozessen und Körperbildern immer mit zu berücksichtigen. Jede Theorie, die Allgemeingültigkeit beansprucht (und damit implizit kulturübergreifenden Anspruch geltend macht), muss sich der Problematik stellen, kontextsensitiv auch andere kulturelle Kontexte und Deutungsschemata wenigstens als mögliche Fragehorizonte mitzudenken und nicht auszublenden (wie dies allzu oft geschieht), um eurozentrische Engführungen zu vermeiden. 4.2. Imagination und Medien(geschichte) Eine weitere religionsästhetisch und religionssystematisch wichtige Erkenntnis ist, dass Imagination nicht zwangsläufig unabhängig von ‚Dingen‘ geschehen muss, vielmehr im Gegenteil oft in unmittelbarer Abhängigkeit und Wechselbeziehung zur materiellen Kultur steht und diese sogar benötigt. Dies gilt vor allem auch für religiöse Imagination: „No matter how transcendent and illusionistic the ideas or conceptual entities of religion may be, they have found a tangible translation into things […] that stare us in the face“ (Pruyser 1983: 153). Genau diese greifbaren ‚Dinge‘, die fluide religiöse Vorstellungen in verbindliche Gestalt ‚übersetzen‘ (vgl. Castoriadis und Iser), werden hier als ‚Medien‘ bezeichnet. Der Medienbegriff ist entsprechend weit gefasst. Er ist aus kulturanthropologischen Medientheorien übernommen. Danach sind Medien „alle ästhetisch rezipierbaren Inszenierungen mit einem per-

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formativen Potenzial, das je nach materialer Gegebenheit aktiviert werden kann. Es wird umso stärker sein, je mehr Bezüge zwischen unterschiedlichen Medien einbezogen sind.“ (Fauser 2003: 59) Oder anders ausgedrückt: „Medien sind Ermöglichungsformen von bestimmten Erfahrungen, in welchen Sinnlichkeit mit einem imaginären Inhalt verknüpft wird“ (Traut 2011: 63). In der Religionsästhetik ist dieser erweiterte Medienbegriff weithin gängig geworden. So verlangt auch Peter Bräunlein für die Annäherung von Religions- und Mediengeschichte […] einen erweiterten Medienbegriff […]. Als Medien werden demnach nicht nur die technischen Medien der Darstellung und Reproduktion von Bild und Schrift oder Kunst verstanden. Medien, über die Religion kommuniziert und gestaltet wird, sind u. a. auch Museen […] ebenso wie die Kultur des Rituals […] und der Feste […], Prozessionen und das Pilgerwesen […] (Bräunlein 2004: 326 f.).33

Birgit Meyer hat nicht zu Unrecht Religion insgesamt unter den Begriff der „Mediation“ gebracht und spricht auch von „ästhetischen Formationen“ (Meyer 2011, 2012a–c)34. Obwohl von Imagination als einer kognitiven Operation bzw. einem en Akt ausgegangen werden kann, so spielen doch materielle Bilder oder andere Formen von sinnlich wahrnehmbaren Medien und Medialisierungen für den Prozess der Imagination eine wichtige Rolle als material anchors (Chow & Harrell 2009: 2.2.1.) bzw. „imaginative Dinge“ (Schwarte 2006: 93 ff.) oder Imaginationshilfen. Dies bedeutet, dass durch die unterschiedlichsten Medien und die Sinneseindrücke, die durch sie ermöglicht werden, der Imaginationsprozess angeregt und gesteuert wird. Das kann man ‚Imaginationsinduktion‘ nennen. Eine hinduistische Götterstatue etwa gibt genaue Anhaltspunkte dafür, wie sich die Gläubigen das Aussehen der entsprechenden Gottheit vorzustellen haben. Sie macht die Gottheit dergestalt außen und innen präsent und ermöglicht als Träger/materielle Verkörperung bestimmter Vorstellungen, die mit der Gottheit verbundenen werden, eine emotionale Beziehung und besondere Nähe zu dieser. Materielle Gegebenheiten und Symbole geben aber nicht nur imaginative Angebote und Leitlinien vor. Sie werden umgekehrt auch durch den (religiösen) Imaginationsprozess umgedeutet. Die Wahrnehmung der materiellen Gegebenheit wird imaginativ überformt und manipuliert, so dass innerhalb dieses Rahmens z. B. Gegenständen neue Handlungsoptionen im Umgang mit ihnen zugeordnet werden. So wird – um bei unserem Beispiel zu blei————— 33

Siehe zu diesem erweiterten Medienbegriff auch Uehlinger 2006: 177. Siehe auch die kürzlich neu initiierte Zeitschrift Material Religion. The Journal of Objects, Arts and Belief, die von David Goa, David Morgan, S. Brent Plate und Crispine Paine herausgegeben wird. 34

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ben – die Götterstatue rituell belebt und kann sodann z. B. nicht mehr wie ein Kunstgegenstand zur Säuberung ‚abgestaubt‘ werden, sondern muss wie eine königliche Person ‚gebadet‘ werden. Die religiös-kollektive Vorstellung wie die individuelle kreativschöpferische Imagination kommt schließlich nicht selten dadurch zum Ausdruck, dass sie in materielle oder sinnlich wahrnehmbare Dinge ‚übersetzt‘ bzw. ‚objektiviert‘ wird – in Bauwerken, Geschichten, Tanz etc. – die dann wiederum imaginative Prozesse bei den Betrachtern anregen können. Imaginative Medien können natürlichen Ursprungs oder artifiziell sein; es können z. B. Bilder (visuelle Eindrücke), aber auch Geräusche, Musik (akustische Eindrücke), Körpertechniken (motorische, kinästhetische Eindrücke) oder auch Sprache sein bzw. die Kombination verschiedener Medien zu ganzen „multimedialen Inszenierungen“, ästhetisch-performativen Szenerien inklusive Artefakten und menschlicher Akteure (z. B. in Form eines Rituals) (Traut 2011: 117). Die Artikel dieses Bandes zeigen alle, wie unterschiedliche Medien eingesetzt werden, um religiöse Vorstellungen zu kommunizieren oder in den religiösen (imaginativ geprägten) Wahrnehmungs-, Erfahrungs-, Deutungs- und Handlungsmodus überzuwechseln. Chow und Harrell (2009) benutzen hierfür den Ausdruck material-based imagination: [T]he material image blends with the mental image to give rise to next imaginative image [sic!]. It follows that material images and mental images have a very intricate relationship. […] In creative operation, they may seem like dancing or boxing partners irregularly approaching each other, whether collaboratively or oppositionally. […] We call this imagination ‚material-based‘ imagination, as opposed to the general thought of imagination as purely a mental activity (Chow/Harrell 2009: 3.1.).

Chow und Harrell vertreten die für die neuere Kognitions- und Medienwissenschaft typische Ansicht, dass Bilder immer schon ein Hybridobjekt zwischen materieller Form und mentalem Phänomen sind und sich somit eine Trennlinie zwischen mentalen images und konkret-materiellen pictures nicht aufrecht erhalten lässt. Dieser Bildbegriff deckt sich laut Peter Bräunlein auch mit den religionswissenschaftlichen Befunden zum Phänomen der Bilder (Bräunlein 2004a: 207). Für einen religionsästhetischen Imaginationsbegriff ist diese Hybridisierung des Bildbegriffs zwischen mentalem Akt (oder dem ‚Imaginationsbild‘ bzw. mentalen ‚Produkt‘ des Imaginationsprozesses) und materieller Form von großer Bedeutung. Allerdings muss laut Ansicht der Autorinnen und Autoren dieses Bandes der Bildbegriff im Zusammenhang mit Imagination ausgeweitet werden und nicht nur visuelle, sondern auch sprachliche ‚Bilder‘, ‚Klangbilder‘ oder andere Sinneseindrücke mit einbeziehen. Hier müsste man, um im selben Sprachmodus zu bleiben, auch von ‚Geräusch-Bildern‘, ‚Bewegungs-

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Bildern‘, ‚Geschmacks-Bildern‘ u. ä. sprechen – diese Sprachregelung stößt aber an die Grenzen des Sinnvollen. Sie ist am ehesten auf Klang anzuwenden, indem ja durchaus auch in der Alltagssprache von ‚Klangteppichen‘ und ‚Geräuschkulissen‘ die Rede ist. Nichtsdestoweniger funktioniert Imagination nach Ansicht der Autorinnen und Autoren dieses Bandes auf allen sinnlichen und medialen Ebenen. Dabei muss davon ausgegangen werden, dass Imaginationsprozesse durchaus unterschiedlich ausfallen, je nachdem, welche Medien bzw. Sinneseindrücke sie benutzen – es ist nicht unerheblich, ob ein Mythos gemalt, gesungen oder getanzt wird: Bei jeder Variante werden die Imaginationen der Teilnehmer anders ausfallen. Zudem scheinen sich bestimmte Medien für bestimmte imaginative Inhalte teils mehr, teils weniger gut anzubieten – ein Weltentstehungsmythos als reine Geruchsinszenierung ist nur schwer vorstellbar. Inwiefern allerdings bei solchen Annahmen von kognitivsensorischen Imaginations-Universalitäten oder doch eher von kulturellen Gewohnheiten bzw. unterschiedlich geprägten Imaginationskulturen auszugehen ist, könnte nur durch eine gründliche vergleichende Untersuchung von Imaginationsinhalten und ihren Medien beantwortet werden. Zudem müsste dabei die Gefühlsebene verstärkt in Betracht gezogen werden, die oft auch mit anderen Sinnen und Synästhesien beschrieben wird und nicht allein dem Bildhaften zugeordnet werden kann. Nach gängiger indischer Ästhetiktheorie z. B. haben Musikstücke und Dramen, aber auch Bilder (je nach Tonfolge, Gebärde, Farbgebung und Komposition etc.) einen bestimmten, ihnen jeweils eigenen ‚Geschmack‘ (rasa) und ‚färben‘ (ranjana, rakti) deshalb die Empfindungen und Emotionen entsprechend unterschiedlich ein. Die Beiträge dieses Bandes schöpfen das große Repertoire kulturvarianter Imaginationsästhetiken und Medialisierungen nicht aus, geben aber Hinweise auf die kulturell teilweise recht unterschiedlich geprägten Medien der Imagination. Bei allem Sprechen von der Manipulierung und Steuerung der Wahrnehmung bzw. Imagination durch Medien und Sinneseindrücke darf nicht vergessen werden, dass Imagination auch einen widerständigen, chaotischen, nicht-kontrollierbaren Aspekt in sich trägt: Es gibt zwar soziale Konstellationen, die den Auftritt bestimmter Phantasien [i. e. Imaginationen] bei den beteiligten Individuen wahrscheinlich machen, direkt erzeugen bzw. bewirken lassen sich Phantasien durch äußeren Einfluß jedoch nicht. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zwischen Phantasien und Empfindungen. Wohl kann ich bei einem anderen eine Schmerzempfindung erzeugen, in dem ich ihm kräftig auf den Fuß trete, ich kann in ihm aber keine Phantasien erzeugen, in dem ich ihm eine Geschichte erzähle oder ihm ein Bild zeige – vielleicht fällt ihm nichts dazu ein (Tappenbeck 1999: 91).

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Aufgrund dieses Umstands gilt es für die Religionsästhetik zu untersuchen, wie in Religionen teilweise ein sehr dichtes atmosphärisches Mediensetting inszeniert wird, um die ‚Alltagswahrnehmung‘ möglichst umfassend auszuschalten und den religiösen, imaginativ geprägten Wahrnehmungsmodus zu induzieren. Auf diese Weise wird die von Clifford Geertz benannte „Aura der Faktizität“ für die religiösen Vorstellungen erzeugt (Geertz 1983: 48). Trotzdem darf natürlich nicht vergessen werden, dass Imagination auch dann tätig ist, wenn die präsente, aktuelle Wahrnehmung verstummt und das Wahrgenommene verschwunden ist. Aber auch dafür hat die Religionsästhetik Beschreibungsmuster entwickelt und hätte in diesen Fällen die Aufgabe, z. B. die Techniken und Medien der Reizdeprivation oder gleichförmiger Stimulierung (Cancik/Mohr 1988: 133 f.), welche gezielt zur Stimulation imaginativer Prozesse eingesetzt werden, zu beschreiben. Der systematische religionsästhetische Blick auf den Zusammenhang von Medien und Imagination wird stets historische und kulturelle Kontexte und medialen Wandel mit berücksichtigen. So ist der Zusammenhang von imaginativer Mediennutzung und Mediengeschichte in Europa für die Beschreibung von Imaginationskulturen besonders aufschlussreich. Untersucht man z. B. die Gründe, warum es im 18. Jahrhundert zu einer „Aufwertung der Einbildungskraft“ (Schulte-Sasse 2001: 91) kam, wird deutlich, wie eng mediale Umbrüche mit Veränderungen von Imaginationspraxis und -begriff korrelieren35. Schulte-Sasse (2001) beschreibt dies am Beispiel der Schriftsprache: In der Vormoderne wird materiellen Medialisierungen, z. B. der Schriftsprache – und damit auch geschriebener Poesie oder dem Vorgang des individuellen Lesens an sich – Misstrauen entgegengebracht. Aufgrund der Körperlichkeit des Schreibens und der materiellen Fassbarkeit der Schrift auf dem Trägermedium Pergament, Papier o. ä. wird Geschriebenes als sinnlich und damit ethisch fragwürdig eingestuft. Allerdings setzt mit dem Buchdruck und damit der Zugänglichkeit von Schriftsprache für die Massen, eine neue Bewertung dieses Mediums und damit auch eine neue Konzeption und Praxis von Imagination ein. Dadurch, dass das Schreiben mit der Hand ersetzt wird durch technisiertes Drucken und standardisierte Typographie wird Schrift von der körperlichen Aktivität eines einzelnen Schreibers abstrahiert. Ein gedrucktes Buch ist mehr lebloses, technisches ‚Objekt‘ als —————

35 Siehe dazu auch die Artikel von Hermann und Kreinath in diesem Band. Die Auswirkungen medialer Umbrüche auf die Imaginationskultur und das kulturelle Imaginäre sind allerdings auch nicht absolut zu setzen. Vgl. dazu etwa den bleibenden Wert des gesprochenen und klingenden Wortes durch die Jahrhundert und selbst noch im modernen Indien trotz hochkarätiger literarischer Zeugnisse, Schriftkultur und Buchdruck (Wilke/Moebus 2011) – im Unterschied zu europäischen Entwicklungen.

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eine Handschrift und schafft dadurch mehr Distanz zwischen Leser und Text. Textliche Imagination bekommt, so Schulte-Sasse, durch den Buchdruck eine neue, Distanz zulassende Facette. Zudem spielt auch die Vervielfältigungsmöglichkeit von Bildern eine wichtige Rolle für einen neuen, visualisierten Zugang zur Welt. Beschreibungen werden mit Illustrationen versehen, die zunehmend eine wichtige Imaginationshilfe neben dem Text darstellen36. Dieser Umbruch in der Medien- und Imaginationskultur hat auch direkte gesellschaftliche Auswirkungen. Die individuelle Lektüre kulturell kanonisierter Texte und Bilder, die anschauliche Beispiele moralischer Sittlichkeit zeigen, gewinnt große Bedeutung für die Bildung des bürgerlichen Subjekts, und damit auch für die Entstehung der bürgerlichen Kultur. Dabei wird Lektüre zum Mittel der diskursiven Bindung der Einbildungskraft und damit zum Mittel für Phantasie- bzw. Gefühlsmanagement. Auffallenderweise erscheint diese Disziplinierung und Formung der Imagination durch das bürgerlich-pädagogische Bildungs-Projekt parallel zur Aufwertung der Empfindsamkeit und der individuellen kreativen Einbildungskraft durch die Romantik (Schulte Sasse 2001: 108 ff.). 4.3. Imagination und Semiotik Ein dritter wichtiger Bereich der Religionsästhetik neben Wahrnehmung und Medien ist die Semiotik, die Beschäftigung mit Zeichen und ihren Bedeutungen (Cancik/Mohr 1988: 122; 142–52). Mit der Ebene der Zeichen wird der religionsästhetische Blick erweitert und führt weg von konkreter Materialität und Perzeption hin zum abstrakten Prozess der symbolischen Bedeutungscodierung und zu „kognitiven Vermittlungs- und Mitteilungsprozessen“ (Prohl 2004: 292). Trotzdem besteht ein Zusammenhang zwischen Religionsaisthetik und Religionssemiotik, nämlich dann, „wenn die Farben, Bilder, Klänge etc. als Zeichen, Codierungen oder symbolische Repräsentationen aufgefasst und gedeutet werden“ (Wilke 2008: 226), also von der Prämisse ausgegangen wird, „dass kognitive und sinnliche Bedeutungsträger in der religiösen Praxis verschmelzen“ (Prohl 2004: 293). Zur genaueren Klärung dieses Zusammenhangs zwischen Aisthetik und Semiotik kann der weit gefasste, epistemologische Imaginationsbegriff als missing link fungieren, nach welchem es keine Wahrnehmung ohne Imagination —————

36 Dies an sich ist allerdings nicht Moderne- und Druckerpresse-spezifisch. Siehe Kugele und Triplett in diesem Band. Illustrationen als Imaginationshilfen in Kombination mit Texten finden sich schon im Alten Orient und Ägypten. Wie stark die altorientalische Bildsymbolik sogar auf die alttestamentlichen Texte einwirkte wurde von der „Fribourger Schule“ um Othmar Keel und Christoph Uehlinger u. a. herausgearbeitet. Vgl. das initiale Werk von Keel 1984(1972).

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gibt, weil es keinen Wahrnehmungsprozess gibt, ohne dass zwangsläufig „Konstruktions-, Interpretations- und Zuschreibungsprozesse“ mitlaufen (Wilke 2008: 221; vgl. auch Mohr 2000). Dieses Imaginationsverständnis verbindet – wie oben gesehen – Sinneswahrnehmung, Emotion und Materialität/Medialität mit der konzeptionell-begrifflich-kognitiven Ebene. Wahrnehmen ist dank mitlaufender Imagination immer wahrnehmen ‚als etwas‘. Die ‚pure‘ Sinneserfahrung wird überschritten und imaginativ überlagert mit Bedeutung. Dies ist möglich, weil Imagination die Fähigkeit hat, die Gegenwärtigkeit der momentan einströmenden Wahrnehmung zu transzendieren und eine ‚geistige Wirklichkeit‘ zuzuschalten (oder bei Tagträumen, aber auch manchen religiösen Praktiken, ganz in diese hinüberzuwechseln). Dieses weite epistemologische Imaginationsverständnis wird auch von modernen kognitionswissenschaftlichen Ansätzen bestätigt, die Imaginationen nicht nur als Produkte der freien, kreativen Phantasie ansehen, sondern als kognitive Schemata – oder: „innere Bilder“ (Kittsteiner 2004: 153), welche die sinnliche Wahrnehmung strukturieren und neben dem diskursiven Denken eng mit den Affekten im Zusammenhang stehen: Diese inneren Schemata [i. e. Imaginationsbilder im kognitiv-epistemologischen Zusammenhang] haben eine doppelte Funktion. Sie können, das zeigen experimentelle Untersuchungen, genauso ‚betrachtet‘ werden wie äußere Objekte; offensichtlich benutzen bildhaftes Vorstellen und visuelle Wahrnehmung gemeinsam den gleichen neuronalen Verbund des visuellen Systems, so dass sie sich wechselseitig beeinflussen können. Andererseits […] gehen diese Schemata ordnungsstiftend in die Wahrnehmung neuer äußerer Objekte ein. […] Die Affektlogik stellt sich die anspruchsvolle Aufgabe, Denken und Fühlen – intellektuelle Fähigkeiten und emotionale Funktionen – bei psychischen Vorgängen nicht getrennt, sondern im Zusammenhang zu behandeln. Sie kommt zu der Auffassung, dass kognitive Schemata immer zugleich mit affektiven Schemata verbunden sind. […] Ich nenne diesen Vorgang bildgestütztes Sehen. […] Umgekehrt geht aber auch dieses Schema affektiv-kognitiv wiederum in unsere weitere Wahrnehmung mit ein und präformiert sie. Wir ‚sehen‘ nicht nur mit der Hilfe von inneren Schemata, sondern lassen uns auch die Ausrichtung von unseren Gefühlen und unserem Denken vorgeben (Kittsteiner 2004: 170 f.)37.

Die Imaginationen als kognitiv-affektive Schemata sind aber nicht nur subjektiv, sondern können durchaus den Status von kulturellem Gemeingut annehmen bzw. sie werden in der Regel diesem entstammen. Damit die inneren Bilder sozial relevant werden, müssen sie „anderen vermittelt wer-

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37 Ähnliche Ansätze vertreten z. B. Lakoff und Johnson mit ihrer conceptual-metaphor-Theorie (Lakoff/Johnson 2011(1980)) sowie Fauconnier und Turner 2002 mit der Theorie des conceptual blending.

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den und deren Imagination beeinflussen; sie bedürfen der Kommunikation durch Sprache und Gestik“ (Kramer 2001: 18). Wie die kulturwissenschaftlichen Imaginationstheorien der École des Annales oder von Cornelius Castoriadis zeigen, werden Imaginationen durch verbale und nonverbale Kommunikation, aber auch durch die Materialisierung in Medien formiert, transportiert und tradiert. Sozialisierung in einer Kultur bedeutet somit auch immer, in die ‚geistige Wirklichkeit‘, die kulturprägenden Imaginationen, das imaginaire einer Gesellschaft, eingeführt zu werden und sie anzunehmen. Paul Pruyser nennt dies „tutored fantasy“ (Pruyser 1983: 65). Durch diese Schulung der Imagination werden „die Menschen in kulturelle Ordnungen eingefügt, die ihr Verhältnis zu den Dingen bestimmen“ (Hüppauf/Wulf 2006: 35), sowohl im Hinblick auf Erkennen und Bewerten ‚als etwas‘, aber auch hinsichtlich des Erschließens von Handlungsoptionen in der jeweiligen Situation. Imagination hat somit auch „eine konstruktive Seite, die die Bedingungen menschlichen Handelns erst schafft“ (Hüppauf/Wulf 2006: 35). Betrachtet man Imagination auf dieser sozio-kulturellen Ebene, so muss ebenfalls berücksichtigt werden, dass Imagination nicht nur ‚stabile‘ kulturelle Symbole in Form von der Wahrnehmung beigesellter innerer Bilder liefert, sondern durch ihr kreatives und letztlich unkontrollierbares Potenzial auch kulturellen Wandel ermöglicht (vgl. Castoriadis). Kulturelle Symbole erlangen zwar vor allem durch ihre Materialisierung und Medialisierung eine gewisse Stabilität und Allgemeinverbindlichkeit, aber sie sind nicht unwandelbar. Kreative Imagination kann althergebrachte Deutungsmuster und Sichtweisen hinter sich lassen und ganz neue Assoziationen ermöglichen, die sich – wenn sie erfolgreich kommuniziert werden – wiederum kulturell etablieren können. Somit wäre mit der Fähigkeit der Imagination, sowohl Strukturen zu schaffen als auch zu zerstören, ein menschliches Potenzial gefunden, welches einerseits für kulturelle Stabilität aber auch für kulturelle Dynamik die Erklärung liefert38. Die Imagination – so fasst folgendes Zitat treffend zusammen – schafft Grundlagen der symbolischen Ordnung und ermöglicht es, diese zu verändern. Die Imagination bestimmt die Sichtbarkeit dessen, was erscheint, seien es Menschen oder Dinge, und macht es möglich, in das Unsichtbare hinüberzuwechseln. Sie schafft die ‚kollektive Performanz der Wahrnehmung‘, die Architektur der Präsentation und die Bedingungen ästhetischer, erotischer und sozialer [wie auch religiöser] Erfahrung. […] Als conditio humana unterliegt sie dem historischen und kulturellen Wandel, der in vielfältig miteinander verschränkten materiellen und mentalen, individuellen und

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Vgl. dazu insbesondere Rieck, Traut und Triplett, aber auch weitere Beiträge in diesem

Band.

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kollektiven Bildern zum Ausdruck kommt. Die in der Materialität des Körpers, seinen Rhythmen und Bewegungen implizite Einbildungskraft trägt durch ihre Bilder wesentlich zur Bildung der kulturellen Identität von Individuen und Gesellschaften bei. Sie erzeugt nicht nur Bilder; sie entwirft auch Figurationen sozialen Handelns und gibt ihnen eine Orientierung (Hüppauf/Wulf 2006: 35; 40).

5. Zum Forschungsdesign und Neuen dieses Bandes: Eine religionsästhetische Perspektive auf Imagination Der Sammelband untersucht das Wechselverhältnis von Religion – Imagination – Ästhetik und stellt mit der Imagination einen bislang unterdeterminierten Begriff in der Religionsforschung ins Zentrum. Die Korrelation der drei Begriffe im gleichnamigen Buchtitel liegt nicht ohne weiteres auf der Hand, ist hier aber wohlbegründetes Programm. Versammelt sind Artikel zur zentralen These, Imagination als Schlüsselkategorie von Religion zu verstehen. Die vielfältigen empirischen Fallbeispiele und Analyseansätze verbindet ein religionsästhetischer Fokus: die Frage nach sinnlichen Wahrnehmungsräumen von Religion, Medien und Semiotiken, und der Imagination als deren – bislang zu wenig beachtetes – verbindendes Glied. Der methodische Rahmen ist ein kulturwissenschaftliches und kulturanthropologisches Forschungsprogramm, d. h. eine multidisziplinäre und multikulturell offene Ausrichtung im analytischen Zugriff. Der Untertitel des Bandes will mit dem Ausdruck „Vorstellungs- und Sinneswelten“ die menschliche Fähigkeit der Imagination hervorheben, ‚Welten‘ – im Sinne von umfassenden, kulturell hervorgebrachten ‚Wirklichkeiten‘ – herzustellen. Welten sind nicht einfach universal gegeben, sondern sind im kulturwissenschaftlichen Verständnis ein kulturelles Produkt, die Deutung der Gesamtheit des dem Menschen Begegnenden zu einem sinnvollen Ganzen – ganz im Sinne von Clifford Geertz‘ Kulturbegriff des „selbstgesponnenen Bedeutungsgewebes“ (Geertz 1983: 9). Die Welt zirkulierender Bedeutungen, die Kultur konstituiert (Hall 1997), ist das imaginaire (das kollektive Imaginäre), das einen gemeinsamen Lebensund Erfahrungsraum konstituiert, mit Sinn erfüllt, Identität verbürgt und ein Set an Handlungs-, Denk- und Gefühlsoptionen bereitstellt, auf das sich alle Kulturteilnehmer beziehen können, es aber auch immer wieder neu aushandeln. Die Welt der Bedeutungen wird gestützt durch die Sinneswelt, die der sinnlichen Wahrnehmung zugängliche Welt, die uns umgibt. Diese wird dank der Imagination in ein Bedeutungssystem überführt, als ‚sinnvolle‘ wahrgenommen, und mit Leit- und Weltbildern verbunden. So liefert die sinnliche Welt zugleich das Material für die Repräsentation der Vorstellungswelten, die selbst nicht in ihr vorfindbar sind. Um das Nichtpräsente

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präsent zu machen, drängt das kreative Imaginieren immer wieder zur materiellen Darstellung, so dass auch neue Sinneswelten generiert werden, z. B. sinnliche Wahrnehmungsräume von Religion, die dem Einzelnen und dem Kollektiv verkörperte Erfahrung des Nichtsichtbaren ermöglichen. Der Plural ‚Welten‘ soll dieses Ineinander, Nebeneinander und Miteinander verschiedener Welten und Wahrnehmungsebenen verdeutlichen, und ebenso darauf aufmerksam machen, dass die in Religionen erlebte symbolischkognitive und sinnliche Wirklichkeit, auch wenn sie eine „Aura der Faktizität“ (Geertz 1983: 48) ausstrahlt, ethisch motiviert und emotional berührt, nur eine von vielen möglichen kulturell konstruierten ist. Imagination hat in diesen kulturellen Konstruktionsprozessen sowohl konservativ-konservierende und stabilisierende, wie auch innovativ-kreative und dynamisierende Züge und Wirkungen und verbürgt damit sowohl longue durée, wie auch Veränderung und Wandel. Es sind in diesen kulturellen Konstruktionsprozessen immer auch gesellschaftliche Machtkonstellationen im Spiel, die die Definitionsmacht imaginativ besetzen und z. B. über richtige und falsche Religion entscheiden. Ordnungsvorstellungen sind imaginativ erzeugt und nicht vom Himmel gefallen. Dominante Entscheidungsträger und bestimmte Interessen sorgen für die Produktion und Reproduktion dessen, was als gesellschaftlich akzeptierte Form von Realität als richtig, erlaubt und normativ zu gelten hat und was auszuschließen ist. Verbreitungsmedien stabilisieren stereotype Mainstreambilder des ‚Eigenen‘ und des ‚Anderen‘ (nicht erst mit dem modernen Pressewesen). Zugleich ist dieser kulturelle Konstruktionsprozess aber nie homogen, weil die Gesellschaften selbst – auch schon traditionelle – nie so homogen, geschlossen und scheinbar unveränderlich sind, wie es ein verkürztes Geertz-Verständnis vielleicht annehmen könnte. Es gibt immer Kulturteilnehmer, die anderer Meinung sind und sich gegebenenfalls anders verhalten – und gerade dies ist ebenfalls für unser Thema relevant. Dieselbe Kraft der Imagination, die zur Bildung und Stabilisierung kultureller Identität beiträgt, hat auch die Macht, sich demgegenüber widerständig und kritisch zu positionieren, Neues und Anderes zu denken, Utopien und Ideale anderer möglicher Welten zu schaffen. Trifft sie damit den Nerv der Zeit und wird intersubjektiv geteilt, wird Imagination zum Motor kulturellen Wandels. Kultureller und religiöser Wandel gehen i. d. R. eng zusammen39. —————

39 Vgl. hierzu auch die Einleitung zum Hauptteil III dieses Bandes „Imaginationspolitiken“ sowie die Profilbeschreibung der Forschungsstelle Kulturtheorie und Theorie des politischen Imaginären an der Universität Konstanz: http://www.uni-konstanz.de/kulturtheorie/profil_de.htm [09.08.2014].

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Die Kategorie ‚Kultur‘, die mit Geertz so stark ins Zentrum rückte, hat die Religionsforschung revolutioniert. Geertz hatte mit seinem Kulturbegriff eine Kategorie gefunden, die sehr viel erklären konnte und die Engführungen substantieller und funktionaler Religionsdefinitionen auflöste. Der Begriff war aber auch deshalb so machtvoll, weil er das eigentlich Offensichtliche (Religion als kulturelles System, dem alle/viele spontan zustimmen konnten) und doch vorher noch nicht Gedachte ausdrückte oder zumindest das noch nicht reflexiv Ausgelotete zur Sprache brachte. Kultur und Religion zu vereinen, war nicht ein neuer Gegenstand, sondern ein neuer Blick auf das Bekannte, das nun ins Licht des Scheinwerfers inhaltlicher Gegenstandsbestimmung und analytischer Reflexion gerückt, differenzierter verstanden und auf einer abstrakteren Metaebene erklärt werden konnte. Vielleicht ist es mit der Imagination und ihrer Zusammenschau mit der Religion ähnlich. Wir meinen, dass dies so ist und dass sich neue Blicke und Zusammenhänge durch die Kategorie ‚Imagination‘ ergeben können. Gerade für Religion ist Imagination ein Schlüsselbegriff. Sie erklärt das Offensichtliche: Religionen beschreiben Gottheiten oder andere transzendente Wesen, sie wissen von Welten jenseits ‚dieser‘ Welt, statten Handlungen mit besonderer Bedeutung aus und sakralisieren ‚alltägliche‘ Gegebenheiten. All dies verdanken Religionen der menschlichen Fähigkeit zur Imagination, welche die Grenzen des sinnlich Wahrnehmbaren und des Raumes und der Zeit überschreiten lässt. Man kann sogar so weit gehen, die These aufzustellen, dass ohne die Fähigkeit zur Imagination Religion nicht möglich wäre. Es braucht den imaginativen Akt, um beispielsweise aus ‚normalem‘ Wasser ‚Weihwasser‘, heiliges und heilendes Wasser, zu machen. Obwohl Imagination also offensichtlich von Religion gar nicht wegzudenken ist, ist der Begriff für die Religionswissenschaft und die religionswissenschaftliche Theoriebildung neu und unerwartet. Die metasprachliche Öffnung auf unerwartete Begrifflichkeiten, die alltagssprachlich normalerweise nicht auf Religion bezogen werden, entspricht dem Programm der critical terms. Solche Begriffe wurden für die kulturwissenschaftliche Religionswissenschaft sehr wichtig und waren immer wieder ausgesprochen fruchtbar, die Forschung voranzutreiben. Neben ‚Kultur‘ waren dies etwa ‚Performanz‘, ‚Kommunikation‘, ‚Körper‘ und neuerdings auch ‚Ästhetik‘, ‚Materialität‘ und ‚Medialität‘. Im Vorhaben, Imagination als Grundbegriff der Religionsästhetik, und der kulturwissenschaftlichen Religionswissenschaft sehr insgesamt, einzuführen und das Themenfeld multidisziplinär und multikulturell zu bearbeiten, ist es ein zentrales Anliegen, Imagination nicht nur als objektsprachlichen Terminus, sondern als eine Analysekategorie zu verstehen, d. h. als

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eine metasprachliche Kategorie, die es erlaubt, die kulturellen Phänomene auf einem höheren Abstraktionsniveau darzustellen, zu reflektieren, zu explizieren und zu vergleichen. Ein vermehrtes Nachdenken über Imagination als es in der Religionswissenschaft bislang üblich war, ist deshalb mehr als ein Luxus und sogar mehr als nur eine neue Perspektive. Der vorliegende Band will dies zuerst einmal überhaupt ‚sichtbar‘ machen. Er macht einen Anfang, die Forschungslücke anzugehen, ohne Anspruch darauf, dass sie damit ‚geschlossen‘ wäre oder der Themenkomplex ein für alle Mal erschöpfend behandelt worden sei. 40 Im Sinne eines Grundbegriffs und critical term sind zwei (potentiell unerschöpfliche) Ziele zu verfolgen: zum einen die Erhebung und „dichte Beschreibung“ des Phänomenbereichs in unterschiedlichen Religionskulturen und zum anderen die theoretische Verortung. Doppelte Zielsetzung ist es mithin, den religionsgeschichtlichen Kenntnisstand zu erweitern, wie auch die Typen-, Begriffs- und Theoriebildung der systematischen Religionswissenschaft zu bereichern. Im Begriff ‚critical term‘ ist das Bestreben angelegt, über den Einzelfall hinaus an einem operationalierbaren Allgemeinbegriff zu arbeiten, der auch für andere Einzelfälle gültig ist, wohl wissend um die Schwierigkeiten universaler Begrifflichkeiten. Die Aufsatzsammlung nimmt den Themen- und Theoriekomplex unter spezifisch religionsästhetischem Fokus in den Blick. Es steht die Wahrnehmung und Emotionen strukturierende Rolle der Imagination im Mittelpunkt, wie auch die Stimulation der Imagination durch sinnlich-ästhetische Konfigurationen, Inszenierungen, Medien und Techniken. Was interessiert, ist die Produktion mentaler Bilder und wie sich diese wiederum produktiv im Welterleben und Handeln auswirken – im Subjektiven wie im Kollektiven. Von Interesse ist nicht zuletzt, wie sie sich über sinnenfällige Bilder, Klänge, Gerüche, Gesten, Rituale etc. ins kulturelle Gedächtnis einprägen, aber auch bearbeitet und umgestaltet werden oder sich durch Medienumbrüche maßgeblich verändern. Das ‚kulturelle Archiv‘ des Imaginären und seine historischen Verschiebungen in einer jeweiligen Gesellschaft gehören ebenso zum Forschungsprogramm wie das Verhältnis von äußerer und innerer Wahrnehmung, Somatik und Semiotik, individueller und kollektiver Sinnwelten. Dies wird anhand von vier großen Themenkreisen näher ausgeführt, die zugleich ineinander übergreifen: Imaginationstechniken, Imaginationsräume, Imaginationspolitiken und Imaginationsgeschichte.

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40 Verwiesen sei hier auf die Promotion ‚in progress‘ von Lucia Traut, die der Bearbeitung des Imaginationsbegriff in noch weiterer Perspektive, als dies hier geschieht, gewidmet ist.

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Absicht der Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes ist es auszuloten, welche Möglichkeiten der Imaginationsbegriff spezifischerweise für die Religionsästhetik bietet. Zum Prozess dieses Auslotens gehört, dass nicht von vornherein einen festen Imaginationsbegriff vorgegeben wurde, sondern in Einzelforschung jeweils analytische Arbeitsbegriffe gebildet werden. Diese können sich einerseits deduktiv aus verschiedenen Imaginationstheorien und kulturwissenschaftlichen Perspektiven herleiten und andererseits induktiv aus dem empirischen religionsgeschichtlichen Material gewonnen werden. Als kleinster gemeinsamer Nenner kann die an Kant angelehnte Formel des Anwesendmachens von Nichtanwesendem gelten. Zu den Grundfunktionen von Imagination zählt aber auch die des Repräsentierens und Verknüpfens. Mit dem religionsästhetischen Ansatz liegt ein Fokus auf der sinnlichen Wahrnehmung und ihrer engen wechselseitigen Verknüpfung mit mentalen Bildern, Vorstellungen, Erinnerungen, Empfindungen und Emotionen. In jedem imaginativen Akt sind, ähnlich wie bei jeder sinnlichen Wahrnehmung (Mohr 2000), mehrere Dinge am Werk: biologisch-neuronale Prozesse (Hirnfunktionen), sozio-kulturelle Vorgaben, religiöse Präfigurationen, zwischenmenschliche Interaktionen sowie individuelle Aneignungsformen und kreative Leistungen. Als gemeinsame Basis dient die Annahme einer anthropologisch fundierten und deshalb auch universal homogenen Imaginationskompetenz, die kulturell unterschiedlich geprägt ist41, sowie die methodische Verpflichtung auf eine „diskursiv, theoretisch und historisch zugleich arbeitende[.] Religionswissenschaft“ (Mohn 2004: 307) im Modus der Religionsästhetik. Inhalt und Aufbau des Bandes In diesem Band wird der in der Religionswissenschaft bislang zu wenig beachtete und kaum reflektierte Imaginationsbegriff differenziert untersucht anhand einer großen Varianzbreite religionshistorischer empirischer Beispiele, und er wird anhand einer Vielzahl von Theorien und Methoden analytisch aufbereitet und unter religionsästhetischer Perspektive religionssystematisch konturiert.42 Eine Besonderheit ist, dass der Sammelband trotz dieser angesprochenen Vielfalt nicht wie andere Werke dieses Genres eine ‚zufällige‘ Sammlung —————

41 In Anlehnung an Prohl 2004: 292 – Basis der Religionsästhetik ist die „Annahme einer universal homogenen Wahrnehmungskompetenz, die kulturell unterschiedlich geprägt ist.“ 42 Hier sei auch auf die im Anschluss an diese Einleitung folgende Literaturliste verwiesen, die einführende und vertiefende Literatur zu Imagination und Imaginationstheorien im Allgemeinen und zu den vier großen Themen dieses Bandes versammelt. Bei den Einleitungen zu den vier Hauptteilen wurde auf ausführliche Quellenverweise zugunsten der besseren Lesbarkeit verzichtet.

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unverbundener Artikel aneinanderreiht. Vielmehr verdankt sich einem innovativen Entstehungsprozess in intensivem Austausch untereinander ein integratives Gesamtbild und hohe thematische Kohärenz, obwohl die einzelnen Beiträge je für sich selbst stehen und auf unterschiedlichen inhaltlichen, theoretischen und methodischen Voraussetzungen beruhen. Ein hervorstechendes Merkmal ist ferner, dass der Band differenzierte text- und sachnahe Beschreibungen und Analysen konkreter historischer und zeitgenössischer Beispielfälle mit einer breiteren Diskussion theoretischer und interpretativer Fragestellungen verknüpft und damit historischen Einzelfall und systematischen Grundbegriff ‚Imagination‘ aufeinander bezieht und reflektiert. Diese besondere Stärke einer Verknüpfung von Empirie und Theorie wird dadurch potenziert, dass die Theoriebildung auf drei Ebenen stattfindet: 1. in der vorliegenden Gesamteinleitung, die Imagination auf die drei zentralen Themen der Religionsästhetik bezieht, nämlich: Erstens Wahrnehmung, Wahrnehmungsgeschichte und Wahrnehmungsästhetik, zweitens Medien, Medialität und Mediengeschichte, wobei hier ein kulturanthropologischer Medienbegriff verwendet wird, der ein Feld bezeichnet, das andernorts material religion oder in Birgit Meyers Religionstheorie „Medialität“ und „ästhetische Konfiguration“ genannt wird. Und drittens geht es natürlich auch um die Religionssemiotik, die Zeichen und ihre Deutung. Typischerweise ging dieser Diskussion ein begriffs- und theoriegeschichtlicher Teil voraus. Imaginationsbegriff und damit unmittelbar verbunden Imagination, Imaginieren und Imaginäres und das Sprechen über sie sind geschichtlich und sozio-kulturell determiniert. Auch wenn wir von einer allgemeinmenschlichen Imaginationskompetenz ausgehen, wird diese doch (mitsamt ihrer Potenziale, Aktivitäten und Produkte) – via Wahrnehmung, Medien und Deutung – historisch, kulturell und selbst innerhalb einer Gesellschaft derselben Zeitperiode unterschiedlich aktiviert, modelliert, bewertet und verhandelt. Wir schließen davon die imaginativen Anteile der Religionsgeschichtsschreibung – einschließlich unserer eigenen – nicht aus. 2. Theoriebildung geschieht ferner auf Ebene der systematischen Einleitungen, die den Artikeln der vier großen Teile dieses Bandes vorangestellt sind und je einen Ausschnitt des weiten Feldes Imagination beleuchten. Die Einleitungen wurden von allen Autoren/-innen des jeweiligen Teils gemeinsam verfasst. Es werden darin nicht nur die Fragestellungen der einzelnen Artikel vorgestellt und die inhaltlichen Klammern, sondern

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auch die gemeinsamen systematischen Verbindungslinien der Artikel zueinander und zu den anderen Abschnitten des Bandes aufgezeigt. Das erste Kapitel Imaginationstechniken (Brigitte Luchesi, Katharina Wilkens, Anne Koch, Annette Wilke) trägt der religionsaisthetischen Perspektive besonders Rechnung, indem verschiedene Beispiele von Körpertechnik, Wahrnehmungssteuerung und Medialisierung aufgezeigt werden, mit Hilfe derer Imagination hervorgerufen und gelenkt wird. Dabei werden sowohl kulturell etablierte Techniken thematisiert, die gar nicht mehr reflektiert werden, sich vielmehr in Riten, Anschauungen und Habitusformen verdichtet haben, wie auch Techniken, die bewusst und gezielt mit der menschlichen Vorstellungskraft arbeiten, um eine Transformation in der mentalen und physischen Welt herbeizuführen. Im Kapitel Imaginationsräume (Isabel Laack, Sebastian Schüler, Adrian Hermann) sind Artikel versammelt, die aufzeigen, wie mithilfe von Imaginationstechniken und -praktiken und ihren Medien nicht nur neue mentale Räume geschaffen werden, sondern auch konkrete Orte und geographische Räume so manipuliert werden, dass sie neue kulturelle, religiöse und damit auch soziale und handlungspraktische Bedeutungen erlangen. Das Kapitel Imaginationspolitiken (Lucia Traut, Katja Rieck, Katja Triplett) erweitert diese Aspekte und untersucht den kommunikativstrategischen Einsatz von Imaginationstechniken bzw. die Besetzung von Imaginationsräumen zu politischen Zwecken der Stabilisierung, Reformation, Selbstbehauptung oder Abgrenzung. Das letzte Kapitel Imaginationsgeschichte (Jens Kugele, Jens Kreinath, Alexandra Grieser) widmet sich der historischen Dynamik von Imagination und verfolgt die geschichtliche Entwicklung bestimmter kultureller, religiöser und wissenschaftlicher imaginaires und ihre Bedeutung für die Kultur- und Fachgeschichte. Dabei wird eine spannende Dialektik deutlich: die Geschichte des Imaginären und das Imaginäre der Geschichte bzw. der (Religions-)Geschichtsschreibung. 3. Die dritte Ebene der Theoriebildung geschieht auf Ebene der Einzelbeiträge, denen jeweils ein abstract vorangestellt ist, das kurz über die näheren Inhalte, Zielsetzungen und theoretischen Verortungen Auskunft gibt. Ein Spezifikum des Bandes ist nicht zuletzt, dass jeder der Artikel Empirie und Theorie verbindet, d. h. unterschiedliche religionsgeschichtliche Beispiele der Vergangenheit und Gegenwart mit analytischen Reflexionen zum Imaginationsbegriff verknüpft. Entsprechend unserem kulturwissenschaftlichen Verständnis von Religionswissenschaft und Religionsästhetik schöpfen die Beiträge in großer Interdisziplinarität aus unterschiedlichen Partnerdisziplinen von der Philologie zur Soziologie und

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der Geschichts-, Kunst-, Medien- und Kognitionswissenschaft, um nur einige maßgebliche zu nennen. Die Religionsästhetik dient dabei immer als übergreifender Ansatz, der die Beiträge miteinander verbindet. Literatur Athanassiadi, Polymnia 2009. „The Gods are God. Polytheistic Cult and Monotheistic Theology in the World of Late Antiquity”. In: Schabert, Tilo und Matthias Riedl (Hg.), Gott oder Götter? /God or Gods?. Würzburg: Königshausen & Neumann, 15–31. Auffarth, Christoph 2002. Irdische Wege und himmlischer Lohn: Kreuzzug, Jerusalem und Fegefeuer in religionswissenschaftlicher Perspektive. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Behrens, Rudolf (Hg.) 2002. Ordnungen des Imaginären: Theorien der Imagination in funktionsgeschichtlicher Sicht. (= Sonderheft der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft). Hamburg: Felix Meiner. Berger, Peter L. und Thomas Luckmann 2009(1969). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main: S. Fischer. Brann, Eva T. H. 1991. The World of the Imagination: Sum and Substance. Lanham: Rowham & Littlefield. Bräunlein, Peter 2004a. „Bildakte: Religionswissenschaft im Dialog mit einer neuen Bildwissenschaft“. In: Luchesi, Brigitte und Kocku von Stuckrad (Hg.), Religion im kulturellen Diskurs. Berlin/New York: De Gruyter, 195–231. Bräunlein, Peter 2004b. „Religionsgeschichte als Mediengeschichte: Eine Skizze“. In: Münchener Theologische Zeitschrift 55.4: 325–329. Bräunlein, Peter 2004c. „‚Zurück zu den Sachen!‘ Religionswissenschaft vor dem Objekt“. In: Bräunlein, Peter (Hg.), Religion und Museum. Bielefeld: Transcript, 7–29. Bumbacher, Stephan Peter 2000. „Taoismus“. In: Metzler Lexikon Religion: Gegenwart – Alltag – Medien, Bd. 3. Stuttgart: Metzler, 451–458. Casey, Edward S. 1976. Imagining: A Phenomenological Study. Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press. Cancik, Hubert und Hubert Mohr 1988. „Religionsästhetik“. In: Cancik, Hubert, Burkhard Gladigow und Matthias Laubscher (Hg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 1. Stuttgart [u. a.]: Kohlhammer, 121–156. Carruthers, Mary 1998. The Craft of Thought: Meditation, Rhetoric, and the Making of Images 400–1200. Cambridge: Cambridge University Press. Castoriadis, Cornelius 1990(1975). Gesellschaft als imaginäre Institution: Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Castoriadis, Cornelius 2010(1986–1997). Das imaginäre Element und die menschliche Schöpfung: Ausgewählte Schriften, Band 3, hg. von Michael Halfbrodt und Harald Wolf. Lich/Hessen: Edition AV. Chayko, Mary 2002. Connecting: How We Form Social Bonds and Communities in the Internet Age. Albany: SUNY Press. Chow, Kenny K.N./Harrell, D. Fox 2009. „Material-Based Imagination: Embodied Cognition in Animated Images“. In: Cognition and Creativity, Digital Arts and Culture, Arts Computation Engineering, UC Irvine. Online-Ausgabe: http://escholarship.org/uc/item/6fn5291r [26.08.2013] Davis, Richard (Hg.) 2007. Picturing the Nation: Iconographies of Modern India. Hyderabad: Orient Longman. Dewender, Thomas und Thomas Welt (Hg.) 2003. Imagination – Fiktion – Kreation: Das kulturschaffende Vermögen der Phantasie. München/Leipzig: K.G. Sauer.

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Schüttpelz, Erhard 2005. Die Moderne im Spiegel des Primitiven: Weltliteratur und Ethnologie 1870–1960. München: Wilhelm Fink. Schulte-Sasse, Jochen 2001. „Einbildungskraft/Imagination“. In: Barck, Karl Heinz et al. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe: Historisches Wörterbuch, Bd. 2. Stuttgart: Metzler, 88–120. Schwarte, Ludger 2006. „Intuition und Imagination – Wie wir sehen, was nicht existiert“. In: Hüppauf, Bernd und Christoph Wulf (Hg.), Bild und Einbildungskraft. München: Wilhelm Fink, 92–103. Singer, Jerome und Kenneth S. Pope (Hg.) 1986. Imaginative Verfahren in der Psychotherapie. Paderborn: Junfermann. Smith, Jonathan Z. 1982. Imagining Religion: From Babylon to Jonestown. Chicago: University of Chicago Press. Steigerwald, Jörn 2003. „Weibliche ‚Imagination‘ im anthropologischen Diskurs der französischen Aufklärung“. In: Dewender, Thomas und Thomas Welt (Hg.), Imagination – Fiktion – Kreation: Das kulturschaffende Vermögen der Phantasie. München/Leipzig: K.G. Sauer, 267–289. Steinhäuser, Martin 2011. Imagination: Studien zu Theorie und Wirksamkeit der Vorstellungskraft in Prozessen religiöser Bildung. Münster: Lit. Stolz, Fritz 1988. „Hierarchien der Darstellungsebenen religiöser Botschaft“. In: Zinser, Hartmut (Hg.), Religionswissenschaft: Eine Einführung. Berlin: Dietrich Reimer, 55–72. Tappenbeck, Inka 1999. Phantasie und Gesellschaft: Zur soziologischen Relevanz der Einbildungskraft. Würzburg: Königshausen & Neumann. Taylor, Mark C. 1998. Critical Terms for Religious Studies. Chicago/London: The University of Chicago Press. Torok, Maria 1997. „Phantasie. Versuch einer begrifflichen Klärung ihrer Struktur und Funktion“. In: Psyche 51.1: 33–45. Traut, Lucia 2011. Ritualisierte Imagination: Das Fantasy-Rollenspiel ‚Das Schwarze Auge’. Münster. Lit. Traut, Lucia 2012. „Die Konstruktion kollektiver Vorstellungsräume im Fantasy-Rollenspiel“. In: Schmeink, Lars und Hans-Harald Müller (Hg.), Fremde Welten: Wege und Räume der Fantastik im 21. Jahrhundert. Berlin/Boston: De Gruyter, 121–139. Uehlinger, Christoph 2006. „Visible Religion und die Sichtbarkeit von Religion(en): Voraussetzungen, Anknüpfungsprobleme, Wiederaufnahme eines religionswissenschaftlichen Forschungsprogramms“. In: Berliner Theologische Zeitschrift 23.2, 165–184. Van den Doel, Marieke und Wouter J. Hanegraaff 2006. „Imagination“. In: Hanegraaff, Wouter (Hg.), Dictionary of Gnosis & Western Esotericism. Leiden/Boston: Brill, 606–616. Warnock, Mary 1976. Imagination. London/Boston: Faber. Watzke, Daniela 2003. „Anatomische Struktur der Imagination und ihr Funktionswechsel im medizinischen Denken der Neuzeit”. In: Dewender, Thomas und Thomas Welt (Hg.), Imagination – Fiktion – Kreation: Das kulturschaffende Vermögen der Phantasie. München/Leipzig: K.G. Sauer, 229–242. White, Hayden 1973. Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore/London: The John Hopkins University Press. Wilke, Annette 2008. „Religion/en, Sinne und Medien: Forschungsfeld Religionsästhetik und das Museum of World Religions (Taipeh)“. In: Wilke, Annette und Esther-Maria Guggenmos (Hg.), Im Netz des Indra: Das Museum of World Religions, sein buddhistisches Dialogkonzept und die neue Disziplin Religionsästhetik. Münster: Lit, 206–294. Wilke, Annette und Oliver Moebus 2011. Sound and Communication: An Aesthetic Cultural History of Sanskrit Hinduism. Berlin/New York: De Gruyter. Winnicott, Donald Woods 2008(1951). Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse. Gießen: Psychosozial-Verlag. Zollna, Isabel 1990. Einbildungskraft (imagination) und Bild (image) in den Sprachtheorien um 1800. Tübingen: Narr.

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Weiterführende Literatur Grundlegende Literatur zu Imagination (Auswahl) * Diese Titel finden wir besonders empfehlenswert. Brann, Eva T. H. 1991. The World of the Imagination: Sum and Substance. Lanham: Rowham & Littlefield.* [umfassender Überblick über Imaginationstheorien aus unterschiedlichen Disziplinen] Casey, Edward S. 2000(1976). Imagining: A Phenomenological Study. Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press. [philosophisch-phänomenologische Imaginationstheorie] Castoriadis, Cornelius 1990(1975). Gesellschaft als imaginäre Institution: Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.* [kulturphilosophische Imaginationstheorie] Castoriadis, Cornelius 2010(1986–1997). Das imaginäre Element und die menschliche Schöpfung: Ausgewählte Schriften, Band 3, hg. von Michael Halfbrodt und Harald Wolf. Lich/Hessen: Edition AV. [kulturphilosophische Imaginationstheorie] Cocking, John Martin 1991. Imagination: A Study in the History of Ideas. London/New York: Routledge. [philosophiegeschichtlicher Überblick über verschiedene Imaginationstheorien] Dewender, Thomas und Thomas Welt (Hg.) 2003. Imagination – Fiktion – Kreation: Das kulturschaffende Vermögen der Phantasie. München/Leipzig: K.G. Sauer. * [Sammelband mit geschichtswissenschaftlichen Artikeln zu verschiedenen Imaginationstechniken, Imaginationen, Imaginationstheorien…] Harris, Paul L. 2000. The Work of the Imagination. Malden [u. a.]: Blackwell Publishing. [entwicklungspsychologische Studien zu Imagination] Hüppauf, Bernd und Christoph Wulf (Hg.) 2006. Bild und Einbildungskraft. München: Wilhelm Fink.* [kulturwissenschaftliche Studien zur visuellen Imagination] Kamper, Dietmar 1986. Zur Soziologie der Imagination. München/Wien: Carl Hanser.* [kultursoziologische Imaginationstheorie] Mills, C. Wright 1959. The Sociological Imagination. London: Oxford University Press. [soziologische Imaginationstheorie/metawissenschaftlich – soll im angelsächsischen Raum einen ähnlichen Stellenwert haben wie Max Weber] Pruyser, Paul W. 1983. The Play of the Imagination: Toward a Psychoanalysis of Culture. New York: International Universities Press.* [psychologisch-kulturwissenschaftliche Imaginationstheorie] Roth, Ilona (Hg.) 2007. Imaginative Minds. Oxford: Oxford University Press.* [kulturwissenschaftlicher Sammelband mit Imaginationstheorien aus verschiedenen Disziplinen; kognitionswissenschaftlicher Schwerpunkt]

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Weiterführende Literatur

Van den Doel, Marieke und Wouter J. Hanegraaff 2006. „Imagination“. In: Hanegraaff, Wouter (Hg.), Dictionary of Gnosis & Western Esotericism. Leiden/Boston: Brill, 606–616. [Religionsgeschichte der Imagination] Warnock, Mary 1976. Imagination. London/Boston: Faber.* [philosophische Imaginationstheorien] Warnock, Mary 1994. Imagination and Time. Cambridge: Blackwell. [philosophische Imaginationstheorien]

Literatur zu Teil 1: Imaginationstechniken Carruthers, Mary 1998. The Craft of Thought: Meditation, Rhetoric, and the Making of Images 400–1200. Cambridge: Cambridge University Press. Foucault, Michel 1993(1988). „Technologien des Selbst“. In: Martin, Luther H. et al. (Hg.), Technologien des Selbst. Frankfurt am Main.: S. Fischer, 24–62. Foucault, Michel 2009. Hermeutik des Subjekts: Vorlesungen am Collège de France (1921/82). Frankfurt am Main: Suhrkamp. Mauss, Marcel 1935. „Les techniques du corps“. In: Journal de Psychologie. 32: 271-293.

Literatur zu Teil 2: Imaginationsräume Ahrens, Jörn 2012. „Kultur und die Bereitstellung von Imaginationsräumen“. In: Ahrens, Jörn, Wie aus Wildnis Gesellschaft wird. Kulturelle Selbstverständigung und populäre Kultur am Beispiel von John Fords Film "The Man Who Shot Liberty Valance“, Springer: Berlin, 267– 296. Bruggisser-Lanker, Therese 2010. Musik und Tod im Mittelalter: Imaginationsräume der Transzendenz. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht. Döring, Jörg und Tristan Thielmann 2009. Spatial Turn: Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld: Transcript. Janowski, Monica und Tim Ingold (Hg.) 2012. Imagining Landscapes: Past, Present and Future. Surrey/Burlington: Ashgate. Nicolai, Klaus 2007. „Virtuelle Environments – Probe-, Simulations- und Imaginationsräume“. In: Birringer, Johannes, Thomas Dumke und Klaus Nicolai (Hg.), Die Welt als virtuelles Environment, Dresden: TMA., 10–25. Sanders, Hans 2013. Lebenswelten. Imaginationsräume der europäischen Literatur. Berlin/Boston: De Gruyter. Weigel, Sigrid 2002. „Zum ‚topographical turn‘. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften“. In: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft 2.2: 151–165.

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Weiterführende Literatur

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Literatur zu Teil 3: Imaginationspolitiken Anderson, Benedict 1983. Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London/New York: Verso. Costa Lima, Luiz 1990. Die Kontrolle des Imaginären: Vernunft und Imagination in der Moderne. Berlin: Suhrkamp. Geuss, Raymond 2009. Politics and the Imagination. Princeton: Princeton University Press.

Literatur zu Teil 4: Imaginationsgeschichte Kamper, Dietmar 1981. Zur Geschichte der Einbildungskraft. München/Wien: Carl Hanser. Kohl, Karl-Heinz 1987. Abwehr und Verlangen: zur Geschichte der Ethnologie. Frankfurt: Edition Qumran. Kramer, Fritz W. 1977. Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts. Frankfurt: Syndikat. Kurasawa, Fuyuki 2004. The Ethnological Imagination: A Cross-cultural Critique of Modernity. Minneapolis: University of Minnesota Press. Le Goff, Jacques und Roger Chartier und Jacques Revel (Hg.) 1990. Die Rückeroberung des historischen Denkens: Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft. Frankfurt: Fischer, darin besonders: Patlagean, Evelyne: Die Geschichte des Imaginären, 244–276. Müller, Klaus E. und Jörn Rüsen 1997. Historische Sinnbildung: Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch. Smith, Jonathan Z. 1982. Imagining Religion: From Babylon to Jonestown. Chicago: University of Chicago Press.

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I. Imaginationstechniken Anne Koch, Brigitte Luchesi, Annette Wilke, Katharina Wilkens Unter Imaginationstechniken können Methoden und Lenkungsverfahren verstanden werden, die die menschliche Vorstellungskraft aktivieren und in bestimmte Bahnen von Wahrnehmung und Sinnproduktion leiten. Darunter fallen nicht nur Techniken wie Bewusstseinstraining und Visualisation, in denen das Imaginieren gezielt als Instrument des Gestaltens, Strukturierens und Herstellens eingesetzt wird. Vielmehr können auch Rituale, Körperpraktiken und andere kulturelle Performanzen und Medien als kulturelle Techniken verstanden werden, die kollektiv geteilte Imaginationen aufrufen, verkörpern und inszenieren und somit ebenfalls an die Vorstellungskraft appellieren und sie in bestimmte Bahnen lenken. So verstanden sind die meisten Imaginationstechniken sozial antrainiert und laufen meist unbewusst und assoziativ im Wahrnehmen mit. Sie spielen sich nicht intentional auf subjektiver Ebene ab, sind vielmehr in Habitusformen verankert. Die diesen unterlegten Lenkungspotenziale werden in der Alltagspraxis wenig reflektiert. Der Übergang ist jedoch fließend zu jenen Imaginationstechniken, die deutlicher als intentionale Akte, Maßnahmen und Kunstgriffe erkennbar sind und methodisch und strategisch mit der menschlichen Vorstellungskraft arbeiten, sie bewusst evozieren, auf sie einwirken, sie kreativ nutzen und kanalisieren. Die Beiträge dieses Kapitels stellen kollektive Imaginationstechniken vor am Beispiel der tableaux vivants (jhanki) indischer Götter (Luchesi) und afrikanischer Besessensheitsriten (Wilkens), wie auch individuelle Praktiken des Imaginierens im Rahmen alternativer Heilriten (Koch) und heterodox-tantrischer Praxis (Wilke). Für die Religionsästhetik von besonderer Relevanz ist der enge Zusammenhang von Imagination, Körper, Technik und Transformation, der in allen Beiträgen deutlich wird. Unmittelbar anschlussfähig ist Marcel Mauss‘ Verständnis von Körpertechniken, das er in seinem berühmten gleichnamigen Aufsatz von 1935 darlegt. Mit dem Konzept der Körpertechnik beschreibt er die Schnittstelle von kulturellen, sozialen und biologisch-somatischen Einflussfaktoren. Kulturelle Phänomene, so seine These, seien immer ein Ergebnis des Zusammenwirkens all dieser Faktoren. Deutungen von Kultur sollten somit weder soziologisch Funktion oder Struktur, noch biologistisch die Materialität, noch hermeneutisch den Zeichengehalt zum alleinigen Schlüssel für das Verständnis machen. Auch Imaginationen – gerade in Techniken und

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Anne Koch, Brigitte Luchesi, Annette Wilke, Katharina Wilkens

Medien verkörperte Imaginationen – stehen unter dem Einfluss des biologisch-neuronalen Vollzugs, der kulturellen Präfiguration und ihrer Bedeutung in der zwischenmenschlichen Interaktion. Anschlussfähig für die religionsästhetische Perspektive ist ferner die der Imagination typische Fähigkeit, Nichtpräsentes und Unsichtbares anwesend zu machen und durch das Zusammenfügen von inneren Vorstellungswelten und sinnlicher Wahrnehmung neue Räume und Sinndomänen zu schaffen (s. auch Imaginationsräume). Diese Fähigkeit wird in Imaginationstechniken aktiviert und praktisch nutzbar gemacht. Sie stellen neue Verknüpfungen her und werden methodisch eingesetzt um transformative Wirkungen und eine Neufiguration der Realität zu erzielen (s. auch Imaginationspolitiken). Imaginationstechniken spielen sich nicht nur in der Innenwelt ab, vielmehr wird der Körper als Erlebnisraum und Imaginationsgegenstand genutzt und dabei auch modelliert und umcodiert. Oft bedienen sie sich überdies materieller Dinge als Imaginationsverstärker und spielen sich in rituellen Settings ab. Im Zusammenspiel mit ästhetischen Arrangements erlangen Imaginationen hohe Suggestivkraft und Faktizität und wirken auf die körperlich-sinnliche Wahrnehmung, die Emotionen und das Erleben ein. Praktiken des Imaginierens gestalten Wissen und trainieren Wahrnehmungsweisen und Verhaltensformen an. Sie dienen nicht nur der subjektiven Aneignung bestimmter Werte und Normen und ihrer Interiorisierung, sondern sind auch auf Verkörperlichung, Verstetigung und habitualisiertes Verhalten angelegt. Durch antrainierte Aufmerksamkeitslenkung, Repetition und Mimesis und starker innerer Bildlichkeit erzeugen sie nachhaltige Dispositive (s. auch Imaginationsgeschichte). Imaginationstechniken eignet eine besondere Fähigkeit, das physisch Gegebene mit zusätzlichem Sinn zu überformen und Vorstellungsgehalte mit Materialität auszustatten und Realität werden zu lassen. So erlaubt es z. B. die imaginative Bearbeitung und antrainierte Technik, den Körper neu und anders wahrzunehmen und die ‚normalen‘ Körpergrenzen zu überschreiten. Hier zeigt sich ein unmittelbarer Zusammenhang von Imaginations- und Körpertechniken und wie eng Imagination und Ästhetik/aisthesis zusammengehören, aber auch eine Typik von Imagination im religiösen Feld: Sie wird eingesetzt zur Herstellung von Sakralität und Transzendenz. Alltagsdinge können imaginativ zu ‚heiligen‘ Dingen transformiert werden. Die Beiträge dieses Kapitels machen diese multidimensionalen Verschränkungen in stets neuer Variation deutlich. Eine auffallende Gemeinsamkeit der Beispielfälle – die ganz unterschiedlichen sozio-kulturellen Kontexten entstammen – sind Extremformen veränderter Körpererfahrung und Identität und transformierter Alltagswirklichkeit. Diese Auflösung ‚natürlicher‘ menschlicher Grenzen geschieht durch bestimmte Körper- und

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I. Imaginationstechniken

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Imaginationstechniken. Im nordindischen Beispiel der jhanki (Luchesi) macht die Stillstellung der körperlichen Bewegung aus Kindern Götter. In der Imitation von Götternarrativen und ihrer öffentlichen Zurschaustellung durch Knaben vor der Pubertät wirken bekannte religiöse Überlieferungen, die kulturelle Schablonen dafür liefern, wie die Imagination ausgestaltet sein soll, zusammen mit sozial verankerten Rollenbesetzungen, Reinheitsvorstellungen und Normierungen (etwa die Ablehnung von Besessenheit). Im ostafrikanischen Beispiel (Wilkens) bewirken musikalische und getrommelte Rhythmen und Tanzbewegungen eine Besessenheitstrance, in der die Grenzen zwischen Geistern und Menschen verschwimmen und therapeutische Wirkung erwartet wird. Heilungsversuche (Wilkens und Koch) bedienen sich performativer Vorführungen, um die Gesundung zu inszenieren und soziale Konflikte beizulegen. In den Körpertechniken vereinen sich physischer Körper, gespürter Leib und Körperbilder. In den Heilungsritualen der zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandenen White Eagle Lodge (Koch) bearbeitet die Heilerin den Körper des Patienten, indem sie farbiges Licht „einstrahlt“. In diese therapeutische Praxis ist u. a. die tantrische Psychophysiologie des Körpers in Form unsichtbarer Zentren (Cakras) und Energieströme eingeflossen. Im tantrischen Kultus des im 16. Jahrhundert entstandenen und heute noch verwendeten ParasuramaKalpasutra (Wilke) gelten die Cakras jedoch als Orte der Vergegenwärtigung der Götter und der Reinigung und Kosmisierung des Körpers. Regelmäßig vollzogene psychische Abläufe werden durch ein ganzes Ensemble festgelegter mentaler, verbaler und körperlicher imaginativer Techniken stimuliert und sollen Gottwerdung „in allen Körpergliedern“ und Vollkommenheit („Befreiung in diesem Leben“) bewirken. Die somatische Formierung von Erlebnismöglichkeiten, -stilen und -attraktionen in all diesen Beispielen bringt die Wahrnehmungsseite, die aisthesis, von Imaginationen zum Ausdruck. Die religionsgeschichtliche Ausprägung von Imagination ist greifbar in der Formensprache. Sie spielt sich in der Ästhetik von Textgattungen, mythologischem Inventar, Bildsprachen, Klängen, Gerüchen, Gesten und Riten ab. Über den Körper und die Sinne medialisierte Imaginationstechniken müssen als spezifische Fähigkeiten und Kompetenzen angesehen werden. Die Habitualisierung von spirituellen, therapeutischen, sozialen und weiteren kategorialen Imaginationen ist eine kulturelle Ressource für Gemeinschaften. Dieses Reservoir an Imaginationstechniken zählt zum verkörperten kulturellen Kapital. Verkörperte Imaginationstechniken haben wirklichkeitsformende Kraft, indem sie das Verhältnis von Außen- und Innenwelt gestalten und unter Umständen neu ordnen. Sie sind machtvolle ways of

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world-making, Formen der Weltdeutung und der Wissensorganisation, und nicht zuletzt Technologien des Selbst (Foucault). Der Begriff der ‚Technikʻ ist geeignet, um darauf aufmerksam zu machen, wie sehr Imagination und das Imaginieren einerseits strategisch intentional einsetzbar und beeinflussbar sind und andererseits wie sehr (oder wann) sie sich beiläufig und unintendiert bilden und verändern. Diese beiden Aspekte laufen häufig parallel und können nicht in den klassischen europäischen Dualismen von aktiv und passiv oder von und unbewusst übersetzt werden. Dies zeigt sich an den Körpertechniken, wie sie z. B. in der Meditation des Tantra eingesetzt werden, wo sie sich mit aktiver Imagination (Visualisationen etc.) verbinden und in diesem fein abgestimmten Zusammenspiel die psychischen Erlebnisgehalte und ihre verändernde Kraft gleichsam ‚natürlich‘ performativ bewirken. Die Frage, ob die Vorgaben oder der individuelle Erfahrungskontext für die Imagination einflussreicher seien, stellt sich somit nicht als Entweder-Oder, sondern fordert den genauen Blick auf das Wie der vollzogenen Aneignung, also die Technik. Die Vollzugs- und Wirkebenen von Imagination können in den einschlägigen religiösen Traditionen auch reflexiv sein. Das heißt, dass es häufig spezialisierte Diskurse gibt, in denen mit Imaginationstechniken experimentiert wird, in denen sie besprochen und bewertet werden und in denen Erklärungstheorien für sie aufgestellt werden. Damit werden religionsgeschichtlich der Einsatz und die Nähe von Imaginationstechniken zu unterschiedlichen Transformationsprozessen besonders augenfällig. Um spezifische Wirkungen auf körperlich-therapeutischer, psychisch-bewusstseinsverändernder oder auch auf politisch-sozialer Ebene zu erreichen, ist aber nicht (nur) die diskursive, sondern vor allem die affektive Besetzung von Imaginationen unerlässlich. Das wird an den Beispielen zu Besessenheit, Trance und Meditation deutlich, in denen jeweils der Ausgangszustand über die imaginativen Techniken verändert wird. Verkörperte Imaginationstechniken sind machtvolle Instrumente, um außerordentliche Erfahrungen, Verschiebungen der Machtbalancen und die Aneignung übermenschlicher Handlungsmacht herbeizuführen. Sie verkörpern und reproduzieren damit nicht nur kulturelle Vorstellungen und Schemata, sondern verändern sie auch oder erzeugen neue. Die artifizielle Kultivierung bestimmter Weisen von Welt- und Selbsterleben ist jedoch immer auch mit Normierung verbunden. Gemeinsam ist allen Beiträgen – dieses Teils wie auch des ganzen Bandes – ein kritischer Blick auf Freiheiten und zugleich Eingrenzungen von Imagination – gerade die Imaginationstechniken lenken den Blick auf Disziplin und Manipulierbarkeit und widerlegen ein romantisches Ideal von völlig kontextfreier Kreativität. Kreativität und Transformation einerseits und Steuerung und Disziplinierung andererseits

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I. Imaginationstechniken

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sind oft zwei Seiten ein und derselben Medaille (vgl. insbesondere auch Imaginationspolitiken). Im Sinne von Foucaults Technologien des Selbst ist zu fragen, wie und welche Subjektivität durch spezifische Imaginationstechniken entsprechend ästhetischer, moralischer und religiöser Vorstellungen in einem religionsgeschichtlichen Kontext erzeugt wird. Auch dies ist über die „Imaginationstechniken“ hinaus eine zentrale Fragestellung in allen Teilen dieses Bandes. Foucault entwickelte sein Konzept ausführlich 1981/82 in Vorlesungen am Collège de France, die sich auf Deutsch im Aufsatz „Technologien des Selbst“ (1993(1988)) niederschlugen und im Band Hermeneutik des Subjekts (2009) publiziert wurden. Nach Foucault dienen die Technologien des Selbst stets dazu, ein Wissen von sich selbst zu entwickeln und ihr Ziel ist letztlich ein Zustand von Glück. Der Raum der Imagination bringt dabei Weltbild und Selbstbild in ein Verhältnis. Durch die verschiedenen Imaginationstechniken wird ausgemacht, wer der oder die Imaginierende inmitten seiner oder ihrer Welt ist, sein will, sein soll oder sein wird. Imaginationstechniken aus dem Kontext und den Praktiken von Religionen hatten und haben in der Geschichte vielfach eine Schlüsselfunktion zur Erlangung von Glück, Heilung und Vollkommenheit inne, wie auch zur normierenden und zugleich potentiell transformierenden Gestaltung von sozialer Ordnung. Beispielhaft belegen dies die folgenden Beiträge.

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Götter zu Gast im Bazar Nordindische Jhanki-Bilder als Stimuli der Einbildungskraft Brigitte Luchesi Im nordindischen Bundesland Himachal Pradesh begegnen an religiösen Festtagen vielfach so genannte jhanki, Darstellungen mythologischer oder historischer Episoden durch eine oder mehrere Personen. Charakteristisch ist das möglichst bewegungslose und stumme Verharren der Darsteller. Jhanki mit religiöser Thematik veranschaulichen vor allem hinduistische Gottheiten, die zumeist von Kindern verkörpert werden. Von kundigen Erwachsenen entsprechend hergerichtet und öffentlich postiert, können sie anschließend von frommen Betrachtern wie religiöse Kultbildnisse verehrt werden. Jhanki-Präsentationen werden im vorliegenden Artikel als performative Mittel verstanden, abstrakten religiösen Vorstellungen sichtbare Gestalt zu geben. Sie bieten materiale Veranschaulichungen von göttlichen Wesenheiten, die nicht zur alltäglichen Erfahrungswelt gehören. Den Veranstaltern geht es offenkundig nicht nur darum, die Schaulust der möglichen Betrachter zu befriedigen, sie wirken – so die These – zugleich darauf hin, deren Imagination anzuregen. Die Art, wie sie die Bildnisse herstellen und behandeln, macht deutlich, dass sie das Publikum dazu veranlassen möchten, sich die reale Gegenwart der gezeigten Gottheiten vorzustellen und Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Jhanki können entsprechend als Stimuli der Einbildungskraft oder Imaginationsangebot verstanden werden.

1. Einleitung Sujanpur Tira, 27. Februar 2010, kurz nach 13 Uhr. Auf dem engen Busbahnhof im Bazar von Sujanpur wird ein Traktor gestartet. Der Fahrer wirft einen Blick zurück auf den angehängten Wagen und die Personengruppe, die sich darauf befindet. Es ist eine ungewöhnliche Ladung. Rote Wimpel, üppiger Girlandenschmuck, in der Mittagssonne aufblitzende goldene und silberne Verzierungen lassen sofort an ein besonderes und festliches Ereignis denken. Bei näherem Hinsehen sind mehrere, offenbar jüngere Personen zu erkennen. Sie tragen unübliche Kleidung und ihre Gesichter sind bemalt, doch am meisten springt ihre ungewöhnlich starre Körperhaltung ins Auge. Das Schild an der Vorderseite informiert Unkundige, dass hier das Holi-

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Komitee des Oberen Bazars von Sujanpur Tira ein jhanki1 präsentiert, ein lebendes Bild oder tableau vivant (Abb. 1). Wichtige Komitee-Mitglieder sind offensichtlich die älteren Männer, die im vorderen Teil des Anhängers Platz genommen haben. Das vor ihnen stehende Tablett mit brennendem Licht und Weihrauch, Wassertopf, Glocke und Muschel weist darauf hin, dass sie priesterliche Aufgaben haben oder zumindest für religiöse Verehrungshandlungen zuständig sind. Sie erklären bereitwillig allen, die danach fragen, was sie hier vorführen: Die zentrale rot gewandete Figur mit Dreizack und Muschelhorn in den Händen stellt die Göttin Vaisno Devi dar und zwar auf ihrem Reittier, dem Löwen. Dazu wurde ein als Löwe Maskierter so vor ihr postiert, dass sie auf ihm zu sitzen scheint. Der Junge links vorne verkörpert den Affengott Hanuman, gut an seiner schnauzenartigen Gesichtsbemalung zu erkennen; die Gestalt mit blauschwarzem Gesicht und dunklem Gewand auf der rechten Seite, soll Bhairon, eine wilde Form des Gottes Siva, sein. Der Traktor setzt sich nun in Bewegung, fährt im Schritttempo die Hauptstraße entlang und biegt schließlich in den maidan, den riesigen öffentlichen Platz ein, auf dem gerade ein großer, gut besuchter Jahrmarkt stattfindet. Viele der Menschen, die sich auf der Straße und auf dem Festplatz befinden, wenden sich dem Gefährt zu und legen die Hände in der ehrerbietigen Geste des Grußes und der Verehrung aneinander. Einige treten nahe an den Wagen heran, berühren ihn mit beiden Händen und führen diese dann zur Stirn. Dann nehmen sie eine Handvoll Süßspeise von einem der älteren Männer entgegen. Später, wenn die Runde durch Bazar und maidan abgeschlossen und das Gefährt wieder am Ausgangspunkt angelangt ist, endet die Präsentation der göttlichen Figuren: Das lebende Bild wird wieder abgebaut.

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1 Wie in anderen Artikeln dieses Bandes wird auch hier auf Diakritika verzichtet. „Jhanki“ wird im Folgenden als Fremdwort mit sächlichem Artikel verwendet.

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Abb. 1: Beginn des Umzugs in Sujanpur-Tira am 27.2.2010 mit einer Darstellung der Vaisno Devi. Dem Traktor mit dem Jhanki gehen zwei Trommler voraus, die das Kommen der Göttin ankündigen (© B.L.).

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Im Folgenden wird auf lebende Bilder von der eben beschrieben Art näher eingegangen. Dabei sollen vor allem ihre imaginationsfördernden Aspekte herausgestellt werden. Unter Imagination verstehe ich die menschliche Einbildungs- oder Vorstellungskraft, insbesondere das Vermögen der Menschen, etwas zu sehen oder wahrzunehmen, was nicht sichtbar oder gegenwärtig anwesend ist (vgl. Hüppauf/Wulf 2006: 23). JhankiPräsentationen wie die in Sujanpur Tira sind offenkundig performative Mittel, um abstrakten religiösen Vorstellungen sichtbare Gestalt zu geben. Sie bieten materiale Veranschaulichungen von Wesen, deren Existenz die religiösen Traditionen in schriftlicher und mündlicher Form lehren, die aber außerhalb der alltäglichen Erfahrungswelt der Menschen liegen. Gläubige Hindus nehmen jedoch, wie zu zeigen sein wird, in und an diesen Bildern mehr wahr. Mit Hilfe ihrer Einbildungskraft können sie sie in gewissen Momenten als Vergegenwärtigungen der vorgestellten Gottheiten verstehen und ihnen entsprechend begegnen. Ihr imaginierender Blick befähigt sie, beim Anblick von religiösen lebenden Bildern göttliche Gegenwart wahrzunehmen. Dieser Blick ist geprägt von den allgemeinen religiösen Traditionen und kulturellen Mustern, wird aber konkret gelenkt durch die verschiedenen Stimuli, die von den lebenden Bildern ausgehen. Im ersten deskriptiven Teil dieses Beitrags wird zunächst auf den Begriff Jhanki eingegangen; danach werden verschiedene Beispiele lebender Bilder mit religiösem Inhalt vorgestellt. Im zweiten Teil versuche ich, auf Momente im Prozess der Herstellung und Präsentation von Jhanki aufmerksam zu machen, die die Vorstellungskraft der Beteiligten anregen und beeinflussen. 2. Zeitgenössische Beispiele für lebende Bilder aus dem nordindischen Raum 2.1. Zur Begrifflichkeit: Jhanki – lebende Bilder – tableaux vivants Das Hindi-Wort jhanki bedeutet „kurzer oder flüchtiger Blick/Anblick“; in einer zweiten Bedeutung, die das Minakshi Hindi-English Dictionary (1987: 285) angibt, handelt es sich um „a public display of gorgeously decorated idols of gods“, also um eine Präsentation prächtig geschmückter Götterbilder bzw. um ein „tableau“. Gemeint ist ein tableau vivant, ein Begriff, der aus dem europäischen Raum stammt und dort vor allem die Darstellung von Werken der Malerei, Plastik und Literatur durch lebende Personen bezeichnet2. Kennzeichnend für diese „lebenden Bilder“, wie sie ————— 2

Ausführliche Darstellungen bei Jooss 1999 und Helas 1999.

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im Deutschen zumeist genannt werden, ist das bewegungslose und schweigende Verharren der Darsteller während ihrer Zurschaustellung. Da diese formalen Kennzeichen sowohl den indischen wie den europäischen Präsentationen eigen sind, scheint es zulässig, auch im südasiatischen Kontext von „lebenden Bildern“ bzw. „tableaux vivants“ zu sprechen. Allerdings ist darauf zu verweisen, dass die indischen Jhanki im Unterschied zu den europäischen Ausprägungen in der Regel keine Nachbildungen konkreter, bereits existierender Vorlagen sind, sondern frei komponierte Bilder, „eigenständige Erfindungen“ (Jooss 1999: 23). Daher werde ich den Hindi-Begriff weitgehend beibehalten. Ich spreche von Jhanki, wenn ich das Gesamtensemble eines lebenden Bildes meine, und von Jhanki-Bild, wenn ich mich auf einzelne Figuren aus dem Ensemble beziehe. Weiterhin ist anzumerken, dass das Wort Jhanki in Indien heute nicht nur – wie vom zitierten Wörterbuch angegeben – Darstellungen von Gottheiten meint oder, etwas umfassender, mythologische Szenen. Es wird auch für lebende Bilder gebraucht, die säkulare historische Begebenheiten veranschaulichen – etwa Gandhi und Begleiter auf dem Salzmarsch – oder Ereignisse aus der Gegenwartsgeschichte wie den Kargil-Krieg. Ich behandle in diesem Beitrag nur Jhanki mit religiösem Inhalt, die in den Orten, die ich während meiner Indienaufenthalte besucht habe, bei weitem in der Überzahl waren3. 2.2. Jhanki im Rahmen dramatischer Aufführungen Jhanki werden in der wissenschaftlichen Literatur vor allem im Zusammenhang mit dem religiösen indischen Theater thematisiert, insbesondere wenn Aufführungen von Stoffen aus der visnuitischen Tradition in den Blick genommen werden, in denen eine der Inkarnationen von Gott Visnu im Mittelpunkt steht. Die meisten der beliebten Ramlila- und RaslilaAufführungen enthalten Sequenzen, in denen die Handlung zum Stillstand gebracht wird und für eine gewisse Zeit wie eingefroren wirkt. Diese reglosen Präsentationen werden als „Jhanki“ bezeichnet. Sie wurden besonders im Kontext der berühmten Ramlila-Spiele in Ramnagar nahe Varanasi (Benares) beschrieben, die sich über einen vollen Monat erstrecken4. Wie alle Ramlila-Aufführungen handeln sie vom irdischen Leben und den Taten des göttlichen Königs Ram von Ayodhya, die das Epos Ramayana ausführlich beschreibt, insbesondere von Rams Kampf gegen Ravana, den dämoni—————

3 Ich habe seit 1982 vor allem das nordindische Bundesland Himachal Pradesh wiederholt besucht. 4 Siehe zu den Ramlila-Aufführungen in Ramnagar u. a.: Schechner/Hess 1977, Kapur 1990, Swann 1990 (Kap. 7), van den Bosch 1994; zu Raslila: Hawley 1983 und Swann 1990 (Kap. 6).

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schen Herrscher von Lanka, der Rams Gattin Sita entführt hat. Alle Rollen, auch die weiblichen, werden in Ramnagar traditionsgemäß mit männlichen Darstellern besetzt. Außerdem werden für die Hauptrollen nach wie vor ausschließlich Brahmanenjungen gewählt, die noch vor der Geschlechtsreife stehen und damit als rituell rein gelten. Sie werden als svarup bezeichnet, womit im hinduistischen Kontext die Gestalt (rupa) gemeint ist, die eine Gottheit annehmen kann5. An bestimmten dramatischen Höhepunkten und regelmäßig zum Abschluss des täglichen Programms tritt der Moment ein, an dem die Hauptdarsteller – bevorzugt jene, die Ram und Sita darstellen – sich sitzend oder stehend, aber immer bewegungslos und dem Publikum frontal zugewandt, den Zuschauern präsentieren. Diesen wird damit Gelegenheit geboten, abgelöst vom Spielfluss den glücksträchtigen Anblick (darsan) der dargestellten Gottheiten zu erhalten und ihnen zu huldigen. Sie mögen sie aus der Ferne mit Rufen und zusammengelegten Händen grüßen, aber auch herantreten, um die svarup aus nächster Nähe erblicken zu können und ihnen als Verkörperungen von Gottheiten Blüten und Gaben anzubieten. Insbesondere abends wird bei dieser Gelegenheit auf der Bühne die arati-Zeremonie – die zentrale Verehrungshandlung für Gottheiten mittels einer Lichtflamme – vollzogen. Diese Zeremonie kann durch das Entzünden von bengalischem Feuer und Lichtfontänen ins Grandiose gesteigert werden6. 2.3. Jhanki als eigenständiges performatives Genre Die Präsentation von Jhanki ist aber, wie das Beispiel in der Einleitung bereits zeigte, nicht notwendig mit dramatischen Aufführungen verbunden. In verschiedenen Ortschaften im Süden von Himachal Pradesh werden an bestimmten religiösen Festtagen theaterunabhängige Jhanki hergestellt. So ist Janamastami, der Geburtstag von Gott Krisna, ein beliebter Anlass, lebende Bilder vorzuführen, die Krisna mit seiner Gefährtin Radha oder auch allein zeigen. Ihnen können eine Reihe weiterer Jhanki mit anderen Themen zur Seite gestellt werden. In Yol etwa werden männliche Kinder im Hof des örtlichen Radha-Krisna-Tempels geschminkt und angekleidet und dann auf Traktoranhänger oder Lastwagen gehoben. Dort nehmen sie die Posen ein, die sie während der langsamen Fahrt durch die bevölkerten Hauptbazare möglichst bewegungslos beibehalten. Die Wagenkolonne hat eher den Charakter einer Prozession: Sie startet am Tempel in Yol und führt ————— 5

Zum Begriff svarup vgl. Hein 1972: 18; van den Bosch 1994: 134–136. Indira Gandhi National Centre for Arts, DVD Ramlila, o. J.; persönliche Mitteilung von Annette Wilke. 6

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zum Tempel des Nachbarorts. Zahlreiche Menschen begleiten die Wagen zu Fuß und singen zumeist auch die devotionalen Lieder mit, die ein Vorsänger anstimmt. Am Ziel angekommen werden die svarup von den Wagen gehoben und in den Tempel getragen, wo sie Teil einer enthusiastischen Veranstaltung zu Ehren von Gott Krisna bilden. In der eindrucksvollen Parade, die jährlich in der Stadt Mandi zu Sivaratri („Nacht Sivas“) – der großen Festzeit für Gott Siva – stattfindet, werden gewöhnlich ebenfalls lebende Bilder auf motorisierten Gefährten mitgeführt7, doch im Unterschied zur Veranstaltung in Yol bilden sie nicht die Hauptattraktion des Zuges. Ein sehr beliebter Anlass für das Zurschaustellen von lebenden Bildern ist das Holi-Fest, das in die Monate Februar oder März fällt. In einer ganzen Reihe von Kleinstädten und Dörfern des Kangra-Distrikts werden so genannte Holi-Jhanki hergestellt und öffentlich gezeigt, unter anderem in Guggar, Bandla, Baijnath, Paprola, Panchrukhi, Dattal, Bhawarna, Andreta und Palampur. Jahrzehntelang war das eingangs erwähnte Sujanpur-Tira, der vormalige Sitz der Rajas von Kangra, dafür bekannt, an Holi besonders viele Jhanki zu bieten, die miteinander in eine Art Wettstreit traten. In den letzten Jahren hat sich diese Attraktion weiter nördlich nach Palampur verlagert. Fünf Tage lang werden dort jetzt nach Einbruch der Dunkelheit auf der Hauptstraße lebende Bilder gezeigt, wobei der längste und aufwändigste motorisierte Zug am Abend des eigentlichen Holi-Tages zu sehen ist. Die Themen der vorgeführten Bilder variieren von Tag zu Tag; die überwiegende Mehrheit ist eindeutig religiöser Art. Sie werden von vielen der am Straßenrand aufgereihten Zuschauer mit zusammengelegten Händen ehrerbietig gegrüßt. Es fallen mehrere Merkmale auf, die diesen Jhanki gemeinsam sind: 1. Sie sind in keinen Theaterkontext eingebunden, d. h., die Darsteller sind keine bewegten, sprechenden und/oder singenden Akteure in einer dramatischen Handlung, die nur zeitweise in den Zustand kompletter Reglosigkeit und Stummheit verfallen. Sie sind vielmehr explizit auf sprachlose Unbeweglichkeit hin konzipiert und erfüllen eben darin die ihnen zugewiesene Rolle. 2. Die „Kunstfertigkeit“ der Darsteller zeigt sich demnach nicht im bewegten Spiel, sondern im möglichst perfekten Stillstellen des lebenden Körpers und der Beibehaltung einer einzigen Pose. Man könnte sie als weitgehend passive Akteure verstehen, da ihnen kaum eigene Gestaltungs—————

7 Nach Auskunft von Annette Wilke ist es auch in Benares üblich, zu Sivaratri Jhanki herzustellen und auf Lastwagen zu präsentieren, die in langer Kolonne langsam durch die Stadt fahren. Die Schau treffe auf lebhaftes Interesse der Anwohner.

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möglichkeiten zugestanden werden. Als aktive Akteure erscheinen hingegen all jene Personen, die die Körper der Darsteller nach ihren Vorstellungen herrichten, ihnen Körper- und Handhaltungen vorschreiben und das geplante Bild arrangieren. 3. Jhanki werden, auch wenn selbst unbewegt, bevorzugt bewegt: auf den Schultern anderer Menschen und heute in zunehmendem Maße auf motorisierten Fahrzeugen. Tragegestelle, Traktoren und Lastwagen bilden „mobile“ Bühnen, die nicht an einem fixen Ort verbleiben, sondern in die Öffentlichkeit und zum Publikum hin gebracht werden. 4. Die Schaustellung religiöser lebender Bilder bewirkt bei vielen Betrachtern eine aktive Beteiligung in Form von Reaktionen und spontanen Handlungen, die im hinduistischen Kontext als Ausdruck von Ehrerbietung und als Frömmigkeitsbekundung bekannt sind: Gruß und Verneigung mit zusammengelegten Händen (anjali), Hochrufe für die gezeigten Gottheiten und ehrerbietiges Berühren des Gefährts oder der Füße der dargestellten Gottheiten. Insbesondere der letzte Punkt legt nahe, dass Jhanki mit religiöser Thematik mehr sein sollen als bloße Bilder zur Befriedigung weltlicher Schaulust. Offenkundig werden die geschilderten Reaktionen nicht bloß gebilligt, sondern sind erwünscht, was man etwa an den priesterlichen Handlungen der Speiseverteilung im Einführungsbeispiel ablesen kann. Das lässt den Schluss zu, dass diejenigen, die Jhanki herstellen und vorführen, dieses „Mehr“ anstreben. Art und Inhalt ihrer Präsentationen geben zu erkennen, dass sie Betrachter dazu anregen wollen, sich die reale Gegenwart einer verehrten Gottheit vorzustellen und Kontakt mit ihr aufzunehmen. Jhanki mit religiösem Inhalt erscheinen damit als Mittel oder Technik, Imagination zu fördern, als Stimuli der Einbildungskraft. Aus religionsästhetischer Perspektive stellt sich die Frage, wie diese Stimuli geschaffen und wirksam gemacht werden. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit das Imaginationsangebot8 vom Publikum auch wahrgenommen wird? Bevor ich zu möglichen Antworten komme, möchte ich zur Verbreiterung meiner Materialbasis ein weiteres Beispiel heranziehen und etwas ausführlicher darstellen.

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8 So die Formulierung von Annette Wilke in diesem Band bei der Wiedergabe der Argumentation von Schwarte (2006: 101).

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2.4. Holi-Jhanki in Andreta Ein Ort, an dem seit langem während des Holi-Festes Jhanki hergestellt und öffentlich vorgeführt werden, ist Andreta im Distrikt Kangra am Fuß der Shivalik-Berge, in dem Bewohner mehrerer Kasten siedeln9. Traditionell werden hier an vier aufeinander folgenden Tagen lebende Bilder hergestellt. Drei Tage vor dem eigentlichen Holi-Tag – dem Vollmonddatum im Mondmonat Phalgun (Februar/März) – beginnen die Darbietungen mit der Zurschaustellung eines einzelnen lebenden Bildes, tags darauf werden zwei gezeigt, am dritten Tag drei und am Haupttag dann schließlich vier. Anders als in den vorangehenden Beispielen werden in Andreta die Jhanki auf hölzernen Tragegestellen errichtet und genauso wie in früheren Tagen von Männern auf den Schultern befördert. Die Themen der insgesamt zehn Bilder sind verschieden. Die Darsteller sind grundsätzlich männliche Kinder, vorzugsweise noch recht junge ohne Anzeichen eines Bartwuchses. Verantwortlich für die Planung und Durchführung der gesamten Veranstaltung ist ein Komitee, das so genannte „Holi-Komiti“, dem Männer aus verschiedenen Kasten angehören. An seiner Spitze stehen ein Vorsitzender, ein Sekretär und ein Schatzmeister. Eine wichtige Rolle kommt traditionell einem Angehörigen der Brahmanenfamilie zu, die seit langem in Andreta ansässig ist und ursprünglich die einzige im Ort war. Er ist zuständig für religiöse Fragen und Verehrungshandlungen im Zusammenhang der Jhanki, eine Aufgabe, die der mittlerweile verstorbene Jagdish Sharma für mehr als dreißig Jahre innehatte. Sie wird jetzt von seinem Großneffen, dem Lehrer Ravi Sharma, wahrgenommen. Die meisten der Komiteemitglieder sind Angehörige der Sud- und der Rajput-Kaste. Nach Auskunft der Sud, der dominanten Händlerkaste der Region, lag früher die Hauptverantwortung für die Festorganisation in den Händen ihrer Vorfahren; die Brahmanenfamilie habe ihnen dabei zur Seite gestanden. Das gegenwärtige HoliKomitee umfasst, so heißt es, Männer aus allen lokalen Kasten; sie stellen ihre Dienste unentgeltlich zur Verfügung. Nur Leistungen, die von Leuten erbracht werden, die nicht direkt in Andreta ansässig sind, wie etwa die Musiker, werden bezahlt. Die Geldmittel des Komitees stammen von Zuwendungen der Mitglieder und Spenden, die insbesondere während Holi im Dorf gesammelt werden.

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9 In Andreta, das mir seit 1983 bekannt ist, konnte ich 1992, 1995, 1997, 2004, 2010, 2013 und zuletzt 2014 die Präsentation der Holi-Jhankis verfolgen.

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Die Aktivitäten des Komitees konzentrieren sich vor allem auf die Zeit kurz vor Holi und auf die eigentlichen Festtage10. Die Mitglieder kommen etwa zehn Tage vor dem Fest zusammen, um das Programm abzustimmen. Es geht in erster Line um die thematische Auswahl. Das Thema des Anfangs-Jhanki an Tag eins ist durch Tradition festgelegt: Es muss eine weibliche Gottheit (devi) sein. Allerdings ist den Männern freigestellt, welche sie wählen wollen; es kann Vaisno Devi in Begleitung von Hanuman und Bhairon, es kann Durga oder auch Santosi Mata sein. Gerne gewählt wird die Große Göttin, Mahadevi, umgeben von den vier bekannten Göttern Brahma, Visnu, Siva und Ganesa. Das war auch 2010 der Fall (Farbtafel 3 im Anhang). Sie thronte erhöht über den vier anderen Figuren und hielt einen Diskus in der rechten und ein Schwert in der linken Hand. Da die seranvali, die Göttin auf dem Löwen, im Kangratal außerordentlich populär ist11, wird die Göttin in diesem ersten Jhanki immer zusammen mit diesem Reittier (vahana) vorgeführt. Die Themen der lebenden Bilder an den Folgetagen können variieren; soweit ich beobachten konnte, wird aber zumeist auf einen festen Grundbestand zurückgegriffen. Offensichtlich populär ist die Präsentation thronender göttlicher Paare, insbesondere Siva und Parvati sowie Visnu und Laksmi. Gelegentlich wird auch Ganesa zusammen mit seinen beiden Gemahlinnen gezeigt. Daneben gibt es eine Reihe von Jhanki, die Szenen vorführen, die zumeist den großen Epen entnommen sind. Ein Favorit ist mit Sicherheit die berühmte Asokahain-Szene aus dem Epos Ramayana: Zu sehen sind dann die gefangene Sita, die von einer Dämonin bewacht wird, und Hanuman, der sich in einem Baum versteckt hält. Das Jhanki veranschaulicht den Moment, in dem Hanuman Sita den von Ram gesandten Ring übergibt. Gern gewählt wird auch die so genannte „Endlos-Sari-Szene“ aus dem Mahabharata-Epos. Sie zeigt Duhsasana, der im Begriff ist, Draupadi den Sari vom Leib zu reißen, und Gott Krisna, der von oben eine lange Stoffbahn zur bedrängten Königin heruntergleiten lässt und damit ihre Entblößung verhindert. Entscheidungen darüber, wer welche „Rolle“ zugewiesen bekommt, welcher Junge also welchen Gott oder welche Göttin darstellen darf, werden oft bis zum letzten Moment verschoben. Die Veranstalter sagen, jeder Junge könne in Frage kommen, vorausgesetzt er sei nicht zu alt und entspräche in Statur und Aussehen ihren Vorstellungen von der jeweiligen Gottheit. —————

10 Im Folgenden wird nur von der Jhanki-Präsentation die Rede sein und nicht von den Bräuchen, die wie in ganz Nordindien auch in Andreta an Holi anzutreffen sind, darunter das symbolische Verbrennen der Dämonin Holika, die dem Mythos zufolge durch Feuer unschädlich gemacht wurde, oder gegenseitiges Bewerfen mit Farbpulver oder gefärbtem Wasser im Rahmen ausgelassener Feiern. Zu letzteren s. McKim Marriott 1966. 11 Vgl. Erndl 1993: 3 f.

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Die Herstellung der Jhanki beginnt jeweils am frühen Nachmittag und ist ausschließlich Männersache. Der Ort für die Vorbereitungen liegt im alten Dorfteil, dort, wo sich die Gehöfte der ursprünglichen Ansiedler befinden. Lange Zeit diente der unbewohnte Teil eines alten Lehmhauses als Aufbewahrungsraum für die Requisiten und als „Garderobe“. Neuerdings gibt es ein kleines Betongebäude, das mit Spendengeldern errichtet wurde und dem Holi-Komitee gehört. Hier sind die benötigten Ausstattungsgegenstände und Schminkutensilien das Jahr über in diversen Blechkisten gelagert; Masken und größere Gerätschaften finden an den Wänden Platz. Für das jährliche Hauptereignis werden Decken und Teppiche auf dem Boden ausgebreitet, auf die sich die ausgewählten Jungen niederzulegen haben. Sie werden angewiesen, sich von nun an still und unauffällig zu verhalten und sich in allem den Anweisungen der Älteren zu fügen (Farbtafel 2 im Anhang). Unbeteiligte werden des Raumes verwiesen. Als Erstes wird das Gesicht all jener Jungen geschminkt, die im Unterschied zum elefantenköpfigen Ganesa oder affengesichtigen Hanuman keine künstlichen Masken tragen. Zum Schminken müssen die Knaben den Kopf in den Schoß eines Mannes oder älteren Jungen betten. Dieser trägt zunächst eine dicke Schicht angerührter Farbmasse auf. Ist diese getrocknet, beginnen all jene Männer, die als „Experten“ oder „Künstler“ gelten, mit der Feinarbeit: Augen und Lippen werden umrahmt, Stirn und Wangen mit teilweise komplizierten Mustern verziert. Beliebt ist das Aufbringen von glitzerndem Pulver und von vielfarbigen Pailletten, die einzeln mit Hilfe einer Pinzette aufgeklebt werden. Oft bearbeiten zwei oder drei „Experten“ gleichzeitig ein Gesicht. Ist dieser langwierige Arbeitsgang zu ihrer Zufriedenheit abgeschlossen, werden Hände und Arme und – falls erforderlich – auch die Beine der Darsteller mit Farbpulver eingefärbt. Danach werden die Jungen behutsam angekleidet, um die Gesichtsbemalung nicht zu beschädigen. Perücken werden angepasst und diverses notwendige oder auch nur schmückende Beiwerk befestigt und umgebunden. Zuletzt erhalten diejenigen, die Götter und Göttinnen darstellen sollen, Kronen, von denen es heißt, sie seien unverzichtbare göttliche Attribute. In der Zwischenzeit haben draußen auf dem Weg Helfer die Gestelle herbeigeholt, auf denen die lebenden Bilder aufgebaut und befördert werden. Ihre Festigkeit wird überprüft, ein Zimmermann leitet erforderliche Ausbesserungsmaßnahmen. Gegebenenfalls werden Aufbauten und Haltevorrichten hinzugefügt, die für das geplante Bild benötigt werden. Für den weiteren Verlauf beziehe ich mich auf die Ereignisse am 25. Februar 2010, dem damals ersten Tag mit nur einem Jhanki. Thema war, wie schon gesagt, die Darstellung der Mahadevi inmitten der vier großen Götter. Der Darsteller der Göttin wurde auf den erhöhten Sitz in der Mitte des Gestells

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gehoben und daran festgebunden. Anschließend wurde seine Kleidung arrangiert und seine Körper- und Kopfhaltung korrigiert. Zum Schluss wurden ihm Diskus und Schwert in die Hände gegeben. Damit begann für ihn die Phase größtmöglichster Bewegungslosigkeit. Die vier anderen svarup, die Brahma, Visnu, Siva und Ganesa verkörperten, erhielten nun ihre Plätze an den vier Ecken des Tragegestells. Sie wurden an die dort aufragenden Holzpfosten gebunden, die danach sorgfältig mit ihren Gewändern verdeckt wurden. Auch diese Jungen erhielten kennzeichnende Attribute: Visnu einen Diskus, Siva einen Dreizack, Brahma – mit viergesichtiger Rundum-Maske – einen Wassertopf, der den priesterlichen Opferkrug darstellen sollte, außerdem ein Buch als Hinweis auf die vier Veden. Ganesa, der an seinem Elefantenkopf leicht erkennbar war, hielt nur einen roten Wimpel. Mittlerweile hatte sich eine größere Anzahl Menschen eingefunden, darunter die Männer, die das Gestell tragen wollten, die angemieteten Musiker, die dem Zug vorausgehen sollten, leitende Komiteemitglieder, zahlreiche Frauen aus der unmittelbaren Nachbarschaft und wie immer bei derartigen Ereignissen viele Kinder, die die Ereignisse gespannt verfolgten. Kurz vor Sonnenuntergang – dem Zeitpunkt für arati, dem abendlichen Verehrungsritual mit entzündetem Licht – waren die Vorbereitungen beendet. Ravi Sharma, der Vertreter des brahmanischen Haushalts, näherte sich mit einer Handglocke und einem Tablett, auf dem die für eine Götterverehrung benötigten Gegenstände bereitlagen: ein mit Griff versehener Ständer für die Lichtflamme, Räucherpaste, Wasser, Reiskörner und Blüten. Er schlüpfte aus den Schuhen, trat barfuß vor das Tragegestell und vollzog eine kurze puja, den Akt der Götterverehrung (Farbtafel 3 im Anhang). Dabei schwenkte er die Lichtflamme vor den reglos verharrenden Figuren, besprengte sie anschließend mit Wasser und warf Blüten und Reiskörner zu ihnen in die Höhe. Dann traten mehrere Frauen vor das Jhanki. Sie offerierten eine selbstgefertigte Speise und süße Fladen, die anschließend als prasad – als von Gottheiten genossene und damit konsekrierte Speise – an die Umstehenden verteilt wurden. Außerdem legten sie rote Armreifen und Schleifen – beides spezielle Gaben für Göttinnen – auf dem Gestell nieder, dazu Geldscheine. Zum Abschluss berührten sie mit der Stirn das Tragegestell und grüßten die dargestellten Gottheiten mit der anjali-Geste. Ihrem Beispiel folgten die meisten der Anwesenden. Inzwischen hatten die abseits wartenden Musiker zu spielen begonnen. Böller und Feuerwerk wurden gezündet, womit auch das Zeichen zum Aufbruch gegeben war. Ein Dutzend Träger nahm seine Plätze rund um das Gestell ein und hievte es auf ein Kommando hin unter lauten Freudenrufen auf die Schultern. Mit den Musikern als Vorhut und begleitet von den Holi-

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Organisatoren, die deutlich an den Rosetten auf der Brust kenntlich waren, wurde das lebende Bild ins Zentrum des Dorfes und die Hauptstraße entlang bis zum maidan, dem großen Dorfplatz, getragen. Während der Zug passierte, kam der Verkehr auf der Straße zum Erliegen. Die Händler waren vor ihre Läden getreten und grüßten von dort aus ehrerbietig. Wartende Fußgänger ließen den Zug passieren und schlossen sich ihm dann meistenteils an. Frauen waren nur vereinzelt darunter, sie waren fast alle schon zum Dorfplatz vorausgeeilt und erwarteten dort das Eintreffen des Zuges. Das Gestell mit den schwankenden, aber reglos verharrenden Gestalten wurde zügig an das östliche Ende des Platzes transportiert, nach Westen gewendet und so abgesetzt, dass die letzten Sonnenstrahlen noch darauf fielen. Erneut wurden Feuerwerkskörper gezündet und einige der Männer vollführten unter Hochrufen einen kurzen Freudentanz. Die wartenden Frauen erhoben sich nun, bildeten eine lange Schlange und defilierten dann einzeln am Jhanki vorbei. Die meisten berührten das Gestell mit beiden Händen und führten diese dann zur Stirn; alle grüßten die svarup mit zusammengelegten Händen. Manche hielten auch kurz inne, um sich nach den dargestellten Gottheiten zu erkundigen oder sie ihren Kindern zu erklären, die sie dazu anhielten, ebenfalls die anjali-Geste auszuführen. Fast alle legten auch eine Münze oder Banknote auf das Gestell und nahmen etwas von dem prasad entgegen, das einer der inzwischen dort sitzenden Veranstalter ausgab. Als alle, die das wollten, vorbeigezogen waren, war es bereits recht dunkel. Die Träger kamen wieder am Tragegerüst zusammen, hoben es auf ein Signal hin an und trugen es ohne Aufenthalt zurück zum Haus des Holi-Komitees in der Seitengasse. Ravi Sharma vollzog erneut eine kurze puja. Danach wurden die jungen Darsteller losgebunden und heruntergehoben. Im Komitee-Haus wurden ihnen Kronen und Perücken abgenommen und die Kostüme ausgezogen. Darauf kehrte auch wieder Leben zurück in die jungen Leute, die so lange ihr Bestes getan hatten, stumm und möglichst regungslos zu verharren. Sind die Ereignisse des ersten Tages noch recht überschaubar, ändert sich das zunehmend in den folgenden drei Tagen. Nicht nur mehr Darsteller werden für die zwei, drei und schließlich vier Jhanki benötigt, sondern auch entsprechend mehr Veranstalter, Helfer und nicht zuletzt Träger. Auch die Zahl der auf dem maidan versammelten Frauen und der Besucher von außerhalb nimmt täglich zu. Wie zu erwarten kulminieren die Ereignisse am Abend des eigentlichen Holi-Feiertags. Der große maidan ist gefüllt mit den Komitee-Mitgliedern und ihren Helfern, der Masse der Frauen und Kinder aus dem Dorf, die sich zum Schauen und Verehren versammelt haben, und den Gästen aus anderen Dörfern. Eine gewisse zusätzliche Attraktion stellen die Kurzwaren- und Spielzeugangebote einiger Kleinhändler dar, die

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sich wie bei öffentlichen Ereignissen üblich am Haupttag einfinden. Man kann auch frisch ausgebackene Süßigkeiten erwerben, und für die männliche Jugend wird neuerdings ein Ballturnier veranstaltet. 3. Jhanki-Präsentationen von Gottheiten zum Betrachten und Verehren 3.1. Jhanki-Bilder im Kontext hinduistischer Götterrepräsentationen Die Beispiele haben deutlich gemacht, dass die im nordindischen Raum vorgeführten Jhanki zum überwiegenden Teil göttliche Wesen und Gestalten aus der hinduistischen Mythologie veranschaulichen. Sie stellen eine Form der Visualisierung von Gottheiten neben vielen anderen Formen dar. Bildhafte Veranschaulichungen göttlicher Wesen begegnen im hinduistischen Milieu bei zahlreichen Gelegenheiten und in vielfältigen Ausprägungen. Diana Eck hat in ihrem einflussreichen Essay Darsan. Seeing the Divine Image in India auf diesen Formenreichtum hingewiesen und den Hinduismus eine „imaginative, ‚image-making‘ religious tradition“ (1985: 10) genannt. Die Vielfalt göttlicher Repräsentationen verdankt sich nicht allein der großen Zahl von Gottheiten, die ganz unterschiedlich dargestellt werden können, sondern auch dem breiten Spektrum an Materialien, aus denen sie bestehen können. Besonders hoch bewertet werden zumeist Gold und Silber, Edelsteine, schwarzer Granit und Marmor. Das schließt aber weder Messing, Glas und gewöhnlichen Stein noch Lehm, Papier und anderes nur begrenzt haltbares Material als Werkstoff aus. Ikonische Bildnisse werden zumeist als von Menschen geschaffen verstanden, besonders jene, die eine Gottheit in menschlicher Gestalt zeigen. Davon unterscheiden sich anikonische Repräsentationen, bei denen keine oder wenig Menschenähnlichkeit intendiert ist und die häufig als „selbstentstanden“ (svayambhu) angesehen werden. Darstellungen von Gottheiten durch lebende Menschen, wie sie in Jhanki begegnen, stellen einen Typus anthropomorpher Bilder dar, der sich vor allem durch den „Werkstoff“ von anderen Bildnissen unterscheidet. An die Stelle unbelebter Materie, die von dazu befähigten Menschen zu einem menschenähnlichen Bildnis geformt werden muss, tritt der menschliche Körper als bereits gegebene Grundform. Sie muss dann nur noch so zugerichtet werden, dass sie den Vorstellungen entspricht, die diejenigen, die sie „bearbeiten“, von der gewünschten Gottheit haben. Die Beispiele haben gezeigt, dass lebende Bilder nach der Fertigstellung als ebenso geeignete Bildnisse für die Götterverehrung gelten können wie Bildnisse aus anderen Materialien.

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3.2. Götter erlebbar machen. Zur Herstellungspraxis von Jhanki-Bildern 3.2.1. Die Veranstalter/Künstler Wie sieht dieser Prozess der Zurichtung und Fertigstellung von Jhanki aus? Was tun die Veranstalter mit menschlichen Körpern, um sie zu überzeugenden Götterbildern zu machen? Ich habe bei der Beschreibung der JhankiVorbereitungen in Andreta einen Blick „hinter die Kulissen“ geworfen und darauf aufmerksam gemacht, wem dort der aktive Part zufällt: der Gruppe der Männer, die sich die Herstellung von Jhanki zur Aufgabe gemacht haben. Sie sind die verantwortlichen Organisatoren und Veranstalter der Ereignisse, in ihren Händen liegt die „Regie“ des gesamten Ablaufs. Zugleich wirken sie als Kunsthandwerker und Skulpteure. Einige wurden mir als kalakar, Künstler, vorgestellt. Ihre künstlerische Begabung besteht darin, dass sie eine von den Betrachtern als „richtig“, „angemessen“, „gelungen“ empfundene Darstellung anzufertigen vermögen. Ihr „Werkstoff“, die Darsteller, haben sich passiv dem Willen und den Anweisungen der Älteren zu fügen. Während ihre Gesichter geschminkt und kunstvoll verziert werden – mitunter von drei Personen gleichzeitig – liegen sie ausgestreckt auf dem Boden und lassen alles, was man mit ihnen macht, widerstandslos und schweigend geschehen (Farbtafel 2 im Anhang). Der Vergleich mit unbelebtem Material, aus dem ein Steinmetz, Schnitzer oder Maler nach seinen Vorstellungen eine Götterfigur herstellt, drängt sich auf. Dass sich die Jungen selbst schminken und herrichten, wie das professionelle Schauspieler in religiösen Theaterstücken vielfach tun, ist nicht vorgesehen. Sie machen sich nicht selbst zu dem, was sie darstellen, sondern werden von anderen dazu gemacht. Sie legen auch nicht selbst ihre Kostüme an, sondern werden von den Erwachsenen angekleidet, anschließend geschmückt und mit Perücken und Kronen versehen. Sobald ihr Aussehen den Vorstellungen der Älteren entspricht, haben sie still und möglichst reglos an der Seite zu warten – das „Werk“ soll jetzt keinen Schaden mehr nehmen –, bis sie hinaus zu den Tragegestellen gebracht und darauf montiert werden. Auch die weitere Gestaltung der lebenden Bilder liegt nahezu vollständig in den Händen und im Ermessen der Veranstalter/Künstler. Sie bestimmen die Körperhaltung der Darsteller, ihre Blickrichtung, geben Handhaltungen (mudra) vor, adjustieren Requisiten, vor allem aber halten sie die Darsteller dazu an, sich nicht mehr zu bewegen und mit weit geöffneten Augen geradeaus zu blicken (Farbtafel 1 im Anhang).

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3.2.2. Die Darsteller Es wurde deutlich, dass die Darsteller nicht über die Art und Weise ihres Auftritts zu befinden haben. Sie führen im Wesentlichen aus, was ihnen befohlen wird, nicht nur bei der Vorbereitung, sondern auch während der Präsentation. Das Charakteristikum von lebenden Bildern – stummes, regloses Verharren – nimmt ihnen die Möglichkeit, mit individuellen schauspielerischen Fähigkeiten hervorzutreten. Ihre je besondere Leiblichkeit wird gezielt durch Maske und Kostüm unkenntlich gemacht, ihre individuelle Körpersprache durch Bewegungslosigkeit zurückgedrängt und die Möglichkeit stimmlicher Äußerungen völlig ausgeschaltet12. Von den Darstellern als Personen soll nach Möglichkeit nichts zu sehen sein, das Ideal besteht in größtmöglichster Repräsentation der Götter, die sie vorstellen sollen. Sie wird nicht durch bewegtes Spiel, sondern starres Verharren erreicht. Es ist eben diese Reglosigkeit, die die besondere Leistung der Darsteller ausmacht. Ihr aktiver Part im Rahmen ihrer sonstigen passiven Folgsamkeit besteht darin, dass sie ihre Körper durch Willenskraft und Konzentration stillzustellen versuchen. Je unbewegter sie in den angewiesenen Posen verharren und je ausdauernder sie sie beibehalten, desto besser verwirklichen sie die ihnen übertragene Rolle. Sie erfüllen die Erwartungen, die die Veranstalter haben: Sie wollen nicht verkleidete Kinder präsentieren, sondern Veranschaulichungen von Gottheiten, die als Imaginationsangebote vom Publikum angenommen werden. Für die meisten mir bekannten Jhanki-Präsentationen werden junge Menschen als Darsteller gewählt, die noch nicht die Pubertät erreicht haben. Mit nur wenigen Ausnahmen handelt es sich um männliche Kinder und Jugendliche, was bedeutet, dass auch die weiblichen Figuren fast immer von Knaben verkörpert werden. Die Wahl von Kindern zur Darstellung von Göttern wird damit begründet, dass vor allem der Lebensabschnitt vor der Pubertät zur Verkörperung von Gottheiten befähige. Das erinnert an die Praxis der Ramlila-Aufführungen in Benares. Lourens van den Bosch erklärte die Jugendlichkeit der dortigen Darsteller damit (1974: 134), dass die erwachende Sexualität, die sich im Bartwuchs zeige, Ausdruck einer Vergänglichkeit sei, die sich mit der dargestellten göttlichen Realität nicht vereinbaren lasse. Das Göttliche „könne eigentlich nur von Kindern zum Ausdruck gebracht werden, weil sie ihre Unschuld noch nicht verloren haben“. Norvin Hein (1972: 72) bezeichnete es im gleichen Zusammenhang

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12 Zum Verhältnis der Leiblichkeit eines Akteurs und seiner Darstellung einer Rollenfigur siehe Fischer-Lichte 2004: 131 f.

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als „inexorable law of the Vaishnava stage“, dass die Karriere als svarup mit den ersten Haaren auf der Oberlippe zu Ende gehe. Grundsätzlich wird in Himachal Pradesh allen Kindern, Knaben wie Mädchen, die Eignung zuerkannt, göttliche Wesen zu repräsentieren. Insbesondere junge Mädchen gelten als rituell rein und werden nicht nur als kanya devi, jungfräuliche Göttin, bezeichnet, sondern häufig einzeln oder in Gruppen in so genannten kanya puja als Verkörperungen von Göttinnen verehrt und mit Gaben beschenkt13. Diese Verehrungshandlungen finden allerdings meist in den Häusern oder an Tempeln statt. Dass Mädchen nur sehr selten an Jhanki-Präsentationen mitwirken, ist also nicht mit einer prinzipiellen Ungeeignetheit, sondern damit zu erklären, dass ein Zurschaustellen in der Öffentlichkeit dem traditionellen Anstandskodex einer weiblichen Person in Kangra zuwiderlief und auch heute noch von vielen Familien nicht gestattet wird. Kathryn Hansen hat darauf hingewiesen (1992: 52), dass auch im weltlichen Nautanki-Theater bis weit ins 20. Jahrhundert hinein weibliche Rollen von Männern gespielt wurden. Zwar gab es weibliche Mitglieder in den Ensembles, doch bereits die Tatsache, dass sie öffentlich auftraten, schadete ihrem Ruf (ebd. 23). In Andreta wurde ein zweites Argument gegen die Mitwirkung von Mädchen vorgebracht: Mädchen seien schwächer, und zwar in dem Sinn, dass es ihnen eher als Knaben passieren könne, dass eine von ihnen personifizierte Gottheit Besitz von ihnen ergreifen, sie besessen machen könne. Ich neige dazu, auch in diesem Argument das Bestreben zu sehen, Mädchen von öffentlichen Darbietungen fernzuhalten. Es verweist aber zudem auf einen wichtigen Sachverhalt: Eine Gottbesessenheit der Darsteller wird bei Jhanki-Darbietungen nicht gewünscht, weder von den Veranstaltern noch von den Zuschauern. Den Veranstaltern ist nicht daran gelegen, die Gegenwart einer Gottheit dadurch zu belegen, dass der betreffende Darsteller in Trance fällt14. Auch diese Art „Aktion“ von Seiten der Darsteller soll also unterbleiben. Jhanki-Bilder sollen nicht auf diese Weise göttlich belebt werden, sondern Bilder sein, deren Belebung durch die Vorstellungskraft der Betrachter geschieht.

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Vgl. Parry 1979: 147; Erndl 1993: 72 f. Besessenheitstrance, wie sie Katharina Wilkens für Tansania in diesem Band beschreibt, ist demnach offenbar nicht intendiert. Das bedeutet aber nicht, dass es in Himachal Pradesh keine Besessenheitsphänomene gäbe. Zu Besessenheit und Trance in Vorhimalaya-Regionen s. etwa Berti 2001, Sax 2009, im Raum Kangra Erndl 1993: 105–134. 14

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3.2.3. Erkennbarkeit für die Betrachter: Die Zurichtung zu Götterbildern Veranstalter und Darsteller eint das gemeinsame Projekt, einem Publikum Bilder von göttlichen Wesen oder mythischen Ereignissen zu präsentieren. Voraussetzung für den Erfolg ihres Unternehmens ist, dass die Figuren der religiösen Bilder als Darstellungen von Gottheiten erkannt und akzeptiert werden. Die Hersteller sind mithin bemüht, ihre Schöpfungen so zu gestalten, dass sie verstanden werden und die Wirkung entfalten, die sie damit verbinden. Es ist davon auszugehen, dass der Betrachter nicht verwirrt und verunsichert werden soll, sondern dass ihm ein visuelles Angebot unterbreitet wird, mit dem er im Prinzip bereits vertraut ist – durch diverse vorhandene bildliche Darstellungen, die sich zudem fast immer auf bekannte Beschreibungen in den Epen und anderen religiösen Texten stützen. Hintergrund bei der Gestaltung religiöser Jhanki ist eine Bild- und Erfahrungswelt, die die Veranstalter mit den Betrachtern teilen und zu der sie alle durch eben diese Veranstaltungen kreativ beitragen. Viele Jhanki-Bilder erinnern, was ihre Ausstattung, Körper- und Handhaltung betrifft, an bestimmte Götterbilder aus unbelebtem Material, wie sie in den südlichen Regionen von Himachal Pradesh immer wieder begegnen. Ich denke hier weniger an die bekannten Kultbildnisse der großen hinduistischen Pilgertempel der Region oder die Skulpturen an den Außenwänden der historischen Tempel, als an neuere Bildwerke, die in den letzten Jahrzehnten weite Verbreitung gefunden haben. Zu nennen wären vor allem die naturalistisch gestalteten anthropomorphen Marmorstatuen aus Jaipur, mit denen viele neue lokale Tempel ausgestattet wurden, besonders Göttinnentempel. In letzteren findet man als zentrales Kultbild oft eine in einen roten Sari gekleidete und mit reichem Schmuck behängte Devi auf dem Löwen, die dem Betrachter eine ihrer Hände schutzgewährend entgegenstreckt. In den Sinn kommen auch die großen, mit intensiven Farben bemalten Götterfiguren aus Gips oder Beton, die in neuerer Zeit vor oder im Umkreis von Tempeln zur Schau gestellt werden. So bilden etwa die Skulpturen eines tiefblauen Ram mit Bogen, eines roten Hanuman mit Keule oder eines zwischen Schlangen meditierenden blaufarbenen Siva mit Sanduhrtrommel und Dreizack Besucherattraktionen im Park hinter dem Camunda-DeviTempel, einem nahe gelegenen beliebten Pilgerzentrum. Manche Jhanki lassen auch an bestimmte zweidimensionale Götterdarstellungen denken, etwa in illustrierten Broschüren zu einzelnen Gottheiten, die an den großen Tempeln – darunter Kangra, Baijnath, Camunda, Vaisno Devi, Jvalamukhi – erhältlich sind und von Besuchern gerne erworben werden. Besonders bei der Betrachtung der Gesichter von Jhanki-Darstellern drängt sich der Vergleich mit den populären kostengünstigen Götterpostern auf, die als Einzel-

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bilder und Kalender überall – in Städten und Dörfern, im öffentlichen und im privaten Bereich – begegnen und für alle wichtigen Gottheiten zu haben sind (Luchesi 2010). Tatsächlich werden sie gelegentlich direkt in JhankiPräsentationen integriert. Im eingangs beschriebenen Jhanki aus Sujanpur, das die Göttin Vaisno Devi mit Hanuman und Bhairon zeigte, war gut sichtbar an der Wagenrückwand über den Darstellern ein großformatiges Poster mit eben diesem Motiv angebracht (s. Abb. 1). Auch wenn Jhanki gewisse Ähnlichkeiten mit unbelebten Götterdarstellungen aufweisen, bedeutet das nicht, dass die Veranstalter versuchen würden, diese Bildnisse exakt nachzubilden. Wie oben betont, sind indische Jhanki keine lebenden Bilder im Sinn der europäischen Nachbildungen von Kunstwerken. Ich habe auf verbreitete Götterdarstellungen der Region deshalb hingewiesen, um auf das mögliche religiöse Bildinventar aufmerksam zu machen, das die Herstellung der Jhanki durch die Veranstalter wie auch deren Wahrnehmung durch die Betrachter beeinflussen kann. Die Veranstalter bedienen sich nur ganz bestimmter Elemente dieses Inventars; es sind solche, die ihre Bilder sowohl in den eigenen Augen als auch in denen der Betrachter als Veranschaulichungen von Gottheiten ausweisen. Dazu gehören: 1. Jhanki-Darsteller verharren bewegungslos; sie können damit so statuarisch wie menschengestaltige Götterbildnisse aus leblosem Material wirken. 2. Sie thronen wie diese auf den Reittieren (vahana), die den dargestellten Göttern zugeordnet sind, oder auf erhöhten Sitzen. Sie stehen nie wie gewöhnliche Menschen direkt auf dem Boden. 3. Sie sind wie diese mit bekannten Götterattributen ausgestattet, zum Beispiel mit Dreizack (Devi, Siva), Schwert (Devi), Diskus und Muschelhorn (Visnu). 4. Sie strecken häufig eine Hand in der Geste der Schutzgewährung (abhaya) aus und folgen damit dem Muster der Darstellung von Gottheiten in ihren wohlwollenden Aspekten. 5. Sie tragen immer Kronen, die als unverzichtbare Merkmale von Gottheiten gelten. 6. Sie haben oft mehr als zwei Arme, gelegentlich auch mehr als einen Kopf, was sie als Darstellungen übernatürlicher Wesen kennzeichnet. Natürlich handelt es sich um zusätzliche künstliche Köpfe und Extremitäten.

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7. Sie sind dem Betrachter frontal zugewandt. Das intensive GesichtsMakeup betont besonders die Augen, die sie weit geöffnet halten sollen. Wie Bildnisse aus leblosen Material fordern sie damit den Beschauer zu einem Augenkontakt heraus, der darsan verheißt, das heißt die Möglichkeit eines auspiziösen Blickwechsels mit einer Gottheit (Eck 1985: 3– 10). Die Veranstalter/Künstler können davon ausgehen, dass lebende Bildnisse mit diesen Merkmalen von den Betrachtern genauso verstanden werden wie von ihnen geplant: als Götterbilder. Damit ist nicht gesagt, dass das Publikum immer weiß oder wissen will, um welche Gottheiten oder mythischen Ereignisse es sich im Einzelnen handelt. Im Gegensatz zu beobachtenden Religionswissenschaftlern ist vielen Betrachtern nicht an einer wissenschaftlich exakten Entschlüsselung gelegen; es genügt ihnen zu wissen, dass sie Götter und Göttinnen vor sich haben15. Wer sich jedoch näher informieren möchte, kann sich an die Veranstalter um Auskunft wenden. Besonders die ausgewiesenen religiösen Experten unter ihnen sind fast immer zu detaillierten Ausführungen und Belehrungen bereit. 3.3. Jhanki als Kultbilder Die obigen Beispiele haben deutlich gemacht, dass die Veranstalter von religiösen lebenden Bildern überzeugende Götterbilder zu präsentieren vermögen. Die Menschen, denen sie vorgeführt werden, erkennen sie als Darstellungen von Gottheiten. Ich habe bereits beschrieben, dass sie zudem sehr häufig in besonderer Weise auf sie reagieren. Am typischsten ist der ehrerbietige Gruß mit zusammengelegten Händen (anjali), oft begleitet von Rufen und Freudenbekundungen. Die Betrachter treten auch gerne näher heran, berühren die Füße der Bilder oder deren Transportmittel mit beiden Händen, um sie anschließend gegen Stirn und Augen zu führen. Häufig geben sie eine kleine Gabe, meist eine Geldspende, es können aber auch, wie in Andreta, ganze Schüsseln voll Speisen oder Dinge sein, die als besonders angemessene Gaben für die im betreffenden Bild dargestellte Gottheit gelten. Sie nehmen zudem prasad entgegen, das heißt Speise, die zuvor einer Gottheit dargeboten wurde und durch den Kontakt mit ihr als geweiht gilt. Die genannten Handlungen sind besonders vor und an solchen Jhanki zu beobachten, die einzelne Gottheiten, Götterpaare oder Göttergruppen zeigen, weniger an solchen, die eine bestimmte Szene veranschaulichen. —————

15 Entsprechendes hat Annette Wilke (2012: 408) für das Hören und Rezitieren sakraler Texte beschrieben.

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Alle diese Verhaltensweisen sind identisch mit jenen, die gläubige Hindus in der Begegnung mit Götterrepräsentationen in Tempeln und häuslichen Schreinen an den Tag legen. Am Andreta-Beispiel konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass auch die Verehrungshandlungen der Priester und der zum Götterdienst (puja) berechtigten Personen dem Muster folgen, das herkömmlicherweise die Verehrung von Gottheiten vor und an ihrem Kultbild kennzeichnet. Die Person, die den Götterdienst ausführt, tritt barfuß vor die Jhanki, genauso wie sie es in Tempeln vor Kultbildern tun würde, um den Ort der Gottheiten nicht durch Schuhwerk zu verunreinigen. Es folgt ein – meist kurzer, aber entscheidender – ritueller Akt, der das Besprengen mit Wasser, das Darbringen von Blumen, Räucherwerk und Licht und das Versorgen mit Speise umfasst. Es handelt sich um zentrale Respekterweisungen (upacara) einer puja, die der Gottheit gelten, die vor ihrem Bild an- und herbeigerufen und durch diesen Akt als präsent vorgestellt wird. Wird eine puja vor Darstellern eines lebenden Bildes vollzogen, bedeutet das entsprechend, dass auch sie als Ort oder Gefäß für den Aufenthalt der von ihnen dargestellten Götter oder Göttinnen verstanden werden können. Wann und wodurch, so wäre hier zu fragen, wird ein lebendes Bild zum Kultbild? Offenkundig fehlen komplexe rituelle Maßnahmen, wie sie etwa im Fall anthropomorpher Götterbildnissen in Tempeln unerlässlich sind 16. Tempelbildnisse sollen idealiter permanente Behältnisse für Göttliches sein. Umfangreiche Installierungs- und Weiherituale sind notwendig, um sie zu angemessenen und dauerhaften Gefäßen zu machen. Jhanki-Bildnisse hingegen sollen nur vorübergehend diesem Zweck dienen; ihr unbeständiges „Material“ gestattet auch nichts anderes. Sie werden ad hoc für ein unmittelbar bevorstehendes Ereignis hergestellt, nur für eine begrenzte Zeit gebraucht – nämlich solange das Ereignis währt – und dann wieder „abgebaut“, „entfernt“. Der zeitliche Rahmen bestimmt sich durch die Wahl eines bestimmten Festes im religiösen Jahreskalender oder individuellen Lebenszyklus sowie durch die Tageszeit, die die Verantwortlichen als Zeitspanne möglicher Verehrung festgelegt haben. Religiöse lebende Bilder weisen damit alle Merkmale von „temporären Kultbildern“ auf, eine Bezeichnung, die ich im Anschluss an James Preston (1985: 10) auch für andere ephemere religiöse Bildnisse gebraucht habe (Luchesi 1995). Als solche ist ihre rituelle Funktion begrenzt: Sie beginnt mit dem formalen Verehrungsakt, den ein religiöser Experte vornimmt, und endet mit eben einem solchen.

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16 Zur Herstellung und Konsekrierung von Tempelbildnissen s. Eck 1985: 51–55; Davis 1997: 33–37.

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Der erste wird als rituelle Einladung und Begrüßung der Gottheiten verstanden, der zweite als Danksagung und Verabschiedung. Anders als permanente Tempelbildnisse müssen religiöse Jhanki-Bilder nicht durch eine gesonderte Zeremonie geweiht werden. Zu angemessenen Bildnissen im Rahmen der Götterverehrung werden sie mit dem Beginn eben dieser Verehrung. Der verstorbene Priester Jagdish Sharma, der viele Jahre lang die arati-Zeremonien vor den Jhanki in Andreta vornahm, drückte es so aus: „Wenn alles soweit ist, machen wir arati, um die Götter zu begrüßen, und wenn alles vorbei ist, gibt es wieder arati, um die Götter zu verabschieden.“ Mit der ersten dieser rituellen Handlungen sind die JhankiBilder verehrbare Bildnisse und sie bleiben das bis zur abschließenden zweiten. Die herbeigebetenen Gottheiten sind nach diesem Verständnis Gäste, deren Verweildauer auf die Zeitspanne begrenzt ist, in der ihnen an ihren Bildern Respekt erwiesen wird. Zu den respektvollen Handlungen zählt auch, dass die Götterdarsteller gefahren und – besser noch – wie in Andreta auf den Schultern getragen werden. Wenn in Andreta die Jhanki auf dem östlichen Teil des Festplatzes mit Blick nach Westen aufgestellt werden, ist auch das ein Zeichen des Respekts: Eine solche Positionierung gilt vor Ort als besonders angemessen für Götterbilder. 3.4. Jhanki-Präsentationen als öffentliche Ereignisse Ein wichtiges Merkmal von Jhanki-Bildern ist, dass sie für öffentliche Schaustellungen hergestellt werden. In den meisten Fällen kommt hinzu, dass sie nicht – oder nicht nur – an einem fixen Ort präsentiert werden, wohin sich interessierte Betrachter dann zu begeben haben, sondern dass sie in den öffentlichen Raum hineintransportiert werden. Sie haben Umzugsbzw. Prozessionscharakter mit meist festgelegter Wegstrecke, deren Anfangs- und Endpunkte vielfach identisch sind. Typisch ist die Route durch die Hauptstraße eines Ortes, die fast immer auch eine wichtige Bazarstraße ist. Der Bazar, der Geschäfts- und Handelsbereich eines Ortes, ist öffentlicher Bereich par excellence. Desgleichen das offene Areal des maidan, das für diverse öffentliche Ereignisse wie Jahrmärkte, Versammlungen und sportliche Ereignisse genutzt wird. Jhanki-Präsentationen in diesen öffentlichen Räumen richten sich entsprechend immer an die gesamte Bewohnerschaft der jeweiligen Orte. Das Auftauchen von Göttern im Bazar kommt nicht unerwartet. Man ist darauf eingestellt, da das Ereignis zeitlich durch ein bestimmtes Datum im religiösen Festkalender festgelegt ist und jährlich wiederkehrt. Der gewählte Tag ist immer ein allgemein bekannter und von vielen gläubigen Hindus auch mit anderen religiösen Observanzen begangener Festtag, mithin ein

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aus dem Alltag herausgehobener sakraler Zeitabschnitt. Weshalb gerade der betreffende Tag mit Jhanki gefeiert wird, wird meist mit der Tradition des jeweiligen Ortes begründet: Man habe das immer schon an diesem Tag getan. Nur gelegentlich erhielt ich eine nähere Begründung, etwa von Rajiv Sud, der sich zu den Holi-Jhanki in Andreta äußerte: „Holi muss jedes Jahr mit Jhanki begangen werden. Wenn wir es nicht tun, können wir von Gott (bhagavan) bestraft werden. Die Strafe kann in Epidemien, Krankheiten oder Missernte bestehen.“ Und er setzte hinzu: „Der Großvater von Jagdish [des verstorbenen brahmanischen Ritualexperten] hat das gemacht, mein Großvater ebenfalls. Wir halten daran fest.“ Die kontinuierliche Fortführung wird hier mit einer Verpflichtung begründet, die die Vorväter mit bhagavan eingegangen hätten, um Epidemien und zerstörerische Naturereignisse abzuwenden, die über das Dorf insgesamt einbrechen könnten. Man müsse sie weiterhin einhalten, um nicht zu riskieren, dass die Gemeinschaft Schaden nähme. Nach dieser Vorstellung sind alle Dorfbewohner – ungeachtet von Kasten- und Statusunterschieden – an diese Verpflichtung gebunden. Tatsächlich ist in Andreta die gesamte Dorfgemeinschaft in die JhankiAktivitäten an Holi einbezogen, sei es durch tätige Mitwirkung oder durch Geldspenden. Wie beschrieben liegen Planung und Organisation in den Händen der Männer vom Holi-Komitee. Doch für die eigentliche Durchführung an den Festtagen stellt ein weit größerer Teil der männlichen Dorfbewohner Zeit, Arbeitskraft und Expertise zur Verfügung, insbesondere für die Instandsetzung der Gestelle und die Beförderung der Jhanki. Ihr Einsatz ist unentgeltlich, gilt als seva, das heißt als Dienst zum Wohl der Allgemeinheit und zu Ehren der Gottheiten. Männliche Kinder helfen ebenfalls mit, je nach Alter mit Hilfs- und Botendiensten. Viele hoffen natürlich, selbst an den lebenden Bildern als Darsteller mitwirken zu dürfen. Frauen und Mädchen fällt neben eher unauffälligen Hilfsdiensten wie Näharbeiten vor allem der Part zu, sich auf dem Dorfplatz einzufinden und den Gottheiten in Gestalt der Jhanki-Bilder ihre Referenz zu erweisen. Dieser Part ist – entgegen dem ersten Eindruck – von zentraler Bedeutung. Gerade durch ihr rituelles Handeln sind sie maßgeblich daran beteiligt, eine sakrale Wirklichkeit zu schaffen, in der göttliche Präsenz empfunden und gemeinschaftlich bestätigt wird. Sie vervollständigen die Aktivitäten der Männerseite und wirken damit entscheidend mit an einem Ereignis, in dem sich die Dorfbevölkerung als Einheit präsentiert, die im Verbund mit den von ihr aktiv herbeigeführten Gottheiten den Schutz dieser Gemeinschaft zu sichern versucht.

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4. Resümee Ich habe im Vorausgehenden religiöse Jhanki-Bilder vorgestellt, wie sie in weiten Teilen Nordindiens an bestimmten Tagen öffentlich zur Schau gestellt werden, und zu zeigen versucht, dass sie offenkundig mehr als nur unterhaltsame Bildwerke zum Anschauen sind. Die Reaktionen vieler Betrachter deuten darauf hin, dass sie beim Anblick solcher lebender Bilder nicht nur das Augenscheinliche wahrnehmen, nämliche stumme und reglose Personen in bestimmter Kostümierung, sondern in und mit ihnen die Gegenwart der Gottheiten, die diese Personen darstellen sollen. Diese Art der Wahrnehmung ist gewollt und erwünscht. Die Beispiele aus Himachal Pradesh machen deutlich, dass diejenigen, die Jhanki-Präsentationen herstellen und vorführen, ganz bewusst Bildnisse von Göttern schaffen wollen, die die Betrachter dazu veranlassen, sich die Präsenz von sonst unsichtbaren, körperlosen Wesenheiten vorzustellen. Ich habe Jhanki daher als Stimuli der Einbildungskraft oder Imaginationsangebote bezeichnet. Wie kommt es, so fragte ich, dass Jhanki-Bilder als Götterdarstellungen überzeugen und die Einbildungskraft in Gang setzen können? Religiöse lebende Bilder lassen sich anderen Visualisierungen von Gottheiten aus leblosen Materialien zur Seite stellen. Ihre Erkennbarkeit als Götterbilder hängt allerdings entscheidend von der Art ihrer Gestaltung und der anschließenden verehrenden Behandlung ab. Wie gezeigt, berücksichtigen die Veranstalter durchweg Elemente, die durch andere Götterrepräsentationen als Kennzeichen von Gottheiten eingeführt und allgemein bekannt sind, also aus den von allen Beteiligten geteilten religiösen Vorstellungen und kulturellen Traditionen stammen. Besonders wichtig erscheint, dass diejenigen, die Jhanki-Bilder herstellen, dies im Bewusstsein tun, Kultbilder zu schaffen. Sie behandeln sie nach der Fertigstellung als verehrbare Bilder, stellen sie als solche zur Schau und bieten Betrachtern damit die Möglichkeit, sie in gleicher Weise zu verstehen. Literatur Berti, Daniela 2001. La parole des dieux: Culte de possession en Himalaya indien. Paris: CNRS ed. Eck, Diana 1985. Darśan. Seeing the Divine Image in India. 2. rev. and enlarged edition. Chambersburg, PA: Anima Publications. Davis, Richard H. 1997. Lives of Indian Images. Princeton, NJ: Princeton U.P. Erndl, Kathleen M. 1993. Victory to the Mother. The Hindu Goddess of Northwest India in Myth, Ritual, and Symbol. New York/ Oxford: Oxford U.P. Fischer-Lichte, Erika 2004. Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. Hansen, Kathryn 1992. Grounds for Play. The Nauṭankī Theatre of North India. Berkeley: University of California Press.

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Inkorporierte Imagination Geistertänze und Exorzismus in Ostafrika Katharina Wilkens In meinem Artikel geht es darum, dass Imagination auch ein körperlicher Ausdruck sein kann: es muss nicht nur ein Bild im Kopf sein, sondern kann auch eine unmittelbare Bewegung des Körpers sein. Wie alle Imaginationen wird auch diese Bewegung kulturell gelenkt, so dass die Bewegungen auch für Außenstehende zu erkennbaren Mustern werden. Im Trancezustand werden diese inkorporierten Imaginationen von den tanzenden Akteuren besonders intensiv und unmittelbar erlebt. Grundsätzlich bietet Imagination ein Potential an Interpretationsmöglichkeiten an, sie zeichnet sich also durch Subjektivität und Ambiguität aus, d. h. dass die Bilder, Bewegungen und Erfahrungen nicht immer und nicht von allen gleich interpretiert werden, sondern dass Möglichkeiten der Deutung und auch der Veränderung erkennbar werden, deren Ziel gar nicht vorherzusehen ist. Sowohl auf kollektiver wie auch auf individueller Ebene ergeben sich so verschiedene Ausgestaltungsmöglichkeiten der inkorporierten Imaginationen, die in verschiedenen religiösen und sozio-kulturellen Milieus unterschiedlich intensiv genutzt werden. In meinem Artikel beleuchte ich spezifisch den rituellen Kontext der Besessenheit durch Geister an einem islamischen und einem christlichen Beispiel in Tansania. Dabei werden die Variabilität der Inkorporierung deutlich, sowie die Möglichkeiten der Interpretation sowohl in den Biographien einzelner Personen als auch in den gesellschaftspolitischen Entwicklungen der lokalen Bevölkerung insgesamt, woraus sich wiederum konkrete Konsequenzen in der Identitätsbildung in den Individuen und dem Kollektiv ergeben.

And, as imagination bodies forth The forms of things unknown, the poet’s pen Turns them to shapes, and gives to airy nothing A local habitation and a name. (Shakespeare, Midsummer’s Night Dream, 5. Akt)

1. Einleitung „Geistern“ begegnet man in vielen Formen: als Elfen bei Shakespeare, Dämonen und Engel im Christentum, jinns im Islam, bhuts in Indien, Geistwesen in manchen Varianten des spirituellen Heilens und des Channellings, als Ahnengeistern und vielen anderen mehr. Die Vielfalt der Darstellungen, kultischen Praktiken, mythischen Narrative und moralischen

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Bewertungen ist groß. Ein kleiner, imaginativ außerordentlich dynamischer Ausschnitt aus dieser Vielfalt ist die Praxis der Besessenheit durch Geister. Zentral für Besessenheit ist ein „altered state of consciousness“ bzw. die Trance der Tänzer und Betroffenen. In diesem außeralltäglichen physischen und mentalen Zustand wird von den Praktizierenden das Wirken eines Geistes imaginiert, der mit der Stimme des Mediums spricht und seinen Körper bewegt. Diese verkörperte Imagination kultureller Semantiken und Normen im getrommelten Rhythmus der Trance wird im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen. Zunächst werde ich zwei Beispiele für rituelle Besessenheit in Tansania und die damit assoziierten Geister vorstellen. Dies sind der kibuki-Kult auf der islamischen Insel Zanzibar und die katholische Splittergruppe Marian Faith Healing Ministry (MFHM) in der Wirtschaftsmetropole Dar es Salaam. Sowohl die islamische Tradition als auch die katholische Kirche kennen viele Ausdrucksformen von Geistern und ritueller Besessenheit: Die hier vorgestellten Beispiele sind kleine, abgegrenzte Erscheinungsformen, die ich selber kennen gelernt habe1. Auf diesem religionshistorischen Überblick aufbauend entfalte ich mein religionsästhetisches Konzept der „inkorporierten Imagination“. Imagination ist eine kreative Kraft, die sich von einer „methodischen Wahrnehmung“ (Hüppauf/Wulf 2006: 9) unterscheidet. Geister und Götter werden imaginiert und ritualisiert (Wilke, Luchesi, in diesem Band). Besessenheitstrance ist die subjektive Erfahrung oder mentale Wahrnehmung des imaginierten Geistes im Körper: inkorporierte Imagination. In der rituellen Trance handelt es sich folglich nicht primär um mentale Bilder oder Visualisierungen, sondern um Bewegungsabläufe, Rhythmen und Performanzen. Das kreative Potenzial der rituellen Besessenheit ermöglicht einerseits dem individuellen Trancetänzer biographische Transformationen in einem therapeutischen Prozess. Andererseits birgt die kreative Kraft der rituellen Imagination, die Möglichkeiten statt Gewissheiten zum Ausdruck bringt, das Potenzial für religiös-ethnische Gemeinschaften, über Jahre und Jahrzehnte hinweg soziokulturelle Veränderungen (z. B. durch Kolonialisierung und Modernisierung) zu interpretieren und anzueignen. Individuelle Imagination und kollektive Imagination können nicht voneinander getrennt werden: Individuelle Imagination basiert immer auf kulturellen Vorgaben, während sich kulturelle Imagination in den einzelnen Akteuren aktualisiert. Besessenheitskulte sind als Schnittstelle der individuellen und kollektiven Imagination besonders anschaulich. Was beide Ebe—————

1 Die Feldforschung zur MFHM in Dar es Salaam fand überwiegend in den Jahren 2004–05 statt und ist in Wilkens (2011a) schriftlich niedergelegt. Eine Inszenierung des kibuki-Kults in Zanzibar-Stadt erlebte ich zusammen mit zanzibarischen Bekannten im Sommer 1999.

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nen verbindet, ist die Unbestimmtheit, Ambivalenz und Fluidität sowohl der imaginierten Besessenheitsgeister als auch der kontingenten Ereignisse in individuellen Biographien und kollektiven Historiographien. Anhand der konkreten Beispiele aus Tansania werden diese Zusammenhänge in zwei sehr unterschiedlichen rituellen Rahmungen erläutert. 2. Besessenheit durch Geister in Tansania – ein Überblick Ich habe meine Forschungen in Tansania durchgeführt, wo Besessenheit durch Geister eine sichtbare Rolle im therapeutischen und religiösen Alltag einnimmt. Tansania ist ein Land, das typischerweise „multikulturell“ genannt wird. In der Kolonialzeit errichtet in einer Region, in der viele kleinere Volksgruppen leben, wurde der unabhängige Staat schließlich eine föderative Republik aus der islamischen Handelsmetropole Zanzibar und dem eher traditionell-religiös bzw. christlich geprägten Festland. Der Islam ist in den Handelsstädten entlang der ostafrikanischen Küste und auf den Inseln von Zanzibar schon seit dem 8. Jahrhundert verwurzelt. Im späten 18. Jahrhundert wurde Zanzibar Teil des Sultanats von Oman. Damit begann auch die Ausbreitung des Islam in den Inlandsregionen Ostafrikas – in etwa zeitgleich mit der beginnenden christlichen Mission. Die verschiedenen Konfessionen des Christentums sind also historisch wesentlich jünger als der etablierte sunnitische Islam entlang der Küste. Bevor ich zwei Beispiele für rituelle Besessenheit vorstelle, möchte ich kurz meine Verwendung des Begriffs „Geist“ erläutern. Als metasprachlicher Begriff in der Religionswissenschaft ist er nicht unproblematisch, da er von der christlich-europäischen Vorstellungswelt geprägt ist. Dennoch finde ich den Terminus geeigneter als „Zwischenwesen“, da er die Grenzen zwischen Menschen, Geistern und Göttern offener lässt: Es muss kein Zwischenraum definiert werden. Die Grenze zwischen Menschen und Geistern verschwimmt in der Besessenheitstrance, wenn der Körper des Menschen als bloße Hülle des besitzenden Geistes interpretiert wird. Götter und Geister voneinander zu trennen ist oftmals schwer und nur dort sinnvoll möglich, wo die örtliche Sprache eine ähnliche, abstrakt-binäre Trennung vorsieht – was in vielen afrikanischen Sprachen nicht der Fall ist. Stattdessen werden oft mehrere Gruppen transzendenter Wesen separat benannt, wie auch in der europäischen vor-christlichen Mythologie: Elfen, Trolle, Gespenster etc. Ich bediene mich im Folgenden also dieses metasprachlichen Sammelbegriffs „Geist“, möchte damit aber nur dort ein untergeordnetes Wesen verstehen, wo es auch klar benannte übergeordnete „Götter“ gibt (christliche und islamische Kontexte). Dieser Sammelbegriff umfasst im

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spezifisch afrikanischen Kontext als Kategorien unter anderem Ahnengeister, Fremdgeister, Orts- oder Naturgeister und andere. Ethnologen bezeichnen mit „Fremdgeistern“ diejenigen Geister, die mit spezifischen soziokulturellen, fremdkulturellen oder auch nicht-menschlichen Charakteristika ausgestattet sind: also Tiergeister, aber vor allem auch Geister, die Nachbarethnien darstellen, „Arabergeister“, „Europäergeister“ etc., je nach Lokalität verschieden. Diese Geister werden in Narrativen und Performanzen mit menschlichen Zügen, Kleidungs- und Nahrungsvorlieben, Familienbanden und Sprachen ausgestattet2. Im Swahili sind mehrere Begriffe für Geister üblich, die teils synonym, teils differenzierend verwendet werden, was nicht zuletzt auch von der Sprecherposition abhängig ist. Eines der gängigsten Worte ist „pepo“ (Pl.: mapepo), in dem Assoziationen von „Wind“ und „Schwindel“ mitklingen. Der Begriff bezeichnet überwiegend Fremdgeister, wird aber auch als Sammelbegriff eingesetzt. Ein weiteres, sehr häufiges Wort für Fremdgeister ist „shetani“ (Pl.: mashetani), abgeleitet vom arabischen Shaitan/Satan. Es gibt darüber hinaus eine große und semantisch variable Vielzahl an Gruppen- und Individualnamen für lokal variante Subkategorien der Geister – eine übergreifende Systematik zu erstellen ist nicht möglich. Ahnen werden überwiegend mit „mababu“ („Großeltern“) bezeichnet; generalisierte Ahnen- oder Ackergeister an bestimmten Orten sind „mizimu“. Grammatikalisch sind die meisten Termini für Geister einer (oft augmentativen) „Ding“-Klasse zugeordnet (Klasse 5/6, ma-); nur die Ahnengeister, deren Schreine am Rand von Äckern stehen, fallen in eine Klasse für „Pflanzen“ (Klasse 3/4, m-/mi-). Die Konjugation der Verben schwankt zwischen „Ding“ bzw. „Pflanze“ und „Mensch“ (Klasse 1/2, m-/wa-), was deutlich die Ambivalenz dieser nicht-menschlichen und doch anthropomorphen Wesen zeigt. Gerade die Fremdgeister wandern seit Etablierung der omanischen Handelsrouten von der islamischen Küste ins Inland, während lokale Geister mit den Sklavenkaravanen an die Küste kamen. Sowohl Ahnen- wie auch Fremdgeister werden im Milieu der christlichen Kirchen unterschiedlich behandelt. In den Missionskirchen werden sie meist negiert, während in den charismatischen Strömungen Trance- bzw. Besessenheitsrituale ihren festen Platz gefunden haben. So wandern die Geschichten und kultischen Handlungen mit Bezug zu Geistern (v. a. den Fremdgeistern) von Region zu Region und von Religion zu Religion. —————

2 Dies sind die „imaginativen Dinge“, die den Imaginationsprozess der einzelnen, in Trance tanzenden Ritualteilnehmer für anderen Teilnehmer sichtbar und nachvollziehbar werden lassen. Dies wird unten noch ausführlicher diskutiert. Vgl. Schwarte 2006: 93–4.

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Es muss grundsätzlich zwischen zwei Möglichkeiten unterschieden werden, wie das Einwirken von Geistern auf Menschen lokal beschrieben wird. Wenn ein Mensch (Mann oder Frau) erkrankt, von Pech verfolgt wird, seine Leistungen einbrechen oder ähnliches und die Betroffenen deswegen um Rat suchen, sprechen Ethnologen von Affliktion. Affliktion kann lokal auf Geister zurückgeführt werden, muss aber nicht (es kommen auch natürliche Ursachen, Gott/Allah und andere Ursachen dafür in Frage). Affliktive Geister können Ahnen- und Fremdgeister sein. Ahnengeister werden durch Opferrituale befriedet, Fremdgeister werden meist durch rituelle Besessenheit in Trance besänftigt und das zugrundeliegende Problem in einer Gemeinschaft ähnlich Betroffener therapeutisch gelöst3. Besessenheitsrituale an der ostafrikanischen Küste beziehen sich nur auf Fremdgeister, nie auf Ahnengeister. In der sozialen Praxis der rituellen Besessenheit gehen die lokalen Akteure davon aus, dass eine Verschiebung der Handlungsmacht im kollektiven wie individuellen imaginativen Prozess stattfindet. Das in veränderter Stimme vom Medium Gesagte gilt hierbei als vom Geist gesprochen, nicht vom Menschen. Die Anerkennung dieser „fremden“ Handlungsmacht ist ein prinzipielles Merkmal jeder Form von ritueller Besessenheit. In diesem Moment entsteht ein imaginativer Zwischenraum zwischen sozialer Norm und Wirklichkeit, der mithilfe der „fremden“ Autorität gestaltbar wird. So können gesellschaftliche Normen aller Art in einem fortwährenden Prozess der Wirklichkeit angepasst werden, indem man den Geistern die Forderung nach Veränderung zuschreibt. Gleichzeitig können Konflikte mit etablierten Normen in den Einzelbiographien der Patienten mit Bezug auf den „mutwilligen“ Einfluss der Geister erklärt und gelöst werden. Es sind immer Zuschauer bei ritueller Besessenheit anwesend, die diesen Prozess begleiten und mit den Medien, bzw. den „Geistern“ diskutieren, diese selbst um Rat bitten und die Kommunikationen während des Rituals in den Alltag weitertragen. 2.1. Islamische Besessenheit: Initiation in den kibuki-Geisterbund Die generelle Bezeichnung für ein Tranceritual in traditional-religiösen und islamischen Milieus ist ngoma, ein Wort mit einem umfassenden semantischen Feld, das Musik, Trommeln, Tanz und eben auch rituellen Besessen—————

3 Andere Optionen sind die Behandlung durch einen schulmedizinisch praktizierenden Arzt, eine rituelle und naturheilkundliche Behandlung nach lokalen Wissenstraditionen, Aussöhnung mit den Ahnen oder eine Behandlung durch einen islamischen Heilexperten in der Tradition der VierSäfte-Lehre. Vielfältige Kombinationen davon sind der therapeutische Normalfall.

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heitstanz umfasst. Kultische Zusammenschlüsse oder Bünde („kilinge“ in Swahili) entstehen immer dort, wo Patienten zur Heilung in Trance fallen und von einem Geist „bestiegen“ („kupandishwa“) werden4. Damit ist die Therapie zugleich eine Initiation in den Bund. Auf der Insel Zanzibar wird vor allem zwischen den Geistertypen „Araber“ und „Swahili“ unterschieden, die je eigene rituelle Rahmen haben. Ein separat, nur von Frauen organisierter Trancekult gilt den kibuki-Geistern5. Die mashetani ya kibuki sind Geister, die mit den komorischen Inseln und Madagaskar und der dortigen, ehemaligen Sakalava Herrscher-Dynastie assoziiert werden. Von den Komoren kamen viele Arbeitsmigranten, die aufgrund ihrer guten Ausbildung in französischen Kolonialschulen auch in der britischen Kolonialverwaltung und als Plantagenverwalter auf Zanzibar eingesetzt wurden. Kibuki-Besessenheit wird heute teils von den Nachfahren der Komoren praktiziert, aber auch von indigenen Zanzibari. Auffällig im rituellen Geschehen des kibuki-Kultes sind die Zulässigkeit von Alkohol6 und das ausgeprägt männlich-aggressive Verhalten der Trancetänzerinnen. Deshalb, und wegen der frühen Verbindung der komorischen Einwanderer zur europäischen Kolonialverwaltung, haben die kibuki-Geister eine zusätzliche Assoziation mit der westlichen Konsumkultur und der christlichen Religion. Es sind nur Frauen am ngoma beteiligt: Hier unterscheidet sich der kibuki-Kult von anderen Formen der rituellen Besessenheit auf Zanzibar, wo zwar mehrheitlich Frauen teilnehmen, nie aber Männer ausgeschlossen werden. Der kibuki-Kult ist eher in höheren sozioökonomischen Milieus angesiedelt. Zentral für die Heilung durch rituelle Besessenheit ist es, dass die Heilerin bzw. rituelle Expertin („fundi“) die Patientin darin anleitet, in Trance zu fallen: Das ist die physiologische Voraussetzung für die kulturelle Deutung der Besessenheit durch Geister. Dann muss der spezifische affliktive Geist bestimmt werden. Wie in allen fremdkulturellen Geistergruppen gibt es auch bei den kibuki-Geistern verschiedene Individuen mit persönlichen Namen. Nach wiederholten Sitzungen an mehreren Tagen lernt die Patientin, sich in Trance zu bewegen und zu sprechen. Sie fängt an, mit einer verstellten Stimme zu reden: Nacheinander sprechen jetzt eine Vielzahl der individuellen Geister durch sie als Medium – anfänglich aber noch gebro—————

4 Dass ein Heiler während einer Konsultation in Trance fällt, der Patient aber nicht, ist therapeutischer Normalfall bei vielen, aber nicht allen islamischen (wie auch traditionell-religiösen) Heilern. 5 Die Etymologie des Wortes „kibuki“ leitet sich vom Swahili Namen Bukini für Madagaskar ab. Für eine ausführlichere Beschreibung des kibuki-Kultes s. Larsen 1998a/b. 6 Lokale kibuki-Organisationen (Bünde) hatten zu sozialistischen Zeiten die einzige staatliche Alkohollizenz der Teilrepublik Zanzibar.

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chen und unverständlich. Ist ein bestimmter Grad an Konzentration und technischer Beherrschung der Trance erreicht, kann die Expertin mithilfe der spezifischen Lieder, Rhythmen und sprachlichen Codes schließlich den „richtigen“, affliktiven Geist bestimmen. Dann fordert die Patientin mit der Stimme des Geistes Gegenleistungen für eine Gesundung. Dies sind in der Regel Opfergaben, die den kulturellen Bestimmungen des Geistertypus entsprechen – im Fall von kibuki-Geistern meist teure, westliche Produkte wie Schnaps, Schmuck und Geld. Werden diese Forderungen erfüllt, tanzt die Patientin in Besessenheitstrance nach vorgegebenen Bewegungsabläufen, die ihrem individuellen Geist entsprechen. Die initiale Behandlung der Patientin findet im Haus der Ritualexpertin statt. Der gemeinsame Tanz des gesamten Bundes am Höhepunkt der Initiation, der an zwei oder drei Tagen hintereinander aufgeführt wird, findet meist im Freien statt, wird aber durch hohe Mattenzäune von Passanten auf der Straße abgeschirmt. Die Tänzerinnen, inklusive der ebenfalls in Trance befindlichen Expertin, tragen die Accessoires ihrer Geister. Im Fall von kibuki sind dies Kleider in den Farben rot, grün und weiß; manche Tänzerinnen tragen Speere und andere Waffen und ihre Haare sind zerzaust, andere Tänzerinnen sitzen ruhig und „nobel“ am Rand der Tanzfläche: So wird die höfische Hierarchie innerhalb des Geisterpantheons sichtbar gemacht, die an die alte madagassische Königsdynastie erinnert. Die bevorzugte Musik für diese Rituale ist taarab – ein Genre von arabisch-swahili Musik, das im kultivierten, städtischen Umfeld besonders beliebt ist. Die Trancetänzerinnen sprechen mit veränderten Stimmen in einem Kauderwelsch, das von Intonation und (fiktiver) Wortbildung an den komorischmadagassischen Ursprung erinnert, aber auch französische Elemente enthält. Nach der Initiation geht die Patientin eine positive, lebenslange Beziehung zu ihrem Geist (manchmal auch zu mehreren) ein, was bedeutet, dass sie regelmäßig an Besessenheitstänzen ihres kibuki-Bundes teilnehmen muss und gelegentlich ihrem Geist opfern muss. Der Geist als solcher gilt weder als böse noch als gut, ebenso wenig die rituelle Assoziation mit ihm. Während der affliktiven Phase werden die Geister als negativ empfunden, nach der Initiation nehmen sie eher die Rolle eines Schutzgeistes ein; gerade die kibuki-Geister haben einen guten Ruf darin, gut Geld vermehren zu können. Geister sind grundsätzlich mächtig und mutwillig und müssen im sozio-rituellen Kontext befriedet werden.

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2.2. Christliche Besessenheit: Maria und der Exorzismus von Dämonen in der Marian Faith Healing Ministry Eine ganz andere Form der Besessenheit wird im christlichen Kontext praktiziert. Hier werden die Geister sehr wohl unterschiedenen: in böse Dämonen und in gute Wesen. Die Dämonen werden shetani genannt; es ist dasselbe Wort, das im islamischen Kontext verwendet wird. Die im islamischen Kontext ursprünglich moralische Neutralität des Begriffs wird aber im christlichen Kontext nun ganz auf die Assoziation mit Satan ausgerichtet und damit negativ bewertet. In charismatischen Bewegungen aller Konfessionen tritt als „gutes Wesen“ der Heilige Geist auf, in marianisch geprägten katholischen Kreisen erscheinen Heilige, insbesondere Maria, die Mutter Jesu. Eine solche marianische Gruppierung ist die Marian Faith Healing Ministry (MFHM) in Tansania, gegründet und geleitet von Felicien Michael Venant Nkwera. Nkwera wurde 1968 zum Priester geweiht, verließ aber bald die Gemeindearbeit, um als Lehrer und später als Schulaufseher im sozialistischen Staatsdienst zu arbeiten. Nkwera berichtet in verschiedenen Publikationen über seinen frühen Werdegang als Heiler und die Gründung der MFHM als Verein im Jahr 1987, die mit diversen Marienwundern einherging (Nkwera 1988, Nkwera 1995). Das klassische Konversionsmotiv, nämlich den Ruf von Maria vernommen zu haben, wird von vielen seiner Anhängern in ihre eigenen Heilungsnarrative übernommen. Nkwera heilt Menschen von verschiedenen Krankheiten, Übeln und Belastungen. Seine Spezialität ist dabei immer die Austreibung von „Dämonen“, die er vor allem in einen Kontext traditionell-religiöser Hexerei stellt (Nkwera 1988). In den ersten Jahrzehnten seines Wirkens etablierte sich ein fester Gebetskreis, der vor allem aus ehemaligen Patienten bestand, der sich mehrmals wöchentlich zum Rosenkranzgebet traf. Schon früh etablierte sich das Muster, dass Maria durch ein Medium öffentlich zur Gemeinde spricht – ganz anders als in europäischen Zirkeln der Marienverehrung, wo nur wenige auserwählte Menschen Maria hören können. Hier wurde ein Muster von positiver Besessenheitstrance etabliert, in dem die Medien nach gewohntem Schema mit veränderter Stimme und Gestik reden und damit die „fremde“ Handlungsmacht der Maria anzeigen. Bevor die verschiedenen Marienmedien der MFHM installiert werden konnten, mussten sie selbst gemäß den lokalen Vorstellungen von affliktiven Geistern in einem Tranceritual exorziert werden. Nach wechselnden Medien verkörpert heute Eledina Ntandu die Mutter Gottes zum Ausklang der mittlerweile täglich stattfindenden Marienandachten. Seit den frühen neunziger Jahren befindet sich die Zentrale der Organisation in der Wirtschaftsmetropole Dar es Salaam. Neben seelsorgerlichen

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Gesprächen steht bei der MFHM vor allem die Heilung mit geweihtem Wasser durch Nkwera und Eledina Ntandu im Vordergrund. Das Wasser der MFHM ist gemäß ihren Vorstellungen doppelt geweiht: Zunächst nach den allgemeinen Vorgaben der katholischen Kirche, darüber hinaus aber noch durch Tränen von Maria und Blut von Jesus, speziell für den Heilungsauftrag. Während des Rosenkranzgebets begeben sich alle singend und betend zu einer gefliesten Mariengrotte, wo alle Betenden besprengt und gesegnet werden. Wer speziell Heilung benötigt, wird mit dem Wasser vollständig übergossen. Manche Patienten fangen dabei an zu hyperventilieren, zu zucken, schrille Schreie auszustoßen, zu schimpfen oder zu strampeln. Helfer sorgen dafür, dass nichts passiert. Diese Reaktionen werden in dieser Gruppe – wie in allen anderen christlich-charismatischen Gruppen auch – als charakteristisch für Besessenheit durch Dämonen angesehen. Die Trancebewegungen der Patienten werden in dieser Form der rituellen Besessenheit nicht trainiert, die Geister nicht befriedet. In seltenen Fällen werden aber auch die Patienten zu Medien für die Dämonen und übermitteln der Gemeinde Botschaften. Die angeblich nicht genehmigte Praxis des Exorzismus bot den innerkirchlichen Gegnern Nkweras einen Anlass zur Ächtung7. Seit den frühen neunziger Jahren ist Nkwera als Priester suspendiert und alle seine Anhänger exkommuniziert. Kein bekennendes Mitglied der MFHM ist in den Basisgemeinden zur Kommunion zugelassen; zum Teil gab es handgreifliche Auseinandersetzungen, die von der Polizei geschlichtet werden mussten. Nkwera ist international um Anerkennung in konservativ marianischen Kreisen bemüht und hat dazu z. B. Medjugorje und andere umstrittene Erscheinungsorte besucht. Parallel zu dieser institutionellen Entwicklung hat sich sein rhetorischer Kampf gegen Dämonen in den letzten Jahren zunehmend weg von lokalen Hexerei-Diskursen hin zu modernekritischen Diskursen bewegt: Korruption, HIV/AIDS und Jugendkriminalität sind aktuelle öffentlichkeitswirksame Themen. In all diesen Konflikten bezieht sich Nkwera in seinen öffentlichen Reden auf die Aussagen von Maria und den Dämonen, die seine Argumentationen unterstützen und den Wandel seiner Interessen begründen.

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7 Ob das persönliche Charisma Nkweras, seine Nähe zur politischen Elite, seine erzkonservative und Lefebvre-nahe Kritik an der tansanischen Kirchenleitung (Vorwurf einer freimaurerischen Verschwörung) oder tatsächlich seine Missachtung der exakten Dienstwege bei der Erteilung der Erlaubnis zur Durchführung von Exorzismen letztlich ausschlaggebend war, sei dahin gestellt.

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3. Inkorporierte Imagination, imaginierte Inkorporation – eine Begriffsklärung Imagination als analytische Kategorie verweist auf die menschliche Fähigkeit, Nichtvorhandenes mental zu ergänzen, bzw. nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten von Vorhandenem auszuloten und kreativ weiterzuentwickeln. In ihrer Diskussion von Imagination unterscheiden Hüppauf und Wulf (2006: 23 ff.) zwischen Wahrnehmen und Imaginieren. Die Imagination sei die Einbildungskraft, die nichtsichtbare Informationen von Bildern im Prozess des Imaginierens ergänze. Insgesamt sei dieser Prozess von Kreativität, Unschärfe und Subjektivität bestimmt: Es entsteht Neues in einem Raum, der nicht der sinnlichen Wahrnehmung zugeordnet ist; das Imaginierte ist wandelbar, verhandelbar und steht in wechselnden Beziehungen zum Wahrnehmbaren; Imagination passiert ganz subjektiv im Kopf des einzelnen Menschen. Ich möchte diese Bestimmung aufgreifen und um eine dritte Dimension erweitern: die Bewegung des Körpers im Raum. Rhythmisierte, grundsätzlich wandelbare Bewegungsabläufe der Trancetänzer werden mental-imaginativ von allen Teilnehmenden zu Geistcharakteren ergänzt. Diese Geistcharaktere können in einem erweiterten gesellschaftlichen Kontext über Jahre und Jahrzehnte hinweg in einem diskursiven Prozess narrativ und visuell weiter ausgestaltet werden. Die Grenzen der imaginativen Gestaltbarkeit von Geistereigenschaften können kognitionswissenschaftlich erfasst werden. Faktoren hierbei sind die kognitive Attributionsfähigkeit von menschlichen Eigenschaften an nicht-menschliche Wesen, kognitive Annahmen zu Strukturen von Handlungsmacht und einem kognitiv glaubhaften Maß an übermenschlichen Fähigkeiten (Cohen 2007). Umgekehrt können Individuen kulturell vorhandene Geister imaginativ in ihre eigene biographische Identität einfügen und diese Imaginationen in kathartisch-therapeutischen Tranceerlebnissen durch rhythmisierte Bewegungsabläufe für sich selbst und andere am ganzen Körper sinnlich wahrnehmbar und somit Teil des sozialen Raums werden lassen. Es geht bei Imagination in diesem Fall also nicht um die Einbildungskraft, die nur mentale Bilder schafft, sondern um eine kreative Kraft, die mentale Nachempfindungen von Bewegungen, Musik und Dissoziation in Trance schafft. Rituelle Besessenheit als inkorporierte Imagination ist von vielen Unbestimmtheiten, Ambiguitäten und Relationalität geprägt. Denn die imaginierten Geistcharaktere und Bewegungen lassen freie Assoziationen und kontroverse Interpretationen zu und damit auch Spielraum für unterschiedliche moralische Bewertungen. Diese Unbestimmtheit der Imagination korrespondiert dabei mit der qualitativen Unbestimmtheit zwischenmenschlicher Beziehungen und den Unwägbarkeiten des Lebenslaufs, die mehr oder

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weniger starken Einfluss sowohl auf subjektive Lebensqualität als auch auf soziale Stabilität haben. Imagination bietet gerade in ihrer Subjunktivität, Unbestimmtheit und Ambiguität ein Potenzial für Umdeutungen, Korrekturen, Anpassungen und Neubestimmungen von sozio-historischen und biographischen Entwicklungen, die immer in einem relationalen Bezugsrahmen stattfinden8. Damit ist die Schnittstelle von kultureller und individueller Imagination angedeutet, die ich unten ausführlicher diskutieren werde. Im kultischen Kontext von Besessenheitspraktiken wird die Imagination von Geistern körperlich-rhythmisch zum Ausdruck gebracht. Systematisch ausformulierte Narrative zu den Geistern sind in Ostafrika selten und eher in Spezialistenkreisen anzutreffen; in der Regel werden Geister mit ihren kulturtypischen Accessoires sowie charakteristischen Wesenszügen und Statussymbolen in Verbindung gebracht – die Varianten sind dabei in islamischen, traditionell-religiösen und christlichen Kontexten sehr groß. Für bildliche oder figürliche Darstellungen wird auf klassische, islamischarabische („1001 Nacht“) oder christlich-europäische Muster zurückgegriffen, die aber sowohl im Alltag der Menschen als auch in der rituellen Besessenheit kaum eine Rolle spielen. Die Imagination von Geistern ist in erster Linie verbunden mit rituellen Gesten und rhythmischen Choreographien, die Bewusstsein und Körper zugleich betreffen. Ohne dass ich den phänomenologischen Kategorien des Musikethnologen Erik Friedson folgen möchte, ist sein Hinweis auf die musikalisch-rhythmische Wahrnehmung der Umwelt zentral für Besessenheitstrance: Musical experience, [...] within the horizons of ritual life, [...] is the very terms of existence from which all else flows. People experience their gods and each other, first and foremost, in the immediacy of a musical way of being-in-the-world, sharing a specific time and space inscribed by cross-rhythmic effect … (Friedson 2008: 8)9.

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8 Boehm (2006) erörtert die Verbindung von Unbestimmtheit und Potential für kunsthistorische Beispiele in einem phänomenologischen Rahmen der Wahrnehmung. Ich greife hier nur den grundlegenden Zusammenhang der Konzepte für Imagination auf und übertrage sie in einen soziokulturellen, handlungstheoretischen Rahmen. Subjunktivität ist ein Begriff für eine grundsätzliche Unsicherheit spezifisch im therapeutischen Prozess, den Kaptchuk 2011 diskutiert. Schon Victor Turner (1986: 42) beschrieb eine „subjunctive mood“ für kulturelle Performanzen (besonders in der liminalen Phase), die Möglichkeiten, Phantasien, Wünsche und Spekulation aufzeigen und die in einem Gegensatz zum „indicative mood“ des sozialen Alltags stehen. 9 Die amerikanische Tanz- und Diasporaethnologin Yvonne Daniel (2005) hat eine ähnliche Perspektive auf Besessenheitstänze, wenn sie Vodou und Candomblé als „getanzte Weisheit“ bezeichnet und tänzerische, rhythmische und musikalische Aspekte von body knowledge diskutiert. Insgesamt steht die Studie mittig zwischen ethnologischer Analyse und praktisch-spiritueller Einführung in afroamerikanische Tanz- und Trancekultur.

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Musikalische Genres (taarab und Marienlieder), Zäune, Grotten und Accessoires, Verhaltensweisen und Sprachformen sind die „imaginativen Dinge“ (Schwarte 2006: 93–4), die es für die Außenstehenden und die Zuschauer ersichtlich machen, dass ein Tranceritual für die imaginativen Geister stattfindet. Nun fungieren einzelne Personen als Medium und treten nicht als sie selbst auf. Schwarte betont: „Imaginative Dinge sind Versammlungen von Qualitäten, die es Akteuren erlauben, in das Unsichtbare, Unwissbare und Unvorhersehbare hinüber zu wechseln. ... [So] können wir die Imagination als kollektive Performanz der Wahrnehmung begreifen. Sie gestaltet oder modifiziert die Erscheinung der Realität“ (2006: 94, kursiv im Original). Es sind dieselben Dinge, die den imaginativen Prozess der individuellen Trancetänzer und des zuschauenden Kollektivs begleiten. „Inkorporierte Imagination“ kann aber genauso als „imaginierte Inkorporation“ betrachtet werden, insofern die Beteiligten davon ausgehen, dass die Geister von ihrem Körper Besitz ergreifen, sich folglich in ihnen inkorporieren. Ob die Präsenz der Geister in Trance tatsächlich real ist oder nicht, wird von den Teilnehmern und Zuschauern des Tanzes oder des Exorzismus immer wieder lebhaft diskutiert, sei es, weil man dem Tänzer Schauspielerei vorwirft oder weil man nicht recht dran glauben mag, dass ein leibhaftiger Dämon wirklich von einem Besitz ergriffen haben soll10. Die Realität der Geister auch außerhalb der Trance ist lokal ebenso umstritten und teils von deutlicher Skepsis begleitet. Sieht man die Imagination von Geistern als soziale Praxis und nicht als Suche nach „Wahrheit“, so wird die Unbestimmtheit der Imagination in der diskursiven Unbestimmtheit sichtbar. Die Frage nach der vermeintlichen „Realität“ der „Geister“ ist unerheblich, wenn man analytisch gerade das Ringen um Wahrheiten in einer unbestimmten Welt als zentralen Punkt von Besessenheit anerkennt. „Geister“ entfalten als imaginative, diskursive und körperliche Prozesse soziale Wirkung, die Ambiguitäten zulassen und zugleich – situativ beschränkt – zu klären helfen. Diesem Aufsatz ist ein Zitat aus William Shakespeares „Sommernachtstraum“ vorangestellt, dem Drama um Geister und Menschen, in dem er sich am meisten mit der Frage nach dem Verhältnis von Imagination und Kreativität beschäftigt. Der berühmte Dialog zwischen Hippolyta und Theseus über die Realität oder reine Einbildung der Elfen, die in der Mittsommernacht erscheinen, weist nicht nur auf den inkorporierten Aspekt von Imagination hin („imagination bodies forth“), sondern zeigt ihre Unbestimmtheit und Ambiguität auf und verweist zudem auf die Schnittstelle zwischen —————

10 Zur sozialen Funktion von Skepsis als Instrument zur wechselseitigen Kontrolle und Bestätigung von Macht, s. Taussig 2003.

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individuellen Vorstellungen und kollektiven Prozessen. Obwohl Hippolyta die Geschichten über die Elfen „seltsam“ findet (oder „wundervoll“ in der Übersetzung von Schlegel), lässt sie Theseus Rationalisierungen zu den Phantasiegespinsten von „Verrückten“, „Poeten“11 und „Liebenden“ nicht gelten – eben weil sie im Kollektiv der Imaginationen, die alle Beteiligten zugleich betrifft, soziale Konsequenzen haben: But all the story of the night told over, And all their minds transfigur’d so together, More witnesseth than fancy’s images, And grows to something of great constancy, But, howsoever, strange and admirable. (Shakespeare, Midsummer’s Night Dream, 5. Akt)

Hippolyta lässt die Ambiguität stehen, ob denn die Elfen tatsächlich reine Einbildung oder Realität seien; sie weist aber in aller Deutlichkeit darauf hin, dass, gleichgültig wie man die Imaginationen in den Geschichten der Liebenden in der Geschichte der Mittsommernacht bewertet, sie für die Gruppe nachhaltig transformative Wirkung haben. Religionsästhetisch ist diese Beobachtung deshalb interessant, weil die Imagination von Geistern nicht als intellektuelle Erzählungen, sondern als dynamischer Prozess im menschlichen Körper und im menschlichen Kollektiv stärker fokussiert wird. Imagination steht als kreatives Potenzial zwischen kulturellem Symbol und sozialer Realität, zwischen Gemeinschaft und Subjekt und hat damit Einfluss auf Transformationen von soziokulturellen Werten und Normen (s. auch Schüler, in diesem Band). Mit dem Konzept der Imagination bekommen wir nun ein griffiges religionsästhetisches Instrument an die Hand, um die Dynamik der Transformationen analytisch genauer beobachten zu können. 4. Dynamische Imagination – historische und biographische Kontextualisierungen Trotz der großen institutionellen, ideellen und rituellen Unterschiede zwischen den beiden Beispielen des kibuki-Kults und der Marian Faith Healing Ministry gibt es doch signifikante soziale, diskursive und funktionale —————

11 Shakespeares „Poeten“ können in meiner Betrachtung problemlos auch stellvertretend für Geistmedien (Heiler und in Trance tanzende Patienten) stehen. An der Swahili-Küste sind Geistmedien zwar keine inspirierten Dichter wie in manch anderen Kulturen; Kreativität, Expressivität und orakelhaftes Wissen sind ihnen jedoch durchaus gemein.

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Äquivalente der rituellen Besessenheit, die es mir erlauben, sie in dieser Diskussion um Imagination nebeneinander zu betrachten. Wichtig ist immer die Verbindung von Subjekt und Gemeinschaft, die der Fokus auf „Imagination“ leisten kann: es sind Bewegungsabläufe, die einerseits in einzelnen Körpern präsent sind und therapeutische Wirkung entfalten und die andererseits gleichzeitig im Kollektiv präsent sind und dort ordnende und erinnernde Wirkung entfalten. 4.1. Kollektive Dynamiken In der Besessenheitstrance werden bestimmte, choreographierte Bewegungsabläufe praktiziert. Im islamischen Kontext, in meinem Beispiel der ngoma ya kibuki (kibuki-Besessenheitskult/-tanz), werden in der Rolle des Geistes zum Teil fremdkulturelle Eigenarten nachgeahmt (Komoren, christliche Europäer), zum Teil werden aber auch fremde Rollen innerhalb der eigenen Gesellschaft imitiert, z. B. männliche Verhaltensmuster durch weibliche Tänzerinnen. Funktionalistische Analysen von ritueller Besessenheit seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts legen ihr Augenmerk auf die expressiven Möglichkeiten, die ansonsten marginalisierte Personen, z. B. Frauen in patriarchalen Gesellschaften, innerhalb dieses rituellen Trance-Settings haben, um „unerhörte“ Forderungen zu stellen oder Problemlagen zu artikulieren (Lewis 1971, Beattie/Middleton 1969). Kultursemiotische Ansätze (Lambek 1981, 1993, Boddy 1989, Giles 1999) kritisierten diese Perspektive wegen ihrer allzu großen Fokussierung auf problematische Situationen innerhalb der Gesellschaft und deren strukturelle Lösungsmöglichkeiten. Stattdessen sahen sie in ritueller Besessenheit einen Ausdruck positiver kultureller Werte: sowohl genderspezifische Werte als auch eine allgemeine Erinnerungskultur an fremdkulturelle Einflüsse. Wie so oft, treffen beide Theorien auf rituelle Besessenheit zu, da ihre Ausgangsüberlegungen in einem sozialdynamischen Zusammenhang stehen: das Woher und Wohin einer lokalen Gemeinschaft (mit-)zubestimmen – und zwar sowohl in Bezug auf die soziale Position und Rolle unterprivilegierter Personengruppen im Gesamtgefüge als auch in Bezug auf das gesamte Kollektiv. Imagination im mimetischen Prozess der choreographierten Körperbewegungen ist hierbei der zentrale Angelpunkt. Im Besessenheitstanz werden genderspezifische und historisch-kulturelle Werte und Normen emphatisch als szenische Performationen und Körperhaltungen zum Ausdruck gebracht, die damit Teil der kollektiven Imagination werden. Mit Christoph Wulf kann man hier auch von „Bildern des Sozialen“ sprechen:

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Imagination [spielt] … in den Prozessen der Wahrnehmung, Erinnerung und Projektion sozialer Handlungen eine wichtige Rolle. Mit ihrer Hilfe vollziehen sich die Prozesse, die zur Entwicklung von Bildern des Sozialen führen. Diese sind erstens körperbasiert, zweitens historisch-kulturell und drittens performativ. Diese Aspekte sind viertens für die mimetischen Prozesse konstitutiv, in denen die mentalen Bilder des sozialen Handelns zur Bildung des individuellen und kollektiven Imaginären beitragen (Wulf 2006: 203).

Wenn hier von Mimesis die Rede ist, dann immer in einem aktiv aneignenden Sinn. Mimesis ist in diesem pädagogischen (Wulf 2006) und auch ethnologischen Kontext (Kramer 1987) kein einfaches Imitieren wie im Tierreich, sondern die Fähigkeit, durch genaue Beobachtung und eigenes Nachmachen soziales Handeln zu erlernen und selbst aktiv auch in anderen Kontexten als dem des Vorbilds verwenden zu können. Verwandte Konzepte sind das der Aneignung (Wilkens 2011b), wie es beispielsweise in globalisierungstheoretischen aber auch pädagogischen Diskursen verwendet wird, oder auch das der verkörperten Simulation aus der Kognitionstheorie (Koch 2012). Kollektive Imaginationen sind prägend für kollektive Identität. Die performative Umsetzung solcher kollektiven Imaginationen erfolgt in vielerlei Gestalt, von denen einige in diesem Band beschrieben werden. In meinem Beispiel der Besessenheitstrance stehen lokale Dynamiken im Fokus, in denen Prozesse der kulturgeschichtlichen Aneignung mit Einkörperung und Anthropomorphisierung fremder Kulturtechniken verbunden werden. Die hier imaginierten und inkorporierten Geister werden von Ethnologen demzufolge „Fremdgeister“ genannt. Typische Europäergeister quer durch den ganzen Kontinent zeichnen sich durch Militarismus, Bürokratismus oder moderne Technik aus (Stoller 1995, Krings 1998, Luig 1999); arabische Geister sind belesen und fromm (Giles 1999, Larsen 1998a/b); Geister lokaler Nachbarkulturen oder auch Fernhandelspartner in verschiedenen Graden „barbarisch“ (Giles 1999, Boddy 1989). Ngoma ya kibuki schließlich ist ein Forum für die kollektive Erinnerung an die kormorische Einwanderungswelle im 19. Jahrhundert und zugleich für christlicheuropäische kulturelle Werte und Eigenheiten wie wirtschaftlicher Reichtum, städtisch-arabische Kultur und Alkoholkonsum. Das erstmalige Erscheinen von konkreten Geistcharakteren in ritueller Besessenheitstrance kann gelegentlich nachgezeichnet werden. M. Krings (1998) hat die Entstehung von Europäergeistern im westafrikanischen boriKult Anfang des 20. Jahrhunderts nachverfolgen können, die infolge einer besonders brachialen Inhaftierungswelle auftraten. J. Boddy (1989) beschreibt eine Welle von saudischem Einfluss auf die nordsudanesische Gesellschaft, die sich in einem verstärkten Auftreten von saudischen Geis-

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tern im zar-Kult ausdrückte. In anderen Fällen, wie dem kibuki-Kult, liegen entsprechende Dokumentationen nicht vor – aber die Zuordnung von kulturellen Merkmalen ist dennoch klar ersichtlich. Die Adaption neuer Geistcharaktere erfolgt zeitnah, situativ und kreativ. Manche Geister bleiben dann im Kontext der rituellen Besessenheit erhalten, andere haben keinen bleibenden Unterhaltungswert oder tragen nicht entscheidend zur kollektiven Identität bei und verschwinden deshalb bald wieder. Im Vollzug der Besessenheitsrituale werden kulturelle Werte, spezifische Körperbewegungen, Geschmack und ähnliches in die kollektive Imagination des Geisterpantheons mimetisch adaptiert: Kibuki-Geister sprechen durch ihre Medien in der rituellen Besessenheit in einem komorisch anmutenden Tonfall und mögen städtische Musik, luxuriöse Konsumgüter, eine strenge soziale Hierarchie und christlich-europäischen Alkohol. In der kollektiven Performanz werden so soziale und kulturelle Normen sichtbar, die an konkrete historische Konstellationen geknüpft sind. Dieser Vorgang entfaltet ordnende und memorative Wirkungen in der Gemeinschaft. Normen und Werte sind in der kollektiven Imagination verhandelbar, indem Ort und Accessoires (imaginative Dinge) verändert werden, die Häufigkeit von Auftritten in Trance wechselt oder auch Medien direkt sozialen Einfluss mit Einfluss im kultischen Kontext verbinden. Die Kombination von Elementen komorischer und westlicher Provenienz, städtischer, höfischer und kapitalistischer Kultur zeigt einmal mehr die imaginative Unbestimmtheit, die Dinge kreativ und flexibel miteinander in Beziehung setzen kann, die Potenziale der mimetischen Aneignung aufzeigt, anstatt einfach Abbild der sozialen Realität zu sein. So trägt rituelle Besessenheit einen wichtigen, kreativen Teil zur allgemeinen kulturellen Dynamik bei. Die kulturelle Dynamik bzw. der historische Wandel in einer Gesellschaft hat aber auch auf die äußere Form der Besessenheitsperformanz einen Einfluss. Im christlichen Kontext, wie in der MFHM, wird unterschieden zwischen „guten“ und „bösen“ Geistern, bzw. zwischen „Maria“ und „Dämonen“. Dadurch ergeben sich zwei kirchliche Kontexte für Besessenheitstrance: der Exorzismus und die Besessenheit durch Maria in einem einzigen Medium in der MFHM12. Die Choreographien unterscheiden sich deutlich: Dämonische Besessenheit ist geprägt von ruckartigen Bewegungen, Hyperventilieren und unartikulierten Schreien oder gehässigem Mur—————

12 In den Pfingstkirchen und Erweckungsbewegungen, die auf dem gesamten Kontinent sehr weit verbreitet sind (während die MFHM nur eine sehr kleine Gruppe in Tansania ist), ist Trance in Gottesdiensten sehr üblich, wobei hier gesagt wird, dass der „Heilige Geist“ einfahre. Typisch hierfür ist zum Beispiel das Phänomen der Glossolalie. Die Übermittlung von Botschaften wie bei „Maria“ ist in diesem Kontext unüblich.

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meln – Verhaltensweisen, die als negativ, enthemmt und bestialisch empfunden werden. Marianische Besessenheit im Medium Eledina Ntandu ist geprägt von Bescheidenheit, leisem Auftreten und minimalistischen Körperbewegungen – Verhaltensformen, die als feminin und zivilisiert angesehen werden. Dämonische Besessenheit in der MFHM ist aber auch deutlich unterschieden von islamischer Besessenheit. Es werden keine Einzelcharaktere in Trance porträtiert, auch keine spezifischen Szenen dargestellt. Es findet wenig Interaktion mit dem Publikum (der Gemeinde) statt; insgesamt ist die Kommunikation auf den Priester Nkwera gerichtet und ist räumlich in der Regel auf die Mariengrotte beschränkt. Dadurch ist der Faszinationsund Gruselaspekt, der den islamischen Geistern meist anhängt, für das Publikum wesentlich geringer, was ja auch theologisch gewollt ist. Diesem Wandel liegt eine grundsätzliche Entscheidung einzelner Akteure für eine christlich geprägte Anbindung an die Moderne zugrunde, die aber dennoch in der kollektiven Imagination und im Körperwissen die Möglichkeit zur Anknüpfung an etablierte Formen in Tansania gibt. Für die Pfingstkirchen in Afrika wurde gezeigt, dass der Umgang mit Geistern und ritueller Besessenheit einen Teil ihrer großen Popularität im Gegensatz zu den Missionskirchen begründet (Meyer 1999)13. Geister als Teil der kollektiven Imagination verschwanden nach der Missionierung nicht einfach. Ganz im Gegenteil blieben sie sozial präsent und wurden umso „virulenter“ je mehr die Missionskirchen und die moderne, staatliche Bürokratie ihre Existenz als „bloße Einbildung“ negierte. Immer mehr werden Geistertypen der amerikanischen Pfingstkirchen in die afrikanischen Befreiungsriten integriert; in der MFHM tauchen gelegentlich Dämonen der christlichkatholischen Tradition auf. In der konservativen MFHM ist zwar die Expressivität deutlich geringer als in den charismatischen Bewegungen, aber der Umgang mit Geistern wird in Interviews und in den theologischen Schriften Nkweras (Nkwera 2005) immer wieder als Grund dafür angegeben, warum die MFHM als Ergänzung bzw. sogar als Alternative zur katholischen Kirche gebraucht würde. Aus diesen Beispielen wird deutlich, dass Imagination und Performanz von Besessenheitstrance einem gemeinsamen Wandel unterliegen. In populär-islamischen Besessenheitskulten werden immer wieder in das bestehen—————

13 Weitere Gründe für die Popularität von Pfingstkirchen in Afrika, aber auch weltweit, sind die lokale Führungshierarchie (im Gegensatz zu europäischen oder amerikanischen Kirchenzentralen), die Ideologie von prosperity (Wohlstand), die im Kontext von Kapitalismus und Konsum von besonderer Bedeutung ist, und die Einbindung moderner Medien. Die Mitglieder der MFHM schätzen besonders den patriotischen Charakter Nkweras, seinen Umgang mit Geistern und seinen Konservatismus. Die prosperity-Lehre lehnen sie strikt ab; der Umgang mit modernen Medien wird eher kritisch gesehen.

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de imaginative Repertoire neue „Geister“ eingefügt und andere zurückgenommen. In christlichen Milieus werden neue Traditionen der inkorporierten Imagination – wie die des europäischen Katholizismus – in bekannte performative Strukturen der Trance eingebunden. Für beide Fälle wird so deutlich, dass die Möglichkeiten der kollektiven Imagination und Performanz im Kontext der Besessenheitstrance genutzt werden, um äußere Einflussfaktoren von gesellschaftlichem Wandel aktiv anzueignen. 4.2. Individuelle Dynamiken Aus einer religionsästhetischen Perspektive haben Performanz und embodiment immer zwei Seiten: den kollektiven Aspekt (kulturelle Symbole, soziale Dynamik) und den individuellen Aspekt, um den es nun im Folgenden gehen wird. Koch/Meissner (in diesem Band) unterscheiden zwischen Imaginationen als kulturellen Bildern, Symbolen und szenischen Vorstellungen und Suggestionen, bei denen diese kollektiven Imaginationen in einem fest umrissenen Kontext von einem benennbaren Auslöser hervorgerufen werden. Im therapeutischen Prozess können also im „suggestiven Modus“ kulturelle Heilungssymbole, die individuelle Biographie der Heilungssuchenden und körperliche Effekte in einen Zusammenhang gestellt werden. Während der Beitrag der Autorinnen den medizinpsychologischen Hintergrund des therapeutischen Prozesses detailliert ausarbeitet, möchte ich an dieser Stelle weitere Gedanken zum biographischen Prozess ergänzen. Medizinische Daten zum suggestiven Modus liegen mir für diesen interkulturellen Vergleichsfall der Besessenheitstrance nicht vor, so dass mir die Übertragung des Modells auf den tansanischen Kontext zwar naheliegend erscheint, ich sie aber nur mit Daten auf Basis qualitativer Interviews bestätigen kann. Dass es Geister gibt, die Affliktion verursachen können, weiß in Tansania jedes Kind und kennt meist auch entsprechende Fälle in seinem familiären Umfeld. Die äußeren Umstände, von einem Geist bedrängt zu werden, sowie die Bewegungsmuster von Besessenheitstrance sind bekannt. Menschen in Tansania werden also in dieses Verständnis von einem Körper, der offen für äußere „Geist-“einwirkung ist, und in den Umgang mit kulturellen Symbolen, die wirkmächtige „Geister“ beschreiben, früh hinein sozialisiert. Im therapeutischen Prozess kommt dies zum Tragen. Es liegen insgesamt sehr wenige Beschreibungen vom Moment der Trance vor. Zwei typische Beschreibungsmuster sind einerseits das der Dissoziation, also der Eindruck, sich selbst von außen zu beobachten, und andererseits das vollständige Vergessen. Letzteres gilt in traditionellen und islamischen Besessenheitskulten als „korrekt“ und anerkannt, während

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ersteres öfter in christlichen oder westlichen Beschreibungen erscheint. Der Beginn der Trance wird in jedem Fall durch Schütteln oder Zuckungen markiert. Eine Interviewpartnerin in der MFHM, die Herzbeschwerden hatte, beschrieb ihr Tranceerlebnis in folgenden Worten: The session of healing, when it comes there I change my clothes, wearing another clothes, then I line in the queue waiting for my [turn]. Then I was very afraid to go there. I told the one who was behind of me: you go. Said: No let us go. no no no, I’m not in a hurry, so you go. Then Father see that and said: you should come, you you now to pour the water. I kneeled, then he take that jug of water and poured me. Then I start crying. Very loud, and shaking and etc. Then they come people holding me tight then I was for a long time there, then Father said that I should take this and sit there. When I arrived at .. I was not suffering from heart, I was suffering from possession from devils. So I was there, waiting, then he came, poured Holy Oil and then told me. After that you go back to the altar. His assistant, Sister Dina [Eledina Ntandu], then come and attended me, then I was normal again. After that Father told me again: you have to come here daily so that you be healed from the disease. I said: Thank you very much. Then I go back home. I was so shocked!14

Ein ehemaliger traditioneller Heiler konnte sich hingegen nach eigener Aussage an nichts erinnern, was während der Besessenheitstrance passiert war, und entspricht damit traditionell-religiösen und islamischen Konventionen15. In meinen Interviews stellte ich die Frage: „Wie hast Du Dich während der Heilung gefühlt?“ („Ulijisikiaje nini wakati wa uponyaji?“) Meiner Erwartung, dass hier Qualitäten wie „kalt“ oder „warm“, „entspannt“ oder ähnliches genannt werden würde, wurde nicht entsprochen. Es schien schlicht keine relevante Frage zu sein, weder für diejenigen Patienten in der MFHM, die Trance erlebt hatten, noch für diejenigen, die durch Handauflegen und Gebet von Felicien Nkwera behandelt wurden. Für die Trancepatienten waren eindeutig die dissoziativen Momente entscheidend und zwar eher verbunden mit einem unangenehmen Gefühl bis hin zu Schock und Angst. Im christlichen Kontext ist es klar, dass Besessenheit kein erwünschter Zustand ist, aber auch im islamischen Kontext ist er kein entspannender, sondern eher ein aufwühlender Zustand. —————

14 Interview mit „Roida“, 23.11.2004, Zeilen 164–183, englisches Original, zitiert in Wilkens 2011a: 266. 15 P. Caplan wiederum berichtet durchaus von islamischen Trancetänzern auf der tansanischen Insel Mafia, die sich an die Zeit in Trance erinnern können (1997: 226). Grundsätzlich herrscht eine Tendenz vor, dissoziatives Vergessen als Norm zu sehen, während sich der tatsächliche dissoziative Zustand davon unterscheiden kann. Damit wird die lokale Annahme bekräftigt, dass eine Verschiebung der Handlungsmacht stattfände.

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Das dissoziative Erlebnis wird als eine Invasion durch eine fremde Macht interpretiert, eben die der Geister. Wer nun spricht und die Körper bewegt, ist nicht mehr die Person in Trance selbst, sondern scheinbar jemand anders. In diesem Moment wird die kulturelle Imagination von Geistern auf das Subjekt bezogen. Die dazugehörige Choreographie, die Körperbewegungen werden im Laufe der Initiation entweder erlernt oder spontan gemäß der Sozialisation imitiert. Therapeutische Wirkung wird zum Beispiel durch biographische Integration (Wilkens 2011b) oder die Gewöhnung an chronische Leiden (Csordas 1997: 67–73, Wilkens 2009) erreicht16. In beiden Fällen ist der suggestive Modus (Koch/Meissner) beteiligt. Die Psychologin Lucy Huskinson (2010: 77) analysiert die Möglichkeiten, in Besessenheitstrance – als einer Art innerer Dialog – sowohl die Erinnerung an nicht aufgearbeitete Erlebnisse wiederzuerlangen als auch die Potenziale des menschlichen Erlebens zu entdecken17. Unbestimmtheit, Ambiguität und moralische Umcodierbarkeit sind somit immer zentrale Faktoren, die „Geister“ zu wirksamen therapeutischen „Akteuren“ machen, egal welcher psychosomatische Wirkmechanismus im konkreten Individuum ausgelöst wird. Geister sind überhaupt auch nur eine von vielen Optionen, um Affliktion zu erklären, und oft wird der Grund gar nicht abschließend geklärt. Geister können sich zudem auf ganz unterschiedliche Formen der Affliktion beziehen, die von physischen und psychischen Erkrankungen über eheliche und familiäre Probleme und Streitigkeiten bis hin zu ökonomischen oder schulischen Problemen reichen. Des Weiteren kann ein Bezug zwischen kulturellen Dynamiken, die in der Imagination der Geister codiert sind, und biographischen Prozessen hergestellt werden, muss aber nicht. Und schließlich ist der Fortgang bzw. der Erfolg der Therapie mit der Benennung eines Geistes keineswegs geklärt; chronische Leiden sind auch nicht durch Trance heilbar. Moralische Ambiguität ist von Kjersti Larsen (1998b) im Kontext von islamischer Besessenheit eindringlich diskutiert worden. Eine Frau stellt sich in Larsens Beispiel die Frage, ob die Initiation in ngoma ya kibuki unbedingt nötig sei, wo sie doch so teuer sei – andererseits sei doch der wirtschaftliche Gewinn, wenn man einen gut gesinnten kibuki-Geist habe, auch wichtig! Ein Mann, der von einem arabischen Geist befallen zu sein —————

16 Andere Wirkungsmechanismen, die aus der Placebo-Forschung bekannt sind, werden in Koch/Meissner (dieser Band) und Kaptchuk (2011) erläutert. 17 Als Grundlage ihrer globalen, transkulturellen Analyse von Besessenheitsphänomenen diskutiert Huskinson sehr kontrastreich die Theorien von S. Freud und C. G. Jung und sucht nach Ansatzpunkten, um innerhalb der etablierten analytischen Psychologie Besessenheit als heilsamen und vitalen Wirkmechanismus der Psyche und eben nicht als repressiven, kranken Mechanismus herauszuarbeiten.

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Inkorporierte Imagination

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glaubt, verweigert in Larsens Schilderung die Initiation und versucht stattdessen diesen Geist zu besiegen, indem er besser aus dem Koran zu rezitieren lernen möchte als der Geist es könne. In meinem Sample in der MFHM erzählte eine Frau, dass sie Magengeschwüre hatte und glaubte, dass Geister daran schuld seien. Als sie jedoch zu Nkwera kam, stellte sich heraus, dass es eben doch nur „einfache“ Geschwüre waren, die operativ entfernt werden konnten. Die oben bereits zitierte Frau hingegen ließ ihr Herzleiden zunächst klinisch behandeln und war entsetzt als Nkwera ihr erklärte, dass doch ein Geist das Leiden verursacht hätte. Das sind Narrative, die zeigen, wie lange Leidenszeiten auf sehr unterschiedliche Weise in die eigene biographische Rekonstruktion integriert werden können. Gemeinsam ist ihnen immer der relationale Kontext, in denen die Geschichten, Erklärungen, Imaginationen und Inkorporationen geteilt werden können. 5. Fazit In diesem Artikel stand Besessenheitstrance als inkorporierte Imagination im Zentrum der Ausführungen. Anhand zweier Beispiele aus Tansania, dem ngoma ya kibuki und der Marian Faith Healing Ministry, konnte ich die Verknüpfung der individuell-subjektiven und kollektiven Ebene von Imagination aufzeigen. Unbestimmtheit und Ambiguität, die Imagination charakterisieren, sind entscheidende Faktoren, um einerseits biographische Verluste und Unwägbarkeiten in ein subjektiv sinnvolles Narrativ zu integrieren, und andererseits, um Einflüsse von fremden Kulturen, z. B. von Handelspartnern oder Kolonialmächten, und der Wandel von gesellschaftlichen Werten in der kollektiven Identität und Erinnerungskultur zu integrieren. Imagination ist somit eine analytische Kategorie der Religionsästhetik, um subjektive und kollektive Transformationsprozesse untersuchen zu können, die durch Trance und körperliche Expressivität zum Ausdruck gebracht werden. Zudem wird deutlich, wie imaginierte „Geister“ als Bewegungsmuster wirksam werden: Nicht der Glaube an sie ist lokal von Bedeutung, sondern ihre „Inkorporierbarkeit“ als Imaginations- und Körpertechnik. Vertiefende Studien zu kognitiven Metaphern, zu sensuellen Parametern und zu physiologischen Reaktionen im Rahmen der Placeboforschung – wie sie zu anderen Beispielen in diesem Band vorgestellt werden – wären wünschenswert, um weitere Wirkmechanismen der inkorporierten Imagination im therapeutischen, normativen und memorativen Prozess erkennen zu können. Grundsätzlich muss die Bildlichkeit, die dem Imaginationsbegriff zugrunde liegt, transkulturell noch genauer auf die Effekte unterschiedlicher

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Sinneshierarchien hin untersucht werden. Das Konzept der inkorporierten Imagination ist ein erster Schritt auf diesem Weg. Literatur Beattie, John und John Middleton (Hg.) 1969. Spirit Mediumship and Society in Africa. London: Routlegde and Kegan Paul. Boehm, Gottfried 2006. „Unbestimmtheit. Zur Logik des Bildes“. In: Hüppauf, Bernd-Rüdiger und Christoph Wulf (Hg.), Bild und Einbildungskraft. Paderborn: Fink, 243–253. Boddy, Janice 1989. Wombs and Alien Spirits. Women, Men, and the Zâr Cult in Northern Sudan. Madison: University of Wisconsin Press. Caplan, Pat 1997. African Voices, African Lives. Personal Narratives from a Swahili Village. London/New York: Routledge. Csordas, Thomas J. 1997(1994). The Sacred Self. A Cultural Phenomenology of Charismatic Healing. Berkeley [u. a.]: University of California Press. Cohen, Emma 2007. The Mind Possessed. The Cognition of Spirit Possession in an Afro-Brazilian Religious Tradition. Oxford [u. a.]: Oxford University Press. Daniel, Yvonne 2005. Dancing Wisdom. Embodied Knowledge in Haitian Vodou, Cuban Yoruba, and Bahian Candomblé. Urbana und Chicago: University of Illinois Press. Friedson, Steven M. 2008. Remains of ritual. Northern gods in a southern land. Chicago: University of Chicago Press. Giles, Linda 1999. „Spirit Possession and the Symbolic Construction of Swahili Society“. In: Behrend, Heike und Ute Luig (Hg.), Spirit Possession. Modernity and Power in Africa. Oxford: James Currey, 142–164. Hüppauf, Bernd und Christoph Wulf 2006. „Einleitung: Warum Bilder die Einbildungskraft brauchen“. In: Dies. (Hg.), Bild und Einbildungskraft. Paderborn: Fink, 9–44. Huskinson, Lucy 2010. „Analytical Psychology and Spirit Possession: Towards a NonPathological Diagnosis of Spirit Possession“. In: Schmidt, Bettina E. und Lucy Huskinson, Spirit Possession and Trance. New Interdisciplinary Perspectives. London/New York: Continuum, 70–96. Kaptchuk, Ted J. 2011. „Placebo studies and ritual theory: a comparative analysis of Navajo, acupuncture and biomedical healing“. In: Phil. Trans. R. Soc. B 366: 1849–1858. Koch, Anne 2012. „Körperwissen: diskursives Ereignis oder deskriptive Kategorie?“. In: Krüger, Oliver und Nadine Weibel (Hg.), Sichtbare und unsichtbare Körper (CULTuREL 4). Zürich: Pano. Kramer, Fritz W. 1987. Der rote Fes. Über Besessenheit und Kunst in Afrika. Frankfurt am Main: Athenäum. Krings, Matthias 1998. Geister des Feuers. Zur Imagination des Fremden im Bori-Kult der Hausa. Hamburg: Lit. Lambek, Michael 1981. Human Spirits. A Cultural Account of Trance in Mayotte. Cambridge [u. a.]: Cambridge University Press. Lambek, Michael 1993. Knowledge and Practice in Mayotte. Local Discourses of Islam, Sorcery, and Spirit Possession. Toronto [u. a.]: University of Toronto Press. Larsen, Kjersti 1998a. „Spirit Possession as Historical Narrative. The Production of Identity and Locality in Zanzibar Town“. In: Lovell, Nadia (Hg.), Locality and Belonging. London/New York: Routledge, 125–146. Larsen, Kjersti 1998b. „Morality and the Rejection of Spirits. A Zanzibari Case“. In: Social Anthropology 6: 61–75. Lewis, I. M. 1971. Ecstatic Religion. An Anthropological Study of Spirit Possession and Shamanism. Harmondsworth: Penguin.

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Imagination, Suggestion und Trance Suggestionsforschung und Religionsästhetik zu Heilung Anne Koch, Karin Meissner Die Bedeutung von Imagination wird in diesem Beitrag mit Erkenntnissen der Suggestions- und Placeboforschung an einem Heilungsbeispiel vorgeführt. Heilung wird dazu in einzelne Interaktionsphasen zerlegt und für jede einzelne wird erläutert, wie Imagination als verkörperte mit psychophysischen Regelkreisen interagiert und wie deshalb Heilrituale Befindlichkeit und Körpererleben manipulieren können. Die Dimensionen des suggestiven Reizes und das Arbeiten mit Suggestibilität sind dabei zentral. Im „imaginativen Modus“ wird eine „als-ob“-Welt voller Erwartung kreiert, die für die nachhaltige Wirksamkeit des Heilrituals entscheidend ist. In dieser Modalität beziehen sich kulturelles Narrativ von Heilung und die individuelle Biographie aufeinander. Dieser Aneignungs- und Kommunikationsprozess zwischen Heiler und Proband wird über Phasen hinweg erzeugt und ist im höchsten Maße auf körperlicher Ebene emotional, was zur Grundlage seiner Wirkung wird.

1. Wie beeinflussen Imaginationen unser Wohlbefinden? In Interventionen des alternativen Heilens1 bewirken spirituelle Überzeugungen und Praktiken regelmäßig eine Veränderung der psychophysischen Befindlichkeit der Probanden. Meist wird in der Literatur beschrieben, dass es zur Verbesserung der subjektiven Befindlichkeit gekommen ist, ohne dass bislang spezifische Wirkfaktoren des alternativen Heilens wissenschaftlich identifiziert werden konnten. Unspezifische Faktoren wie Entspannungsreaktionen, die wohlwollende zwischenmenschliche Beziehung oder selbstwertfördernde Berührungen gibt es in den Beispielen alternativen Heilens natürlich schon. Die These dieses Beitrages ist, dass der Imagination als Suggestion eine Schlüsselrolle für die Wirksamkeit alternativen Heilens zukommt. Von den vielen Formen alternativen Heilens werden solche in den Blick genommen, die mit jenem veränderten Wahrnehmungszustand arbeiten, der häufig auch Trance genannt wird. Erkenntnisse der Suggestions-, Tranceund Placeboforschung können daher genutzt werden, um zu einem besseren —————

1 Alternatives Heilen wird hier als unterbestimmter Sammelbegriff für in sich sehr unterschiedliche Diskurse verwendet (zum Beispiel zu spirituellem Heilen, geistigem Heilen, im Englischen spiritual healing, therapeutic touch oder energy healing).

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Anne Koch, Karin Meissner

Verständnis von psychodynamischen und rituellen Prozessen auch im Kontext von Religion zu gelangen. Imaginationen als Suggestionen können unter diesen Perspektiven der Medizinischen Psychologie in Kombination mit der Religionsästhetik in ihrer Wirksamkeit besprochen werden, die sie auf Verkörperungsprozesse von Überzeugungen und die subjektive Befindlichkeit haben. Zu unterscheiden sind Imaginationen als konkrete und sinnlich-kulturelle Gegenstände von der Imaginationsfähigkeit, die auch als Phantasie und Einbildungskraft bezeichnet wird. Imaginationen können sich ausdrücken und materialisieren in Bildern, kulturellen Symbolen und einer szenischen Vorstellung, die in einer kulturellen Umwelt ihren Platz hat. Von Imaginationen können die Suggestionen, von der Vorstellungskraft die Suggestibilität unterschieden werden. Damit sei kein generischer Unterschied aufgemacht, sondern mit Suggestibilität ist die Bereitschaft gemeint, bedeutungsvolle Verknüpfungen zu ziehen und Vorstellungen einzusetzen. Diese Bereitschaft ist bei Einzelnen graduell unterschiedlich von geringfügig bis hoch suggestiv. Suggestibilität ist zudem über unzählige kulturelle Techniken beeinflussbar. Zu den bekanntesten wie auch am meisten unterbestimmten Techniken gehört die Trance. Trance ist ein gängiger Begriff in ethnologischer und religionswissenschaftlicher Literatur, mit dem diverse Phänomene wie Besessenheit, Ekstase, Ohnmacht, Hypnose, schlafähnliche Zustände, Abwesenheitszustände, mediumistische Zustände bis hin zu rhythmischen Tänzen angesprochen sind. Sie werden oft auch unter dem allgemeinen Konzept der veränderten Bewusstseinszustände zusammengefasst. Aus Sicht der Hypnoseforschung und -therapie ist die Hypnose eine Methode, um den als Trance bezeichneten Zustand zu induzieren. Dieser Zustand unterscheidet sich vom Schlaf, der Entspannung und von der Wachheit, wie sie in Meditationsformen der Achtsamkeit gesucht wird, und ähnelt dem Zustand in Meditationen des Autogenen Trainings, geleiteter Imagination und katathymen Bilderlebens (z. B. Bongartz/Bongartz 1998). Hypnotische Trance ist als Zustand durch veränderte subjektive Empfindungen und psychophysische Besonderheiten gekennzeichnet. Zum veränderten Erleben gehören unter anderem eine größere Nähe zu den eigenen Gefühlen, ein verändertes Zeitempfinden, die Neigung zu dissoziativen Zuständen (also zum Beispiel das Abspalten von Schmerzwahrnehmung), eine erhöhte Suggestibilität, eine erhöhte Fähigkeit zu visuellen Vorstellungen und eine veränderte Körperwahrnehmung wie von vergrößerten oder fehlenden Gliedmaßen, von Leichte oder Schwere des Körpers. Wir können als unterscheidend für Imagination und Suggestion einführen, dass mit Suggestion jene Imagination angesprochen sein soll, die von

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einem benennbaren Auslöser evoziert wird. Sie sind meist mit dem subjektiven Erleben einer sich gleichsam aufdrängenden Bedeutung oder eines sich aufdrängenden Sinneserlebens verbunden. Dieser Aspekt kann in dem dissoziativen Merkmal der Besessenheit und im Mediumismus, sofern in letzterem das Medium sich rein als Kanal versteht, seinen psychischen Ausdruck finden: Etwas wohnt inne, spricht, sieht, agiert durch die besessene oder mediale Person. Zudem können Suggestionen häufig mit dem subjektiven Erleben der Spontaneität verknüpft sein. Personen, die einer Suggestion folgen, erleben nicht deutlich, auf welchen kulturellen Code sie mit ihrer „spontanen“ Vorstellung reagieren. Das hier analysierte Beispiel einer Heilbehandlung stammt aus den wöchentlichen Heilungszeremonien der White Eagle Lodge, einer in den 1930er Jahren in Großbritanien entstandenen theosophisch-spiritistischen Gruppe, deren deutsche Hauptniederlassung in der Nähe von München ist. Im Anschluss an die Heilungszeremonie wurden in halbstrukturierten Leitfadeninterviews 2007–09 weitere Daten erhoben. Die Probanden erzählen, wie sie das Ritual erlebt haben, von körperlichen Befindlichkeiten, Veränderungen in den einzelnen Etappen der Heilbehandlung und von ihren Auffassungen zu Gesundheit, Krankheit und Körper. Grundlage sind somit nachträglich erzählte Berichte zum Ritualgeschehen. Der Zugang zu Imaginationen zum und während des alternativen Heilens wird damit aus den Selbstaussagen von Teilnehmenden abstrahiert, daraus, wie sie etwas sehen, sich vorstellen, erleben, spüren und erzählen. Das ermöglicht, den Einfluss von Imaginationen auf das psychische und physische Wohlbefinden zu erfragen und mit den während der Heilungbehandlung erhobenen psychophysiologischen Messdaten zu vergleichen. Zudem dient eine CD der gleichen White Eagle Lodge als eine weitere Datengrundlage neben den Interviewtranskriptionen. Die CD enthält Meditationen zur Heilung und wird eingesetzt als Medium der Selbstheilung im privaten Anhören. Das Ergebnis der Interpretation beider Datenarten sind somit Hypothesen zur spezifischen Effektivität bestimmter Imaginationen in einer Heilbehandlung. In diesem Beitrag kommt ein Modell der Suggestionsforschung zur Anwendung, nach dem die Wirkung des suggestiven Reizes während der Heilbehandlung in Komponenten zerlegt wird. Die Dimensionen des suggestiven Reizes im Heilen, von denen eine der suggestive Modus ist, werden aufgrund der Interviews rekonstruiert. Das religionsästhetische Potenzial dieses Beitrages liegt darin, dass Imagination mit Suggestion, Performanz und Verkörperung im Kontext von Heilung zusammengebracht wird. Dadurch wird Imagination in ihrer somatischen Vollzugsdimension operationalisiert und für andere Analysen kultureller Ästhetiken einsetzbar.

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2. Begriffsklärungen Imagination und Suggestion 2.1. Imagination Imagination ist kein univoker Begriff in der Religionsästhetik. Imaginationen werden hier als bestimmte Klasse von Kognitionen verstanden (Kognition im angelsächsischen Sinne als Ideen, Gefühle, Motivation, Volitionen, Wahrnehmungen etc. umfassend). Insofern teilen alle Imaginationen die allgemeinen Merkmale von Kognitionen: sie sind verkörpert, in einer Umwelt situiert, affordant, können in individuelle und soziale unterteilt werden etc. Von individuellen, häufig idiosynkratischen Imaginationen sind Symbolbestände des kollektiven Imaginären zu unterscheiden2. Das kollektive Imaginäre sei hier als Bestand von Wissen, Meinungen und Phantasien verstanden, der je nach medialer Form gewisse ästhetische Gattungen, Formelhaftigkeit oder Figuren ausgebildet hat, die relativ dauerhaft sind, wenn sie auch immerwährender Gegenstand von Aushandlungen bleiben. Individuelle Imaginationen gehören zu den vielen Varianten von Kognition. Traditionsgemäß werden vor allem visuelle Kognitionen mit dem Imaginationsbegriff assoziiert3. Diese gewöhnliche Begriffsverwendung wird in den Beiträgen dieses Buches erweitert, in diesem Beitrag unter anderem um Wahrnehmungsimaginationen. Zu diesen zählen intero- wie exterozeptive Imaginationen. Innenwahrnehmungen wären „ich spüre Rot im Kehlchakra“ oder der Thermoregulation „da wurde es brennend heiß in der Hand“. Außenwahrnehmungen sind solche, in denen Heiler seine Hände ausschüttelt (das heißt den „Schmutz“, den er nach Verständnis des Heilungsmythos aus der Aura des Klienten gesammelt hat, von seinen Händen schüttelt). Imaginationen des kollektiven imaginären Gedächtnisses wiederum können ebenfalls verschiedener Medialität sein. Hier kommen häufig konventionelle Verbindungen vor, die meist noch ihre Herkunft aus einem bestimmten Kommunikationskanal erkennen lassen. Zum Beispiel können in einer Imagination von Katholizismus Kreuzzeichen und Weihrauchgeruch zusammengefunden haben oder das Vater Unser-Gebet mit dem gemein—————

2 Zu religionsgeschichtlichen Kontexten der Imagination und Meditation oder der aktiven Imagination bei C.G.Jung, s. Karl Baier, Meditation und Moderne, Würzburg 2009. 3 Zum Bild- und Imaginationsbegriff s. Bräunlein über ikonische Repräsentation allgemein und das Erfordernis, die besondere Materialität, den Körperbezug und die besondere Vollzugsform von Bildern zu rekonstruieren (Bräunlein 2009: 775, 776). Bräunlein fasst pragmatisch bildhafte Darstellungen (Gemaltes), natürliche Bilder wie Wolkenformationen, innere Bilder wie in Träumen und sprachliche Bilder unter eikon und imago zusammen. Die Darstellung der sozialen und kontextuellen Absicherung von Assoziationen, Affektsteuerung und Bildpolitiken sowie der Überzeugungskraft von Bildern muss ein kritisches Moment jeder Analyse sein.

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schaftlichen Gemurmel von Lauten. Wir finden demnach im kollektiven Imaginären sowohl literarische und kunstgeschichtliche Topoi als auch bildliche, taktil-haptische, olfaktorische und akustische Bestände und formelhafte Sinnes- und Handlungsfolgen. Diese Multimodalität ist der Normalfall von Perzeption gemäß zeitgenössischen Wahrnehmungstheorien (Knoblich et al. 2006). Sie sollte vor einem visuellen Reduktionismus des Imaginationsbegriffs schützen. Auch in diesem Beitrag kann das Geschehen der Heilung nicht nur mit einer einzigen sinnlichen Imaginationsform rekonstruiert werden. Für unser Vorhaben, alternatives Heilen zu beschreiben, ist Imagination unter zwei Aspekten besonders relevant: als verkörperte Imagination und als Wirksamkeit der Imagination auf das Befinden. Die im Folgenden unterschiedenen Dimensionen von Imagination bilden sich an zwei Schnittstellen: Zum einen zwischen Kognition und psychophysischem Effekt und zum anderen zwischen individueller und kollektiver Ebene oder besser gesagt in der Wechselwirkung dieser beiden: in der Interaktion bzw. Heilintervention. In der Wechselwirkung bilden sich kontingente Bedeutungsgefüge im Sinne von vernetzten Imaginationen aus. Sie sind unter anderem gekennzeichnet durch die Verdichtung von Bezügen in einer einzigen Vorstellung, Befindlichkeit, einem Bild oder Zeichen. 2.2. Suggestion Hier geht es nicht darum, eine Kultur-, Begriffs- oder Religionsgeschichte der Suggestion zu schreiben, sondern einen Arbeitsbegriff heutiger Hypnosetherapie zu übernehmen. Suggestion gilt dort als emotionales Sicheinlassen auf das Erleben des anderen (Stephan 2003: 12). Dies ist lediglich ein Ausschnitt aus Forschungen, die in den drei Bereichen Suggestion und Hypnose, Suggestibilität als Persönlichkeitsmerkmal und Suggestion als Massenphänomen durchgeführt werden (Gheorghiu 1989). So wenig wie Suggestion und Hypnose identisch sind, so wenig ist Suggestion trotz aller Forschung einheitlich bestimmt. Daher wird zur Schärfung des Konzeptes lediglich das Suggestionsverständnis der Hypnotherapie aufgegriffen, das eine entspannende, häufig psychisch regressive Bewusstseinsfokussierung anspricht. Der Suggestor und die suggestionsbereite Person können dabei in mehreren denkbaren Verhältnissen in Bezug auf die Absichtlichkeit bzw. Unabsichtlichkeit der beeinflussten Kommunikation stehen. So denkt zum Beispiel in der „unabsichtlich vorhergesehenen Suggestion“ der Suggestor, dass seine medizinische Methode geheilt habe, wo es eigentlich die Suggestionsbereitschaft des Patienten war. In der „absichtlich vorhergesehenen Suggestion“ hingegen kommunizieren beide einvernehmlich, während in

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der „unabsichtlich unvorhergesehenen Suggestion“ beide sich der emotionalen Interaktion nicht bewusst sind. Schließlich kann der Suggestor dem Klienten eine Botschaft „unterschieben“ in der „absichtlich unvorhergesehenen Suggestion“ (Stephan 2003). 3. Imagination und Suggestion im Kontext von therapeutischer Landschaft und Lehre der Gruppe Zunächst wird das Konzept therapeutische Landschaft und die Körper- und Heilungsvorstellung der religiösen Gruppe unseres Beispiels vorgestellt. 3.1. Therapeutische Landschaft als Basis einer szenischen Imagination Heilen findet in einem imaginierten Heilraum statt, der zum Teil in der Gestaltung des Raums gegeben ist und zum Teil in Bedeutungszuweisungen und in Bewegungen, Blicklenkungen, Ertastungen usw. im Heilritual erst spezifisch erschaffen wird. In Anknüpfung an das geographische Konzept einer „therapeutischen Landschaft“4 bzw. das medizinische Konzept einer „optimalen Heilungsumwelt“ (Jonas et al. 2003, Ananth 2009) können Imaginationen in diesem Aspekt ihrer Materialisierung und therapeutischen Interaktion verfolgt werden. In diesen therapeutischen Umwelten wird über die vier Koordinaten des (a) Naturraums, (b) über Symbole, (c) den gestalteten Raum und (d) den sozialen Bezug eine bestimmte Gestaltung vorgenommen (Gesler 2003), die Heilung erwirkt oder verstärkt. Eine verstärkende Rolle kommt dabei den emotionalen Landschaften zu. Raum ist der Rahmen, in dem Gefühle erzeugt und in der Gestaltung – immer kontextabhängig – neuronal gespeichert, sprich erinnert werden. Mit relationalen Landschaften, einem weiteren Begriff in der Debatte, wird die Interaktion angesprochen, die mit dem Setting bestimmter Räume verbunden ist: die Rollenverteilung, die sich über die räumliche Positionierung ausdrückt, die Heilfunktion, die durch bestimmte Gegenstände angedeutet ist, und das benutzte und bevorzugte Medium der Kommunikation.

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4 Gesler 1990: für Epidaurus und Lourdes, Williams 2007; Hoyez 2007 und Lea 2008: für die globale Yogaszene.

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Für therapeutische Imaginationen sind Differenzerfahrungen wichtig, da sie eine emotional intensivierende Wirkung haben, indem sie den Probanden aus der Normal- bzw. Alltagswelt herausnehmen. Solche Differenzerfahrungen sind zum Beispiel die inszenierte Differenz zwischen Natur und Stadt, Kühle und Hitze, der Unebenheit oder Ebenheit des Abb. 1: Der Heilraum der White Eagle Lodge. Zu sehen ist die Stirnseite des Raumes mit dem von Bodens, die Fauna in ihrer Schön- innen illuminierten Altar, auf dem das Grablicht heit und zugleich mit den lauten steht. Im Vordergrund ist eine kleinere Altarsäule und störenden Mücken oder even- mit einer Wasserschale, in der eine Blüte schwimmt. Diese therapeutische Landschaft stellt tuell anderen Tiere etc. Die thera- die zentralen Symbole bereit, materialisiert Licht peutische Landschaft stellt hier die und Strahlen als die Heilkräfte und ist mit einer Gegenlandschaft zur Normalwelt Musikanlage versehen. Die Musik am Anfang der Heilbehandlung ist für die Induktions- und Evokazur Verfügung. Die Imaginationen tionsphase essentiell, um Distanz zum Alltag in therapeutischen Landschaften herzustellen. Die links gestapelten, weißen Hocker als Sitzgelegenheit für die Personen sind daraufhin zu befragen, wo werden während der Heilbehandlung benützt (© A.K.). und wann, wer oder was Handlungsmacht (agency) hat. Zum Beispiel kann die Natur oder das Licht als Heilenergie Handlungsmacht erhalten. Sodann ist die Moderation des Geschehens durch den/die Leiter/in entscheidend, die Imaginationen gezielt einsetzen. Dies geschieht zum Beispiel, indem er/sie Bilder aus der gestalteten Umgebung als Metapher für positive wie negative Regungen benennt und dadurch den Wahrnehmungsraum öffnet und lenkt. Die therapeutische Wirkung dieser Räume oder Landschaften kann dann darin liegen, dass eine Intensivierung der bedeutungsvollen Bezüge stattfindet (z. B. ein Eintauchen in die Atmosphäre des Ortes, ein Verbundenheitsgefühl mit der Natur und darüber hinaus mit der Welt). Dergestalt können (tiefe) Emotionen freigesetzt werden. Letztere wiederum sind im Heilungskontext für die Wirksamkeit relevant, da so zum Beispiel auch quantifizierbar höhere Mengen an körpereigenen Botenstoffen produziert werden, die Einfluss auf die psychophysische Befindlichkeit haben (Esch/Stefano 2005).

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Therapeutische Landschaften lenken auf diese Weise die Aufmerksamkeit und können eine somatische Rekonfiguration vollziehen. Darunter ist zu verstehen, dass durch die Behandlung ein verändertes Körperbefinden eingeübt wird, das zum Beispiel in einer schnelleren Selbstdistanzierung, einem weniger angstbesetzten Wahrnehmen körperlicher Empfindungen liegt oder einer stärkeren Identifizierung mit dem eigenen Körper. Das veränderte Körperbefinden kann sich darin ausdrücken, Abb. 2: Die Heilerin steht hinter der Heilungssuchenden und arbeitet gerade an deren Stirn, wo dass Ambivalenzen gespürt werden, nach der Vorstellung der Gruppe das energeti- zum Beispiel zwischen der Flexibische Zentrum eines Stirnchakras lokalisiert wird. lität und Stabilität des Körpers, Die Heilungssuchende ist Probandin unserer Pilotstudie und der Atemgurt zur Messung der zwischen Körperbeherrschung und Atemfrequenz ist gut sichtbar sowie weitere Unkontrollierbarkeit von BewegunMessinstrumente, an die Daten von den Elektro- gen und der körperlichen Autonodenabnahmen am Körper der Probandin zu Herz, Magen und Hautleitfähigkeit gehen (© mie wie dem Herzschlag oder die A.K.). Ambivalenz zwischen empfundenem Können und Unvermögen körperlichen Empfindens. In diesem Erspüren wird eine eher angemessene und vollständigere Körpersensitivität eingeübt. Die therapeutische Landschaft ist für die raumhafte Bereitstellung von Imaginationen im Ablauf eines Rituals essentiell. Sie ist sozusagen die materialisierte Aufbereitung der Imagination. Kognitionswissenschaftlich könnte man sagen, dass räumliche Umwelten sich als cognitive download anbieten. Das heißt, dass sie Akteure inmitten des Geschehens sind. Ein Baum, ein unebener Untergrund erhalten Handlungsmacht. Demzufolge muss zum Beispiel auch beim hier untersuchten Heilritual erwogen werden, ob die vielen verwendeten Lichtquellen (Kerzen, Gralslicht, sternförmige Wandleuchten, das Dimmen von Licht als Vollzug) nicht Einfluss auf die Intensität der Imagination oder die Evokation der heilenden Lichtenergie haben, ob ihnen also nicht eine strategische Performanz zukommt (Abb. 1). Solche Performanzen sind immer wichtig, da sie den emotionalen Bezug verstärken und die erhöhte Emotionalität direkten Einfluss auf die psychophysische Wirksamkeit hat. Je stärker die sympathische Erregung, desto

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höher ist die auf Grundlage der Fragebögen erhobene Verbesserung der subjektiven Befindlichkeit (Koch/Meissner 2011). 3.2. Heilungs- und Körpervorstellung der White Eagle Logde In der untersuchten Gruppe unserer Fallstudie steht die Imagination von verschiedenfarbigem Licht, das als Wärme und Licht durch die Körper fließt, im Mittelpunkt (Koch 2007: 236–264). Die Heilenergie Licht strömt durch den Heiler, der sie fokussiert und in den Körper des Heilungssuchenden einstrahlt und durchströmen lässt, indem er die Heilenergie lenkt. Auch Berührungen können von Seiten der Heiler/innen eingesetzt werden (Abb. 2). Dann berührt der Heiler die Heilungssuchenden leicht mit seinen Handinnenseiten. Das Konzept der feinstofflichen Anatomie des Körpers rührt in den meisten Richtungen des alternativen Heilens aus den beiden alternativmedizinischen/-therapeutischen Traditionen her, die sich entweder aus dem Spiritismus und der Theosophie (und dahinter stehend dem indischen Tantra und Yoga, s. Wilke in diesem Band) oder aus der traditionellen chinesischen Medizin entwickelt haben (Johnston/Barcan 2006). Spiritistische Vorstellungen gehen von mehreren feinstofflichen Körperhüllen aus, die den physischen Körper umgeben und nur begabten Personen als Aura sichtbar sind. Nach eigenen Aussagen lernen manche Heiler in ihrer Ausbildung diese unterschiedlich dichten energetischen Hüllen zu „erspüren“ und durch „Einstrahlung von Energie“ zu stärken. Ob und in welchem Maße dies subjektiv auch gelingt, ist unterschiedlich. Das Zitat zeigt, wie eine Wahrnehmungsimagination zu denken ist: zu einem Hitzegefühl wird eine Entzündung vorgestellt: A. K.: Wenn Sie so heilen, spüren Sie dann auch in dieser Hülle, wenn da Verunreinigungen oder’n Widerstand oder irgend so was is? Pd 23: Na, also des kann ich persönlich jetzt nicht sagen. Aber ich erspür, im .. ä , also wenn, wenn jemand irgendwo ne Entzündung oder so hat, dann empfind ich des eben durch dieses Hitzegefühl5.

Während des Heilens wird unterschiedlich farbiges Licht für die einzelnen Körperchakras von der Heilerin visualisiert und „eingestrahlt“6. Je nach den Beschwerden, die im Eingangsgespräch mit der leitenden Heilerin geäußert wurden, wird ein bestimmtes farbiges Licht in bestimmte Chakras des Hei————— 5 6

Interview White Eagle Lodge Pd23, 14.11.2008, weiblich, 52 Jahre, auch Heilerin. Interview White Eagle Lodge Pd23, 14.11.2008, weiblich, 52 Jahre, auch Heilerin.

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lungssuchenden eingestrahlt. Diese Verknüpfung von Farben mit Körperchakras ist historisch in der indischen Chakra-Theorie nicht zu finden. Eine Heilerin äußert, dass sie normalerweise das Gefühl hat, dass das Licht gut durch sie „durchfließen konnte“. Die meisten Heilerinnen der Lodge fühlen, dass ihre Hände während und nach dem „Heilunggeben“ sehr warm sind. Sie sind zum Teil sogar heiß „wie ein Bügeleisen“. Heilarbeit sei nicht meditativ, sondern hoch konzentriert. Über das eigene Herzzentrum würden die Farben über die eigenen Arme, durch die Handinnenflächen eingestrahlt in den Heilungssuchenden. Das Wissen aus den Büchern von White Eagle (z. B. Hodgson 1987, White Eagle 1987) sei höchstens als „Hintergrundwissen“ relevant. Dem Körpermodell korrespondiert eine Vorstellung vom Selbst, das verbunden ist mit Kosmos, Natur und Mitmenschen, wie aus Aussagen der Befragten hervorgeht. Das ist auch für die theosophische Tradition typisch: „The subtle body model figures the self as multiple, extensive and radically intersubjective“ (Johnston/Barcan 2006). In der untersuchten Gruppe findet sich auch die Vorstellung von Verschmutzungen der feinstofflichen Körper, die sich in der Praktik ausdrückt, dass diese Hüllen zu Anfang des Heilrituals von dem Schmutz gereinigt werden. Dazu werden die imaginierten und/oder von manchen Heilerinnen auch gespürten Hüllen mit den Händen durchstrichen. Diese Bewegung wird von oben (Kopfhöhe) nach unten (bis zum Steiß) ausgeführt und der Schmutz, der gleichsam an den Händen haftet, wird von diesen dann abgeschüttelt. Damit hängt auch zusammen, dass sich Heiler nach dem Ritual, das sie auch „Heilung geben“ nennen, unter fließendem Leitungswasser die Hände waschen. Die australische Religionswissenschaftlerin Jay Johnston weist auf Fragen und Probleme hin, die sich in der Innenperspektive daraus ergeben, dass die Personen mit ihren feinstofflichen Körpern in die Umwelt hinein ragen: „The Self is radically open“ (2010: 72). Was ergibt sich daraus für die Bewegungen des Körpers im Raum, in der Natur, im sozialen Kontakt? Eine Heilerin der WEL äußerte auf die Frage, wie man krank wird: das ist für mich einsichtig, dass die Materie, also das Feste, das des halt alles Schwere ist und bis sich das bewegt, - ich kann nicht sagen: „Stuhl geh mal dahin!“, den muss ich einfach aufheben und irgendwo hintragen – und dass diese feinstofflichen Körper, also dann der Ätherkörper und der Astralkörper und so, dass die einfach nicht mehr so fest und so schwer sind. Also da kann ich draufhaun haut sich auf ihren Unterarm und dann tut’s weh und hin und her.

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Während, wenn das mein Ätherkörper ist, ähm ja der reagiert eigentlich, ja des passt jetzt nicht ganz des Beispiel, aber doch, ich denk’ mal, dass sogar erst der Ätherkörper was empfängt und dann kriegst du ‘ne Beule oder ‘nen Bluterguss oder was7.

Diese Auskunft ist in mehreren Hinsichten sehr bezeichnend. Zunächst erläutert die Heilerin, dass der physische Körper fester und schwerer als der feinstoffliche sei. Sie nennt von den Hüllen Äther- und Astralkörper (andere sprechen auch vom Lichtkörper) und stellt es sich so vor, dass diese zuerst den Impuls empfangen, der dann am physischen Körper sichtbar wird (als Beule oder blauer Fleck). Dabei verheddert sie sich in ihrem ad-hoc-Modell zwischen der Kausalitätsvorstellung der physikalischen Welt, indem sie zunächst die direkte Ursache-Wirkung an ihrem physischen Körper vorführt, wo sie doch eigentlich das luzidere Wirkverhältnis zeigen möchte und dass Krankheiten und Veränderungen am physischen Körper Symptome aus Erschütterungen in den feinstofflichen Körperhüllen sind. Dieses Beispiel zeigt sehr schön, wie ad-hoc-Modelle typischerweise nicht bis in die letzte Konsequenz entfaltet sind und wie sie auch keine über einige Schritte hinweg verfolgte Kohärenz brauchen. Gerade wenn dann Unstimmigkeiten auftreten wie in der Konfrontation eines westlich-physikalischen mit einem feinstofflichen Kausalitätsverständnis, müssen sie improvisieren oder gelangen an ihre Grenze. Gemäß der Informantin ist das Selbst also in der Tat offen, allerdings sind die Faktoren, die auf den feinstofflich abgestuften Körper wirken, wohl eher als immaterielle vorzustellen: Schuldzuweisungen, schlechte Gewohnheiten, gestörtes Miteinander usw.8 4. Die Heilbehandlung Im Folgenden wird die Rolle von verkörperter Imagination und Suggestion für einzelne Handlungsphasen des alternativen Heilens ausgeführt. Dabei wird die im alternativen Heilen stattfindende Rekonfiguration des Körpers aufgewiesen, wie sie sich über Imagination und Suggestion realisiert. Heilen ist wesentlich ein Vorgang, eine Be-handlung. Der amerikanische Mediziner und Placeboforscher Ted Kaptchuk (2011) greift daher zeitgenössische Ritualtheorien zur Erklärung von Wirksamkeit auf. Von Roy Rappa————— 7

Interview White Eagle Lodge Pd03, 04.12.2007, weiblich, 63 Jahre. Eine langjährige Heilerin in der Gruppe äußert: „wo ich glaub, wo die Heil- äh, Geistheilung wirklich ansetzt, is, dass man schon im, wirklich etwas aus dieser f, aus äußeren Hülle reinigen kann, damit erst ‘s gar nicht in diesen Körper kommt. ... wir ham auch früher wirklich vorwiegend in der Aura gearbeitet, als (es) dieses Gesetz noch nicht gab, dass man die Leute anfassen durfte.“ Interview White Eagle Lodge Pd23, 14.11.2008, weiblich, 52 Jahre, auch Heilerin. 8

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port entlehnt er vier Ritualphasen (Rappaport 1999): (4.1) die Evozierung des Heilraumes (evocation), (4.2) die multimodale Umsetzung (enactment), (4.3) die Verkörperung der Heilenergie (embodiment), (4.4) die Auswertung und Deutung des Geschehens (evaluation). 4.1. Evozierung des Heilraumes Das anfängliche Element der Evozierung ist schon deshalb weichenstellend, da in den meisten kulturellen Kontexten zwischen mehreren Heilweisen gewählt werden kann. Daher ist der Aufbau des spezifischen Szenarios, das mit der gewählten Behandlungsform verbunden ist, wichtig. Auch durch die An- und Herbeirufung der Heilkräfte wird Heilung nahe geholt. Sie erscheint erwartbar, erhoffbar und vorstellbar. Im Eröffnungsgebet des White Eagle Lodge-Heilungsgottesdienstes heißt es in genau diesem Sinne: Wir verschließen nun unsere Sinne vor der äußeren Welt. Wir legen alle Gedanken beiseite, die uns belasten und unfrei machen, und wir suchen die Verbindung zur inneren Welt, der Welt des Geistes, der wahren Welt. Oh großer allmächtiger Geist, göttliche Gegenwart, Schöpfer allen Lebens, wir öffnen unsere Seele, um deinen Segen zu empfangen. Im Namen des Christus bitten wir die Engel der Heilung, die Söhne der Flamme, uns nahe zu sein. Mit unserer Vision sehen wir ihre scheinenden Formen, die nun um uns sind gemeinsam mit vielen Lichtwesen der geistigen Welten, und wir werden nun gewahr der Gegenwart des großen Heilers Jesus, des Christus in menschlicher Form. Lasst uns nun aus tiefstem Herzen unsere Seele Gott öffnen, lasst uns empfinden, dass wir empor getragen werden wie auf Flügeln des Lichtes in die himmlischen Sphären, in das Herz der Sonne. Das Herz der goldenen Sonne ist der Quell all unserer Kraft und im Zentrum der Sonne erstrahlt die Gestalt des Christus. Die Strahlen der Christus-Sonne strömen auf uns herab. Öffnet euch! Empfanget sie und werdet erfüllt von ihrer Heilkraft! Die Kraft der geistigen Sonne kann es vollbringen, denn Gott ist in ihr und Gott ist allmächtig. (Gebet der White Eagle Logde e. V. in Germering zu Beginn der wöchentlichen Heilungsgottesdienste, transkribiert von A. K. nach einer Videoaufnahme von 2008)

Das Gebet beginnt mit einer interozeptiven Fokussierung („wir verschließen nun unsere Sinne“) und seelisch-kognitiven Entlastung im autosuggestiven Stil (wir legen...beiseite, was uns belastet). Es nimmt die Heilungssuchenden in eine Wir-Gemeinschaft und später in eine Lichtwesen-

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Gemeinschaft auf und evoziert eine innere und geistige Welt. Die Gebetsvision ist affirmativ. Sie bewegt sich in einer visuellen Metaphorik des Lichtes (Flamme, Lichtwesen, Sonne, golden, erstrahlen, Strahlen, herabströmen). Das Verschließen nach außen und die Öffnung und das Durchströmtwerden nach innen durchziehen strukturierend die somatoforme Gestaltung. Das Gebet endet mit einer Begründung für die Wirkkraft der Heilung. Heilkraft, Licht, Sonne, Christus und Gott werden kumuliert9. Diese Modalität einer Innenwelt, in der Heilung möglich ist, diese „als-ob“Welt voller Erwartung bildet sich im suggestiven Modus. 4.2. Der suggestive Modus des Heilens in der Umsetzung des Ritualskriptes Zwischen kulturellem Narrativ und individueller Biographie erstreckt sich der Erfahrungsraum des Probanden, der teilnehmenden Angehörigen und des Heilers. Zu ihm gehören Berührungen, Gerüche, Verzehr, Schmerzzufügung (Akupunkturnadeln), Utensilien wie der Plexiglasstab eines Heilers zur Lichteinstrahlung, glühende Kohlen, Tanz und Singen, Rhythmisierungen und Bewegungsabläufe wie das Überspringen eines Feuers und neben vielem mehr auch Imaginationen. Die erste Herausforderung liegt darin, den relevanten suggestiven Reiz zu bestimmen. Welches Symbol, welches Element der Inszenierung, eventuell welche spezifische Kombination von Reizen mit entsprechendem verarbeitendem Wahrnehmungsmuster oder welche Konfiguration einer Szenerie lösen die Wirksamkeit aus? Um die Wirksamkeit im Heilritual zu erklären, möchten wir das Konzept des suggestiven Modus ins Spiel bringen. In der Suggestionsforschung wird ein suggestiver Reiz unterschieden in: (a) die Botschaft (b) den eingesetzten Kanal der Übermittlung und (c) den Modus dieser Kommunikation (s. Tabelle 1, Gheorghiu 1978: 14 ff). Die suggestive Botschaft im Kontext alternativen Heilens ist ganz allgemein das Heilversprechen. In den einzelnen Handlungsphasen kann die Botschaft auch jeweils spezifischer angegeben werden, zum Beispiel als das Säubern einer Aurahülle, als das Öffnen für die Heilenergie, als das Durchfließen-Lassen einer bestimmten Stelle usw. Die Übermittlung einer Suggestion (b) kann nicht nur in verbaler Form erfolgen, sondern der suggestive Reiz kann auch sensorisch dargeboten werden oder szenisch über den Heilraum, die therapeutische Landschaft oder symbolisch in eigenen Vorstellungen, Erwartungen und Bildern, die zu einem suggestiblen Verhalten anregen. Beim alternativen Heilen finden wir diese Formen kombiniert (verbal, somatisch, symbolisch). Der Modus der Kommunikation (c) gibt ————— 9

Auf christlich-gnostische Motive und Formeln wird hier nicht weiter eingegangen.

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an, wie die Medialität gestaltet ist, um die Übertragung eines suggestiven Inhalts effektiv durchzusetzen. Die suggestive Instruktion kann z. B. wiederholt, betont, veranschaulicht, über Zuspruch, durch bestimmte mächtige Personen, Geräte usw. verstärkend dargeboten werden. Ein Beispiel für den Modus der Person ist die Prestige-Suggestion – z. B. wirkt ein Heilversprechen stärker, wenn es von einem/einer renommierten Heiler/in gemacht wird, und ein Heilungsumfeld ist suggestiver, wenn entsprechende Heilungsattribute vor Augen sind wie beispielsweise ein erleuchtetes Kreuz in einem christlichen Kontext oder ein bestimmter Geruch von Opferfett. Hier möchten wir als Modus der Kommunikation auch einen spezifisch suggestiven Modus einführen, den wir für den Heilungskontext als essentiell ansehen. Denn der suggestive Modus ist mit einem Zustand von Trance oder „Absorption“ verbunden, wie Luhrmann es für Gebetsrituale im pfingstlerischen Christentum nennt (Luhrmann 2004). Im Modus der Trance besteht eine hohe Suggestibilität, die die Wirksamkeit verstärkt. Die Vollzugsform des suggestiven Reizes hat starke Wirkungen, wie es für emphatische Vollzugsformen in der klinischen Behandlung ausführlich beschrieben ist („Nach diesem Medikament werden Sie sehr gut schlafen“). Der Modus bewegt sich gemäß dem Ritualskript entlang einer Körpergeographie: auf dieser somatischen Karte haben körperliche Zonen, die bereits in vorangegangen Vollzügen somatisch verankert wurden, Bedeutung für die Heilung (Koch 2007: 211–216). Der suggestive Modus kann sich wechselseitig zwischen Heiler und Proband verstärken, wenn der Heiler im besten Fall in sich ebenfalls einen tranceartigen Bewusstseinszustand induziert, in dem ihm die Übermittlung der Inhalte an den Probanden besonders gut gelingt. In Trance werden Sinnesreize, auf die die Aufmerksamkeit gelenkt wird, besonders lebendig wahrgenommen, während andere, irrelevante Reize ausgeblendet werden. Auch erhöht sich im Trancezustand die Fähigkeit zu lebhaften, fast realistischen Imaginationen, die auch körperliche Effekte auslösen können wie z. B. Wärme (Neubert/Meissner 2011). Durch den Trancezustand des Heilers oder der Heilerin sowie einzelne Elemente des Heilungsrituals (z. B. Fokussierung der Aufmerksamkeit auf sensorische Reize durch Bestreichen der Chakras) steigt die Bereitschaft des Heilungssuchenden, selbst in Trance zu gehen: Heiler und Heilungssuchender teilen hierbei die somatische Einschreibung des Körperbildes und der Heilkraft. Der Modus des Heilrituals ist dann auf beiden Seiten suggestiv: Der Körper ist durchzogen von Energiebahnen, und was im Ritual bewegt wird, ist Licht, das als Wärme gefühlt wird.

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Tabelle 1: Wirkebenen des suggestiven Reizes in der Intervention

(a) Botschaft

(b) Medialer Kanal

(c) Modus

Suggestiver Inhalt

Personal: Stimme, Erscheinung, Heilkraft

Intensität/Grad der Verstärkung: Emphase, Beruhigung, Induktion eines Trancezustands

z. B. Hilfeversprechen („Gott führt mich, er wird auch dich führen“),

Teile des Framings wie Verbal: Wort (Gebet, „Gesundwerden auf geistiAnrufung) ger Ebene“, „Gleichgewicht finden“ Symbolisch: ImagiKommentierung des Tuns: native Strukturen „ich übertrage jetzt Kraft“ ansprechen, Bilder, rituelle Szenerie „spüren Sie es schon“ aufbauen, Symbole etc. Somatisch sensorisch: olfaktorisch, akustisch (Musik) usw. invasiv: trinken, essen, Licht einstrahlen, Licht einatmen, einfahren

Mächtigkeit, Prestige des Heilers, der religiösen Gruppe, der Symbole und Instrumente (Plexiglasstab, Kräuter, Amulett)

Imaginativ: Überlagerung der Symbole, Modelle (Licht) und/oder somatischen Information (Wärme, Schmerz, Berührung) Grad der Unmittelbarkeit: vermittelt-unvermittelt, Anzahl der vermittelnden Instanzen Wiederholung: Rhythmus Emotional: starke Erwartung, starke Verzweiflung oder Hoffnungslosigkeit

Dass Imaginationen tatsächlich Heilungsprozesse in Gang setzen können, ist in vielen Studien belegt. So können Imaginationen im Trancezustand oder auch geleitete Imaginationen im Wachzustand körperliche Krankheitsprozesse messbar beeinflussen. So wurde zum Beispiel das Absinken von Entzündungswerten im Blut von Patienten mit rheumatoider Arthritis beobachtet (Horton-Hausknecht et al. 2000), die Wundheilung nach Operatio-

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nen war beschleunigt (Blankfield 1991) und das Immunsystem arbeitete besser, so dass die Infektanfälligkeit abnahm (Gruzelier 2002). 4.3. Die verkörperte „Heilkraft“ Die Modelle Wärme, Licht, Harmonie, Energie für Heilkraft finden sich bei den Mitgliedern der untersuchten Gruppe nebeneinander, um Heilung zu erklären und sich die wirkende Heilkraft vorzustellen. Häufig werden sie in der Innensicht der Gruppe in einem Metamodell aufeinander bezogen: Es heißt, dass je nach Sinnestyp einer Person die Heilenergie als Licht oder Wärme wahrgenommen wird. Außerhalb des semantischen Feldes von Körper und Wahrnehmung gibt es weitere Modelle: Harmonie finden, ins Reine kommen mit sich und der Welt, Eindringen in die eigene Mitte. Die Kanäle der Reizvermittlung werden häufig gemischt. Ein Mitglied der Lodge äußert: ...ich hab auch sehr viel Wärme empfunden und sehr viel ... es war ein großes Gefühl von Vertrauen, auch viel Licht, anfangs war das, vor mir war so eine Stielrose ganz große.... und auch im Herzzentrum habe ich das sehr angenehm empfunden, wie in der Meditation, war sehr stark des Bild10.

Dabei ist in Bezug auf die Wahrnehmungsimaginationen die Zuordnung der Kommunikationsebenen nicht immer eindeutig. So schildert die Probandin auf somatischer Ebene Wärme, auf emotionaler Ebene Gefühl, Vertrauen, angenehm, Herzzentrum und auf imaginativer Ebene Licht und das Bild der Stielrose wie in der Meditation. Natürlich wird zum Beispiel Wärme (des Lichtes) wegen ihrer Bedeutung als Heilkraft auch emotional empfunden. Es kann also nur darum gehen, wahrscheinliche Zuordnungen zu treffen, die das Gesamtinterview und die Lehre der Gruppe berücksichtigen und aus einer Häufung eines Modus eventuell Typen von Heilungssuchenden zu bestimmen. Wärme wird von den meisten empfunden. Proband 23 spürt sie spezifisch an jenen Körperzonen, in denen die Chakras lokalisiert sind und in dem Moment, in dem diese „behandelt“ werden, also die Berührung oder Aufmerksamkeitslenkung dorthin stattfindet. Proband 23 erklärt diese intensivierte Empfindung über die symbolische Bedeutung der Chakras und dass sie die Heilenergie gerade da spüre, wo sie einen Mangel habe11. Proband 7 äußert über die Imagination von Chakras in der Heilarbeit: „Also bewusst stell’ ich mir das meistens gar nicht so vor, sondern ich weiß, wo ————— 10 11

Interview White Eagle Lodge Pd07, 11.12.2007, weiblich, 60 Jahre, auch Heilerin. Interview White Eagle Lodge Pd23, 14.11.2008, weiblich, 52 Jahre, auch Heilerin.

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die sind, und manchmal hat ma so das Bild von ner Lotosblüte, meistens hab ich das grad so im Herzzentrum, hab ich mir schon das Bild von ner Lotosblüte“12. Zum suggestiven Modus gehört auch das Farbsehen: „der Sinn ist dann eigentlich der, dass man lockert, dass man Farbe, ja dass man Heilung da reinbringt“13. Eine Heilerin hat mehrere Imaginationen, die ineinandergreifen und ihr helfen, die Heilenergie zu bewegen, dazu gehört das Visualisieren von Farben, ein Heilengel, eine Behältnisvorstellung (Gartenschlauch) für die Energie und das Atmen der Energie durch den Körper: A. K.: Genau, ja. Wo holen Sie die Energie in sich her? Kommt die vom Herz, kommt die aus dem ganzen Körper zusammen oder? Pd 24: Nö, die kommt von o-, als ich hol’ sie mir oben von der Sonne. Vom, vom Christusstern. Und dann atme ich, ich versuch’s immer mi’m Atem. Ich atme sie dann hier ein [zeigt auf Stelle am Kopf, wo das Scheitelchakra von der Gruppe lokalisiert wird] und versuch’s dann hier oder dort durch meinen Arm .. auszuatmen. A. K.: Ja, ok. Aha. Pd 24: Also das hilft mir, mich zu konzentrieren und die Farben auch zu visualisieren. Also einfach grün ein-, ich stell mir dann vor, da kommt so’n Gartenschlauch, so’n grüner Schlauch runter, so in Grün und den atme ich ein und dann je nachdem wo’s halt hin muss, durch meine Hand. Und immer, ich stell mir dann auch immer vor, mein Heilengel steht dann hinter mir. Und der hat also, er nimmt meinen Arm, hat also seinen Arm über meinem und dann geht des so gemeinsam14.

Das Zitat zeigt auch, wie nah die Tranceimagination mit der Halluzination beisammen liegen kann: der Heilengel wird geradezu halluziniert. Vor allem in der Spiritualität können Halluzinationen als psychische Fokussierungen erlernt und trainiert werden (Luhrmann 2011: 72, 74). Trancezustände in ihrer Absorption von der Außenwelt sind häufiger mit Halluzinationen verbunden (Luhrmann 2011: 75). In der Umsetzung sind mehrere Bezogenheiten von psychischer positiver Befindlichkeit und religiösen Überzeugungen vertreten, wie sie die Religionspsychologen Sebastian Murken und Monika Schowalter aufzählen: positive Emotionen der Selbstwertstärkung, Glaube an Handeln Gottes/des Lichtes zur eigenen Entlastung, kognitive Orientierung über Bedeutungszuweisungen, soziale Unterstützung in der Gruppe/durch die Heilerin (2003). ————— 12

Interview White Eagle Lodge Pd07, 11.12.2007, weiblich, 60 Jahre, auch Heilerin. Interview White Eagle Lodge Pd06, 11.12.2007, weiblich, 62, Jahre. 14 Interview White Eagle Lodge Pd24, 14.11.2008, weiblich, 56 Jahre, auch Heilerin. 13

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4.4. Evaluation Zur Phase der Evaluation nach Kaptchuk gehört etwa die Äußerung von Proband 23, dass die Heilbehandlung nur der Anstoß sei und die Heilung – wie bei der Homöopathie – manchmal auch erst zwei Wochen später eintrete. Heilen wirke aber auch bei Tieren und Babys, die nicht bewusst sich öffnen. Es wirke immer. Es setze die Selbstheilungskräfte in Gang. Es wird konstatiert, dass manche nach dem Heilungsritual erfrischt sind und manche müde durch die Entspannung. Diese Unterschiede werden nicht als widersprüchlich angesehen, da beide Wirkungen der Entspannung ja auch alltagsweltlich bekannt sind. Die nun folgende Analyse des Abschlusses einer SelbstheilungsMeditation unserer Gruppe zeigt, wie hoch die Bedeutung der abschließenden Evaluation für die nachhaltige Wirkung ist. Diese Handlungsanleitung verdeutlicht auch, wie mit Suggestion gearbeitet wird15. Die Selbstheilungsmeditation ist als CD erhältlich und kann so auch regelmäßig im privaten Gebrauch angewendet werden. Ihre Texte und Anleitungen sind grammatisch an die zweite Person Singular gerichtet und ein auffordernder („stell dir vor...“) und ein affirmativer Stil („du kannst jetzt....“) durchziehen die Meditation. Für das Verständnis der Endsequenz der Selbstheilung ist das oben erwähnte Verständnis der Heilungsgruppe relevant, dass der Körper für die Heilkraft geöffnet werden müsse und dieser Moment gefährlich sei, da in dem Augenblick ja auch Verunreinigung (und Alltagsstress) eindringen könnten. Man ruft daher für die Heilung diverse Heilengel herbei und lässt das Heillicht über die Öffnung in den Körper einströmen. Der Körper (das Scheitelchakra) müsse am Ende auch wieder zum Schutz geschlossen werden. Im Abschluss der Meditation auf der CD (Titel 11) wird die Öffnung geradezu versiegelt mit dem Lichtkreuz, einem zentralen Symbol der Gruppe: Stelle dir ein Lichtkreuz auf deiner Stirn vor. Ein gleichseitiges Dreieck von Licht umgeben. Das Lichtkreuz umzirkelt von Licht über deinem Herzen und dann über deinem Solarplexus ein Lichtkreuz umzirkelt von Licht.

Auf diese deutliche Schutzimagination am Ende folgt dann noch der Dank an Heilengel. Das Lichtkreuz ist in der therapeutischen Landschaft des Zeremonialraumes der Gruppe materialisiert: Der Heilungssuchende sitzt auf einem Hocker und schaut auf einen von innen illuminierten Altar, auf ————— 15 CD „Zur Einstimmung in die White Eagle Heilung“ von Joan Hodgson (gesprochen auf Deutsch von Annemarie Libera), Stella Polaris Verlag Germering, ohne Jahr.

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dessen Frontseite durch das Innenlicht der Kreis mit dem eingezeichneten Kreuz sichtbar wird. Auf dem Altar steht ein gläserner Kelch mit Brennöl, auf dem ein brennender Docht schwimmt. Somit ist die Heilkraft als Licht sehr zentral symbolisch materialisiert. In der geführten Meditation zur Selbstheilung werden verschiedene Körperzonen (Koch 2007: 158, 217, 277) und Körpersensationen sukzessive zum Träger der Selbstheilungskraft. In der zitierten Schlusspassage sind es die Körperzonen der Chakras am Herz, Bauch und Scheitel, die geschützt werden. Die Heilungskraft ist vor allem Christuslicht und wird in einer breiten paradigmatischen Reihe ausgeführt: Sonne, Flamme, inneres/ewiges/goldenes/hell strahlendes Licht, Christusflamme. Doch die Rede ist auch von Vitalkräften, der Christuskraft in dir, einer Heilkraft, der Sonne in deinem Herzen. Opponenten der Heilkraft sind folglich: ein Schleier vor dem Licht, Wolken, dichter Nebel und ein getrübtes Bewusstsein. Diese Metaphernkreise der Innenperspektive der Gruppe sind kohärent und geschlossen. Sie bilden den Rahmen der Imagination. Hinzu tritt ein zweiter Bildkreis, der die Imaginationen nun höchst somatisch umsetzt: das himmlische Selbst, das mit jeder Zelle seines Lebens und vor allem Körpers erkenne, dass es Geist, Sohn Gottes sei. Wegen dieser Lichtessenz der menschlichen Existenz könne diese sich heilen, indem sie ihren Geist/Bewusstsein wieder zum höheren/feinstofflichen und ungetrübten Bewusstsein erhebe. Die Aufmerksamkeitslenkung wird somatisch vollzogen. Dabei werden Körperzonen (innere wie äußere) mit symbolischen Bedeutungen besetzt. Neben diesem Körpereinsatz wird der Körper auch zum Instrument des Übergangs zwischen der Heilungs- und Alltagswelt. Über Körperbewegungen (zum Beispiel dem Rollen auf die linke und rechte Körperseite am Ende der Meditation) und über das Öffnen der Augen und das Umherschauen im Raum wird wieder eine elementare Orientierung hergestellt. Dahinter steht, dass die organspezifische Modifizierung wirksamer ist, wenn sie mit großer Aufmerksamkeit geschieht und in dem jeweiligen Moment und für den jeweiligen Zweck nicht relevante Sinneswahrnehmungen ausgeschlossen oder minimiert werden. Da gerade Emotionalität eine starke Komponente in der Innenwahrnehmung hat, ist die Lenkung der somatischen Aufmerksamkeit auf vegetative Vorgänge wie das Atmen, den Herzschlag wichtig und geht deshalb mit dem Ausblenden der körperlich äußeren Welt einher. Zu dieser körperäußeren Welt gehört auch der Körper als solcher. Auf ihn wird erst wieder im Zurückkehren Aufmerksamkeit gewendet: „Spüre den Druck an deiner Wirbelsäule“, „die harte Unterlage“. Vorher, während der Heilimagination und Heiltrance, ist die Körperlosigkeit der Modus der Körperwahrnehmung zugunsten einer sehr aufmerksamen und

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Anne Koch, Karin Meissner

geleiteten Innenwahrnehmung. Die folgende Übersicht verdeutlicht die Performanz dieses Übergangs in der emischen Sprache der White Eagle Lodge. Tabelle 2: Analyse von Botschaft, Kommunikationskanal und Modus für die Phase des Schließens der gefährlichen Öffnung des Körpers für die Heilkraft am Ende der Selbstheilung (Titel 11 der CD). Bei den meisten Begriffen handelt es sich um die Sprache der Logde.

(a) Botschaft

(b) Kanal

(c) Modus

„Lebensenergien aufnehmen“

„Herzzentrum“

„ganz natürlich“ – unaufgeregt im Sinne von alltäglich

Es wird „Übung“, „Heilmeditation“ genannt

Sich rollen: links- und rechtsseitiges Liegen, dabei die eigene Flanke spüren

„aktivieren“

Selbstbezüglich: Einswerden mit eigenem Atemrhythmus

Atem/„sich zurückatmen“

„Ruhig“ 3x, „still“ (Hast würde die ganze Heilung vorher umsonst machen), beruhigt, entspannt

„Zeit der Stärkung“

Physischer Körper und feinstoffliche Körper

natürlicher Atemrhythmus

„jede Zelle des Körpers“ „Hilfe der Heilengel“

Einstrahlendes Licht

„Ganz sanft, aber entschlossen“

Ambivalenz herstellen

„Werde/Sei dir bewusst“

Aufmerksamkeit richten „Gewahrsein“, „fühl!“

„Dein Bewusstsein ist jetzt gut auf das physische Leben ausgerichtet“

Stimme der Sprecherin

Intonation: Singsang

Geschaffener Heilraum

Augen öffnen, im Raum herumschauen, bewegen

Harte Unterlage

Druck der Wirbelsäule spüren

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Imagination, Suggestion und Trance

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5. Fazit Suggestionen haben immense Bedeutung für das Wohlbefinden. Methodologische Herausforderung dabei ist, kulturwissenschaftliche Gegenstandskonstruktionen mit medizinischen zu einer vollständigeren Beschreibung des Transformationsprozesses in der Heilung zusammenzubringen. Anhand eines Rituals alternativen Heilens und einer geführten Heilmeditation wurden Wirksamkeitsfaktoren und Regelzusammenhänge des suggestiven Reizes aufgezeigt. Imaginationen sind somit für die Wirksamkeit höchst relevant. Sie treten in spezifischen Überzeugungen und Lehrgehalten in Erscheinung, im Vollzug und in den damit verbundenen somatischen Vorgängen, dem Körperwissen (Koch 2014). Bedeutungszuschreibungen werden auf somatischer wie symbolischer Ebene vorgenommen und lassen sich nicht gegeneinander ausspielen16. Diese Bedeutungszuschreibungen vollziehen sich nicht nur in sprachlichen Aussagen, rationaler Einsicht und symbolischer Zusammenfügung von Inhalten, sondern eben auch über verschiedene somatische Imaginationstechniken. Die Überzeugung von der Existenz einer Heilenergie, die universal und kosmisch ist, kann als das Behandlungsnarrativ angesehen werden. Es ist neben Texten und AudioCDs mit Ausführungen und Belehrungen auch imaginativ umgesetzt und materialisiert: „Christuslicht“ kann in symbolischer und memorialer Form von Kerzen, Glaswandlampen, Fensterschmuck im Shop der Gruppe gekauft werden. Es ist als Illumination des Altars verräumlicht und zudem auf vielen Buchcovern in ein Bildprogramm umgesetzt. Zur Imaginationstechnik gehört wesentlich ihre geführte Performanz. Die erste Phase des Heilrituals evoziert den Heilraum. Sie verfolgt den Zweck, eine rezeptive Person zu schaffen, also den Probanden oder Kranken für das Geschehen zu öffnen. Diese Phase ist zentral für die Suggestibilität des Heilungssuchenden. Die Welt voller Möglichkeiten als grundlegende Einstellung für die Suggestibilität ist in den therapeutischen Landschaften des Heilraumes umgesetzt. Sie wird durch deren Heilsymbole, Zeichen der Vollkommenheit und leiblichen Integrität oder kosmischen Ganzheit aktiviert. Auf diese Exposition folgt die Umsetzung des Ritualskriptes, wo es wesentlich darum geht, die Aufmerksamkeit des Probanden zu lenken und ihn einen multisensorischen Erfahrungsweg durchlaufen und durchleben zu lassen. In diesem Schritt hat der/die Heiler/in eine ganz wesentliche Funktion der Führung über suggestive Gesten und Äußerungen. Ein drittes Element der Wirksamkeit liegt darin, dass eine mächtige Heil—————

16 Zur Zentralität der Bedeutungszuweisung in der Erfahrungsdynamik eines Heilrituals, s. Koch/Meissner 2011, 162–63.

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Anne Koch, Karin Meissner

kraft in dem Ritualerlebnis verkörpert und einverleibt wird. „With an aesthetic persuasiveness and adroit craftmanship, healers create an ‚osmotic‘ bridge between cultural mythos and idiosyncratic biography“ (Kaptchuk 2011: 1853). In dieser Phase müssen Imaginationen des einzelnen und der Behandlungsmythos miteinander abgeglichen werden. Der suggestive Modus leistet diese Aneignung. Durch ihn beziehen sich das kulturelle Narrativ von Heilung und die individuelle Biographie aufeinander. Darin spannt sich der Erfahrungsraum des Probanden auf. Es ist die Innenwelt, in der Heilung als möglich erlebt wird, eine „als-ob“-Welt voll positiver Erwartung. Schließlich erfolgt die Deutung des Geschehens unter der Hinsicht ihres (Teil-)Erfolgs oder Misserfolgs. In dieser letzten Phase des Rituals werden Weichen gestellt, wie das Erleben in die alltägliche Lebensform weitergetragen wird. Heilungsrituale sind vor diesem Hintergrund als Verknüpfungsstellen zu sehen zwischen Gefühlen, körpereigenen im Ritual produzierten Substanzen und der Wahrnehmung von Atmung, Muskelentspannung, einzelnen Organsystemen wie des Magens (leerer, flattriger, brennender, knurrender Magen) etc. Wie mit Placebo- und Suggestionsforschung gezeigt wurde, spielen Botschaft, Mittel und Modus eine Schlüsselrolle dafür, dass eine Behandlung wirksam ist, also die psychische und/oder physische Befindlichkeit verbessert wird. Diesen Zusammenhang nutzen viele kulturell unterschiedlich gestaltete Heilbehandlungen. Der suggestive Modus ist in mehrerlei Weise vertreten und relevant: Zum einen wird eine optionale Welt eröffnet, die starke Gefühle erzeugt (der Hoffnung, der Geborgenheit, der Heilung, der Ganzheit, der Verbundenheit). Zum anderen ist der suggestive Modus das Skript, nach dem Aufmerksamkeit durch Körperzonen und Körperregionen mit unterschiedlicher Tiefe zu lenken ist. Diese somatische Karte ist wichtig, um Körperempfindungen zu transformieren, sei es, dass alte (mit Krankheit verbundene) überschrieben werden, sei es, dass neuartige Empfindungen angelegt werden. Als Konsequenz des suggestiven Modus ergibt sich, dass die Ausführung einer Handlung zentral ist für die Bedeutungsgenerierung, da sie über psycho-physische Prozesse körperlich rückgebunden ist. Literatur Ananth, Sita 2009. „Experiencing Personal Wholeness“. In: Explore. The Journal of Science and Healing 5.5: 304–5. Baier, Karl 2009. Meditation und Moderne. Würzburg: Königshausen und Neumann. Blankfield, R.P. 1991. „Suggestion, Relaxation, and Hypnosis as Adjuncts in the Care of Surgery Patients: A Review of the Literature“. In: American Journal of Clinical Hypnosis 33: 172–86. Bongartz, Walter und Bärbel Bongartz 1998. Hypnosetherapie, Göttingen [u. a.]: Hofgrefe.

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Imagination, Suggestion und Trance

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Anne Koch, Karin Meissner

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Aktive Imagination im Tantra Am Beispiel des Ritualmanuals Parasurama-Kalpasutra Annette Wilke Der Artikel zeigt anhand eines bis heute wirkmächtigen tantrischen Ritualmanuals (Parasurama-Kalpasutra, ca. 16. Jh.), in welcher Dichte und multimedialen Fülle im indischen Tantra von der menschlichen Vorstellungskraft Gebrauch gemacht und die Technik aktiver Imagination im Ritual gezielt angewendet wird, um eine neue Selbstund Wirklichkeitswahrnehmung gemäß dem Erlösungsideal der Schule (KaulaSrividya) zu erzeugen und die „normalen“ Grenzen von Körper und menschlichem Geist zu sprengen. A. Wilke unterscheidet „aktive Imagination“ im Sinne bewusster, methodischer Aufmerksamkeitslenkung von „ritueller Imagination“ im Sinne nahezu unbewusst mitlaufender kulturell vorgeprägter mentaler Landkarten in jedem rituellen Handeln, zeigt aber auch die fluiden Grenzen auf. Sie argumentiert, dass sich an den Techniken aktiver Imagination besonders gut die Leistungsfähigkeit und Funktionsweise von Imagination aufzeigen lasse und bearbeitet den Zusammenhang von Imagination und Transformation. In systematisch-etischer Hinsicht wird hier an kulturund kognitionswissenschaftliche Theorien (insb. Pruyser, Schwarte, Bulkeley) angeschlossen.

Aktive Imagination1, die bewusste Verwendung der menschlichen Vorstellungskraft, der Lenkung von Wahrnehmung und Empfinden, der Visualisation, inneren Bildproduktion und kognitiven Überblendung, gehört im Tantrismus seit alters her quer durch die vielfältigen so genannten Traditionen2 zu den wichtigsten Methoden und Praktiken, um abstrakte Vorstellungen zu beleben, innere Gewissheiten zu erzeugen, divergente Gegenstände homolog aufeinander zu beziehen, natürliche Prozesse zu ‚hierophanisierenʽ, außerordentliche Erfahrungen zu stimulieren und andere Wirklichkeiten wahrzunehmen und zu erleben. Ich möchte in diesem Artikel anhand eines berühmten, aber wenig erforschten Ritualhandbuchs, dem Parasurama—————

1 Der Terminus bezeichnet auch ein Therapie-Verfahren C. G. Jungs, auf das hier nicht näher eingegangen wird. 2 Ich verwende die Begriffe ‚Tantrismus‘ und ‚Tantra‘ als Gattungsbegriffe auswechselbar für noch näher zu bestimmende Ritualtraditionen, die zwischen dem 5. und 13. Jahrhundert quer durch unterschiedliche Religionskulturen Indiens (Hinduismus, Buddhismus, Jainismus) zum Mainstream wurden, sich in bestimmten Textgattungen niederschlugen (Tantras, Agamas, Yamalas, etc.) und bis heute weiterwirken. Wie bei allen anderen ‚-ismen‘ ist die Vereinheitlichung und Essentialisierung auch beim Terminus Tantrismus (und ebenso beim Tantra) eine problematische Neuerung. Vgl. Urban 2003.

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Annette Wilke

Kalpastura3 (vermutlich 16. Jh.), die Funktionsweisen und Funktionszusammenhänge dieser Technik darstellen und die vielfältigen Anwendungskontexte umreißen und analysieren. Meine These lautet, dass Imagination generell für Rituale jeglicher Art ein zentraler Faktor ist, um die performativen Effekte zu erzeugen, die Ritualen zugeschrieben werden – und sie wissenschaftlich zu erklären4, und dass deshalb die bewusste und methodische Einsetzung von Imaginationstechniken einen Spezialfall darstellt, der für die Thematik dieses Bandes von besonderem Interesse ist. Ich unterscheide somit rituelle Imagination (implizite Imagination) im Sinne athematischer Semantisierung bzw. nahezu unbewusster mitlaufender mental maps, die sich aus allseits bekannten kulturellen Symbolen („kollektiven Imaginationen“ ) speisen, und aktive Imagination (explizite Imagination) im Sinne imaginativer Techniken (z. B. Visualisierungen) und der bewussten Einsetzung eines „imaginativen Modus“ (vgl. auch den „suggestiven Modus“ bei Anne Koch). Ich werde Beispiele für beide Fälle geben. Dabei sei gar nicht geleugnet, dass sich auch Techniken aktiver Imagination in anderen Religionskulturen finden lassen (vgl. etwa Lucia Trauts Beispiel der Exerzitien des Ignatius von Loyola in diesem Band), doch scheint mir religionsvergleichend der Tantrismus eine herausragende Stellung einzunehmen, insofern Visualisation und aktives Imaginieren ein zentrales Spezifikum des Tantra darstellt und hier besonders reichhaltig und variantenreich belegt ist. Unter Imagination verstehe ich ein Zusammenspiel von sinnlicher Wahrnehmung und inneren Vorstellungen, das zu etwas Neuem führt – also eine kreative Leistung mit dem Effekt einer Neusemiotisierung von Wirklichkeitserfahrung und sozialem Handeln. Imagination wäre danach ein dritter Raum, der ursprünglich getrennte Dinge und Sinndomänen verbindet und wechselseitig überblendet und deshalb neue Erfahrungen möglich macht. Genau von dieser kreativen Leistung der Imagination, virtuelle Welten und neue Realitäten zu schaffen, hat man im Tantra bewusst Gebrauch gemacht, um das Geistige zu verkörperlichen und den Körper zu vergeistigen und die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt aufzulösen.

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3 Ich verzichte im Rahmen dieses Artikels auf die Diakritika. Dem bislang unbearbeiteten und unübersetzten Parasurama-Kalpasutra und seiner Rezeptionsgeschichte war in den Jahren 2006−2009 ein von mir und Dr. Claudia Weber durchgeführtes DFG-Projekt gewidmet. Ich verwende im Folgenden die annotierte Übersetzung von Weber 2010 und verweise für eine breitere Kontextualisierung auf Wilke 2010; 2012a; 2012b. 4 Dieser erste Teil meiner These ist von Lucia Trauts Magisterarbeit inspiriert und wurde von mir anhand indischer Quellen weitergedacht. Vgl. Traut 2011; Wilke 2010: 242−260; kurz auch Pruyser 1983: 11.

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Aktive Imagination im Tantra

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1. Rituelle Imagination und imaginative Techniken – nicht nur im Parasurama-Kalpasutra Was macht aus normalem Wasser Weihwasser oder – wie im ParasuramaKalpasutra (im folgenden PKS) – aus Alkohol den Nektar der Unsterblichkeit und eine Hierophanie5 der Göttin? Warum kann man sich mit Weihwasser heiligen oder gar Heilungen vollziehen und warum im Alkoholrausch zur Gottheit werden und Unsterblichkeit kosten? Gängige Ritualtheorien haben hierauf mit Stichworten wie ‚Framing‘ (Goffmann 1974), ‚Performanz/Performativität‘ (Tambiah 1979; Bell 1997: 72–75, 159–164) und ‚Sakralisierung‘/‚Außeralltäglichkeit‘ (Bell 1997: 138, 155–159; Michaels 2007: 251–253) wichtige Antworten gegeben. All diese Theorien gehen von einer Verwandlung der Normalität, einer Schaffung außeralltäglicher Realitäten bzw. einer Neu-Semantisierung im Ritual aus. Sie können aber m. E. nicht zufriedenstellend erklären, warum dies überhaupt möglich ist. Hier kommt Imagination als missing link ins Spiel – eine in bisherigen Ritualtheorien unterbelichtete Kategorie. Angefangen mit dem rahmenden Wissen, „dies ist ein Ritual“ – im religiösen Feld eine sakrale und sakralisierende Handlung – braucht es einen Akt der Imagination. Die Imagination liefert die mentale Landkarte (mental map), die der Handlung ihre spezifische Relevanz und Funktion verleiht und maßgeblich auch für die performativen Effekte verantwortlich ist. Die Imagination verknüpft das rituelle Tun mit einem kosmologischen Rahmen, kulturellen Wissensbeständen und subjektivem Sinn und stellt damit – in unserem Beispiel die Heiligkeit – strenggenommen erst her. Ohne Imagination bleibt das Wasser Wasser und der Alkohol Alkohol. Die Imagination sorgt für die Semantisierung, auch wenn Rituale nicht im üblichen Sinne informationstragend sind. Sie füllt diese Leerstelle, nimmt bestehende Deutungsangebote wahr und fügt neue hinzu, blendet andere aus. Rahmenhandlungen wie Absichtserklärungen, heilige Formeln, besondere Gesten wie etwa das sich Bekreuzigen mit Weihwasser beim Eintreten in eine katholische Kirche oder das Besprengen der Ritualgegenstände mit Alkohol und das Schlürfen einiger Tropfen am Anfang des tantrischen Rituals (nach dem PKS) und alle weiteren Performanzen – sie alle erzeugen in den Kulturteilnehmern und rituellen Akteuren imaginative Assoziationen und ganze Assoziationsketten und Assoziationsräume. Nie sind es völlig freie Assoziationen, vielmehr ist es immer traditionsgebundene Phantasie, die aus den Handlungen symbolische macht und sie mit neuem Sinn imprägniert. Jede —————

5 Im vorliegenden Fall ist der von Mircea Eliade (1957) geprägte Terminus Hierophanie recht passend.

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Annette Wilke

rituelle Handlung, insofern sie als rituell und signifikant wahrgenommen wird, setzt einen – beinah unbewussten – imaginativen Akt des Überwechselns in eine andere (eben die rituelle) Wirklichkeit voraus. Es ist erst dieser imaginative Akt des Verknüpfens und Überwechselns, der in meinen Beispielen den rein motorischen Akt zur Weihehandlung macht, die Heiligung bewirkt und die Gegenstände zu sakralen transformiert. Sakrale Formeln wie „Im Namen des Vaters, des Sohns und des heiligen Geistes“ oder „AIM KLIM SAUH“ (ein wichtiges Mantra im PKS) sind kognitive Verstärker, bleiben aber ohne imaginative Verknüpfung mit dem theologischen Sinn reine Worthülsen. Imaginative Prozesse sind an kulturelle Relevanzsysteme rückgebunden (z. B. im PKS an ein non-duales Weltbild) und sie verbinden sich mit sinnlicher Wahrnehmbarkeit. Jedes Ritual verfügt über ein Arsenal expressiver Mittel, die zugleich sinnliche Imaginationshilfen darstellen (Traut 2011: 63–119). Primäre Imaginationshilfen und -verstärker im Tantra sind sakrale Formeln, genannt mantra (Oralität, Audition, Verbalität), Ritualdiagramme, genannt yantra oder mandala (Visualität) und esoterische Handgesten, genannt mudra (Somatik, Motorik). Mantras nehmen eine besonders zentrale Rolle ein, da die Überzeugung besteht, dass sie die Gottheiten und all ihre Kräfte zum Erscheinen bringen und unmittelbar verkörpern, sobald sie (laut, leise oder rein mental) ausgesprochen werden. Etisch gesprochen sind Mantras „imaginative Dinge“ (Schwarte 2006: 93−94), die das Unsichtbare sichtbar bzw. hörbar (!) machen und die Präsenz ihres Gegenstands nicht nur inszenieren, sondern an dieser Präsenz auch vollständig partizipieren und deshalb Akteure in eigenem Recht sind. Kein tantrischer Kultus kommt ohne Mantras aus, denn alle Gottheiten des Tantra sind Mantra-Gottheiten. Mantra-Riten gehören (auch weit über den Tantrismus hinaus) zu den zentralen Mitteln, Schutz und Segen zu erlangen und sich mit der Gottheit und ihrer grenzenlosen schöpferischen Macht zu vereinen – und damit selbst gottgleiche Ermächtigung zu erlangen. Man kann hier in Anlehnung an Katharina Wilkens von „inkorporierter Imagination“ und „imaginierter Inkorporation“ sprechen, sowohl hinsichtlich der Mantra-Vorstellungen (einer Präsenz von Gottheiten in ihren Klängen), als auch hinsichtlich der Mantra-Verwender. Für die Praktizierenden wird die rituelle Imagination, die der Mantra-Praxis unterlegt wird, zum aktiven Instrument, unmittelbar die Macht der Gottheit, die alles auf einen Schlag verändern kann, zu absorbieren. Dieser imaginative Modus schafft geistige und zugleich verkörperte Realitäten und wirkt deshalb realitätsgestaltend. Deutlich sind imaginative Dinge und Techniken im Tantrismus darauf angelegt, sich in der Wirklichkeit umzusetzen und eine neue Form von Selbst- und Weltwahrnehmung und Autorität bis in den Alltag hinein zu befördern.

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Aktive Imagination im Tantra

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In manchen tantrischen Traditionen, v. a. dem Kaula-Tantra, zu dem auch das PKS gehört, sind es überdies gerade jene Dinge, die in traditionellen orthodoxen Milieus als heterodox und unrein gelten, die die Verschmelzung mit der Gottheit und die Aneignung ihrer Kräfte herbeiführen sollen. Es sind zugleich Dinge, die die Sinnlichkeit verstärken, eine leibliche Gotteserfahrung ermöglichen und einen ekstatischen Kultus fördern, vor allem die bekannten „5 M“ (pancamakara): 1. Alkohol (madya), 2. Fleisch (mamsa), 3. Fisch (matsya), 4. geröstetes Getreide (mudra), 5. ritualisierter Geschlechtsverkehr (maithuna). Von den zuweilen exzessiven Praktiken, die in manchen Tantras berichtet werden, setzt sich das PKS durch rituelle Strenge und spirituelle Ästhetisierung ab. Das PKS gehört der Srividya an, einer tantrischen Richtung, die üblicherweise nicht mit Kaula-Praktiken verbunden wird. Im Gegenteil, die Srividya wurde davon wohl schon seit dem Mittelalter sukzessive „purifiziert“, als sie von einer breiten Basis südindischer Smarta-Brahmanen übernommen wurde. Heute ist die Srividya die am weitesten verbreitete und populärste Tradition des HinduTantra. Das PKS ist ein interessanter Sonderfall, da bei ihm der Charakter der Kaula-Richtung noch deutlich durchscheint, z. B. im Motiv der „5 M“, die zur rituellen Pflicht gehören. Dies ist noch in den Kommentaren des 19. Jahrhundert bezeugt und bis heute nicht ganz verschwunden, wie mir Feldforschungen zeigten. Während die Akzeptanz oder Ablehnung bestimmter Körperpraktiken die linkshändigen Kaula-Traditionen und rechthändigen Schulen trennt, ist ihnen doch ein gemeinsames Körperbild eigen, das über den physisch sichtbaren Körper hinausgeht und ihn mit einer inneren Sinnlichkeit ausstattet. Körperlichkeit umfasst auch die Psychophysiologie der yogischen Cakras, vom muladhara in der Nähe der Genitalien bis zum „tausendblättrigen Lotus“ über dem Scheitel. Diese energetischen unsichtbaren („feinstofflichen“) Leiborte oder Zentren (cakra) – i. d. R. gekoppelt mit dem Gedanken von körpereigenen Kanälen (nadi), durch welche die kosmische Energie (kundalini) durch Atem- und Rezitationstechniken gelenkt wird – gehören neben Mantra, Yantra und Mudra zu den wichtigsten Imaginationshilfen des klassischen Tantra. Was die verschiedenen Initiationslinien am meisten unterscheidet, sind ihre schuleigenen Mantras und Mantra-Systeme. Auch Anzahl und Techniken der Cakras können differieren, aber immer fungieren die Cakras als ein in den Körper eingeschriebenes Imaginationsskript. Davon macht das PKS reichen Gebrauch.

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Annette Wilke

2. Das Parasurama-Kalpasutra Das PKS ist vermutlich im 16. Jahrhundert in Tamilnadu (Südindien) entstanden. Es beschreibt in zehn Kapiteln einen umfassenden rituellen Prozess und beinhaltet auch philosophische Passagen. Über den Verfasser und das soziale Milieu ist nichts bekannt, aber die Kommentatoren Ramesvara (1832) und Laksmana Ranade (1889) waren Brahmanen und Umananda (1745) sogar Hofbrahmane in Tanjore. Als Rezipienten muss man sich vermutlich städtische Bildungsschichten, höfische Kreise und gelehrte Brahmanen vorstellen, die Befreiung im Hier und Jetzt suchten und den engen Rahmen strenger Veda-Orthodoxie sprengen wollten. Im PKS wird eigens erwähnt, dass Praktizierende die Kastengrenzen zunehmend überwinden sollten. Das Ritualmanual besitzt heute noch eine lebendige Tradition von Kerala bis Benares. Das Manual gibt teils präzise und detaillierte, teils kurze und kryptische Ritualanweisungen. Das erste Kapitel umfasst die Initiationsriten, Kapitel 2−9 beschreiben die Ritualzyklen/-sequenzen (krama) der täglichen Verehrung der fünf Gottheiten Ganesa, Lalita, Syama, Varahi und Para, die je eigene Mantras und Ritualdiagramme besitzen, Kapitel 10 ist Sonderriten und einer integrativen Schau aller Mantras gewidmet. Zentrale Gottheit ist die schöne Lalita, eine milde Erscheinungsform der Großen Göttin. Syama, Varahi und Para sind sowohl Göttinnen in eigenem Recht als auch Hypostasen der Lalita. Syama, die Göttin von Tanz und Musik, gilt als ihre Ministerin. Die finstere Varahi mit ihrem Ebergesicht ist Lalitas strenge Befehlshaberin und Richterin und umfasst schreckliche und grausame Züge. Para („die Höchste“) ist Lalitas „Herz“ und die geistigste unter den Göttinnen. Ihre Gestalt ist als ein hell leuchtendes Licht wie von tausend Sonnen vorzustellen – ein Licht, das zugleich der transzendente Gott Siva und das eigene Bewusstsein ist. Soteriologisches Ziel ist die Schau dieses höchsten Lichtes und die Sivawerdung „in allen Körpergliedern“ (PKS 10.50). Als die beiden wichtigsten Ritualelemente werden die Mantras und die „5 M“ genannt – die Mantras, weil ihre Macht „unausdenkbar“ sei und die 5 M, weil sie die Brahmanglückseligkeit im Körper manifestieren (PKS 1.8, 1.12). Die Göttin Lalita des PKS zeichnet sich durch eine ausgeprägte Erotik aus, während in der besser bekannten Srividya alle erotischen Bezüge fehlen oder zu reinen Metaphern der non-dualen Einheit geworden sind – der Einheit von Gott und Göttin (Siva und Sakti), Gottheit und Verehrer, Gottheit und Kosmos. Die Vereinigung von Gott und Göttin ist nicht nur ein Bild der Vereinigung von Bewusstsein und Glückseligkeit, Licht und Energie, sondern auch der primordiale Schöpfungsakt, aus dem alles entspringt

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Aktive Imagination im Tantra

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(Farbtafel 4 im Anhang). Typisch für das PKS ist nun, dass diese metaphorisch-bildhafte und philosophisch-kosmologische Ebene im Ritual auf vielerlei Weise in guter Kaula-Manier auch inszeniert und sprichwörtlich verkörpert wird und das eine zur Imaginationshilfe des anderen wird. Wie ich noch näher ausführen werde, weist ein ganzes Ensemble sprachlicher, klanglicher,grafischer, gustorischer, haptischer und motorischer Symbole (bindu, HA, kamakala, maithuna, yoni-mudra, muladhara-cakra, etc.) real erotische oder sexualmetaphorische Bezüge auf und steht zugleich für den Zusammenfall der Gegensätze und die schöpferische Kraft der Gottheit, sich zum Universum zu entfalten. Die Zusammenstellung und Inbeziehungsetzung dieser Ritualelemente zu einem homologen System geht bereits weit in das hinein, was ich imaginative Techniken nenne. Neben dieser impliziten Imaginationstechnik umfasst der Ritualtext auch viele explizite. Damit ist schon angedeutet, wie viele Haupt- und Subtexte zusammenspielen und sich wechselseitig überlagern. Diese verwirrende Komplexität und die Fülle assoziativer Möglichkeiten und gewollter Relationen machen deutlich, welch hoher Anspruch an die Vorstellungskraft der tantrischen Ritualexperten (und -expertinnen) gestellt wird6. Im PKS ist beides besonders reich belegt, sowohl rituelle, implizite Imagination (im Sinne einer mental map und eines athematischen semantischen Wissensbestands, der die rituellen Handlungen mit Sinn belegt) und aktive, explizite Imagination, die bewusste Stimulierung und Ritualisierung der Einbildungskraft. Meine Besprechung wird primär den aktiven, intentionalen Imaginationen im täglichen Ritus gelten. Wie in allen klassisch-tantrischen Traditionen setzt die tägliche Verehrungshandlung Einweihung voraus. Das Initiationsritual des PKS umfasst fast ausschließlich imaginative Akte und diese kreativen Techniken der Recodierung von Körper und Selbstwahrnehmung werden im täglichen Ritus veralltäglicht, vertieft und erweitert. Hier werden die imaginativen Manipulationen, die der Guru während der Initiation am Initianten vollzog, zur täglich eingeübten persönlichen Wirklichkeit. Höhepunkt der Einweihungsriten war eine hochgradig suggestive Visualisation des Lehrers, die den Zusammenhang von Imagination und Transformation besonders augenfällig inszeniert: Der Lehrer stellt sich eine gewaltige Woge von Licht (die Göttin in ihrem höchsten Para-Aspekt, der mit Siva vollkommen eins ist) im yogischen Körper des Schülers vor – angefangen vom muladhara-cakra (bei den Genitalien) bis hinauf zum brahmarandhra (dem tausendblättrigen Lotus über dem Scheitel) – bis der Körper zu leuchten und zu brennen —————

6 Die Adressaten des PKS – wie auch anderer tantrischer Texte – sind Männer. Aber gerade die Srividya sprach und spricht auch Frauen an, die teilweise sogar die Gurufunktion innehaben.

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beginnt und „einem flammenden Feuer ähnelt“ (PKS 1.36). Der Lehrer tritt damit virtuell in den Schüler ein, verbrennt mit den Strahlen dieses Feuers alle seine Sünden und Vergehen, ergreift seine Seele und verschmilzt sich mit ihm in dem blendend leuchtenden Licht. Nach emischer Sicht ist es die Gottheit selbst (deren physisches Gefäß der Lehrer ist), die in den Schüler eingeht und von ihm Besitz ergreift. Diese Imaginationstechnik ist in der sivaitischen Initiation bereits seit dem 6. Jh. belegt und gilt als entscheidender Wendepunkt, der den Schüler in eine vollkommen neue Person umgestaltet, die nun die Erlösung bereits in sich trägt (Sanderson 2006: 3). Im PKS-Ritual werden diese Technik und der von ihr kreierte Imaginationsraum täglich neu aktiviert und methodisch angeeignet. Der Praktizierende wiederholt nun nicht nur analoge Handlungen an sich selbst, sondern permutiert sie auch in den verschiedenen Göttinnenzyklen und ergänzt sie um ein reiches Repertoire weiterer aktiver Imaginationen. All dies geschieht nicht nach eigenem Gutdünken, sondern nach einem festgelegten Regelsystem. Zu diesem gehört auch die Pflicht zur Geheimhaltung. 3. Aktive Imaginationen im täglichen Ritus Der in Sequenzen unterteilte rituelle Prozess der täglichen Verehrung der fünf Hauptgottheiten umfasst ein großes Arsenal verbaler, geistiger, körperlicher und sinnlich-ästhetischer Handlungen und Gegenstände und imaginativer Performanzen und ergibt ein dichtes Gesamtkunstwerk wechselseitiger Bezüge (Wilke 2010; ebd. 234−237; Kurzfassung Wilke 2012b: 38−39). Dabei liegt ein klarer Schwerpunkt auf Mantra-Riten und auch die yogischen Cakras nehmen einen wichtigen Stellenwert ein. Auffallend ist ferner – und für die Thematik dieses Artikels besonders relevant –, dass an allen zentralen Schnittpunkten des täglichen Ritus aktive Imaginationen ausgeführt werden: 1. Bei der Andacht vor Sonnenaufgang – und im Falle der Varahi um Mitternacht – finden sich intensive Imaginationen des von göttlichen Energieströmen durchtränkten Körpers und eine Konzentration auf bestimmte Körperzentren (PKS 2.2; 3.2−3; 6.3; 7.2−3; 8.4). Hier fallen Imagination und Meditation zusammen. Die Performanz reaktiviert die in der Initiation vorgenommene Verwandlung und gibt Aufschluss, wie verkörperte Glückseligkeit rituell vorweggenommen wird. (s. u. Kap. 3.1.1.) 2. Zu den rituellen Rahmungen gehört im Tantra unweigerlich immer die Sakralisierung des Akteurs durch die imaginative Reinigung und Vergöttlichung seines Körpers. Diese – bhuta-suddhi („Reinigung der Ele-

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mente“) und nyasa („Niederlegung“/„Übertragung“) genannten – Verwandlungsriten nehmen, wie überall im Hochtantra, auch im PKS einen sehr breiten Raum ein (PKS 2.4, 3.12−21, 6.8−13, 7.5−9, 8.8−15). Sie beruhen auf bestimmten Mantra-Praktiken, d. h. Sprechhandlungen und verbal gestützten Imaginationen, die den begrenzten Körper verbrennen und ihn durch die mentale „Übertragung“ der Mantras und Alphabetsilben auf die Körperglieder (zuweilen verstärkt durch Berührung) zu einem neuen, göttlichen transformieren. (s. u. Kap. 3.1.2.) 3. Die eigentliche Göttervereherung (puja) beginnt mit der mentalen Erschaffung der Gottheit durch intensive Visualisierung und ihre Veräußerlichung durch die imaginative Animation des materiellen, physisch sichtbaren Götterbildes (PKS 2.4, 2.7, 4.1−3, 6.20, 7.16−19). Das heißt, das Götterbild oder Kultobjekt wird im Tantra immer zuerst im Geist geschaffen (murti-kalpana) und darauf verkörpert, indem das imago auf das äußere Kultbild oder Ritualdiagramm übertragen wird, welche nun zu einer mit göttlicher Präsenz erfüllten Ikone werden. Diese Handlung umfasst eine Kette intensiver psychosomatischer Imaginationen. Am Ende der puja wird dem Kultbild das Leben dann wieder auf ähnliche Weise entzogen. (s. u. Kap. 3.1.3.) 4. In der Herstellung eines sakralen Raums und der Weihung der Kultgegenstände am Anfang der eigentlichen puja findet sich an zentraler Stelle die Projektion des mythischen Bildes der Juweleninsel auf die geometrischen Ritualdiagramme der Göttinnen Lalita, Syama und Varahi (PKS 3.10, 6.14, 7.16). Diese auf Visualität ausgerichteten Imaginationen verknüpfen nicht nur virtuell die drei Göttinnen miteinander in einem gemeinsamen Imaginationsraum (der Juweleninsel, die eigentlich nur zur Lalita-Mythologie gehört), sondern verbinden auch poetisch-ästhetische Sensualität und extreme Abstraktion. (s. u. Kap. 3.2.; 3.2.1.; Farbtafel 4 im Anhang) 5. Die puja-Handlungen selbst – die Verehrung von Kultbild und Diagramm – werden ab dem Lalita-Zyklus (PKS 4.4−5.20) fast rein mental und verbal ausgeführt, z. T. unterstützt lediglich durch symbolische Handgesten. Bei Lalita sind nicht nur intensive virtuell-imaginative Körperpraktiken Teil der puja (z. B. die mentale Darbringungen der 64 „Aufwartungen“), sondern auch erotische Imaginationen, die erst am Ende der puja mit der „Sakti-Verehrung“ (sakti-puja) in reale Körperpraktiken übergehen: die physische Verehrung einer jungen schönen Frau, die die Göttin verkörpert, und die geschlechtliche Vereinigung mit ihr. Eine Reihe aktiver Imaginationen verbinden inneres und äußeres Ritual, Virtualität und Realität und schaffen auf mehreren Ebenen eine

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Körper- und Geist-Vernetzung und eine große Vielfalt homologer Bezüge. Hier finden wir Imaginationen, die Denken und Fühlen ebenso wie alle Sinne und den Körper in Beschlag nehmen. (s. u. Kap. 3.2.2.–3.) Diese Kurzübersicht über die rituelle Abfolge unterschiedlicher Imaginationstechniken soll im Folgenden durch die Systematisierung zentraler Elemente des aktiven Imaginierens vertieft werden. Hierzu gehören wesentlich – angefangen mit den Mantras und den 5 M – eine Reihe „imaginativer Dinge“ (Schwarte 2006: 93), die Präsenz inszenieren und zuvor Unsichtbares sichtbar und körperlich machen, die Funktion von agency annehmen oder in Pruysers Worten „transitionale Objekte“ darstellen, d. h. Symbole, die an der Macht, auf die sie verweisen, partizipieren (Pruyser 1983: 153 f.). Ferner finden sich ausdrucksstarke Imaginationshilfen, -stimuli und -verstärker wie die Körpercakras, die Juweleninsel und die Topoi Eros und Horror, die sich in Lalita und Varahi verkörpert finden. Diese stellen ganze Bildprogramme dar, um die Wahrnehmung (und das Verhalten) zu kanalisieren und neu auszurichten. Auch wenn die Funktionszusammenhänge im Einzelnen unterschiedlich sind, gehört es ausnahmslos zum übergreifenden Ziel all dieser Techniken und Strategien aktiven Imaginierens im PKS, den Körper und Geist zu verschmelzen und eine neue Selbst- und Wirklichkeitswahrnehmung zu schaffen: „Befreiung in diesem Leben“ durch die Durchdringung und Belebung des grob- und feinstofflichen Körpers und des (ebenfalls feinmateriell gedachten) Denkens und Fühlens – und des ganzen Welterlebens – mit dem allimmanenten göttlichen Bewusstsein, das reiner „körperloser“ Geist (Siva) und pulsierende Energie (Sakti) ist. 3.1. Imaginative Techniken und der yogische Körper Eine wichtige Brückenfunktion im Verwandlungs- respektive Anverwandlungsprozess hat der yogische Körper, der als innerlich gespürter Leib und psychophysiologisches Codesystem Innen- und Außenwelt verbindet. Die Körpercakras und die Nervenströme, die durch die Körperzentren und den Zentralkanal, die Wirbelsäule, fließen, sind beständig präsent im PKS. Die Cakras werden teils einzeln, teils in Gruppen genannt und haben zwei maßgebliche rituelle Funktionen: Die erste ist die Purifikation/Sakralisierung des (grob- und feinstofflichen) Körpers und die zweite die Invokation/Erschaffung der Gottheit im Geist und zugleich ihre Verleiblichung im eigenen Körper. Von Interesse ist, dass die erste Funktion sich verchristlicht in dem von Anne Koch beschriebenen Heilritual wiederfindet bzw. dieses an die Purifikation des Körpers im PKS erinnert. Doch geht es hier nicht um Heilung im engeren Sinne. Vielmehr stehen die imaginativen Riten im

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soteriologischen Kontext der Selbsttransformation. Sie sind machtvolle „Technologien des Selbst“ (Foucault 1988). Es geht um die Herstellung eines sakramentalen Leibs, die Befähigung des Körpers zum tantrischen Ritual und die Vorwegname seiner soteriologischen Vollendung. Der Leib wird zum Gefäß des Göttlichen durch rituelle Induktion und imaginative Manipulation. Zugleich wird er dadurch nach emischem Verständnis nur, was er seiner wahren Natur nach immer schon bereits ist und was die Initiation und die nachfolgende Repetition im täglichen Ritual lediglich aktiviert: ein vom göttlichen Licht, dem unendlichen Bewusstsein, grenzenloser Fülle und kosmischer Energie durchströmter Leib Gottes. Abb. 1: Die yogischen Cakras nach dem PKS (© AnnetBeide Funktionen der Körte Wilke/Claudia Weber) percakra-Imaginationen, die der Selbst-Sakralisierung und Purifikation und die der Invokation und Evokation der Gottheit im Körperinnenraum, finden sich kombiniert im frühmorgendlichen Andachtsritual, wo die Imagination die Gestalt einer kontemplativen Meditation annimmt. 3.1.1. Imagination als Meditationsmittel und Technik der Verwandlung im sandhya-Ritual Bezeichnenderweise beginnt der Tag bereits frühmorgens nach Erwachen mit intensiver Imagination, einer mentalen, sehr meditativen Übung, in der Selbst-Sakralisierung, Gedenken des Guru und rituelle Invokation Ganesas im Herzen bzw. Herzcakra zusammenfallen: Er stehe (vor Sonnenaufgang) zum brahma-muhurta auf und visualisiere (dhya) – am ganzen Körper in der Fülle der Essenz des Unsterblichkeitswassers gebadet, das vom Fußpaar des Lehrers [inmitten des 1.000-blättrigen Lotus-Cakra] … herabfließt – im Herzlotus [dem Leibort des anahata-cakra] den leuchtenden Elefantengesichtigen (= Ganesa) , der rot ist wie zehn Millionen von aufgehenden Sonnen (PKS 2.2, Weber 2010: 267).

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Die Morgenandacht setzt somit mit einer Imagination des obersten Cakra über dem Scheitel ein, das durch die Initiation zugleich mit dem „Fußpaar“ des Lehrers und der androgynen Gottheit Siva/Sakti codiert ist (Farbtafel 4 im Anhang), und von dem der „Nektar der Unsterblichkeit, die Essenz der höchsten Glückseligkeit“ (amrta-rasa) auf den Körper des Praktizierenden herabregnet und ihn reinigt und badet. Dasselbe top-down-Modell und Bild des in Segensfülle und göttlichen Energieströmen gebadeten Körpers erscheint auch im Para-Zyklus, der den rituellen Prozess beschließt (PKS 8.4). Typisch für den Umgang mit den Körpercakras im PKS ist, dass die Folgeriten der (höchsten Göttin!) Para sich dann ‚nur‘ noch auf die unteren Cakras – den Rumpf des Körpers (muladhara bei den Genitalien, Nabelregion und Herz) – konzentrieren. Dies hat System, geht es doch nicht nur um den Sprung in die Transzendenz, sondern um verkörperte Deifizierung. Bezeichnenderweise finden wir deshalb in den dazwischen liegenden Ritualzyklen der Lalita (Kap. 3) und Syama (Kap. 6) das Bild der Cakras und des Nektarstroms in der morgendlichen Meditation invertiert, d. h. der lichthafte Strom glückseliger Bewusstseinsfülle ergießt sich hier von unten nach oben, indem die Körpercakras in der umgekehrten Richtung imaginativ aktiviert werden. Auch hier dient die bildhafte Sakralisierung dazu, den Akteur zum Sitz der Gottheit und zum Kultus fähig zu machen, denn zur Morgenandacht gehört die mentale Repetition des Srividya-Mantras: (Vor Sonnenaufgang) zum brahma-muhurta visualisiere der Brahmane, der vom Schlaf befreit ist, zur Vernichtung der Sünden (seinen) Lehrer, der die Gestalt des höchsten Siva hat. Vom Muladhara [bei den Genitalien] bis zur Brahma-Öffnung [oben am Scheitel] visualisiere er das [objektlose] Ur-Bewusstsein (mula-samvid), das gelblich wie die Spitzen des Blitzes, rötlich wie die junge Sonne und flammend ist. Er, der die Netze der Verwirrung durch dessen Strahlen vernichtet hat, wende sich im Geist zehnmal dem Wurzelmantra [der Göttin Lalita] … zu. (PKS 3.2−3, Weber 2010: 284−285)

Der Text zeigt, wie stark die Morgenandacht aller Gottheiten parallel gestaltet ist und zugleich je nach Gottheit die Imaginationen permutiert erscheinen. Eine Sonderrolle nimmt nur die furchterregende Varahi (Kap. 7) ein. Die eberköpfige Göttin ist – ihren düsteren und furchterregenden Zügen gemäß – typischerweise um Mitternacht zu verehren. Aber ihr Meditationsritual ist ganz und gar kontemplativ und das ‚yogischste‘. Man soll sich um Mitternacht intensiv auf den Herzschlag, den „unangeschlagenen Klang“ (anahata), im Herzcakra konzentrieren – „das Geräusch, das im vorzüglichen Raum des eigenen Herzens tönt und das mächtige Wonne gewährt“ (PKS 7.2, Weber 2010: 377). Hierauf beginnt eine intensive Imagination im muladhara (dem Cakra bei den Genitalien), die den Körper reinigen und

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vergöttlichen soll und als „Purifikation der Elemente“ (bhuta-suddhi) bekannt ist. 3.1.2. Imaginative Reinigung und Vergöttlichung (bhuta-suddhi) Im PKS lassen sich, wie schon angedeutet, zwei Funktionszusammenhänge ausmachen, in denen die Cakras vewendet werden: zum einen in der Reinigung und Heiligung/Vergöttlichung des inneren und äußeren Körpers und der Sinne, gemäß dem sivaitischen Grundsatz: Man kann Siva nicht verehren, wenn man nicht selber Siva geworden ist, und zum zweiten in der Invokation und Visualisierung der Gottheiten anhand von Meditationsversen, Atemtechniken und imaginativen Manipulationen, die der ‚Erschaffung‘ der Gottheit im eigenen Inneren an den yogischen Körperorten (vornehmlich dem Herzlotus) und ihrer Verlebendigung im Kultbild dienen. In beiden imaginativen Praktiken haben die Cakras die Funktion somatischer Konzentrationshilfen und bekräftigen den Kaula-tantrischen Grundsatz, das Körperliche zu beseelen und das Geistige zu verleiblichen. Für die erste dieser beiden Techniken zitiere ich aus dem Varahi-Zyklus die entsprechende Passage. Die rituelle Purifikation – die gewalttätige imaginative Vernichtung des stofflichen, begrenzten Körpers und seine Ersetzung durch einen ätherischen, unbegrenzten Mantra-Körper – verbindet sich in diesem Zyklus sehr stark mit gnostischer Kontemplation und mystischvisionärer Schau: Vom Kreuzungspunkt (der Kanäle) im Mula(dhara) verbinde ich auf dem Pfad (des Kanals) susumna den Seelen-Siva [mein innerstes Selbst] mit dem höchsten Siva, svaha [nonsemantische vedische Opferformel]! YAM trockne den begrenzten Körper aus, svaha. RAM verbrenne den begrenzten Körper, verbrenne (ihn), koche (ihn), svaha. VAM lasse das Unsterblichkeitswasser des höchsten Siva regnen, lasse es regnen, svaha. LAM lasse den zu Siva gehörigen Körper entstehen, lasse ihn entstehen, svaha. Hamsah, er (= Siva) ist ich. Steige herab, steige herab vom Ort des Siva, o Seele. Tritt auf dem Weg des (Kanals) susumna ein! Erleuchte den Kreuzungspunkt (der Kanäle) im Mula(dhara), erleuchte (ihn)! Flamme, flamme! Flamme auf, flamme auf! Hamsah, er ist ich, svaha! So vollziehe er die Purifikation der (grobstofflichen) Elemente. (PKS 7.6, übers. in Anlehnung an Weber 2010: 277)

Die intensive imaginative Performanz setzt nicht nur das kulturelle Wissen yogischer Psychophysiologie voraus (Körperzentren und -kanäle und Zentralkanal susumna), sondern auch den Gedanken, dass die fünf Elemente (Luft, Feuer, Wasser, Erde, Raumäther) in reinerer Form in Klängen und Schwingungen existieren und jedes Element deshalb ein eigenes (Samen-) Mantra umfasst: YAM (Luftenergie), RAM (Feuerenergie), VAM (Wasserenergie), LAM (Erdenergie) und HAM (Raumätherenergie). Der

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Raum/Äther gilt als das subtilste Element, das am unmittelbarsten mit Klang und der Sphäre des Göttlichen verbunden ist. Dieser Konnex von Raum und Göttlichkeit wird im Zitat klangmalerisch angedeutet durch das symbolbefrachtete Wort hamsah, das rein phonetisch die Keimsilbe HAM enthält, semantisch aber den befreiten Menschen wie auch eine Permutation der Meditationsformel aham sah, „Ich bin Er“, konnotiert. Die Imagination ist hier somit besonders dicht und umfasst mehrere semantische Ebenen mit dem Ziel der Zerstörung der alten, begrenzten Ich-Identität und der Erlangung einer neuen bzw. der wahren, göttlichen. Wichtig und typisch tantrisch ist, dass diese göttliche, unbegrenzte Identität keine rein geistige ist, sondern körperhaft und mit den inneren und äußeren Sinnen spürbar. Genau dies leistet die Konzentration auf die Körpercakras und -kanäle. Von Interesse ist, dass der Körperort der Konzentration in diesem hoch spirituellen und kontemplativen Ritual das Muladhara-Cakra ist – der unterste Leibort, dessen Meditation der rechtshändige Srividya-Theoretiker Laksmidhara strikt verbietet. Die imaginative Konzentration und die Meditation der Nondualität darf sich nach ihm nur im tausendblättrigen Lotus und im Geist abspielen. Er wirft den Kaula-Tantrikern vor, dass sie im muladhara-Cakra verhaftet bleiben und damit in Körperlichkeit, Sexualität und Obszönität. Die muladhara-Imagination im obigen Zitat zeigt, wie vergeistigt die Kaula-Tantriker selbst mit der Körperlichkeit umgingen. Diese Rechts-Linkshänder-Debatte und die Cakra-Repräsentationen der Kaulas und Samayas (so nannte Laksmidhara seine Schule) zeigen, dass imaginative Techniken wirklichkeitsgenerierend sind. Sie sind Technologien des Selbst und Arten der Welterzeugung, indem sie je andere Körpererfahrungen und Vorstellungen vom Göttlichen erzeugen. 3.1.3. Erschaffung der Gottheit durch Visualisierung (murti-kalpana) Die zweite Funktion der yogischen Cakras dient der Erschaffung und Verlebendigung der Gottheit – zuerst im eigenen Geist und Körper und hierauf im sichtbaren Kultbild. Für die innere Bildproduktion wird auf Meditationsverse zurückgegriffen. Alle tantrischen Gottheiten haben nicht nur je eigene Mantras, sondern auch sehr poetische und metaphorisch dichte Meditationsverse. Zur Beschreibung der Lalita gehört zumeist das Bild von tausend aufgehenden Sonnen und die Schönheit ihres rötlichen Glanzes. Diese Meditationsverse versinnlichen die abstrakten Sprachformeln und erschaffen verbale Kultbilder. Sie sind zur Visualisierung gedacht und erwecken die Gottheit zum Leben, indem sie sie zur lebendigen inneren Wirklichkeit machen. Jede tantrische puja beginnt mit solch einem imaginativen Akt, der in einem nächsten Schritt dann das innere Gottesbild auf

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das äußere Symbol – das Kultbild und Ritualdiagramm – projiziert. Diese aktive Imagination wird begleitet von der Übertragung des eigenen Atems auf eine Blume, die sodann auf das Kultbild gelegt wird und dieses gleichsam mit dem lebendigen Atem des Praktizierenden und seinem „unendlichen Bewusstsein“ belebt und die Präsenz der Gottheit im Kultbild erst erschafft. In der Lalita-Ritualsequenz wird dies so beschrieben: Nun, während er das anfängliche (d. h. grenzenlose) Bewusstsein lenkt, das sich im Herz-Cakra (anahata) befindet, das (auf seinem Weg) über den [Nervenstrom/kanal] der Susumna geschickt eine Schneise durch den Wald der Lotusse [Körpercakren] (schlägt), das die Finsternis der Verwirrung (d. h. Unwissenheit) abgelegt hat (und) das das Leuchten der Lampe Siva ist, lasse er es durch das Nasenloch austreten. Er ergreife [innerlich] die (körperliche) Gestalt [dieses Urbewusstseins], das es sich [in Form der Göttin Lalita] im Spiel zu eigen gemacht hat [und eine Blume haltend denke er:] Göttliche Schöpferkraft, Göttin des Glücks … die Gestalt vom unsterblichen Bewusstsein erschaffe ich. Verehrung (sei ihr)! So erschaffe er (mental) (die Göttin) [nachdem er ihr Wurzelmantra gesprochen hat, betend]: ‚O Du, die Du Dich im großen Lotuswald [dem tausendblättrigen Lotus] aufhältst, Du, deren Gestalt ursächliche (d. h. grenzenlose) Wonne ist, die Du das Heil aller Wesen bist, o Mutter, komm, komm, o höchste Herrscherin!‘ So lade er das höchste Bewusstsein im Cakra des Tropfens (bindu = dem innersten Punkt im Sricakra-Diagramm) ein. (PKS 4.1– 4.3, übers. in Anlehnung an Weber 2010: 310–312)

Das Geistige wird körperlich und das Materielle geistig durch solch aktives Imaginieren und genau dies ist das spirituelle Kaula-Programm. 3.2. Mentale puja, Körperpraxis und die imaginative Schaffung von Netzen homologer Bezüge Netze homologer semantischer, phonetischer und ritueller Bezüge sind oben schon mehrfach angesprochen worden. Imagination ist ein wichtiger Faktor, solche Bezüge überhaupt wahrzunehmen und zu erzeugen. Imagination ist eine kreative Kraft. Wenn bereits in den vorbereitenden Riten die Bezüge immer dichter wurden, so werden sie in der eigentlichen puja noch erhöht, wie ich am Beispiel der Lalita-Verehrung im PKS zeigen möchte. Wie in allen tantrischen Traditionen spielt die Verehrung des Ritualdiagramms eine zentrale Rolle. Das für Lalita typische Sricakra oder Sriyantra ist allseits bekannt als Symbol der Großen Göttin, doch kennen die Wenigsten die esoterischen Mehrfachcodierungen und Riten.

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Zu dem, was ich rituelle Imagination nenne, gehört die komplexegrafische Symbolik des Sricakra im Srividya-Kultus. Es ist ein Kosmogramm, das die physische und psychische Welt als Leib und Emanation der Göttin und ihrer energetischen Hypostasen repräsentiert, und zugleich die Vereinigung von Siva und Sakti (verschachtelte große Dreiecke und innerster Punkt), aus der die Welt hervorgeht (44 Subdreiecke). Es ist Abb. 2: Sricakra (© Annette Wilke/Claudia dem non-dualen Weltbild entspreWeber) chend zudem eine abstrakte Darstellung des yogischen Körpers, der inneren Welt der Psyche und des eigenen unbegrenzten, dynamischen Bewusstseins. Und schließlich ist es auch das Srividya-Mantra und die mythische Juweleninsel in geometrischer Gestalt. Die Lalita-Verehrung umfasst im PKS drei Etappen und Ebenen: 1. mentale Kultbildverehrung (manasa-puja): Hier wird die gewöhnliche puja – die Gabendarbringungen – durch eine rein virtuelle ersetzt, indem die Aufwartungen im Geist vorgestellt werden. Dies verknüpft sich mit einer poetisch-metaphorischen Visualisation des abstrakten Diagramms als „Juweleninsel“ (Farbtafel 4 im Anhang); 2. verbale Verehrung der geometrischen Elemente des Sricakra (avaranapuja): Hier werden die „Kreise“ aus Linien, Lotussen und Dreiecken von außen nach innen mit Göttinnennamen litaneihaft verehrt, denn jedes der Elemente und Subelemente wird mit einer weltgestaltenden Hypostase der Lalita identifiziert, während der innerste Punkt das Energiezentrum, das in die Welt ausstrahlt und sie virtuell bereits in sich trägt,grafisch repräsentiert: Lalita als reine Energie und Bewusstseins-Glückseligkeitskontinuum und die selige Vereinigung von Siva und Sakti/Lalita (Bewusstsein und Glückseligkeit, Licht und Klang) als erster Schöpfungsimpuls; 3. sinnlich-körperliche Verehrung (upacaras und Sakti-puja): Hier werden nun reale Gaben und gekochtes Essen dargebracht. Am Ende der puja stehen hochgradig körperlich-sinnliche Riten: der Verzehr von Fleisch und Fisch, ein mehr oder weniger großer Konsum von Alkohol und Ge-

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schlechtsverkehr mit der Göttin (Sakti), verkörpert in einer jungen schönen Frau. Auffallend ist, wie stark sich Abstraktion und Sinnlichkeit auf jeder dieser Ebenen verbinden. Während die mentale puja mittels poetisch dichter, üppiger Vorstellungsbilder der Juweleninsel durchgeführt wird, verbindet sich die langwierige Diagramm-Verehrung mit Ketten von ‚sprechenden‘ Göttinnennamen, die teils konkrete, teils abstrakte Bedeutungen haben. Die Lalita am nächsten stehenden Hypostasen weisen klare sexuelle Bezüge auf wie „die immer Feuchte“, „die vor Leidenschaft Fließende“, „die VulvaFeuchte“, „Sperma, gutes Sperma lasse fließen“ (PKS 4.9, 5.12). Doch sind diese sexuellen Göttinnenformen zugleich die Vokale des Alphabets. Sexualität und Sprache haben eines gemeinsam: kreative Kraft. Ferner fällt auf, dass ganz im Unterschied zur ausführlichen Beschreibung der Juweleninsel voller erotischer Konnotationen der reale, physische Sexualakt mit der menschlichen Sakti nur äußerst knapp und nüchtern in einem lapidaren Satz angedeutet wird: Man solle der Göttin die 5 M darbringen. Diesem Imaginationsüberschuss im Dispositiv Erotik, den Lenkungspotenzialen bewusster De-Fokussierung und Re-Fokussierung und den wechselseitigen Überblendungen geistiger und sinnlich-körperlicher Domänen soll zunächst etwas näher nachgegangen werden, bevor die Frage nach den performativen Wirkungen in praktisch-emischer und theoretisch-etischer Hinsicht bearbeitet wird. 3.2.1. Ritualdiagramm und Juweleninsel Im Ritualhandbuch PKS sind die mystischen und kosmologischen Dimensionen des Diagramms eher indirekt mitkonnotiert, während Poesie, Erotik und Ritualistik vordergründig das Feld beherrschen. Bereits die Herstellung und Weihung des Diagramms ist von einer langen Visualisierung begleitet, die aus dem Diagramm die wunderbare Juweleninsel auf dem Ozean der Unsterblichkeit macht, auf der der prachtvolle, aus Rubinen gefertigte Pavillon der Göttin steht, umringt von wunderbaren Bäumen und kostbaren Zäunen aus Edelsteinen. Die detaillierte Beschreibung kreiert ein sehr genaues Bild in der Phantasie und zugleich ein geheimes Wissen, denn ein Großteil der einzelnen Bildteile ist wiederum mit esoterisch-yogischtantrischen Ideen codiert (auf die ich hier nicht näher eingehe): Dort im großen Cakra stelle er sich mit (diesen) 44 Mantras die jeweiligen [folgenden] Dinge vor und verehre sie (mit den Worten): ‚AIM HRIM SRIM, Verehrung (sei) (1) dem Ozean des Unsterblichkeitswassers, (2) der Juweleninsel, (3) dem großen Garten mit verschiedenen Bäumen, (4) der Anpflanzung des (himmlischen und

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wunschgewährenden) Kalpa-Baumes, (5) der Anpflanzung des Ewigkeitsbaumes, (6) des gelben Sandelholzbaumes, (7) des Korallenbaumes, … (9) des (duftenden, orangefarben blühenden) Kadamba-Baumes, (10) dem Juwelenzaun aus Topas, (11) aus Rubin, … (13) aus Diamant, (14) aus Katzenauge, (15) aus Saphir, (16) aus Perlen, (17) aus Smaragd, (18) aus Koralle, (19) dem Pavillon aus Rubin, (20) mit tausend Säulen, (21) dem Teich mit Unsterblichkeitswasser, (22) dem Teich der glückseligen Wonne (und) (23) der Reflexion, (24) dem Ausfluss der morgendlichen Sonnenhitze, (25) dem Ausfluss des Mondlichts, (26) dem Türriegel des großen Liebesgenusses, (27) dem Wald des großen Lotus, (28) dem König unter den Häusern mit dem Wunschjuwel, (29−32) den Toren im Osten, Süden, Westen und Norden, die die tantrischen Initiationslinien (amnayas) sind, (33) der Umfassung aus Juwelenglanz, (34) dem großen Thron, der aus Perlen besteht, (35−38) den Füßen des Throns, die (die großen kosmischen Götter) Brahma, Visnu, Rudra und Isvara sind, (39) dem Sitz, der der immerwährende Siva (Sadasiva) ist, (40−41) dem Bett (und) großen Kissen aus Hamsa-Daumen, (42) dem orange gefärbten Bettzeug, (43) dem Stoff des großen Baldachin (über dem Bett), (44) dem großen Vorhang (um die Bettstatt)‘. (PKS 3.10, übers. in Anlehnung an Weber 2010: 290−291) …In dem Zustand (des Bewusstseins) ‚Die Göttin bin ich‘, vollziehe er das Netz der [zahlreichen] nyasa-Riten [die Belegung des yogischen und physischen Körpers mit Mantrasilben] für eine diamantene (d. h. unzerbrechliche) Rüstung auf seinem Körper. (PKS 3.14, übers. ebd. 293)

In der eigentlichen puja werden dann die 64 Dienste, z. B. „das Einreiben aller Körperteile (der Göttin) mit himmlischen Düften wie Sandelholz, Aloe, Safran, Moschus etc.“ und das Anlegen kostbaren Schmucks wie bei einer königlichen Braut rein mental (kalpayami, „ich stelle mir vor“) und verbal dargebracht (PKS 4.4–5). Die Verehrung des Kultbildes (vor dem das Sricakra steht) geschieht somit ausschließlich in der Vorstellung und einer sehr poetisch wirkenden Aufzählung der Aufwartungen. Die Einbildungskraft aktiviert die Imagination des inneren Zentrums des Sricakra als Schlafzimmer der Göttin – die rituelle Verehrung im Geist ist der realweltliche Ort der Begegnung mit der schönen Lalita in ihrem innersten Schlafgemach. Da die puja im Geist vollzogen wird, ist sie zugleich ein sehr persönlicher und intimer Prozess, ein identifikatorischer Akt der Imagination, der den rituellen Akteur zunehmend mit der Göttin verschmilzt. Er badet, schmückt, kleidet, parfümiert und dekoriert die Göttin verbal und imaginativ mit kostbaren Essenzen, Kleidern und Schmuck, betritt mit ihr gleichsam gemeinsam den Pavillon und die innere Kammer, steigt mit ihr zusammen auf die Bettstatt, deren Polster Sadasiva (der „ewige Siva“) ist. Hier trinkt die Göttin/der Verehrer vom „Weinglas mit Unsterblichkeitslikör“ und genießt die ekstatische Wonne der Vereinigung mit Kamesvara, d. h. Siva in Gestalt des leidenschaftlichen Liebhabers (Farbtafel 4 im Anhang). Die unio in der puja ist rituell und hat deutlich erotisch-mystische

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Konnotationen. Die Auflösung der Grenzen zwischen dem Verehrendem und dem Objekt seiner Verehrung wird an dem Punkt besonders deutlich, wo es inmitten der Aufzählung der Dienste (just nach der Darbringung von „Unsterblichkeitslikör“, Kampfer und Bethel) plötzlich heißt: „ein Lachen, das sich zeigt wegen des Entstehens von Wonne“ (PKS 4.5, Weber 2010: 315). Die poetische Beschreibung der puja ist somit sehr suggestiv, sodass die Einbildungskraft des Praktizierenden gleichsam angeleitet wird, sich selbst mit der Göttin zu vereinen und von ihrem Unsterblichkeitslikör zu trinken. Man darf annehmen, dass an dieser Stelle auch realer Alkohol gemeint ist, der bereits in PKS 3.28–30 zum „höchsten“ Unsterblichkeitsnektar „reiner Wonne“, pulsierendem Bewusstsein und der „feuchten“, „fließenden“ und „brennenden“ Göttin verwandelt worden war und „Leidenschaft, Macht und Erlösung bewirken“ soll. Nach dieser Wandlung des Weins wurde dem Lehrer und auch „der eigenen kundalini“ ein Alkoholopfer dargebracht mit den Worten: „Das Feuchte brennt. Das Licht bin ich. Das Licht brennt. Das Brahman bin ich. Der, der ich bin, er ist das Brahman. Ich opfere mir.“ (PKS 3.31). 3.2.2. Mentale und reale Erotik Schon im letzten Abschnitt wurde deutlich, wie sehr reale und geistige Dinge wie der Alkohol und mystisch-ekstatisches Bewusstsein so stark zusammenfließen, dass man nicht mehr recht weiß, wo das eine beginnt und das andere endet. „Imaginative Dinge“ wie Diagramm und Alkohol sind Metonyme für spirituelle Prozesse und umgekehrt werden diese durch realen Alkoholgenuss etc. herbeigeführt. Man erinnere sich, dass im PKS die 5 M deshalb so hoch bewertet werden, weil sie die „Brahman-Glückseligkeit“ im Körper erfahren lassen. Es erstaunt deshalb zuerst einmal, wie wenig von physischer Erotik und wie viel von imaginierter Erotik die Rede ist. Dies ist teilweise mit dem Geheimhalteverbot erklärlich, hat aber auch mit dem visionär-virtuellen Realitätsgehalt aktiver Imagination zu tun. Fast scheint es, als ob dem Imaginierten im PKS eine größere Realität zugesprochen werde und Virtuelles und Reales auswechselbar sind. Dieser Verdacht wird vom Kommentator Ramesvara bestätigt, der im Falle des Fehlens einer realen Ritualpartnerin für das fünfte M, vorschlägt, den Geschlechtsverkehr im Geiste zu vollziehen. Er hält dies offenbar für die bessere Lösung als den Griff zu Substituten, die er erst im Anschluss als letzte Möglichkeit (mangelnder Phantasie) nennt: Es sind bestimmte Blumen, die den Geschlechtsteilen von Mann und Frau ähneln, die als Substitute genannt werden.

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Bevor aber der Geschlechtsakt vollzogen wird, findet sich eine besonders suggestive aktive Imagination genannt „kamakala“, die Meditation der „Teile der Liebe“. Die Meditation setzt ein beim Ende und Höhepunkt der Sricakra-Verehrung (avarana-puja), wo die von außen nach innen gehende Verehrung zum Mittelpunkt des Diagramms, dem inneren Punkt oder „Tropfen“ (bindu) vorgestoßen ist, der den Zustand reiner Energie und objektloser Bewusstheit-Glückseligkeit – die Göttin in ihrer höchsten Form und ihre Vereinigung mit Siva – grafisch verkörpert. Hier setzt nun die kamakala-Meditation ein: die aktive Imagination von Kopf, Brüsten und Vulva der Göttin. Dabei soll man sich vorstellen, wie sich der Punkt halbiert und dreiteilt und sich in die erotischen Körperteile der Göttin verwandelt. Dies ist eine Meditation der Göttin als Urmutter und Quelle des Seins. Die kamakala-Visualisation scheint zum Hauptzweck zu haben, eine ‚sakramentale Haltung‘ zu entwickeln für den kurz nachher stattfindenden realen Geschlechtsverkehr. Die kamakala-Symbolik erklärt, was der Geschlechtsakt mimetisch nachvollziehen soll: das Liebesspiel von Gott und Göttin, das reine Wonne ist, in der jegliches Empfinden von Grenzen zwischen Ich und Du untergeht und das zugleich pulsierend dynamisch und weltschaffend ist. Während die Srividya-Rechtshänder den Schöpfungs- bzw. Emanationsaspekt und die Welt als Ausfluss der Gottheit betonen, sind die Kaulas eher an der non-dualen Einheit interessiert, also an der Auflösung der Welt. Dies kulminiert in den aktiven Imaginationen im Ritualzyklus der strahlend leuchtenden Para (8.21), wo der höchste, welttranszendente Aspekt der Göttin in Form von Bewusstheit/Illumination und Reflexion kontempliert wird, das höchste „Ich“, das in nicht-dualer Wahrnehmung besteht und wo Gott und Göttin zusammenfallen (= vereinigt sind). Diese sehr spirituelle Form von kamakala wird mental, verbal und visuell „verkörpert“ im ParaSamenmantra SAUH, dem „Keim“ der Befreiung. Die drei phonetischen Bestandteile des Mantra werden doppelt codiert wie folgt meditiert: 1. S = Bewusstheit/Illumination = muladhara der Göttin; 2. AU = Reflexivität = ihr Herz; 3. H = Vereinung von Illumination und Reflexion = ihr Gesicht, das höchste Licht. In dieses hellstrahlende göttliche Licht wird darauf imaginativ der ganze Kosmos geopfert. Kamakala verweist in dieser Dimension auf die Involution und welttranszendenten Züge des Göttlichen.

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Evolution/Expansion und Involution/Absorption gehören in der Srividya zur inneren Dynamik der Gottheit und gerade im Kaula-Flügel gehen Sensualität und Abstraktion Hand in Hand, ebenso wie äußeres und inneres Ritual, sexuelle Körperpraxis und sexuelle Imagination, Erotik und esoterische Sprachspekulation beständig changieren und ineinander übergehen. Trotz aller Körperlichkeit ist letztlich die geistige Welt die wichtigere. Verbale und mentale Akte überwiegen bei weitem im PKS-Ritual, doch ist Interiorisierung kein Antidot zur Verkörperung. Zwischen der erotischen Göttin und der schönen Ritualpartnerin, zwischen dem inneren Punkt im Sricakra und dem Graphem I(M), das im alkoholischen arghya-Diagramm steht, und zwischen der sinnlichen und mentalen Befriedigung gibt es keinen Unterschied. Eines wird zum Verweis auf das andere, zum Index und zur Ikone des anderen. Jedes repräsentiert die glückselige Vereinigung von Gott und Göttin und ihre weltschaffende und welttranszendente Macht und konnotiert zugleich die eigene Bewusstseins-Glückseligkeits-Vollkommenheit, die nicht nur geistig, sondern im Alkoholgenuss und Geschlechtsverkehr auch körperlich-sinnlich erlebt werden kann. Der durch formale und semantische Echos und das Dispositiv Erotik kreierte Imaginationsraum umfasst ein semantisches Feld, das weit über Sexualität hinaus geht und auch Schönheit, mystische unio, selbstvergessene Ekstase, Spiel, Sprachmacht, Kreativität und schöpferische Potenz umfasst und im Varahi-Zyklus (s. u.) durch Furchtlosigkeit und Autonomie bereichert wird. Dies ist der Nukleus gottgleicher Omnipotenz und Allwissenheit, die sich – nach yogisch-tantrischer Überzeugung – der beständig Übende vollständig aneignen kann. Hier spielen nicht nur kreative Phantasie und imaginative Infusion, die Horror und Schrecken einbeziehen und Mut und Selbstkontrolle einüben lassen, eine entscheidende Rolle, sondern insbesondere auch disziplinierte Mantra-Praxis, welcher die Macht zugesprochen wird, Verhalten und Alltagswirklichkeit nachhaltig zu verwandeln. 3.2.3. Horror und Erotik als Imaginationsstimuli und verwandelte Welt Wie man auch in der modernen Filmbranche und Fantasyliteratur weiß, gehören Erotik und Horror zu besonders phantasieanregenden Stimuli und erscheinen teils in Opposition, teils kombiniert. Auch im PKS ist das so. Die zwei Göttinnen Lalita und Varahi verkörpern geradezu idealtypisch, was Freud den libido- und destrudo-Trieb nannte. Vordergründig erscheinen sie zunächst einmal wie absolute Gegensätze. Das wird schon an Varahis Wurzelmantra deutlich, das nicht nur aus Keimsilben besteht, sondern auch aus semantisch durchsichtigen Anrufungen, die den Klang einer magi-

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schen Formel haben und das Bild einer äußerst schreckenerregenden und alles andere als einer milden, liebreizenden und erotischen Göttin zeichnen: AIM GLAUM AIM Verehrung Dir Du Erhabene, … o Varahi, Varahi, o Ebergesichtige, Ebergesichtige. Du Herrin Finsternis, verfinsternde Herrin, Verehrung Dir. Die Du Gefangenschaft bist und gefangen hältst, Verehrung Dir. Du Verschlingen und Verschlingende, Verehrung Dir. Du Wahnhaftigkeit und Wahnbringende, Verehrung Dir. Du Herrin Erstarren und erstarrend machende Herrin, Verehrung Dir. Bewirke, bewirke das starr Machen aller Rede, Gedanken, Augen, Münder, Bewegungen und Zungen aller Bösewichte und Erzbösewichte. Bringe sie schnell unter Kontrolle. AIM GLAUM THAH THAH THAH THAH HUM, [Verehrung] der [dämonenzerstörenden] Waffe PHAT. (PKS 7.14)

Varahi gehörte ursprünglich zur Horde der wilden, grausamen (oft theriomorphen) Yoginis und hat auch im PKS einige dieser Züge bewahrt. Die ebergesichtige Göttin erhält als einzige auch Blutopfer und verbal kommt ihre Gewalttätigkeit am drastischsten bei der Verehrung ihres Ritualdiagramms zum Ausdruck. Sie wird hier (in Form ihrer Potenzen Brahmani usw.) angerufen, die „Feinde“ zu zermalmen, ihre Haut abzuziehen, ihr Blut zu trinken, das Fleisch ihres Körpers zu essen, ihr Fett zu verschlingen, ihre Knochen zu zermalmen und ihr Sperma zu trinken (PKS 7.28). Dieses martialische und sadistische Bild betrifft, so kann man annehmen, wenn man die frühere Literatur kennt, nicht nur äußere Feinde (man denke an die fürstlichen Rezipienten) und Kaula-Kritiker (man denke an die sozial inakzeptablen Praktiken), sondern auch die Eingeweihten selbst, die dem tantrischen Sittenkodex zuwiderhandeln oder die Göttinnen nicht gebührend verehren, sowie die inneren Feinde des Praktizierenden, angefangen mit Furcht und Unwissenheit. Man darf auch nicht ausschließen, dass die Horror-Bilder lediglich konventionelle Tropen sind, die von den Praktizierenden kaum inhaltlich bedacht werden. Dennoch gehört ihre Semantik wesentlich zur Architektur des Ritualhandbuchs. Von Lalita zur „Befehlshaberin“ und „Richterin“ bestellt, hat Varahi „uneingeschränkte Befehlsgewalt“, den tantrischen Sittenkodex zu schützen, dämonische Einflüsse zu vertreiben und alle Bösewichte dieser Welt hart zu bestrafen, jenen aber Gunst erweisen, die sich an die Regeln halten (PKS 7.1). Für sie wird Varahi eine segensreiche protektive Kraft, die zur Erlangung vollkommener Autonomie und Furchtlosigkeit führt. Bereits ihr ambivalentes Bild zeigt, dass Varahi nicht das reine Gegenstück zu Lalita ist. Ich habe weiter oben schon darauf aufmerksam gemacht, dass ihr Ritualdiagramm, das eigentlich nichts mit der Juweleninsel zu tun hat, ebenfalls als Juweleninsel vorgestellt werden soll. Bemerkenswerterweise ist es auch gerade die düstere Varahi, deren Sakti-puja am ausführ-

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lichsten und erotischsten beschrieben wird. Sakti-puja besteht hier nicht aus der Verehrung nur einer schönen Frau als göttliche Sakti („Macht“), vielmehr sind es drei schöne Mädchen und ein Junge, die die Ritualpartner darstellen und Gottheiten verkörpern. Dass Eros/Schönheit und Horror/Schrecken keine Gegensätze darstellen, wird hier in der Verbindung erotisierender Ritualhandlungen mit Vorstellungsbildern furchterregender Gottheiten deutlich: Er rufe drei Saktis in voller Jugendblüte, die von (großer) Schönheit und völlig betörend sind, und einen Jungen herbei, verehre sie, bade sie und schmücke sie mit Duft usw. Eine Sakti stelle er in die Mitte in der Vorstellung, sie sei Vartali [Varahi], die zwei weiteren zu beiden Seiten, in der Vorstellung, sie seien Krodhini [„die Zornvolle“] und Stambhini [„die Erstarren Bringende“], und den Jungen davor in dem Gedanken, er sei Candoccanda [eine besonders furchterregende Form Sivas]. Mit allen Substanzen erfreue er (diese). [Dabei soll er denken:] ‚Möge ich Perfektion im Mantra der Varahi erlangen‘. Und sie sollen antworten: ‚Die [diesem Ritus] vorstehenden Gottheiten mögen Gefallen finden!‘ (PKS 7.36, übers. in Anlehnung an Weber 2010: 400)

Nicht so sehr diese sinnliche Inszenierung als die intensive MantraRepetition (purascarana), die im Anschluss stattfinden soll (PKS 7.37), ist nach dem Kommentator Ramesvara das alles Entscheidende. Erst die langjährige und ununterbrochene Mantra-Praxis bewirkt nach ihm Mantrasiddhi, die Perfektion oder Vollkommenheit im Mantra der Varahi, was nichts anderes heißt, als die vollkommene Einverleibung der Kräfte und protektiven Macht dieser Göttin. Darauf verweist auch das letzte Sutra des Varahi-Zyklus: Dann [nach der oben beschriebenen rituellen Verehrung] verbinde er die verehrte Göttin mit seiner eigenen Seele [nehme sie in seinen Herzlotus auf]. Sich ungezwungen vergnügend und die Befehlsvollkommenheit erreicht habend verweile er glücklich. So (ist es) glückverheißend. (PKS 7.38, Weber 2010: 401)

Man sieht, wie sich die gewalttätige „Varahi-Atmosphäre“ zuerst in die ästhetische Stimmung der Lalita verwandelt, um dann in ernsthafter Mantra-Praxis zu münden mit dem Versprechen uneingeschränkter Autonomie, Kontrolle und Seligkeit als Frucht der Übung. Ramesvara betont in seinem langen Kommentar zu PKS 7.38, dass ausgiebige Mantra-Repetition (purascarana) sich an die Verehrung aller Gottheiten anschließt und es viele Jahre konstanter Übung braucht, dass aus dem nach Vollkommenheit Strebenden (sadhaka) ein Vollkommener (siddha) wird, der über übernatürliche Macht und ein befreites Sein im Hier und Jetzt verfügt und alle Begrenzungen von Zeit, Raum und Materie überwunden hat. Von besonderem

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Interesse an Ramesvaras Darstellung ist zum einen der eminente Stellenwert, der der ausschließlichen Fokussierung, Konzentration und Wiederholung (der Mantras) als transformative Kräfte zugemessen wird, und zum anderen, wie sich die Imagination einer wunderbaren virtuellen Welt, in der es keine menschlichen Limitationen mehr gibt, in die phänomenale Wirklichkeit hinein verlängert und sich die Virtualität des imaginative Modus in Realität verwandelt – und dies nicht nur im subjektiven Empfinden und Erleben, sondern auch in einem sichtbar neuen Habitus und einer radikalen Persönlichkeitsveränderung, die intersubjektiv wahrgenommen wird und sich mit Bildern des „Leuchtens“ und physisch spürbarer „Ausstrahlung“ charakterisiert findet. Darin sieht Ramesvara offenbar eines der allen sichtbaren Zeichen, wie der körperlose höchste Siva in alle Körperglieder eingegangen ist und wie sich das strahlende Licht der Para im Alltag umsetzt. 4. Verstehen und Erklären von Imagination – Imaginationstheoretische Perspektiven auf religionshistorisches Material Ziel dieses Bandes ist, Imagination als ‚critical term‘ der Religionsästhetik bzw. als metasprachlichen Begriff und analytische Kategorie der Religionswissenschaft herauszuarbeiten. Erklären steht damit im Vordergrund und nicht primär Verstehen. In meinem Artikel suche ich beides zu verbinden und dies ist meinem religionshistorischen Material geschuldet, das Imagination bzw. Imaginieren rituell, poetisch, philosophisch, experimentell und selbstreflexiv einsetzt und der wirklichkeitserzeugenden und verändernden Macht des imaginativen Modus eine herausragende Bedeutung zumisst. Damit bietet das PKS reichhaltiges Anschauungsmaterial wie auch Analyseangebote. Ein nicht gering zu schätzender Vorteil ist dabei, dass meine Begrifflichkeit ‚aktive Imagination‘ nicht nur eine wissenschaftliche ‚Erfindung‘ und ein analytisches Werkzeug darstellt, sich vielmehr auch mit der tantrischen Selbstbeschreibung deckt, wo sich die Technik aktiver Imagination in emischen Termini wie kalpana, kalpyate, upasate, nyasate, krodhini-stambhini-buddhya etc. ausdrückt: man soll x auf y „projizieren“, „visualisieren“, „übertragen“, sich bestimmte Dinge „vorstellen“, etwas als etwas anderes „betrachten“ etc. Solche imaginativen Praktiken codieren die normale Alltagswelt um und konvertieren sie in etwas anderes, etwas Außergewöhnliches und erlauben damit eine aktive Teilhabe am sakralen Kosmos. Dies tut natürlich auch bereits rituelle Imagination in der ganz normalen puja-Praxis, doch gehen aktive Imaginationen über diese hinaus. Sie beginnen, wo diese aufhört, bringen zusätzliche Riten und Semiotisierungen ein, unterlegen den üblichen puja-Praktiken einen tieferen esoteri-

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schen Sinn, bereichern sie durch kontemplative Übungen und verschmelzen Ritual und Kontemplation. In all ihren Ausdrucksformen ist aktive Imagination eine bewusst eingesetzte Technik mit dem Ziel der Transformation. 4.1. Eine Typologie der Performativität aktiver Imagination im PKS Meine Darstellung ritueller und aktiver Imaginationen im PKS war nicht nur deskriptiv, sondern auch interpretativ im Sinne einer „dichten Beschreibung“ und Kulturhermeneutik. Ich habe in diesen verstehenden Ansatz, der sich u. a. Clifford Geertz verdankt, aber auch erklärende analytische Passagen eingeflochten, die anhand imaginationstheoretischer Überlegungen einen distanzierteren Metastandpunkt einbrachten. Mein Hauptziel bestand darin, die Anwendungskontexte und Funktionsweisen und -arten aktiver Imagination im PKS zu beleuchten und hier ergab sich ein weites Feld, das an dieser Stelle nur noch einmal hinsichtlich Performativität und Effizienz – Leistungs- und Wirkcharakter – stichwortartig umrissen werden soll. Aktive Imagination dient 1. der De-Fokussierung bzw. Auflösung des alltäglichen mäandernden Gedankenflusses, der Wünsche, Planungen, Hoffnungen, Ängste etc. durch Re-Fokussierung auf gefühlsstarke innere Bilder (Juweleninsel etc.), sensuelle Riten (5 M), Atemkontrolle und den Körper und Geist fokussierende und umcodierende kontemplative Übungen („Siva bin ich“, „die Göttin bin ich“; Körpercakras); 2. der Schaffung ritueller Rahmungen und einprägsamer physio-psychischer Welten und Koordinatenysteme (Initiation, Morgenandacht); 3. der Verbindung und Verwandlung von Innen- und Außenwahrnehmung (Körpercakras und ihre Manipulationen, etc.); 4. der Präsentmachung von Unsichtbarem und damit der Transaktion, Kommunikation, Begegnung und unmittelbarer Erfahrbarkeit transzendenter Entitäten, den Gottheiten, wobei im kulturellen Kontext Indiens nicht nur und nicht primär Bilder und Sprachbilder die Präsenz bewerkstelligen, sondern ganz wesentlich und zuallererst non-semantische Klänge (Samen-Mantras); 5. der Heiligung und Vergöttlichung des eigenen Körpers und der SelbstSakralisierung und Selbsttransformation (Cakra-Kontemplationen; bhuta-suddhi und nyasa mittels Mantra-Praktiken; beständige MantraRepetition);

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6. der Erschaffung der Gottheiten im Geist, ihrer Verlebendigung im eigenen Inneren (dhyana) und der Animation lebloser Kultbilder (murtikalpana); 7. der Versinnlichung abstrakter Vorstellungen und Ideenwelten durch die Kreation intensiver innerer Bildwelten (Siva-Sakti-Symbolik, Sricakra und Juweleninsel, erotische und schreckenerregende Göttinnen, Para als höchstes Licht; Auflösung der Welt im Weltenfeuer des „Bewusstseinslichts“); 8. der Umcodierung, Vergeistigung und „Hierophanisierung“ konkreter Gegenstände und natürlicher Prozesse (Alkohol als Unsterblichkeitsnektar; Trunkenheit als Gottergriffenheit; Geschlechtsverkehr als Mimesis von Siva-Sakti); 9. der Vernetzung und Homologisierung unterschiedlicher Sinndomänen und disparater Gegenstände durch Assoziationsketten und die Schaffung homologer Bezüge und Bezugssysteme (Erotik und Sprache; Vereinheitlichung divergenter Göttinnen, etc.); 10. der Transzendierung der Alltagswelt durch virtuelle Parallelwelten, normierende Dispositive, metaphorische Dichte, phantasieanregende Stimuli und imaginative Verstärker (Juweleninsel, Eros und Horror, Weltenbrand, etc.); 11. der Verstetigung der Welt des imaginativen Modus und ihrer Verlängerung in den Alltag hinein, d. h. der Überführung von Virtualität in Realität, durch Fokussierung, Aufmerksamkeitslenkung, Konzentration, beständige Übung und Wiederholung (Mantra-purascarana, tantrischer ‚Superman‘); 12. der Schaffung eines neuen Bewusstseins, das eine neue Körperwahrnehmung ebenso wie eine denkbar weite Ausdehnung des Innenraums umfasst (Sivawerdung in allen Körpergliedern; Erfahrung von Unbegrenztheit; „Befreiung zu Lebzeiten“). In all diesen Kontexten erscheinen die diversen Imaginationspraktiken als machtvolle Technologien des Selbst, als Mittel der Transzendierung der Alltagswelt und als ‚ways of world-making‘. Der Großteil dieser Modi der Welterzeugung bestätigen und verstärken nicht nur die bestehenden kulturellen mental maps, sondern recodieren sie, fügen neue hinzu oder etablieren regelrechte Gegenwelten. Mit der Neusemiotisierung eröffnen sie einen Raum neuer, phantastischer und ungeahnter Möglichkeiten. Auffallend ist die imaginative Fähigkeit, scheinbar Disparates und Gegensätzliches zu verschmelzen – Geist und Körper, Abstraktion und Sensualität, strenge

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Ritualistik und Poesie, Virtualität und Realität, Zeit und Ewigkeit. Um es auf einen kurzen Nenner zu bringen: Aktive Imaginationen dienen im PKS primär dazu, das Geistige zu verkörpern und sinnlich zu erleben und umgekehrt das Materielle zu beleben und das Körperliche zu vergeistigen. Indem sie Innenwelt und Außenwahrnehmung verbinden, neu aufeinander beziehen, umcodieren und entdifferenzieren, schaffen sie eine eigene Ontologie und Performativität. Aktive Imaginationen sind deshalb geeignet, andere Wirklichkeiten zu erzeugen, wahrzunehmen und zu erleben und außerordentliche Erfahrungen zu stimulieren, aber auch neue Verhaltensformen einzuüben. Imaginative Modi erlauben ein Hinüberwechseln in andere Zeiten und Räume und erzeugen deshalb auch neue Erfahrungsqualitäten und Transformationen in der Selbst- und Weltwahrnehmung und im Habitus und Verhalten. Die aktiven Imaginationen im PKS dienen nicht nur der Stimulierung außeralltäglicher Erfahrung, sondern auch der geistigen Disziplinierung. Ich glaube, diese Beobachtungen sind generalisierbar, wobei man sich der Kontinuität und Differenz von beständig mitlaufenden Imaginationen – wie kulturellen Symbol- und Bildwelten, Narrationen, konventionellen Hierarchien, rituellem Wissen, rhetorischen Topoi, Alltagsmythen, individuellen und kollektiven Wunschträumen, Phantasien, Klischeevorstellungen etc. – und aktivem Imaginieren als intentionaler Lenkung der Vorstellungskraft, kreativem Instrument und Technik der Transformation bewusst sein muss. Die Tantriker wussten offenbar recht genau, wie Imagination funktioniert und was sie bewirkt. Meine etisch-analytische Begriffsdefinition ist lediglich die abstrakte Fassung dessen, was im PKS performativ genutzt und in immer neuen Variationen eingesetzt wird, um eine außeralltägliche Wirklichkeit zu erzeugen und das Geistige zu verkörperlichen und den Körper zu vergeistigen. Imagination, so schlage ich vor, verbindet sinnliche Wahrnehmung und geistige Vorstellungswelten (subjektiver und kollektiver Art) und erschafft durch wechselseitige Überblendung einen neuen Wahrnehmungsraum. Dieser Imaginationsbegriff nimmt partiell die Imaginations-Theorien von Pruyser (1983) und Schwarte (2006) auf und erklärt die Funktionsweise und Transformationsfähigkeit von Imagination mit cognitive blending und neurowissenschaftlichen Theorien (Fauconnier/Turner 2008 u. a.; Sörensen 2007; Bulkeley 2005). Gemeinsam ist all diesen Theorien, dass sie Imagination nicht so sehr im landläufigen Sinne mit subjektiven, autistischen Phantasieprodukten und irrealen Fiktionen, sondern primär mit der Gesamtkultur und kreativen Leistungen in Verbindung bringen. Die Theorien sind wichtig, um zu verdeutlichen, dass sich Imagination nicht nur auf subjektive Relevanzsysteme bezieht.

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4.2. Erklärungsmodelle von Imagination Zu den Theoretikern, die die Symbolbestände des kulturellen Gedächtnisses als kollektive (kognitive) Imaginationen verstehen, gehört der Psychoanalytiker Paul Pruyser. Für ihn gibt es drei maßgebliche Referenzpunkte, images und imagination zu bedenken (Pruyser 1983: 2): 1. die Außenwelt (external reality) und ihren Einfluss auf das menschliche Denken und Fühlen (human mind); 2. das Denken (human mind) selbst bzw. die menschliche Fähigkeit, mentale Bilder zu formen, die auf unterschiedliche Weise die Stimuli der Außenwelt speichern, replizieren, modifizieren, erweitern, verzerren, verfälschen oder gar Substitute erschaffen für Dinge, die man in der Außenwelt vermisst. Solche Kompensationen reichen nach Pruyser von privaten Phantasiewelten bis hin zu den kollektiven Erzeugnissen der Kultur (Religion, Kunst, Literatur, aber auch Wissenschaft!). In letzteren sieht Pruyser einen dritten, eigenständigen Referenzpunkt für Bildweltproduktion und Imagination, da kulturelle Symbolsysteme über Generationen tradiert eine eigene Welt darstellen, die sowohl die natürliche Außenwelt wie auch die subjektiven inneren Phantasiewelten transzendiert. Nach Pruysers psychoanalytischer Kulturtheorie sind alle kulturellen Ausdrucksformen selbst „imaginal representations“ oder „illusions“, die einen „culturally successful use of the imagination“ darstellen (Pruyser 1983: 166). Auch religiöses Lernen besteht deshalb maßgeblich in „acquiring skills in illusion processing of a particular kind“ (ebd.). Illusion ist hier nicht negativ belegt und zur realen Welt in Opposition gesetzt wie noch bei Freud, sondern als ein dritter Raum oder eine „transitional sphere“ (Winnicott) zu verstehen, in der Kreativität und das Denken (mind) als aktive, produktive und adaptive Entität ins Zentrum rücken. Imagination ist nach Pruyser immer primär verbal zu verstehen, als ein Imaginieren, das nicht einfach abbildet, sondern evoziert und produziert, d. h. Bilder von Dingen formt, die i. d. R. nicht der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich sind (Pruyser ebd. 6). Ähnlich argumentiert der Kunstgeschichtler Ludger Schwarte (2006: 93), er legt seinen Fokus aber stärker darauf, dass Imagination mehr als ein kognitives Vermögen ist, vielmehr ein soziales und kreatives Handeln, das überall relevant wird, wo es gilt, soziale Rollen zu übernehmen, sich zu orientieren und Handlungen, Räume und Zeiten zu strukturieren und aufeinander zu beziehen. Die „in einem sozialen Netz investierte und ausgetauschte Imagination schafft die Grundlage für eine symbolische Ordnung und ermöglicht es, diese zu verändern“ (Schwarte 2006: 93). Entgegen einer verbreiteten Auffassung, die auch Pruyser zu vertreten scheint, dass „Imagination als Entwicklung symbolischer Muster angesehen werden kann, die unsere Erfahrung strukturieren“, wendet Schwarte ein, dass dann

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eine Veränderung von Symbolen gar nicht denkbar sei (ebd. 102). Imagination müsse vielmehr als kreative Leistung verstanden werden, die Erscheinungen und Bilder produziert, rekombiniert und transformiert und zwar nicht nur in subjektiven Intuitionen, sondern auch in kollektiven Performanzen: „Die Imagination transformiert Dinge in Symbole, schält Aspekte aus Gestaltungen, rekombiniert und objektivier‘t sie“ (ebd. 102). Nur damit sei die Potenzialität der Imagination, Unvorhergesehenes ins Spiel zu bringen und damit auch die Möglichkeit der Veränderung von Symbolen überhaupt erklärbar. In imaginativen Prozessen wirken nach Schwarte (ebd. 97) immer drei Aspekte zusammen: 1. Schemen sozialen Handelns, 2. imaginative Dinge und 3. die „Architektur der Präsentation“. Auch bei mystischen Erfahrungen braucht es die äußere Situation, d. h. ein bestimmtes Arrangement von Dingen, die sich dem Subjekt als Imaginationsangebote für die außergewöhnliche Erfahrungen anbieten (ebd. 101). Zentral für jede Imagination ist das, was sich zwischen den (imaginativen) Dingen und den Betrachtern/Rezipienten abspielt, denn es sind die Subjekte (Einzelpersonen und Kollektive), die Sichtweisen und Bedeutungen erst aushandeln und die „Spuren“ der Intuition und der Evokation des Mediums (des Arrangements imaginativer Dinge) „erfüllen“ (ebd. 97). Besonders relevant für den PKSKontext sind Schwartes Überlegungen zu imaginativen Dingen: Imaginative Dinge bedingen die Inszenierungen von Präsenz und machen das zuvor Unsichtbare sichtbar… Die imaginative Interaktion involviert also nicht nur humane Akteure, sondern auch Dinge, denn diese koordinieren die Sichtbarkeit dessen, was erscheint… Imaginative Dinge sind Versammlungen von Qualitäten, die es Akteuren erlauben, in das Unsichtbare, Unwissbare und Unvorhergesehene hinüber zu wechseln. Die Grenze der Erscheinungen ist die Bühne, auf der die imaginativen Prozesse stattfinden. (Schwarte 2006: 93−94)

Die Arrangements imaginativer Dinge haben also selbst eine eigene agency und Performativität und kanalisieren Denken und Fühlen, zugleich aber sind sie interpretationsoffen und enthalten immer auch Leerstellen, die der Rezipient imaginativ ausfüllt und etwas sieht, „das gar nicht so ist“ und es erschafft, indem er sieht (Schwarte ebd. 103). Pruysers Kulturtheorie und Schwartes Bildtheorie sind auch für die Kommunikationsmodi von Ritualen zutreffend. Sie erklären, was ich „rituelle Imagination“ genannt habe. Auch Rituale sind Versammlungen imaginativer Dinge. Sie enthalten Leerstellen, die die Imagination auffüllt, und Lenkungspotenziale, die freies Assoziieren einschränken. Nur partiell erklären die Theorien jedoch die Funktionsweisen der aktiven Imagination. Als implizite Konsequenz ergibt sich jedoch ein interessantes Paradox. Zum

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einen finden wir bei der aktiven Imagination die bewusste Einsetzung der Einbildungskraft und ein Imaginierenwollen. Die von Schwarte so stark betonte kreative Leistung des Produzierens, Rekombinierens und Transformierens wird hier bewusst und methodisch eingesetzt. Zum anderen kann man aber aktive Imagination auch als stärkere Lenkung auf die ästhetische und spirituelle Botschaft, höhere Kontrolle des Freiheitsraums und größtmögliche Einschränkung der Wahlmöglichkeiten charakterisieren – oder anders ausgedrückt als eine Reduktion der Leerstellen und eine Einschränkung freien Assoziierens und situativen Adaptierens. Was zwischen den Dingen und ihrer Präsentation und dem Betrachter zu passieren hat, wird methodisch geleitet und gelenkt. Die kontrollierte Führung und Einschränkung des Freiheitsraums hat im PKS ein soteriologisches Ziel, das sich interessanterweise gerade in der eigenen Fähigkeit absoluter Kontrolle und vollkommener Autonomie und Freiheit ‚erfüllt‘. Welche Mechanismen die ästhetische und spirituelle Erfahrung eines Raums unbegrenzter Freiheit und Glückseligkeit herbeiführen bzw. wie die Technik aktiver Imagination zur Transformation führen kann, wird durch Theorien kognitiver Überblendung und neurowissenschaftlicher Untersuchungen besser erklärt. Mein Definitionsvorschlag, Imagination als einen dritten Raum zu verstehen, der Dinge der wahrnehmbaren, physischen Welt und mentale, nicht sinnlich wahrnehmbare Welten miteinander in der Weise verknüpft, dass sie sich wechselseitig durchdringen und genau aufgrund dieser wechselseitigen Inhärenz Neues entsteht, ist strukturell von Theorien des cognitive blending inspiriert. Diese Theorien befassen sich nicht primär mit Imagination und mit Ausnahme von Sörensen (2007) auch nicht mit Religion. Sehr stark betont aber werden Metonyme und Metaphern bzw. deren kognitionswissenschaftliche Rezeption (Lakoff/Johnson 1980; Johnson 1987; Panther/Radden 1999; Schüler in diesem Band). Hier sollen sie „conceptual integration networks“ erklären, in welchen „blends“ und „hyperblends“ unterschiedliche Dinge und Domänen integrieren, die normalerweise nicht interagieren würden. Dieses Strukturmuster, so die These der cognitive blending-Theoretiker, erlaubt neue Inferenzstrukturen, die wiederum in die „input spaces“ zurück exportiert werden. Genau in diesem engen Wechselspiel dichter Überblendungen entstehen neue Entitäten und Erfahrungsmuster. Nach dieser Theorie spielen in Überblendungsprozessen Metonyme und Metaphern eine herausragende Rolle, da sie in effektiver Weise „blended spaces“ etablieren. Genau aufgrund dieser Funktion sind sie zweifellos auch machtvolle Mittel der Imagination: Sie verbinden körperliche und mentale Felder – und im Religiösen auch profane und sakrale Domänen – und sind, um die Sprache der Kognitionswissenschaftler aufzunehmen, fähig, interak-

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tive „hyperblends“ auf mehreren Ebenen zu erzeugen. Das PKS konstruiert ein Netzwerk metaphorischer Kartographie und metonymischer Bezüge, sodass zahlreiche Relationen und Inhärenzen zwischen den einzelnen Göttinnen wie auch zwischen Gottheit und Verehrer entstehen. Am explizitesten ist die kognitive Verschmelzung mit der Gottheit im Para-Zyklus, der nur aus imaginativen Akten besteht. Aber hier stoßen die Metapherntheorien auch an ihre Grenzen. Die tantrische Philosophie und Ritualkunde hat nicht nur reichen Gebrauch von Metaphern und Metonymen gemacht, sondern auch intensiv über das Bewusstsein als einem Ort der SelbstTranszendenz, der das diskursive Denken übersteigt, nachgedacht, und dies rituell inszeniert und durch Visualisationen, Mantra-Praktiken und kontemplative Übungen herbeizuführen versucht. Hier reichen Metonymie und Metaphorik nicht aus, um dem kulturellen Sinn gerecht zu werden. Besser als die blending-Theorien beleuchtet die Cognitive Neural Science (CN) diesen Aspekt, da nicht wenige ihrer maßgeblichen Vertreter Bewusstsein (consciousness) als zentrales Forschungsobjekt ins Zentrum rücken (Bulkeley 2005: 150). Von Vorteil ist ferner, dass sich hier auch empirische Untersuchungen finden, während cognitive blending bislang nur als wissenschaftliches Modell existiert und die Synthese- und Synchronisationsfunktionen des Bewusstseins und das Wechselspiel der „back-and-forth interactions and feedback-loops“, das die blending-Theorien annehmen, neurowissenschaftlich alles andere als geklärt sind (ebd. 151). Anstatt eines großen Synthese-Designs scheinen im Cortex verschiedene, noch nicht ausreichend erforschte Strategien am Werk, die ein „integrated visual image“ kreieren, weshalb die CN-Forschung dazu übergegangen ist, komplexere Modelle für die Einheit des Bewusstseins anzunehmen und sich wegbewegte „from a narrow census of the neural tree to a wider appreciation of the cortical forest“ (ebd.). In dieser neueren Ausrichtung, wie sie u. a. Eric Kandel vertritt, ist Intentionalität bzw. „the crucial role of selective attention in human consciousness“ in den Fokus der Aufmerksamkeit gekommen und damit „a focus on focussing, concentration on concentration“ (Bulkeley 2005: 151 f.). Diese Ausrichtung ist zweifellos auch sehr relevant für aktive Imagination und Religion, zumal die Fragestellung eine Reihe von Neurowissenschaftlern zu Untersuchungen von Gebet, kontemplativen Praktiken, Meditation, mystischen Erfahrungen und Besessenheitsphänomenen führten und teilweise verbundenen Phänomenen wie Placebo-Effekten. Die diversen empirischen Tests und Methoden der „Neuro-Imagination“ betrafen hauptsächlich christlich-charismatische, buddhistische und hinduistische/neohinduistische Untersuchungsgruppen. Sie waren nicht interessefrei, da die Wissenschaftler zumeist selbst Praktizierende waren. Selbst metho-

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dologische Probleme eingeschlossen, scheint sich jedoch deutlich abzubilden, dass die untersuchten Praktiken im Gehirn (Hirnregionen und -wellen) und dem geistigen und sinnlichen Wahrnehmen klare Spuren hinterlassen und unterschiedliche Praktiken unterschiedliche Resultate (wie Beruhigung, Stressminderung, Heilung, verschiedene veränderte Bewusstseinszustände etc.) erzeugen (Bulkeley 2005: 151−176). Bei aller Verschiedenheit scheint ein gemeinsames Strukturmerkmal zu sein, dass in kontemplativen Praktiken (wozu Bulkeley auch Visualisationen und Mantra-Repetitionen zählt) das Bewusstsein „rekonditioniert“ wird „by intentionally altering the ‚synthetic operations of the mind‘“ oder in der CN-Terminologie ausgedrückt durch „decentering and recentering the dynamic relationship between different neural systems“ (ebd. 164−165). Nicht nur im religiösen, sondern auch im therapeutischen Bereich wurden durch derartige konzentrative Übungen Effekte erzielt. Ein vier Schritte-Programm „Relabel, Reattribute, Refocus, Revalue“ beispielsweise ermöglichte es Patienten, von zerstörerischen, pathologischen Ideen zu positiven und heilvollen überzuwechseln (ebd. 155). All dies ist offensichtlich auch für die diversen Übungen aktiver Imagination und das Heilsversprechen im PKS relevant und will man den von Kelly Bulkeley herangezogenen Meditationsforschungen glauben, so gehören zu den Transformationen Dinge wie eine Abnahme von „fear-detection circuits“ im limbischen System, positive emotionale Zustände, eine Stärkung des Immunsystems, mystische Erfahrungen von Zeit- und Raumlosigkeit, ein „clear and vivid consciousness of no thing“ und gleichzeitig ein Gefühl, dass alles mit allem vernetzt sei und ein nicht-differenziertes Ganzes bilde (ebd. 155−157). Zu Recht kritisiert jedoch Bulkeley bestimmte Tendenzen, eine universelle mystische Erfahrung oder einen „blank state“ als Höhepunkt religiöser Erfahrung zu behaupten. Gerade die Studien zu Yoga-Nidra (Lou 1999) und Kundalini-(Körperchakra-)Meditation (Lazar 2000) – die am meisten affin zu den PKS-Praktiken sind – zeigten deutlich: Different types of contemplative practice produce different patterns of brain-mind activation, and, thus, different pattern states of consciousness. No one supreme state of mystical awareness exists toward which all practices strive; rather, multiple modes of extraordinary consciousness are produced by a variety of techniques, each of which is deeply rooted in the unique soil of a distinct psychological, cultural, and religious context… Contemplative practices genuinely transform the brain-mind system. Different practices change consciousness in different ways, and the more energy one puts into a contemplative practice, the greater will be its transformational effects… What religious devotees experience is not the universal ‚ground‘ of consciousness but rather the creative outcome of a particular kind of contemplation, practised by a particular individual, in a particular life historical context. (Bulkeley 2005: 165, Kursivsetzung ebd.)

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Obgleich die Untersuchungen westliche Praktizierende betrafen, ist nach dieser Aussage die Wahrscheinlichkeit relativ hoch, dass aktive Imaginationen, wie sie das PKS vorschreibt, ihre tägliche Wiederholung in der pujaPraxis und die langjährigen Mantra-Repetitionen profunde transformative Wirkungen haben. Diese geschehen auf mehreren Ebenen, wie sich aus den Studien von Lou und Lazar schließen lässt, die Bulkely für die seriösesten hält: In 1999 Hans Lou and colleagues used a PET technique to study the brain functioning of a group of highly experienced yoga teachers during a relaxation meditation (Yoga Nidra). The meditation involved listening to an audiotape providing 45 minutes of guided imagery, with the subjects attending sequentially to their bodies, abstract joy, visualization of a beautiful nature scene, and visualization of an abstract perception of the self… The PET scanning revealed heightened activation in exactly those brain systems corresponding to the guided imagery… Of particular significance, Lou et al. found that the subjects’ brains showed a selective deactivation of those prefrontal regions involved in the executive functions of volition, selective attention, and goaloriented action… In 2000, a study by Sara W. Lazar et al. used the fMRI technique to study the brain activation patterns of a group of subjects who had practiced Kundalini meditation daily for at least four years. The Kundalini technique is similar to the relaxation response … insofar as it involves close attention to one’s breathing, silent recitation of a mantra, and a passive attitude toward intruding thoughts and feelings. Here again the brain imaging data revealed patterns of activation directly related to the distinctive aims of the contemplative practice… Lazar et al. further discovered that this distinctive pattern of neural activation became more pronounced the longer the meditation went on: ‚These findings suggest that neural activity during meditation is dynamic, slowly evolving during practice‘. (Bulkeley 2005: 164−165)

Dieser Befund belegt die Macht der Techniken und methodischer Aufmerksamkeitslenkung. Die je nach Fokussierungsgegenstand (mentale Prozesse, Körper, szenische Bilder, abstrakte Gegenstände, Mantra-Klänge, etc.) verschiedenen Wirkungen im kognitiven Haushalt könnten erklären, inwiefern das PKS, das ein ähnliches Ensemble kontemplativer und körperlicher Techniken und Fokussierungsgegenstände versammelt, von „Gottwerdung in allen Körpergliedern“ sprechen kann. Während der neurowissenschaftliche Befund suggeriert, dass gleiche Techniken transkulturell dasselbe bewirken, zeigt die emische Wendung, dass der Blick auf die reine Technik und Ästhetik/aisthesis und neuronale Prozesse defizitär bleibt, wenn nicht auch die Interpretationsrahmen in den Blick genommen werden, die das Erleben einordnen und mit Sinn belegen und bereits in die Techniken selbst mit einfließen. Dies mitbedacht, bleibt es eine spannende Frage, wie sich die transformativen neuronalen Effekte gegebenenfalls verändern, wenn der

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rituelle Bezugsrahmen und das ästhetische Arrangement der Dinge anders ist – z. B. im indischen Raum die gleichen Praktiken innerhalb einer pujaZeremonie stattfinden und in der USA ohne puja (aber z. B. in einer Gruppe, die den Anweisungen eines Audiotapes lauscht). Interessant ist ferner die partielle Übernahme und deutlich semantische und funktionale Umcodierung gleicher Praktiken, wie sie in der von Anne Koch untersuchten „White Eagle Lodge“ vorkommen (Chakra- und Licht-Fokussierung): Hier ‚manipuliert‘ die Therapeutin den Körper des Patienten in ähnlicher Weise wie der tantrische Guru den Adepten bei der Initiation (vgl. Koch in diesem Band). Man sollte darin nicht vorschnell therapeutische Funktionalisierung im Westen gegen religiöse Praxis im Ursprungskontext ausspielen, denn im alltäglichen Populärtantra der ‚Dorfschamanen‘ und ‚Stadttantriker‘ Indiens gibt es massenweise therapeutische Angebote für körperliche und psychische Leiden. Was diese Heilungsriten klassischerweise aber von der Münchner Gruppe unterscheidet, ist, dass Mantra-Riten das zentrale Heilinstrument sind und weniger die Visualisierung. Dies zeigt, wie relevant über die Kognitionswissenschaft hinaus das Studium der kulturellen und sozialen Kontexte bleibt, aber auch, wie anregend das indischtantrische Wissen um den Wert aktiver Imagination war, das über viele Transmissionskanäle – wie die Theosophie – und damit auch vielfach gebrochen in den Westen drang. 5. Ein Schlusswort Außer im psychotherapeutischen Bereich haben sich Imaginations-Theorien bislang wenig mit aktiver Imagination, Anleitungen zum Imaginieren und bewusster Aufmerksamkeitslenkung, beschäftigt und kaum reflektiert, dass Imagination als Technik der Verwandlung methodisch eingesetzt werden kann. Auffallend ist auch der starke Konnex von Bild und Imagination (image und imagination) in bisherigen Studien, während die anderen Sinne, Synästhetik, Motorik, Somatik, Spüren und Empfinden als Imaginationsproduzenten zwar meist nicht ausgeschlossen werden, aber deutlich zu kurz kommen. Wenig bearbeitet sind ferner kulturspezifische Wahrnehmungshierarchien und damit verbundene Hierarchien von Imaginationstechniken, für deren Untersuchung global angelegte vergleichende kultur- und religionswissenschaftliche Studien nötig wären. In diesem Artikel wurde aktive Imagination als Transformationstechnik anhand des PKS dargestellt und analysiert, einem Ritualmanual des heterodoxen Tantra. Das PKS war zur Zeit seiner Entstehung im Indien des 16. Jahrhundert eine Art Kompendium tantrischer Praxis und hat bis heute eine

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Wirkmacht entfaltet. Sehr deutlich zeigt sich am PKS, wie stark im tantrischen Ritual gezielt und multimedial (mit Klängen, Bildern, Diagrammen, Körpergesten, Alkohol, Sexualität, etc.) die Vorstellungskraft aktiviert und in bestimmte Bahnen der Wahrnehmung und Sinnerzeugung gelenkt wird. Mein Ziel war, dieses sehr reichhaltige Material aktiven Imaginierens vorzustellen und daran die Funktionsweisen und kreative Kraft der Imagination näher zu erläutern, ihre spezifische Fähigkeit, innere Vorstellungsbilder und sinnliche Wahrnehmung zu verknüpfen und dadurch neue Wahrnehmungsräume zu schaffen und eine Refiguration der Realität vorzunehmen. Im PKS wird von dieser Kraft sehr gekonnt und methodisch Gebrauch gemacht. Das Zusammenspiel von aktiven Imaginationen, Mantra- und Körperpraktiken und Kontemplationen im rituellen Prozess soll eine transformierte Selbst- und Weltwahrnehmung gemäß dem Erlösungsideal der Schule erzeugen. Ich habe vorgeschlagen, aktive Imagination als Technik einer bewussten Einsetzung der Vorstellungskraft und strategischer Aufmerksamkeitslenkung von ritueller Imagination als habitualisiertem, quasi unbewusstem Aufruf mitlaufender mental maps zu unterscheiden und meine, dies ist sinnvoll, auch wenn die Grenzen durchlässig sind. Gleichwohl bleibt es ein Unterschied, ob das Imaginieren selbst als Technik verwendet wird oder ob andere kulturelle Techniken die Imagination anregen. Die Tantriker entwickelten eine große Vielfalt aktiver Imaginationen, um auf Sinne, Körper, Emotionen und Intellekt gleichermaßen einzuwirken und sie mit dem Göttlichen zu verschmelzen. Bewusst eingesetzte Kreativität der Phantasie und Disziplinierung gehen im PKS Hand in Hand. Art und Inhalt des Imaginierens sind genau festgelegt. Damit wird sozusagen ein Methodenzwang für die bewusste, persönliche und ganzheitliche Aneignung bestimmter Vorstellungswelten und ihre Absorption im persönlichen Erleben geschaffen. Neurowissenschaftlich lässt sich von Refokussierungen sprechen, die Veränderungen im Erleben und Verhalten bewirken. Allerdings reichen die Erklärungsmuster Technik und neuronale Prozesse nicht aus, um die Deutung des Erlebens und die Art der Transformation zu erklären, die sich im PKS findet: ein Raum unbeschränkter Freiheit und Vollkommenheit und einer phantastisch anmutenden Entgrenzung von Bewusstsein und Körpererfahrung. Vergeistigte Körperlichkeit und verkörperte Geistigkeit und Göttlichkeit werden rituell inszeniert, um sich selbst und die Welt so wahrzunehmen, wie sie nach dem non-dualen Kaula-Weltbild in Wahrheit eigentlich sind und immer schon waren. Hier spielen kulturelle Schemata und Ideale eine entscheidende Rolle, die Anschlusskriterien und Interpretationsrahmen bereitstellen, das Erleben wünschenswert zu machen, einzuordnen und mit Sinn zu belegen, und die sich bis in die Wahl der Techniken hinein

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auswirken. Deutlich schöpft das PKS aus dem kulturellen Zeichenvorrat (Mantra-Macht, Siva und Sakti, non-duales Weltbild, Lebend-Befreiter). Die imaginative Praxis, die Ritual und Kontemplation zusammenbindet, trainiert die Seinsweise des „Vollkommenen“ (siddha) und „LebendBefreiten“ (jivan-mukta) an, der „in allen Körpergliedern“ vom „unkörperlichen“ allimmanenten Bewusstsein Gottes (Siva) und seiner schöpferischen Energie (Sakti) durchdrungen ist. Während die starke Inklusion des Körpers nur typisch für die Kaulas ist, ist das Bild des yogisch-tantrischen Superman, dem nichts unmöglich ist, weil er an göttlicher Allwissenheit und Allmacht partizipiert, tief im kollektiven Gedächtnis verankert – nicht als Fiktion oder Metapher, sondern als Fakt und reale Möglichkeit, bis hin zu benennbaren (mythischen und realen) Personen. Dies zeigt zum einen, dass sich aktive Imaginationen nicht nur zu rituellen und habituellen verfestigen können, sondern auch zu kollektiven Vorstellungen und gar physischen Realitäten werden. Zum anderen wird aber auch deutlich, dass die Kosmisierung des Körpers und menschlichen Geistes durch bestimmte Techniken im PKS sich bereits vorgängiger kultureller Schemata und Ideale bedient. Der öffentlich zugängliche Ritualtext geheimer Riten kommuniziert, evoziert und generiert nicht nur subjektiven Sinn und außerordentliche Erfahrungen, sondern auch ein objektiviertes‘ Codesystem öffentlicher Bedeutungen und intersubjektiv-sozial geteilter Interiorität. Im kulturellen Symbolsystem hat sich primär Mantra-Praxis durchgesetzt, während Visualisationenen (und heterodoxe Körperpraktiken ohnehin) kaum die engen Zirkel von Eingeweihten verlassen haben. Im sehr wirkmächtigen (fürstlich gesponserten) Saiva-Tantra wurde Mantra-Praxis schon seit dem 5. Jh. methodisch als Technik der Selbsttransformation eingesetzt und war mit der Herstellung von Vollkommenheit und der Erlangung paranormaler Fähigkeiten codiert. An den Mantras zeigt sich, dass die Grenzen zwischen aktiver und ritueller Imagination fluide sind und sich Kontinuitäten zwischen bewusster und habitualisierter Vorstellungslenkung und zwischen individueller und kollektiv geteilter Praxis finden. Es gibt tantraspezifische Mantra-Praktiken, die deutlich ins Feld aktiver Imagination fallen, der Normalfall, die Wiederholung kurzer, sakraler Formeln (auch außerhalb des Tantrismus), ist jedoch eher dem zuzuordnen, was ich rituelle Imagination nenne. Das aktivierte Vorstellungsbild besteht gleichermaßen in der Mantra-Macht unabhängig von der Intention des Sprechers und in der unmittelbaren Präsenz der Gottheit. Wenn das PKS die Macht der Mantras als „unausdenkbar“ charakterisiert, fasst es ein kulturelles Wissen zusammen, das als kognitive Landkarte bereits über Jahrhunderte in Indien präsent war und sich zunehmend bis hinein in den Volkshinduismus und dörf-

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liche Kulte ausgebreitet hat und auch stark mit dem Devotionalismus (bhakti) verschmolz. Intersubjektive Akzeptanz, öffentliche Verbreitung und Nachhaltigkeit imaginativ erzeugter Wahrnehmungsräume und transformierter Weltbilder hängen von ihren funktionalen Leistungen, sinn-, orientierungs- und kulturbildenden Potenzen, kulturellen Anschlussmöglichkeiten, Tradierungskanälen, sozialen Trägerschaften und Machtkonstellationen ab, aber auch von der ‚Ausstrahlung‘ und intersubjektiven Relevanz der imaginierten Dinge und ihrer Arrangements in sinnlich wahrnehmbaren ‚Architekturen‘ und nicht zuletzt von individueller und kollektiver körperlicher und geistiger Investition. Umgekehrt gründen soziale Repräsentationen und kulturelle Symbole immer auch auf imaginativen Akten. Repräsentationen sind nicht einfach Abbildungen, Deskriptionen oder Präsentationen von Etwas, vielmehr sind es interessegeleitete Produktionen und Konstruktionen, die wiederum selbst etwas tun: Sie erzeugen den Gegenstand, von dem sie handeln, d. h. geben ihm eine Form in der Weise, wie sie ihn behandeln. Ein gutes Stück Imagination ist hier im Spiel. Kulturelle Symbole und Gedächtniskulturen können deshalb auch als kollektive Imaginationen (imaginaire) verstanden werden, wie dieser Band in vielfältiger Weise belegt. Zum kollektiven imaginaire des hinduistischen Indiens gehört über das Tantra hinaus, dass die Grenzen zwischen Menschlichem und Göttlichem fließend sind, dass Bewusstsein mit Unendlichkeit codiert ist und Mantra-Klänge etwas in der physischen Welt bewirken können und vieles mehr. Dieser Zeichenvorrat und seine Rezeption im Tantrismus, der zwischen dem 5. und 13. Jahrhundert sogar kultureller Mainstream war, waren ein gutes Biotop, aktive Imaginationen in außergewöhnlicher Vielfalt und Dichte auszubilden. Literatur Primärquelle PKS. Weber, Claudia (Hg. u. Übers.): Das Parasurama-Kalpasutra. Sanskrit-Edition mit deutscher Erstübersetzung, Kommentaren und weiteren Studien. Frankfurt [u. a.]: Peter Lang, 2010.

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II. Imaginationsräume Adrian Hermann, Isabel Laack, Sebastian Schüler „Raum“ ist ein metaphorischer Begriff, denn er kann sich auf konkrete Räume beziehen wie auch auf abstrakte Gedankenräume und diese zugleich verbinden und ineinander übergehen lassen. Die Fähigkeit der Imagination bildet dabei nicht selten den Nexus der Räume, den „Ort“ der Entstehung von räumlicher Orientierung und von Imaginationsräumen. So beinhaltet bereits das der „Imagination“ nahestehende Wort „Vorstellung“ eine räumliche Dimension, indem sich etwas vor-gestellt wird; der vorzustellende Gegenstand tritt gleichsam vor das innere Auge, um ihn betrachten zu können. Imagination und Raum scheinen somit eng verbunden. Auch in religiösen und wissenschaftlichen Kontexten lassen sich Räume als konkrete, „sakral“ oder „profan“ konnotierte Räume, als Metaphern und als Wissenskategorien kaum wegdenken. Räume stehen dabei stets in der Spannung zwischen physikalischen, natürlichen, „faktischen“ Räumen und theoretischen, abstrakten, imaginierten Räumen. Mit „Raum“ assoziiert man häufig zunächst einmal den physikalischen Raum: von Menschen geschaffene, abgeschlossene Räume, wie in Häusern, sowie Landschaften und Geographien. Diese Räume werden vermessen und aufgeteilt, sie werden in Topographien, Territorien und Orte gegliedert und mit Bedeutung versehen und ihre physikalischen Eigenschaften werden mit narrativen und imaginativen Topoi verbunden. Mithilfe von Räumen als Kategorien und imaginierten Entitäten werden Grenzen benannt, Übergänge geschaffen, Identitäten konstruiert und gegebenenfalls Macht ausgeübt. Während die moderne westliche Wissenschaft lange von einer Natürlichkeit des Raums ausging, wurde diese im Zuge des spatial turn von postmodernen Kulturtheorien in Frage gestellt. Demnach sind Räume nur durch unsere sinnliche Wahrnehmung, die nun im Gegensatz zur Epistemologie der modernen Wissenschaft als subjektiv eingeschätzt wird, und mentale Kategorisierung zugänglich. Sie sind stets kulturell und sozial konstruiert und prägen umgekehrt wiederum die Wahrnehmung kultureller, sozialer und imaginierter Welten. Räume sind daher auch selten statisch, sondern unterliegen dem dynamischen Wechselspiel kultureller Aushandlungsprozesse. Dies führt allerdings auch dazu, dass insbesondere abstrakte Räume sich niemals direkt und in ihrem totalen Ausmaß erfassen lassen. Landkarten und andere Raummedien dienen nicht nur als Stütze unserer Vorstellung von Räumen, sondern sind an deren Konstitution als Imaginationsräume entscheidend beteiligt. Gleichzeitig ist entscheidend, dass diese imaginierten Welten

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vielerorts wieder materiell und physisch greif- und erfahrbar gemacht werden. Sei es durch die Materialität der Karte oder anderer physischer Gegenstände, die einen bestimmten Raum repräsentieren oder diesen als Artefakt füllen, oder sei es durch die physische und visuelle (auch virtuelle) Durchschreitung des Raums etwa bei Pilgerfahrten oder beim Surfen im Internet. Die sinnliche Aneignung von Räumen trägt zur Propriozeption, der Orientierung und Verortung in der Welt bei. Der Versuch, Räumen Materialität zu verleihen, dient darüber hinaus nicht selten auch als Strategie zur Normierung des Raums und des mit ihm verbundenen Wissens. Wissensräume können auf diese Weise besetzt werden und so soziale (Wahrnehmungs-) Räume konfigurieren. Um sich der Frage zu nähern, wie Räume wahrgenommen werden, muss die Rolle individueller und kollektiver Imaginationen genauso Berücksichtigung finden wie die ästhetischen und materiellen Ausdrucksweisen, mit denen Räume imaginier- und erfahrbar gemacht werden. Raum und Imagination verschränken sich in einem Wechselspiel von Gestaltung und Wahrnehmung, von Kulturproduktion und -perzeption. Räume und räumliche Vorstellungen bilden so auch eine kognitive Notwendigkeit in der Orientierung und Hervorbringung von Sinn, indem sie stets gestaltet und körperlichsinnlich wahrgenommen und angeeignet werden. Die in dieser Sektion vereinten Beiträge widmen sich vorwiegend – und auf je unterschiedliche Art und Weise – dem Zusammenspiel von Imagination und Raum. Dabei geht es weniger um eine Anwendung bestehender Raumtheorien (etwa aus dem topographical turn), sondern darum, aus der spezifischen Perspektive der Religionsästhetik nach der körperlichsinnlichen Wahrnehmung von Raum und der entscheidenden Bedeutung der Imagination in diesem Zusammenhang zu fragen. Im Mittelpunkt des ersten Beitrags (Laack) steht der „natürliche“ Raum der Landschaft in und um den kleinen südenglischen Ort Glastonbury, mit dem sich lokale Akteure auf unterschiedliche Art und Weise auseinandersetzen. „Imagination“ wird hier zu einer Schnittstelle zwischen der sinnlichen Wahrnehmung der Landschaft sowie den durch sie ausgelösten individuellen religiösen Erfahrungen zusammen mit kollektiven Interpretationsrahmen und religionsgeschichtlichen Bedeutungszuschreibungen an den Raum. Mit Hilfe der Imagination des Raumes „Glastonbury als spirituelles Zentrum“ wird eine kollektive Identität geschaffen, zu der sich die einzelnen Akteure durch ihre Handlungen im Raum in Beziehung setzen und die sie durch den Raum materiell und sinnlich erfahren. Im zweiten Beitrag dieser Sektion (Schüler) dienen die Gebetsräume der 24/7 Prayer-Bewegung als Orte des Gebets, das als imaginative Praxis verstanden wird. In den von religiösen Akteuren kontinuierlich gestalteten

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II. Imaginationsräume

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lokalen Räumen werden ihre Imaginationen nicht nur ästhetisch-sinnlich dargestellt und erfahrbar gemacht, sondern auch kanalisiert und erzeugt. Die so internalisierten Räume fördern die Kultivierung insbesondere moralischer Imagination (wie des Konzepts „Gerechtigkeit“) und werden somit handlungsleitend. Zugleich wird mit Hilfe von räumlichen und sinnlichen Metaphern die moralische Imagination greifbar gemacht und kollektive Identität zum Ausdruck gebracht. Der dritte und letzte Beitrag der Sektion Imaginationsräume (Hermann) beschäftigt sich mit kosmo-geographischen Imaginationen, die im Zentrum von Kontroversen zwischen christlichen Missionaren und buddhistischen Mönchen des 19. Jahrhunderts standen. Raummedien wie Landkarten, Globen und Kompasse dienten dabei als sinnlich erfahrbare materielle Repräsentationen des Weltbildes der modernen westlichen Wissenschaft. Sie wurden von den christlichen Missionaren als Mittel eingesetzt, die Buddhisten von der Überlegenheit der auf wissenschaftlichem Wissen beruhenden westlichen Raumvorstellungen zu überzeugen. Geographische und astronomische Imaginationen und Wissensbestände, ihre Interpretation und ihre sinnlich erfahrbare materielle Repräsentation stehen hier im Mittelpunkt kultureller und religiöser Identitätsdiskurse. In allen drei Beispielen zeigt sich die enge Verknüpfung von Imaginationsräumen mit Imaginationstechniken, -politiken und Imaginationsgeschichte(n). Während in Glastonbury rituelle Techniken wie das Pilgern gezielt zur Hervorbringung von Erfahrungen und dem sinnlichen Erleben der Imagination einer räumlich gebundenen kollektiven Identität eingesetzt werden, steht die Körpertechnik des Gebets im Mittelpunkt der Identität und der religiösen Praxis der 24/7 Prayer-Bewegung. Das in den spezifischen Räumen der Bewegung sinnlich und kreativ ästhetisch artikulierte Gebet wird zu einem Werkzeug der Anregung und Kultivierung moralischer Imagination und moralischen Handelns. In den Religionsbegegnungen des 19. Jahrhunderts sind es dagegen wissenschaftliche Raummedien, die als externalisierte Techniken zur Repräsentation von räumlichen Imaginationen verwendet werden. Die Normierung von räumlich-imaginativen Wissensbeständen und Handlungen spielt in allen drei Beispielen eine große Rolle. In der 24/7 Prayer-Bewegung wird moralisches Denken und Handeln nicht nur angeregt und kultiviert, sondern auch diszipliniert und ästhetisch-sinnlich normiert. In Glastonbury erzeugen kollektive Interpretationsrahmen zwar gewisse Einschränkungen und Vorgaben für das kreative Erleben Einzelner, es ist jedoch gerade die Vielfalt der Raumimaginationen, die lokale Akteure fasziniert und die erst zur Bildung einer verschiedene religiöse Traditionen übergreifenden kollektiven Identität führen konnte. Die Argumentation der christlichen Missionare in der Begegnung mit Bud-

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dhisten im 19. Jahrhundert zeichnet sich dagegen dadurch aus, dass dem modernen wissenschaftlichen Weltbild eine Aura der objektiven Faktizität verliehen wird und dessen Absolutheitsanspruch geltend gemacht wird. Geschichtliche Aspekte werden in den Transformationen deutlich, welche die Konfrontation mit der westlichen Kosmologie und deren Raummedien im Buddhismus auslöste. In Glastonbury hingegen stellt die Religionsgeschichte selbst einen zentralen Fundus für die lokalen Raumimaginationen und Identitätskonstruktionen dar. Imaginationsräume aus religionsästhetischer Perspektive vereinen in sich die Aspekte der sinnlichen Wahrnehmung wie auch kognitiver Vorstellungswelten, physikalische Eigenschaften von Räumen ebenso wie den materiellen Ausdruck von Imaginationen in Handlungen und Raummedien. Im Gegensatz zur kulturellen Produktion des Raumes will der Fokus auf Imaginationsräume die Bedeutung ästhetisch-sinnlicher Aspekte in der menschlichen Auseinandersetzung mit Räumen hervorheben. Imaginationsräume spannen sich auf zwischen dem Mensch als Einzelnem und im Kollektiv, zwischen sinnlicher Erfahrung, Ästhetik und Kultur, zwischen dem „natürlichen“ Raum und von Menschen produzierten Raummedien, zwischen Kreativität, Kultivierung und Normativität sowie zwischen Gegenwart und Geschichte.

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Glastonbury als spirituelles Zentrum Imagination einer religiösen Topographie zwischen sinnlicher Wahrnehmung und religionsgeschichtlicher Deutung Isabel Laack Im vorliegenden Artikel wird das theoretische Konzept der Imagination für eine Analyse der Interaktion lokaler Akteure mit der religiösen Topographie Glastonburys (UK) fruchtbar gemacht. Im Zentrum des Fallbeispiels steht die in den letzten Jahren zu beobachtende Bildung einer neuen kollektiven Identität, die Glastonbury und seine Bewohner als besonderes, religiöse Traditionen übergreifendes spirituelles Zentrum versteht. Für die Bildung dieser „imagined community“ sind die sinnliche Wahrnehmung des Raumes und seine religionsgeschichtliche Deutung zentrale Faktoren. Mit einem kulturwissenschaftlichen Imaginationskonzept, das von kulturgeographischen und religionsästhetischen Überlegungen beeinflusst ist, wird der Versuch unternommen, die Zusammenhänge zwischen Raum und sinnlicher Wahrnehmung, individuellen religiösen Erfahrungen und kollektiven Interpretationsrahmen sowie Bezügen zur Religionsgeschichte im Fallbeispiel zu erfassen.

Bevor das Konzept der Imagination durch die Tagung des Arbeitskreises Religionsästhetik an mich herangetragen wurde, stellte es keinen Referenzpunkt in meinem wissenschaftlichen Theoriehorizont dar. Mit dem Begriff „Imagination“ verband ich nur umgangssprachliche und alltagskulturelle Bedeutungen, die sich in einem Wortfeld mit Phantasie und Einbildungskraft befanden und Erinnerungen an alternative Heilungstechniken wie der Phantasiereise weckten. Die Auseinandersetzung mit den verschiedenen wissenschaftlichen Imaginationstheorien eröffnete mir eine neue Perspektive auf Aspekte menschlichen Handelns und Seins, die sich für meine religionsästhetischen Fragestellungen als fruchtbar erwies. Dem vorliegenden Artikel liegt die These zugrunde, dass mit dem Konzept der Imagination bestimmte Beobachtungen, die ich während meiner Feldforschungen im südenglischen Ort Glastonbury gemacht habe, besser erfasst und erklärt werden können als mit anderen Modellen wie z. B. dem „Diskurs“. Dies betrifft insbesondere den Prozess der Bildung einer neuen kollektiven Identität, einer „imagined community“ (Anderson 1983) , die sich auf die Vorstellung von Glastonbury als einem Ort besonderer spiritueller Bedeutung stützt und dabei (verschiedene) religiöse Traditionen übergreift. In der Analyse dieser komplexen Konstruktionsleistung religiöser Identitäten im Rahmen meiner Dissertation stellten sich die sinnliche Wahrnehmung des

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Raumes, in diesem Fall der Landschaft um Glastonbury, und seine religionsgeschichtliche Deutung als zentrale Faktoren heraus. Ungeklärt blieb jedoch der Zusammenhang zwischen Raum und sinnlicher Wahrnehmung, individuellen religiösen Erfahrungen und kollektiven Interpretationsrahmen, Gegenwart und Vergangenheit. Inwiefern sich das Imaginationskonzept zur Erklärung dieser Schnittstellen anbietet, wird im Folgenden erläutert. Dafür wird zunächst in vorhandene kulturwissenschaftliche Entwürfe eines Konzepts der Imagination eingeführt. Danach wird das Fallbeispiel vorgestellt: Zunächst wird eine Übersicht über das religiöse Feld von Glastonbury mit Interpretationen seiner Religionsgeschichte, gegenwärtigen religiösen Gruppen und Formen der Bindung an kollektive religiöse Identitäten gegeben. Anschließend wird nach einem Rückgriff auf kulturgeographische Ansätze zur kulturellen Konstruktion des Raumes die religiöse Topographie des Ortes beschrieben. Dazu gehört eine Schilderung typischer sinnlicher und übersinnlicher Erfahrungen, die lokale Akteure an drei zentralen Punkten der Topographie erleben: auf dem Tor, in den Chalice Well Gardens und in den Abbey Grounds. Darauf aufbauend wird die Bildung einer gemeinsamen kollektiven Identität analysiert, die in den letzten Jahren im Ort zu beobachten ist und die sich auf die Vorstellung von Glastonbury als einem besonderen, (verschiedene) religiöse Traditionen übergreifenden spirituellen Zentrum bezieht. Abschließend wird die Anwendung des Imaginationskonzepts auf das Fallbeispiel erörtert, seine Vorteile gegenüber anderen Modellen wie dem des Diskurses vorgestellt und diskutiert, inwiefern es mit religionsästhetischen Fragestellungen in Verbindung gebracht werden kann. 1. Imagination aus kulturwissenschaftlicher Perspektive In verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen wurden theoretische Entwürfe zur Imagination formuliert, denen ganz unterschiedliche Verständnisse des Begriffs zugrunde liegen. Kognitionswissenschaftliche Theorien beschäftigen sich meist mit der Imagination als einer kognitiven Denkform, die in neueren Studien oft unter den Begriffen Simulation, Gedankenexperiment oder Konstruktion verhandelt wird (Hüppauf/Wulf 2006b: 11). Philosophische Theorien thematisieren im Zusammenhang mit Imagination die Fähigkeit des menschlichen Geistes zur mentalen Repräsentation und diskutieren Zusammenhänge zwischen sinnlicher Wahrnehmung, Bewusstsein, Gedanken, Ideen und Sprache (siehe dazu Thomas 2003). Kulturwissenschaftliche Ansätze zur Imagination beziehen dagegen und darüber hinaus

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nicht nur Fragen der individuellen Kreativität, sondern auch kollektive Aspekte wie die Interaktion zwischen Menschen und die Wechselbeziehungen zwischen dem Einzelnen und einer gemeinsam geteilten Kultur mit ein. Mit Letzterem beschäftigte sich v. a. die École des Annales unter dem Begriff des kollektiven Imaginären (Kugele in diesem Band). Dieser breite kulturwissenschaftliche Ansatz wird im vorliegenden Artikel mit kulturgeographischen Theorien über die Verortung des Menschen im Raum sowie mit religionsästhetischen Überlegungen zur Sinnlichkeit des Menschen in religiösen Kontexten verbunden. Ausgangspunkt für diese Überlegungen war zunächst das Konzept der „public imagination“, wie es der britische Religionswissenschaftler James Hegarty in seiner Studie Religion, Narrative, and Public Imagination in South Asia (2012) verwendet. Auf der Grundlage einer Verbindung von philologischen, anthropologischen und kognitionswissenschaftlich-linguistischen Methoden und Theorien untersucht er Form und Funktion der Narration des Sanskrit Mahābhārata im Kontext des frühen Südasiens, in dem sich seiner Analyse nach eine „public imagination“ spiegelt. Sich von alltagskulturellen Verständnissen der „public imagination“ abgrenzend, definiert er sie als wissenschaftliches theoretisches Konzept: So gehe es ihm dabei nicht um einzelne Personen, die öffentlich sichtbar einen inneren imaginativen Akt vollzögen, sondern um die ‚gemeinsame Konstruktion und Evokation von Zeiten, Orten, Personen und Gegenständen sowie Ursachen und Konsequenzen, die nicht gegenwärtig und anwesend sind‘ (Hegarty 2012: 4, Übersetzung I. L.). Sie werden dabei innerhalb kleinerer oder größerer Gruppen von Menschen geteilt und als Ergebnisse allgemeiner Interpretationsrahmen anerkannt (Hegarty 2012: 5). Hegarty siedelt die Imagination damit weniger im Bereich der individuellen Phantasie an, sondern versteht sie eher als Form des kulturellen Gedächtnisses, das sich in miteinander geteilten Narrativen wie dem Mahābhārata äußert und im Umgang mit diesen verhandelt wird (2012: 22). Für den theoretischen Ausbau des bei Hegarty vorgestellten Imaginationskonzepts wird im vorliegenden Artikel anschließend auf den bildwissenschaftlich ausgerichteten, von Bernd Hüppauf und Christoph Wulf (2006a) herausgegebenen Sammelband Bild und Einbildungskraft zurückgegriffen, dessen Autoren die Imagination zwischen Wahrnehmen, Vorstellen und Visualisieren verorten (Hüppauf/Wulf 2006b: 25). Der These der Herausgeber nach ist die visuelle Einbildungskraft eng mit sinnlicher Wahrnehmung verbunden und nicht von ihr zu trennen (Hüppauf/Wulf 2006b: 33– 34). Letztere funktioniert sogar nur mit Hilfe der Imagination, da die menschliche Verarbeitung von Sinnesreizen ein hochgradig konstruktiver Akt ist. Die Imagination versetzt dabei ins Bild, „was in der Datenvielfalt

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der Sinnesreize abwesend ist und ergänzt das stets nur partiell gegebene Bild zu einem Ganzen“ (Hüppauf/Wulf 2006b: 24). Anders als sprachliches Denken ist Imagination „die konstitutive Leistung des Subjekts für das Entstehen mentaler Bilder und die Übertragung von materiellen in mentale Bilder“ (Hüppauf/Wulf 2006b: 25). Die Einbildungskraft ermöglicht die Verbindung zwischen Wahrnehmung und Begriffen; sie erzeugt die Projektion von Zukünftigem; sie entwirft Bilder, verkörpert sie und bringt sie in Medien zur Darstellung. Die Einbildungskraft verwandelt die Außenwelt der Menschen in ihre Innenwelt und ihre Innenwelt in die Außenwelt. Sie transformiert Bilder, erzeugt Differenzen und bringt Neues hervor (Hüppauf/Wulf 2006b: 40).

Damit wird die Imagination zu einer zentralen Schaltstelle zwischen Außen und Innen sowie zwischen sinnlicher Wahrnehmung, Denken und Interpretation und kann in ihrem Vorwegnehmen von Zukünftigem handlungsleitend werden. In der Interaktion mit anderen Menschen werden mit Hilfe mimetischer Prozesse auch Bilder sozialen Handelns, Emotionen, Einstellungen, Normen und Werte inkorporiert und in imaginären Bildern repräsentiert (Wulf 2006: 203–204). Damit wird an der Schnittstelle von Körper und Denken die Imagination nicht nur zum Spiegel des Sozialen und Kulturellen, sondern auch zum Ort der Generierung von Erlebens- und Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen. Imagination wird von den Autoren somit nicht nur als kognitive Kapazität, sondern auch als Form sozialen und kreativen Handelns verstanden: „Sie ist überall dort relevant, wo Menschen aufeinander treffen und wo es gilt, Handlungen, Räume und Zeiten zu strukturieren und aufeinander zu beziehen“ (Schwarte 2006: 93). Als „kollektive Performanz der Wahrnehmung […] gestaltet oder modifiziert [sie] die Erscheinung der Realität“ (Schwarte 2006: 94). Die Autoren des Bandes Bild und Einbildungskraft orientieren sich grundsätzlich an der visuellen Einbildungskraft, wenngleich ihr theoretisches Konzept der Imagination sehr viel weiter greift. So ist der gedankliche Schritt nicht groß, die Imagination auch auf andere Sinne und ein grundlegendes Körpergefühl zu beziehen. So ist die Imagination bei Adrian Ivakhiv in seiner Studie über religiöse Verortung und religiöses Handeln im Raum – analysiert für die Kontexte von Glastonbury (UK) und Sedona (USA) – eine allgemeine Kapazität, Wahrnehmungen und Repräsentationen im Bewusstsein zu entwickeln, die nicht nur Bilder, sondern auch Klang, Bewegungen, Körperempfindungen u. ä. umfassen (Ivakhiv 2001: 217). Zu diesen Wahrnehmungen zählt er auch an spezifischen Orten ausgelöste Erfahrungen, die von den Erlebenden religiös konnotiert werden. Seiner Ansicht nach entstehen sie in einem Zusammenspiel verschiedener Faktoren: den spezifischen räumlichen und zeitlichen Eigenschaften jener Orte

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und Landschaften, der sinnlich-körperlichen Wahrnehmung, der Erwartungshaltung, den individuellen und kollektiven Erinnerungen und den sozialen Überlieferungen, Narrativen und Diskursen (ebd.). Somit verweist auch Ivakhiv auf die Wechselbeziehungen zwischen individuellen und kollektiven Aspekten in der Imagination. Diese kulturwissenschaftlichen Entwürfe eines Imaginationskonzepts bieten sich an, um das Fallbeispiel einer (verschiedene) religiöse Traditionen übergreifenden kollektiven Identität „Glastonbury als spirituelles Zentrum“ zu erklären. Dafür wird ein Verständnis von „Imagination“ entwickelt, das genau an der Schnittstelle von sinnlicher Wahrnehmung des Ortes Glastonbury, individueller multi-sensorischer Einbildungskraft und Kreativität, kultureller Erinnerung, religionsgeschichtlicher Deutung und den Spielregeln des gegenwärtigen Diskurses und Interpretationsrahmens angesiedelt ist. Bevor dieses Konzept näher erläutert wird, wird zunächst in das religiöse Feld „Glastonbury“ eingeführt. 2. Das religiöse Glastonbury Glastonbury ist ein kleiner Ort in Südengland (ca. 9000 Einwohner) mit einer außergewöhnlich hohen Religionsdichte und erstaunlicher religiöser Diversität. Er gilt gemeinhin als Epizentrum alternativer Spiritualität, ist aber auch bei Anhängern traditioneller Religionen beliebt und kann als ‚multi-mythologisiert‘ (Bowman 2004: 275) bezeichnet werden. Charakteristisch ist die hohe Bedeutung der Religionsgeschichte für die gegenwärtige Religionspraxis. Zum einen werden vielfältige Bezüge zu verschiedenen Phasen der Religionsgeschichte hergestellt; gleichzeitig zirkulieren auch konkurrierende Interpretationen derselben Zeitabschnitte (Laack 2011: 75‒ 79). Nach weit verbreiteten Vorstellungen ist Glastonbury in der Prähistorie Zentrum der Verehrung der Muttergöttin und mit der späteren Zivilisation von Somerset Zufluchtsort der aus dem untergehenden Atlantis geflüchteten Priester und Weisen gewesen. Die Terrassen des Tor, dem charakteristischen Hügel und Wahrzeichen der Stadt, werden als von Menschen der Prähistorie (alternativ: des Mittelalters) angelegtes Labyrinth gedeutet, das Ritualen der Einweihung in die Mysterien gedient habe. Die Chalice Well am Fuße des Tor sei eine wichtige Lehrstätte der keltischen Druiden gewesen, die sogar von Jesus selbst in seinen Jugendjahren besucht worden sei. Dort habe Joseph von Arimathäa nach der Auferstehung Jesu den Gral vergraben (weshalb der Quellbach noch heute blutrot ströme) und die erste Kirche samt klösterlicher Gemeinschaft auf englischem Boden gegründet. An diesem Heiligtum des keltischen Christentums hätten sich später Heilige

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wie St. Brigid und St. Patrick niedergelassen. In einer Parallelwelt zur Klosterinsel Glastonbury habe die Isle of Avalon mit der religiösen Gemeinschaft um die Lady of the Lake gelegen, zu der König Arthur in seiner Sterbestunde zurückgekehrt sei. So interpretierten Mönche des 12. Jahrhunderts ein unter dem Altarraum der Kirche gefundenes Grab als das von Arthur und Guinevere. Nach der gewalttätigen Aufsplitterung der spirituellen Energien durch die Zerstörung des Klosters im 16. Jahrhundert hätten sich erst die vom Okkultismus und der westlichen Esoterik beeinflussten Avalonians zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder den matters of Britain zugewandt und eine Versöhnung der paganen, keltischen und christlichen Energien und Götter versucht. Mit der Counterculture der 1970er Jahre schließlich wurde Glastonbury zum Anziehungspunkt großer Gruppen von Hippies und spirituell Interessierten. Diese „Alternativen“ machten Glastonbury/ Avalon berühmt als Zentrum der Earth Mysteries und ley lines. Mit ihnen wuchs die Zahl der in Glastonbury gelebten religiösen Traditionen auf ein Vielfaches. Heute findet man in Glastonbury ganz unterschiedliche religiöse Gruppen (Laack 2011: 142‒160): Neben christlichen Gruppen wie den Anglikanern, Römisch-Katholiken, Methodisten, Reformierten, evangelikal ausgerichteten Freikirchen und Zeugen Jehovas gibt es praktizierende Sufis, Anhänger des Tibetischen Buddhismus und des Zen sowie Mitglieder des Friends of Western Buddhist Order, neohinduistische Gruppen wie die Hare Krishnas oder die Bewohner des institutionell ungebundenen Shekinashram. Berühmt ist Glastonbury als Sitz einer der größten Vereinigungen von Goddess People, die dort eine dreijährige (nebenberufliche) Ausbildung zur Priesterin der Göttin und die jährliche internationale Goddess Conference anbieten. Im paganen Spektrum gibt es zusätzlich den Glastonbury Order of Druids (GOD) bzw. den Western Order of Druids (WOOD), einen jährlichen Bardenwettbewerb und ein paar freifliegende Hexen. Neben den Earth Mysteries sind Vorstellungen und Praktiken aus den gemeinhin mit „Esoterik“ und „Okkultismus“ bezeichneten Feldern sehr populär. Von den Einwohnern Glastonburys sind im Vergleich mit anderen Orten Großbritanniens auffallend viele religiös und spirituell interessiert. Zusätzlich ist der Ort ein starker Anziehungspunkt für Pilger unterschiedlichster Couleur, die sich die Ruinen des mittelalterlichen Klosters in den Abbey Grounds anschauen, den Tor besteigen, in den Chalice Well Gardens meditieren, zur Goddess Conference kommen, eines der Jahreszeitenfeste des paganen Achtfaltigen Kalenders feiern oder bei den zahlreichen alternativtherapeutischen Angeboten vor Ort Heilung suchen. Die im Rahmen meiner Promotion in Glastonbury durchgeführte Studie ergab, dass die personalen Identifizierungen mit religiösen Traditionen dort

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äußerst flexibel gestaltet werden (Laack 2011: 160–164, 203–216). Von den verschiedenen Gruppenformen, die im lokalen religiösen Feld anzutreffen sind, erfreuen sich diejenigen besonderer Beliebtheit, die offene Strukturen der Mitgliedschaft und einen eher niedrigen Grad der Verbindlichkeit aufweisen. Darüber hinaus wird in vielen Fällen die inhaltliche und praktische Bindung an religiöse Traditionen situativ angepasst und miteinander kombiniert und weist im biographischen Verlauf stark fluide Tendenzen auf. Interessanterweise scheint für die einzelnen lokalen Akteure die Verortung im Religionen übergreifenden lokalen Diskursfeld oft eine größere Rolle zu spielen, als ein (exklusiver) Bezug zu voneinander abgegrenzten religiösen Traditionen. Eine zentrale These meiner Dissertation beschreibt darüber hinaus die Bedeutung sinnlicher, körperlicher und erfahrungsbezogener Aspekte von Religiosität für die Bewertung von religiösen Traditionen im Umgang mit religiöser Diversität und für die Anbindung Einzelner an kollektive religiöse Identitäten. Insbesondere für die gemeinsame lokale Identität „Glastonbury als spirituelles Zentrum“ sind Aspekte des Raumes und der landschaftlichen Eigenschaften der Gegend von hoher Relevanz. Der Ort weist eine intensiv geprägte religiöse Topographie auf, in der sich verschiedene religiöse Vorstellungen und geschichtliche Zuschreibungen mischen, materialisieren und sinnlich erfahren werden. 3. Glastonburys religiöse Topographie Bevor die Besonderheiten von Glastonburys religiöser Topographie beschrieben werden, werden kulturgeographische Ansätze zur Erklärung der kulturellen Konstruktion kultudes Raumes vorgestellt, durch welche das bisher geschilderte Imaginationskonzept ergänzt wird. Beobachtet schon Hegarty in seiner Studie über das Mahābhārata einen engen Zusammenhang zwischen Konstruktionen der Vergangenheit und des Raumes sowie Körperwahrnehmungen (Hegarty 2012: 20), so entwickelt Ivakhiv anhand seines Datenmaterials zu Glastonbury und Sedona eine weiterführende Theorie der religiösen Konstruktion des Raumes. Dafür rezipiert er die einschlägigen kulturgeographischen Ansätze von Kay Anderson und Fay Gale (1992) sowie Rob Shields (1991). Demnach gestalten und prägen Menschen durch soziale, materielle und diskursive Praktiken den Raum, Landschaften, Regionen und Umgebungen und setzen sich zu ihnen in Beziehung, indem sie ständig neue Bedeutungen schaffen und alte neu interpretieren und aushandeln (Ivakhiv 2001: 45). Die Zuschreibung von Bedeutungen an spezifische Orte verlaufe allerdings nicht beliebig, da die Landschaft selbst und ihre Prägung durch Menschen im Laufe der Ge-

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schichte bestimmte Interpretationen nahelegen, während andere ihren äußeren Charakteristika widersprechen (ebd.). Ivakhiv benennt verschiedene Faktoren, welche die Produktion von „imagined geographies“ (Ivakhiv 2001: 46) bestimmen: a) die Landschaft und der Ort selbst mit seinen spezifischen Eigenschaften, b) die kreative Imagination von Einzelnen im Rahmen ihrer Bedürfnisse und Intentionen, c) die kulturellen Überlieferungen, die an bestimmte Orte gebunden sind, inklusive Geschichten, Symbolen, Bildern und Repräsentationen, d) die erfahrungsbezogenen Erwartungen, die daraus resultieren und die der Einzelne in seiner Auseinandersetzung mit dem Raum mitbringt sowie e) soziokulturelle Diskurse und Beziehungsgeflechte im Kontext der den Ort und die Akteure umgebenden Gesellschaft mit ihrer Konkurrenz um Deutungshoheit und Handlungsmacht (Ivakhiv 2001: 17). Bestimmte Orte spielen dabei in der kollektiven Imagination eine bedeutendere Rolle als andere. Dieser Prozess der besonders dichten Aufladung und Prägung eines Ortes durch kulturelle Konstruktionen wird nicht nur durch seine geographischen Eigenschaften geprägt, sondern auch durch die spezifischen Bedürfnisse des jeweiligen historisch-kulturellen Kontextes sowie die Menge und Art historisch gewachsener Ortsmythen (Ivakhiv 2001: 214). Die Gegend um Glastonbury bot sich für solch einen Prozess in besonderem Maße an: Sie unterscheidet sich von anderen Orten Englands durch die Form der in eine liebliche, grünende, romantisch anmutende südenglische Landschaft eingebetteten kleinen Hügelgruppe, die sich wie eine Insel aus dem flachen Marschland von Somerset erhebt mit dem von weitem sichtbaren, außergewöhnlichen Tor als Gipfel, durch die verschiedenen Quellen mit ihren auffallenden Wasserfärbungen sowie durch die besonderen Lichtverhältnisse und die von häufigen Nebeln geprägte Atmosphäre. All diese Eigenschaften regen eine Vielzahl sinnlich-körperlicher Erlebnisse an. Die Zuschreibung besonderer Schönheit an die Gegend um Glastonbury ist in einer Traditionslinie des britischen Verhältnisses zur Landschaft zu sehen, deren Praktiken im Zusammenhang mit historischem Tourismus, dem heritage-Gefühl, nostalgischen Verklärungen des einfachen Landlebens und der Erfindung der „Natur“, der Landschaft und der countryside in den letzten Jahrhunderten stehen (Trubshaw 2005). Diese Wahrnehmung geographischer Besonderheit wird durch die hohe Zahl von Ortsmythen und religionsgeschichtlichen Interpretationen sowie deren semiotischer Vieldeutigkeit verstärkt (Ivakhiv 2001: 215). Im Zuge der Resakralisierungsbedürfnisse in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erfreuen sich zudem bewusst nicht-rationale (z. B. intuitive oder künstlerische) Methoden der religionshistorischen Rekonstruktion und Deutung hoher Beliebtheit, die insbesondere die Lücken wissenschaftlicher

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Geschichtsschreibung mit viel Kreativität füllen (Laack 2011: 96–102, 552– 557). Bewegt man sich im Ort und seiner Umgebung, sind durch die Form der natürlichen und von Menschen im Laufe der Geschichte stark geprägten

Abb. 1: Glastonbury Tor (© Isabel Laack).

Landschaft, durch Architektur und Materialität im weitesten Sinne sowie durch konkrete Handlungen und die Durchführung von Ritualen nicht nur die Praktiken heutiger religiöser Traditionen und Gruppen in ihrer hohen Dichte omnipräsent, sondern auch deren religionsgeschichtliche Deutungen. Sie sind körperlich-sinnlich und ästhetisch erfahrbar und erfordern im Alltag die mal bewusste, mal unbewusste, insgesamt jedoch fast permanente sinnliche Auseinandersetzung mit ihnen. Als Konzentrationspunkte in der religiösen Topographie können der Tor, die Chalice Well samt der sie umschließenden, sorgfältig gepflegten Gärten sowie die Abbey Grounds ausgemacht werden.1 Sie sind zentrale Besuchsstätten von Pilgern, Touristen und Durchreisenden und werden auch von den dauerhaften Einwohnern Glastonburys häufig und regelmäßig aufgesucht. Viele berichten von außergewöhnlichen Erfahrungen, die sie an diesen Orten machen und die sie narrativ meist spirituell und religiös konnotieren. Auffallend ist dabei eine enge Verbindung zwischen sinnlicher —————

1 Für einen ausführlichen Rundgang durch die religiöse Topographie Glastonburys vgl. Laack 2011: 129–142.

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und übersinnlicher Wahrnehmung in den Erzählungen. So fühlen sich viele vom Tor (Abb. 1) magisch angezogen und beim Aufstieg von seiner besonderen Energie ergriffen. Bilder von Menschen vergangener Zeiten auf deren Weg zu Ritualen auf der Hügelspitze und ihre spirituelle Haltung werden imaginiert und z. T. nacherlebt. Schaut man nach dem Aufstieg von oben auf das im Nebel liegende Tal von Somerset, fühlen sich viele der normalen Welt in die keltische Otherworld der Feen und Zwischenwesen entrückt oder erleben sich auf der Insel Avalon, wie sie so prominent im ersten Band der Avalon-Romanreihe von Marion Zimmer Bradleys Die Nebel von Avalon beschrieben wurde (1993/ 1982). Auch die sehr liebevoll gestalteten und gepflegten, blühenden und grünenden Chalice Well Gardens mit dem rot leuchtenden Quellbach, der durch verschiedene Becken, über den Wasserfall und die Kaskade in das Vesica Piscis-Becken (Abb. 2) hinein strömt, lösen eine Vielzahl von Er-

Abb. 2: Chalice Well (© Isabel Laack)

fahrungen aus. Viele fühlen eine besondere Atmosphäre in den Gärten, die ihnen von subtilen Energien, Devas, Naturgeistern, Feen und Elementarkräften bevölkert scheinen. Manche fühlen intensiv die Präsenz der Göttin, weshalb sie davon überzeugt sind, dass dort an der ‚Blutquelle‘ seit Urzeiten ihr Heiligtum gewesen sein muss. Andere sprechen der Quelle eine eigene Persönlichkeit und Handlungsmacht zu, die transformierende Wirkungen auf den Menschen hat. Die häufigste Erfahrung jedoch bezieht sich auf Heilung von körperlichen, emotionalen und spirituellen Gebrechen

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durch den Besuch in den Gärten und die interne und externe Anwendung des Quellwassers.

Abb. 3: Abbey Grounds (© Isabel Laack)

Der dritte der Orte, die in Glastonbury die stärksten sinnlichen und übersinnlichen Erlebnisse auslösen, sind die Abbey Grounds im Herzen der Stadt, ein großes, parkähnliches Gelände mit den Ruinen des mittelalterlichen Klosters (Abb. 3). Im dazugehörigen Museum wird inzwischen ganz selbstverständlich davon berichtet, wie Anfang des 20. Jahrhunderts der mit den Ausgrabungen der Ruinen beauftragte Architekt Frederic Bligh Bond die in Trance von einer Gruppe von Geistwesen, den Watchers of Avalon, empfangenen Grundrisse des Klosters zur Grundlage seiner Rekonstruktionen des Geländes machte (was zu seiner Zeit vehementen Widerstand der Kirche auslöste und seine Entlassung zur Folge hatte). Spätestens seit jener Zeit erleben immer wieder Menschen auf dem Gelände der Abbey Grounds, insbesondere im früheren Kirchenschiff, Visionen von Mönchen und viel häufiger noch Auditionen ihrer gregorianischen Gesänge. Diese Erlebnisse werden nicht nur mündlich weitererzählt, sondern haben auch schon Eingang in Romane gefunden, wie z. B. den Krimi A Finer End von Deborah Crombie (2002). Analysiert man die Erzählungen über Erlebnisse an den drei Orten, dem Tor, den Chalice Well Gardens und den Abbey Grounds, so fällt auf, dass Wahrnehmungen mit Hilfe verschiedener Sinne daran beteiligt sind. Während in manchen Fällen bestimmte Sinneswahrnehmungen überwiegen, wie

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die Visionen von Mönchen oder die Auditionen ihrer Gesänge, so kann sicherlich meist das multi-sensorische Erleben der Landschaft und der sich in ihr bewegenden Menschen – das neben den Bildern auch Klänge, Gerüche, Geschmack, Tast- und Hauterleben sowie allgemein kinästhetische Wahrnehmungen umfasst – als wichtiger Auslöser für atmosphärische Gefühle, für die Imagination vergangener Zeiten und für übersinnliche Begegnungen bestimmt werden. Anders als in vielen kognitionswissenschaftlichen Modellen der „Imagination“ kann es in einer religionswissenschaftlichen Studie, die sich dem methodologischen Agnostizismus verschrieben hat, nicht um eine Bewertung der Faktizität oder Fiktionalität der sinnlichen und übersinnlichen Erfahrungen, Imaginationen und religionsgeschichtlichen Deutungen gehen. Anstelle dessen sind neben einer Analyse der verschiedenen Faktoren in der Bildung von Imaginationen im Zusammenhang mit sinnlicher Wahrnehmung und kulturellen Deutungen gerade auch die verschiedenen Diskurse über den Realitätsgehalt der Erfahrungen interessant. So reflektieren auch einige lokale Akteure Fragen danach, auf welcher Realitätsebene ihre Erlebnisse anzusiedeln sind. Während für manche übersinnliche Erfahrungen als qualitativ anders gegenüber sinnlicher Alltagswahrnehmung erlebt werden, ist es für andere gerade die sinnliche Greifbarkeit und Normalität z. B. der Begegnung mit der Göttin, durch welche sie für ihr Leben relevant wird. Zusätzlich werden manche religionshistorischen Deutungen bewusst als fiktiv und dennoch als religiös wahr eingeschätzt. Für die Goddess People ist nicht nur das sinnliche Erleben der Natur und des eigenen Körpers eine Möglichkeit, die Göttin zu erfahren; darüber hinaus gelten Intuition und Imagination als legitime Methoden des Zugriffs auf religionshistorische Wahrheit (Laack 2011: 255–256). 4. Glastonbury als spirituelles Zentrum Wie Hegarty feststellte, gibt es immer auch Wettbewerb um die Inhalte und Formen historischer und geographischer Imagination (Hegarty 2012: 20). So beschreibt Ivakhiv in seiner Studie die konkurrierenden Ansprüche auf den Raum in Glastonbury und Aushandlungsprozesse um die Deutungshoheit in historischen und religiösen Fragen. Interessanterweise konnte ich während meiner Feldforschung einen Prozess der Bildung einer gemeinsamen kollektiven Identität beobachten, welche die bisher v. a. als konkurrierend erlebten Ansprüche verschiedener religiöser Traditionen überwindet und sich gegenüber einem neu als Außen definierten Gegenüber abgrenzt (Laack 2011: 196‒203). Innerhalb dieses Vorstellungskomplexes wird der

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Glastonbury als spirituelles Zentrum

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Ort Glastonbury und die ihn umgebende Landschaft als ein spirituelles Zentrum besonderer Bedeutung definiert, das in der Religionsgeschichte Anziehungspunkt für religiös und spirituell Suchende gleich welcher Tradition war. Diese Religionsgeschichte wird zum wesentlichen Bezugspunkt in der Bildung einer kollektiven Identität der heutigen Einwohner des Ortes, die sich mit ihrem spirituellen Interesse und ihrem Wissen um die Bedeutung des Ortes vom Säkularen im kulturellen Umfeld zu unterscheiden suchen. Beobachten lässt sich dieser Prozess in den letzten Jahren in verschiedenen Aktivitäten, wie etwa Zusammenschlüssen verschiedener religiöser Gruppen zu Vereinigungen, die z. B. den Aufbau eines gemeinsamen Pilgrim Reception Centre planen oder die Informationen über die religiösen und therapeutischen Angebote in Glastonbury auf den diversen Internetseiten systematisieren wollen. Die Identität wird darüber hinaus auch schon verbalisiert, wie z. B. auf einer öffentlichen Veranstaltung des Somerset County Council zur Diskussion der Bewerbung der Somerset Moors & Levels als Cultural Landscape World Heritage Site der UNESCO. Dort wurde von mehreren Teilnehmern betont, dass das Besondere der Gegend doch keinesfalls die gewachsene Form der Kulturlandschaft sei, sondern die Jahrtausende alte Tradition, ein spirituelles Zentrum zu sein! Lokale Akteure machen sich in verschiedenen Formen Gedanken über die Gründe dafür, dass Glastonbury diese besondere Stellung als religiöse Traditionen übergreifendes spirituelles Zentrum erlangen konnte. Ist Glastonbury bzw. Avalon deshalb einzigartig geworden, weil sich dort bedeutende Stationen der Religionsgeschichte abgespielt haben, die sich im Ort niedergeschlagen haben und deshalb dort von heutigen Menschen besonders intensiv nachvollzogen werden können? Führt die Tatsache, dass sich heute so viele spirituell Interessierte in Glastonbury versammeln zu seiner besonderen Atmosphäre, durch die Gemeinschaft Gleichgesinnter? Oder sind überhaupt erst so viele religiös Suchende nach Avalon gekommen, weil der Ort selbst eine besondere spirituelle Energie ausstrahlt? Im Rahmen letzterer Deutung wird der Landschaft direkt Handlungsmacht zugesprochen. So fühlen sich nicht nur zahlreiche Akteure von Glastonbury gerufen, sondern erleben die Energie des Ortes bei ihrer Ankunft auch als Auslöser für die berüchtigte „Glastonbury experience“, eine manchmal traumatische persönliche, psychische und spirituelle Krise, die zu einer weitreichenden Transformation führen kann (Laack 2011: 198). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass nicht nur im religiösen Alltag der Menschen in Glastonbury, sondern insbesondere auch im Prozess der Bildung einer gemeinsamen kollektiven Identität „Glastonbury als spirituelles Zentrum“ verschiedene Faktoren eine bedeutende Rolle spielen: die multi-sensorische körperlich-ästhetische Wahrnehmung der Landschaft um

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Glastonbury und ihre Prägung und Gestaltung durch den Menschen sowie die Interaktion mit anderen „Gleichgesinnten“, kulturelle Erinnerung und vielschichtige religionshistorische Deutungen sowie kollektiv geteilte Diskurse und Interpretationsrahmen im Wechselspiel mit individueller Kreativität in ihrer Aneignung. 5. Das Imaginationskonzept in seiner Anwendung auf Glastonbury Im Zentrum der im vorliegenden Artikel erfolgten Auseinandersetzung mit dem kulturwissenschaftlichen Imaginationskonzept steht das Fallbeispiel der Interaktion lokaler Akteure mit der religiösen Topographie Glastonburys sowie die Bildung einer gemeinsamen kollektiven Identität, die den Ort als spirituelles Zentrum begreift, das Suchenden, gleich welcher religiösen Tradition, religiöse oder spirituelle Erfahrungen ermöglicht. Eine wesentliche Voraussetzung für diese Prozesse sind die geographischen Charakteristika des Ortes, wie sie über Jahrtausende von Menschen und ihren Praktiken geprägt wurden. Diese Landschaft wird von heutigen Akteuren wiederum direkt und multi-sensorisch sinnlich wahrgenommen und gilt als Auslöser diverser übersinnlicher, religiös und spirituell konnotierter Erfahrungen. Die Akteure greifen dabei auf kollektive Interpretationsrahmen und einen Pool an Ortsmythen und religionsgeschichtlichen Deutungen zurück, die sie kreativ individuell rezipieren und die gestaltende Faktoren ihrer Erlebnisse und mentalen Wahrnehmungen des Raumes werden. Meines Erachtens ist ein kulturwissenschaftliches Konzept der „Imagination“ ideal zur Erklärung dieser Vorgänge geeignet. In der Imagination der Akteure greifen individuelle und kollektive, sinnliche und kognitive, gegenwärtige und historische Aspekte ineinander und führen zu einer Verortung des Menschen in der von ihm wahrgenommenen Welt und einer Interpretation seiner Erlebnisse. Ein so verstandenes Imaginationskonzept hat verschiedene Vorteile gegenüber anderen theoretischen Modellen. Gegenüber der bisher von mir rezipierten Diskurstheorie löst es sich vom Fokus auf die Sprache und bezieht den Körper und seine Sinne mit ein. Imagination ist darüber hinaus mehr als die sinnliche Wahrnehmung des Ortes, weil mit ihr auch die Wechselbeziehungen mit kollektiven Interpretationsrahmen und dem Pool kultureller Deutungen erfasst werden: Lokale Akteure haben i. d. R. nicht irgendwelche sinnlichen und religiösen Erfahrungen in der religiösen Topgraphie Glastonburys. Stattdessen werden sie von ihrem Wissen um die Zuschreibungen besonderer religiöser Bedeutung oder spiritueller Energie an den Ort und ihren Kenntnissen und Interpretationen seiner Religionsgeschichte geprägt. Da die individuelle und körperliche Aneignung der kultu-

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Glastonbury als spirituelles Zentrum

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rellen Deutungen berücksichtigt wird, umfasst das Imaginationskonzept auch mehr als religionsgeschichtliche Deutungen. Des Weiteren berücksichtigt solch ein Modell von Imagination sowohl die strukturellen Vorgaben für das individuelle Handeln durch den Raum und durch dominante Deutungen, als auch die Handlungsmacht von Einzelnen in der Kreativität ihrer Einbildungskraft. Zusammengefasst umspannt dieses Imaginationskonzept verschiedene Aspekte menschlicher Positionierung in der Welt: Strukturvorgaben und Handlungsmacht; kulturelle Interpretationsrahmen und individuelle Vorstellungen; den Körper und die Sinne neben Sprache, Denken und Diskurs; die Verortung im Raum; den Rückgriff auf die Geschichte sowie individuelle und kollektive Identitätsbildungen. Inwiefern kann diese Anwendung des Imaginationskonzeptes auf das Fallbeispiel mit einem religionsästhetischen Ansatz in Verbindung gebracht werden? Sie betrifft die Ästhetik/Aisthetik, weil ihr Ausgangspunkt die sinnliche Wahrnehmung der religiösen Topographie Glastonburys ist. Das bildwissenschaftliche Konzept der Imagination wird erweitert, indem nicht nur der visuelle, sondern auch andere Sinne mit einbezogen werden und Imagination als Einbildungskraft multi-sensorischer Wahrnehmung definiert wird. Die Anwendung ist religionsästhetisch, weil die beschriebenen Diskurse in Glastonbury selbst religiös und spirituell konnotiert werden. Es geht dort auch in der Eigensprachlichkeit um die Konstruktion eines „sakralen Raumes“, in dem religiöse und spirituelle Erfahrungen gemacht werden und der religionshistorisch gedeutet wird. Anders herum argumentiert ist das Modell der Imagination interessant für die Religionsästhetik, weil es besser als andere vermag, genau die Schnittstellen zwischen Sinnlichkeit und Kognition, individuellen Vorstellungen und Erlebnissen und kollektiven religiösen Interpretationen zu greifen. Zum Abschluss der Diskussion sollen Aspekte des Wechselverhältnisses zwischen Theorie und Fallbeispiel beleuchtet werden: 1) Was gewinnt das Fallbeispiel durch die Anwendung der Theorie? Tatsächlich können die beschriebenen komplexen Vorgänge während der Bildung einer gemeinsamen kollektiven Identität „Glastonbury als spirituelles Zentrum“, die sich wesentlich auf die sinnliche Wahrnehmung der religiösen Topographie des Ortes und seine religionshistorischen Deutungen stützt, erfasst, beschrieben und erklärt werden. 2) Was gewinnt die Theorie durch das Fallbeispiel? Das Beispiel zeigt deutlich, dass in der religiösen Alltagskultur nicht nur der visuelle Sinn in Prozessen der Verortung in der Welt eine Rolle spielt, sondern dass die verschiedenen sinnlichen Wahrnehmungen ineinandergreifen. Insofern ergibt es Sinn, das Imaginationskonzept von seiner ursprünglichen Anbindung an mentale Bilder zu lösen. Glastonbury ist mit der sehr hohen Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung des Raumes vor Ort und

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seiner Aufladung mit religionsgeschichtlichen Deutungen sicherlich kein repräsentatives Beispiel für europäische Gegenwartsreligiosität. In seiner Funktion als Stichprobe mit besonders starker Merkmalsausprägung werden jedoch Eigenschaften religiöser Verortung in der Welt klarer sichtbar als an anderen Orten oder in anderen Kontexten (alternativer) religiöser Gegenwartskultur: die Bedeutung des Körpers und der Sinnlichkeit gegenüber der Sprache und dem Diskurs, die Bedeutung sowohl der individuellen Kreativität und Einbildungskraft in der Generierung religiöser Erfahrung als auch der kollektiven Interpretationsrahmen und kulturellen Deutungen. Darüber hinaus zeigt das Fallbeispiel, wie stark sich religiöse Menschen auch in der Geschichte verorten, insbesondere wenn es um die Bildung einer kollektiven Identität geht. Wir haben es hier also mit einer komplexen und sehr gut greifbaren Verbindung von Raum, Sinnen, Geschichte und Religion zu tun. Literatur Anderson, Benedict 1983. Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London: Verso. Anderson, Kay und Fay Gale 1992 (Hg.). Inventing Places: Studies in Cultural Geography, Sydney: Longman Cheshire. Bowman, Marion 2004. „Procession and possession in Glastonbury: Continuity, Change and the Manipulation of Tradition“. In: Folklore 115.3: 273–85. Crombie, Deborah 2002. A Finer End, New York [u. a.]: Bentam. Hegarty, James 2012. Religion, Narrative, and Public Imagination in South Asia. Past and Place in the Sanskrit Mahābhārata (Routledge Hindu Studies Series), London/New York: Routledge. Hüppauf, Bernd und Christoph Wulf 2006a (Hg.). Bild und Einbildungskraft (Bild und Text), München: Fink. Hüppauf, Bernd und Christoph Wulf 2006b. „Einleitung: Warum Bilder die Einbildungskraft brauchen“. In: Dies. (Hg.), Bild und Einbildungskraft (Bild und Text). München: Fink, 9–44. Ivakhiv, Adrian J. 2001. Claiming Sacred Ground. Pilgrims and Politics at Glastonbury and Sedona, Bloomington/Indianopolis: Indiana University Press. Laack, Isabel 2011. Religion und Musik in Glastonbury. Eine Fallstudie zu gegenwärtigen Formen religiöser Identitätsdiskurse (Critical Studies in Religion/Religionswissenschaft), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schwarte, Ludger 2006. „Intuition und Imagination – Wie wir sehen, was nicht existiert“. In: Hüppauf, Bernd und Christoph Wulf (Hg.), Bild und Einbildungskraft (Bild und Text), München: Fink, 92–103. Shields, Rob 1991. Places on the Margin: Alternative Geographies of Modernity, New York: Routledge. Thomas, Nigel J. T. 2003. „Mental Imagery, Philosophical Issues about“. In: Nadel, Lynn (Hg.), Encyclopedia of Cognitive Science. II, London/New York/Tokyo: Nature Publishing Group, 1147–1153. Trubshaw, Bob 2005. Sacred Places. Prehistory and Popular Imagination. Loughborough: Heart of Albion. Wulf, Christoph 2006. „Bilder des Sozialen“. In: Hüppauf, Bernd und Christoph Wulf (Hg.), Bild und Einbildungskraft (Bild und Text), München: Fink, 203–215. Zimmer Bradley, Marion 1993(1982). The Mists of Avalon, London [u. a.]: Penguin.

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Kreativität, Moral und Metapher Gebetsräume als Orte imaginativer Praxis Sebastian Schüler Die christlich-charismatische Gebetsbewegung 24/7-Prayer hat in den letzten zehn Jahren hunderte von Gebetsräumen initiiert, in denen Gebet kreativen Ausdruck finden soll. Die Gebetsräume weisen dabei nicht nur eine spezifische Ästhetik auf, welche durch die Gebete der Gläubigen mit gestaltet wird, sondern erzeugen zugleich eine Form moralischer Imagination, die durch soziales Engagement in lokalen Räumen umgesetzt wird. Beide Aspekte – Kreativität und Moral – werden durch die Gebetsräume und das Gebet regelrecht kultiviert und in den Alltag integriert. Ausgehend von theoretischen Ansätzen der Metaphernforschung sollen hier weitere Zusammenhänge zwischen Körper, Ästhetik der Räume, Imagination sowie moralischem Handeln am Beispiel der Gebetsbewegung beleuchtet werden.

1. Einleitung In diesem Beitrag soll anhand des Fallbeispiels einer evangelikal-charismatischen Gebetsbewegung die Frage gestellt werden, inwiefern Gebet als imaginative Praxis Formen von Kreativität und Moral erzeugt und wie diese als Handlungsorientierungen zugleich durch den Gebrauch von Metaphern verkörpert werden. Um diesen komplexen Zusammenhang zu verdeutlichen, ist es zunächst wichtig, das hier zugrundeliegende Verständnis von imaginativer Praxis zu klären. Im Anschluss daran lässt sich dieses auf die soziale und metaphorische Konstruktion von Moral und Kreativität in der Gebetsbewegung anwenden. Dabei kommt den Gebetsräumen eine wichtige Rolle in der Kultivierung moralischer Imagination zu. Der Begriff ‚imaginative Praxis‘ wirkt zunächst doppeldeutig bis widersprüchlich. Imaginationen sind einerseits mentale Prozesse, die von praktischem Handeln begleitet oder von diesem ausgelöst werden können. Andererseits geht jeder (Handlungs-)Praxis eine gewisse Form der Imagination voraus; man hat oft eine Vorstellung von der Handlung, die man vollziehen möchte, was bedeutet, dass es auch unterschiedliche Imaginationen dazu geben muss, wie eine Handlung vollzogen werden kann. Bei einem Schachspiel etwa müssen beide Spieler sich die möglichen Schritte vorstellen können, die der jeweils andere unternehmen könnte, und sich zugleich eigene Möglichkeiten und Strategien überlegen, um auf diese imaginierten

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Schritte zu reagieren oder diesen zuvorzukommen. In den Köpfen beider findet somit permanent eine Vielzahl an imaginierten Handlungsschritten statt, die großteils nicht oder niemals auf dem Brett vollzogen werden. Zugleich basieren die Imaginationen auf den bereits erfolgten Handlungen und erschaffen zudem neue Möglichkeitsräume für weitere Handlungen. Das Imaginieren wird zu einem Wechselspiel zwischen rein mentalen Prozessen und realen Handlungen. Die Imagination wird zudem durch die Spielregeln determiniert. Die Spielregeln wirken dabei geradezu normativ auf die Imagination ein, beschränken diese jedoch nicht, sondern ermöglichen sie vielmehr. Trotz dieser kognitiven Rahmung der Imagination erscheinen den Spielern die Möglichkeiten an Spielhandlungen und damit an Imaginationen als nahezu unbegrenzt. In einem ähnlichen Sinn soll hier Gebet als eine imaginative Praxis verstanden werden, die sowohl mentale Imaginationen erzeugt als auch unterschiedliche Handlungsoptionen (körperlicher Ausdruck, kreativer Ausdruck, ethische Handlungen, moralische Handlungen) impliziert. Diese Handlungen (etwa Körperhaltungen) können dann wiederum Teil der Imagination werden, indem sie zunächst als Handlungsmöglichkeit vorgestellt werden und in die Imagination einfließen, aber auch als unmittelbare oder verzögerte Handlungen die akute oder spätere Imaginationen mit gestalten. So kann beispielsweise die Vorstellung, dem Geist Gottes zu begegnen, unmittelbar mit dem Ausstrecken der Arme unterstützt werden; oder aber ein Gebet, in dem Gott einer bestimmten Person helfen soll, kann später durch eigene Taten umgesetzt werden. Religiöse Vorstellungen und rituelle Handlungen können sich dabei gegenseitig bedingen und zur gegenseitigen Plausibilisierung benutzt werden. Besonders deutlich tritt die Imagination bei Sprechakten, genauer im Gebrauch von Metaphern hervor, welche auch Gebete und die damit verbundenen Handlungen strukturieren und versinnbildlichen. Metaphern gelten allgemein als wesentlicher Teil von Alltagssprache und besonders von religiöser Sprache. Ihre Funktion erhalten sie durch ihre Transferleistung, wobei oftmals abstrakte Vorstellungen durch den Gebrauch eines Sinnbilds konkretisiert und damit verdeutlicht werden. Insofern stellen Gebete nicht allein eine Praxis der Imagination dar oder imaginierte Praxis (das Vorstellen von Handlungen), sondern vielmehr eine Form imaginativer Praxis, wobei Vorstellung und Handlung dialektisch ineinandergreifen und in Metaphern sprachlich zum Ausdruck gebracht werden. Der kreative Ausdruck von Gebet gilt in der hier behandelten Gebetsbewegung als ihr Markenzeichen und Ideal. Dazu wurden eigens Gebetsräume konzipiert, die durch ihre spezifische Ästhetik die Betenden zum kreativen (Umgang mit) Gebet anregen sollen. Zugleich liegt in der Gebetsbewegung

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Kreativität, Moral und Metapher

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ein zentraler Fokus auf einer bestimmten Vorstellung von Gerechtigkeit, die als Folge von Gebet durch soziales Engagement umgesetzt werden soll. Diese moralische Imagination von Gerechtigkeit wird wiederum durch den ästhetischen Ausdruck des Gebets in den Gebetsräumen unterstützt. Die Gebetsräume dienen dabei als Orte der Kreativität und als imaginierte Kette, von denen aus wiederum lokale soziale Räume durch Gebet verändert werden sollen. Kreativität und Moral bilden in diesem Fall ein sich gegenseitig bedingendes Produkt imaginativer Praxis, das durch eine räumliche, körperliche und sprachliche Strukturierung erzeugt wird. 2. Raum, Körper und Sprache als Strukturmerkmale von imaginativer Praxis In einem alltagssprachlichen Verständnis lässt der Begriff der Imagination schnell an das Erfinden anderer Welten denken, wie sie in Fantasy-Büchern oder in der Science-Fiction einer populären Kultur zugänglich gemacht werden. Welten, in die man sich selbst bzw. sein Selbst hinein imaginieren kann. Die Imagination lässt also den Alltag vergessen und erzeugt Außeralltägliches (Jobling 2010). Diesem Verständnis von Imagination als Außeralltäglichkeit möchte ich hier einen Imaginationsbegriff gegenüberstellen, der davon ausgeht, dass Imaginationen zum alltäglichen Denken gehören. Jede Alltagserinnerung, die bildlich vor dem ‚inneren Auge‘ vorbeizieht, ist eine Form der Imagination, die nicht selten mit starken Gefühlen und Emotionen einhergeht. Das zu Erinnernde wurde erlebt und kann imaginativ abgerufen werden, auch wenn sich dabei Realität und Wunsch bzw. (Selbst-)Täuschung oft überschneiden (Welzer 2002, 19 ff.). Ebenso zählen Tagträume zur alltäglichen Praxis der Imagination. Jemand stellt sich vor, wie etwas sein wird, das in naher oder ferner Zukunft liegt. Auch hier spielen oft starke Emotionen wie Angst oder Freude eine zentrale Rolle. Zudem werden meist konkrete Situationen und Handlungen imaginiert, die an bestimmte Personen und Orte gebunden sind. Dabei können ganze Gespräche vor dem inneren Auge ablaufen und man stellt sich dabei vor, wie man selbst in einer bestimmten Situation agieren würde. Imaginationen sind daher stets sozial und räumlich situiert und beziehen sich zudem oftmals auf das eigene Handeln. Der Imaginationsraum wird somit sinnlich erfahrbar gemacht. Ebenso dienen reale Orte als Imaginationsräume. Neben der kognitiven Dimension von imaginativer Praxis lässt sich auch eine körperlich-sinnliche Dimension annehmen, über die das Imaginierte ästhetisch und emotional zugänglich bzw. erst generiert wird. Durch ästhetischen Ausdruck – etwa in Kunst, im Tanz oder in Worten – wird der Kör-

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per nicht nur Teil imaginativer Praktiken, sondern auch Ort und Ressource von Bedeutungsherstellung, wodurch der subjektiven Imagination Ausdruck verliehen werden kann. Sie wird objektiviert‘ und somit Teil kultureller Praxis. Der Körper ist einerseits selbst ein Erfahrungsraum, andererseits ein Mittel, um Räume zu markieren und einzunehmen. Räume können entsprechend besetzt, durchschritten oder durch Modifikationen gestaltet werden, um daraus wiederum neue Erfahrungsräume zu gewinnen. Des Weiteren impliziert das Verstehen und Deuten von Dingen oder Personen eine körperliche-ästhetische Praxis. Diese fungiert als eine spezifisch kulturell verkörperte Hermeneutik, mit deren Hilfe wir Informationen decodieren können; Mark Johnson spricht hier auch von „aesthetics of human understanding“ (Johnson 2007). Imagination kann entsprechend nicht allein auf kognitive (mentale) Vorgänge reduziert werden. Sie bedarf auch einer ästhetischen Ebene des Ausdrucks und der Wahrnehmung. Auch lässt sich Imagination – so wie sie hier verstanden werden soll – nicht ausreichend als bildliche Vorstellung umschreiben. Über die ‚Bilder im Kopf‘ hinaus, werden durch haptische und andere sinnliche Eindrücke Imaginationen erzeugt bzw. können umgekehrt Imaginationen durch unterschiedliche Ausdrucksweisen in Handlungen umgesetzt werden. Diese Vorgänge werden von Emotionen begleitet, die die mentale Imagination zu einem imaginativen Erleben werden lassen, das sich auch körperlich ausdrückt. Des Weiteren spielen Imaginationen in sprachlichen Ausdrucksformen eine entscheidende Rolle, wenn etwa durch den Gebrauch von Metaphern neue Sprachbilder erzeugt werden, die als Ausgangsort die Imagination haben oder – wiederum umgekehrt – Imaginationen beflügeln können (auch hierbei handelt es sich um eine Metapher). Metaphern gelten daher selbst als Verkörperungen, mit denen wir abstrakte Konzepte sinnlich wahrnehmbar und damit verständlich machen können. Diese Versinnbildlichungen durch den Gebrauch von Metaphern geben religiösen Menschen Orientierung im Alltag. Entsprechend sollen hier – für eine empirische Betrachtung – Gebete weniger als Formen von Kommunikation (im Sinne eines Austauschs zwischen Gläubigen und Gott), sondern als Sprechakte verstanden werden. Nach der Sprechakttheorie von John Searle werden durch sprachliche Äußerungen nicht nur Handlungen beschrieben, sondern diese gelten selbst als Handlungen (Searle 1997). Sprechakte begleiten daher nicht die Realität und unsere Wahrnehmung dieser, sondern generieren selbst Realitäten und beeinflussen unsere Wahrnehmung. Entsprechend können Sprechakte als Handlungen begriffen werden, durch die der Sprecher soziale Wirklichkeit gestaltet und entsprechende Folgehandlungen determiniert. In diesem Sinne sollen hier Gebete vorwiegend als wirklichkeitsgenerierende Sprechakte verstanden werden, deren imaginative Praxis sich nicht auf

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Kreativität, Moral und Metapher

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die Gebetshandlung und deren kreativen Ausdruck beschränkt, sondern darüber hinaus Alltagshandlungen beeinflusst. Durch die Artikulation der Gebete können Imaginationen bzw. imaginierte Praktiken in Form von Wünschen, Hoffnungen, Ideologien und moralischen Vorstellungen ausgedrückt und zugleich generiert werden. Kaum Vorstellbares (Wunder, Visionen) wird ausgesprochen und somit selbst Teil einer (kollektiven) Imagination, die gewisse Erwartungshaltungen erzeugt und damit weitere Handlungen beeinflusst. Diese drei Eckpfeiler von Raum, Körper und Sprache sollen im Folgenden als Rahmen dienen, in dem Gebet als imaginative Praxis in Form von Gebetsketten, Gebetsräumen und sinnlich-ästhetischem Gebet beschrieben wird. 3. Gebet und Gebetsräume: Das Fallbeispiel 24/7-Prayer 24/7-Prayer ist eine globale Gebetsbewegung, die in Südengland gegründet wurde. Pete Greig, der den Anstoß zu der Bewegung gab, beginnt seine Erzählung darüber, wie die Bewegung ihren Anfang nahm, in seinem Buch „Red Moon Rising: How 24/7 Prayer is Awakening a Generation“, mit einer Reisebeschreibung und einer „geographischen“ Vision (Greig/Roberts 2003). Demnach zeltete Greig zu Beginn der 1990er Jahre am Strand von Südportugal. Er trat nachts vor sein Zelt und betete zu Gott, als er plötzlich eine göttliche Vision hatte: „My eyes were open, but I could ,see‘ with absolute clarity before me the different countries laid out like an atlas“ (Greig/Roberts 2003: 3). In jedem Land erhob sich eine „Armee“ von jungen Leuten, die einen Hunger nach Gott verspürten. Und in dieser Vision fiel Greig ein Satz angelehnt an Ezekiel (37, 1–14) ein, wo es sinngemäß heißt, „Du siehst Gebeine, ich aber sehe eine Armee“, was mittlerweile zu einem populären Spruch in christlichen Kreisen avancierte und als T-Shirt Aufdruck (u c bones but i c an army) beliebt ist. Greig verstand die Vision als ein Zeichen, dass eine neue Generation in Europa heranwächst „that will pray and obey like never before“1. Der zweite Teil dieses Ursprungsmythos beginnt ebenfalls mit einem Reisebericht. Im Jahr 1999 besuchte Greig den Ort Herrnhut in der Nähe von Dresden, an dem der Pietist Ludwig Graf von Zinzendorf im 18. Jahrhundert die bekannte Herrnhuter Brüdergemeinde gründete und eine einhundert Jahre währende Gebetskette initiierte. Von dieser Idee inspiriert fuhr Greig zurück in seine Gemeinde in Chichester, Südengland, und for————— 1

http://www.24-7prayer.com/shop/offers [11.6.12.]

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derte diese heraus, einen Monat lang ununterbrochen zu beten. So wurde im September 1999 ein Gebetsraum eingerichtet und ein Zeitplan festgelegt, in den sich jeder für ein oder mehrere Stunden zum Gebet eintragen konnte, so dass ständig im Gebetsraum gebetet wurde, 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche. Die Gruppe betete nicht einen, sondern drei Monate lang und das Konzept war so erfolgreich, dass benachbarte und andere Gemeinden davon hörten und die Gebetskette weiterführen wollten. Eine Bewegung war geboren. Mittlerweile gibt es tausende von Gebetsräumen auf der ganzen Welt, die von 24/7-Prayer inspiriert und initiiert wurden. Professionell geführte Internetseiten (international und national) dienen dem Informationsaustausch und Gemeinden und Gruppen können sich dort eintragen, wenn sie eine Woche oder einen Monat lang beten wollen. Es lassen sich Anleitungen aus dem Internet herunterladen, in denen beschrieben wird, wie sich ein Gebetsraum organisieren lässt, wie er dekoriert werden kann und welche Ideen damit verbunden sind. Ob eine Gruppe oder Gemeinde am Ende in der Lage ist, das Gebet in dem Raum tatsächlich eine Woche lang ununterbrochen aufrecht zu erhalten, spielt dabei keine Rolle. Vielmehr geht es der Bewegung darum, Menschen zum Beten zu inspirieren. Gebet wird zum einen als das einfachste Mittel angesehen, um selbst aktiv zu werden und das Glaubensleben zu stärken. Andererseits wird es als ein sehr mächtiges Mittel verstanden, das das eigene Leben, aber auch die Welt verändern kann. („The only thing that changes this place is prayer, prayer, and even more prayer“ – Brian Heasly, Gruppenleiter von 24/7-Prayer Ibiza)2. Gebet wird daher in dieser Bewegung zum gemeinsamen spirituellen Nenner unterschiedlichster christlicher Gruppen und zu einem Lebensgefühl, das das Individuum zum einen selbst ermächtigt, aktiv zu werden und es zum anderen mit der globalen Gemeinschaft der Betenden vereint. So fasst ein Mitglied aus Deutschland die Leitidee der Bewegung zusammen, wenn sie sagt: „Ein zentraler Satz bei 24/7 ist ja, werde zur Antwort deines eigenen Gebets“3. Mit dem Erfolg dieser Bewegung wurden schnell einige Prinzipien festgelegt und die drei Aspekte von „Gebet, Mission und Gerechtigkeit“ (Prayer, Mission, and Justice) wurden zum Credo der Bewegung ernannt. Dabei soll Gebet immer im Zentrum jeder Handlung stehen und Mission sowie Gerechtigkeit werden als Folge von Gebet verstanden. Gebet, Gerechtigkeit und Mission werden dabei immer zusammengedacht und erhalten so den Charakter einer Leitmetapher für die Bewegung. Das Gebet

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24-7 Prayer Kurzfilm „Gebet als Mission“; www.24-7shorts.com [13.6.2012] Interview Nr. 7, 27.9.2010.

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Kreativität, Moral und Metapher

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soll zudem als direkte Rede mit Gott frei formuliert werden und die Möglichkeit geben, sich kreativ und persönlich auszudrücken. Kreativität ist ein zentraler Aspekt der Bewegung und zeichnet sich insbesondere in der Ausgestaltung der Gebetsräume ab. Sie sollen möglichst gemütlich eingerichtet werden, so dass der oder die Betende sich wohlfühlen kann. Dazu werden oft Sofas bereitgestellt und Kissen auf dem Boden ausgelegt. Tücher und Bilder können die Wände zieren und sollen das zeitgemäße Konzept einer chill-out lounge, einer Oase der Ruhe, vermitteln. Des Weiteren sind die Wände mit großen Papierbögen versehen, auf denen Gebete gemalt werden, in Gedichtform oder als abgeschriebener Bibelvers ihren Ausdruck finden können. Somit entsteht über die Zeit hinweg ein großes Gebets-Kunstwerk, das jeder, der den Raum betritt, sinnlich erfahren kann. Gebete können zudem geknetet, gezeichnet oder gebastelt werden, wozu diverse Bastelutensilien vorhanden sind. Schließlich geben Musikinstrumente oder CD-Spieler die Möglichkeit, Gebet musikalisch auszudrücken oder zu erleben. 24/7-Prayer stellt zudem Broschüren bereit, wie ein Gebetsraum am besten eingerichtet werden kann. Viele der Räume besitzen daher eine sich wiederholende, typische Ästhetik. Der Aspekt der Materialität der Gebetsräume und der Gebetsutensilien wurde lange Zeit in den Forschungen vernachlässigt. Dabei sind es oft gerade die künstlerischen Formen, die vielen Menschen helfen, ihre Religiosität auszudrücken und ihre Imaginationen umzusetzen. So betont auch Robert Wuthnow: „Music and art are closely wedded with spiritual experience. They draw people closer to God, often by expressing what cannot be put into words. They spark the religious imagination and enrich personal experiences of the sacred“ (2003: 14). Neben der Möglichkeit Gebet im Hier und Jetzt kreativ auszudrücken, vermittelt die 24/7-Prayer-Bewegung ihren Teilnehmern ein Gefühl von Tradition, die mit Referenz auf die Herrnhuter Gebetskette geradezu eine alte Idee des Gebets in moderne Bahnen lenkt, ein Vorgang, den Simon Coleman als „invoking history“ beschrieben hat (Coleman 2011). Demgegenüber identifiziert Coleman im charismatischen Christentum den Versuch etwas Neues zu artikulieren als „making history“. So wird auch die 24/7Prayer-Bewegung als eine Möglichkeit verstanden, selbst Geschichte zu schreiben. Der zeitliche Imaginationsrahmen bezieht sich bei der 24/7Prayer-Bewegung also auf eine historische Tradition wie auf die Möglichkeit, in der Gegenwart selbst zukünftig historische Ereignisse mit zu bewirken. Die imaginierte „historiopraktische“ Kontextualisierung (Coleman 2011), die räumliche Ästhetik, sowie die sinnliche Erfahrung von Gebet werden zu Strukturmerkmalen der Bewegung und ihrer Imaginationsräume.

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Im Folgenden soll nun gezeigt werden, wie diese Imaginationsräume als kognitive Rahmungen dienen, um eine moralische Imagination zu etablieren und in der Alltagspraxis zu kultivieren. Dazu soll zuerst der Zusammenhang von metaphorischer Sprache und Imagination beleuchtet werden, um deren kognitiven Funktionen näher zu bestimmen. Im Anschluss daran wird die Frage aufgeworfen, inwiefern die Ästhetisierung der Gebetsräume und des Gebets moralische Imaginationen erzeugen und religiöse Orientierung im Alltag bieten. 4. Imagination, Moral und Metapher Imagination wird nicht selten als kreatives Zentrum für das menschliche Dasein bestimmt (McLean/White 2003: 1). Wer Imagination besitzt, ist frei im Denken, phantasievoll, kreativ – so eine gängige Ansicht. Imagination wird daher auch gern mit den Künsten in Verbindung gebracht. Umgekehrt kann der Begriff alltagssprachlich sehr negativ besetzt werden als Tagträumerei, Realitätsferne, Hirngespinst oder Täuschung. Selten wird jedoch nach den sozialen Bedingungen gefragt, die Imaginationen einerseits in gewisse Bahnen lenken und andererseits selbst zu Ausgangsorten imaginativer Praktiken werden. Zudem wird Imagination oft als freies Assoziieren verstanden und weniger als eine regelgeleitete (mentale) Handlung. Noch seltener wird danach gefragt, welche Rolle Imaginationen für soziales, ethisches oder moralisches Handeln spielen. So klingt es geradezu widersprüchlich, wenn behauptet wird, dass Imaginationen Regeln folgen, die sowohl sozial konstruiert, als auch kognitiv vorgegeben sind (Johnson 1993: 1 ff.). Imaginationen basieren jedoch auf einer sprachlichen und kognitiven Rahmung, die sich insbesondere am Gebrauch von Metaphern zeigt. Kreativität wie auch Moral4 können daher als zwei wesentliche Bestandteile jeglicher Imagination verstanden werden. Im Folgenden soll auf diesen Aspekt der Imagination etwas näher eingegangen werden, um das Konzept der moralischen Imagination einzuführen. 4.1. Metaphern und Imagination Metaphern wurden (in der Philosophie) nicht selten den Begriffen gegenübergestellt, wobei der Begriff als präzise Beschreibung von Dingen galt, die Metapher hingegen als immer nur bildlich und somit unscharfe bis —————

4 Moral wird hier in einem allgemeinen Sinn als Handlungskonvention oder soziale Prinzipien und Regeln bestimmter Individuen und Gruppen verstanden.

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verzerrende Beschreibung (Johnson 1993). Die kognitive Linguistik und insbesondere die Arbeiten von George Lakoff und Mark Johnson zum metaphorischen Sprachgebrauch (2003) haben gezeigt, dass Metaphern nicht weniger bedeutend für kommunikative Akte sind als klar definierte Begriffe, sondern dass sie selbst zu den konstituierenden Mitteln des Verstehens und Wissens zählen. Sie wirken strukturierend auf die Wahrnehmung und bieten somit die Möglichkeit des Erkennens und der Deutungszuschreibung. Denken und Bedeutungszuschreibungen vollziehen sich nach Ansicht der kognitiven Linguistik in Konzepten, die insbesondere durch Metaphern strukturiert werden (Lakoff/Johnson 2003). Das Denken in Konzepten und Kategorien dient dazu, dass wir uns Dinge erst vorstellen, sie ein- bzw. zuordnen können und dadurch Sinnzusammenhänge generieren. Ein Tisch ist ein Möbel, ein Beistelltisch eine bestimmte Art von Tisch; entsprechend der einzelnen Konzepte und Kategorien, die wir Dingen zuordnen, bilden wir Taxonomien von Konzepten, wobei oftmals ein Prototyp eines Konzepts entsteht (etwa eine Amsel als Prototyp für die Kategorie Vogel). Konzepte sind nicht universell vorgegeben oder biologisch angelegt, sondern durch Sozialisation erlernt und verkörpert. Entsprechend wird konzeptionelles Denken daher verstanden als „grounded in structures of our bodily interactions and as irreducibly imaginative in character“ (Johnson 1993: 6). Zudem orientieren sich solche Denkkonzepte, wie sie in Metaphern zum Ausdruck kommen, oft an der menschlichen Physiognomie, wie George Lakoff und Mark Johnson in ihrem Werk „Leben in Metaphern“ gezeigt haben (Lakoff/Johnson 2003). Metaphern sind oft körperorientiert und verkörpern wiederum Sinngehalte, die sich als Wissenskonzepte und Kategorien im Alltagsverständnis der Menschen ablagern. Die Attribute ‚gut‘ und ‚glücklich‘ orientieren sich z. B. am Körper und werden daher meist mit ‚oben‘ beschrieben, während ‚unglücklich sein‘ mit ‚unten‘ korrespondiert (‚vor Glück hoch fliegen oder aufrecht gehen‘ oder ‚sich am Boden fühlen und geknickt sein‘). Metaphern besitzen einerseits eine kognitive Vorgabe und Rahmung, andererseits erlauben sie einen kreativen Umgang mit und in Bezug auf Sprachbilder und Denkkonzepte. Metaphern sind somit wesentliche Bestandteile von Imaginationen. Dies zeigt sich auch in der Fähigkeit, bestimmte Konzepte zu vermischen, die zunächst nicht zusammengehören. In ihrer Theorie des „conceptual blending“ haben Gilles Fauconnier und Mark Turner aufbauend auf dem Ansatz von Lakoff und Johnson gezeigt, dass Konzepte oft sprachlich verbunden bzw. übereinandergelegt werden (blended), um neue Bezüge im Denken herzustellen (Fauconnier/Turner 2002; Turner 2007). Auf diese Weise werden neue Gedankenbilder (und neues Wissen) erzeugt, um bestimmte abstrakte Sachverhalte bildlich und sinnlich

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erfahrbar zu machen. Auch Metaphern erfüllen diese Funktion und machen somit einerseits die Welt und unsere Kommunikation greifbarer und andererseits strukturieren sie unsere Wahrnehmung der Welt und die Art und Weise, wie wir über sie kommunizieren und in ihr handeln. Entsprechend können auch Imaginationen stark metaphorisch strukturiert sein. Der kommunikative Ausdruck von Imaginationen kann dann genauso von bildhaften Metaphern unterstützt werden, wie umgekehrt das Kommunizieren in Metaphern die Imagination anregt und strukturiert. Metaphern zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass ein meist abstrakter Begriff durch eine Übertragung eines anderen, meist bildlichen Begriffs umschrieben wird. Durch diesen Transfer wird Bedeutung erzeugt und kreativ angewandt. Die Metapher ermöglicht daher eine sinnlichbildliche Vorstellung, was ansonsten umständlicher Beschreibungen bedürfte. Nicht selten erzeugen bestimmte konzeptionelle Übertragungen eine Vielzahl an möglichen Metaphern. So werden etwa zur Beschreibung des Internets oft Seefahrtsmetaphern genutzt, vom Surfen im Internet, über das Datenmeer und seiner Informationsflut bis hin zu den Ports, Explorern und Navigatoren, mit denen wir uns auf die virtuelle Reise begeben (in ähnlicher Weise funktioniert die Mobilitätsmetapher für das Internet etwa als Datenautobahn mit Datenstaus usw.). Ein Gegenstand oder Sachverhalt muss nicht immer mit der gleichen Metapher umschrieben werden. Vielmehr gibt es eine Fülle an Metaphern, die in bestimmten Kultur- und Sprachkreisen immer wiederkehren und bereits so sehr in die Alltagssprache eingedrungen sind, dass sie uns als ganz normal vorkommen. In der Tat besteht ein Großteil der Alltagssprache aus Metaphern, mit deren Hilfe sich Menschen in kulturellen Kontexten bewegen, gruppenspezifische Diskurse teilen sowie ihre Erfahrungen ausdrücken und ihre Wahrnehmung strukturieren. Entsprechend ist auch das Beten in Metaphern das kreative Gestalten und Ausdrücken von Erfahrungen, die erst durch Metaphorik artikuliert werden können. Nicht selten lassen sich auch Leitmetaphern in Gebeten finden, die einen gewissen Sachverhalt veranschaulichen sollen. Was sich im Gebrauch von Metaphern letztendlich zeigt, ist, wie Wissen erzeugt, verbreitet und vor allem verwaltet wird. Metaphern sind Stilmittel des Wissensmanagements, wobei das darin artikulierte Wissen den Wissensträgern nicht immer bewusst sein muss. Nach Michael Polanyis Konzept des impliziten Wissens (Polanyi 1966) können Metaphern als ein Explizitmachen von implizitem Wissen verstanden werden. Implizites Wissen entsteht durch praktische Anwendung von Wissen, welches sich im Individuum ablegt bzw. verkörpert. Dieses implizite Wissen kann wiederum explizit gemacht werden, indem es metaphorisch mit Bildern umschrieben oder selbst als Bild in andere Kontexte übertragen wird, die dem Handeln

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und der Wahrnehmung nahe stehen. Implizites Wissen kann jedoch in bestimmten Gesellschaften auch soweit in das Alltagswissen eingegangen sein, dass es gewisse Denkkonzepte vorgibt, die als natürlich angenommen werden und daher kaum andere Denkmöglichkeiten zulassen. Diese als prototypische Konzepte bezeichneten Denkweisen können selbst als Metaphern vorliegen und daher Teil einer Alltagssprache sein. Gewisse metaphorische Umschreibungen können daher bestimmte Vorstellungen in einer Gesellschaft so prägen, so dass diese als einzige Option gelten bzw. im Alltag unhinterfragt angenommen werden. Der Körper-Geist Dualismus etwa, der spätestens seit René Descartes die abendländische Kultur prägt, findet sich als konzeptionelles Denkmuster in unterschiedlichsten Bedeutungszuschreibungen wieder und kann daher als ein konzeptioneller Prototyp angesehen werden. Der Geist gilt dabei oftmals als rationales, der Körper als irrationales Element einer Kultur. Kulturelle Deutungen, um diesen Dualismus zu überwinden, finden sich in unterschiedlichen kulturkritischen Ansätzen und Ideologien wieder, von der Lebensreformbewegung bis zum New Age oder dem sogenannten holistischen Milieu (Hollinger/Tripold 2012). Nicht selten sind solche konzeptionellen Umdeutungen Ergebnisse von Imaginationen. Imaginationen stellen einen kreativen Umgang mit Denkkonzepten und Prototypen dar, die zu neuen Sinndeutungen führen können und entsprechend metaphorisch artikuliert werden. Durch den Gebrauch von Metaphern können also sozio-kulturell geformte, prototypische Konzepte neu gedeutet werden, die dadurch neues Wissen erzeugen, das wiederum die Wahrnehmung einer Person oder einer ganzen Gruppe strukturiert und in das Alltagshandeln eingeht. Johnson verdeutlicht: „the prototype structure of our fundamental concepts allows us to expand them to fit new cases, while still retaining a certain part of the conceptual structure as relatively stable and unchanged“ (Johnson 1993: 9). Metaphorisches Sprechen ist demnach ein besonderer Typus imaginativer Praxis. Durch Imaginationen sind Menschen in der Lage, sich unterschiedlichste Situationen vorzustellen als auch unterschiedliche Zugänge und Lösungsansätze für Entscheidungen zu antizipieren. Im Fall der 24/7Prayer-Bewegung wird der Prototyp Gerechtigkeit als Grundlage moralischen Handelns genommen und durch kreatives Gebet und Imagination zu realen Handlungsoptionen hin erweitert, die meist lokale Bezüge aufweisen. Die als ungerecht empfundenen Alltagssituationen oder Nöte Anderer werden imaginiert und als Handlungsoption für den Prototyp Gerechtigkeit metaphorisch umgesetzt.

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4.2. Moralische Imagination In seiner Theorie moralischer Imagination stellt Mark Johnson gleich zu Beginn fest: „human beings are fundamentally imaginative moral animals“ (Johnson 1993: 1). Johnson ist insbesondere an metaphorischem Denken in moralischen Entscheidungsfindungsprozessen und deren imaginativem Charakter interessiert. Diese Entscheidungsprozesse sind Teil unseres alltäglichen Denkens beziehungsweise bestimmen einen wesentlichen Teil des Alltags (1993: 181). Entscheidungsfindungen sind nach Johnson zudem hoch kreativ und können als imaginative Aushandlungsprozesse zwischen den eigenen Wünschen und Bedürfnissen, den sozialen und kulturellen Konventionen, den ökonomischen und ökologischen Bedingungen, den emotionalen und rationalen Faktoren sowie den religiösen und rechtlichen Wertvorstellungen verstanden werden. So betont er: [O]ur moral understanding depends in large measure on various structures of imagination, such as images, image schemas, metaphors, narratives, and so forth. Moral reasoning is thus basically an imaginative activity, because it uses imaginatively structured concepts and requires imagination to discern what is morally relevant in situations, to understand empathetically how others experience things, and to envision the full range of possibilities open to us in a particular case (Johnson 1993: IX f.).

Moralische Vorstellungen und Argumente fußen nach Johnson nicht auf universellen moralischen Regeln, da jede Regel zunächst sozial konstruiert ist. Was als moralisch angesehen wird, hängt dann davon ab, mit welchen moralischen Konzepten und Prototypen (Freiheit, Wille, Gerechtigkeit) in einer bestimmten sozialen Gruppe oder Kultur argumentiert wird und wie diese Konzepte metaphorisch artikuliert und sozial konstruiert werden. „In other words, the way we frame and categorize a given situation will determine how we reason about it, and how we frame it will depend on which metaphorical concepts we are using“ (Johnson 1993: 2). Entsprechend betont er mit Blick auf aktuelle Entwicklungen in der kognitiven Psychologie, dass die Konzepte, in denen wir denken, tief in den körperlichen Erfahrungen verwurzelt sind und durch unterschiedlichste imaginative Prozesse und metaphorischen Ausdruck strukturiert werden. Ebenso können moralische Konzepte Teil einer solchen verkörperten Bedeutungsstruktur werden. Johnson spricht daher auch von einer folk theory of morality. Als Beispiel für eine solche moral folk theory kann etwa die weltanschauliche Dichotomisierung der Konzepte „Rationalität“ und „Irrationalität“ für die Bestimmung von „Religion“ in der Moderne betrachtet werden. Rudolf Ottos Kategorie des „Heiligen“ erhielt beispielsweise die Funktion einer gegenkulturellen Maßnahme, wobei er das „Gefühl“ der Rationalisierung der

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Gesellschaft entgegenstreckte (Otto 1917/2004). Der vermeintlichen Rationalisierung musste ein irrationaler Moment entgegengehalten werden, wodurch beide Konzepte eine normative bzw. moralische Bedeutung erhielten und zu metaphorischen Werkzeugen gesellschaftlicher Orientierung wurden. Die moralischen Vorstellungen, wie sie durch die moral folk theory in einer bestimmten Gesellschaft vorgegeben sind, führen laut Johnson dazu, dass Menschen oft nur eine Interpretation für eine konkrete Situation zulassen beziehungsweise bestimmte metaphorische Konzepte benutzen, um eine Entscheidung in einer Situation herbeizuführen. Dies zeigt auch, dass moralische Vorstellungen, wie sie sich in einer allgemein verbreiteten moral folk theory manifestieren, selbst nur eine bestimmte Form angewandter kognitiver Konzepte und Prototypen sind. Imaginationen können nun einerseits solche gesellschaftlich verkörperten Konzepte neu ordnen und verändern, indem sie bestimmte Handlungen metaphorisch in neue Zusammenhänge stellen. Andererseits orientieren sich Imaginationen an bestimmten sozial anerkannten moralischen Konzepten und Prototypen und sind nicht frei von moralischen Vorstellungen. Moralische Imaginationen können entsprechend auch kultiviert werden, wie dies etwa in dem hier gegebenen Beispiel der Gebetsräume der Fall ist. Johnsons metapherntheoretischer Ansatz stellt seine zentrale theoretische Grundlage dar, die auch für ein religionswissenschaftliches Verständnis von Imagination im Allgemeinen und für eine religionsästhetische Grundlegung dieses Begriffs im Besonderen vielversprechend ist. In Bezug auf die Frage, welche Rolle Imaginationen für moralisches Denken und Handeln spielen, lässt sich mit Johnsons Ansatz zeigen, dass imaginative Praktiken nicht nur zum alltäglichen Denken dazugehören, sondern auch bestimmte moralische Wertvorstellungen erzeugen und verkörpern können. Das Imaginieren von (moralischen) Handlungen und das Umsetzen dieser Handlungen als Teil einer imaginierten moralischen Welt können als typische Merkmale vieler religiöser Handlungen verstanden werden. Moralische Imagination meint daher auch im klassischen Modus der religiösen Nachfolge ‚Wir stellen uns vor, was jemand, den wir bewundern, in derselben Situation tun würde‘. Nichts anderes finden wir in dem Versuch vieler evangelikalcharismatischer Christen, Jesus nachzuahmen. Der popkulturelle Slogan „WWJD“ (What Would Jesus Do), der sich auf Armbändern, Autoaufklebern und T-Shirts wiederfindet, drückt eben jenen Versuch aus, sich ein moralisches Handeln vorzustellen, das sich an den Handlungen des biblischen und imaginierten Jesus Christus orientiert. Imagination ist Bestandteil menschlichen Denkens und Urteilens im Allgemeinen, weil wir dadurch Gedanken ordnen und Erfahrungen beschreiben

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sowie zwischen sinnlicher Wahrnehmung und abstrakten Konzepten vermitteln können. Entsprechend lässt sich auch behaupten, dass die Gebetsräume in dem hier gewählten Fallbeispiel Orte imaginativer Praxis darstellen, die den Betenden helfen, zwischen sinnlicher Wahrnehmung und ästhetischem Ausdruck sowie abstrakten Konzepten (Gerechtigkeit, Moral, Liebe, Verantwortung) zu vermitteln. Der Gebrauch von Metaphern in Gebeten ermöglicht den Mitgliedern der Bewegung einen kreativen Umgang mit Gebet. Darüber hinaus werden die aus den Gebeten resultierenden Handlungen (Gebet als Gerechtigkeit) ebenfalls metaphorisch legitimiert und verleihen den Gläubigen eine moralische Orientierung im Alltag. Die moralische Imagination erzeugt aber nicht nur die metaphorische Neuordnung und Umdeutung von gesellschaftlichen Wertesystemen. Die veränderten konzeptionellen Vorstellungen von moralischem Handeln (Gebet als soziales Engagement) werden zudem durch die Materialität der Gebetsräume stabilisiert. So betont der Psychologe Edwin Hutchins: „Cultural models are not only ideas that reside inside minds, they are often also embodied in material artifacts“ (2005, 1558 f.). Er spricht in diesem Zusammenhang auch von Denkstrategien, die – zur Stabilisierung – eine Interaktion zwischen mentalen und materiellen Strukturen voraussetzen. Die Ordnung mentaler Strukturen, wie sie etwa durch die tägliche Praxis des Gebets bei 24/7-Prayer erzeugt wird, geht – neben der körperlichen und sprachlichen Dimension – mit der Einbindung einer materiellen Struktur einher, wie sie in diesem Fall durch die Gebetsräume und den künstlerischkreativen Ausdruck von Gebeten gegeben ist. Der materielle Ausdruck der Gebete in Kunst wird somit in die mentale Struktur und in die moralische Imagination eingebettet. Hutchins geht sogar davon aus: Je stärker die mentale Struktur verändert wird und an Komplexität erlangt, umso wichtiger wird deren materielle Verankerung. 5. Die Ästhetisierung von Gebetsräumen und die Kultivierung moralischer Imagination 5.1. Imagination der Gebetskette als soziales Band und Bewegung Ähnlich wie Benedict Anderson moderne Nationalstaaten als „imagined communities“ beschrieben hat (1983) stellt die von 24/7-Prayer initiierte Gebetskette ein imaginiertes soziales Band dar, das die einzelnen Gebetsräume und Betenden miteinander verbindet. Zentral in Andersons Konzept ist, dass eine imagined community keine Gruppe im klassischen Sinn darstellt, weil sich die Mitglieder nicht alle durch direkte Interaktionen kennen

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oder austauschen können. Die imagined community verweist vielmehr auf eine Gemeinschaft, die vor allem in den Köpfen der Menschen existiert und ihre Einheit trotz der räumlichen Trennung imaginiert. Insbesondere transnationale religiöse Netzwerke können trotz eines mehr oder weniger klar definierten geographischen Raums als eindeutige Gemeinschaften imaginiert werden (Schüler 2008). Der Einzelne fühlt sich einer größeren Gruppe zugehörig und in diese integriert, obwohl er die Gruppe als solche und deren angebliche Einheit nie sinnlich erfahren, sondern eben nur imaginieren kann. Wie weiter oben schon angedeutet, wird auch durch die Gebetsraumketten eine solche imagined community erzeugt, die sich als wiederbelebte Tradition und als history makers versteht. Jeder Betende wird zu einem Kettenglied und Teil einer imaginären Gemeinschaft, obwohl er oder sie teilweise alleine im Gebetsraum anwesend ist. Die Praxis des Betens wird somit zu einem fließenden Übergang zwischen individuellem Erleben und Ausdruck als auch dem Bewusstsein, Teil einer kollektiven Bewegung zu sein, die weltweit Christen verbindet. Entsprechend wird auch das Gebet selbst als Bewegung (Prayer as Movement) umschrieben und somit metaphorisch eingebunden. In einem Video, das die 24/7-Prayer-Bewegung auf ihrer Webseite veröffentlichte, wird die Metapher „Prayer as Movement“ auch bildlich aufgegriffen und in Szene gesetzt: Mitglieder der Bewegung wurden aufgefordert, die Metapher auszudrücken und setzten diese spontan in tänzerische Bewegungen und Gestiken um.5 Es entstand eine Collage aus Tanzeinlagen, wobei die Idee „Gebet als Bewegung“ direkt in körperliche Bewegung umgesetzt wurde. Auf diesem Weg wird für die Betrachter des Videos die Metapher visualisiert und musikalisch unterlegt. Durch die Umschreibung von Gebet als Bewegung im doppelten Sinn als körperliche und als soziale Bewegung, verweist 24/7-Prayer auf die spontanen und kreativen Entwicklungen, die durch Gebet ausgelöst werden sollen. So betont Pete Greig an einer Stelle: So often, initiatives which started with God soon become part of an institution. (…) We don’t want to become an organisation, but keep as a movement. It has all accelerated beyond our control which is good as we have to trust in God and His hand on it all! Our greatest need is to keep in tune with the Holy Spirit and not let a system take over.6

Die Bewegungsmetapher wird hier genutzt, um implizit bisherige, stärker institutionalisierte Formen des Christentums zu kritisieren. Das Beten habe eine Bewegung ausgelöst, die sich geradezu verselbstständigt hat und nun ————— 5 6

http://www.24-7shorts.com/ [13.6.2012] http://www.jesus.org.uk/ja/mag_talkingto_greig.shtml [13.6.2012]

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ohne Kontrolle in die Zukunft rast. Diese Betonung von Spontaneität und Flexibilität drückt typische postmoderne Haltungen aus, die von einem Misstrauen an religiösen Institutionen geprägt sind und dem Individuum viel gestalterische Freiheit zubilligen (Campiche 2004). Gebet dient in dem hier geschilderten Fall als Motor für Neuerungen. 5.2. Gebetsräume als Orte imaginativer Praxis Bewegung stellt bei 24/7-Prayer eine Leitmetapher für Gebet dar, die ebenso mit dem kreativen Ausdruck von Gebet korrespondiert und in der kreativen Manifestation des Gebetsflusses sichtbar werden soll. Gebetsräume sind daher auch immer Zeugnisse von Gebeten, die durch die kreative Ausgestaltung des Raums sichtbar werden. Sie dienen als Spuren kollektiver Produktivität und als ein in Entstehung begriffenes Gesamtkunstwerk. Die Papierbögen füllen sich nach und nach mit Gebeten, Gebetsanliegen und Zeugnissen beantworteter Gebete, mit Gedichten und Bibelversen. Kleine Altäre entstehen, auf denen gebastelte Gegenstände platziert werden, um deren symbolischen Gehalt zu vergegenwärtigen und für diese Dinge zu beten. So fand sich etwa in einem Gebetsraum in Stanford-le-Hope, östlich von London, ein Spielzeugdoppeldeckerbus, der als Sinnbild einen echten Doppeldeckerbus repräsentierte, der als mobiles Jugendzentrum von 24/7Prayer mit unterstützt wird (siehe Farbtafel 5 im Anhang). Der Bus fährt regelmäßig soziale Brennpunkte an und kümmert sich um Jugendliche, die dort neben kostenlosen Getränken und Gebäck auch Spiele und Gesprächspartner finden sowie einen eigenen Gebetsraum auf der oberen Etage des Busses. Dieses Sozialprojekt, das den Aspekt Gerechtigkeit für diese lokale 24/7-Prayer-Gruppe darstellt, wird durch den Spielzeugbus repräsentiert. Besucher des Gebetsraums können einerseits für das Projekt beten und andererseits erhalten sie einen konkreten Eindruck von den sozialen Handlungen, die aus Gebet resultieren sollen; sie erhalten eine Idee von Gerechtigkeit, die Teil ihrer Imagination wird. Der Gebetsraum füllt sich auf diese Weise mit einer spezifischen Ästhetik, die aus Imaginationen des Gebets resultieren und zugleich weitere Imaginationen strukturieren und in Bahnen lenken. Entsprechend bleibt auch das Ideal der Kreativität an einen gewissen ästhetischen Stil gebunden, der sich durch die Gebetsräume verbreitet. Kreativität ist demnach nicht nur sozial situiert und kontextabhängig, sondern auch raumbezogen. Die symbolische Bedeutung und Attraktivität, die ein Gebetsraum besitzt, äußert sich nicht nur in den darin vorfindbaren kreativen Ausführungen, sondern in der Vorstellung, was in diesem Raum bereits alles passiert ist, wer hier bereits war und welche Gebete hier gesprochen wurden sowie in den Mög-

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lichkeiten, die der Raum offen hält und zu denen er einlädt. So stellt auch der Geograph Peter Meusburger für den Zusammenhang von Raum und Kreativität fest: „What makes a location attractive is its possible or imagined advantages, not the realized ones“ (Meusburger et al. 2009: 4). Der Raum erhält den Charakter eines Ortes der Möglichkeiten, in dem sich das Subjekt selbst ausdrücken und sich als authentisch erfahren kann. Die Produkte sind symbolische Wahrzeichen kreativer Akteure, die deren Authentizität bezeugen und durch die sich nachfolgende Beter inspirieren lassen. „A place is like a screen on which possibilities, expectations, benefits, and hopes are projected, a surface that reflects reputation back onto the persons and institutions located there“ (Meusburger et al. 2009: 4). Gebetsräume werden somit gewissermaßen zu role models für eine bestimmte Ästhetik und limitieren bzw. strukturieren gleichfalls die Imaginationen, die über die konkrete Räumlichkeit und über das betende Subjekt hinausweisen sollen. Die räumliche Imagination des Gebets wird in einem weiteren Sinn angesprochen, indem in vielen Gebetsräumen meist mehrere Papierbögen an den Wänden angebracht sind, die für Gebete bezüglich konkreter geographischer Räume gedacht sind. So finden sich Bögen mit Gebeten für die eigene Stadt oder Nachbarschaft, für die jeweilige Nation, in der der Gebetsraum sich befindet, oder aber für andere Nationen, auf die eine Gebetsgruppe einen spezifischen Fokus während der Gebetswoche legt – bis hin zu Gebeten für die ganze Welt. Die Papierbögen, auf denen dann bestimmte Gebete für den jeweiligen Fokus geschrieben stehen, repräsentieren gewissermaßen selbst eine Topographie des Gebets, die Teil der Gebetsimaginationen wird. Die Betenden fühlen sich so einer Region verpflichtet und beten für die Menschen, die dort leben und deren Bekehrung, gegen Gewalt und Unterdrückung sowie für ‚Heilung‘ und mehr Gerechtigkeit. Oft werden Informationen über die Region in Form von Zeitungsartikeln oder kleinen zusammengestellten Infoblättern bereitgestellt oder es werden konkrete Themen für Gebete aufgegriffen, wie etwa Menschenhandel oder Christenverfolgung. Neben diesen Gebetstopographien, die eine gewisse Gerechtigkeitsvorstellung durch die Gebetsräume transportieren, werden weitere Gebetsräume als Videobotschaften im Internet bereitgestellt. So lassen sich zu bestimmten Anlässen wie etwa der vorösterlichen Fastenzeit tägliche Videobotschaften über die internationale 24/7-Prayer-Homepage, aber auch über iTunes, facebook, twitter oder youtube abrufen, womit fast alle populären sozialen Medien eingebunden sind. „Prayer Spaces for Lent“ nennen sich die imaginativen Video-Gebetsbotschaften, die den Gläubigen über 40 Tage hinweg, durch täglich fünfminütige Videos während der Fastenzeit im Gebet unterstützen und begleiten. Die Raum-Metapher wird hier in mehrfacher

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Weise in die Imagination eingebunden; die Videos bieten ein Zeitfenster für Besinnung im Alltag „to focus minds and fuel prayers“7, bei dem sich der Betende nicht nur Zeit für sich selbst nimmt, sondern seinen eigenen Raum im Alltag zurückerobert. In diesem Fall wird dieser private ‚Ruhe-Raum‘ durch den virtuellen Raum erzeugt. Das Internet wird so zu einem Verbindungsraum, in dem die Gläubigen täglich einem anderen Christen (den Sprecher im Video) begegnen können, der die jeweilige Gebetsbotschaft im Video mitteilt und die Betenden in der Fastenzeit begleitet. Die stärkste Imagination erzeugt jedoch in diesem Fall die Metapher des gemeinsamen Gehens durch die Fastenzeit, eine weitere Anlehnung an die Leitmetapher von Gebet als Bewegung. Unter dem Motto „walk with us“ wurden die Videobotschaften im Jahr 2012 als Wegbegleiter bereitgestellt und mit dem Thema „The word became flesh and blood and moved into the neighborhood“ versehen.8 Die Botschaften selbst ähneln dabei kleinen Andachten oder Predigten, wobei täglich kurze Stücke aus einem Evangelium vorgelesen werden. Global über das Internet verbunden, kann die 24/7-Gemeinschaft somit einen zeitlichen und textlichen Raum durchschreiten, der in einen konkreten Raum, nämlich die eigene Nachbarschaft fortgesetzt wird. Die Nachbarschaft repräsentiert dann den tatsächlichen Aktionsraum, der zunächst imaginiert und dann durch soziale und missionarische Handlungen begangen wird. Der Aspekt der neighbourhood erweitert den virtuellen Gebetsraum auf eine konkrete Räumlichkeit, die wiederum durch persönliche Beziehungen missionarisch erreicht werden soll. Der virtuelle Gang durch die Fastenzeit erhält somit sowohl einen moralischen Fokus als auch eine konkrete räumliche Ausrichtung. 5.3. Gebetsräume als Orte der Kultivierung moralischer Imagination Gebetsräume fungieren sowohl in der diachronen Verkettung als auch in der regionalen Ausrichtung als symbolische Lokalisationen von Wertesystemen. Gebetsräume sind nicht selten an Orten wie Kulturhäusern, privaten Häusern, Universitäten, neben der Fanmeile während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Frankfurt oder mitten im Nachtleben einer bekannten Touristengegend auf Ibiza eingerichtet; an Orten, die nicht zu den klassischen Kirchengebäuden zählen. Neben Gebet als Bewegung, Gebet als Gemeinschaft oder Gebet als Mission, die alle auf ihre Weise sinnlichästhetisch eingebettet werden und jeweils räumliche Imaginationen beinhalten, zählt die Metapher von Gebet als Gerechtigkeit zu den zentralen ————— 7 8

http://www.24-7prayer.com/podcasts/category/spaces [11.3.2012] http://www.24-7prayer.com/podcasts/category/spaces [11.3.2012]

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Merkmalen der 24/7-Prayer-Bewegung und repräsentiert den hier im Mittelpunkt stehenden Aspekt der moralischen Imagination. Gebet und Gerechtigkeit werden bei 24/7-Prayer zusammengedacht und metaphorisch aufeinander bezogen, indem der abstrakte Begriff der Gerechtigkeit auf den konkreten Begriff des Gebets projiziert wird und somit als eine Handlungsoption imaginiert werden kann. Entsprechend finden sich auf der Homepage von 24/7-Prayer diese beiden Aspekte als geradezu selbstverständliche Einheit beschrieben: „The concept of marrying prayer and social justice isn’t new for 24-7 – Justice and Mercy always been part of our movement, in our prayers in prayer room, and into practical action in our communities“.9 Auch die Beschreibung von Gebet als Gerechtigkeit durch eine Mitarbeiterin des 24/7-Training-Teams, wie sie sich auf der Internetseite der Bewegung findet, verdeutlicht, wie eine abstrakte Vorstellung von Gerechtigkeit als imperative Handlungsoption imaginiert wird: Pray – This may seem obvious, but too often we move straight from an idea into action. Don’t just pray for God to bless what you’re planning to do. Pray for a heart for justice. Pray to see injustice. Pray about how you act on injustice. … As you act, continue in prayer. So often there may not be a concrete action that we can do to intervene in a situation (or we may not see it yet), but we have a very powerful tool in prayer. Intercede for the hungry, the broken and the lost. … Choose an injustice (even a small one) and act on it. Write a letter to a local politician. Work with a charity. Or find people on your own street that are victims of injustice. Don’t start out trying to fix everything, or you will fail.10

Auffällig an dieser Aufforderung zum Gebet und sozialem Handeln ist, dass der Handlungsablauf nicht als mechanischer Automatismus dargestellt wird (im Sinn von ora et labora), sondern als Reflexionsprozess darüber, welche Handlungen aus Gebet erfolgen können. Selbst in der Umsetzung sozialer Handlungen soll Gebet als Reflexionsebene einbezogen bleiben. Gebet wird somit zu einem „Werkzeug“, mit dessen Hilfe der Gläubige seine Handlungen zunächst imaginiert und in der Imagination Handlungsschritte abwägt. Der imaginierende Aspekt von Gebet erfüllt eine reflexive Funktion, die durch den ästhetischen Ausdruck des Gebets in den Gebetsräumen unterstützt und gerahmt wird. Der Fokus auf soziale Gerechtigkeit kann demnach in unterschiedlichste Handlungen münden, von Obdachlosenhilfe über Nachbarschaftshilfe bis hin zu persönlichen Gesprächen mit unbekannten Personen, denen dabei oft ————— 9

http://www.24-7prayer.com/just24-7/foricallyou [23.8.2011] Wiens, Alana: Prayer and Justice, Online-Publikation 8. März 2010. http://www.247prayer.com/features/1189 10

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das gemeinsame Gebet angeboten wird. Durch das alltägliche Gebet wird daher nicht nur über soziale Handlungsoptionen reflektiert, sondern zugleich der Aspekt Gerechtigkeit auch verkörpert, so dass man von einer Ritualisierung moralischer Imaginationen sprechen kann. Der Soziologe Nick Crossley stellt allgemein für die Funktion von Ritualen fest: „Rituals can effect social transformations … because they effect transformations in our subjective and intersubjective states. They allow us to make imaginative leaps, investing arbitrary moments or figures with an element of (social) necessity“ (2004: 40). Gerechtigkeit wird somit nicht in Form politischer Forderungen oder Haltungen artikuliert, für die sich Christen qua moralischer Überzeugungen oft einsetzen, sondern Gerechtigkeit wird einerseits zu einer subjektiven Imagination und andererseits zu einer kollektiven Imagination, die über die Gebetsräume vermittelt wird. In Gebetsräumen lokalisieren sich somit Vorstellungen von Gerechtigkeit bzw. dienen diese als räumliche Verteiler von sozialem Engagement. Die Leitidee, die hierbei erkennbar wird, lautet: Wer in einen Gebetsraum hineingeht und betet, der kann die Welt verändern. Und auch wenn jeder nur kleine Schritte erzielen kann, so ist jeder Einzelne Teil einer globalen Bewegung von Betenden und jeder wird zur Antwort seines eigenen Gebets. Gebetsräume fungieren einerseits als Orte, in denen der Einzelne sich einer globalen Bewegung zugehörig fühlen kann, die die Welt verändern will. Andererseits erzeugen die Räume eine Intimität durch das Gebet, die dem Einzelnen zugleich ein Gefühl der Authentizität durch den kreativen Ausdruck verleiht und ihn oder sie moralisch anleitet. Gebetsräume dienen somit der Kultivierung von moralischer Imagination. 6. Fazit In der hier beschriebenen evangelikalen Gebetsbewegung wird die Kreativität von Gebet zu einem Werkzeug der Imagination, das den Einzelnen zu moralischen Handlungen anleiten soll. Durch Gebet soll soziale Gerechtigkeit in die Welt gebracht werden; einerseits durch eine quantitative Anreicherung von in Ketten organisierten Gebeten (und damit erhoffter göttlicher Intervention), andererseits durch eine subjektiv erlebte moralische Anleitung zu sozialem Handeln, wodurch zugleich der oder die Betende die ethische Verantwortlichkeit für die Welt selbst übernimmt. Gebetsräume stellen somit Orte imaginativer Praxis dar, die zur Kultivierung moralischer Imaginationen innerhalb der Gebetsbewegung beitragen. Entsprechend lässt sich festhalten, dass Imaginationen als religiöse Techniken im Alltag von Gläubigen Anwendung finden und somit keine rein außeralltäglichen Begeben-

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Kreativität, Moral und Metapher

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heiten darstellen. Sie regen das religiöse Subjekt nicht allein zu kreativem Denken und Handeln an, sondern verweisen auf soziale und kognitive Rahmungen von Imaginationen, die nicht zuletzt moralisch konnotiert sein können. Die räumliche Dimension von religiöser Imagination dient dabei in dem hier geschilderten Fall als Medium der Imagination, wobei Gebetsräume nicht nur konkrete Orte imaginativer Praktiken darstellen, sondern auch Imaginationen räumlich kanalisieren. Die moralische Imagination wird dadurch zu einer Handlungstheorie des Alltags, die sich durch das Imaginieren, das Abwägen, das Informieren, das Ausprobieren und das Scheitern sowie das Kreativsein, die Ästhetisierung und einen gewissen Pragmatismus auszeichnet. Literatur Anderson, Benedict 1983. Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London: Verso. Campiche, Roland J. 2004. Die zwei Gesichter der Religion. Faszination und Entzauberung, TVZ Zürich. Coleman, Simon 2011. „Right Now!: Historiopraxy and the Embodiment of Charismatic Temporalities“. In: Ethnos: Journal of Anthropology, 76.4: 426–447. Crossley, Nick 2004. „Ritual, Body Techniques and Intersubjectivity“. In: Schilbrack, Kevin (Hg.), Thinking Through Rituals: Philosophical Perspectives. London: Routledge, 31–51. Fauconnier, Gilles und Mark Turner 2002. The Way we Think: Conceptual Blending and the Mind’s Hidden Complexities. New York: Basic Books. Greig, Pete und David Roberts 2003. Red Moon Rising: How 24/7 Prayer is Awakening a Generation. Lake Mary, FL: Relevant Books. Höllinger, Franz und Thomas Tripold 2012. Ganzheitliches Leben: Das holistische Milieu zwischen neuer Spiritualität und postmoderner Wellness-Kultur. Bielefeld: Transcript. Hutchins, Edwin 2005. „Material anchors for conceptual blends“. In: Journal of Pragmatics 37: 1555–1577. Jobling, J´Annine 2010. Fantastic Spiritualities: Monsters, Heroes, and the Contemporary Religious Imagination. London, New York: Continuum Books. Johnson, Mark 2007. The Meaning of the Body – Aesthetics of Human Understanding. Chicago, London: University of Chicago Press. Johnson, Mark 1993. Moral Imagination. Implications of Cognitive Science for Ethics. Chicago, London: University of Chicago Press. Lakoff, George und Mark Johnson 2003. Metaphors we live by (erste Auflage 1980). London: The University of Chicago Press. McLean, George F. und John K. White 2003. „Introduction“. In: Dies. (Hg.), Imagination in Religion and Social Life. Moral Imagination and Character Development Volume III. Washington. Meusburger, Peter, Joachim Funke und Edgar Wunder 2009. „Introduction: The Spatiality of Creativity“. In: Dies. (Hg.), Milieus of Creativity: An Interdisciplinary Approach to Spatiality of Creativity. Ohne Ort: Springer, 1–10. Otto, Rudolf 1917(2004). Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. München: C.H. Beck Verlag. Polanyi, Michael 1966. The Tacit Dimension. Garden City, NY: Doubleday and Company.

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Schüler, Sebastian 2008. „Die Transnationalisierung globaler Heilsgüter am Beispiel der Pfingstbewegung“. In: Unfried, Berthold, Jürgen Mittag und Marcel van der Linden (Hg.), Transnationale Netzwerke im 20. Jahrhundert. Historische Erkundungen zu Ideen und Praktiken, Individuen und Organisationen. Leipzig: Akademische Verlagsanstalt, 145–170. Searle, John 1997. Mind, Language and Society: Philosophy in the Real World. Philadelphia: Basic Books. Turner, Mark 2007. „The way we imagine“. In: Roth, Ilona (Hg.), Imaginative Minds. London: British Academy & Oxford University Press, 213–236. Welzer, Harald 2002. Das kommunikative Gedächtnis: Eine Theorie der Erinnerung. München: Beck. Wuthnow, Robert 2003. All in Sync: How Music and Art are Revitalizing American Religion. Berkeley [u. a.]: University of California Press.

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Imagining Mount Meru Mediale Bedingungen räumlicher Imagination und der Wandel kosmo-geographischer Vorstellungen im buddhistischen Modernismus des 19. Jahrhunderts Adrian Hermann Der Beitrag widmet sich den Zusammenhängen von Medialität und Räumlichkeit unter einer imaginationsbezogenen Perspektive. Ausgehend von der konstitutiven Medialität des menschlichen Raum-Bezugs steht die Bedeutung spezifischer als „Raummedien“ verstandener medialer Dispositive in der Konstitution kosmogeographischer Räume im Mittelpunkt. Solche „Raummedien“ spielten in den vom westlichen Kolonialismus beeinflussten buddhistischen Kontexten des 19. Jahrhunderts in den Auseinandersetzungen zwischen Christen und Buddhisten eine bedeutende Rolle im Übergang von den Raumvorstellungen der klassischen buddhistischen Kosmo-Geographie zur (Neu-)Konzeptualisierung kosmo-geographischer Räume im buddhistischen Modernismus. Anhand von Beispielen, vorwiegend aus Thailand und Sri Lanka, wird diese Bedeutung von Karte und Globus für die Transformation von Raumvorstellungen illustriert. Die als Träger solchen Wissens fungierenden Raummedien werden in Anknüpfung an die Wissenschaftsstudien Bruno Latours als „unveränderliche mobile Elemente“ (immutable mobiles) charakterisiert. Eine Verhältnisbestimmung der hier präsentierten raum- und imaginationstheoretischen Überlegungen zum Ansatz der Religionsästhetik schließt den Beitrag ab.

1. Einleitung Unter der Überschrift „The Faith of a Buddhist Priest shaken“ findet sich im Missionary Register der Church Missionary Society von 1826 ein Brief des methodistischen Missionars Benjamin Clough (1791–1853) aus Colombo (Sri Lanka) vom 5. November 18251. In diesem berichtet Clough über eine mehrstündige Diskussion mit einem gelehrten buddhistischen Abt. Als der Mönch auf die Frage, ob der Buddha als allwissend verstanden und daher „all which he has said and caused to be recorded“ als unfehlbar

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1 Dieser Brief wurde auch in verschiedenen anderen zeitgenössischen Missionszeitschriften wie dem Wesleyan Methodist Magazine (August 1886) abgedruckt und in späteren missionsgeschichtlichen Darstellungen zitiert. Im Folgenden zitiere ich aus The Missionary Register for 1826, 610–611. Druckfehler im Original wurden korrigiert.

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betrachtet werden müsse, dies bestätigt, stellt Clough diese Allwissenheit in Frage: [M]ay I ask how it happened that your god should, in the course of his orations and religious revelations, have given to the world so erroneous a view of the geography of the world? – a system, which was not only false at the very time that it was delivered by him, but one that has kept his adherents in error to the present day.

Der Abt erwidert, dass dies ganz unmöglich sei, woraufhin Clough behauptet, die Fehlerhaftigkeit der buddhistischen Geographie beweisen zu können. Auf den Protest, dass ein Mensch die Aussagen einer Gottheit nicht anzweifeln könne, entgegnet Clough: „If a divinity, or pretended divinity, make a revelation that contradicts my experience and daily matter of fact, have I not just cause to call in question such a revelation?“ Als der Mönch dies einräumt, behauptet Clough, dass ein solcher Zweifel im Bezug auf die Reden und Offenbarungen Buddhas in den Jatakas berechtigt sei. Den Bericht Cloughs über den weiteren Verlauf der Begegnung zitiere ich im Folgenden ausführlich: I produced some maps, a globe, a quadrant, and a compass; and proceeded to give him as correct an outline of our geography, navigation, &c., as I could: and showed him, by a variety of experiments, which he readily understood, how we must, in the nature of things, understand this matter. „And now,“ said I, „not a day passes but we make fresh discoveries that Buddhu mistook. He represents the world as a vast plane. Now,“ said I, „on this principle, if a ship leave a port, and for two years together continue to sail at such a rate in a direct westerly course, then at the end of that two years she must be so many thousand miles from the place she left.“ „Certainly,“ said he. „But,“ said I, „our ships have often tried this; and, at the end of two years, instead of finding themselves many thousand miles from the place they left, they have found themselves in the port from which they sailed.“ Having a globe before me, I now explained the matter, and he immediately apprehended it. „Besides,“ said I, „here is this quadrant, and this compass, by which instruments we find our way to every part of the world. And I can assure you, that Buddhu has referred to oceans, to continents, to islands, and empires, and people, which never had an existence! Besides,“ I added, „he pretends to have described the whole world.“ And here I handed him a list of all the places mentioned in their books, as well known by him; and, showing him a map of the world, said, „This list of yours does not include one quarter of the world.“ By this time the Priest was in a pitiable state: his face, though a native, turned pale – his lips quivered – and his whole frame was agitated. When he recovered, he excused himself, and apologised for his agitations, and said, „Sir, I have heard with amazement these things. I see the truth of what you state on these points; but how are we situated in other respects?“ – „Well,“ said I, „your astronomy, your history, and in fact, the whole system of your theology, is precisely in the same state. It is all error!“ With great emotion he now rose, took me by the hand, shook it in the most hearty manner, and said he never could have expected such discoveries to be made to him;

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thanked me much for the time that I had spent with him, and begged me to become his spiritual instructor.

Es wäre vermutlich verfehlt, aus diesem Bericht eines methodistischen Missionars aus dem frühen 19. Jahrhundert abschließend herauszulesen zu wollen, ob und in welcher Form dieses Treffen stattgefunden, und welche Positionen der buddhistische Mönch, über den hier berichtet wird, in dieser Auseinandersetzung tatsächlich eingenommen hat. Worauf dieser Text jedoch verweist, ist zweierlei: Zum einen lässt er das Selbstverständnis christlicher Missionare im 19. Jahrhundert und deren Verhältnis zum zeitgenössischen wissenschaftlichen Wissen, besonders im Bereich der Astronomie und Geographie erkennen. Insofern ist dieser Bericht – wie wir im Folgenden sehen werden – typisch für eine im 19. Jahrhundert weit verbreitete christliche Missionsstrategie, welche davon ausging, dass das gesamte buddhistische Gedankengebäude in sich zusammen fallen werde, wenn nur die kosmologischen Grundlagen desselben erschüttert würden. Von diesem Zusammenbruch des buddhistischen Weltbildes in der Konfrontation mit der modernen Wissenschaft versprach man sich gleichzeitig, dass damit der Weg für eine Annahme des Christentums frei sein würde. Der Einsatz wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Delegitimierung buddhistischer Vorstellungen und zur Vorbereitung einer erfolgreichen Missionierung war überaus beliebt und spielte in der Auseinandersetzung zwischen Christen und Buddhisten auf Sri Lanka – und anderswo – eine wichtige Rolle (Young/ Somaratna 1996: 69–70; Lopez 2008: 53–57). Zum anderen – und damit gleichzeitig eng verknüpft – lässt der Text erkennen, welche zentrale Bedeutung in der Begegnung zwischen Buddhismus, Christentum und westlicher Wissenschaft im 19. Jahrhundert Kontroversen über die mit der buddhistischen Kosmologie verbundenen räumlichen Vorstellungen einnahmen. Wie im eingangs zitierten Beispiel geschildert, setzten westliche Akteure in ihren Bestrebungen einer Konfrontation der traditionellen buddhistischen Kosmo-Geographie mit geographischen und astronomischen Wissensbeständen häufig auf die argumentative Evidenz moderner Raummedien wie Karte und Globus.2 Eine Auseinandersetzung mit den Ansprüchen westlichen wissenschaftlichen Wissens sowie eine in vielen Fällen tiefgreifende Transformation kosmo-geographischer Vorstellungen wurde nicht zuletzt aus diesem Grund zu einem zentralen Aspekt des sogenannten „buddhistischen Modernismus“ und dem —————

2 Den Begriff der „Kosmo-Geographie“ übernehme ich von Stephen Collins (1998: 301), der im Bezug auf den Pali-Buddhismus von einer um den Berg Meru zentrierten „cosmo-geography“ spricht. Zum Begriff des „Raummediums“ siehe im Folgenden Abschnitt 2.

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mit diesem seit dem 19. Jahrhundert untrennbar verbundenen „discourse of scientific Buddhism“ (McMahan 2004; 2008). Um sich diesen Zusammenhängen von Medialität und Räumlichkeit unter einer imaginationsbezogenen Perspektive zu nähern, werde ich wie folgt vorgehen: In einer ersten theoretischen Skizze gehe ich im Anschluss an Jörg Dünne von einer konstitutiven Medialität des menschlichen Raumbezugs aus und nehme zugleich jegliche räumliche Imagination als eine medial grundierte Praxis in den Blick. Im Zentrum steht dabei die Bedeutung spezifischer als „Raummedien“ verstandener medialer Dispositive in der Konstitution kosmo-geographischer Räume (Abschnitt 2.). Diese spielten in den verschiedenen vom westlichen Kolonialismus beeinflussten buddhistischen Kontexten des 19. Jahrhunderts in Auseinandersetzungen zwischen Christen und Buddhisten eine bedeutende Rolle im Übergang von den Raumvorstellungen der klassischen buddhistischen Kosmo-Geographie zur (Neu-)Konzeptualisierung kosmo-geographischer Räume im buddhistischen Modernismus (Abschnitt 3.). Die Diskussion von Beispielen, vorwiegend aus Thailand und Sri Lanka, illustriert diese Bedeutung von Raummedien wie Karte und Globus für eine solche Transformation von Raumvorstellungen. Zunächst skizziert ein Exkurs zur Geschichte der kartographischen Imagination in Europa und Südostasien die mediengeschichtlichen Hintergründe (Abschnitt 4.1.), bevor am Beispiel Thailands theoretische Überlegungen zur Rolle der Imagination in der Konstitution wissenschaftlicher Räume angestellt werden (Abschnitt 4.2.). Die beispielhafte Diskussion eines modernistisch-buddhistischen Textes aus dem Thailand der 1860er Jahre verdeutlicht die weitreichenden Folgen, welche die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Raummedien für die thailändische buddhistische Elite hatte (Abschnitt 4.3.). Gleichzeitig muss sich im Kontext der hier verfolgten Fragestellung auch eine nicht grundsätzlich von einer Überlegenheit von Wissenschaft ausgehende kulturwissenschaftliche Perspektive mit der historisch oftmals zu beobachtenden Durchsetzungsfähigkeit wissenschaftlichen Wissens auseinander setzen. Zu diesem Zweck werden die als Träger solches Wissens fungierenden Raummedien in Anknüpfung an die Wissenschaftsstudien Bruno Latours als „unveränderliche mobile Elemente“ (immutable mobiles) charakterisiert (Abschnitt 5.1.). Unter dieser Perspektive lässt sich die berühmte Panadura-Debatte zwischen Christen und Buddhisten im kolonialen Sri Lanka im Jahr 1873 in neuer Weise in den Blick nehmen (Abschnitt 5.2.). Mit einem kurzen Blick ins Japan des 19. Jahrhunderts und einer resümierenden Verhältnisbestimmung der hier präsentierten raum- und imaginationstheoretischen Überlegungen zum Ansatz der Religionsästhetik schließt der Hauptteil des Aufsatzes ab (Abschnitt 5.3.). Ein Ausblick auf die modernistische Position des XIV. Dalai

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Lama illustriert abschließend die bleibende Bedeutung der Frage nach dem Verhältnis von buddhistischer Kosmo-Geographie und Wissenschaft (Abschnitt 6.). 2. Raummedien und Imaginations-Räume Der vorliegende Aufsatz fokussiert den in der Einleitung angesprochenen Wandel räumlicher Vorstellungen primär als einen medialen Wandel und fragt nach der Rolle wissenschaftlicher Raummedien wie der modernen Karte und des Globus in der Infragestellung der traditionellen, um den Berg Meru zentrierten buddhistischen Kosmo-Geographie. Ich verwende den Begriff „Raummedien“ im Folgenden mit Verweis auf Überlegungen von Hermann Doetsch (2004a), Jörg Döring/Tristan Thielmann (2009) und Jörg Dünne (2008; 2011). Der Begriff verweist darauf, dass Räumlichkeit und Medialität in der hier gewählten Perspektive untrennbar zusammen gehören und „dass jedes mediale Gefüge einen spezifisch strukturierten Raum produziert. Etappen in der Geschichte des Raumes stellen deshalb auch Etappen in der Mediengeschichte dar“ (Doetsch 2004a: 73). Medienhistorisch lässt sich daher die Frage anschließen, „welche Räume sich über welche Medien zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt konstituieren können“ (Dünne 2008: 49). Während in diesem Sinne jegliches Medium (also etwa ganz generell auch Texte und Bilder) als Raummedium fungieren kann, interessiere ich mich im Folgenden primär für wissenschaftliche Raummedien, die einen Anspruch auf Vermittlung wissenschaftlichen Wissens ebenso wie den Anspruch auf eine Repräsentation geographisch-physikalischer Raumverhältnisse erheben. Ein solches wissenschaftliches Raummedium wie zum Beispiel die neuzeitliche Karte erscheint Jörg Dünne (2008) zufolge zugleich als Operations- wie auch als Imaginationsmatrix, es ermöglicht nicht nur bestimmte Strategien der Raumbeherrschung, sondern stellt ebenso die historische Möglichkeitsbedingung je spezifischer Raumvorstellungen dar. Im Zuge des spatial turn ist der Raum eine für kulturwissenschaftliche Perspektiven zentrale Kategorie geworden und hat damit gleichzeitig seine ‚Natürlichkeit‘ als Voraussetzung menschlicher Existenz und Kultur verloren. Vielmehr konstituiert sich Raum aus kulturwissenschaftlicher Sicht erst in kulturellen Zusammenhängen und ist von diesen nicht ablösbar (Schlögel 2002; Weigel 2002; Döring/Thielmann 2008). In seiner Studie zur kartographischen Imagination schlägt Jörg Dünne daher im Anschluss an Gilles Deleuze und Félix Guattari vor, die Medialität einer jeden Raumkonstitution als Ausgangspunkt zu wählen. So lasse sich Räumlichkeit jenseits von

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sozialkonstruktivistischer und geodeterministischer Verkürzung denken, und darüber hinaus der Zusammenhang von Räumlichkeit und Medialität medienhistorisch differenzieren (Dünne 2011: 18–23). In den Blick kommen so historisch variable mediale Dispositive und die mit bestimmten Raummedien wie etwa der neuzeitlichen Kartographie erst ermöglichten Arten der Raumkonstitution (Dünne 2011: 34). Sie erscheinen als Grundlage der Herstellung von Räumen „die nie anders denn medial überhaupt verfügbar sind“ (Dünne 2011: 32). Versteht man darüber hinaus mit Sybille Krämer jegliche Form des Weltbezugs als medial vermittelt, lässt sich der primäre Effekt von Medientechnologien generell als „Welterzeugung“ beschreiben (Krämer 2000); in diesem Sinne stellen die mit Hilfe wissenschaftlicher Raummedien konstituierten Räume nur einen Sonderfall medialer Weltschöpfung dar. Eine solche Perspektive auf die Herstellung räumlicher Ordnungen führt zu der Frage, „durch welche medialen Praktiken beziehungsweise Operationen sich solche Ordnungen konstituieren beziehungsweise verändern“ (Dünne 2011: 29). Räume, als aus kulturwissenschaftlicher Sicht immer schon symbolisierte, aber auch territorialisierte Raum-Ordnungen und Raum-Ortungen, verweisen auf die je in einem historischen Kontext stehende Verwendung von Raummedien. Ihre technische Instrumentalität bringt Raum-Nutzungen hervor und verändert diese, konstituiert und transformiert gleichzeitig aber auch symbolische Ordnungen (Dünne 2011: 29– 30). Während topographische Aufzeichnungssysteme somit einerseits einen „Naturalisierungseffekt“ der jeweiligen Raumkonstruktion durch Prozesse der Relationierung von Medium und konkretem Ort im Raum implizieren (Dünne 2011: 33), bringen sie gleichzeitig auch „vorstellbare Möglichkeitsräume“ (Dünne 2011: 44) hervor und lassen sich damit als „Imaginationsmatrizen“ verstehen (Dünne 2008), die als „medienhistorische Möglichkeitsbedingungen für kulturelle Topographien“ fungieren (Dünne 2008: 49). An diese Überlegungen anknüpfend interessiert auch die Imagination im Folgenden – in Abgrenzung zu alltagssprachlichen Bedeutungen des Begriffs, die allgemein auf die menschliche Vorstellungskraft verweisen – in einem medientheoretisch akzentuierten Sinn, der sich für eine religionsästhetische Perspektive als weiterführend erweisen könnte. Denn ebenso wie oben im Anschluss an Jörg Dünnes Anknüpfung an Deleuze/Guattari jegliche Raumkonstitution medienanthropologisch grundiert wurde (vgl. auch Doetsch 2004b), lässt sich auch Imagination medienanthropologisch fokussieren und damit einer medienhistorischen Differenzierung eröffnen. Sie wird daher im Folgenden weder als rein mentales Vermögen eines Subjekts gefasst, noch im Sinne der Lacanschen Psychologie in einem ‚Imaginären‘

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als präsymbolischer Entität fundiert (Dünne 2011: 52). Vielmehr wird Imagination im Blick auf ihre „medienhistorischen Möglichkeitsbedingungen“ (Dünne 2008: 49) einer Historisierung unterworfen. Dies verweist auf ein Konzept von Imagination in welchem diese „sich immer nur in medial gestützter Zeichenhaftigkeit äußert und so zwischen rein mentaler Interiorität und der Technizität äußerer Bilder steht“ (Dünne 2011: 52). Sie bezieht sich somit auf „das, was in einer Wissensordnung zu einem gegebenen Zeitpunkt konkret vorstellbar wird“ (Dünne 2008: 50, Fußnote 5). Eine Beschäftigung mit Imagination lässt sich in diesem Verständnis nicht von der Frage nach den Medien der Imagination ablösen. Gleichzeitig wird durch eine solche Historisierung Imagination abseits ahistorischer anthropologischer Fundierungen in spezifischen und sich historisch wandelnden Imaginationspraktiken greifbar. In den Blick kommen „medienhistorisch differenzierte Praktiken des Imaginierens“ (Dünne 2011: 46). Dies ermöglicht anhand der hier im Zentrum stehenden Raummedien eine „Verlagerung der Fragestellung auf konkrete, positiv beschreibbare Imaginationstechniken und -praktiken als Artikulationsformen menschlicher Operationalisierung und Symbolisierung von ‚Welt‘“ (Dünne 2011: 46). Gleichzeitig geht es nicht um eine Verabsolutierung der medientheoretischen Perspektive, die Imagination vollständig auf ein „mediales Apriori“ reduziert, „sondern darum, anzuerkennen, dass erst die mediale Artikulation es ermöglicht, Raumvorstellungen als Positivität zu begreifen“ (2011: 51–52). Vorstellungen von Welt entstehen im Zusammenspiel mit Raummedien, die solche Vorstellungen nicht etwa nur verändern, sondern dazu beitragen, diese überhaupt hervorzubringen (Dünne 2011: 47). So beschreibt Dünne die Kartographie beispielhaft als ein zentrales neuzeitliches Raummedium, das durch die Bereitstellung von „Vorstellungsfläche[n]“ (Dünne 2011:41) als „historische Möglichkeitsbedingung“ neuartiger Vorstellungsräume in der frühen Neuzeit fungiert (Dünne 2008: 50). Während Jörg Dünne vor allem literarische Texte analysiert, interessiert mich im Folgenden, welche Rolle moderne Raummedien, anhand derer wissenschaftlich begründete Raumvorstellungen imaginiert werden und alternative Raumvorstellungen in Frage gestellt werden, in der Begegnung von Christentum und Buddhismus besonders im 19. Jahrhundert gespielt haben. Die hier bisher in Anknüpfung an Dünne entfalteten und eng verknüpften raum-, medien- und imaginationstheoretischen Überlegungen sollen im Folgenden für die Analyse der Transformation kosmo-geographischer Imaginationen fruchtbar gemacht werden. Die Veränderungen der räumlichen Vorstellungen im buddhistischen Modernismus werden so nicht unter einer Perspektive der Ablösung eines ‚imaginären‘buddhistischen durch ein modernes ‚wissenschaftliches‘ – und

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damit ‚reales‘ – Raumverständnis in den Blick genommen. Vielmehr lässt gerade ein Ansatz, der sich für Raummedien interessiert, erkennen, dass kosmo-geographische Räume unabhängig von ihrem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zunächst immer als Imaginationsräume zu betrachten sind, die auf einem historisch spezifischen medialen Gefüge basieren. Dieser enge Zusammenhang von Räumlichkeit und Medialität, der zunächst für jedes mediale Dispositiv gilt, wird in Abschnitt 5 darüber hinaus in Anknüpfung an Bruno Latours Konzept der „unveränderlichen mobilen Elemente“ im Hinblick auf den mit bestimmten Raummedien verbundenen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit in den Blick genommen. 3. Der Wandel kosmo-geographischer Vorstellungen vom Pali-imaginaire zum buddhistischen Modernismus In der klassischen indischen und buddhistischen Kosmo-Geographie, in der das Weltsystem als eine flache Scheibe konzipiert wird, bildet der Berg Meru das Zentrum der Welt, umgeben von sieben konzentrischen Ringen von Bergen und Ozeanen. Diese sind umschlossen von einem weiteren Salzwasserozean, in welchem in den vier Himmelrichtungen vier Kontinente liegen, von denen der südliche Kontinent Jambudvipa von Menschen (und Tieren) bewohnt wird. Dieser Ozean wiederum wird von einem äußeren Ring von eisernen Bergen begrenzt. Unterhalb der Kontinente liegen die ‚Höllen‘, die von Geistern (peta), Gegengöttern (asura) und Höllenwesen (naraka) bewohnt werden. Entlang der Hänge und oberhalb des Berges Meru befinden sich die sechs himmlischen Reiche, die von den Göttern (devas) bewohnt werden. Diese elf Reiche (Höllenwesen, Gegengötter, Geister, Tiere, Menschen, Götter) bilden die Welt der Sinne (kamadhatu), jenseits derer sich die sechzehn Reiche der Form (rupadhatu) und die vier formlosen Reiche (arupadhatu) befinden. Während die elf Reiche der Sinnenwelt den Kreis der Wiedergeburt repräsentieren, korrespondieren die zwanzig darüber gelegenen Reiche mit bestimmten Stufen der buddhistischen Visualisierungspraxis. Die Ausmaße und Entfernungen innerhalb dieser Kosmologie werden in yojana angegeben, deren Entsprechung in der Sekundärliteratur unterschiedlich angegeben wird (im Folgenden 7 km, vgl. Sadakata 1997: 25). Merus Höhe über dem Wasser beträgt 80.000 yojanas, d. h. 560.000 km. Der Durchmesser der gesamten Weltenscheibe wird mit 1.203.450 yojanas angegeben (Sadakata 1997: 25–30). Sonne und Mond umkreisen den Berg Meru in einem Ring aus Wind, der genau in der Mitte zwischen dem Mee-

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resspiegel und der Bergspitze liegt, und in welchem sich auch die Sterne befinden (Sadakata 1997: 38–39). Diese Vorstellung einer um den Berg Meru zentrierten Welt bildet einen zentralen Aspekt dessen, was Steven Collins (1998) in einer umfangreichen Studie zu theravāda-buddhistischen Vorstellungen des Nirvana das „Paliimaginaire“ genannt hat. Dieses „mental universe created by and within Pali texts“ (Collins 1998: 41) einschließlich der durch diese Texte vermittelten kosmo-geographischen Vorstellungen weist über einen Zeitraum von über 2000 Jahren eine erstaunliche Stabilität auf. Zusammengehalten vor allem durch die gemeinsame kanonische Sprache und die in den PaliTexten entfaltete Welt, verband es die verschiedenen Regionen der palibuddhistischen Ökumene miteinander. Buddhistische Mönche fanden so auf ihren Reisen an den verschiedensten Orten eine geteilte Welt religiöser Praxis sowie generationenübergreifend eine trotz tiefgreifender historischer Wandlungsprozesse relativ stabile Vorstellungswelt vor (vgl. Collins 1998: 51, 63–64). Collins (1998: 53–55) unterteilt die Geschichte des TheravādaBuddhismus in seiner Studie in drei historische Epochen. Den frühen Buddhismus von der Zeit Buddhas bis zur Herrschaft Asoka (268–239 v.d.Z.), die traditionelle Epoche (ca. 3. v.d.Z. bis Ende des 18. Jhdt.s u.Z.), die sich anhand einer Vielzahl von textlichen aber auch materiellen und bildlichen Quellen rekonstruieren lässt und in der Pali zwar bereits eine hochgelehrte, aber dennoch sehr lebendige Sprache ist, sowie die moderne Epoche (seit dem 19. Jhdt.), die sich für Collins dadurch auszeichnet, dass Pali nicht mehr das zentrale sprachliche und textuelle Medium für den Buddhismus ist. Letztere Epoche charakterisiert er darüber hinaus wie folgt: „One might say it is the period of modernist Buddhism, in which the self-definition of the tradition has come to include, as an intrinsic component, the reaction to western colonialism and science“ (1998: 54). Am Beispiel der religiösen Modernisierungsbestrebungen der thailändischen Könige seit dem 19. Jahrhundert skizziert Collins diesen Wandel, aufgrund dessen die oben skizzierte pali-buddhistische Kosmo-Geographie ihren zentralen Status als gesellschaftlicher Imaginationsraum verloren hat, auch wenn ihre soziale Relevanz zum Teil erhalten geblieben ist (1998: 60–63; vgl. Reynolds 1976; Swearer 1999). Entscheidend sei jedoch, so Collins, dass im Rahmen dieses modernen Wandels „something very definite has changed“ (1998: 63) und dies betreffe insbesondere die um den Berg Meru zentrierte „cosmogeography“ (1998: 301). Der vorliegende Aufsatz wählt diese Beobachtung von Steven Collins als Ausgangspunkt und argumentiert im Folgenden, dass sich zentrale Aspekte dieser Veränderungen anhand der Konflikte um moderne wissenschaftliche

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Raummedien verfolgen lassen. Bereits die einleitend wiedergegebene Begegnung im Sri Lanka des 19. Jahrhunderts verweist auf die epistemologischen Brüche, die im Aufeinandertreffen von Geographie, Kosmologie und der Konfrontation buddhistischer Gelehrter mit der christlichen Mission eröffnet werden. Aufbauend auf den bereits skizzierten Überlegungen zum Zusammenhang von Medialität, Imagination und Raum lassen sich die daraus erwachsenden Auseinandersetzungen um die buddhistische KosmoGeographie als Aufeinandertreffen von verschiedenen Raumvorstellungen, von gegensätzlichen Imaginationsräumen verstehen. Wenn jedoch die mit dem Pali-imaginaire verbundene KosmoGeographie über mehr als 2000 Jahre die von Collins konstatierte Stabilität aufweist, wie lässt sich dann erklären, dass – zumindest wenn wir dem Bericht Cloughs und den im Folgenden diskutierten Beispielen Glauben schenken – ein christlicher Missionar mit ein paar Karten und technischen Geräten in einer abgelegenen Hafenstadt Südasiens ein solches mehrere tausend Jahre altes System erschüttern kann? Wie kann dies beschrieben werden, ohne dass bereits im Vorhinein aus heutiger Perspektive auf die Durchsetzungskraft ‚objektiver Faktenʻ sowie eine grundsätzliche Überlegenheit wissenschaftlichen Wissens verwiesen wird? 4. Karte, Globus, Kompass: Der thailändische buddhistische Modernismus und die Medien wissenschaftlicher räumlich-kosmologischer Vorstellungen In dem eingangs zitierten Bericht über eine Begegnung zwischen dem Methodisten Benjamin Clough und einem buddhistischen Mönch spielen nach der Darstellung des Missionars (Welt-)Karte, Globus, Kompass und Quadrant für die Vermittlung und Plausibilität der wissenschaftlichen Geographie und Astronomie eine zentrale Rolle. Solche hier als „Raummedien“ verstandene Gegenstände waren in den Auseinandersetzungen buddhistischer Eliten mit dem Christentum und westlichen Wissensbeständen jedoch nicht nur in diesem Fall von hoher Bedeutung. Sie standen beispielsweise ebenso in Thailand und Japan sowie zu einem späteren Zeitpunkt erneut in Sri Lanka im Mittelpunkt entsprechender Kontroversen. In Thailand kam es seit den 1830er Jahren zu einer Transformation kosmo-geographischer Vorstellungen, zu welcher die Kontakte verschiedener Mitglieder der politischen und monastischen Eliten zu den Vertretern westlicher Mächte sowie den neu im Land ansässigen protestantischen Missionaren entscheidend beitrugen (vgl. Terwiel 1986; Aphornsuvan 2009). Auch hier spielte die Auseinandersetzung mit den Ansprüchen der neuartigen geographischen Wissensbestände eine zentrale Rolle für die Identitäts-

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findung der politischen und religiösen Eliten. So konstituierte sich Thailand erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts mit Hilfe der westlichen Geographie und der modernen Kartographie als ein nationales Staatsgebiet, als „geobody of a nation“ – wie Thongchai Winichakul (1994) in einer breit rezipierten Studie gezeigt hat. Gleichzeitig fanden auch hier zahlreiche wissenschaftliche Gerätschaften unter Mönchen und lokalen Eliten großes Interesse und waren an der Durchsetzung neuartiger Raumvorstellungen entscheidend beteiligt. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war die räumliche Imagination in Thailand, wie sie sich in Texten, bildlichen Darstellungen, aber auch in der Architektur greifen lässt, von der bereits skizzierten, um den Berg Meru zentrierten, buddhistischen Kosmo-Geographie geprägt. Die mit dieser verbundenen Raumvorstellungen wurden jedoch seit den 1830er Jahren nicht nur von Seiten westlicher Akteure und christlicher Missionare in Frage gestellt, sondern vielmehr ebenso von den politischen und monastischen Eliten selbst. Um den Mönch und späteren König Mongkut (1804– 1868, reg. 1851–1868) sammelte sich eine Gruppe buddhistischer Intellektueller, die sich intensiv mit westlichen Wissensbeständen und technischen Errungenschaften auseinandersetzte (Terwiel 1986). Mongkut, der bereits früh mit dem katholischen Priester Jean-Baptiste Pallegoix (1805–1862) sowie den protestantischen Missionaren Jesse Caswell (1809–1848) und Dan Beach Bradley (1804–1873) intensiven Austausch pflegte und mit der Gründung des Thammayut-Nikaya eine Reform des thailändischen Buddhismus anstrebte, war einer der zentralen Akteure in dieser Öffnung der thailändischen Elite für westliche Wissensbestände und dessen neuartige Vermittlungsformen. Bereits 1831 zeigte sich Karl Gützlaff (1803–1851), einer der ersten protestantischen Missionare in Thailand, von seiner Begegnung mit Mongkut, der Englisch sprach und von ihm als „decided friend of European sciences“ beschrieben wurde, tief beindruckt (Gützlaff 2001: 67). J.T. Jones (1802– 1851), ein weiterer Missionar, schreibt im Jahr 1836: „He has an eighteen inch celestial globe, respecting which I had previously given him considerable information. He seems tolerably well to understand the Copernican system of astronomy as to its most important facts, and to believe it“ (Jones 1836: 233). Jones drückt seine Erwartung aus, dass diese Überzeugung „must affect his religious beliefs“ und berichtet im selben Brief auch von Mongkuts Interesse für Karten: He received me kindly, and after a few inquiries, called for his maps (European), and asked many questions regarding various countries, and especially in reference to the different length of days and nights occasioned by the perihelion and aphelion and the

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obliquity of the earth’s axis; particularly, in what regions the sun withdraws his beams for six months of the year (Jones 1836: 233).

Wie der Missionar Jesse Caswell schildert, behauptete Mongkut im Jahr 1845 darüber hinaus auch, dass er von der Kugelgestalt der Erde bereits fünfzehn Jahre zuvor überzeugt gewesen sei, noch bevor die protestantischen Missionare dieses Wissen ins Land gebracht hätten (Bradley 1966: 38). Das von Mongkut aufgebrachte Interesse für westliche Karten und Globen sowie die Wissensbestände der Geographie und Astronomie verweist auf einen weit verbreiteten Ausgangspunkt des buddhistischen Modernismus des 19. Jahrhunderts. Auf den ersten Blick scheinen diese Entwicklungen somit den Erfolg der christlich-missionarischen Strategien zu bestätigen, da die Auseinandersetzung mit den westlichen Wissensbeständen weitreichende Infragestellungen der Überlieferungen und tiefgreifende Transformationen kosmo-geographischer Vorstellungen auslöste. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch erkennbar, dass sich die Hoffnung der Missionare, dass sich dies als eine Vorbereitung für die Annahme des Christentums erweisen würde, nicht erfüllte. Vielmehr wurde eine solche Übernahme der fremden Religion von den meisten Vertretern der thailändischen Elite sogar explizit abgelehnt und die Konversionsbemühungen scheiterten (Drover 2012: 26–36; siehe auch McFarland 1999: 1–50). Gleichzeitig wurde das über die Karten und den Globus vermittelte geographische Wissen jedoch bereitwillig aufgenommen und von vielen Vertretern der Elite akzeptiert. Wie lässt sich jedoch das Neuartige dieser wissenschaftlichen Raummedien im thailändischen Kontext fassen und ihre Rolle im Wandel kosmo-geographischer Vorstellungen bestimmen? Inwiefern unterscheiden sie sich von anderen Raummedien und kartographischen Praktiken? 4.1. Exkurs: Zur Geschichte der kartographischen Imagination in Europa und Südostasien In der Entwicklung der westlichen Geo- und Kartographie lässt sich das 15. Jahrhundert als das Zeitalter der entscheidenden Weichenstellungen verstehen (Woodward 1991). Auch wenn Karten natürlich in Europa bereits sehr viel länger existiert hatten, handelte es sich bei diesen doch zumeist entweder um mittelalterliche auf dem T-O Schema basierende mappae mundi3 —————

3 Diese meist geosteten Karten stellen innerhalb eines äußeren Rings die Flüsse Don und Nil als T dar; die obere Hälfte der dadurch abgegrenzten markierten Fläche soll Asien, die beiden

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oder um lokale und für spezifische Zwecke angefertigte topographische Darstellungen. Sie dienten primär als Erinnerungsstützen und stellten eher „spatial stories“ (Kitchin et al. 2011: 2) dar, als dass sie den Anspruch auf die Vermittlung exakten geographischen Wissens erhoben. Bereits im 13. Jahrhundert entstanden die sogenannten Portolan-Karten, die besonders als Seekarten des Mittelmeers auftraten, aber auch größere Räume bis hin zu den Grenzen der bekannten Welt darstellen. Zunächst basierend auf Küstenund Reisebeschreibungen bilden sie den Übergang zur zweidimensionalen Flächendarstellung und sind auf die Einführung des Kompasses in der Mittelmeerseefahrt zurückzuführen. Ihr Kompassrosennetz erlaubte auf kleineren Meeren wie dem Mittelmeer oder Schwarzen Meer bereits eine sehr genaue Navigation (Siegert 2005: 5). Erst mit der lateinischen Übersetzung der Geographie des Claudius Ptolemäus aus dem Arabischen wurde circa 150 Jahre später dann die Vorstellung eines abstrakten, geometrischen und homogenen Raums zur Grundlage des kartographierten Raums (Woodward 1991: 84). Diese Wiederentdeckung der antiken kartographischen Tradition legte die Grundlage für neuzeitliche Projektionsmethoden, und Mercators winkeltreue Zylinder-Projektion zeigte 1569, dass sich eine Darstellung geographischer Koordinaten und gerader Kompass-Routen innerhalb einer Karte vermitteln ließ. Ein Netz aus Längen und Breitengraden erstreckte sich nun über die gesamte Welt und innerhalb dieses vermessenen Raums ließ sich jeder erreichbare Punkt der Welt lokalisieren. Eine mit dem homogenen Raum verbundene „objektivistische Vision der Welt“ (Siegert 2005: 6) trat in Konkurrenz zu alternativen Topographien. Ebenso wandelte sich die Raumvorstellung „from the circumscribed cage of the known inhabited world to the notion of the finite whole earth“ (Woodward 1991: 85). Dennoch war die Idee einer solchen globalen Kartographie weder radikal neu, noch sollten die neuzeitlichen Raummedien als Endresultat einer Stufenleiter verstanden werden. Vielmehr konvergieren in ihnen verschiedene Kulturen der Karte in einer Periode der europäischen Geschichte, in der ein großes Interesse an der Universalität und Vernetzung des Wissens vorherrschte (Siegert 2005: 6; Woodward 1991: 87). Gleichzeitig wäre es falsch, davon auszugehen, dass sich Aufzeichnungen geographischen Wissens nur im europäischen Kontext entwickelt haben ————— unteren Viertel Europa und Afrika darstellen. Es handelt sich dabei allerdings weniger um die Vermittlung geographischen Wissens als vielmehr um eine Verräumlichung heilgeschichtlicher Narrative, in der das O den Erdkreis (orbis) und das T das Kreuz Christi bezeichnet, an dessen Kreuzungspunkt Jerusalem lokalisiert wird (vgl. Siegert 2005: 5–6; siehe dort auch allgemein zu einer kurzen historischen Typologie der Karte).

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und in nicht-westlichen Kontexten erst eingeführt werden mussten (vgl. etwa Harley/Woodward 1994 zur Kartographiegeschichte Ost- und Südostasiens). Vielmehr gab es etwa in Thailand auch vor dem 19. Jahrhundert bereits eine Vielzahl lokaler Raumverständnisse sowie topographischer Aufzeichnungen, die durchaus auch kartographischen Ausdruck fanden. In den meisten Fällen schlugen sich hier religiös konnotierte Raumvorstellungen nieder: „[W]e can say that space was conceived and made meaningful by systems of sacred entities. These entities mediated between space and human, creating particular kinds of imagined space“ (Winichakul 1994: 28). Neben diesen primär buddhistisch-kosmologisch geprägten Darstellungen sind allerdings auch Karten erhalten, welche Ausschnitte der Erdoberfläche repräsentieren. So enthält ein Manuskript von 1776 eine Reihe von Zeichnungen, die den Verlauf von Flüssen darstellen und auf denen auch das heutige Sri Lanka verzeichnet ist. Diese Darstellungen gehen dabei möglicherweise auf das Königreich von Ayutthaya (14. bis 18. Jahrhundert) zurück. Eine weitere Karte verzeichnet, wenn auch mit deutlichen Abweichungen zu heutigen Karten, den Verlauf der Küstenlinien von Korea bis Arabien (Winichakul 1994: 28–29). Es handelt sich hier vermutlich um eine topographische Darstellung, der aus der Erfahrung von Schiffsreisen gewonnene Entfernungsangaben zugrunde liegen. Auch eine das heutige nordöstliche Thailand darstellende strategische Karte aus der Zeit Rama I. (1737–1809), die vermutlich militärischen Zwecken diente und 1827 im Krieg gegen Vientiane eingesetzt wurde, verzichtet auf kosmologische Darstellungen (Winichakul 1994: 30–31). Es wäre daher verfehlt, indigene Raumverständnisse grundlegend als rein kosmologisch-imaginär einem westlichen geographisch-wissenschaftlichen Kartenwissen gegenüberzustellen. Vielmehr verweisen auch die einheimischen Karten bereits auf komplexe Verbindungen unterschiedlicher räumlicher Vorstellungen im Medium der Kartographie. Allerdings, so stellt Joseph E. Schwartzberg zum Abschluss seiner umfangreichen Untersuchungen zur Geschichte der südostasiatischen Kartographie fest, sind aus dem vormodernen Südostasien keine Globen oder nicht-kosmologischen Weltkarten bekannt, und nur eine Karte, die ein annähernd kontinentales Gebiet darstellt (Schwartzberg 1994: 839). So ist am Beispiel Thailands zu konstatieren, dass die erhaltenen Karten sich von den neuzeitlichen Weltkarten und den im 19. Jahrhundert von westlicher Seite eingeführten geographischen Wissensformen vor allem dadurch unterscheiden, dass diese vormodernen Karten keine Angaben dazu enthalten, wie sich die dargestellte Topographie zur Gesamtheit der Erdoberfläche verhält. Winichakul hält in Bezug auf eine der von ihm untersuchten Karten fest: „There is no reference to the larger earth’s surface, such as latitude and

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longitude lines, or the relation of this territory to nearby kingdoms in terms of boundaries“ (1994: 31). Vielmehr, so folgert er, war dies für lokale Karten keine notwendige Angabe, da eine Abbildung der gesamten Welt rein kosmologischen Darstellungen vorbehalten war. 4.2. Zur Rolle der Imagination in der Konstitution wissenschaftlicher kartographischer Räume Während sich in historischer Perspektive im Bezug auf Thailand somit durchaus Unterschiede zwischen den vormodernen einheimischen und modernen westlichen topographischen Darstellungen feststellen lassen, bestehen diese jedoch nicht im Hinblick auf die Beteiligung der Imagination an der Konstitution der durch die jeweiligen Karten vermittelten Raumvorstellungen. Vielmehr hat die in Abschnitt 2 skizzierte raumtheoretische Perspektive gerade den grundlegenden Zusammenhang zwischen Medialität und Imagination in der Entstehung von Raumvorstellungen in den Mittelpunkt gestellt: In diesem Sinne stehen nicht etwa die imaginären Geographien vormoderner Karten einem von wissenschaftlichen Karten vermittelten objektiven geographischen Wissen gegenüber; vielmehr konstituieren sich sowohl die mithilfe vormoderner wie auch die mithilfe moderner wissenschaftlicher Karten ermöglichten Räume im Zusammenspiel von Wahrnehmung, Imagination und den jeweiligen Raummedien. Ein solcher Fokus auf die „fundamentale Technizität menschlicher Einbildungskraft“ (Dünne 2011: 51) macht es möglich, von der Frage nach der ‚objektiven Realität‘ des Raums und dessen Repräsentation zunächst abzusehen und den Blick auf die notwendige Verbindung von Medien und Imagination in der Konstitution von Raumvorstellungen zu richten. Unabhängig von den in den Charakteristika der jeweiligen Raummedien begründeten und durchaus unterschiedlichen Ansprüchen auf die Vermittlung konkreten geographischen Wissens (vgl. dazu auch Abschnitt 5), sind vormoderne buddhistische kosmo-geographische Räume ebenso wie die wissenschaftlichen Räume moderner Karten und Weltkugeln uns nicht direkt, sondern nur als medial vermittelte Imaginationsräume zugänglich. Sie können in ihrer Gesamtheit nicht direkt sinnlich erfahren werden, sondern werden vielmehr anhand von Raummedien imaginiert, welche die entsprechenden Räume somit nicht nur vermitteln und darstellen, sondern für diese gleichzeitig als „Imaginationsmatrizen“ (Dünne 2008) dienen. Die zentrale Rolle der Imagination in der Konstitution auch wissenschaftlicher Raumvorstellungen lässt sich anhand der grundlegenden medialen Charakteristika der neuzeitlichen Karte verdeutlichen. Basierend auf einer geometrischen Projektion ist diese ein a-perspektivisches Medium,

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dessen dargestellter Raum eben gerade nicht von einer Perspektive aus gesehen wird: „Niemand kann jemals die Erde so sehen, wie sie auf einer Karte dargestellt wird, die von einem Kartennetzentwurf regiert wird“ (Stockhammer 2007: 27). Der über die Karte als Raummedium konstituierte Raum ist vielmehr nur über an diese gebundene Formen der Imagination zugänglich. Dies gilt für Karten in ihrer a-perspektivischen Darstellung ebenso wie für den Globus, der immer nur teilweise gesehen werden kann, selbst aus der Perspektive des Astronauten. In diesem Sinne fungieren auch solche modernen Raummedien trotz ihres wissenschaftlichen Charakters als Ausgangspunkte künstlicher, imaginativer Räume, unabhängig von ihrem Anspruch auf topographische Repräsentation. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Raumvorstellungen, um die es in den Kontroversen zwischen buddhistischen Mönchen und christlichen Missionaren sowie in der Konfrontation buddhistischer Überlieferung mit westlichem geographischen Wissen und seinen Vermittlungsformen geht, lassen sich also nicht so bestimmen, dass die einen nur mit Hilfe der Imagination zugänglich seien, und die anderen ohne eine solche Beteiligung. Vielmehr sind beide nur medial und imaginativ vermittelt verfügbar. Die Bedeutung von Medialität und Imagination für die Konstitution von Raumvorstellungen ist somit unabhängig von der Frage nach der etwaigen Faktualität wissenschaftlichen Wissens und der Fiktivität der buddhistischen Kosmo-Geographie. Entgegen des Selbstverständnisses der Missionare geht es somit im Folgenden nicht darum, zu behaupten, dass anhand der Auseinandersetzung mit einer Karte eine plötzliche Konversion – sei es zum Christentum oder zunächst lediglich zur Überzeugung von einem neuartigen kosmogeographischen Weltbild – ausgelöst wird, so wie dies im eingangs zitierten Brief Cloughs dargestellt ist (ohne diese Möglichkeit vollständig ausschließen zu wollen). Vielmehr lassen sich diese Medien zum einen als Möglichkeitsbedingungen für alternative Imaginationen betrachten, und kommt zum anderen der Wandel der Plausibilitätsstrukturen in den Blick, der durch diese wissenschaftlich-medialen Artefakte ausgelöst wird. So stellt etwa der Globus ein zentrales Raummedium des begrenzten und homogenen neuzeitlichen Raums dar: „on the globe the ‚ends of the earth‘ cannot be ignored“ (Cosgrove 2001: 13). Die westlichen Karten und der Globus stellen somit nicht an sich überlegenes Wissen dar, erheben allerdings durchaus einen anderen Anspruch als die lokalen Karten. Sie verweisen auf den homogenen und singularen Datenzusammenhang der modernen Geographie, aus dem sie nur einen Ausschnitt darstellen; ihr Anspruch auf Universalismus steht somit vielerorts einer Pluralität lokaler geographischer Traditionen gegenüber.

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Auf diese Weise verbindet sich die Frage nach dem wissenschaftlichen Charakter kartographischer Darstellungen mit der Homogenisierung und Universalisierung des geographischen Raums seit der Neuzeit. Diese gingen gleichzeitig mit der Vorstellung einher, dass moderne wissenschaftliche Karten eine objektive Repräsentation der Erdoberfläche böten, und sich damit als Argument gegen andere, konkurrierende Darstellungen und Raumvorstellungen in Stellung bringen ließen. Im Blick auf die Geschichte neuzeitlicher Raummedien lässt sich der Effekt einer Universalisierung wissenschaftlichen Wissens somit als Singularisierung der Raumimagination beschreiben, in deren Folge jegliche kosmologische Geographie in ein Konkurrenzverhältnis zu als wissenschaftlich ausgezeichnetem Wissen tritt (Winichakul 1994: 21–22). Dies wiederum trifft sich auch in Thailand mit der Überzeugung der Missionare, die christliche Religion im Gefolge der wissenschaftlichen Kenntnisse über Geographie und Astronomie erfolgreich vermitteln zu können. So schreibt der Missionar Jesse Caswell am 2. Januar 1846 in einem Brief an das American Board of the Commissioners of Foreign Missions: A little money expended in purchasing a few articles of apparatus illustrative of scientific truth may probably obtain that for the cause of Christ which is greatly needed, and cannot be obtained from any other quarter, while at the same time it contributes to enlarge the minds of those who render the service and qualify them the better to operate on the minds of their fellow countrymen (Caswell zitiert nach Bradley 1966: 40).

Dieser Glaube an die weitreichende Wirkung wissenschaftlicher Raummedien, auf den sich christliche Missionare im 19. Jahrhundert wiederholt beriefen, findet sich jedoch nicht nur bei diesen, sondern wurde – so lässt sich zumindest im Fall der thailändischen Eliten sehen – auch von einheimischen Akteuren geteilt. So geht aus einem von König Mongkut selbst verfassten Brief hervor, dass sich seiner Ansicht nach die von der wissenschaftlichen Geographie vermittelten Wissensbestände nicht mehr in Frage stellen ließen. Er kritisiert in diesem Brief den zeitgenössischen thailändischen Bericht einer im 17. Jahrhundert nach Frankreich ausgesandten diplomatischen Delegation, denn dieser sei „very exaggerated from the facts of truth, and opposed to geographical knowledges which we know now to be true facts of the world“ (zitiert nach Bowring 1857: 445).

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4.3. Chaophraya Thipakorawongs „Kitchanukit“ (1867) und die wissenschaftlichen Imaginationsräume im thailändischen buddhistischen Modernismus Tatsächlich hatten die Begegnungen und Auseinandersetzungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zumindest bei einer Reihe von Vertretern der politischen und monastischen Elite in Thailand den Effekt einer Infragestellung überlieferter kosmo-geographischer Vorstellungen. Obwohl dieses Thema bereits seit der Intensivierung der Kontakte mit der Außenwelt in den 1830er Jahren eine zentrale Rolle spielte, lassen sich die Auswirkungen und Ergebnisse der intensiven Debatten exemplarisch in einem Text greifen, der 1867 erstmals gedruckt und von einem führenden politischen Beamten verfasst wurde: Chaophraya Thipakorawong [Kham Bunnag] (1813–1870), der lange Zeit das Amt des Phra Klang innehatte (vergleichbar mit einem Außenminister). Sein Buch Nangsue Sadaeng Kitchanukit [Ein Buch über verschiedene Dinge] stellt einen zentralen Text des frühen buddhistischen Modernismus nicht nur in Thailand dar, und kann als erster Kulminationspunkt der intensiven Begegnungen und hybriden Prozesse des Wissenstransfers verstanden werden, an denen die thailändische Elite im Verlauf des 19. Jahrhunderts beteiligt war4. Den Ausgangspunkt für Thiphakorawongs Überlegungen stellt der für Thailand hoch bedeutsame und weit verbreitete Text Trai Phum Phra Ruang [Die Drei Welten nach König Ruang] dar. Dieser vermutlich ursprünglich im 14. Jahrhundert u. Z. verfasste Text gilt als einflussreichste Verschriftlichung der buddhistischen Kosmologie in Thailand (vgl. die englische Übersetzung von Reynolds/Reynolds 1982). Er beschreibt die um den Berg Meru zentrierte Welt als eine durch karma bestimmte Hierarchie von 31 Existenzebenen, von den verschiedenen Höllen bis zu den vier Ebenen der brahma Gottheiten. Jede Ebene geht für die dortigen Wesen mit einer bestimmten Verbindung von körperlicher Gestalt, Geschlecht sowie Lebensdauer einher und weist so mit Hilfe des universellen Gesetzes des karma jeder lebendigen Existenz einen bestimmten Platz zu. Darüber hinaus enthält der Text zahlreiche weitere Wissensbestände, wie etwa Erklärungen für die Entstehung von Tag und Nacht oder Berechnungsgrundlagen für die Bewegungen der Sonne und des Mondes (Reynolds 1976: 204–209).

—————

4 Siehe dazu Reynolds 1976 und Winichakul 1994, 37–61. Zum weiteren Kontext auch Hermann 2011b, 316–353. Das Kitchanukit wurde 1871 in Auszügen in englischer Übersetzung als Teil des Buches The Wheel of the Law von Henry Alabaster veröffentlicht. Aus dieser Übersetzung wird im Folgenden zitiert. Vgl. zu Thiphakorawong auch Phirotthirarach 1983.

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Während sich im Kitchanukit zu fast allen zentralen Aspekten des frühen buddhistischen Modernismus aufschlussreiche Diskussionen finden lassen (vgl. auch Reynolds 1976; Hermann 2011a), konzentriere ich mich im Folgenden nur auf die Frage nach der Vermittlung westlichen geographischen Wissens mit der überlieferten buddhistischen Kosmo-Geographie. Grundlegend für Thiphakorawongs Darstellung ist seine Überzeugung, dass die westlich-wissenschaftliche Astronomie wie auch die Vorstellung einer Kugelgestalt der Erde ein überzeugendes Wissen darstellen, welches an die Stelle bisheriger Raumvorstellungen zu treten habe. Als Beleg für dessen Validität führt er unter anderem die Entdeckung der Neuen Welt durch Kolumbus an (Winichakul 1994: 41). Daran anschließend stellt er die Frage, ob eine Akzeptanz dieses neuartigen Wissens nicht der überlieferten Vorstellung einer Allwissenheit des Buddha widerspreche. Um dies zu klären, weist er nach einer ausführlichen Wiedergabe der im Trai Phum enthaltenen buddhistischen Kosmologie und Geographie darauf hin, dass nicht nur dieses klassische Weltbild, sondern ebenso die überlieferten Weltbeschreibungen aller anderen Religionen sich von dem neuen Weltbild unterscheiden: „The ancients, whether Brahmins or Arabs, or Jews or Chinese, or Europeans, had much the same idea of cosmography, and their present ideas on the subject are the work of scientific men in modern times“ (Alabaster 1871: 14). Trotz dieses Eingeständnisses, dass das westliche Wissen dem Trai Phum widerspreche, beharrt Thiphakorawong anschließend allerdings darauf, dass der Buddha diese falsche Kosmologie selbst überhaupt nicht gelehrt habe: „Those who have studied Pali know, that the Lord … never discoursed about cosmography. … For if he had taught that the world was a revolving globe, contrary to the traditions of the people, who believed it to be flat, they would not have believed him“ (Alabaster 1871: 15). Auch Thiphakorawong leugnet jedoch nicht, dass sich innerhalb des Trai Phum ausführliche kosmologische und geographische Darstellungen finden, und dass diese seit Langem in der buddhistischen Tradition wie auch in Thailand für bedeutsam gehalten werden. Für ihn stellen diese Teile des Trai Phum jedoch nicht die Lehre des Buddha selbst dar; vielmehr handele es sich um spätere Hinzufügungen5. Diese seien von den Mönchen in späterer —————

5 Dieses apologetische Motiv findet sich bereits sehr früh in der Entwicklung des buddhistischen Modernismus in Thailand, so etwa in einem bereits oben zitierten Bericht des Missionars J.T. Jones vom 1. Januar 1836 über eine Diskussion mit zwei Mönchen: „Upon my showing them a native book, which details all the wild and fantastic errors of the Buddhist cosmogony, they denied at once that it was any part of their genuine sacred writings … and maintained that the books referred to were written by learned men of former times and contained the best of their conjectures on the subjects to which they relate“ (1836: 233). In ähnlicher Weise ist diese Argu-

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Zeit zusammen getragen worden: „they … took the ancient Vedas, and various expressions in the Sutras and parables, and fables, and proverbs, and connecting them together into a book, the ‚Traiphoom [Trai Phum]‛, produced it as the teaching of Buddha“ (Alabaster 1871: 16). Die durch das westliche Wissen und die neuartige Geographie und Astronomie als falsch erwiesenen Darstellungen des Trai Phum gehen also, so Thiphakorawong, letztlich nicht auf den Buddha selbst zurück. Diese Argumentation ermöglicht eine Aufrechterhaltung der Lehre von der Allwissenheit Buddhas: „by refraining from a subject which men of science were certain eventually to ascertain the truth of, he showed his omniscience“ (Alabaster 1871: 16). Aus dem Eingeständnis der wissenschaftlichen Unhaltbarkeit des Trai Phum folgt jedoch keineswegs – wie dies etwa von den Missionaren erwartet worden war – eine grundsätzliche Ablehnung des Buddhismus; ebenso wenig werden die mit der klassischen Kosmo-Geographie verknüpften buddhistischen Erzählungen verabschiedet: „I have explained about this matter of Meru, and the other mountains, as an old tradition. But with respect to the Lord preaching on Davadungsa as an act of grace to his mother, I believe it to be true, and that one of the many stars or planets is the Davadungsa world“ (Alabaster 1871: 17). In einer hybriden Verbindung der westlichen mit der buddhistischen Kosmo-Geographie wird hier die überlieferte Geschichte über die an seine Mutter gerichtete Predigt des Buddha im Davadungsa-Himmel auf einem der vielen Planeten des westlichen kosmogeographischen Raums neu verortet. Das Beispiel des Kitchanukit zeigt zum einen, dass die Konfrontation mit der wissenschaftlichen Kosmo-Geographie tatsächlich weitreichende Folgen für die thailändische buddhistische Elite hatte. Zum anderen lässt sich aber erkennen, dass diese Infragestellung sich nicht immer in der Weise auswirkte, welche die Missionare erwartetet hatten. Vielmehr führte in Thailand, ebenso wie in vielen anderen Kontexten des buddhistischen Modernismus, die Konfrontation der überlieferten buddhistischen Vorstellungen mit dem neuartigen wissenschaftlichen Wissen zu dem Bestreben einer Reinigung der ‚wahre Lehre des Buddha‘ von späteren Hinzufügungen, während gleichzeitig eine Übereinstimmung dieser Lehre mit den zeitgenössischen wissenschaftlichen Erkenntnissen behauptet wurde – eine Strategie, die im buddhistischen Modernismus bis heute weit verbreitet ist. Die Akzeptanz der wissenschaftlichen Geographie musste somit keineswegs mit einer Ablehnung des Buddhismus einhergehen. Vielmehr war für Thiphakorawong der Nachweis, dass die anderen Religionen ebenso wie ————— mentationsstrategie auch für andere buddhistische Kontexte nachzuweisen (vgl. z. B. Lopez 2008: 47).

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das Trai Phum eine flache Erde vertreten hatten, er aber nachgewiesen habe, dass eine solche Überzeugung nicht auf den Buddha zurückzuführen sei, Grundlage für die folgende Aussage: „One who thinks that the earth is flat is a follower of those who believe in God the Creator. For one who believes that the earth is spherical is following the Buddha’s words about what is natural“ (zitiert nach Winichakul 1994: 41). Die missionarische Argumentation in der Kontroverse um die richtige Kosmo-Geographie wurde somit, wie wir es auch im folgenden Abschnitt am Beispiel Sri Lankas noch einmal sehen werden, von Seiten der einheimischen Intellektuellen im Sinne einer Infragestellung christlicher Überlieferungen auf die Missionare zurück gerichtet. Anhand von Thiphakorawongs Neuverortung des Davadungsa-Himmels lässt sich darüber hinaus erkennen, wie die von neuen Raummedien vermittelte Kosmo-Geographie nicht etwa die Überlieferung komplett ablöst, sondern vielmehr einen neuartigen Imaginationsraum zur Verfügung stellt, in welchem nun auch die klassischen buddhistischen Erzählungen verortet werden. Der durch die wissenschaftlichen Raummedien vermittelte Vorstellungsraum einschließlich des Planetensystems wird nun zur Bühne für die überlieferten Erzählungen über den Buddha. Während die neuen Raummedien und die mit ihnen verbundenen Imaginationstransformationen sich in Thailand zumindest in der Elite relativ schnell durchgesetzt zu haben scheinen, dauerten diese Kontroversen in anderen buddhistischen Kontexten durchaus länger an; hier wurde der Anspruch auf die korrekte Kosmo-Geographie von buddhistischer Seite nicht so schnell aufgegeben, wie im Folgenden am Beispiel Sri Lankas und Japans zu sehen sein wird. 5. Raummedien als unveränderliche mobile Elemente (immutable mobiles) und die Zirkulation wissenschaftlicher Fakten Die beispielhafte Betrachtung christlich-buddhistischer Kontroversen im Thailand des 19. Jahrhunderts hat das Interesse lokaler Eliten für westliche wissenschaftliche Darstellungen und Gerätschaften sowie die Bedeutung neuer Raummedien in der Transformation kosmo-geographischer Vorstellungen im buddhistischen Modernismus illustriert. Ebenso diente die Begegnung zwischen Rev. Clough und dem buddhistischen Abt als Hinweis auf die epistemologischen Brüche, die in der Konfrontation von Geographie, Kosmologie und christlicher Mission aufscheinen. Gleichzeitig blieb jedoch bisher unbestimmt, wie die wissenschaftlichen Raummedien sich von vormodernen Raummedien unterscheiden, wie sie ihre Macht entfalten,

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und es ermöglichen, überlieferte Raumvorstellungen in Frage zu stellen. Wie lässt sich die Macht wissenschaftlichen Wissens und seiner Medien beschreiben, ohne auf eine lineare Geschichte wissenschaftlichen Fortschritts zurückzugreifen, welche diese Medien im Rückblick nur als Träger einer ‚natürlich‘ überlegenen, objektiven und wissenschaftlich korrekten Geographie und Astronomie verstehen kann? Wie kann die überlegene rhetorische Macht der ‚objektiven Fakten‘ wissenschaftlichen Wissens in diesen Auseinandersetzungen analysiert werden? Wie kann eine Situation beschrieben werden, in der die Reaktionsmöglichkeiten und sich neu konstituierenden Imaginationsräume sehr viel hybrider und vielfältiger waren, als dies von Seiten der Missionare erwartet worden war, und in der eine weitgehende Verdrängung überlieferter Raumvorstellungen keineswegs im Vorhinein als Ergebnis feststand? Diese Fragen werden umso entscheidender, wenn wir berücksichtigen, dass entsprechende Gegenstände in Thailand bereits seit den frühen Kontakten zwischen europäischen Mächten und dem thailändischen Königshof sehr begehrt waren. Im 17. Jahrhundert versorgten Vertreter der Niederländischen Ostindien-Kompanie König Narai (1633–1688, reg. 1656 bis 1688) mit zahlreichen Geschenken und beschafften auf sein Geheiß eine Vielzahl technischer Objekte. Unter diesen Luxusartikeln befanden sich Uhren, Teleskope sowie militärische Gegenstände. Am Ende seiner Regierungszeit besaß der König unter anderem „a model of the solar system constructed of silver and gold, various watches, and many other pieces of scientific equipment“ (Hodges 1998: 88). Eine von Narai ausgesandte diplomatische Mission, der 1685 eine Audienz bei Louis XIV. in Versailles gewährt wurde, besichtigte dort auch das Pariser Observatorium. Der Besuch führte dazu, dass Louis XIV. „globes of the heavens and earth“ nach Thailand verschickte, ebenso wie ein Modell, das die Bewegungen der Sonne, des Mondes und der Planeten darstellen konnte (Hodges 1998: 89). Dieses Interesse Narais für europäisches Wissen und europäische Technologie hatte im 17. Jahrhundert jedoch, so Ian Hodges, keinen bleibenden Einfluss auf die räumlichen und kosmologischen Vorstellungen in Thailand (1998: 90). Diese Vorgeschichte des thailändischen Interesses für westliche Karten und technische Gerätschaften weist darauf hin, dass das reine Vorhandensein wissenschaftlicher Gerätschaften an sich noch keinen Wandel räumlicher Vorstellungen auszulösen im Stande war. Mit Bruno Latour lässt sich dies, wie im folgenden Abschnitt ausführlicher dargestellt wird, dahingehend verstehen, dass diese Gegenstände im 17. Jahrhundert isoliert blieben und nicht zur Erweiterung eines Netzwerks wissenschaftlichen Wissens beizutragen vermochten. Die entsprechenden Gegenstände waren zwar nach

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Thailand gelangt, die wissenschaftlichen Fakten jedoch waren, wie man mit Latour formulieren könnte, nicht mit ihnen gereist (1987: 167, 250). 5.1. Bruno Latours Wissenschaftsstudien und die Macht der „unveränderlichen mobilen Elemente“ Wissenschaftliche Gegenstände wie die hier im Zentrum stehenden geographischen Karten, Globen und astronomischen Modelle können mit Bruno Latour im Rahmen der Akteur-Netzwerk-Theorie als „unveränderliche mobile Elemente“ (immutable mobiles) verstanden werden (2006a; vgl. zu Karten auch Cosgrove 2008: 167–168). Latour entwickelt dieses Konzept am Beispiel der frühneuzeitlichen Kartographie in seiner Studie Science in Action (1987), in der er es zur methodischen Grundlage gemacht hat, jegliche Vorannahmen wissenschaftlicher Überlegenheit zu hinterfragen und alternative Erklärungsmöglichkeiten für die Überzeugungskraft wissenschaftlichen Wissens zu finden. Sein wissenschaftsgeschichtlicher Ansatz und das Konzept der „unveränderlichen mobilen Elemente“ erscheint hier auch deshalb als weiterführend, da er sich zum Ziel setzt, nicht von gegebenen und unbestreitbaren Abgrenzungen zwischen vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Kulturen, Erkenntnismethoden sowie Denk- und Wissensformen auszugehen (2006a: 259). An die Stelle einer solchen grundlegenden Dichotomie tritt eine Rekonstruktion inkrementeller Veränderungen, welche die spätere Etablierung drastischer Ungleichheiten erklären kann, ohne entsprechende Unterschiede essentialisieren zu müssen: „Wir müssen den Maßstab der Effekte beibehalten, jedoch nach schlichteren Erklärungen als der einer großen Trennung im menschlichen Bewusstsein suchen“ (2006a: 261). Latour versucht in seinen Wissenschaftsstudien (1987; 2000; 2006a) daher, die besondere Macht wissenschaftlichen Wissens und seiner technologisch-materiellen Repräsentationen als Effekt der Kombination eines konsistenten Repertoires von Kulturtechniken zu verstehen und damit die medientechnische Überlegenheit des Westens so zu beschreiben, dass die Annahme eines „great divide“ überflüssig wird (Schüttpelz 2009: 69). Er fokussiert seine Darstellung auf mit Papiermedien verbundene Inskriptionspraktiken und zählt zu diesen Buchdruck, Linearperspektive, geometrische Projektionen und kartographische Entwicklungen, ebenso wie Statistiken, Tabellen und Grafiken. Während jede solche Erfindung an sich von hoher Bedeutung ist, behandelt Latour diese Kulturtechniken primär als Produzenten von Inskriptionen, deren Macht darin besteht, dass sie sowohl unveränderlich, als auch transportabel sind. „Erfindungen in diesen beiden Dimensionen: der Mobilität und Transportierbarkeit einerseits, und einer fixierba-

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ren Formkonstanz aus reversibel gehaltenen Transformationen andererseits, sind für Latour der Nukleus der medientechnischen Überlegenheit des Westens“ (Schüttpelz 2012: 33). Die Überlegenheit wissenschaftlichen Wissens lasse sich somit nicht etwa auf eine geistige Überlegenheit westlicher Akteure oder grundlegende Unterschiede in der Qualität einzelner Wissenselemente zurückführen, sondern darauf, dass wissenschaftliches Wissen auf der Zusammenführung einer Vielzahl an Einzelbeobachtungen und Wissensbeständen in und mithilfe von immutable mobiles beruht. Diese Zusammenführung, so Latour, geschieht in Rechen(schafts)zentren (centers of calculation), in einem Prozess, indem aus der Zusammenführung von Inskriptionen unveränderlicher mobiler Elemente nun immutable mobiles höherer Ordnung entstehen (2009: 137–143). Am Beispiel der Pazifikexpedition von Jean-François de La Pérouse zeigt Latour, wie es mit Hilfe der dabei gewonnenen und nach Europa zurück gebrachten Daten ermöglicht wird, dass zehn Jahre später der Navigator der nächsten Flotte die Charakteristika der Inseln bei seiner Ankunft bereits zum zweiten Mal sieht, nachdem er zunächst in der Heimat die aus La Pérouse Aufzeichnungen erstellten Karten studiert hatte. Die Entstehung einer Asymmetrie des Wissens hängt „von der Möglichkeit ab, dass einige Spuren der Reise zurück zu dem Ort gelangen, von dem die Expedition ausgesendet worden war“ (2009: 117). Mit dem Konzept des „unveränderlichen mobilen Elements“ beantwortet Latour somit seine eigene Frage nach der Macht der Medien wissenschaftlichen Wissens: Wie kann man aus der Distanz Einfluss auf fremdartige Ereignisse, Orte und Menschen nehmen? Antwort: Indem man diese Ereignisse, Orte und Menschen irgendwie nach Hause bringt. Wie kann dies erreicht werden, wo sie doch weit entfernt sind? Indem man Mittel ersinnt, die (a) diese transportabel machen, damit sie zurück gebracht werden können; die (b) diese stabil machen, damit sie hin- und herbewegt werden können, ohne dass es zu zusätzlicher Verzerrung, Zersetzung oder zum Verfall kommt, und die (c) sie kombinierbar machen, damit sie, egal aus welchem Stoff sie bestehen, aufgehäuft, angesammelt oder wie ein Kartenspiel gemischt werden können (Latour 2009: 124).

Gleichzeitig ist damit gesagt, dass die Existenz wissenschaftlichen Wissens, so Latour, nicht unabhängig von den immutable mobiles und den über sie verknüpften Akteurs-Netzwerken verstanden werden kann: „Es gibt kein ‚Außerhalb‘ der Wissenschaft, aber es gibt lange, schmale Netzwerke, welche die Zirkulation von wissenschaftlichen Fakten ermöglichen“ (2006b: 131). Die Überzeugung eines Anderen von dem anhand der unveränderlichen mobilen Elemente transportierten Wissen ist daher gleichzusetzen mit der Ausweitung eines Netzwerks, das Akteure und Dinge mit den

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Rechen(schafts)zentren verbindet, in denen dieses Wissen hervorgebracht wurde. So formuliert Latour: every time you hear about a successful application of a science, look for the progressive extension of a network. Every time you hear about a failure of science, look for what part of which network has been punctured. I bet you will always find it (1987: 249).

Die wissenschaftlichen Fakten, die zur Konstitution neuartiger kosmogeographischer Imaginationsräume in den christlich-buddhistischen Kontroversen des 19. Jahrhunderts beitragen, können in Bangkok oder Colombo nicht unabhängig von den Instrumenten ankommen, die zu ihrem Transport dienen: „Facts and machines have no inertia of their own; like kings or armies they cannot travel without their retinues or impedimenta“ (Latour 1987: 250). Gleichzeitig lässt sich ihre Macht auf Distanz alleine aufgrund ihrer Transportierbarkeit sichern, die es ermöglicht, eine stabile Verbindung zwischen Zentrum und Peripherie herzustellen. Die moderne Karte ist ein Paradebeispiel für ein immutable mobile als materieller Gegenstand, der als Träger wissenschaftlichen Wissens und des mit diesem verbundenen Wahrheitsanspruchs dient. Sie kombiniert an verschiedensten Orten gesammelte Informationen, die in einem Rechen(schafts)zentrum kombiniert wurden und dann in Gestalt der Karte wieder in Umlauf gebracht werden (Cosgrove 2008: 167–168). Auch wenn von Seiten einer poststrukturalistischen Geo- und Kartographie zurecht bemerkt wird, dass sich der Status einer ‚objektiven Repräsentation‘ auch in der modernen Karte als unveränderlichem mobilem Element nie vollständig realisieren lässt (Murdoch 2006), ist genau dies dennoch der Anspruch, der mit dem Kartenwissen lange Zeit einhergeht, und besonders im 19. Jahrhundert das Selbstverständnis westlicher Geographie prägt: „The entire history of cartography can be told as a history of struggle to realize such a status for the map“ (Cosgrove 2008: 168). Aus der hier skizzierten Perspektive lässt sich auch auf die für das frühneuzeitliche Thailand geschilderten Vorgänge noch einmal ein anderes Licht werfen. Die von König Narai beschafften Gegenstände wurden nicht zu Trägern wissenschaftlicher Fakten, da sie nicht als Teil der Ausweitung eines Akteur-Netzwerks fungierten, in dem diese Fakten transportiert werden konnten. Hingegen wurden Mongkut und die thailändischen Eliten seit den 1830er Jahren nicht zuletzt mit Hilfe entsprechender Gegenstände sehr wohl in ein solches Netzwerk eingebunden, in welchen diese dann auch als Fakten-Träger fungieren konnten. Auf diese Weise kann etwa eine Weltkarte oder ein Globus als Träger ‚objektiven wissenschaftlichen Faktenwissens‘ erscheinen. Wenn es also gelingt, mithilfe unveränderlicher mobiler

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Elemente ein wissenschaftliches Akteur-Netzwerk zu erweitern, können die wissenschaftlichen Fakten ihre Kraft entfalten. Der Mönch des Eingangsbeispiels, ebenso wie verschiedene Vertreter der thailändischen Elite, werden mithilfe von Karte, Globus und Kompass als Verbündete eines AkteurNetzwerks rekrutiert. Wie Latour betont, ist ein solches Netzwerk, in welchem wissenschaftliche Fakten entstehen und transportiert werden, jedoch nur dann erweiterbar und stabil, wenn die wissenschaftlichen Kontroversen, um die es geht, als abgeschlossen betrachtet werden. Dies lässt sich an dem im folgenden Abschnitt präsentierten Beispiel aus Sri Lanka erkennen, welches darüber hinaus erneut auf die vielfältigen Möglichkeiten hybrider Imaginationsräume aufmerksam macht, und somit das Bild einer einfachen Ersetzung eines einheimischen durch ein wissenschaftliches Wissen verkompliziert. 5.2. Der Globus als Raummedium und die christlich-buddhistische Debatte in Panadura im Jahr 1873 In einer berühmten öffentlichen Auseinandersetzung zwischen Christen und buddhistischen Mönchen im Sri Lanka der 1870er Jahre standen wissenschaftliche Gerätschaften und besonders ein westlicher Globus erneut im Zentrum der Aufmerksamkeit. Von der im Jahr 1873 in Panadura veranstalteten Debatte wird berichtet, dass Rev. [David Wikrametilleke] de Silva (1817–1874) die Berg-Meru Kosmo-Geographie auf die folgende Weise in Frage stellte: Where, then, is this great mountain … situated? How is it possible that it could not be seen to the eyes of men? This globe represents the earth. (Here the globe was shown.) In this the shape of the earth, its dimensions, the great rivers and seas, and the positions of the countries, etc., are all represented. Now, the circumference of the earth is 25,000 miles. This is admitted by all the civilized nations of the world. This fact is proved by every day’s experience. Therefore, a mountain with such dimensions could not exist on this earth. Wherever it existed it must be seen, as this globe which now stands on this little inkstand must be seen by all who are on the four sides of it. … Men at no period ever saw such a mountain, nor have they known by science that there could be such a mountain. One who had said that there was such a mountain cannot be supposed to have been a wise man, nor one who spoke the truth. … Is this person to be believed who speaks that which could esily [sic] be proved as false, and declares a thing not existing as if it existed? Certainly not. Besides, everything that is stated in Buddhism is connected with Mahameru6. … Mahameru … must be placed on the earth; if not, Buddhism must be rejected at once (Abhayasundara 1990: 140– 143).

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Der Berg Meru wird oftmals auch als Mahameru [Großer Meru] bezeichnet.

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Erneut steht die Frage nach der buddhistischen Kosmo-Geographie im Zentrum der Auseinandersetzungen. Gleichzeitig werden auch hier das wissenschaftliche Wissen und die neuartigen Raumvorstellungen mithilfe entsprechender Gegenstände wie dem hier erwähnten Globus vermittelt. Silvas Argumentation lässt sich so als ein Versuch lesen, mithilfe dieses unveränderlichen mobilen Elements das Akteur-Netzwerk des mit dem Globus verbundenen wissenschaftlichen Wissens zu erweitern, und damit eine alternative Raumimagination durchzusetzen. Gleichzeitig ist diese Debatte in Panadura jedoch vor allem deshalb so bekannt und interessant, weil nach Ansicht zahlreicher Beobachter am Ende nicht die Christen, sondern die Mönche als Sieger aus der Debatte hervorgingen. Der buddhistische Diskussionspartner, Rev. Migettuwatte [Gunananda Thera] (1823–1890) stimmt zunächst zu, dass sich aus den von Silva zitierten Schriften ableiten lasse, dass der Buddha die Existenz des Berges Meru vertreten habe. Statt Silva rechtzugeben und, wie etwa die thailändischen Vertreter des buddhistischen Modernismus, einen wahren Buddhismus von späteren Hinzufügungen zu unterscheiden, verteidigt Migettuwatte jedoch die Realität des Berges Meru und stellt vielmehr die Grundlage von Silvas Aussagen in Frage, die seiner Ansicht nach auf einer Akzeptanz der Newtonschen Physik beruhen: The Rev. Gentleman no doubt alluded to Sir Isaac Newton’s theory when he made that remark, according to which day and night were caused by the earth revolving round its axis, and not by the sun being hidden behind Mahameru. The little globe which the Rev. Gentleman produced was one made on Newton’s principle … (Abhayasundara 1990: 153).

Dieses Prinzip sei jedoch, wie der Bericht von der Debatte fortfährt, keineswegs unumstritten: even amongst Englishmen there were serious doubts and differences of opinion as to whether Newton’s theory was correct or not. Among others, Mr. Morrison, a learned gentleman, had published a book refuting Newton’s arguments, and he would be happy to allow the Christian party a sight of this book, which was in his possession. (Here he produced and handed around the ‚New principia‘ by R. J. Morrison, F. A. S. L., published in London.) How unjust, then, to attempt to demolish the great Buddha’s sayings by quoting as authority an immature system of astronomy, the correctness of which is not yet accepted … (Abhayasundara 1990: 153–154).

Wie sich im weiteren Verlauf seiner Rede zeigt, zweifelt Rev. Migettuwatte jedoch nicht nur die Überzeugungskraft der Newtonschen Wissenschaft und des darauf basierenden Globus an. Vielmehr versucht er im Anschluss

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selbst, die Existenz des Berges Meru nachzuweisen, und beruft sich hierzu ebenso auf die Plausibilität eines wissenschaftlichen Gegenstandes: The mariner’s compass was the best proof he could give them of the existence of Mahameru. Keep it where you may, the attraction of the magnetic needle is always towards the North. This demonstrated that there was a huge mass in that direction which attracted the needle towards it, and according to the Buddhist books, Mahameru, the grandest and most stupendous rock on the face of the earth, was situated in the North. … The mariner’s compass was the most conclusive argument for the existence of the famed Mahameru (Abhayasundara 1990: 153–156).

Nicht nur will also die buddhistische Gegenseite die Nicht-Existenz des Bergs Meru nicht anerkennen, vielmehr wird der von Silva als Argument angeführte Globus als Träger wissenschaftlicher Fakten selbst in Frage gestellt. Anstelle eines Gegenstandes, der ‚natürliche Fakten‘ repräsentiert, wird der Globus damit zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Kontroverse. Es zeigt sich gerade in einer solchen Situation der vermeintlichen Verhältnisbestimmung zwischen ‚wissenschaftlichem‘ und ‚religiösem‘ Wissen, wie entscheidend es für die Analyse ist, eine nicht-deterministische Position einzunehmen. So lässt sich hier auf die von Latour formulierte „third rule of method“ verweisen, die besagt, dass die Entscheidung über die Beschaffenheit der „Natur“ erst am Ende einer jeden wissenschaftlichen Kontroverse steht und daher nicht als Erklärung der in der Kontroverse getroffenen Entscheidungen angeführt werden kann: Nature is the final cause of the settlement of all controversies, once controversies are settled. … When studying controversy – as we have so far – we cannot be less relativist than the very scientists and engineers we accompany; they do not use Nature as the external referee, and we have no reason to imagine that we are more clever than they are. … since the settlement of a controversy is the cause of Nature’s representation not the consequence, we can never use the outcome – Nature – to explain how and why a controversy has been settled (Latour 1987: 98–99)7.

Während also der Missionar Silva die Kontroverse um die Kugelgestalt der Erde als beendet ansieht, und den Globus als Träger dieses gesicherten Wissens präsentiert, verwendet der Mönch das Buch von R. J. Morrison (eines Vertreters eines geozentrischen Weltbildes im England des 19. Jahr—————

7 Trotz der Kontroversen um die „science studies“, die sich oft an dieser Aussage Latours entzünden (vgl. Sokal 2000: 129), scheint zumindest für den hier im Zentrum stehenden Fall eine solche „rule of method“ sehr wohl entscheidend zu sein, da sich, wie wir gesehen haben, auch die wissenschaftlichen Imaginationsräume nur medial – also nicht anders als die buddhistischen Raumvorstellungen – verständlich machen lassen.

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hunderts8) gerade dazu, den Status eines solchen gesicherten Wissens wieder in Frage zu stellen und die Kontroverse erneut zu eröffnen (vgl. Latour 1987: 97–98). Der Mönch versucht, Morrison über dessen Buch als Verbündeten in einem Netzwerk gegen den Missionar Silva zu rekrutieren, welches nun plötzlich die große Distanz zwischen London und Columbo überbrückt und beide zu Akteuren in einer wissenschaftlichen Kontroverse macht. Die Auseinandersetzungen um die richtige Kosmo-Geographie waren mit dieser Phase des buddhistischen Modernismus nicht beendet. Hikkaḍuvē Sumaṅgala (1827–1911), einer der führenden Mönche Sri Lankas und zentraler Akteur auf buddhistischer Seite war noch Jahre später an diesen Debatten interessiert und schrieb 1892 an einen anderen Mönch wie folgt: „That day [you] spoke with me about the preparation of a book by Mr. Vācissara, harmonizing the shape of the world with Buddha-vacana. … I have a great desire to see it. There are many elements for me to publicize in various periodicals about this“ (Übersetzung aus dem Sinhala, zitiert in Blackburn 2010: 17). Zumindest in Sri Lanka war anscheinend von buddhistischer Seite aus die Frage nach der Existenz des Bergs Meru und der richtigen Kosmo-Geographie noch lange nicht abschließend geklärt. 5.3. Die buddhistische Astronomie von Entsū Fumon im Japan des 19. Jahrhunderts und die Bedeutung von Imaginationsräumen für die Religionsästhetik Die Auseinandersetzungen um die westliche Geographie und Astronomie waren nicht auf theravāda-buddhistische Kontexte beschränkt (vgl. einführend Lopez 2008, besonders 39–72). So lassen sich etwa in Japan im 19. Jahrhundert vergleichbare Formen hybrider Wissensformationen erkennen. Der Mönch Entsū Fumon (1755–1834) verfasste Anfang des 19. Jahrhunderts ein bereits 1807 publiziertes fünfbändiges Werk unter dem Titel Bukkoku rekishōhen [Astronomie Buddhistischer Länder]. In Reaktion auf das durch die Übersetzung niederländischer Texte bekannt gemachte heliozentrische Weltbild stellt es den Versuch dar, mithilfe der in den europäischen Texten dargestellten astronomischen Methoden die Fehlerfreiheit der Berg Meru Kosmo-Geographie zu beweisen. Seine butsureki [Buddhistische —————

8 Richard James Morrison veröffentlichte 1868 die erste Auflage seines Buches The New Principia; or, True System of Astronomy. In which the Earth is Proved to be the Stationary Centre of the Solar System, and the Sun is Shewn to be Only 365,006.5 Miles from the Earth, and the Moon Only 32,828.5 Distant; While the Sun Travels Yearly in an Ellipse around the Earth, the Other Planets Moving about the Sun in Ellipses Also. Dem Werk war zumindest ein so ausreichend großer Erfolg beschieden, dass bereits 1872 eine Neuauflage möglich wurde. Vgl. Lopez 2008: 56.

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Astronomie] zielt darauf, den Nachweis zu führen, dass die heliozentrische Theorie eine Fehlinterpretation der Daten darstellt und sich gerade im Licht der europäischen Berechnungsmethoden die überlegene Erklärungskraft der in den buddhistischen Texten beschriebenen Kosmo-Geographie zeigen lasse. Ebenso versucht er, die auf europäischen Globen und Karten dargestellten Kontinente in Einklang mit der klassischen buddhistischen Geographie zu bringen. Afrika, Asien und Europa erscheinen so als Ergebnis einer lange zurückliegenden Teilung des Kontinents Jambudvīpa, während er Amerika und die Antarktis als die diese flankierenden kleineren Landmassen verstehen will (Lopez 2008: 47–50; vgl. Okada 1997). Entsūs Entwurf kann, ebenso wie das Kitchanukit, als Reaktion auf eine Situation verstanden werden, in welcher der autoritative Anspruch der Wissenschaft zur Folge hat, dass keine mehrfachen Beschreibungen der Welt mehr zugelassen werden – zumindest auf der Ebene des wissenschaftlichen Wissens. Entsū reagiert auf diesen neuen Kontext mit einer Reformulierung buddhistischer Kosmo-Geographie, die zentrale Kernstücke der buddhistischen kosmologischen Tradition als wahrheitsfähig – und wahr – beibehält, diese aber gleichzeitig in den Kontext von Wissenschaft als eines neuartigen Weltbeschreibungssystems mit neuartigen Ansprüchen stellt. Eine Beschäftigung mit diesem japanischen Beispiel, ebenso wie mit den anderen im vorliegenden Aufsatz diskutierten Konfrontationen zwischen westlich-wissenschaftlichen und buddhistischen Wissensbeständen kann so dazu beitragen, anhand dieser Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts die Bedeutung überlieferter religiöser Kosmo-Geographien in der Moderne zu diskutieren. Ein etwaiger Widerspruch zwischen religiösen und wissenschaftlichen Imaginationsräumen erscheint hier unter anderem in der Universalisierung der Referenz auf einen einheitlichen globalen Raum. Darüber hinaus lassen sich die im vorliegenden Artikel behandelten Auseinandersetzungen um die richtige Kosmo-Geographie an zentrale Fragestellungen eines religionsästhetischen Ansatzes zurückbinden, indem diese Konfrontationen als Konkurrenz um die grundlegende Strukturierung räumlicher Ordnungen verstanden werden. So schlägt Jürgen Mohn in einem aktuellen Entwurf vor, die Analyse der durch und in Religionen konstituierten Wahrnehmungsräume als zentrale Aufgabe einer komparativen Religionsaisthetik zu verstehen. Indem „der Raum in der Zeit und die Zeit in dem Raum … zu grundlegend geordneten, strukturierten Wahrnehmungs-, Orientierungs- und damit Handlungsräumen gestaltet werden“ (Mohn 2012: Abs. 23), schaffen Religionen sinnlich vermittelte Welten. Wie Mohn betont, ist diese Eröffnung von Wahrnehmungsräumen und die damit verbundene „imaginäre Welt-Konstruktion“ (Mohn 2012: Abs. 19) nicht ohne Berücksichtigung ihrer medialen Dimensionen denkbar. Religion vermittelt

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sich und wird vermittelt in und durch einen medial konstituierten Wahrnehmungsraum der Produktion und Rezeption von Zeichen (ebd. Abs. 30). Aus einer auf das Zusammenspiel von Raummedien und Imagination fokussierten religionsästhetischen Perspektive erscheinen (Welt-)Karte und Globus in der Transformation buddhistischer Raumvorstellungen in der Moderne sowohl als Ausdruck wie auch als Agent einer Veränderung, die religiöses und wissenschaftliches Wissen als unterschiedlich konstituiert, und im Verweis auf den Anspruch einer universalen wissenschaftlichen Geographie den alternativen Entwürfen buddhistischer Kosmo-Geographie die Wahrheitsfähigkeit abspricht. In Reaktion darauf konnten Vertreter des buddhistischen Modernismus sich diesen Universalismus entweder zu eigen machen, und die klassische buddhistische Kosmo-Geographie als vorwissenschaftlich und un-buddhistisch verabschieden (wobei dennoch Platz für eine alternative Verortung traditioneller Erzählräume blieb), dieser Infragestellung auf der Ebene der Wissenschaft begegnen (und etwa Newton in Frage stellen), oder alternative Visionen einer ‚buddhistischen Geographie‘ entwickeln, die auf der Wissenschaftlichkeit der klassischen Darstellungen beharrte. All dies fand in einer Welt statt, in der sich die Akteure als „Rekruten der Moderne“ (Asad 1992) auf einem Territorium bewegten, welches durch den universalistischen Anspruch der modernen Wissenschaft grundlegend transformiert worden war, und in dem diese sich bereits als ein weltweiter Wissenshorizont etabliert hatte. Trotz dieser weitgehenden Durchsetzung westlich-wissenschaftlicher Perspektiven sind entsprechende Auseinandersetzungen allerdings bis heute noch nicht vollständig abgeebbt, auch wenn in den gegenwärtigen Debatten um Buddhismus und Wissenschaft nicht mehr primär die Berg Meru Kosmo-Geographie im Zentrum steht. 6. Epilog: Die bleibende Relevanz der Frage nach der Kosmo-Geographie für den buddhistischen Modernismus Die Bestimmung des eigenen Verhältnisses zur (Natur-)Wissenschaft stellt für buddhistische Intellektuelle daher auch gegenwärtig eine zentrale Herausforderung dar. So spricht der XIV. Dalai Lama in einem im Jahr 2005 veröffentlichten Buch von Buddhismus und Wissenschaft als zwei vergleichbaren menschlichen Unternehmungen, in denen „understanding the nature of reality is pursued by means of critical investigation“ (Dalai Lama XIV 2005: 3). „Science“ und „spirituality“ seien für ihn zwei „different but complimentary investigative approaches with the same greater goal of seeking the truth“ (Dalai Lama XIV 2005: 4). Gleichzeitig, so der Dalai Lama,

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mache es der Erfolg der Wissenschaft in der heutigen Welt für die Religion unmöglich, sich mit deren Erkenntnissen nicht auseinander zu setzen. In diesem Sinne müsse jede Weltanschauung ihre Lehren im Licht wissenschaftlicher Kenntnisse in den Blick nehmen (Dalai Lama XIV 2005: 5). So berichtet er, wie sein Interesse für die Wissenschaft bereits in jungen Jahren durch technische Objekte geweckt wurde, die er in seiner Residenz in Lhasa vorfand. Er beschäftigte sich dort unter anderem mit einem Teleskop, einer mechanischen Uhr und einem drehbaren Globus (Dalai Lama XIV 2005: 18). Diese frühe Beschäftigung mit der westlichen Wissenschaft habe sich auch auf seine Auseinandersetzung mit den buddhistischen Überlieferungen ausgewirkt: By the age of twenty, when I began my systematic study of the texts that discuss Ahhidharma cosmology, I knew that the world was round, had looked at photographic images of volcanic craters on the surface of the moon in magazines, and had some inkling of the orbital rotation of earth and moon around the sun. So I must admit, when I was studying Vasubandhu’s classic presentation of the Abhidharma cosmological system, it did not much appeal to me (Dalai Lama XIV 2005: 79).

Nicht zuletzt aus dieser Erfahrung heraus sei er davon überzeugt, dass eine Auseinandersetzung mit der Wissenschaft zumindest teilweise zu einer tiefgreifenden Transformation buddhistischer Vorstellungen führen müsse: „certainly some specific aspects of Buddhist thought – such as its old cosmological theories and its rudimentary physics – will have to be modified in the light of new scientific insights“ (Dalai Lama XIV 2005: 5). Der Dalai Lama spricht sich daher für eine Anpassung buddhistischer Vorstellungen über die Welt im Licht empirischer wissenschaftlicher Beschreibungen aus. Mehr noch, „if scientific analysis were conclusively to demonstrate certain claims in Buddhism to be false, then we must accept the findings of science and abandon those claims“ (2005: 3). Auch mehr als 180 Jahre nach der eingangs geschilderten Begegnung in Sri Lanka – so scheint es – ist eine Imagination kosmo-geographischer Räume im buddhistischen Modernismus ohne eine Auseinandersetzung mit der modernen Wissenschaft und den autoritativen Ansprüchen ihres Wissens nicht möglich. Literatur Abhayasundara, Pranith (Hg.) 1990. Controversy at Panadura or Pānadura Vādaya. Colombo, Sri Lanka: State Printing Corporation. Alabaster, Henry 1871. The Wheel of the Law. Buddhism Illustrated from Siamese Sources. London: Trübner & Co.

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III. Imaginationspolitiken Katja Rieck, Lucia Traut, Katja Triplett Imagination ist ‚gefährlich‘ und ‚nützlich‘. Sie ist ein kreatives Vermögen, welches bestehende Wahrnehmungs- und Denkstrukturen radikal in Frage stellen und alternative neue Konzepte entwickeln kann – Neues und Anderes wird vorstellbar. Gleichzeitig werden erst durch die Imagination bestehende Strukturen durch emotionale und kognitive Besetzung gefestigt und abgesichert – Anderes und Neues wird negativ belastet oder liegt gleich ganz außerhalb des Vorstellungsrahmens. Dieser ambivalente Charakter der Imagination macht sie zu einem wichtigen Faktor im politischen Kräftespiel der immerwährenden Aushandlung von Etablierung, Sicherung, Transformation und Revolution gesellschaftlicher und kultureller Formen und Strukturen. Die Beiträge im Kapitel „Imaginationspolitiken“ widmen sich dieser politischen Bedeutungsdimension des Imaginationsbegriffs anhand dreier verschiedener Beispiele von Imaginationen und imaginativer Praktiken unterschiedlicher religiöser, kultureller und historischer Herkunft. Lucia Trauts Artikel untersucht die Großen Exerzitien des Ignatius von Loyola im Hinblick auf die didaktische und politische Rolle des ignatianischen Imaginationsstils im Umfeld der katholischen Reform und Gegenreformation im 16. Jahrhundert. Katja Rieck zeigt, welche Rolle bewusst eingesetzte und reflektierte Imagination im Kontext der Kolonialismuskritik für die Entstehung des indischen Hindu-Nationalismus im 19. Jahrhundert spielte. Katja Tripletts Beitrag widmet sich einer japanischen Hōnen-Hagiographie aus dem 14. Jahrhundert und den zahlreichen Dimensionen ihrer programmatischen Bildpolitik. Folgende verbindende Gedanken liegen dabei allen drei Beispielen zu Grunde: Es wird ein weiter Politikbegriff verwendet, der weniger auf staatliche Institutionen und Verfahrensweisen abstellt, sondern den Prozess der (mehr oder weniger explizit) strategischen Gestaltung des Zusammenlebens in allen gesellschaftlichen Teilbereichen (und somit auch der Religion) im Blick hat. Dabei verweist der Plural ‚Politiken‘ einerseits darauf, dass solche politischen Prozesse in vielfältigen Ausprägungen vorkommen: als Disziplinierungs- und Strukturierungsprozesse ebenso wie als Transformations- und Abgrenzungsprozesse. Andererseits verweist er darauf, dass diese Prozesse sich auf unterschiedlichen Ebenen abspielen: nicht nur in Übereinstimmung bzw. Abstimmung mit der Ebene der Gemeinschaftsbildung (im Anschluss an Benedict Andersons Imagined Communities), son-

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Katja Rieck, Lucia Traut, Katja Triplett

dern auch auf der Ebene der Subjektivität (im Anschluss an Foucaults Ideen der Gouvernementalität einerseits und seinen Technologien des Selbst andererseits). Auch Imagination schließt diese unterschiedlichen Ebenen und ihre Verknüpfungen mit ein: Ist sie zwar zunächst ein Vermögen des Individuums, so ist die individuelle Imagination doch nicht autark, sondern immer durch die Sprache, die mediale und ästhetische Umgebung und das soziale Umfeld – kurz: durch die umgebende Kultur – mit bestimmt. Durch Sozialisation in eine Kultur wird auch die Imagination des Individuums mit gebildet, die für die Kultur spezifischen Imaginationen als auch die gängigen Imaginationstechniken werden erlernt. Dabei ist der Prozess der Sozialisation immer schon von Politiken durchdrungen, indem er darauf abzielt, die grundlegenden Strukturen und Machtverhältnisse gesellschaftlicher Ordnung zu (re)produzieren. Somit ist die Imagination selbst auf der Ebene des Individuums immer schon politisch impliziert. Durch Medialisierung und Ritualisierung werden die Imaginationen und Imaginationstechniken regelmäßig tradiert und aktualisiert und erhalten die Vorstellungswelt der Kultur am Leben. Dies gilt selbstverständlich für alle Teilbereiche von Kultur, also auch für Religion. Bildungs- sowie Ritualisierungsprozesse stehen deswegen immer im Fokus von Imaginationspolitiken, denn sie bilden beim Individuum die Wahrnehmungs- und Denkstrukturen aus, die für die gesellschaftlich akzeptierte Vorstellung von Realität entscheidend sind. Sie bilden die soziokulturellen Individuen, welche ihre Gesellschaft und Kultur tragen und durch ihr kulturelles, soziales und ästhetisches Handeln reproduzieren. So werden Subjektivitätsformen und kulturelle (oder auch religiöse) Identitäten durch imaginatives Handeln regelrecht ‚antrainiert‘. Deswegen spielt Imagination auch bei der Gemeinschaftsbildung eine wichtige Rolle, vor allem, wenn das Erleben von Gemeinschaft, ihren Organisationsstrukturen und Hierarchien die face-to-face Situation und das konkrete sinnliche Erlebnis wegen der Größe der Gemeinschaft überschreitet (vgl. Andersons Ausführungen zu Imagined Communities). Im Hinblick auf die Bildung einer moral community kommt der Imagination als normierendem Faktor eine große Bedeutung zu: Durch sie wird der moralische Raum des gesellschaftlich erwünschten und akzeptierten Handelns vorstellbar gemacht und sie hat somit verhaltenssteuernde und -motivierende Wirkung auf die Mitglieder der Gruppe – vgl. dazu z. B. Lucia Trauts Ausführungen zur Habitus- und Weltbild prägenden Wirkung der ignatianischen Exerzitien. Von politischer Bedeutung sind diese Prozesse der Realitätssetzung deswegen, weil alle Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsstrukturen einer Kultur stets kontingent sind. Das Bewusstsein über andere Möglichkeiten muss jedoch zur möglichst reibungslosen Koordination ihrer Mitglieder und

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zur Stabilisierung von Machtstrukturen zumindest über einen gewissen Zeitraum hinweg ausgeblendet oder anderweitig ausgegrenzt werden. Hier ist die Imagination hilfreich für die politische Zielsetzung der Stabilisierung: Die jeweils geltenden oder erwünschten Strukturen können über imaginative Anreicherung so aufgeladen werden, dass sie als soziales oder kulturelles Kapital fühlbar und erfahrbar werden. Aber auch kultureller Wandel kann sich über eine Verlagerung und Veränderung von Imaginationen vollziehen, indem bestehende, hegemoniale Formen imaginativ negativ belegt und alternative Formen durch vielfältige emotionale und kognitive Verknüpfungen positiv angereichert werden. Auf diese Weise wird Imagination politisch wirkmächtig, wie z. B. Katja Rieck in ihrem Artikel in Bezug auf die Ausbildung des Hindu-Nationalismus zeigt. Hier rückt auch die Religion in den Fokus. Religion kann potenziell für alle Arten gesellschaftlicher ‚Realitätssetzungen‘ die Mittel bereitstellen, mittels derer eine (imaginierte bzw. konstruierte und damit kontingente) Realität mit einem solchen Absolutheitsanspruch ausgestattet wird, dass andere Realitäten nur noch sehr schwer vorstellbar sind. Dies geschieht im religiösen Modus durch die Imagination einer Transzendenz, die dem menschlichen Zugriff entzogen ist und daher alle möglichen immanenten Dinge mit einer Qualität aufladen kann, die es dem Menschen schwer oder unmöglich macht, an diesen Dingen zu rütteln. Göttlich legitimierte Herrschaftsstrukturen etwa sind ein durchgehendes Beispiel dafür in der Religions- und Kulturgeschichte. Doch gibt es immer wieder Zweifler, die Kritik üben oder andere Möglichkeiten denken und kommunizieren, also mittels ihres kreativen imaginativen Potenzials auf die Kontingenz der vorhandenen Strukturen aufmerksam machen, um diese zu reformieren, zu ergänzen oder zu überwinden. Meist wird dann mittels einer Abgrenzungs- oder Ausschlusspolitik versucht, diese Personen zu Häretikern zu erklären und aus den Kommunikationszusammenhängen zu entfernen, so dass ihre Imaginationen die Gruppe möglichst wenig kontaminieren. Manchmal setzen sich diese Zweifler, Reformer und Revolutionäre aber auch politisch durch und können ihre neuen Imaginationen erfolgreich etablieren. Dabei spielt oft die ästhetisch-mediale Ebene eine entscheidende Rolle. Je dichter imaginative Inhalte hervorgebracht und kommuniziert werden können, desto wahrscheinlicher ist ihr politischer Erfolg. Die imaginative Dichte kann erhöht werden durch ästhetische Unterstützung und Ausgestaltung der Imagination oder durch eine neue Kombination oder Innovation von Imaginationstechniken. Kultureller Wandel kann darum oftmals durch einen Wandel oder eine Neubestimmung von ästhetischen, medialen und imaginativen Techniken angestoßen und politisch gesteuert werden. Katja

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Katja Rieck, Lucia Traut, Katja Triplett

Triplett zeigt dies in ihrem Beitrag über die veränderten und verdichteten Bildpolitiken einer japanischen Hōnen-Hagiographie. Um aus religions- und kulturgeschichtlichen Quellen überhaupt Imaginationspolitiken rekonstruieren zu können, ist es unerlässlich, dem kulturwissenschaftlichen Paradigma der Religionswissenschaft zu folgen und bei der Betrachtung des geschichtlichen Materials immer einen synchronen und diachronen Blick auf die soziokulturellen Diskurszusammenhänge zu werfen. Da Imaginationspolitiken immer Aushandlungsprozesse sind, geht ihre Beschreibung fließend in eine Imaginationsgeschichte über, welche Phasen der Stabilität und sich erhaltende imaginaires einer Gesellschaft ebenso in den Blick nimmt wie dynamische Weiterentwicklungen, reformierende Prozesse oder Revolutionen und Traditionsabbrüche. Der imaginationspolitische Blick kann auf beide Aspekte, auf die Stabilität und auf die Dynamik von Kulturmustern angewendet werden – denn in der Logik der Imaginationspolitiken ist beides Ergebnis eines erfolgreichen Aushandlungsprozesses. Dabei steht der religionsästhetische Blick auf Stabilität und Wandel von Imagination und Imaginiertem vor der Herausforderung, die kulturellen Vorstellungsmuster nicht isoliert zu beschreiben, sondern ihre stabilisierenden oder dynamisierenden Kommunikations- und Medialisierungsformen und deren Instrumentalisierung, also neben dem ‚Was‘ auch das ‚Wie‘, mit zu berücksichtigen. Die religionsästhetische Analyse von Imaginationspolitiken nimmt also die Imaginationstechniken mit in den Fokus, deren Wirkweise es ist, das Immaterielle und das Materielle der Imagination in Beziehung zueinander zu setzen. Ein enger Zusammenhang zu Imaginationsräumen entsteht dadurch, dass diese Räume nicht nur als Weltbilder, sondern auch als Handlungsräume dienen und somit der politische Diskurs um die Optionen ‚möglich/nicht möglich‘, ‚erwünscht/nicht erwünscht‘ etc. automatisch mit einbezogen wird. Die folgenden Beiträge versuchen aus diesen Gründen beispielhaft, eine spezifisch imaginationspolitische Perspektive mit den anderen thematischen Blickwinkeln dieses Bandes immer wieder zu verknüpfen.

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Jesuitische Imagination und katholische Identitätsbildung Imaginationsstilistik, -didaktik und -politik in den Großen Exerzitien des Ignatius von Loyola Lucia Traut In diesem Artikel werden die so genannten „Großen Exerzitien“ des Gründers des Jesuiten-Ordens, Ignatius von Loyola (1491–1556), aus einer religionsästhetischimaginationstheoretischen Perspektive heraus analysiert. Ein Schwerpunkt liegt dabei darauf, die Exerzitien vor dem historischen Hintergrund ihrer Entstehung (Reformation, Gegenreformation, katholische Reform) zu betrachten und ihr politisches Potenzial im Zuge der Ordensgründung bzw. Begründung einer ‚neuen‘ katholischen Identität näher zu beschreiben. Dem liegt die These zugrunde, dass Ignatius die Imaginationsübungen der Exerzitien nicht nur benutzt, um seine Vorstellung eines reformierten Katholizismus auf einer inhaltlichen Ebene zu transportieren und dem Exerzitanten dabei zu helfen, ein bestimmtes ‚katholisches‘ Weltbild und die darauf abgestimmte Rolle einzunehmen (die des Ritters/Soldaten Jesu). Vielmehr bedient Ignatius sich auch auf formal-methodischer Ebene bewusst nur ausgewählter Techniken und Modi der Imagination und schafft dadurch einen sich dezidiert von der Reformation absetzenden Imaginationsstil, der einerseits an mittelalterlich-mönchische Imaginationstechniken anschließt, diese andererseits aber in moderner Form weiterentwickelt, was ihn im Kontext der katholischen Reform so erfolgreich machte.

1. Einleitung Als Papst Pius XI. Ignatius von Loyola am 25. Juli 1922 zum Patron aller geistlichen Übungen ernannte, war der Name des Gründers des Jesuitenordens schon so stark mit der Bezeichnung seiner spirituellen Übungsmethode verwoben, dass viele bis heute davon ausgehen, Ignatius sei der Erfinder jeglicher Exerzitien. Dies stimmt jedoch nicht: Sowohl dem Namen als auch der Idee nach gab es schon vor Ignatius geistliche Exerzitien, z. B. das Exercitatorio de la vida espiritual des García Jiménez Cisneros (1455/56– 1510) (Ruhbach 1999: 1805). Trotzdem sticht das spirituelle Übungsprogramm des Ignatius hervor, denn es zeichnet sich durch eine außerordentliche methodische und strukturelle Raffinesse in der Aktivierung und Lenkung der Imagination („Sicht der Vorstellungskraft“ (la vista de la imaginación) – z. B. EB 47) aus. Ignatius kreiert dabei einen völlig neuen Imaginationsstil, indem er ausgewählte Imaginationsbilder und -techniken auf bis dahin einzigartige Weise miteinander kombiniert. Dabei sind sowohl

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die Bilder als auch die Techniken durch den kulturellen Kontext des Spätmittelalters und den politischen Kontext der beiden christlichen Revolutionen bestimmt, indem sie sich einerseits von – Ignatius’ Meinung nach – reformbedürftigen katholischen, andererseits von nicht-katholischen und somit unerwünschten protestantischen Aspekten absetzen. Der Imaginationsstil der Exerzitien wird auf diese Weise prägend für die Ausbildung und Instrumentalisierung einer jesuitisch-katholischen Identität, mittels derer sich der Jesuitenorden als „Elitetruppe“ (Albig 2009: 92) in den Auseinandersetzungen der katholischen Reform, Gegenreformation und Konfessionalisierung formieren und kirchenpolitisch beteiligen kann. Zentral für diese identitäts- und verhaltensprägende Wirksamkeit der ignatianischen Exerzitien ist dabei Ignatius’ umfassendes Verständnis von Imagination und seine damit verbundene Didaktik: Er bezieht in den Übungen schrittweise und systematisch alle Sinne, die Emotionen und auch den rationalen Verstand mit ein. Somit erweitert er die Funktion der Imagination über das ‚Bilder vor dem inneren Auge sehen‘ hinaus zu einem sinnlich dichten und ganzheitlichen Vorgang, der alle Personschichten umfasst, sie in ein dramatisches Gesamtsetting integriert und dadurch tiefgreifende persönliche Wandlungsprozesse anstoßen und lenken kann1. Die Raffiniertheit dieser Methode zeugt von hoher spiritueller wie imaginativer Innovationskraft des Erfinders sowie von seinem didaktischen und auch politischen Geschick und nimmt einige heute etablierte psychotherapeutische Praktiken wie Rollenspiel, Psychodrama oder gelenkte Phantasie vorweg (Neumeister 1986: 281). In diesem Beitrag werden anhand des Textmaterials des Exerzitienbuches ignatianisches Imaginationsverständnis und Imaginationsstil aus religionsästhetischer Perspektive und im Kontext der religions- und imaginationsgeschichtlichen2 Situation ihrer Entstehungszeit analysiert und auf ihre didaktischen und politischen identitätsformierenden Funktionen hin geprüft.

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1 Eine interessante, mehr auf den Zusammenhang von Bildmedium und Imagination fokussierte Ergänzung der Thesen meines Artikels findet sich bei Jörg Jochen Berns’ (2000) mediengeschichtlicher Studie zur didaktisch motivierten „Imaginationssteuerung“ mittels präcinemastischer bewegter Bilder in spätmittelalterlicher religiöser und militärischer Erbauungsdidaxe (Berns 2000: 7–12). 2 Zur geschichtlichen und kulturellen Prägung von Imagination siehe auch die Beiträge von Alexandra Grieser, Jens Kugele und Jens Kreinath sowie die Einleitung zum Kapitel „Imaginationsgeschichte“ in diesem Band.

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2. Initiation und Imagination 2.1. Exerzitien als Initiationsmethode, ihr religionsgeschichtlicher Kontext und ihre politische Funktion Da die spirituell motivierte Transformation des Übenden im Mittelpunkt der ignatianischen Exerzitien3 steht, bietet es sich an, sie religionssystematisch als Initiationsmethode zu betrachten. Die Großen Exerzitien sind ja auch tatsächlich ein Teil des Initiationsprozesses bei der Aufnahme in die Gemeinschaft des Jesuitenordens (Knauer 1990: 133). So findet sich in den Exerzitien sowohl eine reflektierte Methodik für die Ermöglichung einer tiefgreifenden spirituellen und möglichst umwälzenden Erfahrung als auch eine ausgeklügelte Didaktik für die Steuerung eines ganzheitlichen religiösen Lern- und Übungsprozesses, der auf die Ausbildung und Aneignung des jesuitischen Habitus abzielt: „Der Exerzitant […] beginnt einen Lernprozeß, der sich durch die Dialektik: praktisches-theoretisches Lernen charakterisiert. In größerem oder kleinerem Umfang wird in diesen Prozessen eine Änderung des gesamten oder partiellen Lebensplanes eines Eingeübten herbeigeführt“ (de Rivera 1978: 5). Dabei wird der Exerzitant in orthodoxe Elemente (jesuitisch-katholisches Weltbild, Menschenbild und Gottesbild) durch intensives Imaginieren ausgewählter religiöser Inhalte bzw. Bilder (meditaciones oder contemplaciones4) initiiert. Des Weiteren wird er zu einer auf die orthodoxen Elemente abgestimmten Orthopraxis motiviert (vergleichbar einer Imitatio Christi). Diese wird durch die imaginative Erprobung und Einübung neuer Handlungsskripte, Motivationsstrukturen und Rollenangebote in den Exerzitien angeregt und verstetigt. Nach den imaginativen Übungen trifft der Exerzitant eine Entscheidung bezüglich ————— 3

Der Begriff ‚Ignatianische Exerzitien‘ ist nicht eindeutig. Er bezeichnet sowohl Ignatius’ Schrift Ejercicios Espirituales als auch alle Übungsprogramme, die sich aus diesem Text heraus ableiten lassen. Dort ist zwar hauptsächlich das Programm der so genannten „Großen Exerzitien“ beschrieben, jedoch gibt Ignatius auch schon Hinweise darauf, wie dieses Programm abgekürzt oder in den Alltag integriert werden kann, so dass – typisch jesuitisch – sehr flexibel ganz unterschiedliche Exerzitienprogramme auf Basis des Textes gestaltet werden können (EB 18–20). Ich beziehe mich im Folgenden immer auf das Programm der kontemplativen vierwöchigen Großen Exerzitien, wie es im Textkorpus der Ejercicios Espirituales beschrieben wird. Als Textquelle benutze ich die Übersetzung des spanischen Autographs von Peter Knauer (2011) bzw. den spanischen Urtext, der unter Wikisource frei zugänglich ist. Verweise und Zitate aus dem Exerzitienbuch werden nach der gängigen Nummerierung (EB Nr.) angegeben. 4 Ignatius benutzt für die Imaginationsübungen das Wort contemplaciones, wenn die zu imaginierenden Bilder aus den Evangelien stammen, meditaciones für Inhalte anderer Herkunft (Endean 1990a: 401). Die sprachliche Differenzierung ergibt sich also lediglich aufgrund der unterschiedlichen Qualifizierung der ‚Bildquellen‘, der Imaginationsprozess ist in beiden Fällen jedoch der gleiche.

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seines weiteren Lebensplans (z. B. über den Eintritt in einen Orden, Übernahme eines geistlichen Amtes). Er prüft diese Entscheidung, indem er die damit verbundenen Konsequenzen in die Zukunft projiziert und im Hinblick auf das zuvor gelernte Symbolsystem evaluiert (die berühmte ignatianische „Unterscheidung der Geister“ (EB 313–351)). Diese Initiation in jesuitische Ideologie und Praxis, die Etablierung kirchlich-katholischer Orthodoxie und Orthopraxis bzw. das Anpassen der eigenen Lebensführung an das Verinnerlichte – kurz: die Herausbildung des jesuitisch-katholischen Habitus – spielen die zentrale Rolle in den Exerzitien. Ein weiteres Charakteristikum von Initiation trifft ebenfalls auf die Exerzitien zu: die damit einhergehende implizite oder explizite Exklusion von Nichteingeweihten. Das war die notwendige Voraussetzung dafür, dass der Elitegedanke des Ordens nach außen und nach innen bestimmend blieb und die Teilnahme an den Großen Exerzitien gerade für politisch und gesellschaftlich einflussreiche, gebildete und wohlhabende Männer interessant wurde, was den Orden zu einem ernst zu nehmenden Machtfaktor der tridentinischen Kirche werden ließ. Dabei sollte nicht verschwiegen werden, dass die Exerzitien damals wie heute durchaus nicht unumstritten waren und immer wieder zum Schauplatz von politisch geprägten Auseinandersetzungen um die Produktion kirchlich ‚erwünschter‘ oder ‚unerwünschter‘ religiöser Subjektivität wurden. Was den Jesuiten seit jeher als das ‚Herzstück‘ ihres Ordenslebens und Ignatius‘ größtes mystisches Vermächtnis gilt, wird in moderner Zeit als totalitäre Methode zur Programmierung einer religiösen Zwangsneurose kritisiert (Barthes 1986: 82 f.). Bereits zu Ignatius’ Lebzeiten (1491–1556) wurde das Programm der Exerzitien von der Inquisition unter dem Verdacht der Heterodoxie und Häresie kritisch beäugt. Dieser Verdacht bezog sich einerseits auf die inhaltliche Ebene, da das Exerzitienprogramm große Unabhängigkeit gegenüber theologischen Büchern bewies und teilweise auch implizite Kritik an religiösen und kirchlichen Praktiken beinhaltete. Auf formaler Ebene war verdächtig, dass sich die imaginative Vorgehensweise der Exerzitien von der etablierten scholastischen Methode stark abgrenzte und zudem angeblich zu sehr auf die persönliche Führung durch den Heiligen Geist ohne kirchliche Vermittlung vertraute. All dies ‚roch‘ nach Alumbradentum5 oder gar nach reformatorischem Gedankengut und wurde somit von manchen Kirchenvertretern als häretische Bedrohung des status quo aufgefasst (Henkel 1995: 89 f.; Maron 2001: 246 f.). Der Verdacht erregen—————

5 Als Alumbrados wurden Angehörige einer spanischen „mystischen und paramystischen Bewegung“ des 16./17. Jahrhunderts bezeichnet, die ab 1525 durch die Inquisition verfolgt wurde. Neben Ignatius von Loyola wurden auch Johannes vom Kreuz und Theresa von Avila zeitweilig von der Inquisition als Alumbrados verdächtigt (Rodrigues 1998: 384).

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de Gedanke einer umfassenden „Selbstreformation“, der in den Exerzitien zentral ist, findet sich bereits bei den religiösen Laienbewegungen und Mystikern des Mittelalters (O’Malley 1991: 183 f.) und wurde davon ausgehend auch zu einer Grundlage für die christlichen Revolutionen des Spätmittelalters (Reformation und katholische Reform): Ausgehend von der religiösen Transformation auf individueller Ebene wurden kirchliche und letztlich kulturelle Wandlungsprozesse angestoßen. In diesem kirchenpolitischen Kontext ist auch Ignatius zu sehen. Es ist wohl nicht zu leugnen, dass er mit den Exerzitien nicht nur die individuelle spirituelle Weiterentwicklung der Exerzitanten im Blick hatte, sondern diese auch im größeren Rahmen einer politischen Agenda katholischer Reform sah, welche zum Ziel hatte, das laizistische und klerikale Glaubensleben zu reformieren und von Missständen zu reinigen, z. B. die schlechte Ausbildung des Klerus, die rein finanzielle Motivation in Sachen seelsorgerischer und liturgischer Leistungsbereitschaft oder das Auseinanderklaffen von Bekenntnis und Lebensstil. Hier strebte er mittels der Exerzitien individuelle religiöse Transformation an, die über den Jesuitenorden als neue geistliche Elite kirchliche Breitenwirkung entfalten sollte. Ignatius’ Imaginationsdidaktik in den Exerzitien ist somit gleichzeitig eine bottom-up Imaginationspolitik, welche langfristig auf gesellschaftliche bzw. kirchliche und religiöse Transformation abzielt. Diese soll erreicht werden, indem die neuen ‚jesuitisch-katholischen‘ Individuen eine sichtbare Alternative zum reformbedürftigen mittelalterlichen Katholizismus praktizieren. Dieses politische Potenzial der Exerzitien wird kurz nach Ignatius’ Tod auch kirchlicherseits entdeckt, und den Exerzitien wird nun nicht mehr mit Misstrauen begegnet, sondern sie werden fortan zur ‚Geheimwaffe‘ der Gegenreformation und Konfessionalisierung hochstilisiert und können durch den nunmehr etablierten Jesuitenorden im Sinne einer top-down Politik gegen die reformatorischen Alternativen eingesetzt werden (O’Malley 1991: 191 f.). Dies kann geschehen, weil der Imaginationsstil der Exerzitien zwar neu, jedoch sowohl auf inhaltlicher als auch auf formaler Ebene immer noch dezidiert ‚katholisch‘ ist (s. u. 4. und 5.). 2.2. Der neue Imaginationsstil der Exerzitien Den vielseitig anwendbaren Begriff ‚Imagination‘ gilt es für die Analyse des Exerzitienbuches theoretisch zu differenzieren in eine prozessbezogene Seite (das Imaginieren/der Imaginationsprozess) und eine produktbezogene Seite (das Imaginierte/die Imaginationsbilder): ‚Imaginationsbilder‘ sind also die mentalen ‚Produkte‘, die im kognitiven Prozess des Imaginierens entstehen. Imaginationsbilder und Imaginationsprozess sind (in Anlehnung

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an Pruyser 1983: 60 ff.) an der fiktiv-illusorischen6 Qualität in Bezug auf ihre ästhetisch-sensorische, emotional-affektive und intellektuelle Erfahrungsdimension erkennbar. Hierbei muss einer Verengung von Imaginationsbildern und -prozessen auf reine Visualität vorgebeugt werden: Ich werde anhand des Materials der Exerzitien zeigen, dass Imaginationsbilder und Imaginationsprozesse durch ganz unterschiedliche ästhetische und kognitive Modi gekennzeichnet sein können (z. B. Modus sinnlicher Imagination, Modus sprachlicher Imagination), die wiederum für die Herausbildung eines spezifischen Imaginationsstils prägend sind. Imaginationsbilder entstehen im ‚dritten Raum‘ zwischen Individuum und Kultur, das heißt, dass sie sowohl durch die individuellen Phantasien als auch durch das kulturelle Symbolsystem und seine Materialisierungen beeinflusst werden (Pruyser 1983: 64). Der Zusammenhang zwischen individueller Phantasie und kulturellem Symbolsystem kann anhand der Imaginationsbilder in den Exerzitien gut veranschaulicht werden, z. B. werden als Vorlage für die individuelle Imagination Bilder verwendet, die stark durch die mittelalterlich-ritterliche Kultur Spaniens geprägt sind (s. u. 4.). Imaginationsbilder können nur in ihrer kommunizierten, medialisierten Form (als Bild, sprachlicher Akt, etc.) intersubjektiv zugänglich gemacht werden. Diese kommunikativen Imaginationsmedien können wiederum als Anstoß für individuelle Imaginationsprozesse dienen. Beides geschieht in den Exerzitien durch die Kommunikation zwischen Exerzitiengeber und Exerzitant. Vor allem in Zeiten kulturellen Wandels, in denen das kulturelle Symbolsystem Gegenstand von Aushandlungsprozessen ist, bekommt Imaginationskommunikation eine enorme politische Bedeutung: Soll sich das kulturelle Symbolsystem ändern, müssen sich auch die individuellen Imaginationen verändern bzw. darauf abgestimmt werden, um Motivation für den Transformationsprozess bereitzustellen und die Veränderungen dauerhaft als neues Symbolsystem zu etablieren. Die erfolgreiche Imaginationskommunikation ist somit Schlüssel für die politische Initiierung und Steuerung gesellschaftlicher Wandlungsprozesse. Wie oben am Beispiel der Jesuiten skizziert wurde, funktioniert dieser Vorgang in beide Richtungen: top-down und bottom-up. Die Veränderung kann also entweder ‚von unten‘ vom einzelnen Individuum ausgehen und mittels erfolgreicher Imaginationskommunikation Massenwirkung entfalten oder die neuen Imaginationen —————

6 Paul W. Pruyser verweist auf die etymologische Wurzel ludere und sieht Illusion daher nicht im Zusammenhang mit etwas, das durch Täuschung (delusion), sondern durch intensives, kreatives Spiel hervorgebracht wird und daher ohne pathologische Konnotation zum Wortfeld Imagination hinzuzählt: „The term illusion, then, is to be taken in a technical and philosophical sense as referring to transcendent entities that are the products of civilized man as being endowed with imagination“ (Pruyser 1983: 69).

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werden ‚von oben‘ breitflächig kommuniziert, so dass sich die Imagination der Individuen daran anpassen kann. Imaginationsprozesse werden mittels Imaginationstechniken betrieben und gestaltet. Unter ‚Imaginationstechniken‘ fasse ich die Aktivierung bestimmter Imaginationsmodi (sinnlich, sprachlich, performativ) und die Steuerung der dazu gehörenden Imaginationsprozesse in Bezug auf Verlauf und Ziel7. Imaginationstechniken fungieren quasi wie eine software oder ein Medium für den Imaginationsprozess. Sie können durch äußere Medien unterstützt werden (z. B. die visuelle Imagination durch ein Bild, sprachliche Imagination durch einen Schrifttext). Es muss davon ausgegangen werden, dass zwischen Imaginationsinhalt und Imaginationstechnik eine sensible Verweisbeziehung besteht, bestimmte Techniken also bestimmte Inhalte ‚besser‘ oder ‚schlechter‘ aktualisieren können8. Die Entscheidung für bzw. gegen bestimmte Imaginationstechniken, die sowohl die intendierten Inhalte optimal aktualisieren als auch sich von reformatorischen Techniken abgrenzen, ist in den Exerzitien von Ignatius anscheinend sehr bewusst getroffen worden (s. u. 5.). Ebenso wie bewusste, aktiv hervorgebrachte Imaginationsbilder zu weitgehend unbewussten Symbolstrukturen einer Kultur ‚sedimentieren‘ können, gehört eine gewisse Bandbreite bestimmter Imaginationstechniken immer zum implizit-unbewussten kognitiven Repertoire jeder Kultur. Imaginationstechniken können jedoch auch so wie in den Exerzitien gezielt und methodisch kontrolliert eingesetzt werden. Die bewusste, verstärkte oder methodisch kontrollierte Aktivierung von Imagination kann, aufgrund des kreativen Potenzials der Imagination, die Symbolstrukturen und kognitiven Techniken eines Individuums oder einer Kultur in Frage stellen und verändern. Oftmals geschieht dies im Zusammenhang mit ‚technischen‘ oder ‚medialen‘ Innovationen, die neue Inhalte erstmals ‚vorstellbar‘ machen9. Die Reformation, die im Zusammenhang mit der medialen Revolution des Buchdrucks auch eine Revolution der Imaginationstechnik (weg von der ästhetisch-oral-performativ hin zur textlich bestimmten Imagination) hervorgebracht hat und dadurch völlig neue religiöse und theologische Themen und Identitäten ‚vorstellbar‘ gemacht hat, ist das beste Beispiel (Anderson —————

7 Vgl. die Beiträge von Anne Koch, Brigitte Luchesi, Annette Wilke und Katharina Wilkens sowie die Einleitung zum Kapitel „Imaginationstechniken“ in diesem Band. 8 Zum Beispiel legen erotische Imaginationen ‚instinktiv‘ eher sinnliche oder performative Imaginationstechniken nahe als sprachliche. Dies bedeutet nicht, dass sprachliche Techniken, z. B. das Lesen eines Gedichts, nicht auch erfolgreich für erotische Imaginationen eingesetzt werden können – jedoch setzt dies einen in dieser Technik ‚geübten‘ Imaginierenden voraus. 9 Vgl. Jens Kreinaths Beitrag in diesem Band zur Veränderung der wissenschaftlichen Imagination durch die Einführung von Fotografie und Cinematografie.

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2006: 39 ff.). Diese Perspektive kann den Blick dafür schärfen, dass kulturelle und religiöse Transformationsprozesse sich nicht nur auf Inhalte oder Ideen beziehen, sondern oftmals – wenn nicht immer – durch Aushandlungsprozesse über den Einsatz neuer oder anderer medialer und imaginativer Techniken mitbestimmt oder initiiert werden (Meyer 2009: 14). Ignatius kombiniert in seinen Exerzitien bestimmte Imaginationsbilder mit ausgewählten Imaginationstechniken in einer neuen Art und Weise zu einem eigenen Imaginationsstil. „[S]tyle is the essential characteristic of a collective sentiment. It is its specific mark. In the strict meaning of the term, it becomes an all-encompassing form, a ‚forming form‘ that gives birth to whole manners of being, to customs, representations, and the various fashions by which life in society is expressed“ (Maffesoli 1996: 5). Die Abgrenzung z. B. von protestantischen Imaginationstechniken (Bibel lesen) und die Betonung ausgewählter orthodoxer katholischer Inhalte und Praktiken werden in den Exerzitien zu konfessionellen, reformkatholischen bzw. gegenreformatorischen Identitätsmarkern, welche die neu definierte katholische Subjektivität und die jesuitische Gruppenidentität mit bestimmen. 3. Überblick über Aufbau und Inhalt der Exerzitien Der Textkorpus der Ejercicios Espirituales ist eine Sammlung von unterschiedlichen Gebrauchstexten für den Exerzitiengeber, die sowohl theologische Grundlagenargumente, Beschreibungen der Übungsabläufe, pastoraltheologische Hilfestellungen zur Begleitung der Exerzitanten im Gespräch und zu Meditations- und Gebetsvorlagen umfasst. Ignatius verfasste ihn zwischen 1522 und ca. 1540, um die Erfahrungen seines eigenen Bekehrungsprozesses für weitere Verwendung zu systematisieren, aber auch um Erfahrungen aus gegebenen Exerzitien einzuarbeiten und um seine theologischen Grundlagen und pastoralen Motivationen offenzulegen (Knauer 2011: 10 f.). Dies war angesichts von zahlreichen Inquisitionsprozessen notwendig geworden, denn Ignatius’ Person, sein Frömmigkeitsstil und seine spirituelle Lehrtätigkeit erweckten im Zeitalter der Reformation katholischerseits oftmals Misstrauen wegen ihrer Progressivität bzw. inhärenten Kritik an zeitgenössischen religiösen Gebräuchen10. Somit war Ignatius auch gezwungen, die Ejercicios Espirituales zu verschriftlichen, um die in den Übungen vorkommenden Imaginationsbilder und Imaginationstechni—————

10 Damit sind zum Beispiel seine Kritik an rein monetär motivierten Entscheidungen zur Priesterweihe und Bezahlung seelsorgerischer Tätigkeiten (Maron 2001: 179 f.) oder seine Befürwortung des regelmäßigen Kommunion-Empfangs (Maron 2001: 227 ff.) gemeint.

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ken kirchenrechtlich und theologisch überprüfbar zu machen und gegen Verdachtsmomente abzusichern. Man muss also davon ausgehen, dass sich der politische Kontext der Reformation und Gegenreformation bzw. Inquisition beim Verschriftlichungsprozess auch inhaltlich niedergeschlagen hat und auf die Darstellung der zu imaginierenden Inhalte und der zu verwendenden spirituell-imaginativen Techniken einen Einfluss hatte: Sowohl auf inhaltlicher als auch auf formaler Ebene musste sich Ignatius z. B. von den Reformatoren und von den Alumbrados absetzen und seine katholische Identität beweisen, seine politische Agenda offenlegen. Die Verschriftlichung der Exerzitien als Methodenbüchlein kann auch als Akt erfolgreicher Imaginationskommunikation gedeutet werden: Nicht nur konnten auf Grund des Dokuments die niedergeschriebenen Imaginationsbilder und -techniken durch Papst Paul III. im Jahr 1548 offiziell approbiert werden und somit kirchenpolitische Bedeutung erlangen (Henkel 1995: 75); auch wurde dadurch eine detailgetreue Nachahmung des ursprünglichen ignatianischen Imaginationsstils über Generationen hinweg gesichert. Als Lesetext für den Exerzitanten war der Text ausdrücklich nie gedacht11, im Gegenteil findet Ignatius es sogar vorteilhaft, wenn der Exerzitant im Voraus nichts Genaueres über den Inhalt der Exerzitien weiß (EB 11). Folgende Anweisungen gibt das Exerzitienbuch zu Ablauf und Inhalt der Übungen: Die Großen Exerzitien umfassen einen Zeitraum von einem Monat, der am besten in einem Exerzitienhaus bzw. Kloster, auf jeden Fall aber räumlich und kommunikativ abgetrennt vom Alltag verbracht werden soll (EB 20). Täglich werden fünf Übungszeiten von je einer Stunde anberaumt: um Mitternacht (nach der ersten Tiefschlafphase), nach dem Aufstehen am Morgen, vor dem Mittagessen, am Nachmittag und vor dem Abendessen (EB 72). Hinzu kommen Essenszeiten, die tägliche Teilnahme an der Messe und an der Vesper, eigene Gebetszeiten, tägliche Gewissenserforschung und Reflexion über den Erfolg der Übungen; in der zweiten Woche zusätzlich Lektüre der Evangelien oder Frömmigkeitsliteratur (EB 100), evtl. Lesen des Meditationsstoffes zur Vorbereitung auf die Übungen sowie Gespräche mit dem Exerzitiengeber – ein dichtes Programm, das kaum freie Zeit lässt. Bei den Exerzitien handelt es sich stets um Einzelexerzitien – die Übungen werden alleine durchgeführt, gesprochen werden soll möglichst nur mit dem Exerzitiengeber, auch wenn mehrere Exerzitanten parallel —————

11 Ausnahme sind die Zusammenfassungen zu Szenen aus dem Leben Jesu im Anhang des Textes (ab EB 261), die ab der zweiten Woche als Imaginationsmaterial dienen und die den Exerzitanten einzeln zum Lesen gegeben werden können (s. u. 5.2.). Pfeiffer weist darauf hin, dass diese Texte ab dem 17. Jh. auch eigens als einzelne Blätter gedruckt wurden, um sie den Exerzitanten jeweils zur Übung an die Hand zu geben. Zuvor wurde der Text wohl eher den Exerzitanten diktiert (Pfeiffer 1990: 120).

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zueinander in einem Haus an Exerzitien teilnehmen. Auf diese Art und Weise ist eine große Flexibilität in der Anpassung der Vorgehensweise an den einzelnen Exerzitanten möglich, was Ignatius auch ausdrücklich immer wieder anrät (z. B. EB 72). Die Übungen sind thematisch eingeteilt in vier Abschnitte („Wochen“), wobei diese Abschnitte unterschiedlich lang sein können (etwa 3 bis 14 Tage). In der ersten Woche steht die Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit im Zentrum; dazu betreibt der Exerzitant intensive systematische Gewissenserforschung, meditiert über die sündhafte Verfassung der Welt, seiner selbst und über die Hölle und schließt die Woche mit einer Generalbeichte ab. Die zweite Woche (5 bis 12 Tage) umfasst Meditationen über Geburt und Kindheit Jesu bis hin zum Beginn seines öffentlichen Auftretens. Am Anfang und in der Mitte dieser Phase werden besondere, den Wahlprozess des Exerzitanten imaginativ einleitende Übungen eingeschoben: z. B. der so genannte „Ruf des Königs“ (EB 91 ff.), indem erst ein weltlicher König und sodann Jesus als himmlischer König imaginiert werden, welche jeweils den Exerzitanten in ihre Nachfolge rufen (s. u. 4.); zentral ist auch die Übung zu den „zwei Bannern“ (EB 136 ff.), in der die Armee Jesu und die Armee Satans imaginiert wird (s. u. 4.). Die Übungen der dritten Exerzitienphase (7 Tage) sind der Passion Christi gewidmet und durch starke Emotionalität gekennzeichnet (EB 190 ff.). Ab der vierten Woche (max. 14 Tage) wird die Anzahl der täglichen Übungen auf vier reduziert (die um Mitternacht entfällt – EB 227). Thematisch geht es um die Phase der Auferstehung Jesu bis zu Himmelfahrt. Parallel zu den imaginativen Übungen der dritten und vierten Woche überprüft der Exerzitant im Gespräch mit dem Exerzitiengeber und in der Gewissensprüfung seine Wahlentscheidung nach den Kriterien der „Unterscheidung der Geister“ (EB 313 ff.). Der Ablauf der fünf Mal am Tag vorkommenden einstündigen Imaginationsübungen ist immer nach demselben Schema strukturiert: 1. Vorbereitung: a) Einführung in den Imaginationsstoff: durch Gespräch mit dem Exerzitiengeber und evtl. zusätzlicher Lektüre von Abschnitten aus dem Exerzitienbuch (s. u. 5.2.). b) Rahmungsritus: „Ein oder zwei Schritte vor dem Ort, wo ich zu betrachten oder mich zu besinnen habe, stelle ich mich für die Dauer eines Vaterunsers hin, indem ich den Verstand nach oben erhebe und erwäge, wie Gott unser Herr mich anschaut usw. Und einen Ehrerweis oder eine Verdemütigung machen“ (EB 75).

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c) Einnehmen der Meditationshaltung: Empfohlen wird entweder kniend, auf Bauch oder Rücken liegend, sitzend oder stehend; der Exerzitant soll die Haltungen in dieser Reihenfolge ausprobieren und bei der Haltung bleiben, welche bei ihm die besten Effekte erzielt (EB 76). 2. „Vorbereitungsgebet“ (oración preparatoria) (EB 45): „Gott unseren Herrn um Gnade bitten, damit alle meine Absichten, Handlungen und Betätigungen rein auf Dienst und Lobpreis seiner göttlichen Majestät hingeordnet seien“ (EB 46). Dieses Gebet soll unverändert vor jeder Übung gesprochen werden. 3. „Hinführungen“ (preámbulos) (EB 45): a) „Zusammenstellung, indem man den Raum sieht“ (composición viendo el lugar) (EB 47): die grundlegende Imaginationsübung, in der es darum geht, sich die Szenerie – den räumlichen Ort – für den zu meditierenden Inhalt vorzustellen (s. u. 5.3.). b) Bittgebet: „Gott unseren Herrn um das bitten, was ich will und wünsche. Die Bitte muß dem zugrundeliegenden Stoff entsprechen“ (EB 48). 4. „Hauptpunkte“ (puntos principales) (EB 45) bzw. „Betrachtungen oder Besinnungen“ (contemplaciones o meditaciones) (EB 49): Imaginationsübungen, in denen detaillierte Aspekte der zuvor imaginierten Szene vertieft werden (s. u. 5.4.). 5. „Gespräch“ (coloquio) (EB 45): Imaginiertes Gespräch mit transzendentem Gegenüber (Christus, Maria, Gott) über die meditierten Inhalte (s. u. 5.4.). 6. Abschlussgebet: Kanonisches Gebet, welches auf den imaginierten Gesprächspartner abgestimmt ist (z. B. Vater Unser, Ave Maria) (EB 54, 63). 7. Viertelstündige Reflexion der Übung im Sitzen oder Umhergehen (EB 77). Die fünf täglichen Übungen sind aufeinander aufbauend: In der ersten und zweiten Übung (Mitternacht und Morgen) werden jeweils neue Punkte meditiert, die dritte und vierte Übung (Mittag, Nachmittag) fassen die Inhalte der ersten beiden Übungen zusammen und wiederholen sie. Bei der fünften Übung am Abend wird statt der Hauptpunkte eine neue Imaginationsübung durchgeführt: das „Ziehen der fünf Sinne“ (traer los cinco sentidos) (EB 121), bei dem die tagsüber geübten Imaginationsbilder noch einmal intensiv auf ihre sinnlichen Erfahrungsaspekte hin imaginiert werden (s. u. 5.5.).

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Ignatius gibt darüber hinaus im Abschnitt „Zusätze“ (EB 73–90) noch detaillierte Anweisungen zu ästhetischen bzw. asketischen Rahmungstechniken, welche den Erfolg der Imaginationsübungen noch erhöhen sollen, z. B. zur Verdunkelung oder Beleuchtung des Meditationsraumes, zum Einstimmen auf die nächtlichen und morgendlichen Übungen, zur Gedanken- und Emotionskontrolle, zum Essen, Schlafen und zur körperlichen Buße (s. u. 5.1.)12. 4. Imaginationsbilder: die dramatische Weltbühne und ihre Akteure Die Imaginationsbilder, welche in der ersten und zu Beginn der zweiten Woche eingeübt werden, sind dergestalt, dass sie auf schon zuvor vorhandenem orthodoxen Wissen des Exerzitanten aufbauen, dieses aber zur kosmologischen Bühne für das individuelle „Konflikts- oder Entscheidungsdrama“ (García Mateo 1991: 352) des Exerzitanten umformieren. Die dauerhafte Anwendung und Einübung dieser dramatischen kosmologischen Imaginationsbilder in den Exerzitien bezeichnet Conrod als „practice of perception and representation“ (2008: 9). Deren Ziel ist es, ganz im Sinne einer Initiation, mittels aktiver Imagination bleibende und allumfassende Wahrnehmungs- und Symbolstrukturen beim Exerzitanten zu schaffen und so die in den Exerzitien gelernten Handlungs- und Rollenmotivationen dauerhaft abzusichern. Voraussetzung dafür ist, dass der Exerzitant mit einer Haltung der „Indifferenz“ die Exerzitien beginnt, das heißt, er darf sich nicht auf schon vorgefasste Neigungen oder Wünsche fixieren, sondern muss für jegliche imaginative, motivationale und spirituelle Erfahrung in den Exerzitien offen sein (EB 23, 170). Ohne eine Haltung der Indifferenz wäre es dem Exerzitanten nicht möglich, sich erfolgreich in andere Rollen zu imaginieren oder die imaginativen Erfahrungen nach Abschluss der Übung objektiv zu reflektieren. An die Haltung der Indifferenz hat der Exerzitiengeber den Exerzitan—————

12 García Mateo (1991: 353 f.) macht den interessanten Vorschlag, den in weiten Teilen sehr technisch zu lesenden Text von Ignatius mit der Textstruktur eines Dramas zu vergleichen: Dabei könnte man Ignatius als den Verfasser des Dramas, den Exerzitiengeber als Regisseur und den Exerzitanten als Darsteller interpretieren. Die Ejercicios Espirituales sind dann der Dramentext, welcher mit vielen Regieanweisungen und Hinweisen zur ‚Inszenierung‘ versehen ist. Erst in der performatorischen Aktualisierung des Dramentextes, also in der Durchführung der Exerzitien, wird sein eigentlicher Zweck erfüllt. Somit wären die Ejercicios Espirituales das erste Jesuitendrama (García Mateo 1991: 361). Eine solche Mischung unterschiedlicher Textsorten wie in den Ejercicios ist aber sicherlich auch keine Ausnahme in religiösen Gebrauchstexten, da diese ja auf die Performanz abzielen. So kann man die Ejercicios Espirituales auch treffend als Ritualskript charakterisieren.

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ten im Vorgespräch und im Verlauf der Exerzitien immer wieder zu erinnern. Das Erreichen dieser Grundhaltung kann in der Logik einer Initiation als „Ablösungsphase“ betrachtet werden (van Gennep 1999 (1981); Turner 1998 (2008)). Das Ziel der Exerzitien, die freie und informierte Entscheidung des Exerzitanten für ein Leben im Dienst für Gott, kann nur erreicht werden, wenn der Exerzitant die Strukturen seines bisherigen Lebens hinter sich lässt. Im Titel der Exerzitien wird dieses Programm benannt: „Geistliche Exerzitien, um über sich selbst zu siegen und sein Leben zu ordnen (ordenar), ohne sich bestimmen zu lassen durch irgendeine Anhänglichkeit, die ungeordnet (desordenada) wäre“ (EB 21). Das Ablegen von sämtlichen „ungeordneten Anhänglichkeiten“ (EB 21) und das Freiwerden für Gottes Willen wird durch das Menschenbild der Exerzitien orthodox begründet: Das Menschenbild, welches in den Exerzitien imaginativ eingeübt wird, betont die Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit der ganzen Menschheit und die daraus erwachsende Aufgabe, die eigene Seele und die aller sündigen Menschen zu retten. Die ersten Imaginationsübungen der Exerzitien umfassen deshalb die Vorstellung der eigenen Seele im verderblichen Leib inmitten der Erde als Sündental (EB 47) und die Vorstellung, wie die Sünden aus der eigenen Person wie Gift aus einem Geschwür hervorquellen (EB 58). Körperlich empfundener Selbstekel und Scham sollen inkorporiertes Ergebnis der Imaginationsübungen sein. Indem der Exerzitant in mehreren Übungen ausführlich und mit allen Sinnen die Qualen der Hölle imaginiert (EB 65–70), soll er jedoch auch Dankbarkeit empfinden, dass er diesem Schicksal bisher entkommen ist und die Dringlichkeit und Zeitknappheit erkennen, mit der er von nun an zur Rettung seiner Seele voranschreiten muss (EB 61, 71). Zwischen die Straf- und Versagensszenarien werden immer wieder Imaginationsbilder der Milde und Freundlichkeit von Jesus Christus, Gott, den Engeln und Heiligen geschoben, welche Geduld mit dem sündigen Exerzitanten haben, ihm das Leben zusprechen und ihn so im Kampf um die Rettung unterstützen (EB 53, 60, 71). Zu Beginn der zweiten Woche wird diese Vision des milden Gottes noch verstärkt, indem der Exerzitant die „drei göttlichen Personen“ imaginieren soll, welche voller Mitleid sehen, wie alle Menschen auf der ganzen Erde in die Hölle hinabsteigen müssen und daraufhin beschließen, Jesus Christus als Erlöser auf die Erde zu senden (EB 102, 106– 109). Der ‚kosmologische‘ Perspektivenwechsel, weg von der Erlösungsbedürftigkeit der eigenen Seele hin zu Erlösungsbedürftigkeit der ganzen Menschheit, öffnet den Exerzitanten für die Motivation, in die Nachfolge Jesu zu treten und überall auf der Welt durch apostolische Taten Seelen zu retten – dieses Ideal der Übereinstimmung von Bekenntnis und Lebensführung in christlich-rationaler ‚Ordnung‘ entspricht dem Programm der bei-

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den christlichen Revolutionen (katholische Reform und evangelische Reformation) (Endean 1990b). Dieser Plan ist allerdings nicht leicht zu erfüllen, denn der Kampf um die Seelen ist in der Dramatik der Exerzitien ein grundlegend kosmologischer zwischen den zwei dichotomen Grundkräften Gott (Jesus) und Satan, wie die zentrale Imaginationsübung zu den „zwei Bannern“ zeigt: Der Exerzitant soll sich das Banner „von Christus, unserem obersten Hauptmann und Herrn“ (EB 136) vorstellen, nämlich „(e)in großes Feldlager […], bestehend aus jener ganzen Gegend von Jerusalem, wo der generaloberste Hauptmann der Guten Christus unser Herr ist“ (EB 138). Die Gegenseite ist das Banner „von Luzifer, dem Todfeind unserer menschlichen Natur“ (EB 136), dessen „Feldlager in der Gegend von Babylon“ (EB 138) ist, wo er sich „auf einen großen Thron aus Feuer und Rauch setzte, in furchtbarer und schrecklicher Gestalt“ (EB 140) und von dort seine Dämonen zu ausnahmslos allen Menschen auf der Erde schickt, um sie mittels „Begierde nach Reichtümern“ (EB 142) in Versuchung zu führen und somit zu fangen und zu fesseln. Dagegen stellt sich Christus in seinem Feldlager „an einen demütigen, schönen und anmutigen Ort“ (EB 144) und wählt „viele Personen, Apostel, Jünger usw. aus[…]“ und sendet „sie über die ganze Welt hin“, um „so seine heilige Lehre über alle Stände und Lebenslagen von Personen“ zu verbreiten (EB 145). Die alttestamentlichen symbolischen Orte Jerusalem und Babylon werden hier als die zwei Zentren der dualistischen Realität des Kosmos dargestellt und verbunden mit militärischen Bildern der Kreuzzugszeit, welche im Spanien des 16. Jahrhunderts durch die gerade beendete Reconquista noch große kulturelle Aktualität hatten (Tanner 1990). Immer wieder wird die Dimension der „ganzen Welt“ betont, welche Schauplatz des Kampfes zwischen den beiden Bannern wird. Dieses Szenario spiegelt auch apokalyptisches Gedankengut wider, welches im Spätmittelalter oftmals als Stimulanz zur Kirchen- und Selbstreform eine große Rolle spielte (Barnes 1999: 159). Die Imaginationsbilder der Exerzitien etablieren eine dualistische Realität ohne starre Fronten (de Rivera 1978: 61). Der Kampf der beiden Mächte um die Seelen wird auch imaginativ auf die mikrokosmische Ebene des Exerzitanten angewendet: Jede seiner Neigungen, welche er seiner Wahlentscheidung zu Grunde legt, kann sowohl von den „guten Geistern“ als auch von den „Dämonen“ eingepflanzt worden sein (EB 314 f.). Aus diesem Grunde bedarf jede spontane Entscheidung einer langen Überprüfungszeit mittels der methodischsystematisierten „Unterscheidung der Geister“13. —————

13 Roland Barthes kritisiert die ständige Kontrastierung im Sprachsystem (kulturwissenschaftlich eher: Symbolsystem) Loyolas: „Die Sprache des Ignatius enthält […] die Skizze eines Sys-

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Die apokalyptisch eingefärbten Kreuzzugsszenarien werden ergänzt durch Imaginationsbilder, die der mittelalterlichen höfisch-ritterlichen Kultur entnommen sind. So wie Jesus als Feldherr imaginiert wird, der seine Truppen zum Kampf ausschickt, wird er zwei Tage zuvor in der Übung zum „Ruf des Königs“ als König imaginiert, der vom Exerzitanten, welcher die Rolle des Ritters einnimmt, Lehnseid und Nachfolge fordert (EB 95). Die Höflinge des Königs, heilige Männer und Frauen (EB 98), sowie Maria als hohe Frau, die – ganz dem höfischen Protokoll folgend – vom Exerzitanten immer wieder als Fürsprecherin angerufen wird, runden die Imaginationsbilder „höfische[r] Mystik“ (Maron 2001: 70 ff.) ab. Dieses höfischritterliche Szenario liefert nicht nur einen Rahmen, welcher in der Imagination eine persönliche dialogische Begegnung des Exerzitanten mit Jesus Christus (personifiziert als König und Feldherr) möglich macht, sondern auch ein Identifikationsangebot für den Exerzitanten: Er soll sich als Ritter Christi verstehen und wie die Kreuzritter für ihn ausziehen, um „die ganze Welt und alle Feinde zu erobern“ (EB 95) – freilich nicht mit dem Schwert, sondern mit lehrender Mission, so wie es die Gesellschaft Jesu als Ordensprogramm verfolgt. Hier spielt Ignatius’ Biographie eine große Rolle: Er hatte in seiner Jugend eine Ausbildung zum caballero am spanischen Hof durchlaufen (García Mateo 1990). Zur höfisch-ritterlichen Sozialisation in Spanien gehörte auch das Lesen von Ritterromanen von frühester Jugend an (Eickhoff 1987: 289). Diese vermochten bei den Lesern und Ritter-Aspiranten den „Imitationstrieb“14 (Assmann 1985: 99) in Bezug auf die ritterlichen Helden zu stimulieren. So war auch Ignatius erklärtermaßen großer Anhänger der Lektüre von Ritterromanen, wich aber auf dem Krankenlager in ————— tems virtueller oder paradigmatischer Gegensätze. Ignatius praktiziert unaufhörlich jene übertriebene Form des Binarismus, die Antithese“ (1986: 67). Man kann hier erwidern, dass Binarismus oder dichotome Gegensätze aber eben auch ein typisches Merkmal mythischer Weltbildstrukturen sind (Assmann/Assmann 1998) – genauso wie die von Barthes ebenfalls kritisierte „totalitäre Ökonomie“ (1986: 62): Ignatius ist einem mythischen christlichen Weltbild verpflichtet und will dieses durch imaginative Einübung als kulturelles Symbolsystem im Exerzitanten verankern. 14 Diese Stimulierung von Identifikation bzw. Imitation bezeichnet Aleida Assmann als typisches Kennzeichen von „wildem Lesen“, welches für das 16. Jahrhundert charakteristisch ist, da Gedrucktes immer noch unter den Vorzeichen des oralen Vortrags gelesen wird: Der Leser verhält sich wie der Zuhörer, er taucht ganz in die Geschichte ein und lässt sich mitreißen. Eine Abstraktion oder kritische Distanz sei bei dieser Lesetechnik nicht möglich. Aleida Assmann stellt die These auf, dass dies ein typisches Merkmal des Übergangs von oralen Stoffen in massenhaft gedruckte Form sei (Assmann 1985: 96 ff.). Hier werden grundlegende Zusammenhänge zwischen kulturellen medialen Formen einerseits und imaginativen Vorgängen andererseits deutlich. Die „wilde“ Form des Lesens ist immer noch aktuell, wenn es um Lesen als vergnügliche oder entspannende Freizeitbeschäftigung geht, im Gegensatz zum distanzierten, analytischen Lesen, das eher mit der Professionalisierung des Lesens verbunden ist.

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Manresa notgedrungen auf Frömmigkeitsliteratur aus, weil es keine anderen Bücher im Haus gab (BP 5 f.15). Die Vita Christi des Ludolf von Sachsen und die Heiligenlegenden des Flos Sanctorum, lösten bei ihm den Wandlungsprozess aus, den man später als seine ‚Bekehrung‘ bezeichnet. In gewisser Weise unterscheidet sich diese Literatur nicht viel von den Ritterromanen: Die imaginative Betrachtung und Imitation der Hauptpersonen (der Heiligen und der Person Jesu) ist hier ebenfalls angestrebt – ganz im Sinne der Imitatio Christi, die im spätmittelalterlichen Frömmigkeitsprogramm der Devotio moderna an zentraler Stelle steht (Maron 2001: 24 ff.). Der in lesender Identifikation geübte Ignatius stellte sich von nun an vor, wie er nach dem Vorbild der heiligen Helden handeln würde (BP 7). Ignatius verband in seiner Biographie fortan beide Rollen: die des Ritters und die des Heiligen, indem er z. B. einen Teil seines Bekehrungsprozesses wie die nächtliche Waffenwache einer Ritterinitiation vor dem Gnadenbild im Kloster Montserrat vollzog (Eickhoff 1987: 290). Die Rollenangebote in den Exerzitien, welche der Übende imaginativ durchspielen soll, umfassen genau diese Schnittstelle aus Bildern ritterlicher Gefolgschaft als Identifikationsangebot verbunden mit imaginierten Handlungssequenzen der Heiligen, der Jünger Christi und von Christus selbst, die als Vorlage zur Imitatio dienen. Die höfisch-ritterliche und fromme Szenerie wird dem Exerzitanten als bleibende „imaginative Rahmung“ (Schwarte 2006: 93) für sein soziales (d. i. orthopraktisches) Handeln angeboten16. Der Exerzitant soll nach seiner ‚Initiation‘ ein ‚heiliger Ritter‘17sein. Die Antwort des Ritters auf den Ruf des Königs Jesus in den Ejercicios macht deutlich, wie sich Ignatius den neuen heiligen Ritter – den neuen Jesuiten – vorstellt: 97 […] Die mehr verlangen und sich in allem Dienst für ihren ewigen König und allgemeinen Herrn auszeichnen wollen [Hervorh. L.T.], werden nicht nur ihre Person für die Mühsal anbieten, sondern, indem sie sogar gegen ihre eigene Sinnlichkeit und fleischliche und weltliche Liebe angehen, Anerbieten von größerem Wert und größerer Bedeutung machen, indem sie sagen: 98 ‚Ewiger Herr aller Dinge, ich mache mit Eurer Gunst und Hilfe vor Eurer unendlichen Güte und vor Eurer glorreichen Mutter und allen heiligen Männern und Frauen

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15 Bericht des Pilgers (Ignatius’ Autobiographie aus den Jahren 1553–1555); online unter: http://members.a1.net/omvaustria/ignatius/pilger.html [28.02.2012]. 16 Vgl. auch Sebastian Schülers Artikel in diesem Band zum Zusammenhang von imaginativen Gebetspraktiken und moralischem Handeln. 17 Eickhoff (1987: 285) nennt diesen heiligen Ritter bzw. „christlichen Abenteurer“ ein „Musterbeispiel spanischer Mentalität“. Die literarische Fortführung und Karikierung dieses spanischen Helden ist Cervantes’ Don Quijote. Auf Ignatius als Vorlage für Cervantes Romanhelden ist in der Literaturwissenschaft schon öfter aufmerksam gemacht worden (z. B. Eickhoff 1987; Conrod 2008).

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des himmlischen Hofs mein Anerbieten, daß ich meinerseits will und wünsche und es mein überlegter Entschluß ist, wofern dies nur Euer größerer Dienst und Lobpreis ist, Euch darin nachzuahmen [Hervorh. L.T.], alle Beleidigungen und alle Schmach und alle sowohl aktuale wie geistliche Armut18 zu erdulden, wenn Eure heiligste Majestät mich zu einem solchen Leben und Stand erwählen und annehmen will‘ (EB 97 f. – Hervorh. L.T.).

Die Imaginationsübungen der ersten Wochen schaffen also Grundlage und Wegweiser für den individuellen Wandlungsprozess: Das Bild des sündigen Menschen wird imaginativ sinnlich inkorporiert, Leib und Seele des Exerzitanten werden so als erlösungsbedürftig umgedeutet. Hieraus erwächst starke intrinsische (im wahrsten Sinne des Wortes: eingekörperte) Motivation, sein Leben zu ändern. Das Rollenangebot des Ritters für den Heerführer und König Jesus Christus wird dann imaginativ bereitgestellt und eingeübt, um die aufgebaute Motivation zu kanalisieren und in eine bestimmte Richtung zu lenken. Die Societas Jesu, der Jesuitenorden, wird somit in der Konsequenz zur real existierenden, aber imaginativ aufgeladenen Gemeinschaft der Ritter Jesu und bietet sich dem Exerzitanten für seinen weiteren Lebensentwurf nun sehr passend an. Das Bild des Königs, in dessen Dienst sich der Ritter stellt, wird in jesuitischer Tradition imaginativ auch auf den Papst übertragen: Der Jesuitenorden unterstellt sich nicht den örtlichen Bischöfen, sondern direkt dem Papst; er kann die Jesuiten im Kampf für den Glauben in die Welt ausschicken (Maron 2001: 190 ff.). Damit unterstrichen die Jesuiten im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung noch einmal eine dezidiert ‚katholische‘ Dimension: die unhinterfragbare Würdigung des Papstamtes. Gleichzeitig prägten sie ein ‚ideales‘ Papstbild, das an den ‚realen‘ Papst wiederum hohe Ansprüche im Hinblick auf Verhalten und Lebensweise stellte, mochte dieser dem Bild des guten Königs möglichst nahekommen und ein würdiger vicarius Christi sein (Maron 2001: 162 f.). Das spirituelle Programm der Exerzitien wird so zum Mittel, neue moralische und machtpolitische Ideen bezüglich Ordensleben und Papsttum zu etablieren.

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18 Hier kann man Ignatius’ Motivation ablesen, ganz im Sinne der katholischen (bzw. franziskanischen) Reform ein Armutsideal im Berufspriestertum zu integrieren. Falls der Exerzitant im Verlaufe der Exerzitien die Entscheidung trifft, Priester zu werden, sollte er dies nicht aus monetären Gründen (Aussicht auf gute Pfründe) tun (Endean 1990b: 123; Maron 2001: 179 f., 237 f.).

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5. Imaginationsprozesse Im Folgenden sollen die ‚technischen‘ Anweisungen näher betrachtet werden, die Ignatius zur Durchführung der Imaginationsübungen gibt. Ignatius etabliert in den Exerzitien eine Folge unterschiedlicher Imaginationstechniken und aktiviert dabei nacheinander verschiedene imaginative Modi, bis das imaginative Szenario alle sinnlichen Ebenen, die sprachliche Ebene, die emotionale, motivationale und handlungspraktische Ebene umfasst. Auf diese Weise verdichtet der Exerzitant sein imaginatives Szenario immer mehr und kann die Imaginationsbilder und Rollenangebote ganzheitlich imaginativ ausführen und inkorporieren. Dabei kommen nicht nur den Imaginationsbildern und Rollenangeboten, sondern auch den ‚formalen‘ Aspekten wie Imaginationstechniken und -modi eine identitätskonstruierende und damit politische Bedeutung zu: Sie schaffen einen neuen Imaginationsstil als Grundlage für den Jesuitenorden und für eine konfessionalisierte katholische Identität. 5.1. Rahmungstechniken Ignatius gibt sehr ausführliche Anweisungen, wie die richtigen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Imagination zu schaffen sind. Seine Imaginationstechniken sind weitgehend unabhängig von äußeren „imaginativen Dingen“ bzw. medialen „Inszenierungen von Präsenz“ (Schwarte 2006: 94): Er verwendet also keine äußeren, sinnlichen Gegenstände für den Imaginationsprozess (wie z. B. ein materiales Bild), eventuell möchte er sich sogar – ähnlich wie die protestantischen Ikonoklasten – von einem ‚übertriebenen‘ mittelalterlich-katholischen Bildgebrauch bewusst absetzen (Kolvenbach 1987: 15). Stattdessen arbeitet er – bis auf die Schaffung einer passenden ästhetischen ‚Atmosphäre‘ – rein introspektiv. Er muss also darauf achten, dass der Imaginationsprozess, welcher auf einem labilen dialektischen Verhältnis zwischen äußerer und innerer Wahrnehmung beruht, durch möglichst wenig äußere Sinnesreize gestört werden darf, weil eine erhöhte Konzentration auf die inneren Vorgänge gewährleistet sein muss. Aus diesem Grunde empfiehlt Ignatius den Rückzug in Klausur für die Zeit der Exerzitien und die Übungen selbst werden vom Exerzitanten allein in der Stille seines Zimmers vollzogen. Die Raumbeleuchtung lässt Ignatius an die Stimmung der jeweiligen Imaginationsbilder anpassen: In der ersten und dritten Woche (Thema Sünde und Passion) soll sich der Exerzitant in abgedunkelten Räumen aufhalten (EB 79), in der zweiten und vierten Woche (Thema Geburt/öffentliches Auftreten Jesu und Auferstehung/Himmelfahrt) kann er Helligkeit und gutes Wetter ausnutzen, wenn es

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ihm bei der Imagination hilft (EB 130). Die Umgebungsgestaltung wird also als atmosphärische Unterstützung der Imaginationsbilder genutzt. Zudem erleichtert eine ruhige und abgedunkelte Atmosphäre gerade beim Anfänger das Einüben der notwendigen Konzentration. Auch zwischen den Übungen soll sich der Exerzitant visuellen Reizen möglichst wenig aussetzen, indem er „seinen Blick zügelt“ und auch seinen Exerzitiengeber nur zur Begrüßung und Verabschiedung anschaut (EB 81). So kann die Konzentration ganz auf die inneren Bilder gerichtet werden und diese werden möglichst wenig durch äußere Einflüsse ‚kontaminiert‘, denn nur so können sie in der ignatianischen Logik zur Entscheidungsgrundlage werden. Desweiteren empfiehlt Ignatius diverse asketische Techniken für den ganzen Verlauf der Exerzitien, welche die Konzentration durchgehend weg von sinnlichen und alltäglichen Dingen hin auf die zu imaginierenden Inhalte lenken soll: Der Exerzitant soll Nahrungsaskese betreiben, also langsam, wenig und Ausgewähltes zu essen (aber nicht streng fasten) und sich dabei nicht auf das Essen selbst konzentrieren, sondern Christus und seine Jünger beim Mahl imaginieren und sie nachahmen (EB 83, 210–17). Dieses Weiterführen der Imagination in die Pausen zwischen die Übungen hinein soll der Exerzitant auch in Bezug auf seinen Gefühlshaushalt praktizieren und seine Gedanken und emotionale Stimmung durchgehend an die Imaginationsbilder anpassen (EB 78, 80). Auch wird die Imagination noch möglichst weit in die Schlafphasen mit ausgedehnt, indem der Exerzitant nach dem Zubettgehen und kurz vor dem Einschlafen noch an den Inhalt der bevorstehenden Übung denken und auch direkt nach dem Aufwachen diesen Gedanken wieder aufgreifen und beim Ankleiden aufrecht erhalten soll (EB 73 f.). Das Terminieren der ersten und zweiten Übungsphase direkt im Anschluss an die erste und zweite Tiefschlafphase (Mitternacht und morgens) ergänzt die Ausdehnung des Übungsrahmens auf den ganzen biorhythmischen Tag. Ignatius empfiehlt des Weiteren auch mäßige körperliche Geißelung (EB 85–7) und begründet dies unter anderem damit, dass dadurch einerseits der zu den Imaginationsbildern passende emotionalkörperliche Zustand erreicht werden kann und andererseits dadurch auch die ungeordneten sinnlichen Anhänglichkeiten (s. o. 4.) überwunden werden können (EB 87). Damit entspricht Ignatius vollkommen den katholischen asketisch-körperlichen Praktiken seiner Zeit19. Der eigene Körper —————

19 Bemerkenswert ist, dass er jedoch bei allen Anweisungen zu Askese (Nahrung, Schlaf, Geißelung) die Gesundheit des Exerzitanten und Zweckmäßigkeit der Übung in den Vordergrund stellt und vor einem Übermaß, welches dem Körper schadet und die asketische Praxis zum Selbstzweck werden lässt, ausdrücklich warnt (EB 83–6). Aktuelle Exerzitienkommentare raten von der Praxis der Geißelung vollkommen ab (Knauer 2011: 59, Fn. 23).

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wird bei dieser Technik also als Medium benutzt, das durch Schmerzempfinden die Imagination induzieren oder verstärken kann. Das Schmerzempfinden wird künstlich von außen stimuliert, und dies garantiert gleichzeitig, dass die Imagination und Konzentration störenden körperlichen Empfindungen, die nicht der willentlichen Kontrolle unterliegen, weitgehend ausgeschaltet werden. Eine Überprüfungstechnik versetzt den Übenden zudem in die Lage, nach jeder Übung zu reflektieren, ob er sein Übungsziel erreicht hat oder ob die Imaginationsübung nicht erfolgreich war, z. B. weil er seine Konzentration abschweifen ließ. In der mittelalterlich-mönchischen Tradition wird das Abschweifen der Konzentration curiositas genannt; diese ist das Gegenstück zur konzentrierten meditatio (Carruthers 1998: 82). Auch Ignatius weiß, dass grundlegend für den Erfolg der Imagination die Disziplinierung der eigenen Gedanken ist (EB 64). Der Erfolg oder Misserfolg im Hinblick auf die formalen Aspekte der Übung soll der Exerzitant in einem schriftlichen Schema visualisieren, indem er auf zwei Linien jeweils Erfolge und Fehler als Punkte einträgt. So kann der Exerzitant ggf. seine Technik verändern und den Erfolg dieser Maßnahmen direkt überprüfen (EB 28–31; EB 90, 160). Diese Technik des mathematisierten „Monitorings“ (de Rivera 1978: 21) dient in der ersten Woche im Rahmen der Gewissensprüfung dazu, Sünden bzw. den Erfolg beim Einhalten von Besserungsvorsätzen, in externalisierter Form festzuhalten und so einen sichtbaren Fortschritt beim Ablegen des alten, sündigen Ichs aufzuzeichnen (EB 28–31). Sündhaftigkeit und methodisches Versagen bei der Imaginationsübung werden im Monitoring-Prozess ab der zweiten Woche also zusammengedacht, so dass eine durchgehende Bewusstheit und allumfassende Konzentration auf die Disziplinierung der eigenen Person forciert wird. Abschweifen der Konzentration vom Ziel des Sich-Ordnens (sei es in orthodoxer Hinsicht oder im Hinblick auf die Durchführung der Imaginationsübungen) soll überwunden werden. Ignatius verbindet also mittelalterlich-mönchische Meditationstechniken mit modernen Methoden der „Selbstdisziplin und Zweckrationalität“ (Schilling 1994: 15), die kennzeichnend werden für den jesuitischen Habitus und Schlüssel zum politischen Erfolg des Jesuitenordens sind. Alle Techniken werden also zu folgenden Zwecken eingesetzt: Zum einen geht es um Reizreduktion und damit ‚Entkörperung‘, welche die imaginative Inkorporation neuer personaler Strukturen und darauf abgestimmter Selbstdisziplinierungs- und Körpertechniken (z. B. Nahrungs- und Schlafgewohnheiten, Gebetszeiten) im Sinne einer ‚Umerziehung des Körpers‘ vorbereitet (de Nicolas 1986: 37 f.). Diese Umerziehung des Körpers, die Gewöhnung an körperliche Strapazen, war auch eine wichtige Grundlage

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dafür, dass die Jesuiten auf Missionsreisen geschickt werden konnten. Bei den Rahmungstechniken der Exerzitien geht es zum anderen um die Schaffung einer allumfassenden emotional-imaginativen Atmosphäre, indem entweder passend zu den imaginierten Inhalten sinnlich-emotionale Zustände stimuliert werden (z. B. durch Gefühlsaskese, Beleuchtung, Geißelung) oder alle Aspekte der Umgebung und des Alltagshandelns passend zu den imaginierten Inhalten umgedeutet werden (z. B. Imitatio Christi beim Essen), während Störungen der Introspektion und Imagination durch systematische Selbstkontrolle und durch die Klausur weitgehend ausgeschlossen werden. Dies alles ist die Voraussetzung dafür, dass die Exerzitien bleibende Wirkung beim Exerzitanten entfalten und ihn auf die ‚totale Rolle‘ des Streiters in der Societas Jesu vorbereiten, der sein Denken und Handeln als dauerhaften Dienst für Jesus und die Kirche versteht und eine möglichst umfassende Imitatio Christi bzw. Imitatio der Jünger Christi praktiziert20. 5.2. Narrativer Impuls Die Anweisung, welche Imaginationsbilder zu meditieren sind, bekommt der Exerzitant aus der mündlichen Skizzierung dieser Bilder durch den Exerzitiengeber. Der Exerzitiengeber darf dabei nur kurze und zusammenfassende Impulse geben, damit sich die Imagination des Exerzitanten noch weiter entfalten kann (EB 2). Je mehr Leerstellen und damit imaginativen Aufforderungscharakter der mündliche Text des Exerzitiengebers besitzt, desto mehr muss der Exerzitant selbständig imaginativ diese Leerstellen auffüllen: Rezeptionsprozess und Imaginationsprozess sind nicht voneinander zu trennen (vgl. wirkungs- bzw. rezeptionsästhetischer Ansatz von Wolfgang Iser (1984)). Ignatius benutzt also zur Stimulierung des imaginativen Prozesses den sprachlichen Imaginationsmodus. Wichtig ist zu betonen, dass dieser sprachliche Modus im Medium der Oralität als narrative Imaginationstechnik umgesetzt wird: „Die erste Hinführung ist die Geschichte (historia)“ (EB 111). Imaginationsprozesse, die auf diese Weise angestoßen werden, widmen sich dem ‚großen Ganzen‘ der Erzählung, der Geschichte: der Szenerie, den Personen und ihren Handlungen im zeitlichen Fortschreiten der Erzählung. Der Imaginationsprozess ist dabei an das Erzähltempo gebunden und kann nur durch die Erinnerung und nicht durch —————

20 Dieses Vermögen der Imagination, die Dichotomie zwischen ‚sakral‘ und ‚profan‘ aufzulösen, kann mit Karen-Claire Voss als die wichtigste Funktion von Imagination im religiösen Kontext betrachtet werden (Voss 1996: I.); die möglichst umfassende Aufhebung dieser Dichotomie wird in den Exerzitien eingeübt, die initiierten Jesuiten werden zu ‚sakralen‘ Personen (Jünger Christi) im Dienst an und in der Welt (Maron 2001: 176).

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ein äußeres Medium wieder aktiviert werden. Damit unterscheidet sich die ‚orale Imagination‘ von der ‚textlichen Imagination‘ – hier kann der Text zu Informations- bzw. Imaginationseinheiten zerlegt werden und die Imagination zeitlich entschleunigt und jederzeit wiederholt werden, so dass z. B. einzelne Wörter Imaginationsprozesse und -bilder anstoßen können, die vom großen Ganzen des Textes abstrahieren. Ein genauer Wortlaut, feste Formulierungen sind somit als ‚Informationsbits‘ für die ‚textlichinformative‘ Imagination entscheidend – bei der ‚oral-narrativen‘ Imagination kommt es auf die Gesamtwirkung der Erzählung an (de Nicolas 1986: 14 f.). Interessant ist, dass auch die schriftlichen Mysterientexte im Anhang der Ejercicios, die dem Exerzitanten zum Lesen gegeben werden können, durch ihre Skizzenhaftigkeit ganz der oral-narrativen Imaginationstechnik verhaftet bleiben. Sie dienen als Ersatz für oder als Erinnerungsstütze an den oralen Impuls des Exerzitiengebers, aber nicht als Grundlage für imaginative Arbeit am schriftlichen Text. Daher muss man sich auch nicht wundern, wenn die Imaginationsbilder, die Ignatius als Vorlagen gibt, an biblische Erzählungen zwar angelehnt sind, diesen aber nicht durchgehend im Wortlaut folgen. Ignatius benutzt nicht einfach Auszüge aus den Evangelien als Imaginationsvorlage, sondern kombiniert verschiedene Evangelientexte mit apokryphem Material und freien Ausschmückungen zu einem typisch barocken imaginativen Ornament (Maron 2001: 31–43; Conrod 2008: 48). Der Text der Imaginationsvorlagen „hat also keinen Eigenwert“ (Radeck 1998: 149), sondern ist ein funktionaler „,ikonischer‘ Text“ (Frick/Fühles 1990: 152), historia und nicht lectio (Maron 2001: 33 f.), der hauptsächlich auf die transformierende Imagination des Exerzitanten abzielt. Hier zeigen sich deutlich die Abgrenzung zu Imaginationstechniken und imaginativen Medien der Scholastik und der Reformation. Diese sind der textlich-informativen Imaginationstechnik und damit dem Medium des schriftlichen Bibeltextes verpflichtet, so dass dort der Eigenwert des Textes sowie Wort und Lehre Christi in den Mittelpunkt rücken, nicht die Gestalt und das Handeln Christi wie bei Ignatius (Maron 2001: 31). In den Exerzitien findet also qua Imaginationstechnik eine Abgrenzung zu scholastischer und reformatorischer Exegese und intellektualistischem, text- bzw. informationszentriertem Lernen statt; dadurch kann die Imaginationstechnik der Exerzitien zum Identitätsmarker einer neu definierten katholischen Identität und Frömmigkeit werden. Ignatius ist dabei an der oralen Kultur des katholischen Spaniens seiner Zeit orientiert, in der das private Lesen der Bibel verboten ist, literarische Texte am Königshof rezitiert oder inszeniert, aber nicht vorgelesen werden und auch die zur privaten Lektüre bestimmte Roman- und Frömmigkeitsli-

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teratur noch ganz durch das orale Paradigma bestimmt ist (Maron 2001: 20 f.; García Mateo 1990: 347; Assmann 1985). Ignatius verwendet darum auch die Formulierung „ins Gedächtnis bringen“ (traer a la memoria), wenn es um die imaginative Vergegenwärtigung einer biblischen Geschichte geht (z. B. EB 50, 51, 56). Gemeint ist nicht wörtliches Erinnern des Bibeltextes, sondern Reaktivierung des ursprünglichen Rezeptions- bzw. Imaginationsprozesses, der sich beim Hören des narrativen Impulses durch den Exerzitiengeber abgespielt hat. Erinnern ist im oral-narrativen Modus kein mimetischer, sondern ein kreativ-imaginativer Vorgang (Carruthers 1998: 68 ff.). Damit steht Ignatius in der mittelalterlichen Seelenlehre. Die imaginatio ist dort eine Form der memoria und ihre Funktion ist es, Wahrgenommenes (wieder) zu beleben (Lechtermann 2005: 55). In der mittelalterlich-mönchischen Tradition wurde diese imaginativ-meditative Belebung religiöser Texte oder Artefakte als memoria spiritualis oder sancta memoria bezeichnet (Carruthers 1998: 12). Der narrative Impuls zur Vorbereitung der Übungen soll also einen imaginativen Prozess in Gang setzen, der auf dem narrativen Wissen und schon vorhandenen Imaginationsbildern des Exerzitanten aufbaut. Gleichzeitig schärft der narrative Impuls durch seine Vorgaben aber auch den Fokus und lenkt die Imaginationsbilder in die gewünschte Richtung Es zeigt sich also, dass sich Ignatius bei der Wahl dieser Imaginationstechnik einerseits ganz eindeutig an mittelalterliche katholisch-mystische Praktiken anlehnt und andererseits von den intellektualistischen Techniken, welche die Reformation inspirieren, abrückt. Er vertieft den so begonnenen Imaginationsprozess des Exerzitanten nun, indem er in andere Imaginationsmodi überleitet, die ebenfalls eindeutig einem katholischen Imaginationsstil entsprechen. Zunächst aktiviert er den sinnlichen Imaginationsmodus, wie im Folgenden gezeigt wird. 5.3. Räumlich-Szenische Imagination Nachdem der kurze narrative Impuls dem Exerzitanten schon einen Überblick über die zu imaginierenden Bilder gegeben hat, entschleunigt Ignatius im ersten Meditationsschritt die Imagination und lässt den Exerzitanten zunächst die statischen Elemente der Szenerie, des Textraumes visualisieren21. Er nennt dies „Zusammenstellung, indem man den Raum sieht“ (z. B. EB 47) und gibt die Anweisung: „mit der Sicht der Vorstellungskraft den —————

21 Vgl. auch die Beiträge von Isabel Laack, Sebastian Schüler und Adrian Hermann im Kapitel „Imaginationsräume“ und Anne Kochs Ausführungen zu therapeutischen Landschaften in diesem Band.

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körperlichen Raum zu sehen, wo sich die Sache befindet, die ich betrachten will (ver con la vista de la imaginación el lugar corpóreo, donde se halla la cosa que quiero contemplar)“ (EB 47). Dabei soll der Exerzitant sehr gründlich vorgehen, wie folgende Anweisung zeigt: „Mit der Sicht der Vorstellungskraft den Weg von Nazareth nach Betlehem sehen, dabei die Länge, die Breite erwägen, und ob dieser Weg eben ist oder ob er über Täler oder Steigungen geht; ebenso den Ort oder die Höhle der Geburt schauen, wie groß, wie klein, wie niedrig, wie hoch und wie er bereitet war“ (EB 112). Ignatius lässt den Exerzitanten imaginativ den Raum produzieren, dieser bekommt dreidimensionale Tiefenwirkung durch angeleitete Blickführung und imaginierte Fortbewegung. Ignatius wendet hier zwar Visualisierung als Imaginationstechnik an, diese ist aber nicht im Sinne eines statischen Beobachters und eines statischen zweidimensionalen Bildes zu verstehen, sondern schließt die körperlich-kinästhetische Dimension mit ein. Der Exerzitant wird auf diese Weise in seinen imaginierten Raum hineingezogen, er bleibt nicht unbeteiligt außen vor. Da zu jeder Meditation diese „Zusammenstellung des Raumes“ gehört, ergibt sich im Verlauf der Exerzitien eine mental map des Heiligen Landes, die anhand der Stationen des Lebens Jesu organisiert ist. Es ist wohl kaum ein Zufall, dass Ignatius die Imagination des Raumes so wichtig ist: Nach seiner Bekehrung ist es sein größtes Ziel, ins Heilige Land zu gehen, um an den Orten von Jesu Auftreten zu sein (O’Reilly 1990: 444 ff.). Die Orte des Heiligen Landes sind für ihn – ganz in der Tradition mittelalterlicher Pilger und entgegen reformatorischer Wallfahrtskritik – eine Art Gedächtnisspeicher, welche die Aura Jesu aufbewahren, so dass die Pilger Jesus dort durch Berühren der Orte in gewisser Weise körperlich begegnen können. Der imaginierte Raum in den Exerzitien ist ein Substitut für die Landschaft des Heiligen Landes. Er ist in erster Linie ebenfalls ein solcher Begegnungs-Raum, ein Aktionsrahmen, in dem dialogische Beziehungen zwischen Exerzitant und Gottheit entstehen können (García Mateo 1991: 351)22. Die Idee, dass Erinnerung und Imagination räumlich organisiert ist, wird in mittelalterlichen (aus der antiken Rhetorik übernommenen) Mnemotechniken umgesetzt: Wichtige Erinnerungen und Imaginationsbilder werden anhand von mentalen Räumen geordnet, welche imaginativ durchschritten werden können, um die Erinnerungen und Bilder zu aktualisieren —————

22 Die barocke Weiterentwicklung und Medialisierung dieser Idee des imaginativ erzeugten Kommunikations- und Begegnungsraumes zwischen Gläubigen und Gottheit findet sich in der Raumgestaltung von Barockkirchen (Maron 2001: 217 f.), in der Szenerie des Jesuitentheaters (Conrod 2008: 21) und bei den Sacri Monti-Anlagen im Piemont (Gregg 2004).

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(Carruthers 1998: 12). Es ist sehr wahrscheinlich, dass Ignatius mit diesen Techniken aus seiner Studienzeit in Paris vertraut war (Voss 1996: I.7.). Dementsprechend wird der imaginierte Raum in den Exerzitien zu einer Gedächtnisstütze, mit Hilfe derer die Imaginationsbilder und -erfahrungen der Exerzitien mental räumlich organisiert und gespeichert werden. Der Raum organisiert die Abstimmung zwischen Selbst- und Weltbild (Steinhäuser 2011: 280), indem der Exerzitant den Raum im Zusammenspiel zwischen seiner eigenen Körperlichkeit (visuelle und kinästhetische Imagination) und der fiktiven Realität der christlichen Heilsgeschichte (narrative Imagination) konstruiert. 5.4. Performative Imagination Die nächste Imaginationsaufgabe des Exerzitanten ist das Ergänzen der zuvor geschaffenen Szene durch die dramatis personae und ihre imaginative Belebung: Was tun die Personen? (EB 116) Vor allem bei der Imagination der Person Jesu fällt immer wieder auf, dass seine Gestalt und sein Handeln, aber nur selten seine Worte (und nie irgendwelche Lehrreden) imaginiert werden (Maron 2001: 39). Die imaginative Betrachtung ist hier ganz handlungsorientiert und performativ; die Imitatio Christi bezieht sich auf das tätige Handeln, nicht auf die Theologie. Erster Schritt der performativen Imagination in den Exerzitien ist somit immer die Imagination der biblischen Personen als Handelnde. An einigen Stellen wird der Exerzitant direkt aufgefordert, nicht nur die Rolle des ‚unsichtbaren Beobachters‘ einzunehmen, sondern sich selbst in die Szenerie zu imaginieren. Dabei soll er eine Rolle einnehmen, die der Szenerie angemessen ist, vor allem muss diese Rolle die Ehrfurcht vor dem heiligen Geschehen ausdrücken (EB 3). Bei der Betrachtung der Geburtsszene gibt Ignatius z. B. folgende Anweisung: „[I]ch mache mich dabei zu einem kleinen Armen und einem unwürdigen Knechtlein, indem ich sie [die heilige Familie] anschaue, sie betrachte und ihnen in ihren Nöten diene, wie wenn ich mich gegenwärtig fände, mit aller nur möglichen Ehrerbietung und Ehrfurcht.“ (EB 114 – Hervorh. L. T.) Wichtig ist auch die imaginative Identifikation mit der Rolle des Ritters (s. o. 3.) und mit der Rolle der Jünger (EB 208). Ignatius etabliert so in der Gefühlswelt des Exerzitanten die dem jesuitischen Ordensleben zugrundeliegende Rollenimagination und dadurch Herrschafts- bzw. Machtstruktur: Die Jesuiten sind ehrfürchtige und selbstlose Diener der Person und Sache Jesu (und nicht irgendwelcher profanen Personen oder Dinge). Zum Rollenspiel gehört ebenfalls ein Abstimmen der Gefühlswelt auf den imaginierten Kontext, z. B. bei der Imagination des gekreuzigten Jesus: „Und hier mit

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viel Kraft beginnen und mich anstrengen, um Schmerz zu empfinden, traurig zu sein und zu weinen.“ (EB 195) Ignatius unterscheidet hier nicht, ob der Exerzitant eine bestimmte Rolle oder die Rolle des gläubigen Zuschauers einnimmt; in beiden Fällen soll eine kommunikative Beziehung zwischen Übenden und Vorgestelltem angestoßen werden, welche eine passende emotional-affektive Reaktion des Exerzitanten mit einschließt und ein Hierarchieverhältnis etabliert. Der zweite Schritt der performativen Imagination in den Exerzitien ist demnach die Imagination der eigenen Person als sozial handelnde und fühlende innerhalb der imaginierten Szenerie. Dies ist der Ausgangspunkt für den abschließenden Übungsschritt: das Gespräch (coloquio). Hier wird die zuvor imaginierte Szenerie aufgelöst, der Exerzitant verlässt seine Rolle (behält aber die demütig-ehrfürchtige Grundhaltung bei) und eine der zuvor imaginierten göttlichen Personen wird aus der Szenerie herausgelöst und dem Exerzitanten als Gesprächspartner gegenübergestellt: „Das Gespräch wird gehalten, indem man eigentlich spricht, so wie ein Freund zu einem anderen spricht oder ein Knecht zu seinem Herrn, indem man bald um irgendeine Gnade bittet, bald sich wegen einer schlechten Tat anklagt, bald seine Dinge mitteilt und in ihnen Rat will.“ (EB 54) Ignatius grenzt diese Imaginationsübung durch die Bezeichnung ‚Gespräch‘ vom ‚Gebet‘ ab – was darauf schließen lässt, dass auch die (bewusste oder unbewusste) Imagination der Antwort des Gegenübers mit zur Übung gehört. Dies führt er allerdings nicht aus und gibt auch keine näheren Anweisungen zur Imagination der Reaktion des Gesprächspartners. Denn im Weltbild der Exerzitien ist die Gottheit aktiv handelndes und kommunizierendes Gegenüber des einzelnen Menschen, so dass der Exerzitant nicht mehr aktiv-bewusst ihre Antwort imaginieren muss, sondern nur passiv zu empfangen braucht: „[S]o ist es […] angebrachter und viel besser, daß der Schöpfer und Herr selbst sich seiner frommen Seele mitteilt. […] Der die Übungen gibt, soll […] unmittelbar den Schöpfer mit dem Geschöpf wirken lassen und das Geschöpf mit seinem Schöpfer und Herrn.“ (EB 15) Ignatius gestaltet die Beziehung zwischen Gott und Gläubigen ganz mystisch bzw. im Sinne der Devotio moderna oder auch der Reformation: Die Kirche muss die Begegnung zwischen Gott und Gläubigen nicht erst sakramental vermitteln, die Begegnung ist unmittelbar in Imagination und Gebet möglich – dies ist auch einer der Gründe, warum die Inquisition und andere kirchliche Kommissionen die Exerzitien mehrmals prüften und anklagten, selbst nachdem sie 1548 durch Papst Paul III. approbiert worden waren (Henkel 1995: 75, 88 ff.). Dem Vorwurf der ‚Selbstermächtigung‘ begegnet Ignatius in den Exerzitien durch die Forderung der demütigen Grundhaltung. Dritter Schritt der performativen Imagination ist also die Imagination Gottes und der eigenen Person als kommunikativ und dialo-

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gisch handelnde. Hier wird die performative Imagination schon wieder im Ansatz zur sprachlichen Ebene hin geöffnet – der eher tagtraumartige Zustand der sinnlichen und performativen Imagination, welche ganz der imaginativen, emotionalen und dramatischen Gegenwart verpflichtet ist, wird langsam wieder aufgelöst. In der Formulierung des Gesprächs wird das imaginativ Erlebte verfestigt und auf die Motivationsstrukturen des Exerzitanten angewendet. Es zeigt sich immer wieder, dass für Ignatius Imagination – in Anlehnung an die mittelalterliche Tradition – nicht von Emotion und Affekten getrennt werden kann (Lechtermann 2005: 62 f). Für Ignatius sind genau die emotional dichten Stellen im Imaginationsprozess ausschlaggebend, denn sie markieren den neuralgischen Punkt für den Entscheidungsprozess des Exerzitanten – die hier empfundenen Emotionen und Motivationen müssen in der „Unterscheidung der Geister“ einer genauen Auslegung unterzogen werden. In den Übungseinheiten am Mittag und Nachmittag soll sich der Übende deswegen in der Wiederholung nur auf diese bedeutsamen Stellen konzentrieren. Die Wiederholung der sinnlich-emotional ‚dichten‘ Teile führt zur Verstärkung der Imagination bis hin zur totalen Immersion, in der keine Unterscheidung zwischen ‚fiktivem‘, ‚imaginiertem‘ Gefühl und ‚echter‘ Emotion mehr möglich ist. Eine solch intensive imaginative Erfahrung ist geeignet, vorherige Erfahrungen (und damit verbundene Weltund Selbstbilder und Motivationsmuster) aufzuheben und durch neue Schemata zu ersetzen (Steinhäuser 2011: 50). Intensive Emotion wird Voraussetzung für eine erfolgreiche Initiation in die jesuitische Spiritualität und Vorstellungswelt. Aber die Exerzitien sind nicht nur interessant für eine persönliche spirituelle Erfahrung, sondern auch für die katholische Reform und Konfessionalisierung: Ein neuer Stil katholischer Frömmigkeit wird eingeübt und gesichert, in dem neben funktionaler Zweckrationalität auch intensive Emotionalität eine entscheidende Rolle spielt. 5.5. Sinnliche Imagination Die letzte Übungseinheit des Tages, das „Ziehen der fünf Sinne“ ist wiederum ganz dem sinnlichen Imaginationsmodus gewidmet. Die Szenerien der Übungen des Tages werden noch einmal auf ihre ästhetischen Qualitäten hin imaginiert, so dass ein allumfassendes sinnliches Imaginationsbild entsteht: 122 DER ERSTE PUNKT IST: Mit der Sicht der Vorstellungskraft die Personen sehen […]. 123 DER ZWEITE: Mit dem Gehör hören, was sie sprechen oder sprechen können […]. 124 DER DRITTE: Mit dem Geruch und mit dem Geschmack riechen und schmecken die unendliche Sanftheit und Süße der Gottheit, der Seele und ihrer Tugenden

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und von allen je nach dem, welche Person man betrachtet. […] 125 DER VIERTE: Mit dem Tastsinn berühren, etwa die Orte umfangen und küssen, auf die diese Personen treten und sich niederlassen (EB 122–125).

Diese Übung ist von ihrem Anforderungsgrad her bei den Kommentatoren umstritten: Manche sehen sie als entspannende, nicht-diskursive Übung am Abschluss des Tages, manche als die anstrengendste von allen, eben weil sie den diskursiven Modus überschreitet und damit noch einmal eine ganz eigene Erfahrungsebene eröffnet (Endean 1990a: 396). Den erneuten intensiven Einsatz des sinnlichen Imaginationsmodus kann man zusätzlich zum Aspekt der ‚Verdichtung‘ der Imagination auch lernpsychologisch begründen: Der Exerzitant hat durch die mehrmalige Wiederholung die Imaginationsbilder so gut eingeübt, dass seine Konzentration bei erneutem Aufruf der Bilder abschweifen könnte. Die ausdrückliche Anwendung der Einzelsinne und zwar nacheinander und getrennt voneinander ist ein zusätzlicher Schwierigkeitsgrad und führt dazu, dass die Imaginationsbilder noch einmal bewusst neu eingeübt und intensiviert werden. Auf diese Weise bekommen die Imaginationsbilder eine höhere ‚Realitätsdichte‘ – sie umfassen, wenn man alle Übungen des Tages absolviert hat, alle Ebenen menschlicher Erfahrung: die sinnlich-körperliche Ebene, die emotional-affektive, die Handlungsebene, die sprachliche Ebene, die motivationale Ebene und die Beziehungsebene. Endean (1990a: 399 f.) weist darauf hin, dass sich die fünf Sinne in den Exerzitien nicht nur auf imaginative Sinnes-Objekte beziehen, sondern auch ins Metaphorische überschritten werden, z. B. wenn vom Schmecken und Riechen der Gottheit die Rede ist. Die metaphorische Übertragung der Empfindungen des Geschmacks- und Geruchssinns markiert bei Ignatius immer Situationen, in denen für ihn aus der imaginativen ‚Schau‘ eine Verinnerlichung, Inkorporation und damit spirituelle Erfahrung wird. Alle anderen Sinneseindrücke bleiben im ignatianischen Sinnessystem äußerlich, Geschmack und Geruch hingegen passieren die äußeren Grenzen des menschlichen Körpers und ermöglichen somit einen ‚realen‘, ‚nicht illusionären‘, innerlichen Kontakt mit der Gottheit23. Die sinnliche Qualität der spirituellen Erfahrung ist für Ignatius so evident, dass der sinnliche Imagi—————

23 Evtl. sollte man die Betonung des Geschmackssinns aber nicht nur metaphorisch auf die geistlichen Sinne übertragen sehen, denn Ignatius war ein Verfechter des wöchentlichen (besser täglichen) Empfangs der Kommunion – was zu seiner Zeit höchst unüblich war, ja sogar als ungehörig galt (Maron 2001: 133, 229). Der ‚Geschmack der Gottheit‘ war für Ignatius sicherlich auch mit dem Geschmack der Hostie beim Kommunizieren verbunden und durch die imaginative Aufwertung des Geschmackssinns konnte er evtl. auch die imaginative Aufwertung der Kommunionspraxis bei den Exerzitanten anstoßen (EB 354).

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nationsmodus in den Exerzitien eine Schlüsselstellung einnimmt und nicht einfach durch den rein sprachlichen Modus ersetzt werden kann. So stellt er schon in den Vorbemerkungen der Ejercicios klar, dass es bei den Exerzitien weder um Predigthören, noch um intellektuelles Wissenslernen geht, sondern um eigenständige imaginative Verinnerlichung. Diese Imagination, die geistliche Früchte bringt, umschreibt er mit entsprechenden sinnlichen Metaphern: „Denn nicht das viele Wissen sättigt und befriedigt die Seele, sondern das Innerlich-die-Dinge-Verspüren-und-Schmecken (Porque no el mucho saber harta y satisface al ánima, mas el sentir y gusta de las cosas internamente)“ (EB 2 – Hervorh. L. T.). In seinen biographischen Aufzeichnungen berichtet Ignatius auch, dass er von der Lektüre abstrakttheologischer scholastischer Werke das Gefühl des Erkaltens und Vertrocknens empfinde (Maron 2001: 101 ff.) – dies sind die Gegenbilder zur ‚durststillenden‘, ‚sättigenden‘, ‚sinnlich genussvollen‘ imaginativ-spirituellen Erfahrung, die er in den Exerzitien ermöglichen möchte. Der ausgeprägte sinnliche Imaginationsmodus, die Betonung der Emotionalität und Sinnlichkeit, die für Ignatius gleichzeitig Sinnhaftigkeit bedeutet, kann somit ebenfalls als Abgrenzung gegen scholastische und reformatorische Bildungsmethoden und Gelehrsamkeit gesehen werden (s. o. 5.2.). Ignatius empfindet den akademisch-verkopften Zugang zur Religion als äußerlich und nicht erfüllend und sucht Wege, wie die Religion zum ganzheitlichen Orientierungs- und Erfahrungssystem werden kann, denn nur so kann in seiner Vorstellung sowohl die individuelle religiöse Vollendung als auch die Verbesserung der Kirche herbeigeführt werden. 5.6. Reflexion und Kommunikation Es darf nicht der falsche Eindruck entstehen, dass es Ignatius in erster Linie auf eine spirituell-imaginative, mystische Erfahrung ankommt. Ganz im Gegenteil: Obwohl er alles dafür tut, dass die imaginativen Einheiten der Exerzitien möglichst intensive Erfahrungen ermöglichen, ist ein ebenso wichtiger Bestandteil immer wieder das reflektierende Einnehmen einer Metaebene. Regelmäßig hält Ignatius dazu an, sich von der sinnlichperformativ-emotionalen Ebene zu distanzieren und das Erfahrene auf seine ‚Bedeutung‘ hin zu untersuchen. Die rationale Arbeit in den Meditationsstunden wird von ihm sehr betont, was ein „fast übertrieben“ wirkender Gebrauch rationalistischer Termini beweist: „überdenken (discurrir), Schlußfolgerungen ziehen (raciocinar), verstandesmäßiges Eindringen (raciociación propia) usw.“ (de Rivera 1978: 131). Nach jedem Meditiationspunkt (puntos) folgt dieser oder ein ähnlicher Satz: „Und danach mich auf mich selbst zurückbesinnen, um irgendeinen Nutzen zu ziehen.“ (EB

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114) Ebenso ist der Exerzitant nach jeder Übung dazu angehalten, den ‚Erfolg‘ der Übung zu reflektieren, um seine Technik oder Disziplin zu verbessern (EB 77). Ignatius, der in vielerlei Hinsicht eher mittelalterlich geprägt ist, folgt hier einem Ideal der Zweckrationalität, das später für das renaissance-humanistische Menschen- und Bildungsideal, welches auch den berühmten Jesuitenkollegs zugrunde liegt, sehr wichtig wurde (O’Malley 1990). Die Exerzitien sind ein zweckhafter Bildungsprozess, der Nutzen bringen soll und nicht ein spirituelles Erlebnis um seiner selbst willen. So wichtig Ignatius der emotionale und sinnliche Imaginationsmodus auch war, er setzte alles daran, nicht als Mystiker oder Mystagoge gesehen zu werden, sondern als erleuchteter, aber rationaler Systematiker in seinem Gebiet (Maron 2001: 48–83). Von seinem eigenen Ausbildungsgang her wusste er, dass Rationalität und systematische Methodik wichtiges Handwerkszeug sind, vor allem, wenn man zur Elite der religiösen Profis und Spezialisten gehören, mit ihr kommunizieren und auf dieser Ebene politisch etwas bewegen will24. Auch lernpsychologisch ergibt dieses Vorgehen Sinn: Das imaginative Erlebnis ist die Grundlage zum Begreifen, aber zum Lernen gehört auch die Metakognition als zweiter Schritt hinzu (Steinhäuser 2011: 51). Das rationalistische Lernziel der Exerzitien ist erreicht, wenn der Exerzitant „ein ‚Plan-Macher‘, ein Handelnder in ständigem ‚self-monitoring‘, ein Stratege, der bewußt von seinen Zielen vorsätzlich die geeigneteren Wege abwägt“, geworden ist (de Rivera 1978: 86). Ignatius’ Bemühen, während der Exerzitien „ein hochgradiges Bewußtseinsniveau zu erhalten“ (de Rivera 1978: 86), hängt auch mit seiner eigenen Biographie zusammen: Er musste für sich feststellen, dass mystischen Erfahrungen bzw. den daraus entstehenden Motivationen und Lebensplänen nicht ohne weiteres zu trauen ist – ihn selbst hatte das bis in Suizidgedanken hinein getrieben (BP 24). Dementsprechend werden die in den Imaginationen hervorgerufenen Emotionen und Affekte (v. a. „Trost“ und „Trostlosigkeit“ (EB 316 f.)) nicht als für sich selbst sprechende Argumente, sondern als Zeichen angesehen. Diese Zeichen müssen erst mittels der „Unterscheidung der Geister“ (EB 313–351) ausgelegt und interpretiert werden, denn „[n]ur in der schärfsten Überprüfung und Abwägung der Reihe solcher Zeichen kann, nach LOYOLA, der Exerzitant das von dem übernatürlichen Kommunikationspartner wirklich Mitgeteilte von den eigenen Gedanken unterscheiden“ (de Rivera 1978: 51). —————

24 Ignatius geht erst als Erwachsener nach seiner Bekehrung und seinem Aufenthalt in Jerusalem auf die Lateinschule in Barcelona, um zunächst in Alcalá und Salamanca, dann in Paris studieren zu können (Maron 2001: 99). Im „Bericht des Pilgers“ begründet er diese Entscheidung damit, dass er studieren müsse, „um den Seelen helfen zu können“ (BP 50).

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Bei der Auslegung der Zeichen bzw. der Überprüfung der Wahlentscheidung des Exerzitanten kommt die hierarchische Kirche wieder ins Spiel, denn für Ignatius kann der Dienst für Gott nicht dem Dienst an der Kirche widersprechen – „die von ‚innen‘ her eingeübte Christusgestalt [darf] in ihrem lebenspraktischen Ausdruck dem kirchlichen Lehramt nicht widersprechen“ (Radeck 1998: 154; EB 170). In den Regeln zur „streitenden Kirche“, die sich im Anhang der Ejercicios finden, wird das Verhalten des Exerzitanten (und aller Jesuiten) auf katholische Kirchlichkeit hin ausgerichtet und damit auch kirchenrechtlich abgesichert (EB 352–70)25. Auch wenn man in der Gottunmittelbarkeit in den Übungen Ähnlichkeiten zur Reformation oder zu den mystischen Alumbrados sehen kann, so wird spätestens hier deutlich, dass Ignatius sich der katholischen Kirche, ihren Sakramenten und Regeln verpflichtet sah und es ihm sehr wichtig war, als papst- und kirchentreuer Katholik verstanden zu werden und auch die Exerzitanten in diesem Sinne zu ‚erziehen‘. An dieser Stelle wird der ideologische Anspruch der Exerzitien am deutlichsten: Wo sonst eher auf die durch göttliches Handeln selbst qualifizierte individuelle und in gewisser Hinsicht nicht gänzlich steuerbare spirituelle Erfahrung abgestellt wird, kommen hier auf einmal externe Regeln zur Beurteilung dieser Erfahrung hinzu, welche die Kirche als ‚dritten Partner‘ und Kontrollinstrument in den Dialog zwischen Gottheit und Exerzitant dazwischenschaltet. Man kann sogar sagen, dass die Kirche im Exerzitienprozess durch den Exerzitiengeber direkt vertreten ist (de Rivera 1978: 91 ff.), dessen Funktion es ist, die Realitätstauglichkeit (d. h. Integrationsfähigkeit) der aus der Imagination erwachsenden Motivationen des Exerzitanten zu überprüfen bzw. im Gespräch herstellen (Steinhäuser 2011: 48). Die Begleitung durch den Exerzitiengeber ist dafür da, dass der Exerzitant in die jesuitischen Regeln zur Lebensführung bzw. Entscheidungsfindung eingeführt wird, diese in Gegenwart des ‚Lehrers‘ wiederholend einübt, um sie nach den Exerzitien selbständig anwenden zu können. Das Gespräch mit dem Exerzitiengeber schließt den Imaginationsprozess ab, indem der Exerzitant seine imaginativen Erfahrungen nun einem menschlichen Dialogpartner verbal kommunizieren muss. Auch diese Übersetzung der imaginativen Erfahrung in verbal-narrative Äußerungen ist ein Abstraktionsprozess, der gleichzeitig dazu beiträgt, die Imaginationsbilder und Motivationsstrukturen auf sprachlicher Ebene bewusst zu machen, zu überprüfen, ggf. zu verändern oder zu fixieren. —————

25 Dieser Anhang entstand wahrscheinlich erst zwischen 1539 und 1541, als klar geworden war, dass der Plan der ersten Jesuiten, im Heiligen Land zu dienen, nicht aufgehen werden würde und sich die Jesuiten deshalb direkt dem Papst unterstellten (O’Reilly 1990: 452).

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Ignatius verbindet in seinen Imaginationsübungen also Bilder und Erfahrungen von Gottunmittelbarkeit mit einem Rahmen bzw. einem Monitoringinstrument, welches die Güte der Erfahrung an ihrer inhaltlichen Übereinstimmung mit rationaler Vernunft und kirchlichen Lehren misst. Hier verbinden sich wieder seine didaktischen und politischen Absichten: Förderung der individuellen Frömmigkeit im Sinne der Devotio moderna, Anheben des Bildungsstandards bzw. der Informiertheit und Reflektiertheit der geistlichen Elite im Sinne der katholischen Reform und Unterstützung der hierarchischen römischen Kirche im Sinne der Konfessionalisierung. Genau diese Verbindung macht das spezifisch Katholische des ignatianischen Imaginationsstils aus. 6. Zusammenfassung und Diskussion: Imaginationsdidaktik und Imaginationspolitik bei Ignatius Die Analyse der Imaginationsprozesse in den Exerzitien hat gezeigt, dass Ignatius schrittweise verschiedene Imaginationsmodi und -techniken aktiviert und verbindet. Sprachliche Ebene, sinnliche Ebene, Handlungsebene, Emotion, Motivation, Intellekt und Sozialität werden im Imaginationsprogramm der Exerzitien zusammengenommen – der ganze Mensch ist im Blick von Ignatius und Ziel seines spirituellen und politischen Reformprogramms. In seinen Anweisungen folgt immer nacheinander die Aktivierung der drei augustinischen Seelenkräfte: Gedächtnis (bzw. Imagination) Verstand (Ratio) und Wille (Motivation) (z. B. EB 50). Nach intensiver imaginativer meditatio folgt eine verstandesmäßige Reflexion und die Ausformulierung der Motivation im imaginativen coloquio, im Gebet und im Gespräch mit dem Exerzitiengeber. Diese analytische Dreiteilung ist bei Ignatius eine organische Einheit der Fähigkeiten der menschlichen Seele. Ignatius benutzt das Wort sentir (z. B. EB 2), um diese ganzheitliche Imagination zu beschreiben: Sentir ist wahrnehmendes, begreifendes und überzeugendes Verspüren und auch Wissen, es transzendiert die sinnliche Imagination, aber auch die analytische-diskursive Kognition (Endean 1990a: 411). Der Ausgangspunkt dieses Beitrags, die ignatianischen Exerzitien als Initiationsmethode zu betrachten, betont, dass die geistlichen Übungen beim Exerzitanten transformatives Potenzial entfalten. Es wurde gezeigt, dass in diesem Umwandlungsprozess der ignatianische Imaginationsstil, die speziellen Imaginationsbilder und Imaginationstechniken der Exerzitien, sowohl inhaltlich als auch formal eine entscheidende Rolle spielen – nicht zuletzt dabei, eine neue katholische Identität zu erschaffen. Initiation und religiöses

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Lernen umfassen jedoch nicht nur die Ebene des Individuums, sondern sind immer im Kontext zwischenmenschlicher, institutioneller und kultureller Prozesse zu sehen. Im abschließenden Schritt soll deswegen das transformative und identitätsbildende Potenzial des ignatianischen Imaginationsstils auf Mikro-, Meso- und Makroebene zusammenfassend beleuchtet werden. Auf der Mikroebene betrachtet ist die Imagination der Exerzitien eine didaktische Methode zur Aktivierung, Steuerung und Kontrolle eines religiösen Lernprozesses. Was in der (Religions-)pädagogik erst seit ein paar Jahren wieder in den Blick gerät – die Verbindung von kognitiven und imaginativen Lernmethoden (Steinhäuser 2011) – ist eigentlich eine mittelalterlich-mönchische Tradition, die von Ignatius aufgegriffen und weitergeführt wird – nämlich die imaginative Technik der Mediation: Meditation was an essential part of learning and of teaching; the purpose of meditation is both to memorize and to ‚loosen up and expand‘ what one has memorized. The two meanings of the word ‚invent‘ are nowhere more closely related than in this one mental act. All education teaches students how to think, the ‚ways‘ of thinking and the ‚mental habits‘ that were called, well into the seventeenth century, the formae mentis, designs and devices of the mind […] (Carruthers 1998: 136).

Die Exerzitien funktionieren auf geistiger Ebene wie körperliches Training auf physischer Ebene: Abläufe und Schemata werden erlernt und so lange geübt und verbessert, bis sie unbewusst passieren. Ignatius selbst stellt ganz zu Beginn der Ejercicios diesen Vergleich an: Denn so wie das Umhergehen, Wandern oder Laufen leibliche Übungen sind, genauso nennt man ‚geistliche Übungen‘ jede Weise, die Seele darauf vorzubereiten und einzustellen, um alle ungeordneten Anhänglichkeiten von sich zu entfernen und nach ihrer Entfernung den göttlichen Willen in der Einstellung des eigenen Lebens zum Heil der Seele zu suchen und zu finden (EB 2).

Auch Imaginationsbilder können auf diese Weise eingeübt werden, bis sie nicht mehr bewusst ablaufen, sondern zum impliziten, kulturell-religiösen Symbolsystem des Exerzitanten geworden sind. Paul Harris nennt dies „imaginative infusion“ (2000: 174): Wenn bestimmte Imaginationsbilder aktiviert wurden, beeinflussen sie fortan Denken, Fühlen und Handeln der Person. Ein Exerzitant, der sich über mehrere Wochen im dichotomen Weltbild der Exerzitien ‚bewegt‘ hat, wird höchstwahrscheinlich auch danach seine Gefühle, Motivationen und Handlungen daraufhin überprüfen, ob sie von den guten oder den bösen Geistern kommen, ob sie ihn ins Banner Satans führen oder ihm erlauben, ein heiliger Ritter in der Gefolgschaft Jesu zu sein. Dieser Vorgang wird didaktisch kontrolliert herbeigeführt und kann somit auch (bei aller Offenheit und Rücksichtnahme auf die freie

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Entscheidung des Individuums) politisch instrumentalisiert werden (topdown), kann aber auch wiederum politische Handlungsmotivation beim Individuum hervorrufen (bottom-up). Die narrativen und sinnlichen Imaginationstechniken, die Ignatius einüben lässt, sind teilweise Mittel, um dichte Imaginationsbilder zu erzeugen, die dann zum unbewussten Symbolsystem sedimentieren können. Die performative Imagination hingegen, das imaginative Zwiegespräch mit Gott bzw. das Gebet sowie das Sich-in-eine-Situation-Imaginieren, werden als Techniken zum Treffen einer guten Wahl auch über die Zeit der Exerzitien hinaus empfohlen: Wann immer der ehemalige Exerzitant eine Entscheidung zu treffen hat, soll er sich selbst vor Gott, vor anderen Menschen, auf dem eigenen Totenbett oder am Tag des Jüngsten Gerichts imaginieren und seine Entscheidung vor dieser Als-ob-Situation überdenken (EB 338–41). Die in den Exerzitien erlernten Imaginationstechniken werden zu Handlungsmustern in Entscheidungssituationen, zu einer (sub-)kulturellen Technik, welche die neue katholische Elite, die Angehörigen des Jesuitenordens, kennzeichnet. Die Initiation in die Imaginationsbilder und -techniken der Exerzitien, in das Weltbild und die Wert- und Handlungsstrukturen, ist natürlich nicht nur zum Selbstzweck der spirituellen Entwicklung des Individuums gedacht, sondern bezieht sich auch auf die Mesoebene der Institution des JesuitenOrdens. Der Imaginationsstil der Exerzitien zielt auf Herausbildung der so genannten ‚jesuitischen Mentalität‘, des jesuitischen Habitus. De Rivera bezeichnet in seiner kommunikationswissenschaftlichen Analyse die Exerzitien deswegen auch als Form „persuasiver Kommunikation“: „Diese […] wird insbesondere bei Menschen angewendet, die in eine bestimmte Gruppe, die z. B. einer gemeinsamen Ideologie anhängt, die aber auch durch gemeinsame praktische Zielvorstellungen zusammengehalten werden kann, integriert werden sollen“ (1978: XII). In den Exerzitien werden dem Exerzitanten jesuitische Weltbilder und Verhaltensmodelle präsentiert und dieser eignet sie sich performativ-imaginativ an, macht auf diese Art und Weise daraus ‚sein eigenes‘ Weltbild und Verhaltensmodell. Gebauer und Wulf nennen diesen Vorgang „social mimesis“, „the ability to perceive, understand, express, and represent social behaviors, actions, and situations“ (1995: 13). Wichtig ist, dass sich dieser mimetische Prozess nicht nur auf ‚reale‘, sondern auch auf imaginäre Situationen, literarische oder künstlerische Repräsentationen beziehen kann (ebd. 16). Imaginäre Situationen sind ebenso wirkungsvoll wie soziales Miteinander, wenn es darum geht, soziales Handeln zu internalisieren – denn in jedem Falle müssen die Verhaltensvorlagen umgewandelt werden in innere Bilder, Klangfolgen oder Bewegungen. „They become part of the inner world of image, sound, and

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movement, take hold in the imagination, and can then be activated and modified in new contexts“ (ebd. 17). Das Gespräch mit dem Exerzitiengeber, der als Repräsentant der Jesuiten und somit als ‚reales‘ soziales Vorbild dient, ergänzt den imaginativen mimetischen Vorgang der Imitatio Christi in den Übungen. Die intensive dramatische Erfahrung der Exerzitien ist nicht nur im Sinne eines Bildungs- oder Lernprozesses zu verstehen, sondern ist auch dazu geeignet, über die Erinnerung an die Exerzitienerfahrungen eine innere Einheit des Jesuitenordens herzustellen. Durch das vorgegebene Programm der Exerzitien können diese für die Jesuiten zu einer ‚gemeinsamen‘, verbindenden Erinnerung werden, obwohl die Übungen alleine vollzogen werden und zuallererst immer auf das Individuum konzentriert sind. Diese Integrationsfähigkeit der imaginativen Erfahrungen und Bilder der Exerzitien ist wichtig, da der Jesuitenorden kein kontemplativer Orden ist und keine äußerlichen sinnlichen Einheitszeichen wie Habit oder Chorgebet verfolgt (de Rivera 1978: 96 ff.; Knauer 1990). Die Auswahl und Neukombination bzw. Erfindung von Imaginationsbildern und Imaginationstechniken zu einem eigenen Imaginationsstil kann auf der Makroebene als imaginationspolitische Entscheidung charakterisiert werden, die vielfältige Rückschlüsse auf den kulturell-religiösen Wandlungsprozess und Streit um die ‚richtigen‘ Imaginationsbilder, -medien und -techniken zulässt. Unter dieser Perspektive können die Vorgänge rund um Reformation, katholische Reform, Gegenreformation und Konfessionalisierung, in die Ignatius verwickelt war, auch als imaginationspolitischer Prozess angesehen werden, in dem ausgehandelt wird, ‚was‘ ‚wie‘ imaginiert werden soll, um so auf Dauer stabile neue kulturelle bzw. religiöse Symbole und Techniken zu etablieren. Imaginationspolitisch interessant ist vor allem, dass Ignatius im Sinne der Devotio moderna auf individuelle Christusfrömmigkeit bzw. Christusmystik setzt (Maron 2001: 238 f.), also das subjektive, imaginativ gesteuerte, spirituelle Erlebnis an den Ausgangspunkt stellt. Dies brachte ihm den Verdacht des Alumbradentums bzw. der reformatorischen Gegnerschaft zur Kirche ein, und er musste sich immer wieder mit der Inquisition auseinandersetzen. Die Regeln zum „Fühlen mit der streitenden Kirche“ im Anhang der Ejercicios, welche das katholische Lehramt als Rahmen- und Monitoring-Instanz in den Exerzitien etablieren, können als (imaginations)politisch motivierter Zusatz interpretiert werden. Hier macht Ignatius deutlich, dass die imaginativen Erfahrungen in den Exerzitien nicht für sich stehen können, sondern auch auf dem Hintergrund ihrer Übereinstimmung mit den Deutungs- und Handlungsmustern der Kirche überprüft werden müssen. Er verbindet konzeptionell das Kriterium ‚Kirchlichkeit‘ mit dem (imaginativ eingeübten) Kriterium der Imitatio

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Christi und betont darüber hinaus die Wichtigkeit der kirchlichen Sakramente und Lehrentscheidungen, so dass weder die Imaginationsbilder noch die Imaginationstechniken der Exerzitien Anspruch auf ausschließliche Geltung erheben können. Zudem bleibt Ignatius bei etablierten katholischen Imaginationsbildern und -techniken, indem er z. B. nicht die individuelle Bibellektüre, sondern die Lektüre und Meditation von Frömmigkeitsliteratur vorzieht und in den Exerzitien nachahmt. Die Betonung der Sinnlichkeit in den Imaginationsprozessen der Exerzitien findet ihre materielle Übersetzung im katholischen Barock, der wiederum als ästhetisch-imaginative Konfessionalisierungsstrategie zu werten ist. Ignatius’ imaginationspolitische Entscheidungen und Strategien bedienen die Bemühungen der katholischen Reform nach einer Erneuerung des Glaubens und der religiösen Lebensformen sowie den Aufbau von Zugehörigkeitsgrenzen und Identifikationsmarkern der Konfessionalisierung. Vor diesem Hintergrund ergibt der Imaginationsstil der Exerzitien einen ganz eigenen, strategischen Sinn. 7. Fazit Auf jeder Betrachtungsebene konnte gezeigt werden, dass ein enger Zusammenhang zwischen Imagination und Transformation bzw. Identitätsbildung besteht: Das Individuum wird transformiert in einen Gläubigen, der Orthodoxie und Orthopraxis, Imagination, Verstand und Motivation aufeinander abstimmt; die individuellen Weltbilder und Verhaltensstrukturen werden transformiert in die gemeinschaftsprägende Mentalität der Jesuiten und auf diese Weise kommunikativ und sozial weitergetragen; das religiöskulturelle Symbolsystem wird so einerseits vom Individuum und der Gruppe ausgehend verwandelt, aber auch reproduziert und abgesichert. Der Imaginationsdidaktiker und Imaginationspolitiker Ignatius erweist sich als großer Kenner auf dem Feld des strategischen Einsatzes von Innovationskraft und ganzheitlicher Dynamik der Imagination. Der Erfolg seiner imaginationspolitischen Strategie ist abzulesen an der großen Rolle, welche die Jesuiten zwei Jahrhunderte hindurch im kulturell-religiösen Wandlungsprozess des konfessionellen Zeitalters spielten. Systematisch gewendet kann hier die These formuliert werden, dass zu jeglicher Form religiösen und kulturellen Wandels auch eine Wandlung des Imaginationsstils, also der Imaginationsbilder und -techniken, gehört, diese sogar den kulturellen Wandel erst initiiert: „Successful imagining is identifiable only as social transformation“ (de Nicolas 1986: 71). Die „transformative Kraft der Imagination“ (Voss 1996: Nr. 6) und damit ihr politisches Potenzial, sowohl im Hinblick auf die Imaginationsbilder als auch auf die

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Imaginationstechniken, sollte darum bei der Analyse jeglicher individueller, sozialer und kultureller religiöser Wandlungsprozesse mit in Betracht gezogen werden. Literatur Primärquellen Geistliche Übungen von Ignatius von Loyola. Knauer, Peter (Hg./Übs.): Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen: Nach dem spanischen Autograph übersetzt von Peter Knauer SJ. Würzburg: Echter, 2011. Ejercicios Espirituales de San Ignacio. Online: http://es.wikisource.org/wiki/Ejercicios_Espiritual es_semana_I [29.02.2012]. Bericht des Pilgers von Ignatius von Loyola. Online: http://members.a1.net/omvaustria/ignatius /pilger.html [28.02.2012].

Sekundärquellen Albig, Jörg-Uwe 2009. „Jesuitenorden: Die Krieger des Herrn“. In: Geo Epoche. Das Magazin für Geschichte: Martin Luther und die Reformation. Europa im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517–1618 39: 90–102. Anderson, Benedict 2006. Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London [u. a.]: Verso. Assmann, Aleida 1985. „Die Domestikation des Lesens: Drei historische Beispiele“. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 15.57/58: 95–110. Assmann, Aleida und Jan Assmann 1998. „Mythos“. In: HrwG Bd. IV. Stuttgart [u. a.]: Kohlhammer, 179–200. Barnes, Robin 1999. „Images of Hope and Despair: Western Apocalypticism ca. 1500–1800“. In: Collins, John J., Bernard McGinn und Stephen J. Stein (Hg.), The Encyclopedia of Apocalypticism Vol. 3. New York: Continuum, 143–84. Barthes, Roland 1986. Sade, Fourier, Loyola. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Berns, Jörg Jochen 2000. Film vor dem Film: Bewegende und bewegliche Bilder als Mittel der Imaginationssteuerung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Marburg: Jonas. Carruthers, Mary 1998. The Craft of Thought: Meditation, rhetoric, and the making of images, 400–1200. Cambridge: Cambridge University Press (Cambridge Studies in Medieval Literature 34). Conrod, Frédéric 2008. Loyola’s Greater Narrative: The Architecture of the Spiritual Exercises in Golden Age and Elightenment Literature. New York [u. a.]: Peter Lang. de Nicolas, Antonio T. 1986. Powers of Imagining – Ignatius de Loyola: A Philosophical Hermeneutic of Imagining Through The Collected Works of Ignatius de Loyola With a Translation of these works. New York: State University of New York Press. de Rivera, José R. 1978. Kommunikationsstrukturen in den geistlichen Exerzitien des Ignatius von Loyola. Hamburg: Helmut Buske Verlag (Forschungsberichte des Instituts für Kommunikationsforschung und Phonetik der Universität Bonn Bd. 71/Reihe I Kommunikationsforschung). Eickhoff, Georg 1987. „Christliche Abenteurer: Narrheit und Ritterlichkeit bei Ignatius von Loyola und Don Quijote von der Mancha“. In: Geist und Leben 60: 284–98. Endean, Philip 1990a. „The Ignatian Prayer of the Senses“. In: The Heythrop Journal XXXI: 391– 418.

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Religiöse Ästhetik, Imagination und die Politisierung des Fortschritts in Indien 1870–1930 Katja Rieck In diesem Beitrag werden religiöse Ästhetik und Imagination nicht als bereits feststehende analytische Begriffe verstanden, sondern als emische Konzepte behandelt, die in ihrer spezifischen Ausprägung aus der indischen Kolonialismuskritik erst hervorgegangen sind und zunehmend zentral für die indische „Kunst“ des Widerstands gegen die koloniale Unterwerfung wurden. Es wird dargestellt, welche Praktiken und Bedeutungen indische Kolonialismuskritiker in ihrem politischen Kampf verwendeten und auf welche Weisen sie diese mit Imaginationen und religiöser Ästhetik verknüpften. Daran wird nicht nur deutlich, wie eng Imagination und religiöse Ästhetik miteinander verflochten sind, sondern es wird darüber hinaus auch die besondere Relevanz beider für die Konstitution des Politischen thematisiert. Im Folgenden wird ferner gezeigt, dass Studien wie Benedict Andersons Imagined Communities oder Dipesh Chakrabartys Nation and Imagination etwas vorschnell die politische Wirkmächtigkeit der Imagination auf die Konstitution des Nationalstaates reduziert haben. In dem hier vorgestellten Material geht Imagination vielmehr aus einem komplexen Zusammenspiel von antikapitalistischen, antikolonialen und von der Romantik inspirierten Diskursen als eine Möglichkeit der Kritik hervor. Die Imagination erlaubt – trotz der vorgeblichen Gebote der Vernunft und der Wissenschaft – die herrschende koloniale und kapitalistische Ordnung als veränderbar und daher der Kritik und Transformation offenstehend darzustellen.

In Benedict Andersons anregender Untersuchung Imagined Communities (1991, Erstauflage 1983) wurde zum ersten Mal darauf hingewiesen, welche wichtige Rolle die Imagination bei der Konstitution moderner nationalstaatlicher Ordnungen spielte. Bisherige Versuche, das Aufkommen nationalistischer Konflikte – besonders in den kommunistischen Staaten – zu erklären, hielt er für unbefriedigend (Anderson 1991: 2–4). Er stellte stattdessen die grundsätzliche Frage, unter welchen Bedingungen Menschen, die nie persönlich miteinander interagiert hatten, die gemeinsame Idee entwickeln konnten, sie gehörten zu ein und derselben kollektiven Einheit. Sein Schwerpunkt lag dabei auf den Technologien und Medien – vornehmlich dem Massendruck und kommerziellen Printmedien –, die das Aufkommen einer kollektiven Vorstellung dieses eher abstrakten und neuartigen Konstrukts des Nationalstaates möglich machten. Massenprintmedien, wie Zeitungen, spielten eine zentrale Rolle, weil sie neue kollektive Erfahrungsräume ermöglichten, die nun nicht mehr in unmittelbaren persönlichen

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Interaktionen verankert waren. Ebenfalls wichtig für die Entstehung der imagined communities, aus denen moderne Nationalstaaten hervorgegangen sind, waren bürokratischen Technologien, wie zum Beispiel die Kartographie und moderne Zensusverfahren, welche dem neuen nationalen Erfahrungsraum visuell darstellbare Umrisse und Konturen verliehen. Damit wurde der durch Printmedien geschaffene Erfahrungsraum in zahlreichen Karten und Datentabellen auch materiell erfassbar. Anderson rückte mit dieser Studie die Rolle der Imagination bei der gesellschaftlichen Konstruktion des modernen Nationalstaates in den Mittelpunkt. Allerdings behandelte Anderson, wie Dipesh Chakrabarty knapp zwei Jahrzehnte später gezeigt hat, „Imagination“ als einen selbstevidenten Begriff, der in einer ungenügend definierten Weise die Idee der Nation manifestierte und der modernen Politik den Rahmen setzte (Chakrabarty 2000: 149). Nach Chakrabarty liegt das Problem darin, dass die Konkretisierung einer Vorstellung im Modus der Realität – der Schwerpunkt von Andersons Arbeit über die nationalistische Imagination – „nie alle Ansprüche an eine Vision, die die modernen Nationalismen erschufen, befriedigen konnte“ (ebd.). In seinem Aufsatz versucht Chakrabarty deshalb „diesen Begriff für weitere Untersuchungen zu öffnen und die heterogenen Betrachtungsweisen sichtbar zu machen, die wir der Jurisdiktion dieses einen europäischen Wortes ‚Imagination‘ unterwerfen“ (ebd.). Er untersucht das imaginative Oeuvre von Rabindranath Tagore, einem der bedeutendsten Intellektuellen und Nationalisten Indiens, und macht auf zwei sehr verschiedene Betrachtungsweisen aufmerksam, die beide gleichermaßen als „Imagination“ bezeichnet werden und die dazu dienen, Indien als kollektive Realität zu erschaffen. Während der erste Typus einer prosaischen, realistischen Betrachtung entspreche, die die Welt als eine objektive, historisch bedingte Tatsache begreift (ähnlich wie die Imagination in Andersons Studie), sei der zweite Typus durch das Idiom der europäischen Romantik und der HinduMetaphysik (ebd. 159) geprägt. Beim zweiten Typus handle es sich um einen poetischen Modus, der „durch den Schleier“ des Alltäglichen dringt, die Nation auf die Ebene des Transzendenten (ebd. 168–9) erhebt und so ermöglicht, dass sie ein Objekt der Verehrung und Hingabe werden könne. Obwohl Chakrabarty in seiner Darstellung etwas zu schnell Imagination mit Visualisierung gleichsetzt, weist er doch darauf hin, dass wir uns eingehender mit der Geschichte und Ethnographie der verschiedenen Praktiken und Bedeutungen befassen sollten, die unter diesen Begriff subsumiert werden. Der vorliegende Beitrag folgt Chakrabartys Aufforderung, „Imagination“ für weitere Untersuchungen zu öffnen und nicht nur die verschiedenen Praktiken darzustellen, sondern auch die Bedeutungen aufzuzeigen, die der Imagination zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt und in einem

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spezifischen politischen Kontext zugeordnet werden. Doch anders als Chakrabarty und Anderson setze ich das Ergebnis dessen, was imaginiert werden soll (den modernen Nationalstaat), nicht als gegeben voraus. Ich untersuche vielmehr, wie in Indien die kritische Haltung zum und der Widerstand gegen den britischen Freihandelsimperialismus allmählich den positiven Konzeptualisierungen einer alternativen Ordnung Platz machten. Sie wurden schließlich bedeutsam, nicht weil sie den modernen indischen Nationalstaat entstehen ließen (das taten sie nicht zwangsläufig), sondern weil sie die vorherrschende koloniale Sicht des Fortschritts in Frage stellten und so destabilisierten. Während also der Nationalstaat sicherlich imaginativ erzeugt und erlebbar gemacht wurde, will ich zeigen, dass die politische Wirkmächtigkeit der Imagination bei einer voreiligen Verengung des Blicks auf den Nationalstaat als ihrem Endergebnis nicht ausreichend erfasst wird. In meinen eigenen Untersuchungen zur ökonomischen Kritik am und Widerstand gegen den Kolonialismus in Indien im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert1, fand ich es besonders auffällig, dass sich in den zeitgenössischen indischen Diskursen neben der rationalen, wissenschaftlichen Analyse der britischen Kolonialpolitik, die um die logischen oder empirischen Inkonsistenzen der orthodoxen liberalen ökonomischen Theorie und ihre Anwendung auf den indischen Kontext kreisten, sich ein weiterer Schwerpunkt dieser Diskurse auch auf die Ästhetik richtete und auf die Bedeutung der Imagination beim Erreichen kollektiver und individueller Souveränität. Diese Diskurse stellten den vermuteten Anforderungen der (utilitaristischen) Vernunft und der (westlichen) ökonomische Theorie die einzigartigen kulturellen und religiösen Formen entgegen, die das materielle und soziale Leben in Indien geprägt haben sollen – Formen, die die Aktivisten als ihrem Wesen nach hinduistisch bestimmten. Diese Imagination nahm in der kolonialen Ordnung eine entscheidende Gegenposition zur Vorherrschaft utilitaristischer Vernunft ein. Während das Vorhaben kollektive und individuelle Souveränität zu erlangen zum Entstehen einer imaginierten —————

1 Die Forschung, auf die sich dieser Beitrag bezieht, ist Teil eines von Prof. Dr. Karl-Heinz Kohl geleiteten und betreuten Forschungsprojektes, das drei Jahre von der Deutschen Forschungsgemeinschaft innerhalb des Exzellenzclusters 243 der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ gefördert wurde. Ich danke sehr herzlich meinen Kollegen Patrick Desplat, Dominik Müller, Katja Triplett und den Herausgeberinnen dieses Bandes Professor Dr. Annette Wilke und Lucia Traut für ihre konstruktive Kritik an früheren Versionen dieses Beitrages. Angelika Schweikhart sei gedankt für die Übersetzung des ursprünglich auf Englisch verfassten Textes und den hier wiedergegebenen Zitaten aus dem englischsprachigen Quellenmaterial. Ein ganz besonderer Dank geht an Silja Thomas für die sehr aufwendige stilistische Überarbeitung des deutschen Textes, ohne die viel vom Inhalt der englischen Originalfassung verloren gegangen wäre.

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Gemeinschaft führte, trat das Erreichen eines Nationalstaates nicht von Anfang an als explizites Ziel auf2. Durch die Verschiebung des Fokus weg von einer wissenschaftlichrationalistischen Kritik der Kolonialpolitik hin auf kulturelle und religiöse Formen der Kritik wurde nun Imagination als alternative Erkenntnisform verstanden. So wurde die Behauptung einer spezifisch „indischen Seinsweise“ möglich, die eine radikale Kritik an der kolonialen Ordnung erlaubte. Dadurch eröffneten sich neue Möglichkeiten, Vorstellungen von einem ganz anderen Indien mit seinen eigenen Formen des materiellen Lebens, mit eigenen Prinzipien der gesellschaftlichen Organisation, der eigenen Produktionsweise und auch mit einer eigenen besonderen Form der Subjektivität zu entwickeln. Hier werden religiöse Ästhetik und Imagination nicht als analytische Ausgangspunkte der Kolonialkritik verwendet, sondern entwickeln sich im Laufe des historischen Prozesses als „emische“ Begriffe, die zentral für die „Kunst“ des indischen Widerstands gegen die koloniale Unterwerfung wurden. Die spezifische Form der Praktiken und Bedeutungen, die die hier besprochenen indischen Denker mit Imagination verbinden, und die Art und Weise, wie sie diese Praktiken und Bedeutungen eng mit religiöser Ästhetik verknüpfen, können die enge Verbindung zwischen Imagination und Ästhetik, zugleich aber auch die besondere Relevanz beider für die Konstitution des Politischen veranschaulichen. Wer mit der Geschichte der antikolonialen Bewegung und des Nationalismus in Indien vertraut ist, wird wissen, dass die Ästhetik und insbesondere die religiöse Ästhetik darin eine herausragende Rolle spielen. Es sei nur an Mohandas K. Gandhis eindrucksvolle Formen des Protestes und Widerstands erinnert und daran, welche Bedeutung er einer indischen Lebensweise beimaß, die durch vielfältige Alltagspraktiken erzeugt wurde, welche zentral für seinen Aktivismus waren3. Doch Gandhis Vorhaben einer Transformation Indiens hatte wichtige Vorläufer und war darüber hinaus Teil von diskursiven Traditionen, die sich während des langen 19. Jahrhunderts entwickelt hatten, in dessen Verlauf sich europäische und indische Intellektuelle mit den Folgen der fortschreitenden Transformation Europas wie Indiens zu städtischen Industriegesellschaften befassten. Die ersten drei Abschnitte dieses Beitrages werden deshalb danach fragen, wie die Ästhetik zum Thema für die indische Kritik an der Kolonialpolitik wurde und wie dadurch ein radikaler (Neu-)Entwurf sozio-ökonomischer Transformation ————— 2

Zu einer ähnlichen These s. Kavaraj 1992. Siehe z. B Joseph Alters (2000) Studie zu dem Zusammenspiel von Gandhis körperlichen Praktiken, (besonders jenen, die Sexualität und Ernährung betreffen) und der Politik des Nationalismus. 3

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auf dem indischen Subkontinent möglich wurde4. Der letzte Abschnitt dieses Beitrags wird dann den breiteren intellektuellen Kontext dieser radikalen (Neu-)Erfindung Indiens beleuchten, um zu verstehen, wie sie politisch so wirkmächtig werden konnte. Diese Wirkmächtigkeit erlangte die Idee eines radikal anderen Indiens nicht nur bei Angehörigen der indischen intellektuellen Elite, die durch das Ausbleiben positiver Entwicklungen („Fortschritt“) unter der britischen Herrschaft enttäuscht und frustriert waren, sondern schließlich auch bei einer wachsenden Anzahl von Briten im Kontext ihrer eigenen Kulturkritik. In dieser Zeit häufte sich unter den Protagonisten die Beschäftigung mit Ästhetik – gerade auch religiöser Ästhetik – und mit Imagination. Ästhetik und Imagination kamen auf im Zuge des Widerstands gegen den vorherrschenden utilitaristischen Empirismus und als Korrektive zur Übergewichtung von Wissenschaft und Vernunft im Denken der Nach-Aufklärungszeit allgemein und gegen die (kolonialen) sozio-ökonomischen Reformen im Besonderen. Daher lässt sich behaupten, dass die Kategorien Ästhetik und Imagination von Anfang an in die politischen Auseinandersetzungen über die Richtung des Wandels, die Inhalte von Reformen und die Bedürfnisse menschlicher Subjekte, an die sich solche Reformen richteten, einflossen. Weil rational government in Indien und anderen Teilen des British Empire nicht nur mit ökonomischer Ausbeutung, sondern auch mit politischer Unterwerfung einherging, wurde die Aufwertung von Ästhetik und Imagination zu einem wichtigen Faktor der Bekämpfung kolonialer Hegemonie. Dieser Beitrag möchte daher nicht so sehr analysieren, wie die Ästhetik die imaginativen Praktiken der indischen Nationalbewegung prägte, sondern eher erkunden, wie sich Ästhetik und „Imagination“ als konzeptionelle Schwerpunkte aus der spezifischen politischen Konstellation heraus entwickelten und wie sie in anti-hegemoniale Interventionen verstrickt wurden, die den Fortschrittsbegriff politisierten.

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4 Man beachte, dass ich mich hier nur mit dem Aufkommen solcher nationalistischer Diskurse befassen werde, die sich bei der Umformulierung von Fortschrittsideen für Indien auf besondere Konzeptionen einer hinduistischen Ästhetik beziehen. In dem Maß wie die Nationalbewegung hinduzentrischer wurde, reagierten aber auch zahlreiche Muslime mit eigenen Ideen zur moralischen und materiellen Besserstellung der Muslime auf dem Subkontinent. Das Entstehen konkurrierender Fortschrittsvisionen, darunter auch solche, die sich explizit auf eine islamische politische Ästhetik beziehen, kann leider nicht im Rahmen dieses Beitrags behandelt werden.

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1. Die Armut Indiens und der „Geschmacksverrat“: Ästhetik und koloniale Unterwerfung In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zog eine Reihe von Ereignissen die Politik der britischen Kolonialverwaltung ernstlich in Zweifel: vor allem die Indische Rebellion von 1857, mehrere Hungerkatastrophen zwischen 1850 und 1902, die Rücknahme der Importzölle von 1879, die der heimischen Textilindustrie in Indien ein gewisses Maß an Protektion gegeben hatten5, und die seit 1896 auf indische Stoffe, die in Großbritannien verkauft wurden, erhobenen Einfuhrzölle6. Durch diese Ereignisse kam eine breite Debatte in Gang, die nach der Angemessenheit und Wirkung der britischen Politik in Indien fragte7. Das fortdauernde Fehlen von „moralischer und materieller Verbesserung“ (moral and material improvement) auf dem Subkontinent auch nach fast einem halben Jahrhundert kolonialer Herrschaft und ein allgemeines Misstrauen gegenüber den Absichten der britischen Regierung veranlasste indische Intellektuelle, die Ursachen der anhaltenden „Armut in Indien“ zu untersuchen8. Zu diesem Engagement im viktorianischen Geist der Selbsthilfe gehörte auch die Formulierung von Interventionsmöglichkeiten, mit denen die Inder selbst etwas gegen die zerstörerischen Wirkungen der britischen Kolonialpolitik unternehmen konnten. So mündeten diese Debatten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in eine Reihe von Vorschlägen, wie „wahrer“ Fortschritt nach Indien gebracht werden könnte.

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5 Siehe Goswami 2004: 227–228; Chaudhary 1958: 277–307; und Dutt 1956 (1906): Bd. 2, viii. f. und 517–519. Diese Entscheidung war kein politisches Novum, sondern setzte eher eine Politik fort, die mit dem Verweis auf die Prinzipien der politischen Ökonomie und die Gebote des freien Handels legitimiert wurde, die die Interessen der englischen Industrie, besonders der Baumwollverarbeitung, gegenüber den wirtschaftlichen Interessen Indiens privilegierten (vgl. Harnetty 1962, 1965). 6 Dies war letztlich auch für Inder mit gemäßigter (pro-britischer) Haltung eine Bestätigung dafür, dass die englische Politik wenig oder nichts zu tun habe mit „materiellem und moralischem Fortschritt“ in Indien und dass sie allein von englischen Geschäftsinteressen bestimmt werde. Während indische Güter mit Exportsteuern belegt wurden, konnten englische Waren aus Manchester oder Lancaster frei importiert werden und die Politik rechtfertigte das mit dem Dogma vom Nutzen des freien Handels (vgl. Chandra 1966: 129). 7 Besonders einflussreich waren die Schriften des indischen Ökonomen und Sozialreformers Mahadev Govind Ranade (1842: 190). S. z. B. Ranade 1892: 280–303. 8 Dadabhai Naoroji (1825–1917), ein führender indischer politischer Aktivist und Mitglied des britischen Parlaments war neben Ranade einer der prominentesten Intellektuellen, der vielfach über die Armut Indiens sprach und schrieb, vor allem darüber, wie die britische Herrschaft dem Land seinen Reichtum entzog (vgl. Chandra 1966: Kap.1 und 13, und Dasgupta 1993: Kap. 6). Zu einer Sammlung seiner Reden und Schriften, in denen Indiens Armut und die Fehler der Kolonialregierung durchgängiges Thema sind, siehe Grover 1990.

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Im Grunde genommen konzentrierten sich diese Initiativen darauf, sich dem freien Handel und der internationalen Arbeitsteilung zu widersetzen, durch die Großbritannien den Subkontinent in sein Reich integriert hatte. Dadurch wurde eine Beziehung zu Indien hergestellt, die es der britischen Industrie erlaubte, von den indischen Ressourcen zu profitieren. Indische Kritiker theoretisierten diese Beziehung, indem sie die Vorstellung eines „materiellen und moralischen Abflusses“ (material and moral drain) verwendeten, der ihnen von den Briten aufgezwungen worden sei, um Indien sein Lebensblut zu entziehen und ein verarmtes und „verbäuerlichtes“ (rusticated) Volk zurückzulassen, dessen Kraft, Intelligenz und Selbständigkeit erstickt würden, während gleichzeitig die britische Industrie gerade durch diesen abgezogenen Reichtum an Kraft gewinne 9. Die Lösung für Indiens Missstände könne daher nur die Korrektur dieser ungesunden Beziehung sein, indem man diesen drain beende10. Man müsse Indien gegen diese Kräfte rüsten, die seinen Wohlstand abgezogen hatten, indem man die Entwicklungen umkehre, die aus dem Regime des „freien Handels“ herrührten, mit dessen Hilfe Indien in das britische Empire eingegliedert und der Ausbeutung zugänglich gemacht worden war. Daher liege die Lösung des Problems des drain und der damit einhergehenden Armut in der Wiederherstellung der indischen Souveränität über die Wirtschaftsordnung auf dem Subkontinent. Obgleich die Inder selbst politisch nicht in der Lage seien, die Einfuhr von britischen Gütern auf indisches Gebiet zu verhindern, könnten sie doch —————

9 Zu Indiens „Verbäuerlichung“ (rustication) während des britischen Kolonialismus, siehe Ranade 1893: bes. 341. 10 Chandra 1966: 638. Am Anfang bezog sich der nationale drain auf die home charges, Abgaben die von den Briten in Indien erhoben wurden, um die Kosten für die Verwaltung und Investitionen (wie das Eisenbahnnetz), die auf dem Subkontinent getätigt wurden, zu decken. Der Protest richtete sich vor allem dagegen, dass die Kolonialverwaltung Geld für die britische Herrschaft ausgab, ohne Rücksicht darauf, ob Indien überhaupt die Einkünfte hatte, um dafür zu bezahlen. Viele argwöhnten, dass die Leistungen und Investitionsausgaben mehr mit Großbritanniens Wunsch zu tun hatten, seine eigenen Geschäfte zu befördern, als mit den Bedürfnissen Indiens. Doch besonders die Vorstellung eines drain wurde in der Folgezeit von indischen Intellektuellen auch auf die allgemeine Verschlechterung der Lebensbedingungen der indischen Massen ausgeweitet (ebd. 655–657). Als diese Vorstellung durch die indische Presse weiter verbreitet wurde, wurde sie zum Bild für den allgemeinen Abfluss von Reichtum aus Indien nach Britannien, der als alleinige Ursache für die Verarmung Indiens und die damit einhergehende zerstörerische Wirkung auf die ökonomische Dynamik Indiens angesehen wurde (ebd. 642 f.). Die wissenschaftliche Erforschung dieses materiellen Abflusses wird allgemein dem Werk Dadabhai Naorojis (1988 (190)) zugeschrieben; auch Anm. 4 oben; vgl. Sarkar 1973: 97, Anm. 26). Der bengalische Wirtschaftshistoriker Romesh Chunder Dutt bietet eine detaillierte historische und statistische Darstellung und Ausarbeitung dieser „drain theory“ genannten Theorie in seiner zweibändigen Economic History of India (1956(1901)).

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bestimmen, ob diese Güter tatsächlich gekauft würden11. Ein Nationalist schrieb um 1870: Die Leute, die ihrer Nation gegenüber am wenigsten treu sind und dabei helfen, ihre nationalen Manufakturen zu zerstören, sind die Fürsten, Zamindars, Baboos und die Menschen in unseren Großstädten … Es ist mehr Kriechertum und Narretei als der Wunsch nach günstigem Preis oder nach Qualität, in denen wir die wahre Ursache für dieses Verhalten suchen sollten … Doch ihre Treulosigkeit kann nicht durch die Feinheit ihres Geschmacks entschuldigt werden, wenn ihre Verschwendung das ruiniert, was im besten Interesse des Landes liegt12.

Auch wenn die britische Politik diesen drain verursacht habe, seien doch die Inder selbst mindestens ebenso verantwortlich für diese Entwicklung, die unter der britischen Herrschaft stattgefunden hatte. Hätten sie sich nicht von ausländischen Gütern verführen lassen und so die lokalen Hersteller verraten, wäre dieser drain nicht möglich gewesen. Wenn Indien weiterhin unter Armut zu leiden habe, dann müssten sich die Inder selbst die Schuld geben. Ihr Gefallen an britischen Waren sei letztlich die Ursache für den Niedergang der indischen Produktion und für die Transformation des Subkontinents in einen Lieferanten billiger Rohstoffe und landwirtschaftlicher Produkte für die britische Industrie und in einen Markt für teurere Produkte aus Lancaster und Manchester. Der „Geschmacksverrat“ sei deshalb auch ein doppelter Verrat: Er komme einer Unterstützung der Briten gleich – in dem Sinne, dass er ihnen die materielle Unterstützung durch ihr wirtschaftliches Zutun zukommen lasse – und er werde zu einer Verschmähung der indischen Landsleute – insofern er ihnen den Lebensunterhalt de facto verweigere und sie so zu einem Leben in Armut verdamme. Noch schlimmer aber werde der indische Verrat dadurch, dass britische Güter noch nicht einmal aus „wirtschaftlichem Zwang“ (weil sie billiger oder von besserer Qualität waren) gekauft würden, sondern aus „Kriechertum und Narretei“, d. h. einfach aus dem Wunsch, den Lebensstil der britischen Kolonialelite zu imitieren und „Feinheit“ zur Schau zu stellen. Dieser „Geschmacksver————— 11

Chandra 1966: 134–135 und Sarkar 1973: 96–97. Bholonat Chandra Mookerjee’s Magazine (1873), zitiert in Chandra 1966: 125. C.A. Baylys Beitrag zu The Social Life of Things deutet den Gegenstand der hier zitierten Kritik, d. h. das Konsumverhalten indischer Eliten, im Kontext indischer Vorstellungen zur Bedeutung von materiellen Gütern für die Ausübung von politischer Macht. Da sowohl Menge als auch Vielfalt der angehäuften Güter eines Machthabers von Rivalen als Ausdruck der Größe und des Reichtums der Herrschaftsgebiete und als Gradmesser für den herrschaftlichen Einfluss auf diese Gebiete verstanden wurde, wurden europäische Güter, besonders Luxusgüter und Neuheiten, im Wettstreit um die Macht unter politischen Rivalen zu einem hohen Preis erworben. Europäische Güter waren so zu Statussymbolen in einem politischen Wettkampf um Status und Macht geworden, der mit dem Mittel des Konsums ausgetragen wurde (Bayly 1986: 302–306). 12

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rat“ wurde zum Symbol für die Schuld der indischen Elite an der Schwächung und Unterwerfung der eigenen Nation. Mit der Gleichsetzung von Gefallen am Konsum britischer Güter mit aktiver Sympathie gerade für jene, die die Ursache für das Elend in Indien waren, rückte der Diskurs den direkten Zusammenhang zwischen der Ästhetik eines bestimmten Lebensstils und der kolonialen Unterwerfung in den Mittelpunkt. Besonders nach 1880 wurde der „Geschmacksverrat“ nicht nur als direkte Ursache für den Niedergang eines einst dynamischen lokalen Produktionssektors und für die Transformation Indiens in ein verarmtes bäuerliches Land dargestellt, sondern auch als Grund für einen allgemeinen Verfall, der alle Inder in Mitleidenschaft ziehe (vgl. McGowan 2009: 73 ff.). Zum einen wurde behauptet, der Konsum von ausländischen Waren sende die klare Botschaft: […] wir lieben nicht Indien; wir lieben das England der Vorstädte, wir lieben den angenehmen bürgerlichen Wohlstand, der eines Tages vorhanden sein wird, wenn wir genügend Wissenschaft gelernt und genügend Kunst vergessen haben werden, um in einem Handelskrieg, der derzeit stattfindet, mit Europa konkurrieren zu können (Coomaraswamy 1994a: 3).

Das Gefallenfinden an ausländischen Gütern und dem damit verbundenen Lebensstil bedeute auch die Zustimmung zu den kommerziellen und materialistischen Werten, die sie verkörpern. Umgekehrt laufe eine solche Vorliebe implizit auf die Ablehnung einer indischen Lebensweise und die darin angeblich liegenden Werte hinaus. Der „Geschmacksverrat“ komme daher einem Verrat an der eigenen Kultur und ihren Werten gleich. Die Kritiker betonten darüber hinaus, dass man durch die Nachahmung einer fremden Lebensweise darauf reduziert werde, ein „parasitäres“ Leben zu führen. Während die kreative und imaginative Fähigkeit eines Volkes darin gesehen wurde, das eigene Erbe zu meistern und es durch stetige Anpassung an zeitgenössische Bedürfnisse und Wünsche lebendig zu halten, bedeutete das Nachahmen eines fremden Lebensstils, die eigene kreative und imaginative Fähigkeit einem anderen abzutreten (Coomaraswamy 1994b: cf. 13–14). Daher verstärke die kulturelle Passivität und Unterordnung, die ein um die Imitation der europäisch-britischen Kultur kreisender Lebensstil bedeute, auf dem Subkontinent die politische Passivität und Unterordnung unter die Kolonialherrschaft. Der Verlust der politischen Handlungsfähigkeit, die der britische Kolonialismus herbeigeführt hatte, sei daher mit dem weitaus gravierenderen Verlust der kulturellen Handlungsfähigkeit verbunden, den die Inder selbst durch die Preisgabe ihres Erbes herbeigeführt hätten. Eng verbunden mit dem kulturellen Verlust, aber nicht deckungsgleich mit ihm, führe der „Geschmacksverrat“ auch zu einem ästhetischen Verlust,

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denn „im Austausch für die Welt der Schönheit, die unser Erbe war, machte das 19. Jahrhundert unser Land zu einem ‚Ramschplatz‘ für alle Vulgaritäten, die in der europäischen Überproduktion anfielen“ (Coomaraswamy 1994b: 7). Dieser Verlust, der dazu geführt habe, dass die „schönen“ einheimischen, handgefertigten Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs durch ästhetisch öde industrielle Massenware ersetzt wurden, stehe in einem engen Zusammenhang mit dem moralischen Verfall des Landes. Durch die materielle „Vulgarisierung“ sei die „Kenntnis der Schönheit“ verloren gegangen und in einer Welt „ohne Schönheit kann es keine wahre Tugend geben“ (Coomaraswamy 1994a: 2 f.). So tragisch daher der Verfall von Indiens materieller und kultureller Lage auch sei, die wahre Tragödie, unter der Indien zu leiden habe, liege in dem Verfall seines moralischen und spirituellen Zustands: Siehe doch ringsum die Vulgarität des modernen Indien – wie wir die Kunst für den Handel mit Touristen prostituieren, wie wir statt der Wasserkrüge Benzinkanister verwenden und galvanisiertes Zink statt der glasierten Ziegel, unsere Karikatur der europäischen Kleidung, wie wir unsere Häuser im Stil der sprichwörtlichen Strandhäuser möbliert und verziert haben, mit geschliffenen Glaslüstern, Porzellanhunden und künstlichen Blumen, unsere Begeisterung für das Harmonium und die Grammophone – diese Dinge sind der äußere und vernichtende Beweis für ‚ein großes Übel in unseren Seelen‘ (Coomaraswamy 1994a: 3).

Wenn das Schöne in so inniger Verbindung mit der Tugend (d. h. dem „Guten“) gesehen wurde, wird auch erkennbar, wie der Gefallen an ästhetisch angeblich minderwertiger Fabrikware zu einem Symptom für den spirituellen Verfall werden konnte. Der Geschmack sei anders als die Nützlichkeitserwägung, auf Grund derer man bestimmte Dinge und nicht andere auswählt. Der Geschmack sei eine Verpflichtung, die sich auf die Hingabe an die Werte eines bestimmten Lebensstils, einer Lebenskunst, einer Ästhetik des Daseins gründe: „Die Modernen unter uns können mittlerweile eine Umgebung mit billigen Scheußlichkeiten, geschmacklosem Schund und teuren Unbequemlichkeiten ertragen, die in den Zeiten der Hindu- oder Mogulkultur auch noch die Ärmsten angewidert hätten“ (Coomaraswamy 1994b: 14). Der Gefallen an industriell hergestellten ausländischen Gütern gehe daher mit einer Ästhetik des Daseins einher, die die Quantität von Gütern höher schätze als deren Qualität, die Standardisierung höher als die Besonderheit oder Einzigartigkeit, auffällige Verzierung höher als Handwerkskunst, grelle Zur-Schau-Stellung höher als elegante Einfachheit und Imitation höher als Imagination und eigenes künstlerisches Schaffen. Die verschiedenen Diskurse über „Geschmacksverrat“ warfen Licht auf die unterschiedlichen Facetten des Kolonialismus. Der „Geschmacksver-

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rat“, beschrieben in Begriffen, die sich mit den eher unmittelbaren Folgen der abnehmenden Nachfrage an einheimischen Gütern und der zunehmenden Nachfrage an Importen aus Europa und besonders aus England befassten, lenkte die Aufmerksamkeit auf den materiellen Zusammenhang zwischen britischer ökonomischer Dominanz, der politischen Unterwerfung Indiens und dem Niedergang der indischen Produktion und somit auf die politische Ökonomie von Konsumentscheidungen und Lebensstil. Der „Geschmacksverrat“, der als kulturelles Phänomen verstanden wurde, rückte die Subtilität der kulturellen Ökonomie kolonialer Hegemonie in den Mittelpunkt: wie Güter zu Trägern ihrer Ursprungskultur werden und wie ihr Gebrauch mit der Übernahme des entsprechenden Lebensstils und eines gesamten Wertesystems einhergeht. Als indische Eliten begannen, sich kulturell nach Großbritannien zu orientieren, flossen aus Indien nicht nur materielle Ressourcen ab, sondern auch die kulturelle Eigenständigkeit ging verloren. Dies brachte Indien nicht nur in politische Unterordnung, sondern zugleich auch in kulturelle Unterordnung, die die koloniale Dominanz auf besonders subtile und schwer zu überwindende Weise verinnerlichte und naturalisierte. Eng verbunden damit, aber nicht deckungsgleich ist der „Geschmacksverrat“, wenn er als ästhetisches Phänomen verstanden wird. Die moralischen und spirituellen Dimensionen dessen, was verloren ging, als Indien der Verführung durch die modernen, industriell hergestellten Güter aus England und Europa erlag, wurden problematisiert (Foucault 1984: 117 f.). Wenn die Schönheit der traditionellen Künste und Handwerke nicht mehr das Alltagsleben schmücke, sondern statt dessen die geschmacklosen Produkte der industriellen Produktion zum Allgemeingut würden, würde dadurch eine Umgebung geschaffen, die das „inspirierte“ Leben, das Streben nach höheren Idealen und das Spiel der Imagination behindere. Insofern damit Fragen der politischen Souveränität und der individuellen Handlungsfähigkeit berührt sind, decken sich diese Sorgen mit den Sorgen darüber, wie sehr die koloniale Wirtschaftsordnung die Autonomie Indiens sowohl politisch wie kulturell unterminiert habe. Gleichzeitig wurden diese Überlegungen über den unmittelbaren kolonialen Kontext hinaus ausgeweitet und mit einer allgemeinen Kritik an der industriellen Moderne verbunden, die die negativen Auswirkungen des Industriekapitalismus auf die Lage der Menschheit im Allgemeinen thematisierte. Dieses weitreichende Thema soll später im letzten Teil dieses Beitrages nochmals detaillierter aufgegriffen werden. Im Folgenden geht es zunächst um Vorschläge, wie die Situation Indiens verändert und „wahrer“ Fortschritt nach Indien gebracht werden sollte.

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2. Vom „Geschmacksverrat“ zur authentischen hinduistischen Lebenskunst Obgleich indische Kritiker des britischen Kolonialregimes im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die tragischen Folgen des „Geschmacksverrats“ lamentierten, so waren sie auch der Auffassung, dass es in der Macht der Inder selbst liege, ihre moralischen und materiellen Umstände zum Besseren zu wenden. Damit verbunden war die Erkenntnis, dass die einzige Möglichkeit, breite Unterstützung für die Förderung der indischen Produktion zu mobilisieren, darin lag, dass Inder selbst diese einheimischen Güter besitzen wollten. Daher richteten sich die Bemühungen nicht nur zu einem großen Teil darauf, an die Stelle der in England produzierten Güter solche indischer Herstellung zu setzen, sondern auch wieder einen „Geschmack an einheimischen Dingen“13 zu fördern. Daraus entwickelte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Debatte über die inhärente Schönheit und Reinheit der einheimischen oder swadeshi-Güter. Nur mit der Kultivierung eines neuen Sinns für das „Geschmackvolle“, der die Vorzüge dieser Güter auch würdigen könne, würden die Bemühungen erfolgreich sein, Inder, besonders die Eliten, dazu zu bringen, ihre Häuser mit indischen Möbeln einzurichten, indische Kleidung zu tragen und alle anderen Dingen des alltäglichen Gebrauchs mit indischen Alternativen zu ersetzen. Mit dem Fokus auf einer Geschmacksbildung für indische Güter stellte sich die Frage, was genau denn mit „indisch“ gemeint sein sollte (Sarkar 1973: 104–108). Reichte es wirklich schon aus, dass Gegenstände von Indern in indischen Fabriken aus indischen Materialien hergestellt worden waren, wie jene Eliten dachten, die meinten, dass ein spürbarer Fortschritt in Indien nur mit der Entwicklung einer einheimischen industriellen Produktion möglich werde? Oder sollten die Güter auch in einem anderen Sinn „authentisch indisch“ sein? Daraus ergaben sich Überlegungen, was an fremden Gütern eigentlich schädlich für Indien war und was charakteristische indische Güter an sich haben müssten, um wirklich einen fortschrittlichen Impuls in die indische Gesellschaft zu tragen. Während manche Kritiker auch weiterhin das Problem ausschließlich im Rahmen der politischen Ökonomie betrachteten und dafür eintraten, dass es das Beste sei, wenn Inder selbst diese modernen Industrieprodukte herstellten, die bis dahin aus England importiert worden waren 14, ging anderen Kritikern der kolonialen Ordnung diese Sichtweise des swadeshi (der Ei————— 13

Amrita Bazar Patrika vom 6. Januar 1876, zitiert in Chandra 1966: 125. Zum Beispiel Ranade 1890, 1892 und 1893. Zu einer Übersicht über die verschiedenen Industrieprojekte, siehe Sarkar 1973: 108–136. Zu einer ausführlicheren Darstellung der Bestrebungen, einheimische Industrien in Indien zu fördern, siehe Chandra 1966. 14

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genproduktion) nicht weit genug. Ananada K. Coomaraswamy (1877–1947) brachte das, was viele der radikalen Kolonialismuskritiker des frühen 20. Jahrhunderts dachten, wohl am eindringlichsten zum Ausdruck, als er schrieb: [...] weil man sich auf die rein materielle Seite dieser Frage konzentrierte und nicht die überlegene Verarbeitung [workmanship] der handgefertigten und individuell entworfenen Materialien erkannte, ist es dazu gekommen, dass man nicht einmal den Versuch unternommen hat, in den Dörfern wieder die Weber und die Webstühle zu fördern, sondern dass wir die Lebenskräfte der Nation mit Kinderarbeit und langen Arbeitsstunden vergeuden, die unter mechanischen und ungesunden Bedingungen stattfinden, welche lediglich von Manchester nach Indien verlagert wurden. Man sollte daran denken, dass von England gesagt werden kann: Insgesamt lebt in unseren großen Städten eine ebenso große Bevölkerung wie vor sechshundert Jahren in England und Wales zusammen; aber wessen Lebensbedingungen sind schlimmer, wessen Häuser erbärmlicher, und wessen Einkommen unsicherer, wessen Aussichten sind hoffnungsloser als der ärmsten Sklaven des Mittelalters und der schäbigsten Behausungen der mittelalterlichen Städte. Man erinnere sich, dass ein Zehntel des englischen Volks in Arbeitshäusern, dem Gefängnis oder einem Irrenhaus stirbt. Man lerne deshalb, nicht die Lebenskräfte der Nation in einem temporären politischen Konflikt zu vergeuden, sondern begreife, dass die Kunst euch in die Lage versetzen wird, alle eure Handwerke und Manufakturen auf einer sichereren Basis neu zu begründen, eine Basis, die den Menschen Wohlergehen bringen wird; denn unter den Bedingungen, die nichts Schönes an sich haben, kann euch kein schöner Gegenstand hergestellt werden (Coomaraswamy 1994a: 4–5).

Für Denker wie Coomaraswamy ging es deshalb nicht einfach um das sofortige Anhalten und Umkehren des materiellen drain aus Indien, sondern um fundamentalere Fragen, etwa danach, was für eine sozio-ökonomische Ordnung auf dem Subkontinent herrschen sollte. War das Streben nach moderner Industrie in Indien wirklich der richtige Weg zum Fortschritt? Oder war die Übernahme einer solchen Produktionsweise schon in sich problematisch, wie die desolate Lage der britischen Arbeiterklasse deutliche machte?15 Wie Coomaraswamy im obigen Zitat ausführt, verkörpern materielle Güter nicht nur eine Reihe von kulturellen und ästhetischen Werten und sind auch nicht nur für die Käufer mit bestimmten Alltagspraktiken verbunden, die zu einem bestimmten Lebensstil gehören. Dies würden nur die unmittelbaren Verbraucher (meistens aus der Elite) der erworbenen Produkte betreffen. Vielmehr gehen die materiellen Güter auch mit einer Produktionsweise einher, die der gesamten Gesellschaft ihre Struktur auferlegt. Und ————— 15

McGowan 2009: 96–101; vgl. auch Sarkar 1973: 105.

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da diese darüber bestimmt, wie die übrige Gesellschaft ihren Lebensunterhalt verdient, bestimmt sie nach Coomaraswamy ihrerseits die Lebensweise ihrer Mitglieder. Industriell hergestellte Güter setzen eine Gesellschaft voraus, deren Bevölkerung in Fabriken arbeitet, d. h. eine städtische, von Lohnarbeit abhängige Bevölkerung, die sich dem mechanischen Rhythmus der maschinellen Produktion unterordnet (vgl. Thompson 1967). Coomaraswamy fordert demzufolge, die tiefgreifenden und weitreichenden Folgen einer solchen Entscheidung müssten vorher sorgfältig bedacht werden. Die moderne Industrieproduktion sei kein Garant für Fortschritt. Coomaraswamy war nur einer aus einer langen Reihe von Intellektuellen – indischen und britischen, tief konservativen und radikalen – die dies nachdrücklich betonten16. Das körperliche und seelische Elend der Arbeiter in den Spinnereien von Manchester mache die dunklere Seite der Industriegesellschaft sichtbar. Daher hielten Coomaraswamy und andere radikale Kolonialismuskritiker die Pläne, den Fortschritt nach Indien zu bringen, indem man die britischen industriell hergestellten Güter durch die entsprechenden indischen ersetzen wollte, für irregeleitet. Ihrer Ansicht nach beruhten diese Betrachtungsweisen hauptsächlich auf einem materialistischen Fortschrittsbegriff, der unkritisch die Ideale des modernen Kapitalismus fördere und eine Produktionsweise importiere, die sich, wie das Beispiel der Textilarbeiter gezeigt habe, zerstörerisch auf die menschlichen Lebensbedingungen auswirke. Nötig sei vielmehr eine ganzheitliche Vorstellung von Fortschritt, die sich die gesellschaftliche (Re-)Konstruktion zur Aufgabe macht. Die Betonung des Ästhetischen bei der Förderung des Schönen (in diesem Fall der Künste und der Handwerke) wurde als visionäre Alternative der einseitig technokratischen ökonomischen Planung gegenüber gestellt, da „[…] [eine] rein materielle Idee uns nie die jetzt fehlende Kraft geben wird, eine große dauerhafte Nation zu bilden. Dafür brauchen wir Ideale und Träume, unmögliche und visionäre, einen Nährboden für Märtyrer und Künstler“ (Coomaraswamy 1994a: 3). Wie aus diesem Zitat hervorgeht, lag die Stärke des ästhetischen Blicks auf der Rekonstruktion der indischen Gesellschaft in ihrer Fähigkeit, —————

16 Wie später dargestellt werden wird, waren diese von Coomaraswamy formulierten Ideen lange schon Hauptstützen der romantischen Kritik am Kapitalismus. Diese Kritik spannte sich über das ideologische Spektrum von tief konservativen Vorstellungen einer Rückkehr zur feudalen Ordnung, wo die verschiedenen Stände der Gesellschaft jeweils ihren Platz inne hatten, bis zu radikalen, von verschiedenen Formen des Sozialismus inspirierten Utopien, in denen Brüderlichkeit vorherrsche, die Menschen das Land gemeinsam bestellten und einander die täglichen Bedürfnisse erfüllten. Coomaraswamys Ideen sind zwar als Kritik am Kolonialismus radikal, doch tief konservativ, insofern sie eine streng hierarchische, auf Status gegründete, eindeutig patriarchalische sozio-politische Ordnung idealisieren. S. u. Anm. 19.

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die Imagination anzusprechen, zu inspirieren und so die Bevölkerung zu motivieren, sich dem Status quo zu widersetzen, nach höheren Zielen zu streben, eine gemeinsame Vision des guten Lebens zu entwerfen und eine vollkommenere Ästhetik des Daseins zu fördern. Die Alternative zu einer einfachen „Verlagerung Manchesters nach Indien“ war deshalb die Konzentration auf eine Produktionsweise, die als ursprünglich indisches historisches Vermächtnis an die Nachwelt gesehen wurde: die dörflichen Handwerke. Im nächsten Abschnitt wird näher betrachtet, welche Bedeutung die ländliche sozio-ökonomische Ordnung für die Imagination über einen „indigenen“ (bzw. authentischen) indischen Fortschritt hatte und welche besondere Rolle die Religion bei der Ausgestaltung eines solchen Fortschritts spielte. 3. Von Kolonial(ismus)kritik zu Zivilisationskritik: Ästhetik des Religiösen und die Grundlagen indischer Ökonomie Nur wenige Jahre, nachdem Ananda Coomaraswamy seine Aufsätze über einheimisches Handwerk (swadeshi), „wahren Fortschritt“ und die Bedeutung der Ästhetik für die (Re-)Konstruktion der indischen Gesellschaft veröffentlicht hatte, stellte 1916 der indische Soziologe und Ökonom Radhakamal Mukerjee (1889–1968) in Foundations of Indian Economics seine Ideen zur moralischen und materiellen Lage Indiens vor. Er stand unter dem Einfluss der gleichen intellektuellen Vorläufer wie Coomaraswamy und führte ähnliche Kritikpunkte an: Individualismus und Egoismus, Urbanisierung und Industrialisierung, die eine auf das moderne (westliche) ökonomische Denken gegründete Politik in Indien hervorgebracht hätten. Seiner Ansicht nach war es nötig, die politische Ökonomie ganz umzugestalten, alternative soziale und ökonomische Prinzipien zu entwickeln und dadurch die indische Gesellschaft auf eine angemessenere und „gesündere“ Grundlage zu stellen (Mukerjee 1916: 446)17. Bezugnehmend auf Zahlen des Imperial Gazeteer zeigte er, dass die überwältigende Mehrheit der Inder noch immer in Dörfern lebe und in ihren Heimatdistrikten bleibe. Deshalb kam er zu dem Schluss, dass „das autarke abgeschiedene Dorf noch immer die eigentliche Einheit des sozialen Lebens in Indien ist“ (ebd. 12). Mukerjee griff damit einen hundert Jahre alten orientalisti—————

17 Mukerjees Projekt war nicht ganz neu. Mahadev Govind Ranade hatte bereits über die Notwendigkeit, die Grundlagen der politischen Ökonomie im Licht der Besonderheiten der indischen Gesellschaft und Kultur neu zu formulieren, Vorlesungen gehalten. (s. Ranade 1892). Viele Themen, die bei Ranade nur gestreift werden, behandelt Mukerjee ausführlicher.

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schen Topos auf und beschrieb Indien als eine vorwiegend dörfliche Gesellschaft18. Er forderte, man müsse sich vor allem auf das „indische Dorf“ konzentrieren, wenn man ein ökonomisches System suche, das besser zu „den sozio-ökonomischen Traditionen des Landes und seinen geographischen und historischen Bedingungen passt“ (Mukerjee 1916: xix). Mukerjee, der durch seine Feldforschungen in bengalischen Dörfern inspiriert worden war und ein Programm zur Erwachsenenbildung in ländlichen Gebieten entwickelt und umgesetzt hatte (vgl. Joshi 1986: 1458), appellierte, sich auf „die ökonomische Botschaft Indiens aus dem Geist seiner altehrwürdigen Institutionen“ zu besinnen (Mukerjee 1916: xxi). Diese Botschaft sah er in den sogenannten zentralen Säulen des Dorflebens verkörpert: der joint family (jati) als der primären ökonomischen Einheit, der Kaste (von der er als samaj spricht), dem Dorfrat (panchayat) und dem Hinduismus. In Mukerjees Worten neigen diese Säulen dazu, „die aggressiven Eigentumsrechte zu regulieren und die Spitzen eines gewaltsamen und feilen Individualismus abzumildern, die viel zu vielen im Westen als Erfüllung der Zivilisation erscheinen“ (Mukerjee 1916: 465)19. Darüber hinaus hielten sie auch eine ökonomische Ordnung aufrecht, die das Ideal fördere „bescheiden zu leben und erhaben zu denken durch den religiösen Respekt für die Tugenden der Armut und der Selbstverleugnung“ (ebd. 466). Das folgende Zitat zeigt wahrscheinlich am prägnantesten, wie sein Entwurf ausgesehen hat: Dort ist das kleine Stück Land, auf dem Gemüse der Saison angebaut wird, die Frauen des Hauses kümmern sich in ihrer Freizeit darum. Es gibt dort wohl zwei oder drei Webstühle… Die Jungen und Mädchen in der Hütte des Webers helfen ihrem Vater bei der Handhabung der Fäden und ordnen sie automatisch, während er webt. Die Frauen erledigen den Haushalt und verbringen ihre freie Zeit nutzbringend. Sie arbeiten in den Gemüsegärten, füttern das Vieh oder das Geflügel, verarbeiten Kuhdung,

————— 18

Zum Aufkommen des orientalistischen Topos vom dörflichen Indien, s. Dumont 1966, Dewey 1972, Katten 1999 und Inden 2000: Kap. 4. Zur zentralen Rolle, die er später im indischen Nationalismus spielen sollte, s. Jodhka 2002. 19 Wie Coomaraswamy vertritt auch Mukerjee eine tief konservative Sicht auf die indische Kultur, insofern er Institutionen wie das Kastensystem und die gesellschaftliche Unterordnung der Frau idealisiert und dabei die sehr realen Ungerechtigkeiten, die in seinem Namen begangen wurden, völlig außer Acht lässt. Wo er existierende soziale Probleme aufgreift, wie im Fall der Konflikte innerhalb der joint family, schreibt er sie ausschließlich dem Zerfall der traditionellen Gesellschaftsordnung unter dem Druck von Individualisierung und Kommerzialisierung zu. Eine kritische Darstellung des Konservativismus seiner (oder Coomaraswamys) Ansichten und das Verschweigen von alternativen Perspektiven auf die indische Kultur ist ein Thema für einen anderen Beitrag. Zum Konservativismus, der im indischen Nationalismus weit verbreitet war, siehe Bayly 1991: 392–5; zu den Vorurteilen hinsichtlich Religion (pro-Hindu/anti-Islam), Klasse und Kaste in diesen nationalistischen Diskursen, siehe Thapar 1996: 8–11.

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Religiöse Ästhetik, Imagination und Politisierung des Fortschritts in Indien 331 spinnen Baumwolle oder flechten Körbe. Die Häuser werden durch die Handarbeiten der Familie verschönert und die Volkskunst wird gefördert. Das Leben ist stark, schön und edel. Die Arbeit ist ein Vergnügen, eine Freude. Der Fleiß verbindet sich mit Kunst und Ethik […] (ebd. 452).

Im Herzen dieser idyllischen Ordnung stehe als Quelle ihres Ethos der Hinduismus, der in alle anderen Dimensionen der dörflichen Gesellschaft einfließe und ohne den sie nicht funktionieren könne. „In Indien“, schreibt Mukerjee, „gilt das gesamte Leben als religiös, nichts als profan“ (ebd. 47). Die zentrale Stellung der Religion im täglichen Leben gewährleiste die Aufrechterhaltung einer starken Beziehung zum Absoluten und den höheren Idealen der Zivilisation (vgl. ebd. 511). Anders als im Westen, wo das Individuum die fundamentale ökonomische und gesellschaftliche Einheit sei, bilde in Indien die joint family die wichtigste fundamentale sozioökonomische Einheit; sie verkörpere ein religiöses Ethos und die Tugenden der Zuneigung, der Selbstbeherrschung, der Aufopferung und der gegenseitigen Abhängigkeit wie auch wechselseitiger Kontrolle (ebd. 15). Dadurch entstehe eine Gesellschaft, die nicht von ich-bezogenen Wünschen, Komfortansprüchen und Idealen persönlicher Freiheit und Entwicklung geprägt seien wie im Westen, sondern eine Gesellschaft, die durch die Ausrichtung aller menschlichen Gefühle und Bestrebungen auf die Familie automatisch die demographische Entwicklung wie auch den Lebensstandard aller zum Besten steuere (vgl. ebd. 15). Darum stehe der Bund der gegenseitigen Verpflichtungen und der Fürsorge im Mittelpunkt indischen Lebens, wobei die Fürsorge für und die Unterstützung von schwächeren Familienmitgliedern, die Weitergabe des Familienbesitzes und der Familienerhalt von vorrangiger Bedeutung seien (ebd. 16,18). In den Heroen der großen HinduMythen, des Mahabharata und des Ramayana sah er die Vorbilder für dieses Ethos (ebd. 23). Sozio-ökonomisch führe ein solchermaßen religiös fundierter Ethos zu einem hohen moralischen Standard und wirklicher Zufriedenheit, solange die religiösen Ideale in Ehren gehalten würden (ebd. 25). Die Kaste, welche Mukerjee als Samaj bezeichnet, integriere die „indigenen Rassen“20 in die Hindukultur und fördere das natürliche „Wachstum durch Absorption, Adoption und Assimilation und nicht durch bewusste Integration und Differenzierung, die nur unter dem Druck von politischen Kräften bei der Bildung eines Nationalstaates gefördert werden können“ (ebd. 37, Anm. 1). Letztere bringt er mit forcierender nationalstaatlicher —————

20 Bei Mukerjee bezeichnet das Wort „indigen“ ortsansässige Gruppen, die ursprünglich keine Hindus waren.

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Politik in Zusammenhang, während er in dem Kastensystem eine „natürlichere“, fast schon „organische“ Lösung von sozialer Integration zu sehen scheint (vgl. ebd.). In seiner Darstellung erscheint die Kaste als eine sozioreligiöse Institution, die unter ihren Mitgliedern ein Solidaritätsgefühl erzeuge, das nicht auf funktionaler Komplementarität oder auf politische Rechte und Pflichte gründe, sondern auf einem Band der Zuneigung, das aus der Verpflichtung zu gegenseitiger Fürsorge und der gemeinsamen Vorstellung von einem guten Leben bestehe. Dasselbe Solidaritätsgefühl verbinde, so Mukerjee, auch die Mitglieder der joint family und er beschreibt tatsächlich die Kaste auch als „Familie großgeschrieben“ (family writ-large) (ebd. 45). Die besondere integrative Kraft der Kaste verspreche deshalb nicht nur den Aufstieg „der weniger zivilisierten Stämme in Indien“ (ebd. 37, Anm. 2) zur großen indischen Zivilisation, sondern sie bringe auch – Mukerjees Ansicht nach – ein Gefühl der politischen Gemeinschaft hervor, deren affektive Bindungen ganz anders als die des legalistischen administrativen Apparats moderner Nationalstaaten beschaffen seien. Der Hinduismus, fährt Mukerjee fort, habe noch weitere Auswirkung auf die indische Lebenswelt. Er schreibt: „In der Vorstellung vom gesamten Leben als Sakrament, dem Ergebnis des Idealismus der Hindu und ihrer Religion, ergeben sich große Möglichkeiten für Kunst und Handwerk“ (ebd. 47). Er betont auch, dass „Indien seinem Wesen nach das Land der Kleingewerbe (cottage industries) ist […], die keine Berührung mit der kommerziellen Welt haben“ (ebd. 61). Implizit sagt Mukerjee damit, dass die grundlegende Rationalität, mit der die indische Gesellschaft operiere (und operieren solle), nicht zweckrational wie in den modernen (westlichen) kapitalistischen Gesellschaften sei. Sie sei vielmehr ästhetisch und religiös expressiv. In einer solchen sozio-ökonomischen Ordnung sei es eher eine bestimmte Seinsweise, ein wertrationales Ethos und nicht ein Gefüge von (zweckrationalen) materiellen Zielen, welche die menschliche Existenz definiere. Ohne die erdrückenden Zwänge, bestimmte materielle (oder utilitaristische) Ziele erreichen zu müssen, genieße das Individuum ein größeres Maß an Freiheit, das das Spiel der Imagination zulasse und damit die Verwirklichung seines vollen zivilisatorischen und individuellen Potenzials ermögliche. Zudem werde die Imagination noch durch die religiöse Hingabe aktiv kultiviert (ebd. 52), da im „idealistischen Denken des Hindu“ (ebd. 47) Kunst und Gewerbe – neben der Landwirtschaft Ecksteine des dörflichen Alltagslebens – Repräsentationen des Göttlichen seien, das das gesamte Leben durchdringe. Daher verleihe die Ausrichtung auf das Göttliche und nicht das Verfolgen von utilitaristischen Zielen dem Streben nach dem höheren Gut im Leben eines jeden Einzelnen Inspiration und ermutige ihn zur Verwirklichung von Schönheit und dem „Idealen“. Dies

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verleihe der alltäglichen Arbeit ihren Sinn. Die Arbeit ziele deshalb nicht so sehr auf die Reproduktion äußerer Formen, um einen Bedarf oder ein materielles Verlangen (nach einem Produkt) zu befriedigen oder einfach den Lebensunterhalt zu sichern, sondern auf die Verwirklichung der „inneren Inspiration“ (ebd. 47) und der „Interpretation bzw. der Liebe“ (ebd. 49). Dennoch sei eine solche expressive, nicht entfremdende Form der Arbeit nur möglich, solange ein aktives religiöses Leben die Beziehung des Menschen zu dem Absoluten mit seinen höheren Idealen aufrechterhalte. Ginge diese Beziehung verloren, würde die Arbeit des Handwerks zu einer sinnlosen Reproduktion konventioneller Formen verkommen (ebd. 51). Mukerjee schrieb die Foundations of Indian Economics nicht nur als Alternativentwurf zu den Grundannahmen der britischen Kolonialpolitik und zu den industriefokussierten Gesellschaftsentwürfen führender Nationalisten des Indian National Congress, sondern auch als Modell, welches Lehren von universaler Gültigkeit aufzeige, von denen auch Europa lernen könne. Mukerjee schreibt: Die überbevölkerten schmutzigen Städte, die Entvölkerung der ländlichen Bezirke, die enorme Ungleichheit beim Reichtum und die daraus folgenden Konflikte zwischen Arbeit und Kapital und ständig auch dem gesellschaftlichen Interesse [sic], die unausweichliche Übel des Fabriksystems sind, haben in der Tat die Grundlagen der westlichen Gesellschaft gefährdet. […] Die westliche Gesellschaft hat also, um ihre ökonomische Effizienz zu gewährleisten, ihr wirkliches Ziel vergessen. Ökonomische Effizienz ist erforderlich, denn nur die effiziente Produktion kann freie Zeit verschaffen wie auch die Bedingungen für ein gesundes und vollkommenes Leben erfüllen. Man sollte aber gleichzeitig immer daran denken, dass ökonomische Effizienz nicht der Zweck der Zivilisation ist. Sie ist nur ein unmittelbares Ziel; und sie sollte deshalb innerhalb der Grenzen von und in Unterordnung zu dem obersten Zweck wirken, welches ein vollkommenes und gesundes Leben ist, [d. h.] Kultur im höchsten Sinn des Wortes. […] Reichtum entspricht nicht der Vervollkommnung der Kultur: Kultur ist, wie es vor kurzem ein Autor formuliert hat, nicht nur die kontemplative, sondern auch die aktive und wirkende Wertschätzung der nicht-ökonomischen Werte. Und wenn der Gradmesser für den wirklichen Erfolg einer Nation ihre Kultur und ihr erhabenes Leben ist, der Umfang dessen, was sie zur Wahrheit beigetragen hat, die moralische Kraft und das intellektuelle Glück, die spirituelle Hoffnung und der Trost der Menschheit, dann kann der Westen nach diesem Kriterium nicht behaupten zu bestehen (ebd. 335 f.).

Auch westliche Denker, betont Mukerjee, hätten erkannt, dass die westliche Wirtschaftsform ihrem Wesen nach fehlerhaft sei, wie die zahlreichen Reformbewegungen deutlich erkennen ließen, auf die er in seinem Text häufig verweist – sozialistische, genossenschaftliche und arts-and-crafts-Bewegungen (ebd. 332, 337).

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Im letzten Kapitel seines Buches widmet sich Mukerjee den drängendsten Problemen des westlichen Industriekapitalismus, die der Sozialismus, wie er und andere (westliche und indische) Denker meinten, nicht angemessen beantworte. Mukerjee stellt eine „Ethik des indischen Industrialismus“ vor, nicht nur um den moralischen und materiellen drain Indiens zu beheben, sondern auch um die Grundfehler des städtischen Industriekapitalismus und die Prinzipien der politischen Ökonomie, auf die er sich gründet, zu korrigieren. Das Grundproblem sowohl im westlichen Industriekapitalismus als auch in der sozialistischen Replik darauf liege darin, dass sie auf einer „rein materialistischen Konzeption des Lebens“ beruhten, einer Konzeption, die trotz ihrer erkennbaren Beziehung zum radikalen Individualismus „die Erhabenheit der individuellen Entwicklung, die Achtung der menschlichen Persönlichkeit“ ignoriere. Am Sozialismus sei besonders problematisch, dass er die Tendenz habe, den Individualismus, den er vorgeblich schützen wolle, zu rationalisieren und ihn dabei paradoxerweise beschneide (ebd. 454). Die indische sozio-ökonomische Ordnung dagegen, deren Wesen durch Kaste, joint family, handwerkliche Produktion und Hinduismus wesentlich bestimmt sei, werde durch einen „veredelnden Idealismus“ (ennobling idealism) charakterisiert, der sich in Hingabe an das Göttliche und Absolute zeige und, wie oben ausgeführt, Raum lasse für das Spiel der Imagination, für die Errungenschaften des Geistes und den Ausdruck der Inspiration (ebd. 455). Die soziale Anerkennung richte sich demnach in Indien nicht nach Landbesitz, Reichtum, sozialem Status oder politischem Amt, sondern entspreche der „spirituellen“ Stärke eines Menschen und dem Maß, in dem das Göttliche sich in ihm verwirkliche (vgl. ebd. 457). Die Betonung der höheren Werte, des Göttlichen, bewahre Indiens Sinn für das geheimnisvolle und erhabene Leben, das über die Natur hinausgeht. Der suchende Blick des Menschen richtet sich daher weniger auf die Natur als System als auf das Leben an sich, das in ihr zugleich immanent und transzendent ist, auf das Selbst in allem, was lebt und sich regt, was jenseits der Grenzen von Raum und Zeit, von Materie und Energie ist (ebd. 459).

Diese Orientierung erfülle die indische Gesellschaft mit einer „tiefen Achtung vor der Persönlichkeit, vor dem Geist, vor dem ewigen Leben“, und „ein solches gerechtes Gesellschaftsgefüge mit dem für alle gültigen Ideal ‚Gott im Menschen zu verwirklichen‘ kann durch den Zusammenstoß mit den Kräften der Mechanisierung und des Monetarismus, die sehr stark geworden sind und jetzt in der westlichen Welt zu einem sichtbaren Konflikt geführt haben, nicht völlig zerschmettert werden“ (ebd. 459). Mukerjees Vorstellung von dem für Indien „richtigen“ Weg zu moralischer und materieller Verbesserung entwirft eine sozio-ökonomische Ordnung, die die urbane Industriegesellschaft – im herrschenden Diskurs der

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damaligen Zeit die Verkörperung des Fortschritts per se – ablehnt. Das Dorf, die handwerkliche Heimindustrie und die genossenschaftliche Produktion werden nachdrücklich als die Vehikel zu echtem Fortschritt beschrieben und der Stadt mit ihrem von Konkurrenz angetriebenen Individualismus und den Fabriken, die die Bedürfnisse der Menschen denen der Maschinen unterordne, gegenübergestellt. Die angeblichen Grundprinzipien der indischen Gesellschaft, die aus dem Alltagsleben der traditionellen dörflichen Ordnung abgeleitet wurden – und nicht die Prinzipien der westlichen politischen Ökonomie – seien der Schlüssel zu einer nicht einfach nur materiell, sondern auch moralisch besseren Zukunft. Im konventionellen Rahmen der politischen Ökonomie galt Fortschritt als die kontinuierliche materielle Verbesserung immer größerer Bevölkerungsanteile, die durch technische Entwicklungen und spezialisierte Arbeitsteilung zu erreichen sei und der dann automatisch eine höhere Moralität als Ergebnis der materiellen Prosperität folgen sollte. Demgegenüber sieht Mukerjee in diesem Fortschrittsglauben eine Fehleinschätzung der Verhältnisse. Wirklicher Fortschritt liege stattdessen in dem, was er als „Erfüllung“ beschreibt. Damit ist weniger etwas Materielles gemeint, das durch Wohlstand erreicht werden könnte, als vielmehr eine Erfüllung in expressiver, affektiver und ästhetischer Hinsicht. Daher dürfe ein höheres Maß an materiellem Reichtum und Wohlstand nicht der primäre Zweck des Fortschritts sein, sondern allgemeine Zufriedenheit, Gemeinschaft und Selbstverwirklichung – kurz: eine Seinsweise, die ihre Grundlage im spirituellen Erbe des Hinduismus und seiner „tieferen Botschaft an die Menschheit“ habe (ebd. 460). Eine solche „idealistische“ sozio-ökonomische Ordnung verwirkliche Freiheit vom Diktat einer materialistischen Zweckrationalität und ermögliche die Freiheit, im Einklang mit einem Ethos zu leben. In dieser Freiheit schließlich vereine sich menschliche Solidarität mit der Vervollkommnung des Individuums, wie Mukerjee es formuliert, als „Gott im Menschen“ (ebd. 456). Hier wird also deutlich, dass in dieser expressiven Ordnung Religion die Hauptrolle spielt, denn die Hingabe an das Absolute verlagere den Schwerpunkt der menschlichen Bemühungen auf erhabenere Ziele: Dies gehe niemals in der Befriedigung materieller Wünsche auf, sondern könne nur durch die Verwirklichung von Schönheit und Tugend durch kreative, imaginative Praktiken erreicht werden – ob in der Produktion von Dingen des täglichen Lebens, in der Pflege sozialer Beziehungen oder in der Kultivierung des Selbst. Und in der Tat werden in dem von Mukerjee vorgestellten Entwurf alle diese Aspekte des menschlichen Lebens in ein holistisches System integriert, das als Antwort auf die Fragmentierung der menschlichen Erfahrung im Industriezeitalter präsentiert wird. Die Symbole und Mythen, die zugleich Träger religiöser Wahrheit und Ausdrucksformen von

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Schönheit und Tugend sind, geben der Imagination Nahrung und regen den Menschen an, die Faktizität seines gegenwärtigen Zustands zu transzendieren und ein schöneres und tugendhafteres Dasein zu verwirklichen. Die Imagination, die durch die Hingabe des Menschen an das Transzendente genährt wird, erscheint als ursprüngliche Quelle dieses sich selbst verwirklichenden, emanzipatorischen Potenzials. Sie sei der heilige Funke, durch den die Freiheit des Menschen geschaffen werde und der ihn erst zu einem Subjekt mache (ebd. 455). Wie wir gesehen haben, bedeutet die Kultivierung des Geschmacks sowohl in Coomaraswamys wie auch in Mukerjees Schriften weitaus mehr als nur die Veränderung von Konsumgewohnheiten. Für Coomaraswamy bewahrt der Geschmack eine altehrwürdige ästhetische Tradition, die eng verbunden mit der Produktionsweise der Dorfhandwerker gewesen sei. Dagegen ist für Mukerjee der Geschmack eine Art organischer Sinn für eine bestimmte (religiöse) Ästhetik, welche die zivilisatorischen Grundlagen Indiens begründe und verkörpere. Dieses ästhetisch wie zivilisatorisch verstandene Erbe gilt es in Mukerjees Sicht zum Wohle Indiens wie des Westens zu revitalisieren. Nur so könnten sowohl der moralische und materielle drain in Indien als auch die drängenden sozio-ökonomischen Probleme Europas gelöst werden. Seiner Auffassung nach ist der Schlüssel zu diesem Bestreben die Kultivierung des richtigen Ethos und des richtigen Habitus (Bourdieu 1982), d. h. das Anerziehen einer kulturell und religiös begründeten Haltung, die dem täglichen Handeln seine Form gibt. Im Zentrum dieses Bemühens stand auch die (Wieder-)Erlangung der Souveränität, die einerseits durch die koloniale Durchdringung und Unterwerfung und anderseits durch die sozio-ökonomische und kulturelle Transformation hin zu einer als westlich geltenden Zivilisationsform, der städtischen Industriegesellschaft, verloren gegangen sein soll. Beide Probleme könne man beheben und damit die Souveränität wiedergewinnen, wenn man die koloniale Durchdringung durch das Kappen kommerzieller Beziehungen beende. Letztlich könne das indische Volk mit einem Warenboykott Souveränität über sich selbst zurückgewinnen. Zugleich werde, so Mukerjee, die Revitalisierung eines indischen Ethos und seiner Zivilisationsformen (seien sie künstlerisch, gesellschaftlich oder ökonomisch) die Souveränität über die sozio-kulturelle Ordnung auf dem Subkontinent (wieder) herstellen, nachdem sie unter der britischen Herrschaft Gegenstand zahlreicher civilizing projects gewesen war. Diese hatten zum Ziel, wie Thomas Babington Macauley es formulierte, „eine Klasse von Menschen zu bilden, die nach Abstammung und Hautfarbe indisch, dem Geschmack, den Ansichten, den Wertvorstellungen und dem Denken nach aber englisch waren“ (Macauley 1835). Hier wird die Politisierung

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auch der Bereiche sichtbar, die üblicherweise als apolitische, rein ästhetische betrachtet wurden: literarischer oder künstlerischer Ausdruck, Kleidung, Habitus, Gesellschaftsformen, Lebensstil oder der Gebrauch von kulturellen oder religiösen Symbolen. Im späten 20. Jahrhundert begannen Wissenschaftler sich damit zu beschäftigen, wie koloniale Hegemonie nicht nur durch brutale Militärgewalt und die Macht der Ideologie oder des Arguments ausgeübt wurde, sondern auch dadurch, dass man den Einheimischen ästhetische Systeme „einimpfte“ oder „anerzog“, die ihren Geschmack, ihre Ansichten, ihre Moral und ihr Denken an die ihrer Herren anpassen sollten, um sie so zu „zivilisierten“ kolonialen Untertanen umzuformen (Said 1994; Comaroff und Comaroff 1997: Kap: 5–7). Indische Aktivisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, etwa die, die mit der Bengal Renaissance in Verbindung standen, wie auch solche, die wie Mukerjee von ihr inspiriert waren, wussten sehr wohl, dass das Anerziehen eines westlich geprägten Geschmacksinns tief und eng mit der kolonialen Unterdrückung verbunden war. Die Zivilisationsleistungen aus England bzw. Europa wurden immer mehr zu Objekten von Bewunderung, Liebe und Begehren, und die Wertschätzung für das Vermächtnis der eigenen Zivilisation geriet in den Hintergrund oder wurde vollständig negiert. Die Wiederbelebung der eigenen ästhetischen Formen im Alltagsleben, die in die Religion eingebettet waren und von ihr bewahrt wurden (Religion als der Bereich der menschlichen Erfahrung, der dem Erhabenen, dem Transzendenten und Idealen zugeordnet und zugleich zu einem Ausdruck des nicht-kolonisierten und des „authentischen Selbst“ gemacht wurde), rückte deshalb in das Zentrum antikolonialer Interventionen und Bestrebungen nach kultureller Revitalisierung (Sarkar 1992; Wakankar 1995; Goswami 2004: 251–260). Nur wenige Jahre später erreichten diese Entwicklungen ihren Höhepunkt in Mahatma Gandhis Kampagnen zur Förderung von swaraj („Selbst-Herrschaft“) mit Hilfe von nicht zuletzt dem Handweben und Tragen von khadiKleidung. Die Auseinandersetzungen über die Bedingungen indischer Souveränität kreisten zu jener Zeit aber nicht nur um kollektive sozio-kulturelle Souveränität als Hauptziel, sondern bezogen sich auch auf die Sorge um die Souveränität des Einzelnen. Es wurde vehement betont, wie wichtig es sei, ein „authentisches“ indisches Leben zu führen. Indisch-sein wurde nun nicht mehr negativ definiert, wie es im Diskurs der Kolonialverwaltung meist der Fall war, sondern positiv umgewertet. Hatten Kolonialbeamte immer wieder beklagt, den Einheimischen fehle es an Bereitschaft, ihre „traditionellen“ Praktiken zu verändern, und dies als Anzeichen für fehlende Bildung oder als Beweis für ihre „essentielle Irrationalität“ genommen, so behauptete Mukerjee, um nur ein Beispiel zu zitieren, darin finde eine konservative

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Haltung Ausdruck, sozio-kulturelle und religiöse Grundsätze mit eigenen Werten und Vorzügen bewahren zu wollen. In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass solche positiven Neubewertungen mehr als nur reiner Atavismus oder indigene Umkehrungen des kolonialen Diskurses waren. Die indische Kritik an der Kolonialherrschaft stimmte in eine umfassendere Zivilisationskritik ein, die sich in Europa und Nordamerika spätestens seit Anfang des 19. Jahrhunderts verbreitet hatte, und bezog sich zum Teil auch direkt auf sie (vgl. Fox 1989: Kap. 6; McGowan 2009: Kap. 2). In England und im ganzen British Empire prägten die Schriften von Samuel Taylor Coleridge, William Wordsworth, Thomas Carlyle, John Ruskin, William Morris und Leo Tolstoi diese Zivilisationskritik, die als „romantisch“ (Connell 2001) in die Geschichte einging. Diese Autoren problematisierten nicht nur die Auswirkungen des Industriekapitalismus auf die Lebensbedingungen, sondern sie bezweifelten auch, ob er wirklich allen mehr Wohlergehen bescheren würde. Darüber hinaus stellten sie die noch fundamentalere Fragen, ob überhaupt eine Gesellschaftsordnung auf rein rationalen Grundsätzen der Wissenschaft gegründet werden könne und ob Utilitarismus und politische Ökonomie nicht allzu materialistische und „mechanische“ Betrachtungsweisen seien, als dass sie die Bedürfnisse des menschlichen Daseins in ihrer Ganzheit erfassen und erfüllen könnten. In dieser Hinsicht standen Inder und Briten vor einem ganz ähnlichen Problem: Was waren die wirklichen Bedürfnisse der Gesellschaft wie auch des Einzelnen, um deren Erfüllung es ging? Ging der Fortschritt in die richtige Richtung? Oder diente er den finanziellen Interessen der Industriellen auf Kosten der Allgemeinheit? 4. Religion, Ästhetik und Imagination: die Politisierung des Fortschritts Eine ausführliche Behandlung der diskursiven und intellektuellen Wechselwirkungen zwischen dem, was man die romantische Kritik an der städtischen Industriegesellschaft nennen könnte, und den radikaleren Strömungen der indisch nationalistischen Debatte würde über den Rahmen des vorliegenden Beitrags hinausgehen, doch muss man sie wenigstens kurz streifen, will man die politischen Verflechtungen von Ästhetik und Imagination darstellen. Die indische Kritik an der Kolonialpolitik und am epistemologischen Rahmen der gängigen Definition von Fortschritt war deshalb so wirkungsvoll, weil sie sich inhaltlich mit Kritiken verschränkte, die in ähnlicher Form in England, in Europa und in Nordamerika geäußert wurden, und damit Teil einer romantischen Reaktion auf den moralischen und materiellen Zustand der Gesellschaft in der Nach-Aufklärungszeit wurde. Das fol-

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gende Zitat aus Thomas Carlyles Signs of the Times (1829), einem höchst einflussreichen Essay, der die romantische Kritik an der Lage Englands im Kontext der Ausbreitung von Industrie und Marktwirtschaft formulierte, ist besonders aufschlussreich: Wenn wir aber tiefer hineinsehen, werden wir finden, dass dieser Glaube an die Mechanik seine Wurzeln jetzt auch bis zu den tiefinnersten, ursprünglichen Quellen der Überzeugung des Menschen vorgestreckt hat; und deshalb in sein ganzes Leben und Handeln zahllose Triebe ausgesandt hat – Frucht-tragende und Gift-tragende. Die Wahrheit ist: Die Menschen haben den Glauben an das Unsichtbare verloren und glauben und hoffen und arbeiten nur noch im Sichtbaren, oder, um es mit anderen Worten zu sagen: Dies ist kein religiöses Zeitalter. Nur das Materielle, das unmittelbar Praktische und nicht das Göttliche und Spirituelle ist uns wichtig. Der unendliche, absolute Charakter der Tugend ist in einen begrenzten, eingeschränkten übergegangen: Sie ist nicht länger eine Verehrung des Schönen und Guten, sondern die Berechnung des Profitablen. Verehrung in jedem Sinn des Worts findet sich unter uns nicht mehr oder sie wird mechanisch als Furcht vor Leiden oder Hoffnung auf Vergnügen erklärt. Unsere wirkliche Gottheit ist die Mechanik. Sie hat für uns die äußere Natur unterworfen und wir denken, dass sie auch alle anderen Dinge für uns macht. Wir sind Riesen hinsichtlich physischer Kraft: In einem mehr als metaphorischen Sinn sind wir Titanen, die sich bemühen durch das Übereinandersetzen von Bergen auch den Himmel zu erobern (Carlyle 2010(1829): o. S.).

Auf dem Prüfstand stehe die Vorherrschaft der „mechanischen“, sichtbaren Prinzipien beim Lösen gesellschaftlicher Probleme, die einer materialistischen Herangehensweise den Vorrang gebe. Verloren gegangen sei die Wertschätzung der „dynamischen“, „unsichtbaren“ Prinzipien, die das Fundament der Gesellschaftsordnung bildeten und die im „religiösen Zeitalter“ noch dominant gewesen seien. Religion, die Befassung mit dem Göttlichen und dem Spirituellen, wird als eine eigenständige wichtige Form der Erkenntnis dargestellt, die den Menschen den Zugang zu höheren, nicht materiellen und nicht unmittelbaren (zweckrationalen) Zielen eröffne, wie der Tugend, dem Schönen und dem Guten. Carlyle schreibt weiter: Dank unserer Fähigkeit in der Mechanik ist es dahingekommen, dass wir in der Handhabung der äußeren Dinge alle anderen Zeiten übertreffen, während wir in jeder Hinsicht der reinen moralischen Natur in wahrer Würde der Seele und des Charakters wahrscheinlich den meisten zivilisierten Epochen unterlegen sind (ebd. o. S.).

Obgleich England große materielle Errungenschaften vollbracht habe, auf die es stolz sein kann, könne es moralisch mit anderen Epochen oder Zivilisationen nicht mithalten. Die Betonung auf dem materiell verstandenen Fortschritt sei zu Lasten der Kultivierung des menschlichen Subjekts erfolgt.

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In dieser Hinsicht schneide Indien bei einem Vergleich besser ab. Während England seine Verbindung zur „Dynamik“, zur „moralischen Wahrheit“, wie sie in der Religion enthalten sei, weitgehend verloren habe, sei diese in Indien noch sehr lebendig und stark. Dass „der Hindu“ weniger rational, aber religiöser und „jenseitsorientierter“ sei, war ein etablierter Topos im kolonialen Diskurs, den man oft heranzog, um Indiens fehlende Aufnahmebereitschaft für britische Reformen und seinen „sturen Traditionalismus“ zu erklären (Inden 2000: Kap. 3). Doch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Kritik an der städtischen Industriegesellschaft wuchs, nahm dieser Topos eine neue Bedeutung an. In diesem Kontext wurde Indiens „Spiritualität“, seine Kultivierung der Hingabe an das Göttliche im Licht von Carlyles Kritik an der britischen Zivilisation neu bewertet. Wenn Indien zivilisierter war, weil es die Verehrung des Guten und Schönen bewahrt hatte, warum sollten Inder dann weiterhin der Zivilisierung durch die Briten unterworfen werden? Sollten sich die Bemühungen nicht darauf richten, Indiens eigenes moralisches und ästhetisches Erbe zu kultivieren? Und tatsächlich nahmen die Briten im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, zu einer Zeit der ökonomischen und sozialen Unruhen, eine positivere Haltung zur indischen Zivilisation ein, zumindest in einigen einflussreichen Kreisen21. Auch die arts-and-crafts-Bewegung war bei der Formulierung ihrer Reformvorhaben nicht nur für die englische materielle Kultur sondern auch für die entsprechenden Produktionsbedingungen bei der Herstellung (McGowan 2006: Kap. 1) indischer Kunst beeinflusst. Ähnlich wandten sich auch Organisationen wie die Theosophische Gesellschaft, die zur „Förderung der Suche nach dem Wahren“ gegründet worden war, im Lauf der Zeit dem Studium der indischen Religion zu, von der sie viel zu lernen hofften22. Angeregt durch die neu gefundene Wertschätzung für die Verbindung zwischen „dem Guten, dem Göttlichen und dem Schönen“ wie auch für den Wert religiöser und spiritueller „Wahrheit“ innerhalb einer breiteren intellektuellen Strömung, für welche die Unzufriedenheit mit den Folgen des Wandels hin zur städtischen Industriegesellschaft kennzeichnend war, formulierten indische Intellektuelle wie Coomaraswamy und Mukerjee ihre ästhetisch und religiös inspirierten Entwürfe für eine alternative Gesellschaftsordnung. —————

21 Friedrich Max Müller spielte bei dieser Neueinschätzung der indischen Zivilisation eine herausragende Rolle, siehe z. B. Müller 1883. Diese positiven Umwertungen bestanden neben den fortdauernden Behauptungen vom rückständigen (oder „degenerierten“ Zustand) des zeitgenössischen Indien weiter. Siehe z. B. Leopold 1974. 22 Siehe z. B. Henri Olcotts Rede, die er 1876 zum ersten Jahrestag seiner Zeit als Vorsitzender und Mitbegründer der Theosophischen Gesellschaft hielt, nachgedruckt von der Theosophischen Gesellschaft 1890, Olcott (2000(1890)); ebenso Fox 1989: 107–111 und Bevir 1994.

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Ein weiterer Kritikpunkt stand in Zusammenhang mit dem, was Carlyle die Neigung zur „Mechanik“ im Denken der Nach-Aufklärungszeit nannte, nämlich „die distanzierte, unverbindliche Haltung der berechnenden Vernunft, die Sicht auf die Natur von außerhalb auf eine beobachtete Ordnung“ (Taylor 1989: 370). Dies mache nicht nur die Natur, sondern auch menschliche Beziehungen zum Objekt zweckorientierter Bestrebungen. Denn in einer moralisch neutralen, unverbindlichen und rationalistischen Welt gebe es außer den gemeinsamen unmittelbaren Zwecken kein höheres ethisches Prinzip, das die soziale Einheit begründen könne (ebd. 383). Die Romantiker sahen in einer solchen utilitaristischen und einseitigen Weltsicht eine Gefahr mit zerstörerischen Folgen für das menschliche Dasein. Sie betonten, dass die berechnende, unverbindliche Vernunft nicht die einzige Fähigkeit sei, mit der die Menschen ausgestattet sind, auch Empfindungen (sentiments) seien wichtig, denn diese seien eng mit dem Transzendenten verbunden, das uns mit Liebe und Ehrfurcht erfülle. Es seien daher die Empfindungen, die es den Menschen ermöglichen, zwischen richtigem und falschem Handeln zu unterscheiden, zwischen dem guten Leben und einem fehlgeleiteten. Empfindungen seien grundlegend, um zu bestimmen, was ein gutes Leben überhaupt ausmache. Dieses könne nicht einfach mit Wohlstand oder anderen materiellen Errungenschaften gleichgesetzt werden, sondern für ein gutes Leben sei der affektive Zustand wesentlich: Zufriedenheit, Vollkommenheit, Glück und Freude seien Empfindungen, die sich aus dem konkret gelebten „guten Leben“ heraus entwickelten. Es ist dieser Gedanke, den Mukerjee aufgreift, wenn er von den Vorzügen des indischen Dorflebens als Modell für wahren zivilisatorischen Fortschritt schreibt. Mit seinem Vergleich zwischen der städtischen Industriegesellschaft und dem autarken, glückseligen indischen Dorf greift Mukerjee romantische Behauptungen auf, dass gemeinsame (zweck)rationale Interessen keine angemessene integrative Basis für Gesellschaft seien. Die moderne Überzeugung, man könne eine Vielzahl einzelner Interessen ohne eine gemeinsame moralische Vision vereinen, sei nur möglich geworden durch die gesellschaftliche Dominanz wissenschaftlicher Prinzipien und deren vorrangiger Ausrichtung auf materiellen Wohlstand und Gewinnmaximierung. Die romantischen Denker hielten die moderne Transformation sozialer Beziehungen unter „mechanischen“ Prämissen für die Ursache von Armut, Ungleichheit und Massenverelendung in den Industriegesellschaften des 19. Jahrhunderts. Die zweckrationale Vernunft, die nicht durch einen Sinn für Tugend oder durch Empfindsamkeit gemäßigt werde, ermögliche erst die krassen gesellschaftlichen Ausbeutungsverhältnisse. Um diesen Zustand zu ändern, müsse man die gesamte Fehlentwicklung korrigieren, d. h. eine gerechte Gesellschaft müsse die Distanz und Unverbindlichkeit im Umgang

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miteinander in eine allgemein empfindsame Haltung umkehren. Diese Denkrichtung gewann eine besondere Bedeutung auf dem indischen Subkontinent. Die entfesselte berechnende Vernunft (verkörpert in den Prinzipien der politischen Ökonomie) habe Englands Kolonialpolitik bestimmt, die Indien im Namen der Arbeitsteilung und der gesteigerten Effizienz seines materiellen Reichtums und seiner moralischen Tapferkeit beraubt habe. In Mukerjees Konzept der zentralen Stellung der joint family als fundamentaler Einheit der moralisch und materiell gesunden indischen Gesellschaftsordnung hallt die romantische Vorstellung einer auf Empfindsamkeit gegründeten Gesellschaft nach. In den affektiven Beziehungen zwischen Familienmitgliedern (Mukerjee 1916: 23 f.) und zwischen Mitgliedern derselben Kaste (ebd. 45) sieht er die zentralen moralischen Impulse, eine gütigere, gerechtere Gesellschaftsordnung zu schaffen, in der Verbundenheit, Solidarität und Zusammenarbeit Vorrang vor Egoismus, Eigeninteresse und Konkurrenz hätten. Ähnlich ist auch seine Betonung der „Hingabe“ an das Göttliche, das alle Aspekte des Alltagslebens durchströmen soll, als Hinwendung zum Empfinden zu verstehen. Darin liegt nicht nur eine Abkehr von der distanzierten, berechnenden, unverbindlichen Vernunft, die durch die Kolonialverwaltung gefördert worden sein soll, sondern eine regelrechte Umkehrung der kolonialen Logik und der bestehenden soziopolitischen Verhältnisse. Mit der romantisch inspirierten Betonung des Empfindens als Bedingung moralischer Erkenntnis ging der Aufstieg des Ästhetischen als Erfahrungskategorie einher, die eine gefühlsbetonte Weise der Erkenntnis oder des Erfassens der „Wahrheit“ in den Blick rückte, die sich von der Vernunft nicht nur unterschied, sondern sogar in direkter Spannung zu ihr stand. Während sich der vernunftbetonte Zugang zur Welt auf einen logozentrischen und exoterischen Verstehensbegriff bezog, der die Realität distanziert und analytisch in Einzelaspekte untergliedert, betonte die romantische Weltsicht hingegen die ganzheitlichen, sinnlichen und esoterischen Formen der Erkenntnis, denen eine Verbindung zu transzendenten Wahrheiten unterstellt wird. Solche Wahrheiten könnten nur durch Nähe und Empathie, Eintauchen und Erfahrung erlangt werden, die dann ihrerseits wiederum Empfindungen im Betrachter hervorriefen, die in ihm tugendhafte Einsichten auslösten (vgl. Taylor 1989: 373). Da Schönheit die Empfindungen Ehrfurcht, Liebe, Freude und Heiterkeit hervorrufe, wurde ihr besondere Bedeutung beigemessen und sie wurde mit der Erkenntnis des Wahren, Guten und Rechten gleichgesetzt. Eine moralisch verbesserte Welt sei deshalb eine schönere Welt und umgekehrt sei eine schönere Welt auch eine moralisch höher stehende. Dies ist der Hintergrund, warum die Ästhetik für das Streben nach sozio-politischen Reformen in Indien und England gleich-

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ermaßen so wichtig wurde. In beiden Ländern sprachen Kritiker der urbanen Industriegesellschaft häufig von der Hässlichkeit der materiellen und gesellschaftlichen Formen, die dieser Gesellschaftstypus hervorbringe, und sahen sie in Zusammenhang mit wachsender sozialer Unzufriedenheit und gesellschaftlicher Anomie. Umgekehrt galten Kunst, handwerkliche Produktion und dörfliches Leben als Quellen idyllischer Schönheit und auch – aufgrund der romantischen Verknüpfung von Erhabenheit, Schönheit und Tugend – moralischer Rechtschaffenheit. Das Leben in den von Industrie geprägten Städten wurde mit Fragmentierung der Lebenswelt und monotoner Einförmigkeit assoziiert, d. h. mit der bloßen Reproduktion von standardisierten Formen sozialen Lebens und materieller Massenproduktion. Die handwerkliche Produktion und das Dorfleben dagegen förderten vermeintlich das Einzigartige und das Ganzheitliche auf eine so besondere Weise, dass sogar die Kleinigkeiten des Alltagslebens zu Formen schöpferischen künstlerischen Ausdrucks würden. In diesem Zusammenhang spielt für die von der Romantik inspirierten Denker die Imagination eine wichtige Rolle. Sie galt ihnen als die Fähigkeit des Menschen, dank einer besonderen schöpferischen Kraft, die eine esoterische oder transzendente Wahrheit vermitteln sollte, kreativ tätig zu sein und einzigartige Ausdrucksformen zu entwerfen (Taylor 1989: 378 f.). Unter diesen Ausdrucksformen der Imagination verstand man expressive Formen oder Kunst im weitesten Sinne. Von ihnen glaubte man, sie könnten beim Betrachten Empfindungen bewirken, durch die Schöpfertum und transzendente Wahrheit unmittelbar erlebbar werden. Imagination und die von ihr erzeugten expressiven Akte gewännen so ihre moralische Kraft. Materie und Form, Ethik und Ästhetik seien dadurch eng miteinander verflochten. Weil die ästhetische Erfahrung beim Menschen Empfindungen auslöse, entwickle er einen Sinn dafür, gutes und rechtes Handeln zu erkennen. Imagination wird danach definiert als menschliche Fähigkeit, sich die moralische Ordnung nicht nur vorstellen, sondern auch umsetzen zu können. Imagination und ethisches Handeln stehen dadurch in enger Verbindung. Da Imagination aber auch schöpferisch sei und neue Formen und neue Möglichkeiten des Seins hervorbringe, wurde sie auch mit Freiheit, Eigenständigkeit und Souveränität gleichgesetzt. In einem erweiterten Sinn war sie damit auch mit einem durch die Aufklärung geprägten Subjektivitätsverständnis in Einklang zu bringen, da in dessen Zentrum die Unantastbarkeit und somit fast schon Heiligkeit des selbstbestimmten souveränen Individuums stand: „die Verwirklichung von Gott im Menschen“ (Mukerjee 1916: 390). Folglich wurden auch alltägliche Handlungen und Praktiken analog zum göttlichen Schöpfungsakt betrachtet, denn auch in ihnen komme der individuelle und kollektive Schöpfergeist zum Ausdruck. Dieser

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quasi-göttlichen Schöpfungsfähigkeit verdanke der Mensch seinen besonderen Status in der kosmischen Ordnung als freies Wesen, das in der Lage ist, seine eigene Faktizität zu transzendieren und die Welt nach seinem eigenen Willen umzugestalten. Diese viel umfassendere expressive Dimension der Imagination übergehen einschlägige Arbeiten wie Anderson (1991) und Chakrabarty (2000) häufig, sie stellt jedoch einen wichtigen Aspekt der radikaleren Ansätze zum antikolonialen und antikapitalistischen Aktivismus dar. Mukerjee und Coomaraswamy betonen die Wichtigkeit der religiösen Ästhetik und der Imagination für ihre gesellschaftspolitischen Bestrebungen; damit bewegen sie sich innerhalb des allgemeineren Diskurses der ursprünglich in Europa entwickelten romantischen Kritik an Rationalismus und Utilitarismus. Im kolonialen Kontext bekamen die Diskurse der europäischen Romantik, derer sich Mukerjee und Coomaraswamy bedienten, jedoch eine neue politische Wendung. Für beide Autoren bedeutete schöpferische Imagination das Gegenteil von Imitation, besonders der Imitation der europäischen sozio-kulturellen Formen, die sie mit Industriekapitalismus verbunden sahen und als eine weitere Dimension der kolonialen Unterwerfung Indiens verstanden. Die Imagination dagegen könne Indien aus dieser imitatorischen, unterwürfigen Beziehung zum Westen befreien, vor allem durch Wiederbelebung indischer Zivilisationsformen und Kultivierung ihrer religiösen Ästhetik im Alltagsleben, denn ihnen schrieb man die Kraft imaginativer Fähigkeiten zu. Mukerjee, Coomaraswamy und andere maßen expressiven Praktiken in Kunst und Handwerk daher eine so hohe Bedeutung bei. Zur Imagination gehöre deshalb nicht nur eine besondere Weise des Sehens „hinter den Schleier des Realen“ (Chakrabarty 2000) oder eine spezifische kognitive Fähigkeit, sondern auch die praktische und materielle Verwirklichung dieser ästhetischen Formen in Tätigkeiten und Produkten des Alltagslebens. Darüber hinaus verbanden Mukerjee und Coomaraswamy ihre Reformbestrebungen mit der allgemeineren, von der Romantik inspirierten Kritik am Industriekapitalismus, in dessen Mittelpunkt das Elend der Fabrikarbeiter in den städtischen Industriekomplexen stand, und verknüpften so ihren Kampf gegen koloniale Hegemonie mit einem umfassenderen Streben nach menschlicher Emanzipation, v. a. aus kapitalistischen Unterdrückungsverhältnissen. Auf diese Weise verliehen sie den anti-kolonialen Interventionen und den indischen gesellschaftspolitischen Bestrebungen, ihr kulturelles Erbe wiederzubeleben, „universale“ Relevanz und damit größere Überzeugungskraft und Legitimität.

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5. Fazit Es sollte deutlich geworden sein, welche Bedeutung die Ästhetik, einschließlich die religiöse Ästhetik, und die Imagination für politische Bestrebungen zur Umgestaltung der Gesellschaft gewannen und wie durch deren Zusammenspiel neue gesellschaftliche Formen und Subjektivitäten ermöglicht wurden. Besonders in dem Diskurs über den „Geschmacksverrat“ konnte man sehen, wie die Ästhetik in die Diskussion über kollektive Identität und die Konstitution der indischen Gesellschaft als ein nicht nur sozio-kulturelles Kollektiv (vgl. Anderson 1991), sondern auch als eine moralische Gemeinschaft (d. h. eine moral community) und eine Gemeinschaft der Empfindungen (eine community of sentiment) einbezogen wurde (vgl. auch Schüler in diesem Band). Dieses Streben nach moralischer und affektiver Gemeinschaft, die sich auf die Hingabe an das Absolute und die Zuneigung zu den Mitmenschen gründen und damit über eine reine Interessensgemeinschaft hinausgehen sollte, verlieh gerade der religiösen Ästhetik eine besondere Bedeutung. Die Bewahrung, die Kultivierung und Förderung der religiös verankerten symbolischen Formen und Praktiken, in denen man den esprit de corps eines bestimmten Volkes verkörpert sah, wurden folglich zu einem integralen Bestandteil der Bestrebung, die auf affektiven Bindungen basierende kollektive Solidarität durch die Revitalisierung eines gemeinsamen Gesellschaftsentwurfs und einer gemeinsamen Ästhetik der Praxis (vgl. Traut in diesem Band) wieder herzustellen. Auf diese Weise werde das indische Volk die Souveränität über sein Dasein (wieder) gewinnen. Das „gute Leben“, das Gedeihen seiner Zivilisation und die kulturelle Integrität des Volkes waren deshalb mit der Wiederbelebung und Kultivierung ästhetischer Formen in der Kunst und im Alltagsleben verbunden, von denen man glaubte, sie seien wesentlich für das besondere Ethos, den Volksgeist, der indischen Zivilisation. Deshalb versuchten diejenigen, die ein radikaleres Programm zur Wiedergewinnung der indischen Souveränität verfolgten, über den Rahmen des kolonialen Staates und seine sozialistischen Alternativen hinauszugehen und eine „authentische“ indische gesellschaftspolitische Ordnung anzustreben. Wenn man diesen Aspekt nicht in seiner ganzen Bedeutung berücksichtigt, sondern den Blick zu eng auf die Verfassung des Nationalstaates richtet, verkennt man die Stoßrichtung der Bestrebungen von Mukerjee und Coomaraswamy. Ihre expliziten Ziele sind sehr viel unbestimmter und weit provokanter umschrieben und gehen über das Ziel der territorialen Souveränität des indischen Subkontinents hinaus. Auch auf eine andere Weise waren Ästhetik und Imagination eng mit dem Politischen verflochten, nämlich durch ihre Relevanz für die Zivilisationskritik innerhalb Europas. Der allgemein zivilisationskritische Tenor

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zeigt sich an der Art und Weise, wie sich die Bedeutung der ästhetischen Erfahrung und des Empfindens aus einer Kritik an der Aufklärung, insbesondere an der privilegierten Rolle der Vernunft, herausbildete und wie dann die Ästhetik als alternativer Zugang zu Wahrheit und Erkenntnis galt. Hatten die Enthusiasten der Aufklärung dank der Entfesselung und Kultivierung der menschlichen Vernunft übereinstimmend eine optimistische Sicht auf Fortschritt und Zivilisation, so interpretierten die Kritiker die zeitgenössische Situation eher pessimistisch. Nach ihrer Ansicht wurden viele Probleme der städtischen Industriegesellschaft durch die Überbetonung der unverbindlichen, distanzierten Vernunft (im damaligen Verständnis fast immer mit der Wissenschaft gleichgesetzt) und des Utilitarismus verursacht. Als Konsequenz aus dieser Zeitdiagnose betonten Kritiker der Aufklärung die tragende emanzipatorische Rolle des Empfindens und des ästhetischen Ausdrucks sowie der Kultivierung bestimmter Praxisformen, um eine moralische Vision und gemeinsame Werte zu realisieren und eine fragmentierte, verarmte und „verkommene“ Zivilisation mit sich zu versöhnen (vgl. Chakrabarty 2000: 168–169). Genauso bedeutsam war aber vielleicht, dass die von der Romantik inspirierten Denker die Vorrangstellung der Vernunft vor anderen Formen des menschlichen Urteilsvermögens und die damit einhergehenden Debatten über die Frage, wie eine Gesellschaft begründet sein solle, kritisierten und dadurch die angebliche Unaufhaltsamkeit und Notwendigkeit des Fortschritts im Sinne einer „Entfesselung“ der Vernunft und Verwissenschaftlichung der Gesellschaftsordnung in Zweifel zogen. Wissenschaftliche Prinzipien mögen die Mittel mit den Zwecken der Politik versöhnt haben und dienten auch der Rechtfertigung der Richtung des gesellschaftlichen Wandels. Doch durch die Kritik der Romantiker und derer, die von ihnen inspiriert waren, wurde zum Ausdruck gebracht, dass die Richtung des Fortschritts keine Zwangsläufigkeit darstellte. Auch ließen sich gesellschaftliche Grundlagen nicht einfach durch wissenschaftliche Deduktion herleiten. Das wurde – entgegen dem technokratischen Zeitgeist – besonders deutlich an der Widerstandsfähigkeit des sozialen (Alltags-) Lebens und seiner kulturellen und religiösen Formen. Letztlich waren nach kritischer Reflexion weder die Ausrichtung der damaligen Politik noch die angeblich konstitutiven Grundprinzipien einer Gesellschaft alternativlos, sondern Ergebnisse von Entscheidungen. Damit waren auch andere Wege des Fortschritts denkbar geworden. Die romantischen Zivilisationskritiker Großbritanniens und die von der Romantik inspirierten Kritiker der britischen Kolonialregierung entwarfen durch ihre von Ästhetik geleitete Epistemologie neue Vorstellungen darüber, was Fortschritt sei, und entwickelten neue Ideen, wie die gesellschaftliche Lage verbessert werden könne. Damit wurden aufklärerische Fort-

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schrittsvorstellungen und ein damit verbundener Wissenschaftsoptimismus denaturalisiert und die Diskussionen über Regierungspolitik und die Lage der Gesellschaft politisiert. Die Ästhetik und die bewusste Ästhetisierung des Religiösen stellen einen wichtigen Gegenpol zu Wissenschaft und Utilitarismus dar und wurden deshalb zu einer gemeinsamen Quelle der Inspiration für anti-hegemoniale Gegenentwürfe zum gesellschaftlichen und politischen Status quo des Kolonialstaats23. Die – durch religiöse Formen, Empfindung und ästhetische Praxis genährte – Imagination trat als eine Fähigkeit hervor, die auf eine andere Weise als die Vernunft wirkmächtig war und so zu einem Mittel wurde, Alternativen zu einer technokratisch überdeterminierten Gesellschaft vorstellbar werden zu lassen. Während die Vernunft das Nachdenken über den Zustand der Gesellschaft und die Richtung der Entwicklung über Prinzipien der Wissenschaftlichkeit einschränke, widerstrebe die Imagination den Begrenzungen der Vernunft, da sie von Empfindungen und Idealen geleitet werde, die aus religiösen, ästhetischen und religionsästhetischen Erfahrungen herrührten. Imagination suche stattdessen vielmehr das menschliche Denken und Handeln zu befreien, indem sie Möglichkeiten evoziere und erlebbar mache, die über die Faktizität des herrschenden lebensweltlichen Zustands hinausgingen. Es war daher die schöpferische Kraft der Imagination – die Fähigkeit, die Welt so zu sehen, wie sie sein könnte, und nicht, wie sie war –, welche die vorherrschenden gesellschaftspolitischen Gebote der Vernunft und der Wissenschaftlichkeit ebenso in Frage stellten wie die angebliche Zwangsläufigkeit der Geschichte. Dies entlarvte letztlich die Kontingenz herrschender sozio-politischer Ordnungen, seien sie kolonial oder kapitalistisch, und eröffnete damit den Horizont für Kritik und Transformation. Literatur Anderson, Benedict 1991. Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. Überarb. und erw. 2. Aufl. London und New York: Verso. Alter, Joseph S. 2000. Gandhi’s Body: Sex, Diet, and the Politics of Nationalism. Philadelphia: University of Pennsylvania Press. Ambirajan, S. 1976. „Malthusian Population Theory and Indian Famine Policy in the Nineteenth Century“. In: Population Studies 30.1: 5–14. Ambirajan, S. 1977. „Economics and Economists in the Formation of a Monetary Policy for India, 1873-1893“. In: History of Political Economy 9.1: 122–143. Ambirajan, S. 1978. Classical Political Economy and British Policy in India. Cambridge: Cambridge University Press.

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23 Zu einer ausführlicheren theoriegeleiteten Diskussion über die Bedeutung ästhetischer Praktiken für Kritik und Transformation politischer Ordnungen, siehe Mouffe 2007.

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Buddhist Superman Imagination und Bild im buddhistischen Diskurs des japanischen Mittelalters am Beispiel der narrativen Bildrolle über den Heiligen Hōnen Katja Triplett Im Beitrag werden Ideen über die Erzeugung und Wirkung von Bildern anhand einer ausgewählten mittelalterlichen Quelle, der narrativen Bildrolle Hōnen shōnin gyōjō ezu aus dem 14. Jahrhundert, analysiert. Der Beitrag stellt eingangs bildwissenschaftliche Ansätze vor, die sich vornehmlich mit Beispielen aus der europäischen Kunstgeschichte unter dem Blickwinkel vorherrschender ‚abendländischer‘ Ideen beschäftigen (Belting, Boehm, Bredekamp, Mitchell), und eröffnet eine Perspektive auf vom ostasiatischen Buddhismus geprägte Imaginations- und Bilddiskurse des mittelalterlichen Japan. Dabei werden zeitgenössische, innerjapanische Diskurse aufgezeigt, die an den zunächst als Häresie eingeordneten Lehren des Mönchs Hōnen (1133–1212) aufkamen und bis heute innerhalb und außerhalb der Reine(s) Land-Tradition geführt werden. Der Buddhismus dieser Tradition trägt ikonoklastische Züge und verortet Imagination in einem Absoluten, dem man sich durch eine bestimmte religiöse Praxis nähert. In diesem Punkt unterscheidet sich die Imagination von der bildanthropologischen Idee der Verortung von Imagination im Menschen. Aus etischer Perspektive ist hier die Imagination an das Kollektiv und ein traditionelles Repertoire an Bildern gebunden, die durch Texte, Bilder sowie Text-Bildkombinationen weithin bekannt waren. Emisch gesehen preist die hagiographische Bildrolle den Erfolg Hōnens als den eines herausragenden Individuums.

1. Zur Einführung Die Suche nach dem Ursprungsort der Bilder führt zu ihrem Entstehen im Prozess ihrer Wahrnehmung und erlaubt schließlich Aussagen zum Menschen als „einem Bilder produzierenden Wesen“ (Hüppauf/Wulf 2006: 231). Die Forderung nach einer neuen Bildanthropologie mit dem Menschen, dem menschlichen Körper und dem Blick im Mittelpunkt, besonders vehement vertreten von Hans Belting (2002(2001)), verhallt nicht ungehört. So sind in den letzten Jahren besonders auch von deutschsprachigen Autoren neue Beiträge zur wissenschaftlichen Erforschung von Bildern erbracht —————

1 Hüppauf/Wulf berufen sich auf Boehm, der die Kulturphilosophie Ernst Cassirers heranzieht, der „die Formen der Kultur in ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit“ als „symbolische Formen“ erfasst und den Menschen als animal symbolicum definiert (Cassirer 1996(1990, engl. 1944): 51).

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worden, die auch von der Religionswissenschaft rezipiert und weiterentwickelt wurden (etwa: Bräunlein 2004). Diese aktuellen theoretischen Ansätze – hier sind besonders die Arbeiten von Gottfried Boehm (1994, 2007, 2009), Horst Bredekamp (2008, 2009, 2010) und eben Hans Belting (2005, 2008) zu nennen – sollten auch auf die Analyse von Bildern aus Kulturen angewendet werden, die für die europäische Geschichte keine Bedeutung hatten2. Eine andere Möglichkeit wäre, sich mit außereuropäischen Bilddiskursen, zum Beispiel dem japanischen Bilddiskurs, zu beschäftigen, anstatt einen Beitrag zur ‚westlichen‘ Bildwissenschaft anhand ‚östlicher‘ Bilder zu erarbeiten. Da die geistes- und religionsgeschichtlichen und sprachlichen Grundlagen und Bedingungen in beiden Regionen im allgemein mit Mittelalter bezeichneten Zeitabschnitt3 äußerst unterschiedlich waren und eine gegenseitige direkte Einflussnahme auf die jeweiligen Diskurse in dieser Zeit wohl auszuschließen ist, kann angenommen werden, dass der innerjapanische Diskurs über Imagination und Bild im Mittelalter ein anderer war als der zeitgleiche Diskurs in Europa. Zufälligerweise könnten die beiden Diskurse aber auch zu identischen Ergebnissen kommen; dies ist nicht ausgeschlossen. Es soll in diesem Beitrag weniger explizit komparatistisch gearbeitet, als der Versuch unternommen werden, Ideen über die Erzeugung und Wirkung von Bildern aus einer ausgewählten mittelalterlichen japanischen Quelle, die narrative Bildrolle Hōnen shōnin gyōjō ezu 法然上人行 状絵図 (14. Jahrhundert), zu extrahieren, die zeitgenössische, innerjapanischen Diskurse zumindest ansatzweise aufzuzeigen vermag4. Die Quelle gehört zu dem in der Zeit typischen Genre der Bildhagiographie und ist dennoch als besondere und einzigartige Schöpfung einer Gruppe von Kalligraphen und Malern zu begreifen, die sich inhaltlich bewusst vom Üblichen

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In der Tat schöpft zum Beispiel Belting aus der Bilderwelt und Bildpraxis außereuropäischer Welten, etwa in Belting 1990: 336 f., dazu S. 341, Abb. 184; Belting 2002(2001): 49, Abb. 2.22 u. a. Akiyama drückt sein Erstaunen aus, die japanische Statue des Bodhisattva Jizō bei Belting zu sehen (2008: 9), die im Kölner Museum für Ostasiatische Kunst aufbewahrt ist; der Grund für Beltings Kenntnis dieser Statue mag darin begründet sein, dass er die Dissertation von Seon-Ja Cheon betreute, die die Kölner Statue untersuchte. Siehe zu außereuropäischen Welten besonders auch Beltings kulturvergleichende Studie: Belting 2008. 3 Das japanische Mittelalter wird in der Regel von 1185 bis 1573 u. Z. angesetzt. 4 Erste Überlegungen zu diesem Thema wurden von der Autorin im September 2010 auf Einladung der Bukkyō-Universität an derselben Universität in Kyoto vorgetragen. Der Vortrag erschien in einem Sammelband, der anlässlich des 800. Todestages Hōnen Shōnins veröffentlicht wurde (Toripuletto [d. i. Triplett] 2012). Die Autorin dankt der einladenenden Institution und den Kollegen dort, besonders Herrn Professor Kiyohiko Fujimoto. Auch Herrn Akeo Nishimoto sei hier ausdrücklich gedankt.

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abgrenzen wollten5. Das Hōnen shōnin gyōjō ezu ist also gleichzeitig gewöhnlich (repräsentativ) und außergewöhnlich (singulär) und daher besonders für die Untersuchung von Diskursen geeignet, die ja mit Abgrenzungsund Selbstbehauptungsstrategien arbeiten. Im Hauptteil dieses Beitrags soll der Fokus ganz auf der Quelle und seiner Begrifflichkeit sowie auf dem historischen Umfeld liegen, so weit es geht ohne Einordnung in die in Europa entwickelten Schemata. Auf Rückbezüge auf die Ideen der europäischen Geistesgeschichte kann methodologisch nicht ganz verzichtet werden, weil der Ausgangspunkt, dass der Mensch möglicherweise ein „Bilder produzierendes Wesen“ sei, ja ein Ergebnis der ‚westlichen‘ geisteswissenschaftlichen Forschung ist. Es wird sich zeigen, dass die zutiefst vom ostasiatischen Buddhismus geprägten Imaginations- und Bilddiskurse im mittelalterlichen Japan, die hier eingehender betrachtet werden, in ihrer grundlegenden Idee der Verortung der Imagination sich von der bildanthropologischen Idee der Verortung von Imagination, nämlich rein im Menschen, unterscheidet. Dieses Ergebnis könnte dann wiederum in einen komparatistischen Ansatz münden oder sogar neue Impulse für das Denken über Imagination geben: Ideen aus dem in Japan tradierten Mahāyāna-Buddhismus könnten demnach durchaus den aktuellen Imaginationsdiskurs in Europa befruchten, da nicht davon ausgegangen werden kann, dass alles, was in Europa gedacht wurde, hegemonial und universell übertragbar auf alle Kulturen und Religionen in ihren jeweiligen Zeitepochen sei6. Die vorliegende Studie geht jedoch nicht so weit; sie könnte aber als Anregung für dieses Experiment verstanden werden. Wie eingangs erwähnt, hat die neuere Bildwissenschaft Impulse auch für die Religionswissenschaft und die Beschäftigung mit religionsästhetisch bedeutsamen Phänomenen geliefert. Das Denken über ferne und fremde Bilder spielt in der Bildwissenschaft heute eine wichtige Rolle. Der Weg dorthin war jedoch weit, vor allem auch, was Bilder und Bildschaffen im Buddhismus betrifft. Dieser Weg soll einführend kurz beschrieben werden, um zu zeigen, in welcher speziellen Weise die kulturell-religiöse Vorprägung früher europäischer Buddhismus-Forscher in Bezug auf Bilderfreudigkeit oder Bilderfeindlichkeit – eine imaginationspolitische Prägung – die Wahl des Forschungsgegenstands beeinflusste. Dann erfolgt die Analyse

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5 Damit könnte die Quelle und einige erste analytische Ansätze dazu auch für weitergehende vergleichende Studien von bildhagiographischen Werken aus der europäischen Welt genutzt werden. 6 Der umgekehrte Fall ist natürlich ebenfalls anzunehmen: Auch in Ostasien Erdachtes muss nicht universell gültig sein.

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der japanischen Quelle im Hauptteil, angeschlossen von einigen Schlussbetrachtungen. 2. Die Furcht vor den inneren Bildern und die frühen BuddhismusForschungen Die neue Bildwissenschaft wurde von Gottfried Boehm, Horst Bredekamp, Hans Belting, W. J. T. Mitchell (z. B. 1986) und anderen in recht unterschiedliche Richtungen entwickelt. Boehm als einer der wichtigen Vertreter dieser Forschungsrichtung stellte grundsätzliche Überlegungen dazu an, wie Bilder Sinn erzeugen und ob Bilder einen eigenständigen Logos haben. Damit leitete er eine „ikonische Wende“ (iconic turn) ein. Dahingegen beschäftigt sich W. J. T. Mitchell unter dem Stichwort pictorial turn vor allem mit dem Bildergebrauch in den Alltagsmedien. Mitchell versucht, das Denken in Bildern – also Imagination – und über Bilder zu rehabilitieren, denn üblicherweise nimmt man in der westlichen Philosophie an, dass die Erkenntnis über die Sprache läuft und dass Bilder höchstens eine Vermittlerfunktion haben. Wegen der Bilderflut durch die neuen Medien scheinen viele den Eindruck zu haben, die Bilderflut nehme bedrohliche Ausmaße an und könnte die Sprache ins Abseits drängen. Grundsätzlich und stark vereinfacht ist zu sagen, dass in christlich geprägten Kulturen und Gesellschaften den äußeren Bildern Misstrauen entgegen gebracht wird, das auf das alttestamentliche Verbot des Schaffens äußerer Bilder zurückgeführt werden kann. Das Misstrauen, ja die Furcht, gegenüber Bildern stammt von der grundlegenden Einstellung gegenüber äußeren Bildern, die es vermögen, die inneren Bilder zu ersetzen oder von den erwünschten inneren Bildern des nicht sichtbaren Gottes abzulenken. Beate Fricke schlüsselt in ihrer Studie (2007) über das älteste erhaltene christliche Reliquiar, die Statue der Heiligen Fides, den komplexen Diskurs über Bilderverbot und erlaubter Bildpraxis in den verschiedenen Traditionen des Christentums auf, der nur schwerlich auf die Reaktion und Auslegung des Zweiten Gebots reduziert werden kann (Fricke 2007)7. Dennoch ist anzumerken, dass die Bildpraxis in Europa sich stets an dem biblischen Bilderverbot orientierte, welches auch Auswirkungen auf die Annäherung an die so überaus bilderreiche buddhistische Traditionen Asiens durch europäische Wissenschaftler gehabt hat, die die Buddhisten nicht gerne als „Götzendiener“ sehen mochten und —————

7 Für vergleichende Studien lassen sich besonders die Artikel von Hamburger (1989) und Bynum/Gerson (1997) heranziehen, die sich mit Bildpraktiken im europäischen Mittelalter beschäftigen.

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daher dazu tendierten, die Bildpraxis herunterzuspielen oder zu ignorieren. Der Buddhismus in Deutschland genießt eher den Ruf, eine bilderlose Philosophie zu sein. Viele Bilder aus der Welt des asiatischen Buddhismus sind in Deutschland jedoch bekannt und als Ausstellungsgegenstände in Museen und auch als Dekorationsgegenstand beliebt. Paradoxerweise wird Buddhismus als quasi bild- und ritualfreie Philosophie angesehen, obwohl der buddhistische Bilderreichtum auch in Deutschland inzwischen allgegenwärtig ist. Dieser zunächst eigentlich völlig verblüffende Zwiespalt zwischen Bilderlosigkeit und Bilderreichtum in der Wahrnehmung des Buddhismus Asiens geht auf die Rezeptionsgeschichte des Buddhismus als Philosophie und Texttradition in Deutschland und anderswo zurück8. Schaut man noch tiefer, so ist diese getrennte Wahrnehmung in der Haltung zu Bildern, hier besonders religiösen Bildern, ziemlich sicher in der christlich geprägten Welt zu begründen. Als die ersten Missionare nach China und Japan gelangten, fiel ihnen der Reichtum an buddhistischen Bildwerken sogleich ins Auge. Der Jesuit Matteo Ricci (1552–1610) schreibt über die Begegnung mit dem chinesischen Buddhismus ausführlich in seinem Bericht. Die Jesuiten waren überzeugt, es mit einer Religion zu tun zu haben, die zutiefst den als so schädlich angesehenen Götzendienst förderte (Sharf 2001: 1 f.). Diese Einstellung gegenüber der nicht-christlichen Religion hat sich bis heute geändert, dennoch verwundert es sehr, wie wenig in westlichen Publikationen zu Bilderkulten, dem Schaffen von Bildern usw. im Buddhismus zu finden ist, denn dass Bilder eine herausragende Rolle im Buddhismus Asiens spielen, steht außer Zweifel. Nun waren es besonders die protestantisch geprägten Gelehrten, die sich mit buddhistischen Traditionen beschäftigten und nach dem Gewohnten, also Schriften und Texten, suchten, in denen sie eine ursprüngliche Lehre eines Religionsgründers vermuteten. Daher spielte die Erforschung von Bildern zunächst überhaupt keine Rolle, da die Forscher ja gerade Bildern gegenüber feindselig bis uninteressiert gegenüber standen. Lediglich Bilder, die als Kunst gewertet wurden, fielen in den Wahrnehmungsbereich der westlichen Forschung und prägten die Sammlertätigkeit von Privatpersonen und Museen (Beltz 2011: 206)9. Wir haben daher eine weitere Schwierigkeit, sich einer anderen Interpretation von Bildern im Buddhismus zu nähern, und das ist die Präsentation der Quellen selbst, sowohl in Japan als auch in westlichen Ländern. Hier zeigt es sich, dass Quellen, die sich durch —————

8 Siehe zu einer Revision der Forschungsgeschichte zu buddhistischen Bildwerken besonders: Sharf/Sharf 2001, hier vor allem die Einleitung von Sharf 2001: 1–18; weiterhin die Studie zu „lebenden Statuen“ von Sarah J. Horton 2007. 9 Siehe auch Beltz 2008: 15–35.

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die Kombination von Bild und Text auszeichnen (wohl die überwiegende Mehrzahl aller religionsgeschichtlich bedeutsamen Quellen), häufig säuberlich in Bilder und Textpassagen aufgeteilt und den wissenschaftlichen Fachdisziplinen zugeordnet werden. Dies macht sich vor allem auch und gerade in der Bearbeitung japanischer Bildrollen (emakimono 絵巻物), die in der Regel Text-Bild-Kombination darstellen, bemerkbar und stellt ein gewisses Hindernis für die Analyse dar (Triplett 2001: 14f.) (siehe dazu konkret auf die hier untersuchte Quelle bezogen weiter unten). In den meisten westlichen Abhandlungen über buddhistische Traditionen – bzw. ‚den‘ Buddhismus – wird auch heute versucht, die Bilder als Symbole für bestimmte Lehren des Buddha zu sehen, so wie im Christentum das Kreuz ein Symbol für Jesus Christus und die Auferstehung ist. Die zweite Interpretation von Bildern im Buddhismus in westlicher Literatur ist häufig, dass Bilderverehrung (oder -anbetung) nur im Volk üblich war, die gelehrte Elite jedoch Bilderkulten entsagte (Sharf 2001: 8). Beide Interpretationen lassen sich anhand der Quellen jedoch nicht bestätigten, wie anhand der durch kaiserlichem Auftrag gegebenen Bildrolle über das Leben des Heiligen Hōnen deutlich zu erkennen ist, die nun Gegenstand der Betrachtung sein soll. 3. Die japanische Bildrolle über das Leben des Hōnen Shōnin Die Bildrolle über das Leben und Wirken des Mönches Hōnen Shōnin 法然上人 (1133–1212) wurde im Jahre 1307 (Ära Tokuji 徳治 Jahr 2) auf Befehl des abgedankten Kaisers Go Fushimi zusammengestellt und gilt als die quasi-offizielle Lebensgeschichte Hōnens. Zwischen etwa 1311und 1323 wurde das umfangreiche Werk ausgearbeitet und schließlich fertig gestellt. Die Fertigstellung erfolgte also rund 100 Jahre nach dem Tod des zunächst und zu seiner Lebzeit in kaiserliche Ungnade gefallenen, dann aber rehabilitierten, Mönchs der Tendai-Schule. Dieser Mönch hieß Hōnenbō Genkū 法然上人房源空, ist aber als Hōnen Shōnin, oder der Heilige Hōnen, bekannt. Hōnen ist für seinen als radikal empfundenen Bruch mit den in Japan vorherrschenden buddhistischen Lehrtraditionen berühmt und wird als Gründer der Reine(s) Land -buddhistischen Schule gefeiert. Hōnen sah in der hingebungsvollen und ausschließlichen Anrufung des Buddha Amitābha (ikkō senju nenbutsu 一向専修念仏), oder auf Japanisch Amida Butsu, den einzigen Weg, die Geburt in Amidas Reinem Land und damit das Heilsziel zu erreichen. Üblich in seiner Zeit war die Ansicht, viele verschiedene Praktiken führten zur letzten Geburt im Reinen Land und damit zur Befreiung vom Kreislauf der Wiedergeburten. Die Betonung auf eine

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einzige Praxis aus dem Kanon einer großen Vielzahl brachte Hōnen und seinen Schülerinnen und Schülern den Vorwurf der Häresie ein. Mehrere seiner Schüler wurden hingerichtet, viele – darunter auch Hōnen – in die Verbannung geschickt. Mehr dazu weiter unten im Zusammenhang mit der hagiographischen Tradierung bestimmter Episoden des Lebens dieses für die japanische Religionsgeschichte so bedeutenden Mönchs. Die Biographie von 1307 mit dem Titel Hōnen shōnin gyōjō ezu ist bei weitem die umfangreichste der bis heute bekannten sechs HōnenBiographien und im Prinzip eine Kompilation vorangegangener Lebensgeschichten, deren älteste etwa 20 Jahre nach dem Tod Hōnens niedergeschrieben worden sein soll10. Das Hōnen shōnin gyōjō ezu besteht aus einem Set aus 48 Querrollen (Faszikel), die in 237 Abschnitte eingeteilt sind. In jeden Abschnitt hat Shunjō, der Biograph, eine Abbildung11 eingebracht. Insgesamt sind es 235 Bildflächen, die eine hervorragende Quelle für bildwissenschaftliche Betrachtungen darstellen. Im Folgenden werden ausgewählte Szenen beschrieben und analysiert, in denen die Rede von einem Bild (zō 像) oder Bildern ist oder auf denen Statuen, Visionen und Erscheinungen von Gottheiten und anderen Wesen oder symbolischen Objekten abgebildet werden. Die Bildflächen in der Querrolle nenne ich im Folgenden „Szenen“. Die Abbildungen des Hōnen Shōnin gyōjō ezu liegen in Form des attraktiven Katalogs „Chion’in to Hōnen Shōnin eden“, der anlässlich des 850. Geburtstags des Heiligen veröffentlicht wurde (Kyoto National Museum 1982), jedoch ohne die Textpassagen vor. Die Textausgabe im Hōnen Shōnin-den zenshū (HDZ) wiederum ist mit nur wenigen Bildtafeln versehen, während die englische Übersetzung von Coates/Ishizuka (1949 [1925]) lediglich eine Auswahl an schwarz-weiß Abbildungen zeigt und auch im Text nicht angibt, an welcher Stelle die Abbildungen in der Bildrolle eingefügt sind, welches wichtige Hinweise auf die Interpretation der Text-BildKombination geben könnte. Eine komplette Zusammenschau des Werks in Text und Bild ist in der Ausgabe im Zoku Nihon emaki taisei12 möglich, während eine solche komplette Übersetzungsedition in einer westlichen Wissenschaftssprache bisher nicht veröffentlicht wurde. Der Gesamteindruck lässt sich vor allem durch Betrachtung der Ausgabe im Zoku Nihon emaki taisei oder natürlich des Originals herstellen, das im Archiv des —————

10 Diese vermutlich älteste ist auch illustriert laut Nakai 1994: 66. Zu weiteren Biographien und den modernen Text- und Bildausgaben siehe unten. 11 Man könnte auch ‚Illustration‘ sagen; jedoch kann auch ein Text eine Abbildung illustrieren. Bild- und Textprogramme sind in den japanischen Bildrollen und anderen piktorialen Narrativen häufig recht unterschiedlich in Aussage und Funktion. 12 Komatsu/Kanzaki 1981.

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Haupttempels der Reine Land-Schule (Jōdoshū 浄土宗), im Chion’in in Kyoto, aufbewahrt, jedoch aus konservatorischen Gründen gut behütet und nur selten ausgestellt wird. Zwei aktuelle Veröffentlichungen von Vertretern der Jōdoshū thematisieren die Illustrationen der Bildrolle ausdrücklich, wählten jedoch in erster Linie diejenigen Bilder aus, die Hōnen als Mensch unter Menschen zeigen (Nakai 2005; Watts/Tomatsu 2005). Die sogenannten Wunderepisoden, die piktorialen Darstellungen seiner Visionen, tauchen in den beiden Veröffentlichungen zwar nur am Rande auf, werden jedoch immerhin thematisiert. Die Haltung zur Bildpraxis innerhalb der Jōdoshū in Vergangenheit und Gegenwart ist ein interessanter Forschungsbereich, der in diesem Beitrag jedoch nur marginal angesprochen werden kann. Vielmehr soll die Annährung an buddhistische bzw. innerjapanische Diskurse über Imagination und Bild anhand der Bildpraxis in Hōnens Zeit (12./13. Jh.) bis zur Zeit der Niederschrift der quasi-offiziellen Lebensgeschichte (frühes 14. Jh.) unternommen werden. 4. Annäherung an mittelalterliche Bilddiskurse: ausgewählte Szenen des Hōnen Shōnin gyōjō ezu Besonders die Faszikel 7 und 8 des Hōnen shōnin gyōjō ezu sind reich an Szenen mit Visionen und Erscheinungen, da die Faszikel Hōnen Shōnins außergewöhnliche Fähigkeiten herausstellen wollen, die traditionell im Buddhismus als seltene, aber in der Sache nicht unübliche Konsequenz intensiven Studiums und ritueller Praxis gelten. Coates/Ishizuka (1949(1925)) erwähnen das Erreichen „okkulter Kräfte“ in dem einleitenden Satz zu Faszikel 7 und führen sogar für den gesamten Faszikel die Überschrift „Hōnen’s Occult Powers“ ein. „Occult“ ist m. E. gerade nicht zutreffend, da die Visionen und Erscheinungen – von denen noch gleich ausführlicher die Rede sein wird – als offensichtlicher Beweis für Hōnens tiefgreifendes Verständnis aller Lehren der verschiedenen buddhistischen Schulen aufgeführt werden. Die Kräfte sind weder geheim, noch sollen sie im Verborgenen geübt werden oder zum Ausdruck kommen. Vermutlich ist die Einordnung von Coates/Ishizuka jedoch eine – wenn auch etwas missverständliche – Beschreibung von Hōnens Erreichen ‚übernatürlicher‘ oder ‚übermenschlicher‘ Kräfte, die im Buddhismus mit den Sanskrit-Begriff siddhi (Jap. z. B. jōju 成就, „vollständig Erreichen“; jinken 神驗, „Erreichen; Erlangen übernatürlicher Kräfte“) bezeichnet werden. Den folgenden Faszikel 8 überschreiben Coates/Ishizuka dann mit „Hōnen’s Miracles“, auch wenn das Wort „miracle“ im Originaltext selbst nicht vorkommt.

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Auch sonst ist die Übersetzung der beiden recht frei, wenn sie auch offensichtlich gründlich vorgenommen und mit einem sehr hilfreichen Kommentarapparat versehen wurde. Aus diesem Grund führe ich, gerade wegen der japanischen Begrifflichkeit zu „Imagination“, meine eigenen Übersetzungen ausgewählter Passagen an. 4.1. Erkenntnis und die Realisierung des Imaginierten In Faszikel 8, 5. Abschnitt (= Szene 8.5) erscheint Hōnen Shōnin in veränderter Form wie ein Buddha-Bild, das jedoch nur für einen Menschen sichtbar ist. Im Text heißt es: Im selben Jahr [1204] am fünften Tag des vierten Monats besuchte der Shōnin den Tsukinowa-dono [= Kujō Kanezane, auch Zenkō, 1149–1207] und hielt eine längere Zeit Predigten ab. Als er aufbrach, warf sich Zenkō auf den Boden und erwies dem Shōnin seine Verehrung. Er berührte mit der Stirn die Erde und verblieb so einige Zeit, bevor er sich erhob. Mit Tränen erstickter Stimmte sprach der sodann: ‚Seht ihr, wie der Shōnin von der Erde abgehoben auf Lotusblüten durch die Luft schreitet, und dass hinter ihm ein Licht um sein Haupt erscheint?‘ [うしろに頭光現じて、出給つる をば見ずや].

Zwei Beistehende, die ebenfalls Schüler von Hōnen sind, sehen jedoch diese Erscheinung nicht. Die Brücke, auf der Kanezane (Zenkō), Hōnens hingebungsvollster und wohl auch einflussreichster Schüler, seinen Meister mit Abb. 1: Hōnen shōnin gyōjō ezu Szene 8.5 (Ausschnitt): einem Strahlenkranz um Hōnen erscheint auf der Brücke „wie ein Buddha“. das Haupt gesehen hat, wird dann „Strahlenkranz-Brücke“ genannt. Nach dieser Begebenheit verehrte Kanezane (Zenkō) ihn schließlich, so heißt es weiter im Text, tatsächlich wie einen Buddha (hotoke no gotoku 仏のごとく). Die Abbildung (Abb. 1) zeigt die Szene mit der Erscheinung von Hōnen auf der Brücke13; ein Begleiter des Heiligen ist dabei, gerade die Brück zu —————

13 Diese Abbildung aus dem Gyōjō ezu ist ohne Zweifel eine der bekanntesten; sie dient z. B. neben einer Porträtrolle von Hōnen als Frontispiz zu der Übersetzungsausgabe von Coates/Ishizuka. Farbabb. (Ausschnitt) (1949(1925): 19). Auf dem Gelände der BukkyōUniversität in Kyoto, die sich auf Hōnen bezieht, steht ein Bronzedenkmal mit Hōnen auf der Brücke.

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betreten; rechts im Bild – das Bild wird von rechts nach links gemäß der Leserichtung des japanischen Textes beschaut – ist Kanezane in seiner verehrenden Haltung zu sehen, weiter unten rechts im Bild die beiden anderen Schüler, von denen berichtet wird, dass sie die Erscheinung nicht sehen. Der Kontrast liegt hier zwischen dem im Staub knienden Kujō Kanezane, der als Regent des Kaisers und später Großkanzlers die Geschicke des japanischen Kaiserreichs lenkte, und dem einfachen Mönch Hōnen, der einem Buddha gleich über der Brücke in einer dem paradiesischen Reinen Land anmutenden Wassergartenlandschaft schwebt. Im Text wird mit dem Schriftzeichen 見 gearbeitet, das den Akt des Sehens mit dem bloßen, physischen Auge bedeutet. Das Licht, der „Strahlenkranz“, zeigt sich (genjite 現じて) dem Betrachter, d. h. Hōnen zeigt sich gewissermaßen als ein Buddha, dessen Körper strahlen und der sich durch die Luft bewegen kann. Nur Hōnens Schüler Kanezane kann diese wahre Natur jedoch mit seinen Augen wahrnehmen, da er einen besondere Hingabe empfindet und dies auch durch seine Körpersprache (auf die Erde niederwerfen, Stirn zu Boden drücken, weinen) allzu deutlich macht. Kanezane fragt, ob die anderen die Erscheinung (現) sehen können: Hier wird das Schriftzeichen 現 verwendet, in dem das Schriftzeichen für „sehen“ (ein Auge mit Beinen) ebenfalls als Element auftaucht (rechts). Das andere Element ist das Zeichen für „König, Herrscher“, welches etymologisch interessante Einsichten in die ursprüngliche Bedeutung des Zeichens geben mag. Im japanischen Kontext bedeutet 現 als japanisch utsutsu gelesen (die sino-japanische Lesung ist gen) einmal „Wirklichkeit“ im Gegensatz zu Illusion und Traum; auch „Bewusstsein“ und „Lebenssituation im Hier und Jetzt“ im Gegensatz zu Tod oder Jenseits, aber dann auch „Träumerei, Geistesabwesenheit“ sowie „Ekstase“ und „Vision“. Schein und Sein liegen hier zusammen und zeugen von einer Weltsicht, die das „Leben als Traum“ annimmt. Im buddhistischen Kontext ist gen 現 eindeutig der empirisch erfahrbaren Welt, als Materialisierung oder Manifestation zugeordnet. In der vorliegenden Bildrolle werden weiterhin Situationen in Abbildungen geschildert, in denen Menschen während der rituellen Versenkung in oder bei intensiver Konzentration auf ein Bild die im Bild dargestellten GeAbb. 2: Hōnen shōnin gyōjō ezu Szene 2.1: Der Mörder Saka’akira wird am Ende seines Lebens von Buddha Amida stalten in der Realität erins Reine Land geholt. scheinen. Szene 2.1 (Abb.

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2) zum Beispiel schildert in recht herkömmlicher Weise die Geschehnisse, wenn jemand, der an das Reine Land glaubt, stirbt: Die Abbildung zeigt Sada’akira, den Mörder von Hōnens Vater Tokikuni, in einem zur Veranda hin offenen Innenraum eines Gebäudes, das inmitten einer bergigen Landschaft steht. Vor Sada’akira sitzt ein Mönch, zwischen ihnen ist eine buddhistische Hängerolle zu sehen, auf der sehr wahrscheinlich die AmidaTrinität abgebildet ist. Auf der Veranda knien zwei Begleiter des sterbenden Sada’akira. Verfolgt man die Bildleserichtigung nach links, sehen wir einen Lichtstrahl, der von der Stirn des Amida-Buddha ausgeht, der mit seinen beiden Bodhisattva Seishi und Kannon aus den Bergen herabkommt, um Sada’akira ins Reine Land zu geleiten. Von Amida ist lediglich der Oberkörper zu sehen, der Unterkörper ist von der Berglandschaft verdeckt, so dass es aussieht, als tauche Amida gleichsam hinter den Bergen auf, wie die Sonne. Diese Darstellung ist auch in Einzelbildern bekannt als „Der aus den Bergen kommende Amida“ (yamagoe Amida-zu 山超阿弥陀図), von denen Exemplare aus dem 12. und 13. Jahrhundert überliefert sind, d. h., dass den Menschen dieser Epoche dieses Motiv vertraut war14. Dem Mörder des Vaters des damals nur neunjährigen Hōnen ist es trotz der abscheulichen Tat vergönnt, eine „Hingeburt“ (ōjō 往生) im Reinen Land zu erlangen. Der Text beschreibt, dass Saka’arika reumütig ist, den Namen des Buddha ruft und seine Hoffnung auf die Hingeburt setzt. Nur dann kann man, so ist Hōnens zentrale Lehre, letztendlich Frieden und Erlösung finden. Der Text kontrastiert die Scheußlichkeit des Verbrechens mit Abb. 3: Hōnen shōnin gyōjō ezu Szene 1.5: dem barmherzigen Verzicht der Hōnens sterbender Vater Tokikuni ruft den Blutrache von Hōnen auf Bitten des Namen des Buddha Amida. sterbenden Vaters, der den Jungen erst auf den geistlichen Weg bringt. Die beiden Bilder um diese Textstelle hingegen kontrastieren den dramatischen Tod Tokikunis mit Blick auf eine Amida-Statue und zum Klang eines Gongs wohl im Rhythmus des Namensanrufens (nenbutsu) (Szene 1.5, Abb. 3) mit dem schwer sündigen Saka’akira am Ende seines Lebens, der dennoch höchstpersönlich von Amida ins Reine Land geholt wird (Szene 2.1, Abb. 2). Szene 2.1 betont die unendliche Gnade des Amida Buddha, der Text die ungewöhnliche Reife —————

14 Beispielsweise die als Nationalschatz designierte Hängerolle (Malerei) aus dem Eikandō Zenrinji, Kyoto.

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des jungen Hōnen. Text- und Bildprogramm unterscheiden sich also – nicht nur hier – aber ergänzen sich und transportieren Bedeutung auf verschiedenen Wahrnehmungsebenen für den Leser bzw. den Betrachter15. Außer Amida, Kannon und Seishi erscheinen während der rituellen Versenkung auch andere Gestalten in der Realität. In Szene 7.1 (Abb. 4) manifestiert sich Bodhisattva Fugen 普賢菩薩 (Sanskrit: Samantabhadra) auf dramatische Weise so, wie es in einer Lehrschrift beschrieben steht. Bei dieser Lehrschrift handelt es sich laut Text um das Lotus-sūtra (Hokekyō 法華経), das den wichtigsten Text der buddhistischen Schule Tendaishū 天台宗 darstellt, in die Hōnen ordiniert wurde. Verfolgt man wieder die Leserichtung von rechts nach links, sieht man zunächst einen wolkenverschleierten kahlen Baum und dann die schlichten Bretter einer Veranda. Die Bildrolle weiter Abb. 4: Hōnen shōnin gyōjō ezu Szene 7.1: aufgerollt, offenbart sich eine WolHōnen erschaut Bodhisattva Fugen auf dem ke, die dann das eindrucksvolle weißen Elefanten Reittier des Bodhisattva Fugen zeigt: einen prächtig geschmückten, weißen Elefanten. Vom Bodhisattva selbst sind nur der Lotusthron und die im Meditationssitz verschränkten Beine zu sehen. Im Gegensatz zu dem Kaiser, dessen Oberkörper in der Regel in Bildrollen stets durch Vorhänge oder Gebäudeelemente bzw. Wolkenschleier verdeckt ist, werden Bodhisattvas jedoch häufig und gerne vollständig nach den üblichen ikonographischen Gepflogenheiten abgebildet. Dem Bildbetrachter erscheint Fugen vom Dach des Gebäudes verdeckt. Durch diese Abb. 5: Hōnen shōnin gyōjō ezu Szene 8.4: sehr geschickte Darstellung wird Bodhisattva Seishi umwandelt den Altar in der vom Maler betont, dass Hōnen, der Runde der Mönche vor Hōnen (rechts im Bild). —————

15 Die Szenen 37.8 und 8.3 schildern ebenfalls das „in diese Welt-kommen“ oder „Realwerden“ der Amida-Trinität. Die beiden Szenen sind für das Thema Imaginationspolitiken besonders interessant, da Hōnen sich hier offensichtlich von herkömmlichen Haltungen zu Bildern und Imagination absetzt. Sie werden daher weiter unten genauer analysiert.

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links im Bild vor einer Ausgabe des Lotus-sūtra in ehrerbietiger Haltung mit nach innen gekehrtem Blick sitzend abgebildet ist, sehr wohl die gesamte Gestalt des Fugen erblicken kann. Denn Hōnen sitzt unter dem Dach und könnte den Blick nach oben richten. Wieder zeigt uns das Bild einen Kontrast auf: Fugen bleibt ein inneres Bild für den Bildbetrachter, als äußeres Bild ist es ihm verwehrt. Hōnen jedoch erschaut Fugen in seiner Versenkung und hat gleichzeitig die Möglichkeit, Fugen in dieser Welt als äußeres Bild zu sehen. Das Thema, dass nur Hōnen – wegen seiner außergewöhnlichen Einsicht – die buddhistischen Gestalten sehen kann, wird auch in Szene 8.4 (Abb. 5) sehr schön deutlich. Die Szene führt eine Passage im Text aus, in der Hōnen und eine Gruppe von Mönchen im Jahr 1205 in einem Tempel 37 Tage lang unablässig einen zentral im Raum aufgebauten Amida-Altar umwandeln. Der Altar und der Sockel der Amida-Statue sind im Bild zu sehen, jedoch durch das Dach oben vom Blick abgeschnitten. Zentral im Bild ist die volle Gestalt des Bodhisattva Seishi zu sehen, der weder auf einem Lotusthron steht, noch auf einer Wolke. Wie die Mönche schreitet er eingereiht um den Altar, direkt vor Hōnen, der ihn mit lebhaftem Gesicht anschaut. Alle anderen Mönche, außer einem jungen Mann direkt hinter Hōnen, starren woanders hin, zwei kratzen sich verwundert am Kopf, als ob sie etwas Ungewöhnliches im Raum erahnen. Der Text erzählt, dass der Abb. 6: Hōnen shōnin gyōjō ezu Szene 38.1: eines nach Westen fliegenden DharRaum voller Licht war, obwohl Traumbild ma-Rades als Zeichen der Hingeburt (Tod) keine Laternen brannten. Der junge Hōnens. Mönch hinter Hōnen ist vermutlich sein Schüler Hōrenbō Shinkū 法蓮房信空 (1146–1228), der laut Text den Bodhisattva Seishi sieht (haisu 拝す) aber denkt, es wäre ein Traum (夢のごとくに). Er fragt Hōnen, ob Seishi tatsächlich den Altar umwandelt hat, woraufhin sein Meister dies bestätigt. ‚Echte‘ Traumbilder oder -visionen, die von verschiedenen Personen laut Text gesehen und gedeutet werden, kommen ebenfalls zur ausführlichen und ‚realistischen‘ Abbildung in dem Werk (z. B. Szene 38.1 [Abb. 6] und andere).

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4.2. Materalisierung von Traum- und Schattenbildern: Kopien des imaginierten Bildes Über die materielle Herstellung von Traumbildern oder -visionen Hōnens als Malerei oder Statue wird ebenfalls in der Bildrolle berichtet und eine Szene auch im Bild dargestellt. Innere Bilder werden hier – meist auf Veranlassung des Heiligen hin – zu äußeren, materialisierten Bildern. Dieses Motiv ist zwar nicht besonders ungewöhnlich für Hagiographien des japanischen Mittelalters, jedoch taucht das Motiv im Gyōjō ezu recht häufig auf. Hier können nur wenige Beispiele angeführt werden: Szene 7.5 (siehe Farbtafel 6 und 7 im Anhang) schildert Hōnens Treffen mit dem chinesischen Mönch Shandao 善導 (Jap. Zendō), einer für die Legitimierung der von Hōnen geprägten Lehre zentralen Gestalt, im Traum. Hōnen beauftragte einen Maler damit, sein Traumbild zu malen (ゆめに見るところを 図せしむ ). Im Text heißt es dann: „Es wurde als ‚Zendō im Traum‘ weithin bekannt. Dieses Portrait 面像16 unterschied sich in Nichts von dem Portrait 影像17, welches später von China herüberkam.“ Mit Letzterem ist vermutlich eine Malerei der Fünf Patriarchen des Reine Land-Buddhismus gemeint, die von China nach Japan erstmals 1168 eingeführt wurde. Laut einer anderen Biographie soll Hōnen seinen Traum jedoch erst 1175 gehabt haben, also nach Einführung des Bildnisses. Wichtig ist hier in der Bildrolle jedenfalls die Betonung auf die Wahrhaftigkeit des im Traum Geschauten. Als äußerer Beweis dient der Vergleich der beiden Portraits, wobei das Traumbild wohl das Antlitz des Zendō zeigt, und es sich bei dem Bild aus China um ein im Kultbild handelt, dessen Bezeichnung wörtlich übersetzt „SchattenBild“ (eizō 影像) bedeutet und daher als Schatten eine Art natürliches Bild eines Menschen Abb. 7: Hōnen shōnin gyōjō ezu Szene 7.6: Hōnen Shōnin sieht oder Objektes aus der während seiner Praxis das Reine Land und Amida Buddha „in ‚realen‘ Welt. Eine zuWirklichkeit“. sätzliche Pointe ist vielleicht die Tatsache, dass die Illustration (Farbtafeln 6 und 7 im Anhang) zu dieser Textpassage in der Bildrolle selbst auch das Traumgesicht, „Zendō im Traum“, zeigt, allerdings in einem narrativen Setting mit Hōnen rechts im Bild am Ufer des im Traum gesehenen Gewässers. ————— 16 17

Menzō 面像, „Portrait“; wörtlich: „Bild, Statue des Gesichts, Antlitzes, Maske“. Eizō 影像, „Portrait“; wörtlich: „Schatten-Bild“.

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Die Szenen 7.6 (Abb. 7) und 8.2 (Abb. 8) zeigen weitere Visionen, die Hōnen Shōnin während der nenbutsu-Praxis hat, und die er dann sozusagen in Form von materiellen Bildern ‚kopiert‘: Einmal ist es seine ‚authentische‘ Vision des Reinen Landes, das in den Lehrschriften sehr ausführlich und ‚bildhaft‘ beschrieben wird und daher der ‚Wiedererkennungswert‘ auch für die Betrachter der Bildrolle garantiert ist. In Szene 8.2 (Abb. 8) erscheint ihm Seishi, etwa mannsgroß (ichijō 一丈)18; Hōnen beauftragt einen Künstler, der die „Gestalt nachbilden“ (相をうつし) soll. Das Schriftzeichen 相 soll laut Ōhashi (2002, Bd. 1: 72) sugata gelesen werden, welches üblicherweise die Lesung des Schriftzeichens 姿, „Gestalt; Form; Aussehen“ darstellt. 相 (sinojapanisch sō gelesen) hat eine stark buddhistische Konnotation, da es zwar ebenfalls mit „Gestalt“, aber in Abb. 8: Hōnen shōnin gyōjō ezu Szene 8.2: Bodhisattva Seishi in etwa mannsgroßer Gestalt diesem Kontext eher mit „Merkmal, erscheint Hōnen, der Seishi in Form einer Kennzeichen, Charakteristikum“ Kultstatue „nachbilden“ lässt. übersetzt werden kann. Im Zusammenhang mit Buddha-Bildnissen werden mit 相 die Attribute oder Merkmale (Sanskrit: lakṣaṇa) der „wahren“ Gestalt eines Buddha oder Bodhisattva bezeichnet. Die resultierende Statue (oder Malerei) von Seishi diente dem Heiligen lange Zeit als Verehrungsobjekt, heißt es weiter im Text. 4.3. Verkörperungspolitik und Ebenbilder Interessant ist hier die recht häufige Erwähnung von Bildnissen von Hōnen selbst. Im Text ist beispielsweise die Rede von einem Bild von Hōnen Shōnin, das „genauso“ aussieht wie er (Szene 8.7). Die Abbildung ist recht unspektakulär. Der Betrachter hat durch einen geöffneten Fensterladen Einblick in einen Innenraum, in dem ein Tisch aufgestellt ist. Hōnen sitzt davor und schreibt in den Textfeldern, die über dem Portrait aufgeklebt sind und wie üblich Platz für eine Widmung oder einen anderen auf das Bildnis bezogenen, bedeutungsvollen Text bieten. Das Portrait Hōnens auf der —————

18 Coates/Ishizuka schreiben „more than ten feet in height“, welches ca. 3 m wäre; im China des Altertums betrug 1 jō nur ca. 1,7 m, also etwa die Körpergröße eines Menschen. Da auch die Szene 8.2 (Abb. 8) einen nicht übermäßig großen Bodhisattva zeigt, ist hier eher von dem alten chinesischen Längenmaß auszugehen, zumindest scheint der Künstler dies so interpretiert zu haben. Auf der anderen Seite können Text und Bildprogramm auch durchaus unterschiedlich sein, so dass der Text auch mit „von mehr als 3 Metern“ übersetzt werden könnte.

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Hängerolle in der Abbildung ist deutlich zu identifizieren. Im Text steht, dass Hōnen der Bitte seines Schülers und gleichzeitig Malers des Portraits (shinkei 真影, „wahrer Schatten, Umriss, Spiegelbild“)19 um eine Widmung zunächst nicht nachkommt, sondern das Bildnis eingehend anhand von zwei Handspiegeln und seinem Spiegelbild im Wasser einer Schale eingehend prüft, noch Verbesserungen an dem Portrait vornimmt, bis er zufrieden bemerkt, dass es ihm nun ähnelte (これこそ似たれ). Später erfüllt der Meister jedoch die Bitte seines Schülers und schreibt eine Widmung, die der Autor der Biographie, Shunjō, wörtlich überliefert und kommentiert. So wählt Hōnen ein Zitat aus einer Lehrschrift aus, in der Seishi sein Moment des Erlangens der vollständigen Erkenntnis oder „Durchdringung“ (entsū 円通) bekanntgibt. Die Schlussfolgerung ist, dass alle um Hōnen herum verstehen, dass er selbst eine Manifestation (ōgen 応現) des Bodhisattva Seishi ist. Shunjō berichtet weiter, dass er das Bildnis mit seinen eigenen Augen gesehen und eine Kopie in sein Werk eingebracht hat, um als Inspiration für zukünftige Generationen zu dienen20. Obwohl diese Art des Portraits als wahrem Schatten ‚unserem‘ Verständnis eines realistischen Bildes im Sinne einer real existierenden Motivvorlage entspricht, kommt es bei diesem Bild nicht (nur) darauf an, dass es Hōnen so präzise wiedergibt, sondern dass man durch das Bild die wahre Natur von Hōnen, also sein Bodhisattva-Sein erkennt. Die Erkenntnis bezieht sich also wieder auf einen imaginativen Bestandteil. Dies kann hier aber nur durch den Text der Bildrolle geklärt werden, weil es um eine Bedeutungszuschreibung geht. Shunjō, der Biograph, fordert seine Leser also auf, ein Bild „anders“ zu sehen. In einem weiteren Fall geht es um das Bild des Bodhisattva Seishi, das eigentlich ein Bild von Hōnen Shōnin darstellt, also im Prinzip der umgekehrte Fall bzw. eine Ergänzung zum eben geschilderten Beispiel (Szene 8.7). Die Aussage findet sich jedoch lediglich im Text der Bildrolle (nach Szene 8.7): Es wird berichtet, dass Hōnen während eines Aufenthalts in einem Tempel ein Bildnis von Seishi erschuf und ein Schreiben hinterließ, das besagt: „Der ursprüngliche Körper (honjishin 本地身) von Hōnen ist —————

19 In der griechischen Antike liegt der legendäre Ursprung der Malerei im Nachzeichnen des Schatten eines Menschen. Die so genannte „Schattenmalerei“ (skiagraphia) handelte sich jedoch als Illusionsmalerei von Platon den Vorwurf ein, Fiktion (mimesis) zu erzeugen, obwohl der Schatten an sich als ‚natürliches‘ Bild Platons Zustimmung fand. Siehe dazu Belting 2002(2001): 181–184; auch 174. Belting bezieht sich auf Platons Sophistês, in dem auch der Traum und das Spiegelbild („Doppelschein“) als natürliche Bilder, also als Werke göttlicher Hervorbringung, eingeordnet werden, die einfach das die Sache ‚begleitende Bild‘ abgeben. 20 Dieses Bildnis ist jedoch in der frühesten, heute erhaltenen Kopie der Bildrolle nicht (mehr) zu finden.

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Bodhisattva Seishi. Habe [das Bildnis] in diesem Tempel aufgestellt, um alle Lebewesen zu erretten.“ Shunjō betont, dass der Heilige eine Manifestation, die „zurückgelassene Spur“ (suijaku 垂迹), des Bodhisattva Seishi sei. Im japanischen Mittelalter war der Gedanke weit verbreitet, dass Menschen und auch die einheimischen Gottheiten und andere Lebewesen in Wirklichkeit Buddhas (und Bodhisattvas) sind, die ihren wahren, ursprünglichen (honji) Körper verbergen, um in der Welt ohne großes Aufsehen zu erregen agieren und andere auf den Weg der Erlösung führen zu können. Die Buddhas und Bodhisattvas hinterlassen sozusagen in der Alltagswelt ihre Spuren (suijaku). Mit diesem honji-suijaku-Gedanken konnten verschiedene religiöse Verehrungsformen in einem buddhistisch konnotierten System eingebracht werden. Gleichzeitig fand der Gedanke offensichtlich auch bei neueren religiösen Strömungen Anklang, um die Gründergestalt weiter zu erhöhen und sie als werdenden Buddha zu präsentieren. Diese Apotheosestrategie findet sich nicht nur im Hōnen-Buddhismus sondern auch in anderen buddhistischen Schulen. Ein letztes Beispiel eines in der vorliegenden Bildrolle aufzufindenden Verhältnisses von Körper und Bild ist in den Szenen 37.6 (Abb. 9) und 48.3 (Abb. 10) zu sehen: Hōnen Shōnin verkörpert sich hier als Bild. Szene 37.6 (Abb. 9) gewährt einen Blick aus der Vogelperspektive auf einen HausAbb. 9: Hōnen shōnin gyōjō ezu Szene 37.6: Ein innenraum, dessen Dach weggelasBlick in den Altarraum eines Hauses mit „versen wurde; dies ist ein übliches wehtem Dach“: oben Hōnen als lebensgleiche Stilmittel in japanischen Bildrollen, Kultstatue, links Statuen der Amida-Trinität. das die Bezeichnung „verwehte Dächer“ (fukinuki yatai 吹抜屋台) trägt. Im Innenraum sieht man ein Podest mit den Statuen von Amida und seinen beiden Bodhisattvas Seishi und Kannon. Die drei Statuen, besonders die beiden Bodhisattvas, wirken nicht wie leblose Altarobjekte, sondern als ob sie mit Leben gefüllt wären. Japanische Legenden berichten häufig von Statuen, die lebendig werden und den Gläubigen in der Not helfen (Horton 2007). Die Darstellung der Amida-Trinität unterscheidet sich kaum von der vorhergehenden Szene 37.5, in der sie auf Wolken herbeigeschwebt kommt, um Hōnen ins Reine Land zu begleiten. In Szene 37.6 wird lediglich durch das Altar-Setting deutlich, dass es sich um Statuen handeln muss. Rechts in einer Nische sieht man Hōnen mit seiner Gebetskette in der Hand auf einem niedrigen Stuhl sitzen. Auch hier weiß man wegen der narrativen Abfolge, dass es sich um eine

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Statue des jüngst verstorbenen Heiligen handeln muss, obwohl das Portraitbildnis aus lackiertem Holz wirkt wie der lebendige Mensch. Besonders frappierend ist die Darstellung Hōnens in der Szene 48.3 (Abb. 10): Die Rahmung der Hängerolle und ein Altartischchen weisen eindeutig auf eine Malerei als Verehrungsobjekt hin, das Bild von Hōnen sieht jedoch so ‚lebensecht‘ aus, als säße der Heilige mit seinen engen Schülern im Kreise wie zu seinen Lebzeiten. Kū Amidabutsu 空阿弥陀仏, dessen Haus wir hier sehen, sitzt vor dem Bildnis und ruft den Namen des Buddha Amida, ein Räuchergefäß in der Hand haltend. Im Text heißt es: „Da Kū Amidabutsu den Shōnin wie einen Buddha verehrte, bat er den Minister zur Linken des Fünften Hofranges Nobuzane, den Sohn des Ministers zur Rechten des FünfAbb. 10: Hōnen shōnin gyōjō ezu Szene 48.3: Nenbutsu-Praxis um das von Fujiwara Nobuzane ten Hofranges Takanobu, ein Porgemalte „Ebenbild“ vom Heiligen Hōnen. trait (shinkei) des Shōnin zu malen; dieses verehrte er sein Leben lang als Hauptverehrungsobjekt.“ Der genannte Maler war ein gefeierter Künstler aus dem mächtigen Adelsgeschlecht der Fujiwara. Die Epoche, in der Hōnen lebte und in der Shunjō die Biographie zusammen stellte, zeichnet sich durch seinen besonders ‚naturalistischen‘ Kunststil aus, wie man besonders an den überlieferten Portraitplastiken, aber auch an den Malereien erkennen kann. Fujiwara Nobuzane 信実 (1177–1265) wird als einer der ersten und herausragendsten Portraitmaler Japans in diesem Stil eingeordnet, wobei sein Vater Takanobu 隆信 (1142–1205) ihn in Malerei ausgebildet hatte. Ihre Portraitbildnisse werden mit „Ebenbilder“ (nise’e 似絵) bezeichnet; die meist kleinformatigen Bilder sollen vor allem das Wesen des oder der Dargestellten mit wenigen Pinselstrichen treffen. Takanobu war auf diese Art von Bildern spezialisiert gewesen. Man erinnere sich in diesem Zusammenhang an die Episode, als Hōnen sein Portrait anhand von Spiegelbildern seiner Person eingehend überprüft und erst nach einigen Korrekturen an dem Gemälde feststellt, dass es nun ebenso aussehe wie er. Hōnen wünschte sich wohl ein solches nise’e. Jedoch werden Portraits religiöser Personen, die für den Kult bestimmt waren, in der Kunstgeschichte nicht mit nise’e bezeichnet, da die Kultbilder typischerweise idealisierte und standardisierte Darstellungen waren. Dabei konnten

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sie dennoch ‚realistisch‘ gestaltet, aber dann nicht zwingend ‚Ebenbilder‘ der Portraitierten sein21. So spricht es für die besondere Imaginationspolitik der Hōnen-Buddhisten, dass besonders ‚realistische‘ Abbildungen eine große Rolle spielen sollten. Im Text wird immer wieder auch von der Überlieferung der kostbaren Portraits und Bilder berichtet, nämlich, dass sie in die Bestände des Haupttempels Chion’in in Kyoto aufgenommen und eifrig im Kult verwendet wurden. Aus der Außenperspektive betrachtet ist die bildliche Darstellung Hōnens schon stark standardisiert, sonst könnte man ihn nicht identifizieren. Nur wird im Gyōjō ezu immer wieder betont, dass die Darstellung tatsächlich ganz realistisch, authentisch und von Hōnen selbst abgesegnet sei. In Abwesenheit von Mitteln wie der Fotografie ist solch eine Imaginationspolitik eine beachtliche Leistung, unterscheidet sich jedoch in der Art und Weise nicht wesentlich von anderen buddhistischen Strömungen. Zwei Szenen (8.3 und 37.3) im Gyōjō ezu weisen jedoch m. E. auf eine radikale Neuerung und einen gewissen Bruch mit der herkömmlichen Imaginationspolitik hin, die Shunjō dem Heiligen Hōnen zuschreibt. Auf diese beiden Szenen wird in den folgenden Abschnitten genauer eingegangen. 4.4. Manifestationen des ‚Wahren Körpers‘ eines Buddha Die folgende Szene (8.3 [Abb.11]) offenbart eine Imagination Hōnens, die er bis zu seinem Tod geheim halten wollte und die in den Kreisen seiner Gemeinschaft und in der Forschung (beide Bereiche überlappen sich bei einigen Autoren) bis heute heftig umstritten ist. Betrachten wir die Szene zunächst: Wir sehen hier Hōnen in andächtiger Haltung mit Blick auf Amida mit Seishi und Kannon, sofort erkennbar für den Betrachter. Dennoch ist die ikonographisch festgelegte Darstellung zugleich völlig ungewöhnlich, da die drei Gestalten vor einem freigelassenen Feld erscheinen, das ebenso groß ist wie die beiden Fusuma-Türen links im Bild oder die Tür rechts von dem weißen Feld. Lediglich der Nimbus um Amidas Kopf und ein Zipfel des Gewandes des rechten Bodhisattva, Seishi denke ich, berühren in der Darstellung andere Raumelemente, so dass die Komposition dennoch Tiefe hat. Die drei Gestalten scheinen tatsächlich in einem luftleeren Raum zu schweben. Die Darstellungsweise ist völlig ungewöhnlich, denn üblicherweise schweben numinose Gestalten, Buddhas und Bodhisattvas, stets auf —————

21 Für die Etablierung und Fortführung bestimmter buddhistischer Schulen Ostasiens war die Weitergabe von Portraits unerlässlich, wie etwa in der Chan- (jap. Zen-)Tradition, die großformatige Portraits, die hier chinzō 頂相 heißen, als Hängerollen tradierte. In Japan sind chinzō aus dem 13.–15. Jh. erhalten und viele als nationale Kulturschätze oder -güter designiert.

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Wolken, wenn sie Menschen erscheinen. Bisher habe ich kein weiteres Beispiel einer solchen Darstellungsweise in japanischen Bildrollen gefunden. Im Text heißt es, dass Hōnen von einem Spaziergang in seine derzeitige Unterkunft zurückkehrte und dort Amida und seine Begleiter umherschweben sah. Hōnen war erstaunt zu erkennen, dass es sich dabei weder um gemalte Bilder oder um Statuen handelte, noch waren die Buddhas irgendwo befestigt. Die ikonographische Festlegung führt dazu, dass wir Betrachter die Szene entschlüsseln können, denn wir erkennen Amida und seine Begleiter auf den ersten Blick.

Abb. 11: Hōnen shōnin gyōjō ezu Szene 8.3: Hōnens Vision von Amida und seinen Begleitern in ihrem „wahren Körper“.

Hōnens Vision von Amida und seinen Begleitern ist nicht Ergebnis einer Bildpraxis; sie erscheinen einfach so; bzw. sie sind einfach da in ihrem „wahren Körper“ (shinshin 真身)22. Die meisten der Visionen Hōnens sind von den Beschreibungen und Anleitungen in den überlieferten Texten inspiriert. Das Reservoir an Bildern (image reservoir, Machida 1999: 69) war also durch die Tradition festgelegt und Hōnen wohlbekannt, so dass die meisten Visionen im Rahmen der Bildverehrung oder -praxis stattfanden, wie schon eingangs angesprochen. Dennoch gibt gerade Szene 8.3 Hinweise auf Bilder, die Hōnen in der Imagination erzeugt und in der alltäglichen Welt wahrnimmt, und zwar ohne direkt in der nenbutsu-Praxis noch in der Kontemplation versunken zu sein. Aus der abendländisch-christlichen Tradition kommend könnte man sagen, dass Hōnen eine mystische Schau erfährt. Wir moderne Menschen mögen diese Visionen als Wirkungen von Schlafentzug und einer willentlich herbeigeführten Trance, also neurobiologisch, interpretieren, wie Machida dies unternimmt (1999: 71). Hōnens —————

22 Dieser Begriff findet sich im Sanmai hottoku-ki 三昧發得記 (T 2612); siehe zu diesem Text weiter unten.

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Vision mag aber auch einfach eine andere Art der Wahrheit für den Visionär sein, die sich der Überprüfung entzieht und die weder wortgeleitet ist, noch sich in Worte fassen lässt23. Ohne Zweifel werden Hōnens besondere Fähigkeiten in der monumentalen Bildrolle herausgehoben; die hagiographische Erhöhung war ja gerade der Zweck der Produktion des Werks. Ob nun Hōnen tatsächlich diese Visionen hatte, sei dahin gestellt. Das Interesse in diesem Beitrag ist an dieser Stelle an der Art der Fähigkeiten, die Hōnen zugesprochen werden, zu verorten. Diese Szene öffnet uns gleichsam ein Fenster auf das Bildverständnis von Menschen im Japan des 14. Jahrhunderts. Sie ist sogar bis heute Gegenstand lebhafter Diskussion. Exkurs: Bilddiskurse in der Zeit Hōnens. Visualisierung und Kontemplation des Buddha Zum genaueren Verständnis muss man die Szene in den Kontext der damaligen Bilddiskurse stellen: Hōnens radikale Abkehr von allen buddhistischen Praktiken außer der Anrufung des Amida Butsu schloss auch die Abkehr vom Kontemplieren des Buddha, das kanbutsu 観仏 ein. Kontemplation als Übersetzung von kan 観 ist in diesem Zusammenhang recht treffend, weist jedoch auf ein umfangreiches semantisches Feld innerhalb des Buddhismus hin, das wegen seiner Nähe zum Begriffsfeld ‚Imagination‘ kurz zur Sprache kommen soll. Das chinesische Schriftzeichen kan 観 bedeutet zunächst einmal einfach „sehen“ auch im Sinne von „einsehen“, „beobachten“ und „wahrnehmen“. Es wurde für vielfältige Begriffe aus den nach China gelangten buddhistischen Sanskrittexten verwendet. Kan als Pendant zu shi 止 bezeichnet diejenige Art der Meditation, in der man durch „Beobachtung“ an der Erkenntnis der wahren Natur der Phänomene arbeitet. Kan ist hier die Übersetzung des Sanskrit vipaśyanā für „meditative Einsicht“. Shi bedeutet „anhalten“ und ist eine Meditationsform, die zusammen mit kan geübt wird und bei der die Gedanken und Wahrnehmungen zur Ruhe kommen und sich eine Fokussierung (jō 定) einstellen soll. Diese Meditation wird mit Sanskrit śamatha bezeichnet und kann mit „stabilisierende Meditation“ oder einfach „Sammlung“ übersetzt werden. Besonders im Tientai (jap. Tendai)Buddhismus, der ja auch Hōnen sehr prägte, wurde die Lehre und Praxis von „Sammlung und Einsicht“ (śamatha-vipaśyanā; Chin. zhiguan, Jap.

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23 Machida 1999: 67: „No line could be drawn between ordinary cognition and visionary experience“.

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shikan 止観) ausgearbeitet24. Die Mönche und Nonnen beschäftigten sich intensiv mit verschiedenen Methoden, mit denen man einen Zustand von Klarheit erlangen kann, der gleichzeitig die vollständige Abwesenheit von Illusionen bedeutet. Die Übenden dieser (und anderer) buddhistischen Schulen setzten also voraus, dass man durch ‚Kontemplation‘ auf der einen Seite und ‚Konzentration‘ auf der anderen, irgendwann die Phänomene ohne die aus persönlichen Sehnsüchten und anderen ablenkenden Gedanken und Gefühlen bestehenden Filter wahrzunehmen vermag. Dabei ist Kontemplation mehr als nur ein oberflächliches Betrachten. Das Schriftzeichen kan kann auch als Übersetzung von Sanskrit upalakṣaṇa gelten, das den Akt des Beobachtens bedeutet. „Bestimmung“ eines Beobachteten ist dabei eine wichtige Bedeutungsnuance von upalakṣaṇa. Desgleichen kann etwas als upalakṣaṇa Bezeichnetes etwas anderes implizieren, das nicht explizit ausgedrückt wurde. Es impliziert ein analoges Objekt in einem Fall dann, wenn nur ein einziges Objekt spezifiziert worden ist. Daher bezeichnet upalakṣaṇa auch den Gebrauch eines metaphorischen, elliptischen oder generischen Sinns. Wenn eine Synekdoche in einem Text auftaucht, also wenn ein Teil auf das Ganze verweisen soll, ein Individuum auf die gesamte Gattung oder die Qualität von etwas, die ihm innewohnt, dann wird dies ebenfalls mit dem Begriff upalakṣaṇa ausgedrückt. Kan als Übersetzung von upalakṣaṇa arbeitet also insgesamt mit Verweisen auf Implizites, auf Leerstellen, die gleichsam in der Vorstellung gefüllt – imaginiert – werden müssen, um das Gemeinte zu verstehen. Auch der Sanskrit-Begriff paśyantī, „die Sehende“, wird mit dem Schriftzeichen kan übersetzt. In der altindischen Sprachphilosophie bezeichnet paśyantī die erste Ebene der Sprache, in der Worte und Begriffe entstehen, also einen Zustand der Wahrnehmung vor der eigentlichen Ausbildung der geformten Sprache. Sie bezeichnet bei Bhartṛhari, einem klassischen indischen Sprachphilosophen, die „visionäre“ Dimension der Sinnesorgane, in der Bedeutung unmittelbar „aufblitzt“ bzw. „sich öffnet“. Paśyantī ist also diejenige Ebene, auf der Sprache (noch) eins ist mit Bewusstsein (Wilke/Moebus 2011: 287, 624 ff.). Eine andere Bedeutung erhält kan, wenn es als Übersetzung von Sanksrit parīkṣā gilt. Hier steht die wie auch immer geartete Inspektion, die präzise Erforschung und Ermittlung, ja sogar die Prüfung und Überprüfung durch verschiedene Tests im Vordergrund. Hier ist das Beobachten auf eine empiristische Bestimmung ausgerichtet, deren Ergebnisse dann mögliche Lücken schließen. Zusammenfassend könnte man sagen, dass der auf altindischen Vorstellungen basierende und in China unter dem Einfluss indigener Vorstellungen ————— 24

Die Tiantai-Schule wird sogar Śamatha-vipaśyanā-Schule (止觀宗 Zhiguan Zong) genannt.

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weiterentwickelte Buddhismus kan als auf die letztendliche Erkenntnis ausgerichtet sieht, die als eine einzige Leerstelle beschrieben wird. Auf dem Weg dorthin wird traditionell im Tiantai/Tendai und anderen Schulen mit Methoden gearbeitet, die sich die analytische Fakultät des menschlichen Geistes auf der Ebene der alltäglichen (relativen) Wahrheit zunutze macht, um dann entweder ganz plötzlich oder auch nach einem graduellen Voranschreiten und Üben die letztendliche (absolute) Wahrheit zu erfassen. Hōnen war in den verschiedenen Methoden und Übungen gründlich ausgebildet worden, wandte sich am Ende jedoch von der ‚Methodenvielfalt‘ dieser buddhistischen Schule bewusst ab. Neben dem Kontemplieren des Buddha (kanbutsu) wurde im Tiantai/Tendai auch die Praxis des nenbutsu geübt, das grundsätzlich bedeutet, dass man sich einem Buddha meditativ (kannen no nen 観念の念) bzw. rezitativ durch Aussprechen des Namens vergegenwärtigt (shōmyō nenbutsu 称名念仏). Hōnen lehnte das meditative nenbutsu zugunsten des rezitativen strikt ab. Die sino-japanischen Konzeptionen und Übungsformen des nenbutsu waren tatsächlich äußerst vielfältig, wobei sich Hōnen für seine spezielle Auslegung im Prinzip nur auf die zwei genannten Formen stützt. Das meditative nenbutsu kann umschrieben werden als eine Vergegenwärtigung der Erscheinung des Amida Butsu in „Wirklichkeit“ (ji 事) und in „Wahrheit“ (ri 理) mit dem Ziel, eine Vision des Buddha (kenbutsu 見 仏) im Zustand der Versenkung zu erlangen (vgl. Kleine 1996: 94). Der Zustand der Versenkung in der buddhistischen Mahāyāna-Tradition wird auf Sanskrit samādhi genannt, auf Japanisch mit sanmai oder zanmai 三昧 wiedergegeben oder mit jō 定, übersetzt, das oben weiter schon kurz genannt wurde. Das nenbutsu zanmai wurde zu Hōnens Zeit dann dementsprechend als die höchste Stufe der Realisierung einer vielschichtigen nenbutsu-Praxis angesehen. Nun soll nach der Biographie von Shunjō der Heilige Hōnen seinen Schülern auf dem Sterbebett offenbart haben, dass er schon die letzten zehn Jahre, also seit 1198, das Reine Land und die wahren Formen von Amida und den Bodhisattvas gesehen habe. Diese habe er nie erwähnt, und auch der kurze, aber recht detaillierte Bericht über die samādhi-Erfahrungen Hōnens soll auch kurz nach seinem Tod noch geheim gehalten worden sein. 100 Jahre später jedoch wurde der Bericht, Sanmai hottoku-ki 三昧發得記, von dem mehrere Versionen überliefert sind25, in —————

25 (1) Daigo-bon Hōnen Shōnin denki von Genchi, ca. 1242, SHZ: 435, HDZ: 773; (2) Genkū Shōnin shi nikki (Saihō shinan-shō II.1) T 2674; JSZ 17 Nr. 239, (Saihō shinan-shō Takada version) SSZ 5: 113–117, übers. von Hara 1997; siehe auch Übers. von King 1987; Shūi Kuroda Shōnin gotōroku (Kenkyū nenki), T 2612; (3) Chionkoshiku von Ryukan; (4) Kapitel 16 des Senchakushū (1198) T 2608.

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die offizielle Biographie Hōnen Shōnins in Bild und Text aufgenommen. Die Bildepisode 8.3 stammt aus dieser Passage über die Visionen, die er immer wieder hatte und die mit nenbutsu zanmai-Erfahrungen bezeichnet werden. Die im Sanmai hottoku-ki geschilderten Visionen decken sich mehr oder weniger exakt mit den Anleitungen und Beschreibungen der traditionellen Amida-Kontemplation. Die Deutung dieser Episode ist umstritten. Folgende Positionen zeugen von der Verschiedenheit der Interpretation: 1. Hōnen hat nicht das praktiziert, was er gelehrt habe, oder die Episode ist einfach eine Fälschung (Tamura 1983: 98f. u. 245; Tanabe 1992: 84–88); 2. genuine Erfahrung Hōnens (Itō 1981: 93–100); Erfahrung einzigartig, nicht nachvollziehbar: Hōnen als Mystiker, Vision des Reinen Landes, nicht der Hölle, damit neuer und besserer Erlösungsweg (Machida 1999: 18, 66f.); 2. samādhi als Zeichen der Überlegenheit der eigenen Praxis; erreicht durch das alleinige rezitative nenbutsu und nicht durch das meditative (Watts/Tomatsu 2005); 3. Autorisierung seiner Lehre, da samādhi wichtiger Beweis für die Validität der neuen Lehre bei Hōnen in seiner eigenen Argumentation oder der seiner engen Schüler (Repp 2005: 488, bes. Fn. 238); 4. Hōnen hatte verschiedene samādhi-Erfahrungen und das Hokke zanmai soll zeigen, dass Hōnen die traditionellen Übungen innerhalb der Tendai gemeistert hat. Er hat die Übungen nicht nur gemeistert, sondern ist dann darüber hinausgewachsen (Coates/Ishizuka 1949(1925)); 5. zweigleisige Praxis oder negativ ausgedrückt „Doppelleben“: für Mönche, erfahrende Praktizierende und für weniger Erfahrene (King 1987: 126–141; Kleine 1996: bes. 192). Die Argumente von Watts/Tomatsu (2.) und von Repp (3.) scheinen m. E. zusammen genommen vor dem Hintergrund der kaiserlich geförderten Etablierung einer neuen Strömung, später dann „Schule“, die die Ausschließlichkeit einer Lehre preist, schlüssig zu sein. Coates/Ishizuka argumentieren in ähnlicher Richtung. Gerade die Szene 8.3, die so ungewöhnlich bildlich gestaltet ist, betont den neuen Weg und die spezielle Persönlichkeit des Heiligen Hōnen und schlägt auch imaginationspolitisch eine innovative Richtung ein. Im Ganzen wird die Besonderheit und auch die Überlegenheit des Mönchs betont, so dass er vor dem Hintergrund der esoterischen Tendai-Lehren durchaus als Buddhist Superman, in Anlehnung an

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Wilkes „yogisch-tantrischen Superman“ (siehe Wilke in diesem Band) bezeichnet werden könnte. 4.5. Hōnens milder Ikonoklasmus In der folgenden abgebildeten Szene (37.3, Abb. 12–14) wird ein Bruch mit der bisherigen Tradition besonders deutlich: Hōnen sieht Amida und seine Begleiter in ihrer wahren Gestalt, nicht als Bilder. In der Szene zeigt Hōnen seinen Schülern, dass das Sprechen des Namens des Buddha Amida, d. h. das Vergegenwärtigen des Buddha im Geist, das äußere Erscheinungsbild des Buddha erzeugt. Er demonstriert, dass man die materiell geschaffenen Bilder nicht mit Amida selbst verwechselt, wenn die Hingabe an Amida stark genug ist. Hōnen Shōnin und seine Schüler sitzen in einem Gebäude, das nach zwei Seiten offen ist bzw. auf der Veranda. Die Gruppe bildet einen Kreis um ein prachtvoll gestaltetes Abb. 12: Hōnen shōnin gyōjō ezu Szene 37.3 Podest. Im Text heißt es, dass die (Ausschnitt 1): Hōnens Schüler verehren Amida Form einer Kultstatue, Hōnen (rechts) weist Schüler eine Amida-Statue vereh- in jedoch auf etwas außerhalb des Gebäudes. ren, indem sie fünffarbige Fäden in den Händen halten, die an der Statue befestigt ist. Der Kopf der Statue ist nicht zu sehen, nur der Körper. Wenn man diese Szene betrachtet, wird unsere Aufmerksamkeit automatisch auf Hōnen Shōnin gelenkt, der mit seiner linken Hand aus dem Gebäude hinausweist. Man rollt die Bildrolle gespannt weiter auf und Abb. 13: Hōnen shōnin gyōjō ezu Szene 37.3 stößt zunächst auf einen Zaun (Ausschnitt 2): Geheimnisvolle Lichtstrahlen beleuchten die, von den Mönchen aus gesehen, (shikirigaki 仕切垣) (Abb. 13). Auf der hinteren Seite des Zauns hintere Seite des Zauns. entdeckt man dann Lichtstrahlen, man ahnt wohl schon die Herkunft der Lichtstrahlen, und man wird nicht enttäuscht, dass schließlich am Ende der Bildszene ein so genanntes „Bild des Kommen [Amidas] und Willkommenheißens [ins Reine Land]“ (raikōzu 来迎図) erscheint (Abb. 14; s. a. Farbtafel 8 im Anhang). Die

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Lichtstrahlen stammen von Amida Buddha, der von Bodhisattvas Kannon und Seishi begleitet auf Wolken schnell herbeieilt. Im Text geht es darum, dass Hōnen predigt, Statuen und gemalte Bilder (ezō 絵 像), also äußere Bilder, seien unnötig bzw. überflüssig (fuyō 不要). Wie kann dies besser demonstriert werden als durch diese Abbildung? Abb. 14: Hōnen shōnin gyōjō ezu Szene 37.3 Hōnen zeigt auf die Trinität (Ausschnitt 3; siehe auch Farbtafel 8): Die Lichtstrahlen gehen von Amida Buddha aus, der (sanzonbutsu 三尊仏) und die mit seinen Begleitern herannaht. Schüler scheinen einer nach dem anderen die Köpfe zu wenden und Zeugen der Erscheinung zu werden. Schaut man genau auf die Statue auf dem Podest im Gebäude, fällt auf, dass auch der Lotossockel, auf dem die Statue befestigt ist, auf einer Wolke schwebt, genau wie Amida Buddha sozusagen in Wirklichkeit. Verwandelt sich die Amida-Statue also in den echten Amida? Ist die Wolke ein Hinweis, dass eigentlich kein Unterschied zwischen der Statue und dem Buddha besteht? Handelt es sich bei der Wolke um eine Erscheinung, eine Vision, ist also das Ergebnis der Einbildungskraft, der Imagination? Was überflüssig ist, scheint eher die Bildpraxis der Kontaktaufnahme zu Amida mittels Fäden zu sein, die an der Statue befestigt sind: Hōnens Botschaft ist, dass die Schüler nicht die Fäden zu halten brauchen, die an einer Statue hängen, sondern sie können die Gegenwart des Buddha unabhängig von der materiellen Statue erfahren. Tatsächlich ist dies eine eindrucksvolle Darstellung, die Hōnens Grundbotschaft illustrieren soll: Allein das hingebungsvolle Sprechen des Namens des Buddha Amitābha, das nenbutsu 念仏, verheißt Erlösung, Bildpraxis mit äußeren Bildern ist im Grunde überflüssig. Noch eine abschließende Bemerkung zu der Rezeption und Kenntnis des Hōnen- und Reine Land-Buddhismus in Europa: Durch die besondere Rezeptionsgeschichte des japanischen Buddhismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern ist maximal Dōgen als Gründer des ZenBuddhismus bekannt. Vermutlich übte gerade auch die vermeintliche ikonoklastische Tendenz des Zen-Buddhismus für westliche Menschen einen großen Reiz aus. Dagegen hält sich Hōnen Shōnin und sein Vermächtnis für die japanische Kultur in der deutschen Rezeption eher im Hintergrund, obgleich Hōnens Lehre meiner Meinung nach weitaus ikonoklastischere Züge trägt als der Zen-Buddhismus. Mit ihrer Betonung auf eine einzige

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Praxis und die Gnade eines einzigen Buddha ist Hōnens Lehre – sehr vereinfacht gesagt – der monotheistischen Glaubenstradition in Europa vielleicht zu ähnlich, um bisher einen prägnanten Eindruck in den europäischen Kulturen hinterlassen zu haben. 5. Schlussbetrachtungen Um eine Bildtradition zu analysieren, können wir auf die aktuelle Bildwissenschaft zurückgreifen, die versucht, die Bilder zu rehabilitieren und als einen eigenständigen Untersuchungsbereich zu sehen. Die neue Bildwissenschaft in Deutschland und anderswo gibt den Bildern ihre Autonomie und betrachtet sie der Sprache als zumindest ebenbürtig für die Erkenntnis. Jedoch hatten die Menschen im 14. Jahrhundert in Japan, die die Bildrolle anfertigten, eigene Bild- und Denktraditionen, die keine Berührungspunkte mit der christlichen Tradition aufweisen, aus der die neue Bildwissenschaft erwachsen ist. So wird die Deutung der samādhi-Bilder zu einem Problem der interkulturellen Vermittlung. Die Frage nach der Bedeutung dieser Bilder für die japanische Tradition kann nicht mit Platon oder Aristoteles, mit Aussagen der christlichen Theologien oder der abendländischen Wissenschaft beantwortet werden, wobei die Konzepte des „wahren Körpers“ (shinshin) des Amida Butsu, der „absoluten Bilder“ oder Platons „Urbilder“ durchaus vergleichbar zu sein scheinen. Es ist auffällig, dass den Bildern in dem vorgestellten Werk eine Autonomie zugesprochen wird, wobei typisch für den Mahāyāna-Buddhismus zwischen äußeren, inneren und geheimen (für andere nie sichtbaren) Bildern unterschieden wird. Gleichzeitig wird bei Hōnen eine radikale Abkehr von dieser Tradition postuliert, die aber dieser Autonomie interessanterweise ihre eigentliche Existenz nicht abspricht, obgleich nun das Wort, das Aussprechen des Namen Amidas, in den Vordergrund tritt. In der angesprochenen Episode geht es nicht um Texte, sondern um Bilder, so dass Aspekte eines latenten Bilderstreits erkennbar werden. Bilder, so wird sehr deutlich in dem vorliegenden Werk, sind für Hōnen nicht notwendig, aber auch nicht schädlich. Sie lenken ab oder führen in die Irre, wenn man ihre Funktion nicht versteht. Ob diese Bilder textbasiert sind oder nicht, ob Inhalt einer mystischen Schau oder Teil der legitimierenden Traditionsbildung oder verklärte Hagiographie, kann nicht abschließend beantwortet werden. Das Wort soll bei Hōnen jedenfalls nicht textgebunden sein; man soll es nicht studieren, sondern einfach tun. Das Wort kann sogar in einer anderen Reine(s) LandTradition bildgebunden sein, wie in Abbildungen von nenbutsu-Rufenden

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zu sehen ist, aus deren Mund eine Reihe sechs kleiner Buddhas als Verkörperung des sechs-silbigen nenbutsu entweichen. Imagination in dem oben untersuchten Beispiel erscheint in der Außensicht als rein sozial konstruiert sein. Sie findet jenseits des Individuums in einem Kollektiv statt und läuft auf einer Matrize von Bilderrepertoires ab. In der Innenperspektive findet tatsächliche Imagination jedoch jenseits der menschlichen Alltagswahrnehmung statt, in einem Absoluten, die nur durch die von der (jeweiligen) religiösen Tradition Praxis erfahren werden kann. Die Bildrolle Hōnen Shōnin gyōjō ezu möchte Zeugnis davon geben, dass das Absolute – die Gnade Amidas – im Heiligen Hōnen wirkt und dass wir gewöhnlichen Alltagsmenschen uns mit dem Segen des Kaisers und damit legitimiert für Hōnens Praxis und die vormals als häretisch eingestuften Lehren begeistern und uns ihnen anschließen. Dann bestünde die Möglichkeit, ebenfalls das Reine Land zu sehen. Abkürzungen HDZ: Hōnen Shōnin-den zenshū. Ikawa (Hg.) 1952. JSZ: Jōdo-shū zensho (Bd. 17). Jōdo-shū kaishū happyaku-nen kinen keisan junbiyoku (Hg.), 1971. SHZ: Shōwa shinshū Hōnen Shōnin zenshū. Ishii (Hg.) 1974. SSZ: Shinran Shōnin zenshū. Shinran Shōnin zenshū kankōkai (Hg.) 19691970. T: Taishō shinshū daizōkyō. Takakusu/Watanabe (Hg.) 1924-1935. Literatur Primärquellen Hōnen Shōnin gyōjō ezu 法然上人行状絵図. Ikawa, Jōkei 井川定慶 (Hg.): Hōnen Shōnin gyōjō ezu 法然上人行状絵図. In: Ikawa, Jōkei 井川定慶 (Hg.): Hōnen Shōnin-den zenshū 法然上 人傳全集. Kyoto: Hōnen Shōnin-den zenshū kankōkai 法然上人傳全集刊行會, 1952, 3-318. Hōnen Shōnin gyōjō ezu 法然上人行状絵図. Ishii, Kyōdō 石井教道 (Hg.): Hōnen Shōnin gyōjō ezu 法然上人行状絵図. In: Ishii, Kyōdō 石井教道 (Hg.): Shōwa shinshū Hōnen Shōnin zenshū 昭和新修法然上人全集. Tokyo: Heirakuji shoten 平楽寺書店, 1974.

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IV. Imaginationsgeschichte Alexandra Grieser, Jens Kreinath, Jens Kugele Eines der konzeptionellen Bänder, die eine religionsästhetische Perspektive zusammenhalten, besteht darin, dass die Körperlichkeit und Sinnlichkeit religiöser Praxis nicht losgelöst gesehen wird von ihrer geschichtlichen Entstehung. Imagination und Imaginieren, so kann man nicht erst im sogenannten „Jahrhundert des Gehirns“ lernen, übernehmen gleichermaßen neuronale und biologische wie soziale und kulturelle Funktionen. Sie befähigen den Menschen, zeitliche wie räumliche Distanzen zu überbrücken und Abwesendes anwesend zu machen, sei es als mentale Bilder und Gefühle, als Erinnerungen, Vorstellungen und Empfindungen. Doch Wahrnehmung und Repräsentation sinnlicher Erfahrungen sind zugleich untrennbar verbunden mit der Geschichtlichkeit des Imaginierens, sei es als die Vergangenheitshorizonte eines Individuums, welche die Formen der Wahrnehmung prägen, oder als die Vergangenheitshorizonte eines Kollektivs, mit denen durch sprachliche und bildliche Konventionen bestimmt wird, welche Wahrnehmungen der Welt und ihren gesellschaftlichen Normen entsprechen und welche ausgeschlossen werden, weil sie über den commonsense in der Praxis von Wahrnehmung und Darstellung hinausgehen. Imagination und Geschichte zusammen zu denken erlaubt vergleichende und systematische Fragenstellungen: Was ist gemeint, wenn eine ‚Seele‘ als krank diagnostiziert wird – sei es in der altägyptischen Medizin, nach den Lehrsätzen der griechischen Philosophie, oder den Lehrmeinungen der europäischen Psychologie des 19. Jahrhunderts? Wie äußern sich solche Vorstellungen und Wandlungsprozesse bis ins Materielle und Körperliche hinein? Welchen Einfluss haben Medienwandel und neue Technologien dabei? Wie reproduzieren und verändern sich dieselben Imaginationen in veränderten historischen Kontexten? Welche Schemata erzeugen sie? Welche Machtstrukturen und Imaginationen ‚des Anderen‘ stehen dahinter? Wo greifen die Geschichte der Imagination und die Imagination der Geschichte ineinander über? Fragen dieser Art werden in den folgenden Artikeln bearbeitet: Jens Kugele zeigt, wie sich Imaginationen des Devianten und Diabolischen im Hexenbild der europäischen Religionsgeschichte an körperlichen Zeichen festmachen und Gendervorstellungen und Machtverhältnisse ‚inkarnieren‘, aber auch, wie sich die Grenzen des Tolerierbaren und nicht Tolerierbaren verschieben und bereits historisch vielstimmig verhandelt werden. Jens Kreinath geht der Frage nach, welche Faktoren in der Ge-

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schichte der Religionsethnologie dazu führten, fremde Kulturen als ‚primitiv‘ wahrzunehmen, und argumentiert auf Grundlage der Erforschung der zentralaustralischen Aranda, dass der Fotografie in der Formation religonswissenschaftlicher Begriffe eine bisher unbeachtete Rolle zukam. Alexandra Grieser untersucht, wie auch scheinbar universelle Vorstellungen vom Erhabenen in der Romantik auf historische Bedürfnislagen antworten und als ästhetische Konfigurationen bis in neueste astronomische Bildtechnologien hinein ermöglichen, die Anschauung von Natur, Kunst und Wissenschaft ins Zentrum moderner Religion zu stellen. Erst wenn Imagination im Kontext historischen Wandels begriffen wird, wie die einzelnen Beiträge exemplarisch zeigen, kann deutlich gemacht werden, dass durch Praktiken des Erinnerns und Tradierens gleicherweise eine Kontinuität in der Praxis des Imaginierens hergestellt wird und dass die Politiken der Imagination definieren, was zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Gesellschaft oder Kultur gedacht, gesagt, gefühlt, oder realisiert werden kann. Der konkrete und historisch verankerte Prozess des Imaginierens findet somit immer auch in gesellschaftlichen und kulturellen Räumen statt, und zugleich schafft die Praxis des Imaginierens erst jene Räume, in denen die unterschiedlichen Realitäten der Lebenswelt für den Menschen fassbar und verstehbar, greifbar und verhandelbar werden. Die Dialektik von dem Vorstellbaren und Darstellbaren, dem Imaginären und dem Realen, in die verschiedenen Formen der Geschichtsschreibung einzubeziehen, ist weder selbstverständlich noch einfach zu bewältigen, zumal den Dimensionen des Vorstellens, Handelns und Glaubens vor allem auch im religionsgeschichtlichen Zusammenhang besondere Qualitäten zukommen, weil diese dynamisch miteinander verschränkt und wechselseitig aufeinander bezogen sind. Religionen als Praktiken der Repräsentation sind darum ohne Imagination nicht denkbar; rituelle Handlungen wie Pilgerreisen und Gebete werden bedeutungsvoll durch Vorstellungen, die ihnen von den Beteiligten zugeschrieben werden. Ebenso werden kulturelle Bedeutungen verhandelt und eingeschrieben in den Gebrauch von Ritualen und anderen Formen ästhetischer und religiöser Praxis. So entwerfen Religionsgemeinschaften und ihre Mitglieder durch ihre rituellen und mythischen Praktiken Modelle von Zeit und Geschichte – sei es als Apokalyptik, Hagiographie oder Heilsgeschichte – und produzieren damit Formen der Geschichte als Tradition, Kanon und Ritual. Es ist ein aufwändiger Prozess, die Dinge und Ereignisse erscheinen zu lassen, als blieben sie, wie sie waren; und es kann durchaus als ein Spezifikum der unterschiedlichen Religionen angesehen werden, Kontinuitäten in der Imaginationsgeschichte herzustellen durch Wissen über den Ursprung der Zeit, den Urzustand der Menschheit, die Gemeinschaft der

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Erlösten, oder die Erschaffung und Zerstörung der Welt. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die religionswissenschaftliche Rekonstruktionen und Analysen solcher Imaginationsgeschichten selbst kulturell und historisch bedingt sind, ebenso wie die Konzepte und Begriffe, die verwendet werden, um religionsgeschichtliche Prozesse der Imagination von Raum und Zeit zu rekonstruieren und analysieren. In zwei verschiedenen Weisen ist die Dialektik zwischen Imaginärem und Geschichtlichkeit in den Geschichts- und Kulturwissenschaften zur Aufgabe geworden: zum einen als Versuch, eine Geschichte des Imaginären zu schreiben, zum anderen als das Bewusstsein, dass Geschichte selbst imaginiert werden muss, um als Wissenschaft des Vergangenen mit den Figuren des Imaginierens über das Vergangene zu operieren. Sicher waren die École des Annales und Mentalitätsgeschichte – später auch die Historische Anthropologie, der New Historicism und die ethnologische Writing Culture-Debatte – die wichtigsten Impulse zu einer neuen Geschichtsschreibung bzw. Reflexion der bisher üblichen wissenschaftlichen Repräsentationsformen. Gerichtet gegen den Selbstanspruch einer rein an ‚Fakten‘ orientierten Bestandsaufnahme in der Ereignisgeschichtsschreibung stehen nun die Begriffe des imaginaire, der mentalité und der longue durée im Zentrum des Versuchs, in einer histoire totale punktuelle Ereignisse und ausgedehnte Zeitspannen konzeptionell mit den Parametern von Gesellschaft und Individuum sowie mit Prozessen in Wirtschaft und Politik und der Geschichte der kulturellen Bilder und Vorstellungen zu verbinden. Hinzu tritt die Position des New Historicism, dass auch die wissenschaftliche Geschichtsschreibung in diesem Netz von Bezügen zu verorten ist und Narrative, Tropen und Figuren verwendet, die in ihrem ideologischen Umfeld – etwa der Nationalgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts – wirksam werden. Diese Bedingung nicht zu leugnen, sondern als modus operandi wissenschaftlichen Imaginierens zu akzeptieren und zu kritisieren, ist ein wichtiger Beitrag zur historisch-selbstreflexiven Analyse. Das Projekt einer kulturwissenschaftlich orientierten Form der Geschichtsschreibung des Imaginären wurde daher entworfen, um Vorstellungen und Ideen nicht als isoliert von Handlungen und Motivationen zu verstehen und Imaginationsgeschichte nicht als ein Feld von Spekulation und Phantasie zu betrachten, sondern an Repräsentationsformen, Argumentationslinien und Diskursereignisse zu binden. Dieses Projekt hat durchaus weitreichende Konsequenzen. Wird etwa Religionsgeschichte (und die Religionsgeschichtsschreibung) in der Interaktion mit allen Aspekten gesellschaftlichen und kulturellen Lebens verortet, so ist das Fortleben religiöser Vorstellungen auch nicht mehr an Glaube oder Doktrin gebunden, sondern kann als Faktor unterschiedlicher kulturel-

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ler Prozesse begriffen werden. Religiöse Vorstellungswelten und Begriffsformationen können dann in der Weise fassbar werden, dass sie vielfach gesellschaftlich wirksam werden können, auch dort, wo sie als ‚Religion‘ selber nicht (mehr) greifbar oder als begrifflich abgrenzbare Größe wahrnehmbar werden. Die unterschiedlichen Praktiken der Wahrnehmung und Imagination zu rekonstruieren und zu analysieren ist dabei ein zentrales Anliegen eines religionsästhetischen Ansatzes zur Imaginationsgeschichte. Das Imaginäre der Geschichte und die Geschichte des Imaginären – diese Dialektik kann ohne die Rolle religiöser Systeme schwerlich verstanden werden, vor allem dann, wenn Religion im Kontext kulturell möglicher Weisen gesehen wird, Welt und sich selbst wahrzunehmen, rezipierend und produzierend zugleich. Problematisch wird es, wenn Imagination als das ‚bloß Erfundene‘, Phantastische konnotiert wird, oder gar pathologisiert wird als Sinnestäuschung und Wahnvorstellung, und als konzeptioneller Gegenpol gesehen wird zum Materialen und Korporealen. Eine Imaginationsgeschichte zu schreiben, die weder von einer aufklärerisch motivierten Abwehr und Abwertung des Imaginären ausgeht, noch eine romantische Idealisierung der genial-utopischen Potenz von Imagination voraussetzt – so die zwei einflussreichsten Paradigmen in der Geschichte des Begriffs der Imagination –, ist eine begriffliche und theoretische Herausforderung. Die Beiträge in dieser Sektion, wie andere in diesem Band, bieten mit ihrem religionsästhetischen Ansatz einen ergänzenden Anschluss an einen neuen wissenschaftlichen Umgang mit der Imagination und dem Imaginären, indem sie sinnliche Wahrnehmung und Sichtbarkeit ins Spiel bringen und so zeigen, dass Imagination über das Bildliche und Dargestellte hinaus maßgeblich an der Erfahrungs- und Vorstellungswelt der Menschen beteiligt ist. Bilder werden umgesetzt in Körperempfindungen, Affekte und Argumente und bei jeder Zeichenhandlung präsentiert und repräsentiert – etwa als Figurationen von ‚Sehnsucht‘, ausgelöst durch romantische Bildpraktiken, wie im Aufsatz von Alexandra Grieser gezeigt, als Faszinationen des radikal Fremden erzeugt durch moderne Repräsentationstechniken, wie im Beitrag von Jens Kreinath entwickelt oder als kollektive Hexenbilder, in vielfältigen Medien über Jahrhunderte geformt und Materialität, Ästhetik sowie soziale Praxis verschränkend, wie im Aufsatz von Jens Kugele herausgestellt. Die vorliegenden religionsästhetischen Perspektiven auf ‚Imaginationsgeschichte‘ verstehen sich somit als Beiträge, nicht Gegensätze in Wahrnehmung und physischen Zuständen einerseits und Religion, Kultur und Geschichte andererseits zu sehen. Sie bieten vielmehr Zugänge, die den Zusammenhang zwischen religiöser Ästhetik, Politiken der Wahrnehmung und der Spannung von Kontinuität und Wandel ins Zentrum stellen.

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„Zusammengebraute kollektive Bilder“ Stationen des Hexen-imaginaire Jens Kugele Im vorliegenden Artikel wird das theoretische Konzept des imaginaire (Le Goff) für eine Untersuchung der Hexenbilder in der kollektiven Imagination fruchtbar gemacht. Hierzu werden zunächst Grundzüge des Le Goffschen Zugangs skizziert, um seinem Potenzial für kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Religion, Ästhetik und Materialität nachzuspüren. Anhand zweier Fallbeispiele aus der Imaginationsgeschichte des Hexenbilds wird der Versuch unternommen, einige exemplarische Zusammenhänge von Körperlichkeit, sinnlicher Wahrnehmung, Gelehrtendiskurs, Schrift und Bild zu erfassen.

1. Einleitung Im Jahr 1676 verfasst der Amsterdamer Schöffe Hermann Löher eine „Wemütige Klage“, um das Leid „der Frommen Unschuldigen“ zu schildern, die von „falschen Zauber-Richtern“ als „Hexen“ verfolgt, angeklagt, geschändet und getötet wurden (Löher 2001 [1676]: Titelblatt, iii). Seine detaillierte Beschreibung und teils vehemente Kritik einzelner Prozessszenen illustriert Löher dabei „mit unterschiedlichen schönen Kupfferstücken nach dem leben zierlich abgebildet“ (ebd.). Mit seiner eindrücklich illustrierten Anklageschrift erhebt der Schöffe Löher seine Stimme gegen eine Verfolgungspraxis, die sich über mehrere Jahrzehnte hinweg entwickelt hatte. Verfolgung, Folter und Hinrichtung sowie Löhers Kritik selbst stellen dabei soziale Handlungen dar, die untrennbar mit dem Bereich individueller und kollektiver Imagination verbunden sind. Über Jahrhunderte geformte Hexenbilder bilden einen kollektiven Interpretationsrahmen, der sich in vielfältigen Medien wie philosophischen Traktaten, päpstlichen Bullen, Inquistionshandbüchern, Gemälden, Kupferstichen und mündlichen Überlieferungen ausgestaltete und der in der Moderne besonders durch die Literatur und den Film bis in die Gegenwart hinein seine Weiterentwicklung erfährt. Mit Jacques Le Goffs Konzept des imaginaire wird im Folgenden einem heuristischen Zugang nachgegangen, der die Verschränkungen von Materialität, Ästhetik und sozialer Praxis als Teilaspekte der Kollektivimagination in ihrer Komplexität zu erfassen sucht. Gerade in seiner Multiperspekti-

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vität enthält Le Goffs Ansatz hilfreiche Anregungen zu einer kulturwissenschaftlichen Religionswissenschaft im Allgemeinen sowie zum Studium der Imagination in ihren religionshistorischen Bezügen im Speziellen. In der Skizze einiger Stationen der kulturgeschichtlichen Entwicklung des Hexenimaginaire soll im Folgenden exemplarisch auf zwei äußerst unterschiedliche Fallbeispiele eingegangen werden: Ein Blick in Hermann Löhers Anklageschrift ermöglicht es, einige exemplarische Zusammenhänge von Körperlichkeit, sinnlicher Wahrnehmung, Gelehrtendiskurs, Schrift und Bild zu erfassen, bevor das Beispiel des Hexenbilds in Filmproduktionen Walt Disneys dazu dient, spezifische Rekonzeptionalisierungen und neue Konstellationen im Hexen-imaginaire ca. 260 Jahre nach Hermann Löhers Schrift zu beleuchten. 2. Le Goffs Konzept des imaginaire Um die Grundzüge seines sozial- und kulturgeschichtlichen Programms zu verdeutlichen, lohnt ein Blick in Jacques Le Goffs Vorwort zu seiner 1985 erschienenen Essaysammlung über das imaginaire1. Hier finden sich einige Bemerkungen, die sein Grundverständnis kultureller Imagination darlegen und Umrisse seines zentralen Konzepts des „Imaginären“ skizzieren. Dabei sind Le Goff die „von Natur aus sehr unscharf[en]“ (Le Goff 1990 [1985]: 7) Konturen des Konzepts durchaus bewusst und sollten trotz ihrer methodischen Herausforderungen nicht voreilig die Sicht auf das heuristische Potenzial der hieraus erwachsenden Forschungsperspektiven verstellen. Um die Konnotationen seines imaginaire-Begriffs näher zu bestimmen, stellt Le Goff ihn in Bezug zu drei „Referenzsystemen“ – Überlegungen zu Fragen der Terminologie, Überlegungen zur Rolle der Dokumente als Grundlage historischer Forschung sowie zur Semantik des „Bildes“. Eine Gefahr sieht Le Goff in der häufigen Verwechslung des Begriffs mit ihm benachbarten Begriffen wie etwa dem der „Repräsentation“, dem des „Symbolischen“ und dem des „Ideologischen“. Die „Repräsentation“ sieht er dabei als allgemeinen Überbegriff an, in dessen Bereich das imaginaire durchaus einzuordnen sei. Während die Repräsentation nach Le Goffs Ansicht jedoch die „gesamte mentale Transponierung einer wahrgenommenen äußeren Realität umfaßt“ (Le Goff 1990(1985): 7) und mit dem Prozess der Abstraktion verbunden ist, bestehe im Hinblick auf die Form dieser Transponierung ein zentraler Unterschied zum „Imaginären“. Denn letzte—————

1 Vgl. Le Goff 1985; den folgenden Ausführungen wird die deutsche Übersetzung von Rita Hörner zu Grunde gelegt: Le Goff 1990(1985).

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res sieht er nicht im Bereich der „reproduktiven Transponierung“ – einer Art direkter Übersetzung eines geistigen Bildes –, sondern im Bereich des Schöpferischen, der poiesis. In diesem Zusammenhang steht auch Le Goffs Anspruch, die Tradition der Mentalitätsgeschichte zu verlassen und sich weniger den Mentalitäten einer Kultur, sondern vielmehr denjenigen Vorstellungen zuzuwenden, die über die Wiedergabe von Wirklichkeit hinaus Menschen zum Handeln motivieren und somit Sinn und Wirklichkeit hervorbringen. Ähnlich wie die Grenze zum Symbolischen müsse dabei auch die Grenze zum Ideologischen ständig neu diskutiert und letztlich im jeweiligen disziplinspezifischen Fachdiskurs geklärt werden. Vorbilder für seine Historiographie des „Imaginären“ findet Le Goff in einigen kulturgeschichtlichen Arbeiten. Wie die Byzantinistin Evelyn Patlagean in ihrer Einordnung Le Goffs bemerkt, sind hier die Forschungen Jules Michelets (1798–1874) zur Hexenthematik ebenso zu nennen wie James George Frazers (1854–1941) systematischer Versuch eines synchronen Blicks auf die Schnittpunkte von Mythen und Bräuchen oder auch die religionshistorischen Arbeiten Franz Cumonts (1868–1947) über die antiken Mysterienkulte. Als besonders „fruchtbare Periode“ macht Patlagean die Zwischenkriegszeit aus, wo das Konzept des „Imaginären“ Einzug in die Mentalitätsforschung hält und mit den Arbeiten Marc Blochs, Lucien Febvres in der Geschichtswissenschaft bzw. Émile Males (1862–1954) und Henri Focillons (1881–1943) in der Kunstgeschichte nachhaltig im wissenschaftlichen Diskurs etabliert wurde (vgl. Patlagean 1978: 24)2. Jedoch steht im Kern der konzeptionellen Überlegungen Le Goffs das Programm einer neu akzentuierten Geschichtsforschung, die sich um die Schnittpunkte von materialer Kultur und ihrem Zusammenspiel mit kollektiven sowie individuellen Vorstellungswelten bemüht. Einer „Histoire de l’imaginaire“, wie sie Le Goff programmatisch vorschlägt, geht es nicht nur um ein Verständnis der einzelnen Bereiche, sondern gerade auch um die Analyse der Realität formenden Dimension kollektiver Vorstellung. In Otto Gerhard Oexles Worten entsteht für Le Goff so „die Geschichte des individuellen und kollektiven Vorstellungsvermögen, der Hervorbringungen der Phantasie, die in vielfältigen Brechungen die Realität überschreitet und mit dieser doch zugleich verknüpft bleiben, ja, auch Grundlage einer Formung der Realität sind“ (Oexle 1990: 147)3. Ein zentrales Anliegen Le Goffs ist —————

2 Für religionswissenschaftliche Perspektiven auf das Themenfeld „Imagination“ könnte zudem eine Verbindung des Le Goffschen Konzepts des „Imaginären“ mit theoretischen Ansätzen aus dem Feld der Kulturwissenschaft bieten, die im allgemeinen dem pictorial turn zugeschrieben werden. 3 Zur „Histoire de l’imaginaire“ siehe auch Auffahrt 2002, Kp. 3.2 („Die Funktion von Idealbildern in der realen Geschichte“), 77–83.

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es konsequenterweise, die verschiedenen Ausformungen und Aspekte der kulturellen Bilderwelt mit in die Forschung einzubeziehen. Zugrunde liegt die Einsicht, dass „das Leben des Menschen und der Gesellschaften mit Bildern genauso verbunden ist wie mit greifbareren Realitäten“ (Le Goff 1990(1985): 12). Diese „Bilder“, deren Untersuchung in Le Goffs Ansatz mit einbezogen werden soll, „beschränken sich nicht auf die ikonographische und künstlerische Produktion, sie erstrecken sich genauso auf das Universum der mentalen Bilder“ (Le Goff 1990(1985): 12). Dass Le Goff selbst etwa in seinen eigenen Arbeiten kaum Bilder unterschiedlicher Art mit einbezieht und – abgesehen von Blicken in die literarischen Werke einer Epoche – kaum selbst interdisziplinäre Zugangsweisen wagt, wurde bereits kritisch angemerkt4. Dennoch verlieren die grundsätzliche Idee des integrativen Zugangs sowie der Fokus auf die Schnittpunkte von materialer Kultur und geistigen Vorstellungswelten trotz offener methodologischer Fragen wenig an Überzeugungskraft. Anregend bleibt etwa Le Goffs vorgeschlagener Umgang mit Objekten der bildenden Kunst, der den Blick über die thematische, inhaltliche Ebene etwa von Gemälden hinweg auf materielle Aspekte, Arrangement des Bildes und auch gesellschaftliche Funktion richtet. So sollen Farbmaterial, Positionierung in Text bzw. Raum genauso wie Absicht des Künstlers und Wahrnehmung in der Gesellschaft mit einbezogen werden (Le Goff 1990(1985): 11)5. In seiner Anwendung richtet Le Goffs Ansatz somit den Blick auf ein äußerst heterogenes Feld an Untersuchungsgegenständen, das von „klassischen“ Grundlagen historischer Forschung bis hin zu Gegenständen, Gebäuden, Bildern und Ritualen reicht. Gleichwohl sieht Le Goff bestimmte Arten von Dokumenten für zentral in der historischen Erforschung des „Imaginären“. So kommen in seinen Augen Werken aus Literatur und bildender Kunst eine besondere Bedeutung zu, da er sie als vergleichsweise direkte Ausformungen des imaginaire versteht (Le Goff 1990(1985): 9). 3. Der Teufelspakt als Beispiel „zusammengebrauter kollektiver Bilder“ Der kulturwissenschaftliche Zugang der Religionsästhetik und ihr spezifisches Interesse im Rahmen des vorliegenden Bandes, über den Begriff der Imagination Medien, soziale Handlung sowie individuelle und kollektive ————— 4

Vgl. etwa Oexle 1990: 148. In seinen Arbeiten zu visuellen Kulturen hat David Morgan einige dieser Zusammenhänge bearbeitet, vgl. etwa Morgan 2005. 5

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Imaginationsprozesse gemeinsam in den Blick zu nehmen, kann sich durchaus wiederfinden in Le Goffs Formulierung, die das Interesse der Historiker des „Imaginären“ zu charakterisieren sucht: Die Bilder, die den Historiker interessieren, sind durch die Wechselfälle der Geschichte zusammengebraute kollektive Bilder, die entstehen, sich verändern und erneuern. Sie drücken sich durch Worte, durch Themen aus. Sie werden durch Überlieferungen weitergegeben, von einer Zivilisation einer anderen entlehnt, sie zirkulieren in der diachronischen Welt der menschlichen Klassen und Gesellschaften. Sie gehören auch zur Sozialgeschichte, ohne sich auf sie zu beschränken (Le Goff 1990(1985): 12).

Das medial konstruierte Hexen-Bild6 der kollektiven Imagination kann als Paradebeispiel dafür angesehen werden, was Le Goff hier als „durch die Wechselfälle der Geschichte zusammengebraute kollektive Bilder“ bezeichnet. Vor dem Hintergrund der Wirkmächtigkeit solcher „zusammengebrauter kollektiver Bilder“ und ihrer brutalen Konsequenzen hebt Hermann Löher zur kritischen Anklage an. Löhers Anklageschrift erhält ihre eindrückliche Wirkung durch den Einsatz zweierlei Medien: Im Medium der Schrift präsentiert Löher ausführliche Passagen gelehrter Argumentation und unterstützt seine grundsätzliche Kritik mit dem religionspolitischen Rekurs auf prominente Gegner der Hexenverfolgung. Auf einer zweiten medialen Ebene führt Löhers Schrift die szenischen Berichte und Verhörprotokolle im Bild des Kupferstiches mit besonders eindrücklicher Vehemenz vor Augen. Unter seinen Kupferstichen findet sich auch eine Darstellung der sogenannten Nadelprobe (Abb. 1), die seit dem 16. Jahrhundert zum Nachweis eines „Teufelsmals“ und damit zur Beweisführung im Vorwurf des „Hexereidelikts“ eingesetzt wurde. Aufgrund ihrer komplexen Bezüge zur kollektiven Imagination des Hexen-Bildes soll dieser Darstellung hier besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.

—————

6 Siehe zum Begriff des Hexenbilds auch den materialreichen Band „Hexenwelten“ von van Dülmen 1987a. Der Band enthält zusätzlich zu hilfreichen wissenschaftlichen Beiträgen Materialien einer gleichnamigen Ausstellung in der Saarbrücker Stadtgalerie, die laut van Dülmen zwei Interessen verbindet: die „Präsentation und Rekonstruktion jener traditional-imaginären Welt, der Imagination von Magie und Hexenkunst, die im Mittelalter in immer neuen Figurationen, in der Phantasie, in Literatur, Kunst, Theater und nicht zuletzt im Film bis heute nachwirkte und lebendig blieb“ (van Dülmen 1987b: 9).

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Abb. 1: Kupferstich-Darstellung einer „Nadelprobe“ in Herrmann Löhers Schrift „Wemütige Klage“ von 1676. © Stadt Bad Münstereifel, Städt. St. Michael-Gymnasium.

Der Kupferstich steht hier in direktem Bezug zu einigen Textpassagen in Löhers Schrift, die eine solche Suche nach körperlichen Beweisen für den Teufelsbund beschreiben; so etwa Löhers kritische Schilderung des Verhörs der Anna Kemmerling durch Doctor Franciscus Beurman: Nachmittag hora secunda erzwung Doctor Beurman von den Scheffen die peinliche frage/sie wurde von 2. Mönchen exorcisirt, von 2. Henckeren mit Nalden probiret und ihre Haren aller enden abgeschoren. Der Hencker treckte ihr die Schun und Strümpffe auß/massete und lagte ihr die Beinschraube an. O! O! wie lamentirte und ruffte die Fraw/daß man ihr doch/als ein Scheffens Fraw 2. 3. a 4. Tage zeit solte geben [...] (Löher 2001(1676): 526).

Die gängige körperliche Examinierung auf der Suche nach einem „Teufelsmal“ hielt vielerorts Einzug in die standardisierten Verhörabläufe. Ein vorgegebenes Frageschema für Hexenprozesse aus dem Jahr 1590 sieht etwa unter dem allgemeinen Punkt „Absoluta generalia circa Confessionem“ dezidierte Fragen nach Hinweisen auf die (versuchte) Tilgung eines „Teufelsmals“: „13. Ob er ihr nit an der Stürrn vmbgangen, vnd sich erzaigt, alß ob er ihr waß wollte außkhrazen?“ (Behringer 2001: 280). Durch die ästhetische Dimension der Kupferstiche ergänzt steht Löhers kritische Anklageschrift beispielhaft für das komplexe Geflecht aus Schrift,

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Stich, Bild, Ereignis im Gerichtssaal und zeitgenössischer kollektiver Imagination. Der folgende Blick auf einige Stationen in der kollektiven Konstruktion des Hexenbildes verdeutlicht, dass Hermann Löhers Ins-Bild-Setzung der Nadelprobe dabei in einer Reihe von medialen Unternehmungen steht, die über Jahrhunderte hinweg eine kontinuierliche Arbeit am Hexen-imaginaire in Theologie, Philosophie und Volksglaube sowie in literarischen, bildlichen und filmischen Weiterverarbeitungen leisteten. Wie Wolfgang Behringer mit Blick auf Quellen insbesondere aus dem 15. Jahrhundert7 argumentiert, spielen Götter wie Wotan zwar spätestens seit dem hohen Mittelalter keine große Rolle mehr im direkten Sinne, doch blieben im Hexenbild „Vorstellungen“ lebendig, „wie die von den nächtlichen Fahrten des ‚Wuotens Heer‘ oder ‚Wütis Heer‘, der ‚Wilden Jagd‘, der ‚Gerechten Schar‘ und der ‚Nachtfahrt‘ der ‚Unholden‘, der Frau ‚Huldie‘ oder ‚Berchte‘, der nachts Schüsseln mit Mahlzeiten auf den Tisch gestellt wurden, um sie günstig zu stimmen“ (Behringer 1987: 18). Der Canon episcopi im Bußbuch des Bischofs Burckhard von Worms, zurückgehend auf ein karolingisches Kapitular des 9. Jahrhunderts und „[e]ine der berühmtesten mittelalterlichen Textstellen geistlicher Provenienz“ (Behringer 1987: 18) geht auf zeitgenössische Bilder und Narrative dieser Art ein und lehnt sie mit Autorität und Nachdruck ab: Dies darf nicht übergangen werden, daß es verbrecherische Weiber gibt, die, durch die Vorspiegelungen und Einflüsterungen der Dämonen verführt, glauben und bekennen, daß sie zur Nachtzeit mit der heidnischen Göttin Diana mit einer unzählbaren Menge von Frauen auf gewissen Tieren reiten, über vieler Herren Länder heimlich und in der Totenstille der Nacht hinwegeilen, der Diana als ihrer Herrin gehorchend und in bestimmten Nächten zu ihrem Dienste sich aufbieten lassen. Leider hat eine zahllose Menge, getäuscht durch die falsche Meinung, daß diese Dinge wahr seien, vom rechten Glauben sich abgewendet und der Irrlehre der Heiden sich angeschlossen, indem sie annimmt, daß es außer dem einen Gott noch etwas Göttliches und Übermenschliches gebe. Daher sind die Priester verpflichtet, den ihnen anvertrauten Gemeinden von der Kanzel nachdrücklich einzuschärfen, daß alles dieses von Grund auf falsch sei und solche Blendwerke nicht vom göttlichen, sondern vom teuflischen Geist herrühren [...]8.

Flugvorstellungen, wie sie im obigen Zitat vorgestellt werden, lehnte die Kirche in Abgrenzung zum Bilderkanon des Volksglaubens bis ins 12. Jahrhundert hinein als heidnisch ab (Behringer 1987: 18). Wie Behringer ————— 7

Behringer bezieht sich dabei vor allem auf Staber 1963. Behringer 1987: 18, zitiert nach Brackert 1977. Siehe auch den lateinischen Text bei Hansen 1901: 38 ff. Zur Interpretation siehe Hansen 1900: 78–87. 8

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und Riezler zeigen, kann man wohl in Deutschland von einer Ablehnung der Möglichkeit des Hexenflugs im geistlichen Diskurs bis ins 15. Jahrhundert sprechen (vgl. Riezler 1896; Behringer 1987). Die für die kollektive Imagination folgenreiche Zäsur im Hexendiskurs erfolgt zu Beginn des 13. Jahrhunderts, als in einflussreichen Schriften und Inquisitions-Handbüchern „unter bestimmten Prämissen nun die Möglichkeit des Fluges akzeptiert wurde“ (Behringer 1987: 18). Von nachhaltiger Bedeutung ist der Umstand, dass die scholastische Konzeption der Dämonenpakt-Lehre zwei Vorstellungen miteinander verband: einerseits augustinische Elemente einer Theorie über die Kommunikation zwischen Mensch und Dämonen mittels Gegenständen und Zeichen sowie andererseits thomistische Vorstellungen von expliziten und stillschweigenden „Teufelspakten“, von welchen der Ausübende nicht unbedingt weiß9. Die hier doktrinär geknüpfte Verbindung von heidnischen Götzendienern, häretischen Teufelsanbetern und Zauberern, die Behringer als zentrales Element ausmacht (Behringer 1987: 19), ist auch für die weitere kollektive Konstruktion des Hexenbildes von zentraler Bedeutung. Eine solche kontinuierliche Konstruktionsarbeit geht im Zusammenhang des Le Goffschen imaginaire über einen individuell-psychologischen Imaginationsbegriff hinaus, wie ihn beispielsweise Andrea Claudia Hoffmann aus einer „konstruktivistischen Perspektive als interpretative und konstruktive Handlung des geschlossenen Systems Gehirn“ (Hoffmann 2008: 81) zu fassen sucht. In Topoi wie dem Teufelsbund oder dem Hexensabbat10 bündelt die kollektive Imagination eine Vielfalt an Einzelaspekten des HexenBildes, wie es über Jahrhunderte in dämonologischen und philosophischen Traktaten, in päpstlichen Bullen und kirchenrechtlichen Schriften sowie im Medium der Sagen, Mythen und Märchen geformt wurde. Martin Delrios’ Beschreibung eines Hexensabbats aus dem Jahr 1599 stellt als späteres Beispiel aus der Zeit der Verfolgungswelle um 1600 eine der dichtesten Kompositionen verschiedener Einzelaspekte dieses Hexen-Bildes dar11. In seiner eindrücklichen Komposition enthält diese sprachliche Ins-BildSetzung gleichsam Züge der Gemälde Abrecht Dürers, Hans Baldung Griens, Pierre de Lancres oder Michael Heers und zeigt die unauflösliche Verbindung zwischen schriftlicher, mündlicher und visueller Medialisierung12. ————— 9

Siehe hierzu in Rekurs auf Dieter Harmening/Behringer 1987: 19. Zum Hexensabbat als zentralem Motiv des Hexen-imaginaires siehe besonders Ginzburg 1999 sowie die wichtige Quellensammlung von Ostorero 1999. 11 Siehe den Auszug aus Delrios’ Schrift in Behringer 2001: 231 ff. 12 Zu Grundzügen einer in diesem Kontext hilfreichen „Imagologie“ mit ideologiekritischen Nuancen siehe Dyserinck 1988: 13–38. Für weitere komparatistische Forschung im Bereich der 10

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Entscheidende Bedeutung in geistesgeschichtlicher, geschlechterpolitischer und verfolgungspraktischer Hinsicht der kollektiven Imagination kommt der 1486 veröffentlichten Schrift Malleus Maleficarum („Hexenhammer“) zu. Der Begriff der „Hexerey“, zum ersten Mal im Jahr 1419 im Kontext eines Luzerner Strafprozesses nachweisbar, erhält hier nun seine neue Dimension eines Hexenverbrechens mit komplexen Konnotationen des Teufelspakts aus dem Kontext der Ketzerverfolgung und Vorstellungen aus dem Bereich des Volksglauben. Die Brisanz dieser Entwicklung wird erst dann deutlich, „wenn man sich vergegenwärtigt, daß darin auch ein Angebot an die Bevölkerung lag, die Schuldigen an vermeintlichen zauberischen Verbrechen mit Hilfe der Obrigkeit unschädlich zu machen“ (Behringer 2001: 78). Durch die Medialisierung des Hexereibegriffs im Malleus erfuhren die zuvor disparaten Vorstellungen eine autorisierte Festschreibung und anwendbare Definition. Der neue Hexereibegriff der Inquisition, wie er im Malleus Maleficarum präsentiert wurde, bildete damit „die Grundlage für die großen Hexenverfolgungen der Neuzeit“ (Behringer 2001: 78) und damit auch die Grundlage für neue performative Inszenierungen im Rahmen der Examinierung und des Verhörs. 4. Körperlichkeit und Inszenierungsraum Gerichtssaal Die Prozesse gegen die vermeintlichen Hexen werden nun zu theatralischen Spektakeln, in denen die in den juristischen Inquisitionshandbüchern entwickelten Bildwelten real aufgeführt werden: Der Gerichtsaal wird zum Ort der Inszenierung des Hexen-Bildes in einer eigenen ästhetischen Ausgestaltung; die Hinrichtungen der als Hexen Verurteilten nahmen gemeinhin Dimensionen eines Massenspektakels an und können in den Worten Wolfgang Behringers als „Schauspiele ersten Ranges“ bezeichnet werden, „zu denen aus Sensationslust nicht selten Zehntausende von Menschen aus allen Himmelsrichtungen herbeiströmten“ (Behringer 2001: 275). Im Zusammenspiel von Schaulustigkeit der Bevölkerung und Inszenierungswille der Obrigkeit formiert sich ein Nexus, der in seiner Materialität einzelne Facetten des imaginaire zusammenführt und auf der Grundlage eigener ästhetischer Ausgestaltung ins Bild setzt. Die Suche nach dem „Teufelsmal“, „Stigma Diaboli“, „Signum“ oder „Notum“, die als fester Bestandteil der Beweisaufnahme in zahlreichen Dokumenten belegt ist, zeigt diesen Zusammenhang exemplarisch. So lobt ————— kollektiven Vorstellungswelt unter einem spezifischen Imaginations-Begriff siehe das Handbuch von Beller/Leerssen 2007.

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Herzog Ferdinand in seinem Befehl an den Pflegrichter seines Gerichts Schongau im Jahr 1589 ausdrücklich die detaillierte körperliche Untersuchung im Prozess gegen Schadzauber, der in jüngerer Vergangenheit große Ernteschäden angerichtet habe. Insonderheit erinnern wir uns, das du Neulichen von einem weib [...] andeutung gethan, dieselben waistu vleißig Ihres thuenß und wanndtls nachzuforschen, auch do Inditia verhannden, Zu gefenckhnus nemmen lassen, und unverzogenlich darauf den durch dich angetheuten Nachrichter zu Bibrach beschaiden, uber das weib furen, am Leib wol besichtigen lassen, ob die Signa, Nota oder zaichen, damit sy der bloß Veindt Zu merckhen Pflegt, an Ir gefunden werden, auch Ime Nachrichter für dich allerlai auf solche Leuth dienlich fragen, Und wie du sachen befindest, waistu uns umbstendiglich Zuberichten [...] Darnach hastu dich zu richten (Behringer 2001: 211).

Akribische Untersuchung des Körpers und demonstrative Nadelprobe forcieren mit ihrem Inszenierungscharakter die sozio-kulturelle Dynamik der Hexenprozesse. Jeweils aus sehr spezifischen Konflikten resultierend standen Hexenprozesse und die genaue Probe in einem sensiblen Gefüge aus Anschuldigung, Verhör, drohender Bestrafung des Verleumders und genereller Stimmungslage der Bevölkerung. Nicht selten kommt daher der Stimmung in der Bevölkerung eine entscheidende Rolle für den Beginn von Hexenverfolgungen zu, da die Obrigkeiten in Krisenzeiten mittels Petitionen oder der Androhung offener Rebellion regelrecht unter Druck gesetzt wurden (vgl. Behringer 2001: 268). Die hier angezeigte Verbindung von Gewalt und ideologischem Rahmen findet auch in Le Goffs Ausführungen zum imaginaire Widerhall, der im Aspekt der Gewalt kollektive Vorstellungswelt und (materielle) Realität in Zusammenhang zueinander gefügt sieht: „[A]ufgrund des Gewaltstreichs, durch den es das ‚Reale‘ in einem vorgefaßten konzeptionellen Rahmen preßt, hat das Ideologische eine gewisse Verwandtschaft mit dem Imaginären“ (Le Goff 1990(1985): 8). Le Goffs Verweis auf den Gewaltaspekt könnte ein gedankenanregender Ausgangspunkt für die kulturwissenschaftliche Forschung zur Kollektivimagination im Generellen sowie für die Forschung im Bereich der Religionsästhetik im Speziellen sein, die die Frage nach dem Zusammenhang von (religiösen) Ästhetiken und Macht und Gewalt zentral stellen. Die intime Körperlichkeit, welche den Examinierungstechniken im Kontext der Kollektivimagination eine materielle Grundlage schafft, steht dabei in einem Spannungsverhältnis zur oftmals überwältigenden, anonymisierenden Zahl der Opfer. So wurden beispielsweise in der Bischofsstadt Bamberg die Todesurteile während der großen Verfolgungswelle von 1626

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bis 1630 derart standardisiert, daß für die einzelnen Verurteilten Nummern die Namen ersetzten (Behringer 2001: 312). 1590 berichtet ein Scharfrichtergehilfe aus Eichstätt über den Verlauf der körperlichen Tortur im Kontext der Nadelprobe: Dann wann ein trudt [eine Hexe, JK] in die gefengknus kombt, so muss sie sich nackendt ausziehen, alsdann sein maister ihr des geweihten salz in den mundt, soviel als er zwischen zwaien fingern halten kann und ein trunck geweiheten wassers und ein trunck taufwassers. Hernach suche er ihr das zaichen, welches ein flecklein ist, als wann es geritzt were, wann ers dann gefunden, so sticht er mit einer schnaidenden nadel hinein, do es dann ein trudt ist, so gibt es kain blud, auch verregt sie sich nicht. Das salz und wasser aber solle darzu helfen, das sie in den verhör desto eher bekhennen solle, aber doch mus manche auch sehr gemertert werden, bis man etwas aus ihr bringe (Behringer 2001: 212).

Auf den großen Interpretationsspielraum bei der Identifizierung eines sogenannten Teufelmals weisen zeitgenössische Kritiker mehrfach hin. Michel de Montaigne etwa lässt in seinen Augenzeugenberichten deutliche Zweifel an dem Verfahren bzw. an der Existenz eines solchen Teufelmals anklingen: „Ich sah sowohl Beweise und freie Geständnisse als ich weiß nicht welch unmerkliches Mal [Hexenmal] an dieser elenden Alten und erkundigte mich und sprach, soviel ich begehrte, wobei ich mich der gewissenhaftesten Aufmerksamkeit befleißigte, deren ich fähig bin [...] Es heißt schließlich seine Vermutungen allzu hoch veranschlagen, wenn man um ihretwillen einen Menschen lebendig verbrennen läßt [...]“ (Behringer 2001: 161). Die Nadelprobe und mit ihr die Inszenierung und körperliche Pein, reiht sich in ihren geistesgeschichtlichen Kontexten und medialen Darstellungen somit ein in die Zeugnisse des „Imaginären“ in der Gesellschaft13. Um derartige Zeugnisse in ihrer komplexen Verschränktheit zu erfassen, sucht Le Goff mithilfe eines weitgefassten Bildbegriffs weit über Werke der bildenen Kunst hinaus auch Bezüge zwischen Objekten materialer Kultur und sozialen Praktiken einzubeziehen. „Sogar die prosaischste Urkunde kann nach Form und Inhalt mit Begriffen des Imaginären kommentiert werden. Pergament, Tinte, Schrift, Siegel und anderes drücken mehr aus als eine Vorstellung, eine Idee von Kultur“ (Le Goff 1990(1985): 9). Denn in ihnen sei vielmehr das Zusammenspiel mit konkreten Situationen, Vorstellungen von Verwaltung, Macht, Gesellschaft, Zeit, Justiz und mehr gespiegelt. So nimmt Le Goffs Ansatz darüber hinaus gerade komplexe Beispiele —————

13 Evelyne Patlagean macht bezüglich dieser Zeugnisse ein heterogenes Feld an Dokumenten, Materialien und Vorstellungen auf, während sie ähnlich wie Le Goff dabei der Ikonographie eine prominente Bedeutung einräumt. Vgl. Patlagean 1978: 246.

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materialer Kultur als soziale Tatsachen mit in den Blick. Darstellungen symbolischer Hierarchien in Prozessionen, Kleidung, Wappen, Fahnen, Zeremonien oder Königseinzüge (Le Goff 1990(1985): 14) erweitern somit ebenso den Untersuchungsbereich wie Räume als geographische und imaginäre Rahmen sozialer Praxis (Le Goff 1990(1985): 23) oder Feste, Bestattungen (Le Goff 1990(1985): 27), Gemälde oder Filme „als Verbreitung dieser Praktiken und Bilder innerhalb des sozialen Gewebes“ (Le Goff 1990(1985): 27). Insofern erklärt sich auch Le Goffs formulierte Vision einer neuen politischen Geschichte, die als eine „historische politische Anthropologie“ (Le Goff 1990(1985): 27) die Mentalitätsgeschichte ablösen soll. „Das Imaginäre nährt den Menschen und veranlaßt ihn zum Handeln. Es ist ein kollektives, soziales, historisches Phänomen. Eine Geschichte ohne das Imaginäre ist eine verstümmelte, körperlose Geschichte“ (Le Goff 1990(1985): 13). 5. Disneys Filmproduktionen als Station des Hexen-imaginaire Diese „Bilder innerhalb des sozialen Gewebes“ erfahren besonders durch das Medium Film im Laufe des 20. Jahrhunderts neue (Re-)Inszenierungen, Kommentierungen und Weiterverarbeitungen. Walt Disneys Filmproduktionen, die ein generationenübergreifendes Millionenpublikum erreichten, unterstreichen die Bedeutung des Mediums in diesem Kontext. Insbesondere sein Zeichentrickfilm „Snow White and the Seven Dwarfs“ (1937) stellt dabei eine besonders vielschichtige Station in der kollektiven Konstruktion des Hexen-imaginaires dar. Von besonderem Interesse aus religionsgeschichtlicher Perspektive erweisen sich hier Disneys Bezüge zur europäischen Kollektivimagination, seine gestalterischen Umsetzungen sowie seine expliziten religionspolitischen Intentionen. Walt Disneys ästhetische Gestaltung seiner filmischen Imagination geht in einem erheblichen Maß auf Vorbilder aus der europäischen Kunst und Folklore zurück. Schon in jungen Jahren beschäftigte sich Disney in der Bibliothek in Kansas City mit europäischen Märchen sowie auf ihnen basierenden Theater- und Filmproduktionen. In den Ästhetiken der europäischen Kollektivimagination sah Disney ein solch großes Potenzial, dass er seine Mitarbeiter kontinuierlich dazu anregte, sich mit europäischen Kunstformen auseinanderzusetzen (Smith 2008: 71). Als Disney sich im Sommer 1934 entschieden hatte, das riskante Unternehmen eines abendfüllenden Zeichentrickfilms nach dem Grimmschen Märchen „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ anzugehen, stellte er die dramaturgische Gestaltung und die Zeichnerebene ins Zentrum des Pro-

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jekts. Dies zeigte sich auch in der Maßnahme, von nun an eine ausgewählte Gruppe von Dramaturgen und Zeichnern in einem Nebenraum seines Büros unterzubringen (Lambert 2008: 34). Das Studio konnte in Don Graham einen bekannten Dozenten am Chouinard Art Institute gewinnen, der fortan mehrere Tage pro Woche im Studio Unterricht in Zeichnen, Bewegungsanalyse, Tieranatomie und Grundlagen der Schauspielkunst gab (vgl. Solomon 2008: 75). Ziel der ungewöhnlichen Maßnahmen war nichts anderes als eine kunst- und medienhistorisch revolutionäre Ästhetik: „[D]ie Bildkompositionen ohne Bewegung standen im Widerspruch zu dem sich ständig bewegenden Bild auf der Leinwand [...] Das war eine in der Kunstgeschichte noch nie dagewesene, neue Art des Zeichnens. [...] Es mussten neue Seh-, Denk- und Herangehensweisen entwickelt werden“ (Don Graham, zitiert in Solomon 2008: 74). Diese neuen Seh-, Denk- und Herangehensweisen wurden besonders im Filmprojekt „Schneewittchen“ erarbeitet und zur wirkungsvollen Kontrastierung von christlich-tugendhaftem Mädchenideal und boshafter Hexenfigur eingesetzt. Disney nahm so die Ästhetiken von zahlreichen Künstlern in seine Produktionen auf, die aus Europa stammten oder vom dort florierenden Genre der Buchillustration zu Beginn des 20. Jahrhunderts beeinflusst waren. Allan Robin sieht ihn in dieser Hinsicht als wahre kulturelle Scharnierstelle zwischen der kollektiven Imagination Europas und der Amerikas: „Disney saugte die Vergangenheit und die ‚Alte Welt‘ auf wie ein Schwamm und machte sie gleichzeitig fruchtbar für eine neue und lebendige Kultur; seine Energie und sein Optimismus waren absolut transatlantisch“ (Allan 2008: 51). Die idyllischen Filmszenen um die Figur Schneewittchens und der Zwerge wurden beispielsweise in starker Anlehnung an Arbeiten des deutschen Künstler Ludwig Richter (1803–1884) angefertigt, der durch populäre Buchillustrationen der Grimmschen Märchen und anderer Volkserzählungen berühmt geworden war (vgl. Allan 2008: 46). Die Verwandlungsszene der zaubernden Königin als Hexenfigur jedoch wurde von Joe Grant (1908–2005), der das Character-Model-Department im Disney-Studio leitete, zum einen im Rekurs auf europäische Vorlagen wie Wilhelm Busch und Arthur Rackham konzipiert. Zum anderen waren Verwandlungsszenen im Kino auf beiden Seiten des Atlantiks zum Themenbereich Magie und Wissenschaft Impulsgeber wie etwa „Dr Jekyll and Mr Hyde“ (1932) (vgl. Allan 2008: 48). Beispielhaft für die hiermit verbundene äußerst nachhaltige ästhetische Prägung kultureller Imagination steht der Einfluss, den „Schneewittchen“ in den Folgejahren auch auf bedeutende Filme wie „Der Zauberer von Oz“ (1939) haben sollte. Gestaltet durch ästhetische Anleihen aus den „zusammengebrauten kollektiven Bildern“ des europäischen Hexen-imaginaires wird die Hexenfigur

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in Disneys Film nun im scharfen Kontrast zur Hauptfigur Schneewittchen konzipiert. Schneewittchen vereint auf sich die Attribute eines liebreizenden, sittlichen, arbeitstüchtigen jungen Mädchens, das im Einklang mit der Natur stehend die Werte eines christlich geprägten amerikanischen Hausfrauenideals der 1920er und 1930er Jahre illustriert (zu den Attributen kindlicher Unschuld vgl. Allan 2008: 45). Durch die zeichnerische Darstellung wird die Verletzlichkeit und Unfertigkeit der Figur zudem noch betont. Die mit Blick auf die Grafik leicht ungenaue Zeichnung sowie die mädchenhafte Kleidung mit Puffärmeln, roter Schleife und konservativ langem Kleid reihen die Figur ein in die US-amerikanischen Darstellungen kindlicher Protagonisten, wie sie Shirley Temple oder auch Mary Pickford auf den Kinoleinwänden der 1930er Jahre verkörperten (zur Darstellung Schneewittchens zwischen der vorpubertären Shirley Temple und romantischen Mädchenfiguren Europas vgl. Allan 2008: 45 f.). Im Gegensatz hierzu werden mit der Königin Eitelkeit, Schönheit, Missgunst und magische Beherrschung der Natur assoziiert und besonders furchterregend in einer zentralen Szene dargestellt, welche die Verwandlung der schönen Herrscherin in die Hexenfigur des buckligen Marktweibs vorführt. In ihrer magischen Beschwörung der Naturgewalten, dem Mischen des Zaubertrunks und dem Bündnis mit den dunklen Mächten, welche durch Raben, Totenschädel und Skelette angedeutet sind, wird deutlich, dass Disney hier bewusst Elemente der Lady Macbeth, aber auch der kollektiven Hexenimagination Kontinentaleuropas zu einem eindrucksvollen Bild zusammenführt, das seinerseits die Imagination von Generationen prägen sollte. Durch den Kontrast der Hexenfigur wird die Tugendhaftigkeit der christlich attribuierten Schneewittchen-Figur noch deutlicher herausgestellt und die Protagonistin als ideale Partnerin ihres Prinzen präsentiert. Auf der ästhetisch-technischen Ebene gingen mit der Titelfigur Schneewittchen große Herausforderungen in der zeichnerischen Gestaltung einher. Denn es musste nicht nur einem an Tier-Cartoons gewöhnten Publikum eine menschliche Figur vermittelt werden, sondern diese Figur sollte zudem ohne übertriebene Mimik und Gestik so realistisch wirken wie möglich und ohne jegliche verzerrte Darstellung die oben erwähnten Attribute Reiz, Schönheit und Anmut zum Audruck bringen. Durch speziell angefertigte Filmaufnahmen der Tänzerin Marge Belcher (Solomon 2008: 78 f.) schaffte Ham Luske die Grundlage der Rotoskopie, bei der Bewegungen der Zeichentrickfiguren durch Abpausen von menschlichen Bewegungen in Filmsequenzen kreiert werden. Obwohl Hauptzeichner wie Grim Natwick das Verfahren ablehnten und auch Disney selbst große Zweifel hatte, wurden einige Szenen mit Schneewittchen und dem Prinzen rotoskopiert (So-

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lomon 2008: 78). Auf dieser Grundlage wird etwa die wichtige Schlussszene des Films eindrücklich zur religiösen Feier der Partnerschaft zwischen beiden gestaltet, deren ewiges Fortleben im glanzvoll erstrahlenden Wolkenschloss ausgedrückt ist. Für diese spezifische Figuration des Hexen-imaginaire im Kontrast von Hexe und Schneewittchen ist neben der technischen Gestaltung des Gegensatzpaares auch Disneys Gedanke hinter dieser Gestaltung von Bedeutung. Disney beschreibt die „vorrangige Aufgabe des Cartoons“ als künstlerische Gestaltung am Schnittpunkt von individueller und kollektiver Imagination: Er sieht die Aufgabe des Cartoons „nicht darin, einen wirklichen Bewegungsablauf oder tatsächliche Geschehnisse abzubilden oder zu kopieren, sondern eine Figur zu Leben und Bewegung zu erwecken, Dinge auf die Leinwand zu bringen, die schon in der Phantasie der Zuschauer existieren und Traumphantasien und phantastische Einfälle, die uns alle schon einmal im Leben durch den Kopf gegangen sind oder uns in verschiedenen Formen vor Augen geführt wurden, lebendig werden zu lassen“ (Solomon 2008: 78). Eingebettet ist diese Rezeption des Hexenbildes bei Disney darüber hinaus in seine spezifische Vorstellung von der gesellschaftlichen Funktion seiner Zeichentrickfilme. Disney sieht in seinen Produktionen und ihrer Wirkung auf individuelle und kollektive Imaginationsprozesse einen dezidierten Beitrag zum religiösen Wohl der Gesellschaft: I have watched constantly that in our movie work the highest moral and spiritual standards are upheld. [...] Both my study of Scripture and my career in entertaining children have taught me to cherish them. But I don’t believe in playing down to children, either in life or in motion pictures. I didn’t treat my own youngsters like fragile flowers, and I think no parent should. [...] We would be untruthful, insincere, and saccharine if we tried to pretend there were no shadows. Most things are good, and they are the strongest things; but there are evil things too, and you are not doing a child a favor by trying to shield him from reality. The important thing is to teach a child that good can always triumph over evil, and that is what our pictures attempt to do (Gammon 1963).

Den Erfolg seiner Film-Produktionen sieht Disney dabei aufs engste mit seiner persönlichen religiösen Sozialisation und Motivation verbunden: Thus, whatever success I have had in bringing clean, informative entertainment to people of all ages, I attribute in great part to my Congregational upbringing and my lifelong habit of prayer. To me, today, at age sixty-one, all prayer, by the humble or highly placed, has one thing in common: supplication for strength and inspiration to carry on the best human impulses which should bind us together for a better world. Without such inspiration, we would rapidly deteriorate and finally perish (Gammon 1963).

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Vor dem Hintergrund dieser Aussagen Disneys ergibt sich in seinen Filmproduktionen eine spezifische Konstellation in der Entwicklung des Hexenimaginaires. Als Scharnierstelle zwischen europäischer Kollektivimagination und US-amerikanischer Kultur der 1930er Jahre werden spezifische Produktionstechniken eingesetzt, um im Rekurs auf das vorgeformte Hexenbild eine Kontrastfolie zu erarbeiten, vor welcher das tugendhafte Ideal der Hauptfigur Schneewittchen noch stärker herausgearbeitet wird und zudem durch die neue Technik der Rotoskopie an die bis dahin gewohnten filmischen Imaginationstechniken angepasst und vermenschlicht werden kann. Der Widerstreit zwischen Gut und Böse, der im Zentrum dieser Filmproduktion steht, führt im Zeichentrickfilm zum Triumph des Guten, der im strahlenden Wolkenschloss der Schlussszene mit religiöser Symbolik inszeniert wird. Eng verbunden ist dieser Triumph darüber hinaus mit Walt Disneys religiöser Grundmotivation für seine Filmproduktionen im Kontext der kollektiven Imaginationsprozesse: der Darstellung des Kampfes von Gut und Böse für ein altersunabhängiges Publikum und das Aufzeigen der Möglichkeit, dass auf der Grundlage tugendhafter Lebensführung das Gute triumphieren kann. 6. Zusammenfassung und Fazit Ausgehend von Löhers Medialisierung des kulturhistorischen Topos des „Teufelsmals“ und über die vielzähligen Stationen der Weiterverarbeitung „zusammengebrauter“ kollektiver Hexenbilder hinweg lässt sich im Licht des Le Goffschen Konzepts eine komplexe Verschränkung materieller, physischer, geistesgeschichtlicher und religionspolitischer Dimensionen des imaginaire beobachten. Die Konsequenzen eines Hexen-Bildes als Bestandteil einer über Jahrhunderte geformten kollektiven Imagination werden in Löhers Darstellung mittels einer Szene der Examinierung, Inszenierung und materiellen Beweisführung medial ins Bild gesetzt. In mehrfacher Hinsicht ist Löhers mediale Gestaltung dabei mit dem Begriffsfeld der Imagination zu charakterisieren. Erstens partizipiert der Kupferstich in Löhers Schrift an der diskursiven Verhandlung derjenigen kulturellen Normen, die sich in der kollektiven Imagination über Jahrhunderte mit der facettenreichen Konstruktion von Hexen-Bildern verbindet. Zweitens stellt die Abbildung eine Imagination im Sinne einer konkreten medialen Ins-Bild-Setzung (mise-enscène) dar, die eine Szene aus dem diskursiven Umfeld des kollektiven Hexen-Bildes im Medium des Kupferstichs und als Teil der Anklageschrift veranschaulicht. Der Bildinhalt veranschaulicht drittens mit dem Topos der Nadelprobe einen wichtigen performativen Aspekt der kulturhistorischen

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Imagination des Hexen-Bildes. Denn die Idee des „Teufelsmals“ ist als kulturhistorischer Nexus charakterisierbar, an welchem ausdifferenzierte Gelehrten-Diskussionen aus theologischen, philosophischen, dämonologischen Kontexten in einem physischen Körpermerkmal der Angeklagten gebündelt sowie auf einer visuellen und haptischen Ebene vorgeführt werden können. Gerade dieses Zusammenspiel des Körperlich-Materiellen mit kollektiven sowie individuellen Vorstellungswelten bildet einen Fokus, in dem eine zentrale Anschlussmöglichkeit des Le Goffschen Programms für religionsästhetische Fragestellungen zu sehen ist. Der multidisziplinäre Zugang dieses Programms lässt neben diesen Darstellungen auch spätere Stationen des Hexen-imaginaires integrieren, wie sie etwa in der Weiterverarbeitung im Medium Film zu Tage treten. Das Beispiel der Disney-Produktion „Schneewittchen“ zeigt, wie der Filmemacher im US-amerikanischen Kontext der 1930er Jahre sich der „zusammengebrauten kollektiven Bilder“ bedient und dem Hexen-imaginaire weitere religions- und kulturgeschichtlich bedeutsame Facetten hinzufügt. Wichtige kritische Anschlussfragen, wie sie etwa Otto Gerhard Oexle an das Le Goffsche Programm formuliert, enthalten zugleich Anregungen für eine weiterführende Umsetzung des Konzeptes. Der Ansatz dürfte beispielsweise davon profitieren, dass Fragen nach dem politischen, gesellschaftlichen und religiösen Selbstverständnis von Akteuren gestellt, Bereiche wie der konkrete Einsatz der Suggestivkraft von Bildern zur gesellschafts- bzw. religionspolitischen Gestaltung analysiert und die Bedeutung von Bildern als öffentliche Medien im Vergleich visueller Kulturen herausarbeitet werden. Neben diesen Desideraten auf der Untersuchungsebene stellen sich Fragen nach der Rolle disziplinspezifischer Identitäten und forschungspolitischer Realitäten sowie einige Fragen, die Oexle für den epistemologischen und methodologischen Bereich formuliert (Oexle 1990: 149). Evelyne Patlagean fasst Potenzial und institutionelle Ausrichtung des Le Goffschen imaginaire-Konzepts in der folgenden Einschätzung zusammen: „Die Historiographie des Imaginären ist ein gutes Beispiel für die aktuelle Verteilung der Karten zwischen der Geschichtswissenschaft und den Sozialwissenschaften auf der einen, der Geschichtswissenschaft und der Literaturwissenschaft oder der Kunsttheorie auf der anderen Seite“ (Patlagean 1978: 269). Die kulturwissenschaftliche Religionswissenschaft bzw. der Bereich der Religionsästhetik mit seinem spezifischen Interesse an Fragen der Materialität und aisthesis könnten in der Vergabe der Karten im sozialund geisteswissenschaftlichen Feld eine eigene Rolle spielen.

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Imagination – Visualität – Repräsentation Religionsästhetische Konstruktion der Kategorie der zentralaustralischen Aborigines und das Paradigma der Fotografie Jens Kreinath Für Rana

Der vorliegende Aufsatz rekonstruiert die Etablierung des Paradigmas der Fotografie in der Religionsethnologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Dabei wird anhand der Erforschung der Aranda das Wechselverhältnis von Imagination und Visualität in der Repräsentation fremder Religionen und der religionswissenschaftlichen Konstruktion der ‚zentralaustralischen Aborigines‘ herausgearbeitet. Mittels der historischen Diskursanalyse wird aufgezeigt, wie die Fotografie zu einer religionsästhetischen Konstruktion der Kategorie der zentralaustralischen Aborigines beitrug und damit die Bedingungen für die Formation des modernen Ritualbegriffes schaffte. Diese Verschiebung in der methodischen Herangehensweise spiegelt sich auch in den veränderten Formen der Begriffs- und Theoriebildung wider. Dabei erhielt das fotografische Dokument einen entscheidenden Stellenwert in der Erschließung und Konzeptualisierung fremder Religionen und verlagerte somit das Verhältnis von ‚religiöser Imagination‘ und ‚religionswissenschaftlicher Imagination‘. Dabei ist hervorzuheben, dass die Medien der Repräsentation entscheidend zur Bestimmung dieses Feldes religionswissenschaftlicher Forschung beitragen.

The true method of discovery is like the flight of an aeroplane. It starts from the ground of particular observations; it makes a flight in the thin air of imaginative generalizations; and it again lands for renewed observation rendered acute by rational interpretation. The reason for the success of this method of imaginative rationalization is that, when the method of difference fails, factors which are constantly present may yet be observed under the influence of imaginative thought (Whitehead 1979: 5). While there is a staggering amount of data, of phenomena, of human experiences and expressions that might be characterized in one culture or another, by one criterion or another, as religious—there is no data for religion. Religion is solely the creation of the scholar’s study. It is created for the scholar’s analytical purposes by his imaginative acts of comparison and generalization (Smith 1982: xi).

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Einleitung Schon mehrfach ist die parallele Geschichte der Erfindung der Fotografie und der Etablierung der Anthropologie als akademische Disziplin herausgearbeitet worden (Pinney 1992). Diese Parallelität ist vor allem auf die Methoden der Feldforschung und der Darstellung ethnographischer Forschungsergebnisse hin untersucht worden. Bislang ist jedoch diese Parallelität weder in Bezug auf die Geschichte der Religionswissenschaft noch in Bezug auf die religionswissenschaftliche Theorie- und Begriffsbildung berücksichtigt worden. Der vorliegende Aufsatz stellt einen der ersten Versuche dar, die Etablierung eines Paradigmas der Fotografie in der Religionswissenschaft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts herauszuarbeiten und anhand der ethnographischen Erforschung zu rekonstruieren. Ziel ist es, vor dem Hintergrund eines spezifischen Forschungsproblems das Wechselverhältnis von Imagination und Visualität in der Repräsentation fremder Religionen begriffsgeschichtlich zu bestimmen. Die historische Diskursanalyse dient dabei als Methode, die Rolle der Fotografie in der religionsästhetischen Konstruktion der Kategorie der zentralaustralischen Aborigines methodologisch zu erschließen (Wolfe 1999; Russell 2001; Kucklick 2006)1 und deren Relevanz für die Formation des modernen Ritualbegriffes wissenschaftsgeschichtlich einzuordnen (Schlatter 1988: 172– 180, 185–189; Asad 1988; Boudewijnse 1995; Bremmer 1998). Das entscheidende methodologische Problem besteht darin, einen begriffsgeschichtlichen Rahmen zu erstellen, der es ermöglicht, das theoretische und methodologische Potenzial des Paradigmas der Fotografie für einen religionsästhetischen Imaginationsbegriff zu bestimmen, mittels dessen sich die Formen der religionswissenschaftlichen Imagination in der Erforschung fremder Religionen aufzeigen lassen. Ein heuristischer Ausgangspunkt für eine solche Rekonstruktion des Imaginationsbegriffes besteht darin, im Einzelnen die wissenschaftsgeschichtlichen Kontexte zu identifizieren, anhand derer die Formation eines empirischen wissenschaftlichen Paradigmas erkennbar wird, das für die Erforschung fremder Religionen leitend wurde. In diesem Zusammenhang gilt es vor allem, die visuel————— 1 Im Rahmen dieses Aufsatzes wird zwischen den ‚zentralaustralischen Aborigines‘ und den ‚Aranda‘ aus methodologischen Gründen differenziert, um den Unterschied zwischen der ethnographischen Beschreibung einer aufgrund ihrer Sprache bestimmten ethnischen Gruppe – den Aranda – und der religionsethnologischen Kategorie – den zentralaustralischen Aborigines – zu markieren. Obwohl im englischen Sprachgebrauch vorwiegend die Termini ‚Arunta‘ (Spencer/Gillen 1899; 1904; 1927; Gennep 1906; Durkheim 1981) oder neuerdings auch ‚Arrernte‘ gebraucht werden (Gill 1998; Breen/Pensalfini 1999; Austin-Broos 2009: 279), wird hier dem deutschen Sprachgebrauch gefolgt und der Terminus ‚Aranda‘ verwendet (Strehlow 1907–1920; siehe auch Gill 1998: 270; Kenny 2008: vi; Nicholls 2007: 85).

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len Repräsentationsformen zu analysieren, die dazu dienten, einen vermeintlich objektiven Zugang zur Forschung vorzubereiten und dabei fremde Religionen nach Maßgabe etablierter religionswissenschaftlicher Standards als ‚primitiv‘ zu klassifizieren2. In diesem Beitrag wird somit die These vertreten, dass der Fotografie nicht nur in der Erforschung fremder Religionen, sondern auch in der religionsästhetischen Konstruktion der Kategorie3 der zentralaustralischen ‚Aborigines‘4 und der Transformation der Imaginations- und Ritualbegriffe eine entscheidende Rolle zukommt. Dabei gilt es nicht nur, die Rolle der Fotografie in der religionswissenschaftlichen Imagination zu identifizieren, sondern auch herauszuarbeiten, unter welchen Bedingungen die Fotografie zu einem Paradigma religionswissenschaftlicher Begriffs- und Theoriebildung avancierte (Grimshaw 2001; Edwards 2002). Die Leitidee dieses Beitrags besteht darin, eine Verschiebung des Imaginationsbegriffes in der Religionswissenschaft auf die Einführung der Fotografie als Mittel der ethnographischen Forschung zurückzuführen; denn in entscheidender Weise wurden hiermit die empirischen Grundlagen für die religionswissenschaftliche Forschung geschaffen (siehe auch Smith 1982: xi–xiii; Patlagean 1990: 244–247). Eine heuristische Definition des Imaginationsbegriffes soll dabei helfen, den einsetzenden Paradigmenwechsel in der Religionswissenschaft vor dem Hintergrund des Wechselverhältnisses von Imagination, Visualität und Repräsentation analytisch zu bestimmen. Dadurch können die begriffs- und ————— 2 Der Ausdruck ‚primitiv‘ wird im allgemeinen Sprachgebrauch verwendet, um auf einen Sachverhalt zu verweisen, der als ‚primär‘ oder ‚basal‘ angesehen wird oder sich durch den Grad der relativen Einfachheit auszeichnet. In der Ethnologie und Religionswissenschaft des späten 19. Jahrhunderts erhielt dieser Ausdruck eine spezifische Bedeutung, als er in evolutionistischer Perspektive auf Kulturen und Religionen übertragen wurde, die als archaisch und wenig entwickelt angesehen wurden. In der modernen Ethnologie und Religionswissenschaft wird der Begriff aufgrund seiner pejorativen und irreführenden Implikationen weitgehend vermieden. 3 Unter ‚Kategorie‘ wird hier eine spezifische Klasse oder Unterteilung innerhalb des Systems einer Klassifikation begriffen, die sich dadurch auszeichnet, dass sie als ebenso fundamental wie distinkt für die wissenschaftliche Begriffs- und Theoriebildung angesehen wird. Da es sich hier um eine wissenschaftsgeschichtliche Rekonstruktion der Formation einer religionswissenschaftlichen Kategorie handelt, wird in diesem Zusammenhang der damals verwendete Begriff benutzt, um genau diesen Prozess zu beschreiben. 4 Der Ausdruck ‚aboriginal‘ wurde im englischen Sprachraum bereits im 16. Jahrhundert eingeführt. Der Terminus ‚Aborigines‘ wurde in Australien jedoch erst seit Ende des 18. Jahrhunderts auf die indigenen Ureinwohner übertragen, der heutzutage für Mitglieder der lokalen Gemeinschaft aufgrund seiner evolutionstheoretischen Implikationen negativ belegt ist. Da es sich bei dem Ausdruck ‚zentralaustralische Aborigines‘ um einen klassifikatorischen Begriff handelt, der seit Ende des 19. Jahrhunderts zur maßgeblichen Grundlage der religionswissenschaftlichen Theorieund Begriffsbildung herangezogen wurde, wird dieser Ausdruck benutzt, um den Unterschied zwischen der Kategorie und den mit ihr bezeichneten Kultur zu markieren.

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theoriegeschichtlichen Rahmenbedingungen für die Bedeutungsverschiebung des Imaginationsbegriffes in der Religionswissenschaft des späten 19. Jahrhunderts herausgearbeitet werden (Cancik/Mohr 1988: 132–136, 147– 148; Kurasawa 2004: 93–112, 167–170). Vor diesem Hintergrund wird Imagination hier grundsätzlich in zweierlei Hinsicht definiert, nämlich als Vorstellungskraft – namentlich als die Fähigkeit, mentale Bilder oder Konzepte von Objekten oder Ereignissen zu bilden, die den Sinnen nicht direkt zugänglich sind – und als Vergegenwärtigung – namentlich als der intentionale Akt oder Prozess, solche mentalen Bilder oder Konzepte zu bilden und der Vorstellung gegenwärtig zu machen. Um den in diesem Beitrag aufgezeigten Paradigmenwechsel in der Religionswissenschaft zu identifizieren, werden außerdem folgende Arten der Imagination unterschieden: 1.) Imagination als eine Fähigkeit, Abstraktionen zu bilden, die zu einem gewissen Grad konsistent mit der durch sie dargestellten Wirklichkeit sind (religionswissenschaftliche Imagination), 2.) als eine Form der kollektiven Repräsentation in einer religiösen Vorstellungswelt, die in einer Gemeinschaft weitgehend anerkannt ist und Entsprechungen im religiösen und kulturellen Symbolsystem findet (religiöse Imagination unter Berücksichtigung eines in ihr vorausgesetzten religiösen Selbstverständnisses), und 3.) als das Produkt einer mentalen Konstruktion, die als reine Phantasie eingestuft wird und keine Entsprechung in der Wirklichkeit findet (religiöse Imagination unter Ausschluss eines in ihr vorausgesetzten religiösen Selbstverständnisses). Das entscheidende Argument des Beitrages besteht darin, dass die religionswissenschaftliche Imagination – d. h. die Imagination, die in die religionswissenschaftliche Theorie- und Begriffsbildung einfließt – mit der Einführung der Fotografie beansprucht, die den wissenschaftlichen Standards einzig angemessene Repräsentation der religiösen Vorstellungswelt fremder Kulturen zu gewährleisten. Damit geht einher, dass die religiöse Imagination – d. h. die Form der Imagination, die in fremden Religionen als Form der kollektiven Repräsentation vorauszusetzen ist und das Paradigma wissenschaftlicher Objektivität relativiert – lediglich als ein Produkt mentaler Konstruktion begriffen wird, d. h. unter Ausschluss eines in ihr vorausgesetzten religiösen Selbstverständnisses zu einer Form der reinen Phantasie disqualifiziert wird. Diese Verschiebung im Imaginationsbegriff hat weitreichende Konsequenzen für die wissenschaftliche Erforschung und Einordung fremder Religionen. Sie führt nicht nur dazu, ein empirisches Paradigma in der Erforschung fremder Religionen zu etablieren, sondern auch dazu, die Formen der religiösen Imagination fremder Religionen zu diskreditieren. Auf Grundlage der Fotografie konnten vorwiegend also nur jene Aspekte religiöser Traditionen erforscht werden, die sich durch ihre Visualität auszeichnen und damit einer vermeintlich standpunktunabhängig-

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objektiven Erforschung erschließen. Diese Verschiebung zeichnet sich an dem Fokus auf die Erforschung von Ritualen ab. Als ein entscheidendes Indiz für diesen Paradigmenwechsel wird somit auch die Verschiebung im Ritualbegriff gesehen. Mit der Einführung der Fotografie zeichnet sich ein Fokus auf die visuellen Aspekte der religiösen Praxis ab, während die religiöse Imagination bzw. Vorstellungswelt nicht mehr – oder nur noch sehr bedingt als Form einer vernachlässigbaren Phantasie – berücksichtigt wird. Diese These wird in neun Schritten entfaltet. 1.) In der Rekonstruktion der wissenschaftsgeschichtlichen Kontexte des religionswissenschaftlichen Imaginationsbegriffes werden die entscheidenden Voraussetzungen für den durch die Fotografie eingeführten wissenschaftlichen Paradigmenwechsel und dessen Auswirkung auf die Religionswissenschaft aufgezeigt. 2.) In der Darstellung der wissenschaftsgeschichtlichen Kontexte geht es um die spezifischen Hintergründe und Kontexte in der ethnographischen Erforschung der Aranda als der für die damalige Religionswissenschaft prominentesten Gruppe Zentralaustraliens. 3.) Auf dieser Grundlage wird die Verwendung von Fotografie in der ethnographischen Erforschung in Hinsicht auf die visuellen Techniken in der Repräsentation der Aranda hin analysiert. 4.) In einem weiteren Schritt wird herausgearbeitet, wie die ethnographische Darstellung im Kontext religionswissenschaftlicher Begriffs- und Theoriebildung relevant wird, und wie gerade der Gebrauch von Fotografien dazu führte, dass visuelle Aspekte der religiösen Praxis in den Fokus der religionswissenschaftlichen Begriffs- und Theoriebildung rückten. 5.) Vor diesem Hintergrund wird die Rolle der religionswissenschaftlichen Imagination in der Konstruktion der Kategorie der zentralaustralischen Aborigines und die damit einhergehende Verschiebung im Imaginationsbegriff rekonstruiert. 6.) Im engen Zusammenhang damit steht auch die Konstruktion der Kategorie der primitiven Religion, wobei vor allem der religionswissenschaftliche Diskurs um die Begriffe der Magie und Religion und der Zeremonie und des Rituals erschlossen wird. 7.) Als methodologischer Kontrast zu dieser Form ethnographischer Forschung und religionswissenschaftlicher Theoriebildung wird die Kritik an der visuellen Repräsentation der Aranda durch einen methodologisch an der Hermeneutik orientierten Forschungsansatz präsentiert und gezeigt, wie Formen der religiösen Imagination auch im Kontrast zum empirischen Forschungsparadigma in der ethnographischer Forschung am Beginn des 20. Jahrhunderts berücksichtigt wurden. 8.) In der Rekonstruktion der religionswissenschaftlichen Imagination der Aranda geht es um die spezifisch religionswissenschaftliche Theorie- und Begriffsbildung, die sich grundsätzlich auf die Ergebnisse beider Forschungsansätze stützt, gleichzeitig aber die Methode der Beobachtung bevorzugt, ohne dabei auf die Rolle der Fotografie einzugehen. 9.) Ab-

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schließend wird in allgemeiner Form die religionsästhetische Relevanz des Imaginationsbegriffes und des mit der Fotografie einhergehenden Paradigmenwechsels in der Religionswissenschaft herausgearbeitet. 1. Wissenschaftsgeschichtliche Kontexte des religionswissenschaftlichen Imaginationsbegriffes Im Folgenden ist der zuvor definierte Begriff der religionswissenschaftlichen Imagination im Kontext der Geschichte der Religionswissenschaft zu entwickeln. Obwohl eine diskursgeschichtliche Rekonstruktion philosophischer oder sozialwissenschaftlicher Erkenntnistheorien relevante Aspekte des Imaginationsbegriffes für die Religionsästhetik freilegen könnte (Kamper 1981: 67–138; Iser 1993: 292–411; Gans 2008: 140–177), soll es nicht um die allgemeinen geschichtlichen Grundlagen des Imaginationsbegriffes gehen. Vielmehr soll die spezifische Beziehung des Imaginationsbegriffes zum Paradigma der Fotografie in der Religionswissenschaft zum Ausgangspunkt der wissenschaftsgeschichtlichen Analyse eines Forschungsparadigmas gemacht werden. Dabei ist davon auszugehen, dass die Erfindung der Fotografie im 19. Jahrhundert neue Formen der Ästhetik hervorbrachte, die entscheidende Konsequenzen für den Imaginationsbegriff hatten (Benjamin 1991: 445–448; Arnheim 1974: 156–161; Crary 1990: 6–11). Da die Repräsentation der Aranda, einer ethnisch und linguistisch distinkten Gruppe in Zentralaustralien (Spencer/Gillen 1927; Gill 1998; Morphy 1998), zu dieser Zeit maßgeblich auf fotografischem Material beruht, ist es wichtig, den Imaginationsbegriff vor dem Hintergrund des Paradigmas der Visualität als eine neue Form der Ästhetik in der religionswissenschaftlichen Forschung zu fassen. Diese Form der fotografischen Ästhetik führte in der Religionsethnologie und Religionswissenschaft am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer Fokussierung auf die visuelle Kultur der zentralaustralischen Aborigines (Russell 1999: 40–42; Lydon 2005: 1–25, 73–121; Cossu 2010: 42-45). In der diskursgeschichtlichen Rekonstruktion der ethnographischen Forschungspraxis sind nicht nur die unterschiedlichen Imaginationsbegriffe herauszuarbeiten, sondern auch die rhetorischen Strategien in der Repräsentation fremder Religionen und Kulturen offen zu legen (Kramer 1977: 7–9, 82–92; Kamper 1981: 255–271; Willis 2000: 112–119). Der Versuch, die Kategorie der zentralaustralischen Aborigines als eine religionsästhetische Konstruktion zu begreifen, soll nicht nur die spezifische Rolle der Fotografie in der ethnographischen Forschungspraxis und ethnologischen Begriffsund Theoriebildung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts aufzeigen

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(Im Thurn 1893; Portman 1896; Pultz 1995), sondern auch die Relevanz der Visualität in der Repräsentation ethnographischer Forschungsergebnisse verdeutlichen (Pinney 1992: 75–78; Scherer 1992: 33–37; Griffiths 2002: 86–125). In reflexiver Perspektive ist es darum wichtig, die Bedeutungsverschiebung im Imaginationsbegriff als einen Prozess zu begreifen, der mittels der Fotografie zu einer religionsästhetischen Konstruktion der Kategorie der zentralaustralischen Aborigines und einer religionswissenschaftlichen Imagination der sogenannten primitiven Religion führte und somit die Erforschung der religiösen Imagination als einer Vorstellungswelt gleichsam obsolet machte (Smith 1987: 1–23; Wolfe 1997: 61–65; Gill 1998: 3– 19, Russell 1999: 42–43; Kuklick 2005: 18–20). Auch wenn es sich bei den Aranda um einen wissenschaftsgeschichtlichen Einzelfall in der Erforschung fremder Religionen handelt, ist zu berücksichtigen, dass dieser paradigmatisch für die Geschichte der Ethnologie und Religionswissenschaft wurde, weil die Konzeptualisierung von ethnographischen Daten erstmals und fast ausschließlich mittels fotografischer Dokumente erfolgte (Morphy 1996: 138, 147; Peterson 2006: 13). In diesem Beitrag wird darum die These vertreten, dass religionsethnologische Begriffe wie ‚Totem‘, ‚Ritual‘ und ‚Magie‘ durch den wissenschaftlichen Gebrauch der Fotografie eine entscheidende Prominenz in der Formation religionswissenschaftlicher Begriffe erhielten (Kohl 1983; Asad 1988; Masuzawa 1993: 13–33). Die Analyse dieses Paradigmenwechsels hat methodologische Implikationen für das Verständnis der Rolle der Imagination in der Repräsentation fremder Religionen (Smith 1973: 351–354; Masuzawa 1993: 34–57). Ziel ist es, die Geschichte des religionswissenschaftlichen Imaginationsbegriffes anhand der Erforschung der Aranda unter religionsästhetischen Gesichtspunkten zu verdeutlichen (Stanner 1967: 223, 229, 235–236, Russell 2001; Kuklick 2006; Austin-Broos 2009). 2. Wissenschaftsgeschichtliche Kontexte der Erforschung der Aranda Einen entscheidenden Paradigmenwechsel in der Geschichte der Ethnologie und Religionswissenschaft stellen die Expeditionen von Baldwin Spencer und Francis Gillen 1896–1897 und 1901 dar. Um die Voraussetzungen für den neuen Fokus auf die visuelle Repräsentation in der religionsästhetischen Konstruktion der Kategorie der zentralaustralischen Aborigines zu erforschen, ist es notwendig, die begriffs- und theoriegeschichtlichen Rahmenbedingungen und methodologischen Voraussetzungen zu analysieren, unter denen Spencer und Gillen die Aranda erforschten.

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Spencer und Gillen trafen sich erstmals 1895, als die Horn Expedition nach Alice Springs in Zentralaustralien kam. Gillen war seit 1894 in Alice Springs als Beamter an der dortigen Telegraphenstation tätig5. Selber an der Kultur und Religion der Aranda interessiert half er den Forschern der Horn Expedition erste Kontakte zu den dort ansässigen Aranda herzustellen (Morphy 1997: 41–44; Gill 1998: 95–98). Spencer war als Biologe dafür zuständig, die Flora und Fauna in Zentralaustralien fotografisch zu dokumentieren6. Seine Begegnung mit Gillen in Alice Springs erweckte sein lebenslanges Forschungsinteresse für die Aranda. Die daraus erwachsene Freundschaft fand ihren nachhaltigsten Ausdruck in einer gemeinsamen Erforschung der Aranda (Gillen Abb. 1: Expedition 1901 [Mulvaney/Morphy/ 1896; Mulvaney/Morphy/Petch Petch: My Dear Spencer: 303] 1997; Jones 2005; siehe Abb. 1). Die beiden Expeditionen, die Spencer und Gillen 1896–1897 und 1901 in Zentralaustralien durchführten, können als frühe Formen der Feldforschung bezeichnet werden, obgleich sie den methodologischen Anforderungen späterer Ethnologen nicht mehr fraglos standhalten können (Morphy 1996: 139–141; 1997: 28; Petch 2000: 310–313). Alarmiert durch Gillens Berichte über den Kontakt der Aranda mit Missionaren – und ihrer Transformation angesichts des Kontaktes mit der sogenannten westlichen Zivilisation – erkannte Spencer die einmalige Gelegenheit, eine Feldforschung nach den damals höchsten Standards in Zentralaustralien durchzuführen. Spencer war vor allem von der Befürchtung getrieben, dass die traditionellen Zeremonien und Rituale der Aranda in kürzester Zeit für immer verloren gehen

————— 5 Gillen setzte sich in seiner Funktion als „Special Magistrate“ für die juristischen Angelegenheiten der Aranda ein, was ihm hohes Ansehen unter den Ältesten der Aranda einbrachte (Mulvaney 1997; Kuklick 2006: 536, Fn. 3; Nicholls 2007: 93). Als „Sub-Protector of the Aborigines“ hatte er namentlich in einem Mordfall die Rechtsansprüche der Aranda durchgesetzt (Vallee 2004: 249–250, 263–279). Durch seinen stationären Aufenthalt in Alice Springs war er zum Teil mit den religiösen Belangen der Aranda vertraut, obwohl er die Sprache der Aranda nicht vollständig beherrschte (Morphy 1996: 139–140; 1997: 43–44; Gill 1998: 96). 6 Spencer hatte zuvor in Cambridge Anthropologie studiert, wechselte aber später zur Biologie und wurde nach seinem Abschluss als jung ausgebildeter Forscher auf eine Professur nach Melbourne berufen (Mulvaney/Calaby 1985: 30–40, 51–52; siehe auch Mulvaney 2004: 34).

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könnten7. Zudem ging er davon aus, dass die Aranda aufgrund ihres mangelnden Kulturkontaktes in einem weitgehend noch unbekannten Entwicklungsstadium der Menschheitsgeschichte lebten (Marett/Penniman 1932: viii; Wolfe 1991: 207; Nicholls 2007: 85–86). Das Vertrauen, das Gillen durch seinen Aufenthalt in Alice Springs unter den Aranda erworben hatte, ermöglichte es Spencer, einige der wichtigsten totemistischen Zeremonien und Rituale fotografisch zu dokumentieren. Es ist vor allem Gillen und seinen Kontakten zu den Aranda zu verdanken, dass Spencer einen wissenschaftsgeschichtlich einmaligen Einblick in die totemistischen Zeremonien und Rituale der Aranda erhielt. Zumal Spencer die Sprache der Aranda so gut wie gar nicht und Gillen nur bedingt beherrschte, arbeitete Gillen vor allem mit Übersetzern, und durch ihre Vermittlung arrangierte er mit den Aranda die fotografische Dokumentation ihrer Zeremonien (Mulvaney/Calaby 1985: 174; Morphy 1996: 140–142). Die Erfahrungen, die Spencer mit der Fotografie während der Horn Expedition sammelte, kamen ihm in der gemeinsamen Erforschung der Aranda zugute. Auch wenn Spencer und Gillen gleicherweise Fotografien erstellten, war es wahrscheinlich vor allem Spencer, der die Ritualsequenzen Fotografierte und später die Ergebnisse für die Publikationen zusammentrug (Morphy 1997: 27–28, Petch 2000: 324)8. Auf ihrer gemeinsamen Expedition bot sich Spencer und Gillen 1896 in Alice Springs die einmalige Gelegenheit, die noch scheinbar intakte Religion und Kultur der Aranda fotografisch zu dokumentieren. Mit ihren Expeditionen hielten sie einen Moment in der Geschichte fest, in welchem die ————— 7 Spencer und Gillen machten dabei insbesondere die Tätigkeit des Evangelisch-Lutherischen Pastors Carl Strehlow für die nachhaltige Transformation in der Kultur und Religion der Aranda verantwortlich, der seit 1894 in Alice Springs als Missionar tätig war und mit den zum Christentum bekehrten Aranda daran arbeitete, die Bibel in die Sprache der Aranda zu übersetzen (Mulvaney/Calaby 1985: 118, 124–125; Veit 1991: 111, 121). Bereits vor Strehlow gab es Missionare in der Gegend, die jedoch nur wenig Erfolg in ihrer Mission hatten (Albrecht 2002: 1–6; Harms 2003: 130–152). Dieses Unterfangen sahen Spencer und Gillen als höchst problematisch an, denn Strehlow interpretierte mit seiner Übersetzung nicht nur die religiöse Vorstellungswelt der Aranda nach Maßgabe christlicher Vorstellungen, sondern transformierte auch die rituellen Praktiken der Aranda, indem er darauf insistierte, diese nachhaltig zu unterbinden (Veit 2002: 148; Nicholls 2007: 85–86, 94). 8 Diese Arbeitsteilung in der Forschungspraxis von Spencer und Gillen blieb jedoch lange Zeit unbeachtet, zumal sie diese in ihren Publikationen weder thematisierten noch die Zuschreibung ihrer Fotografien erwähnten (Petch 2000: 316–318; Jones 2005: 3–4; Peterson 2006: 13–14). Dennoch kann es als gesichert gelten, dass neben der fotografischen Dokumentation der entscheidende Beitrag von Spencer in der Rahmung des religionswissenschaftlichen Diskurses und der editorischen Redaktion der ethnographischen Forschungsergebnisse lag, während der Beitrag von Gillen trotz seiner Fotografien wohl vor allem in der Erschließung der lokalen Kontakte und der Vermittlung und Übersetzung der religiösen Vorstellungen der Aranda zu sehen ist (Morphy 1997: 29; Mulvaney/Morphy/Petch 1997: 67, 89–91).

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Religion und Kultur der Aranda trotz der einsetzenden christlichen Mission noch auf traditionelle Weise praktiziert wurde9. Mit ihren Fotografien schufen Spencer und Gillen einen einmaligen Korpus fotografischer Dokumente, der selber Zeugnis einer einsetzenden Transformation in der Religion und Kultur der Aranda wurde (Morphy 1996: 137–138; Wolfe 1991: 199– 210; 1999: 151–162). Diese Fotografien sind einzigartig für die Geschichte der Ethnologie und Religionswissenschaft, denn weder vor noch nach Spencer und Gillen wurden rituelle Handlungen der Aranda in einem solch extensiven Ausmaß fotografisch dokumentiert10. Sie verwendeten die Fotografie, um die rituellen Praktiken als integralen Bestandteil der materiellen und visuellen Kultur der Aranda darzustellen (Griffiths 1996–1997: 32–35; Morphy 1997: 44–45; Peterson 2006: 13). Angesichts der expliziten und beinahe ausschließlichen Ausrichtung ihrer ethnographischen Darstellung an fotografischen Dokumenten und ihrer durchgehend empirischen Methode scheint die Erforschung der religiösen Imagination und der kritischen Reflexion auf die religionswissenschaftliche Imagination in der Erforschung der Aranda obsolet zu werden. Dabei ist festzuhalten, dass die Fotografien von Spencer und Gillen selber in die religiöse VorstelAbb. 2: Ceremony of the Kangaroo Totem of lungswelt der Aranda eingingen. Undiara [Spencer/Gillen: Native Tribes: 363] Die Aranda setzten die Fotografien sogar mit ihren sakralen Kultobjekten gleich und identifizierten diese mit ihren Totemdarstellungen. Diese Identifikation spielte auch eine entscheidende Rolle in der religionswissenschaftlichen Imagination und der Kon————— 9 Wie sie in ihren wichtigsten Publikationen behaupteten (Spencer/Gillen 1899: v; 1904: x), wurden beide zudem als initiierte Mitglieder der Aranda angesehen und hatten nicht nur die Erlaubnis an den ansonsten geheimen Zeremonien als Beobachter teilzunehmen, sondern durften diese auch fotografieren (Nicholls 2007: 99). 10 Heutzutage sind aufgrund der indigenen Rechtsansprüche viele der fotografischen Dokumente im Original nur noch sehr bedingt zugänglich (Middendorf 2006: 30–32, 44–49; siehe auch Morton 2006; Lydon 2010).

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struktion der Kategorie der zentralaustralischen Aborigines. Wie Spencer und Gillen hervorhoben, identifizierten sich die Aranda oder vielmehr ihre Totems mit den von ihnen gemachten Fotografien (siehe Abb. 2): The totem of any man is regarded, just as it is elsewhere, as the same thing as himself; as a native once said to us when we were discussing the matter with him, „that one,“ pointing to his photograph which we had taken, „is just the same as me; so is a kangaroo“ (his totem) (Spencer/Gillen 1899: 202).

Wohl aus diesem Grund wurden Spencer und Gillens Fotografien in den religionswissenschaftlichen Diskursen ihrer Zeit so bekannt und bildeten die Voraussetzung für einen einsetzenden Paradigmenwechsel in der frühen Religionsethnologie, der in seiner Reichweite bislang noch nicht vollständig erfasst worden ist (Frazer 1899b: 837; Durkheim 1981: 186; Wolfe 1999: 152–162). 3. Die Verwendung von Fotografie in der ethnographischen Erforschung der Aranda Auf ihrer ersten Expedition 1896–1897 wurden Spencer und Gillen erstmals Zeugen der Engwura Zeremonie, ein unter den Aranda nur äußerst selten aufgeführtes totemistisches Initiationsritual (Spencer/Gillen 1899: viii)11. Dieses wurde eigens für fotografische Dokumentation arrangiert und während des Tages aufgeführt (Spencer/Gillen 1927: xiii–xiv). Die von Spencer und Gillen angefertigten Fotografien bildeten die Grundlage für eine der ausführlichsten Beschreibungen einer Ritualaufführung in der Geschichte der Ethnologie und Religionswissenschaft (Spencer/Gillen 1899: 212–386; Marett/Penniman 1932: 4–7, 10–23)12. Der Fokus auf die mit totemistischen Ornamenten geschmückten Körper und auf die rituellen Handlungen diente dem Ziel, die rituellen Praktiken der Aranda visuell wirksam darzustellen (Morphy 1996: 140–143; siehe Abb. 3 und Abb. 4). Eines der leitenden Forschungsinteressen von Spencer und Gillen war es, die Aranda als primitiv erscheinen zu lassen, indem sie in ihren Publikationen bevorzugt totemistische Rituale, wie die Engwura Zeremonie, auswählten. In ihrer fotografischen Dokumentation versuchten sie zudem, jegliche Einflüsse des ————— 11 Siehe auch Spencer/Gillen 1899: 271–386; Durkheim 1981: 441–459; siehe auch Gill 1998: 131–135, 170–172. 12 Für die vollständige Publikation der sehr detaillierten Darstellung dieser Zeremonien setzte sich vor allem Frazer ein, der das Manuskript der Native Tribes für das Verlagshaus MacMillan begutachtete (Marett/Penniman 1932: 10, 22–24).

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bereits vorhandenen Kulturkontaktes auszuschließen (Petch 2000: 324; Peterson 2006: 15–18). Spencer und Gillen vermieden es offensichtlich, die Aranda in alltäglicher Kleidung zu fotografieren, welche bereits die Nutzung der aus Europa eingeführten Kleidung verraten hätte. Obgleich Spencer und Gillen für ihre Sammlungen vereinzelt auch Fotografien von bekleideten Personen in Alltagskleidung anfertigten, verzichteten sie in ihren Publikationen darauf, diese abzudrucken oder auch nur zu erwähnen (Vanderwal 1982: 15, 27; Batty/Allen/Morton 2005: 12, 42–45; Middendorf 2006: 99–101, 141). Vor diesem Hintergrund ist folgende Aussage von Spencer und Gillen besonders bemerkenswert:

Abb. 3: Iruntarinia Ceremony of the Unjjambar Totem of Apera-na-unkumna In their ordinary condition the natives are [Spencer/ Gillen: Native Tribes: 335] almost completely naked ... The idea of mak-

ing any kind of clothing as a protection against cold does not appear to have entered the native mind, though he is keen enough upon securing the Government blanket when he can get one, or, in fact, any stray cast-off clothing of the white man (Spencer/Gillen 1899: 16–17).

Abb. 4: Ceremony of the Kangaroo Totem of Undiara [Spencer/Gillen: Native Tribes: 361]

Darum ist es auch nicht verwunderlich, dass die Aranda aufgrund ihrer materiellen Kultur als primitiv klassifiziert wurden. Diese Annahme hatte weitreichende methodologische und theoretische Konsequenzen für das Verständnis der religionswissenschaftlichen Imagination, die auf die Verwendung der Fotografie als Mittel der Beweisführung zurückgeführt werden kann (Spencer/Gillen 1904: ix– xiv).

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4. Die ethnographische Darstellung der Aranda im Kontext religionswissenschaftlicher Begriffs- und Theoriebildung Spencer und Gillen konzentrierten sich in ihrer Darstellung der Aranda vor allem auf die materielle Kultur und die rituellen Praktiken, die am ehesten der fotografischen Dokumentation zugänglich waren. Eine eingehende Interpretation der religiösen Vorstellungswelt konnten Spencer und Gillen jedoch kaum in angemessener Weise präsentieren, weil ihnen diese – wie erwähnt – aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse weitgehend verschlossen blieb (Gill 1998: 96; Völker 2001: 188; Nicholls 2007: 107). Diese Darstellung des ethnographischen Materials wird insbesondere auch an der Gliederung und dem Aufbau ihrer Hauptwerke deutlich. Ihre Publikationen The Native Tribes of Central Australia (1899) und The Northern Tribes of Central Australia (1904) folgen beinahe dem gleichen Aufbau. Die maßgeblichen Kapitel zu totemistischen Zeremonien und Ritualen sind eindeutig der fotografischen Dokumentation gewidmet13. Aus der

Abb. 5: Preparing Decorations for the Performance of the Intichiuma Ceremony of the Emu Totem [Spencer/Gillen: Native Tribes: 182]

Abb. 6: Intichiuma Ceremony of Water Totem [Spencer/Gillen: Native Tribes: 190]

————— 13 Sie beginnen mit der Geographie und der biologischen Anthropologie (1899: 1–54; 1904: 1– 34, 35–69) sowie einer kurzen Übersicht über die soziale Organisation der Völker in Zentralaustralien (1899: 55–91; 1904: 70–132) und deren Heiratszeremonien (1899: 92–111; 1904: 133–142). Nach der Behandlung der Totems (1899: 112–127; 1904: 143–176), der sakralen Kultobjekte (1899: 128–166; 1904: 257–282) und der Vermehrungsrituale (1899:167–208; 1904: 177–256) werden die Initiationsrituale ausführlich dargestellt (1899: 167–386; 1904: 283–392). Nachgeordnet werden die auf die Traumzeit bezogenen Traditionen thematisiert (1899: 387–449; 1904: 393– 454) sowie die Praktiken der Magie und Heilung (1899: 522–553; 1904: 455–504), der Totenrituale (1899: 497–511; 1904: 505–555) und Begrüßungszeremonien (1904: 569–579). Abschließend widmen sich Spencer und Gillen vor allem der materiellen Kultur, wie etwa Schmuck, Kleidung, Werkzeuge und Waffen (1899: 567–635; 1904: 633–743). Für eine detailliertere Analyse des Textbefundes siehe auch Kreinath 2012: 379, 408 Fn. 21–28.

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Gliederung der Themen und der entsprechenden fotografischen Dokumentation kann sogar geschlossen werden, dass die visuelle Kultur einschließlich der rituellen Praktiken gegenüber den oralen Traditionen der religiösen Vorstellungswelt methodologisch wie theoretisch vorgeordnet wird (Kuklick 2006: 550). Es ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben, dass Spencer und Gillen den Hauptteil ihrer Erforschung der rituellen Praktiken, namentlich der Intichiuma Zeremonie14 – einem Vermehrungsritual (Spencer/Gillen 1897b: 142–155, 174; 1899: 167–211; 1904: 177–256; siehe Abb. 5 und Abb. 6) – und der Engwura Zeremonie – einem drei Monate andauernden Initiationsritual (Spencer/Gillen 1897a: 21–28; 1899: 212–386; 1904: 283–372; Abb. 7 und Abb. 8) – widmeten. Eine Analyse ihres Sprachgebrauchs macht außerdem deutlich, dass sie in diesen Kontexten Begriffe wie ‚Religion‘ und ‚Ritual‘ nicht benutzten (Spencer/Gillen 1899: 666; 1904: xii–xiv, 494; Wolfe 1991: 297; Kreinath 2012: 397). Darin folgten sie dem religionswissenschaftlichen Diskurs ihrer Zeit, indem sie Begriffe wie ‚Totem‘, ‚Zeremonie‘ und ‚Magie‘ bevorzugten, um damit eine kulturelle Differenz zu markieren und einen vorschnellen ethnologischen und religionswissenschaftlichen Vergleich zu verhindern (Marett/Penniman 1932: 41– 42, 75–76). Dadurch machten Spencer und Gillen deutlich, dass die Aranda als primitiv zu klassifizieren seien, die gleichsam in einer mythischen Urzeit leben würden, die sogar der Religion vorausginge (Spencer/Gillen 1899: ix; 1904: xii; siehe auch Marett/Penniman 1932: 22, 53; Frazer 1900: vii–viii, xvi– Abb. 7: Ceremony of the Emu Totem xix). [Spencer/Gillen: Native Tribes: 343]

————— 14 Die Intichiuma Zeremonie ist ein Vermehrungsritual, welches die Fruchtbarkeit einer bestimmten Totemgruppe garantieren soll, indem die Nahrung denen zur Verfügung gestellt wird, die nicht zu dieser Totemgruppe gehören (Spencer/Gillen 1899: 167–211; Gennep 1906: xxxvii, lxxxii, cx–cxi, 6; Leonhardi 1910: vi; Strehlow 1910: 7–8; Durkheim 1981: 441–472; siehe auch Eliade 1967: 221–222, 235; Róheim 1969: 224–244; Jones 1985: 80–85, 113–117; 1986: 610–617; Morton 1987; Belier 1997; Gill 1998: 142–143, 158–169).

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Spencer – ausgebildet in der Biologie seiner Zeit – vertrat in seiner wissenschaftlichen Forschung einen dezidiert evolutionstheoretischen Ansatz. Er beabsichtigte, das gesammelte ethnographische Material mit den Mitteln der Fotografie und nach Maßgabe des damaligen religionswissenschaftlichen Diskurses so getreu wie möglich darzustellen (Spencer/Gillen 1898; 1899: 112–166; 1904: ix–x; Frazer 1899a: 452–463; 1899b: 648–650, 654–656, 663, 837– 842, 852). Vor diesem Hintergrund legte er in seinen Publikationen mit Gillen nahe, dass die rituellen Praktiken der Aranda eher dem Begriff der Magie als dem der Religion zuzuordnen sei (Gillen Abb. 8: Ceremony of the Frog Totem of 1900; Spencer/Gillen 1899: 531–553; Imanda [Spencer/Gillen: Native Tribes: 345] 1904: 455–504; Frazer 1899a: 282–285; 1899b: 657–663, 835, 839–841; 1905: 162–165). Wie aus der langjährigen Korrespondenz von Spencer und Gillen hervorgeht, von der nur Gillens Briefe erhalten sind, war Gillen eher an der Erforschung der rituellen Praktiken der Aranda interessiert und weniger an dem religionswissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit (Mulvaney/Calaby 1985: 168–169; Morphy 1997: 29, 37–39). Im Kontrast dazu ist die Korrespondenz zwischen Spencer und Frazer insofern erhellend, als sie einen entscheidenden Einblick in die ersten Funde und noch unveröffentlichten Forschungsergebnisse von Spencer und Gillen präsentiert (Marett/Penniman 1932: 10–11, 60, 65). Außerdem spiegelt sie sehr klar die methodologischen und evolutionstheoretischen Voraussetzungen von Frazer und Spencer in deren Interpretation der ethnographischen Daten wider (Stocking 1983: 78–79; 1987: 260, 297; Mulvaney/Calaby 1985: 172–175; Morphy 1997: 44). Darüber hinaus zeigt die Korrespondenz die damalige Arbeitsteilung von Feldforschung und Begriffs- und Theoriebildung in der damaligen Ethnologie (Morphy 1996: 138; 1997: 30; Kuklick 2005: 17–19). Zudem wurde die Analyse der ethnographischen Forschungsergebnisse von Spencer und Gillen maßgeblich von Frazer betreut. Es ist vor allem seiner Hilfestellung zu verdanken, dass es für Spencer und Gillen möglich wurde, mit ihrer Publikation eine Breitenwirkung weit über ihre Fachgrenzen der Ethnologie hinaus zu erreichen (Marett/Penniman 1932: 59–60). So

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setzte sich Frazer für die Veröffentlichung der Fotografien und der ausführlichen ethnographische Darstellung der Ritualsequenzen ein, wodurch die Native Tribes in der Religionswissenschaft zum Meilenstein der ethnographischen Forschung avancierte (Marett/Penniman 1932: 10, 64–65, 78–85). 5. Die Rolle der religionswissenschaftlichen Imagination in der Konstruktion der Kategorie der zentralaustralischen Aborigines Wie bereits angedeutet, spielte die religionswissenschaftliche Imagination in der Interpretation des ethnographischen Materials von Spencer und Gillen eine entscheidende Rolle. So versuchten sie ihre Darstellung der Aranda so authentisch wie möglich erscheinen zu lassen, indem sie sich durchgehend auf fotografische Dokumente stützten. Dabei verwendeten sie eine zumeist ahistorische Rhetorik (Spencer/Gillen 1899: 1–54; 1904: 1–34; siehe auch Fabian 1983: 80–83; Clifford 1983: 118). Dies verlieh – unterstützt durch zahlreiche Fotografien als Techniken der visuellen Vergegenwärtigung – ihrer ethnographischen Darstellung den Eindruck der Zeitlosigkeit. Ohne jeweils direkt die spezifische Situation ihres Kontaktes mit den Aranda zu beschreiben – oder das leitende Forschungsinteresse ihrer Expeditionen hervorzuheben –, setzten sie mit der Geographie ein, wodurch sie die Geschichtslosigkeit der Aranda suggerierten (Spencer/Gillen 1899: 1–18; 1904: 2–10). Nur sehr selten gaben Spencer und Gillen explizit Auskunft über die Situation des ethnographischen Kontaktes oder verwiesen auf Ereignisse, die sich unmittelbar während ihrer Anwesenheit ereigneten (Spencer/Gillen 1904: 515–543). Selbst in ihrer Beschreibung tendierten sie dazu, die ethnographischen Daten derart zu verallgemeinern, dass der Kontext ihrer Forschung und die Grenzen ihres Wissens nicht deutlich erkennbar werden (Spencer/Gillen 1904: 515–530; siehe Abu-Lughod 1991: 143–147). Diese Darstellungsweise suggeriert nicht nur einen vermeintlich objektiven Zugriff, sondern generiert auch einen durch die Fotografie geformten anthropologischen Blick, mittels dessen ethnographische Daten visuell und begrifflich objektiviert werden (siehe Clifford/Marcus 1986: 11–12; Marcus/Fischer 1986: 61). Um die radikale Andersartigkeit der Aranda ihrer Leserschaft zu vermitteln, nutzten Spencer und Gillen neben der Fotografie auch rhetorische Strategien, die es ihnen erlaubten, die Aranda als primitiv erscheinen zu lassen. Hierbei ist zu bemerken, dass der Verweis auf die Imagination der Leserschaft eine signifikante Rolle spielte, um die kulturelle Differenz in der Repräsentation fremder Religion zu markieren. Die explizite Anspie-

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lung auf die Vorstellungskraft als die Fähigkeit der Vergegenwärtigung diente Spencer und Gillen dazu, diese Differenz begreifbar zu machen: If, now, the reader can imagine himself transported to the side of some waterhole in the centre of Australia, he would probably find amongst the scrub and gum-trees surrounding it a small camp of natives (Spencer/Gillen 1899: 18; Hervorhebung— JK). There is, however, in these, as in other savage tribes, an undercurrent of anxious feeling which, though it may be stilled and, indeed, forgotten for a time, is yet always present. In his natural state the native is often thinking that some enemy is attempting to harm him by means of evil magic, and, on the other hand, he never knows when a medicine man in some distant group may not point him out as guilty of killing someone else by magic. It is, however, easy to lay too much stress upon this, for here again we have to put ourselves into the mental attitude of the savage, and must not imagine simply what would be our own feelings under such circumstances (Spencer/Gillen 1899: 54; Hervorhebung—JK).

Insbesondere hoben Spencer und Gillen die Unterschiede in der materiellen Kultur hervor, indem sie die Differenz zwischen der Erfahrung ihrer Feldforschung und dem Verständnis ihrer Leserschaft betonten: It must be remembered that these ceremonies are performed by naked, howling savages, who have no idea of permanent abodes, no clothing, no knowledge of any implements save those fashioned out of wood, bone, and stone, no idea whatever of the cultivation of crops, or of the laying in of a supply of food to tide over hard times, no word for any number beyond three, and no belief in anything like a supreme being. Apart from the simple but often decorative nature of the design drawn on the bodies of the performers, or on the ground during the performance of ceremonies, the latter are crude in the extreme. It is one thing to read of these ceremonies—it is quite another thing to see them prepared and performed (Spencer/Gillen 1904: xiv; siehe auch Spencer/Gillen 1912: 6–7).

Offensichtlich versuchten Spencer und Gillen ihre ethnographische Autorität dadurch zu etablieren (siehe Clifford 1983: 122–123, 128), indem sie die Aranda in der Weise darstellten, dass sich diese gleichsam jeder Form bislang bekannter Klassifikationen entziehen. Dennoch kann zu Recht angenommen werden, dass es wohl Frazer gewesen ist, auf den diese Notiz zurückzuführen ist; denn diese Notiz war wahrscheinlich auf Frazers Anfrage hin hinzugefügt worden „perhaps because Frazer sensed that Spencer and Gillen’s ethnography contradicted the evolutionary theory he espoused“ (Morphy 1997: 37). Es ist unter diesem Gesichtspunkt wichtig hervorzuheben, dass Spencer und Gillen den Imaginationsbegriff nicht so sehr auf die religiöse Vorstellungswelt der Aranda als eine Form der kollektiven Repräsentation bezo-

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gen, sondern diese selber für wissenschaftlich unbegründet hielten und somit als eine Form religiöser Phantasie ansahen. So verwendeten sie den Imaginationsbegriff insbesondere in solchen Zusammenhängen, in denen sie die zentralen Elemente des Totemismus beschrieben, nämlich im Zusammenhang mit der religiösen Vorstellung der Seele, die sich im sakralen Kultobjekt, dem Churinga15, und in den mythischen Erzählungen von der Traumzeit, der Alcheringa16, manifestiert. We have evidently in the Churinga belief a modification of the idea which finds expression in the folklore of so many peoples, and according to which primitive man regarding his soul as a concrete object, imagines that he can place it in some secure spot apart, if needs be, from his body, and thus, if the latter be in any way destroyed, the spirit part of him still persists unharmed (Spencer/Gillen 1899: 137; Hervorhebung—JK). Whilst this is so with regard to the Alcheringa men and women it must be clearly pointed out that at the present day the Arunta [Aranda—JK]17 native does not regard the Churinga as the abode of his own spirit part, placed in the Ertnatulunga18 for safekeeping. If anything happens to it – if it be stolen – he mourns over it deeply and has a vague idea that some ill may befall him, but he does not imagine that damage to the Churinga of necessity means destruction to himself (Spencer/Gillen 1899: 138; Hervorhebung—JK).

Auch wenn Spencer und Gillen durchaus geneigt waren, die religiöse Vorstellungswelt der Aranda als „pure imagination“ (Spencer/Gillen 1899: 482) zu disqualifizieren, kamen sie doch nicht umhin, den Imaginationsbegriff für die Interpretation der religiösen Vorstellungen der Aranda zu verwenden: „(I)t must be remembered that imagination plays a large part in matters such as these amongst the natives“ (Spencer/Gillen 1899: 490). Spencer und ————— 15

Churinga [Spencer/Gillen und Durkheim] oder auch tjurunga [Strehlow] ist ein sakrales Kultobjekt, auch Schwirrholz genannt, das gewöhnlich aus Stein oder Holz hergestellt wird und als heiliges Zeichen die Urahnen aus der Traumzeit repräsentiert (Spencer/Gillen 1899: 128–166; 1904: 144–163, 178–191; 1927: 584–588; Gennep 1906: xlvi–xlviii, lxix–lxxiii, lxxxii–lc, passim; Leonhardi 1907a: viii; Strehlow 1907: 2; Durkheim 1981: 344–348; siehe auch Róheim 1969: 80– 91; Schlatter 1985: 123–138; Gill 1998: 128–143; Kohl 2003: 176–191; Batty 2005; Rose 2007: 34–36, 42–43). 16 Alcheringa [Spencer/Gillen und Durkheim] oder auch altjirerinja [Strehlow] ist die Traumzeit, in welcher sich die totemistischen Urahnen aufhalten (Spencer/Gillen 1899: 73, 119–127; 1904: 191–224, 745; 1927: 589–596; Gennep 1906: lxv–lxvi; Leonhardi 1907b: 286–287; Strehlow 1907: 2; Thomas 1908; Lang 1909a; Durkheim 1981: 341–348; siehe auch Stanner 1956: 51– 52; Eliade 1966: 108–109, 126–128; Róheim 1969: 210–223; Swain 1989: 345–348; Gill 1998: 98–101, 127–128, 133–135). 17 Zu Aranda [Strehlow und Durkheim] oder Arunta [Spencer/Gillen] siehe auch Fussnote 2. 18 Ertnatulunga ist ein Lager der sakralen Kultobjekte, welches Frauen, Kinder und nichtinitiierte Männer bei Todesschmerzen nicht betreten dürfen (Spencer/Gillen 1899: 42, 173–176; Durkheim 1981: 119–121, 281).

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Gillen verbinden somit den Begriff der religiösen Imagination mit dem der Visualität: To a certain extent, perhaps to a very large one, the excessive display is due to the fact that it is a tribal custom, and as such has a very strong hold upon the imagination of a people whose every action is bound and limited by custom (Spencer/Gillen 1899: 510; Hervorhebung—JK).

Aus diesem Argumentationszusammenhang wird ersichtlich, dass die religiöse Imagination bei Spencer und Gillen gleichsam als Bestandteil der magischen Wirksamkeit sakraler Kultobjekte und ritueller Handlungen anzusehen ist, wie dies vor allem – wie im Folgenden zu zeigen wird – an der Arbeit von Frazer deutlich wird (Stocking 2001: 154–157). 6. Die religionswissenschaftliche Imagination und die Kategorie der primitiven Religion Die Veröffentlichung der Native Tribes (1898) und Northern Tribes (1904) erregte großes Aufsehen in der akademischen Welt, wie die Rezensionen nahelegen (Mauss 1899–1900: 205; Durkheim 1899–1900: 335–336; Thomas 1904: 701; Gennep 1906: 134). Das hing vor allem auch damit zusammen, dass ethnographische Daten systematisch mit Mitteln der Fotografie dokumentiert wurden. Die Form der fotografischen Dokumentation gab der von Spencer und Gillen vertretenen Auffassung, dass die Aranda in dem vermeintlich primitivsten Entwicklungsstadium der Menschheitsgeschichte lebten, umso größeres Gewicht (Frazer 1899a: 281; 1899b: 648; 1900: xviii–xix, 73; siehe auch Durkheim 1981: 180–181; R. Jones 1986: 604–610). Insofern kann von einem Paradigmenwechsel in der Religionswissenschaft gesprochen werden, als Spencer und Gillen durch die Fotografie eine für ihre Zeit neue Methode der Erforschung fremder Religionen vorstellten (Stocking 1983: 78–80; 1987: 297). Die Werke von Spencer und Gillen warfen die Frage nach dem Ursprung der Religion in neuer Weise auf. An ihren Werken entzündete sich vor allem die Frage nach den methodologischen Voraussetzungen der religionswissenschaftlichen Forschung (siehe Eliade 1966: 116–132; Smith 1987: 1–23; Masuzawa 1993: 7–10; Gill 1998: 93–103). Wie der Korrespondenz von Spencer an Frazer zu entnehmen ist, gewann Frazer durch die von Spencer präsentierten ethnographischen Daten entscheidend neue Einsichten, die ihn dazu veranlassten, seine Theorie des Totemismus radikal umzuformulieren (Frazer 1887; 1899a; 1899b; Lang 1900: 1013–1014; Marett/Penniman 1932: 4–11).

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Hence as time went on and still no certain case of a totem sacrament was reported, I became more and more doubtful of the existence of such a practice at all, and my doubts had almost hardened into incredulity when the long-looked-for rite was discovered by Messrs. Spencer and Gillen in full force among the aborigines of Central Australia, whom I for one must consider to be the most primitive totem tribes as yet known to us (Frazer 1900: xix).

Während seiner Zusammenarbeit mit Spencer gelangte Frazer zu der Überzeugung, dass die Aranda sich in einem menschheitsgeschichtlich einmaligen Entwicklungsstadium befänden, in welchem noch nicht von Religion, sondern von Magie gesprochen werden könne (Marett/Penniman 1932: 24– 29). Damit nahm er erstmals die kategoriale Unterscheidung von Religion und Magie vor (Frazer 1900: 6–10; Lang 1904: 67; Marett/Penniman 1932: 39–42, 44). The distinction between religion and magic may be said to be that while the former is an attempt to propitiate or conciliate the higher powers, the latter is an attempt to compel or coerce them. Thus, while religion assumes that the great controlling powers of the world are so far akin to man as to be liable, like him, to be moved by human prayers and entreaties, magic makes no such assumption. To the magician it is a matter of indifference whether the cosmic powers are conscious or unconscious, spiritual or material, for in either case he imagines that he can force them by his enchantments and spells to do his bidding (Frazer 1899b: 660).

Darüber hinaus lieferten Spencer und Gillen entscheidende Beweise für Frazers Religionstheorie. Ihre Darstellungen des Totemismus der Aranda veranlassten ihn, den Ursprung der Religion evolutionär aus der Magie herzuleiten und den Totemismus der Aranda als menschheitsgeschichtlich ursprünglich anzusehen (Frazer 1890; 1900: xiv–xvi; Stocking 1996: 140– 147)19. Zudem galt nach Frazer der Totemismus später als ein System der primitiven Solidarität, das auf einer magischen Wirksamkeit beruhte und in welchem Vermehrungsrituale eines Klans das Überleben des jeweils anderen Klans sicherte. Für diese Form der Magie sah Frazer die von Spencer und Gillen dargestellte Intichiuma Zeremonie der Aranda als entscheidenden Beweis an (Frazer 1899a: 282–286; 1901: 312–314; Jones 1986: 610–617).

————— 19 Auf die Diskussion um den Konzepttotemismus und deren Implikationen für den Religionsbegriff und die Erforschung der Aranda und ihrer sozialen Organisation kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden (Lang 1905; 1907; 1909c; 1911; Schmidt 1908a; Frazer 1910; Goldenweiser 1910; 1911; Freud 1912–1913; siehe auch Radcliffe-Brown 1930–1931; Malinowski 1938; LéviStrauss 1965; Peterson 1972).

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The object of all such ceremonies, avowedly, is to increase the number of the totem animal or plant, and this object the natives sincerely believe that they attain by these means. Thus we see that each totem clan imagines itself possessed of a direct control over the animal or plant whose name it bears, and this control it exercises for the purpose of multiplying the number of its totem plant or animal (Frazer 1899b: 660; Hervorhebung—JK).

Diese radikale Umorientierung in Frazers Werk wäre ohne die Forschungen von Spencer und Gillen undenkbar gewesen, insofern er seine Theorie des Totemismus und der Magie in entscheidender Weise auf den ethnographischen Daten von Spencer und Gillen aufbaute (Frazer 1899b: 647–648). Now the remarkable researches of Professor Baldwin Spencer and Mr. F. J. Gillen among the native tribes of Central Australia have proved that these savages regularly perform magical ceremonies for the express purpose of bringing down rain and multiplying the plants and animals on which they subsist (Frazer 1900: xiv–xv).

Erst im theoretischen Einleitungskapitel zur zweiten Auflage des Golden Bough (1900) wird klar, dass Frazer seine Evolutionstheorie von den drei Entwicklungsstadien der Menschheitsgeschichte auf Grundlage der von Spencer und Gillen zusammengetragenen ethnographischen Daten zu den Aranda formulierte. Dabei scheint gerade die religionswissenschaftliche Imagination im Umgang mit fotografischen Dokumenten eine entscheidende Rolle für Frazers Konzeptualisierung der religiösen Vorstellungswelt der Aranda gespielt zu haben. So kann argumentiert werden, dass Frazer seinen Begriff der Magie analog zu dem der Fotografie entwickelte, insofern die Prinzipien der Fotografie auf die der imitativen Magie übertragen worden sind (SchomburgScherff 2000: 195–197). Für Frazer wird die imitative Magie zum integralen Bestandteil religiöser Imagination, indem sie im Grenzbereich von Vorstellung und Darstellung verortet wird: But inasmuch as the efficacy even of imitative magic must be supposed to depend on a certain physical influence or sympathy linking the imaginary cause or subject to the imaginary effect or object, it seems desirable to retain the name sympathetic magic as a general designation to include both branches of the art (Frazer 1900: 10; Hervorhebung—JK).

Auf der anderen Seite identifizierte er die Form der imitativen Magie mit der Visualität magischer Objekte: Perhaps the most familiar application of the principle that like produces like is the attempt which has been made by many peoples in many ages to injure or destroy an enemy by injuring or destroying an image of him, in the belief that, just as the image

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suffers, so does the man, and that when it perishes he must die (Frazer 1900: 10; Hervorhebung—JK).

Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass Frazer mit seinem Begriff der imitativen Magie vor allem das Verhältnis der Ähnlichkeit und Bildhaftigkeit in der Fotografie herausarbeitete und dadurch die magische Wirksamkeit der Fotografie in der Darstellung der Seele bestimmte. Hierbei thematisiert Frazer insbesondere den Umgang der Aranda mit den von Spencer und Gillen angefertigten Fotografien (Spencer/Gillen 1899: 202), denn sie begriffen – wie bereits in einem anderen Zusammenhang erwähnt – die Fotografien in gleicher Weise wie die Churinga als eine Repräsentation ihres Totems: Among the Central Australians, we are told, „the totem of any man is regarded, just as it is elsewhere, as the same thing as himself.“ Thus a Kangaroo man, discussing the matter with Messrs. Spencer and Gillen, pointed to a photograph of himself which had just been taken, and remarked: „That one is just the same as me; so is a kangaroo.“ This incapacity to distinguish between a man and a beast, difficult as it is for us to realize, is common enough, even among savages who have not the totemic system (Frazer 1899b: 837; Hervorhebung—JK).

Dieser Verweis hatte entscheidende Konsequenzen für die religionsästhetische Konstruktion der Kategorie der zentralaustralischen Aborigines (siehe auch Abb. 2). Anhand dieses entscheidenden Beispiels wurde die religiöse Imagination der Aranda maßgeblich anhand des Verweises auf ein Zitat und dessen Bezug zur Fotografie zum Kriterium in der Bestimmung der sogenannten primitiven Religionen und Kulturen herangezogen. Religionen und Kulturen wurden nach Maßgabe der Fähigkeit zwischen der Fotografie und der abgebildeten Wirklichkeit unterscheiden zu können als primitiv klassifiziert20. Später sammelte Frazer weitere ethnographische Daten, mittels derer er die Auswirkung der Fotografie auf die religiöse Imagination der von ihm als primitiv klassifizierten Kulturen thematisierte (Frazer 1900: 296–297; Frazer 1911: 96–100)21.

————— 20 Zur religionswissenschaftlichen Konstruktion der Kategorie der primitiven Religion unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Verwendung der Fotografie, siehe auch Lévy-Bruhl 1926: 21– 34, 57–61; 1927: 337–353; 1930: 153–158; Cassirer 1923: 47–57, 222–227; Graebner 1924: 16– 19; Marett 1936: 37–40; Leeuw 1937: 38–46; Kristensen 1960: 166–172. 21 Zur Magie der Fotografie siehe dazu auch Wittgenstein 1967: 238–241; Taussig 1993: 17, 21, 47–52, 58.

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7. Kritik der visuellen Repräsentation der Aranda Die ethnographischen Forschungen von Spencer und Gillen ebenso wie die theoretische Position von Frazer wurden um die Jahrhundertwende zum Gegenstand heftiger Diskussionen über die Frage nach dem Ursprung der Religion. Im scharfen Gegensatz zu Spencer und Gillen präsentierte Carl Strehlow einen Forschungsansatz, welcher seine ethnographische Autorität aus der Rekonstruktion der religiösen Vorstellungswelt als Teil seiner Missionsarbeit unter den Aranda herleitete. Seine Ergebnisse wurden maßgebend für die theologischen Positionen, die sich im Diskurs des Urmonotheismus oder Hochgottglaubens aus prinzipiellen Gründen von Frazers Evolutionstheorie abgrenzten22. Das Werk von Strehlow und dessen Beitrag für die Erforschung der Aranda ist in der Geschichte der Ethnologie und Religionswissenschaft bislang weitgehend unterschätzt worden (Veit 1990: 121; 1991: 111–114; Albrecht 2002: 7–10; Harms 2003: 153–155; Kenny 2008: 27–28). Strehlow begann 1894 als Missionar unter den Aranda in Hermannsburg am Finke River zu arbeiten. Trotz seiner christlichen Überzeugung versuchte er, die religiöse Vorstellungswelt der Aranda getreu darzustellen. Im Gegensatz zu Spencer und Gillen nahm er grundsätzlich an keinen Ritualen der Aranda teil (Leonhardi 1907a: v). Ganz zum Ärger von Spencer und Gillen schien er sogar die rituellen Praktiken der Aranda auf der Missionsstation strikt verboten zu haben (Marett/Penniman 1932: 110; Veit 2004: 98–101). In den Jahren, in denen Strehlow unter den Aranda lebte und arbeitete, lernte er deren Sprache eingehend kennen. Anders als Spencer und Gillen sammelte er seine ethnographischen Daten ausschließlich durch Interviews; dadurch war er in der Lage, die religiöse Vorstellungswelt der Aranda durch die Übersetzung ihrer Mythen, Sagen und Märchen weitgehend getreu zu rekonstruieren (Vallee 2004: 317; Middendorf 2006: 17– 21). Obwohl er selber wohl keine direkten Erfahrungen mit den rituellen Praktiken der Aranda aus erster Hand hatte, konnte er diese dennoch auf Grundlage ihrer mythischen Erzählungen ausführlich darstellen (Nicholls 2007: 107; Kenny 2008: 125–128). ————— 22 Namentlich handelt es sich dabei um Andrew Lang, Nicholas Thomas und Pater Wilhelm Schmidt (Lang 1909b; 1910; Thomas 1909; Schmidt 1908b; 1909; 1910). Die mit ihren Namen verbundene Debatte um den Hochgottglauben und den Urmonotheismus ist vor allem auf das ethnographische Werk von Strehlow zu den mythischen Erzählungen und der religiösen Vorstellungswelt der Aranda zurückzuführen (N. Thomas 1905: 429–430; Schmidt 1908a: 866-869; 1912: 123–127, 366–386; Söderblom 1926: 94–108, 123–134, 162–167; Jensen 1960: 99–102; siehe dazu auch Gill 1998: 98–101; Kenny 2005: 133–134; Kuklick 2005: 19–20). Darüber hinaus ist hervorzuheben, dass Lang unter methodologischen Gesichtspunkten Spencer und Gillens fotografische Darstellung der zentralaustralischen Aborigines scharf kritisierte (Lang 1910: 111).

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Das fünfbändige Werk Die Aranda- und Loritja-Stämme in Zentral-Australien veröffentlichte Strehlow zwischen 1907 und 1920 in Zusammenarbeit mit Moritz von Leonhardi im Städtischen Museum in Frankfurt am Main (Leonhardi 1907b; Veit 1991: 109–110; Völker 2001: 176–179, 182–185). In den Abb. 9: Jabalpa (Finke Gorge) von Süden einzelnen Bänden gab er die Mygesehen [Strehlow: Aranda and Loritja Stämme then, Sagen und Märchen der Aran1: 7] da wieder (Strehlow 1907; 1908), ging auf deren totemistische Vorstellungen und sakrale Kultobjekte ein (Strehlow 1910; 1911), thematisierte das soziale Leben (Strehlow 1913; 1915) und die materielle Kultur (Strehlow 1920). In der Darstellung seines ethnographischen Materials folgte Strehlow Abb. 10: Aroalirbaka (hier lebte rella manering- weitgehend der biblischen Traditia) [Strehlow: Aranda und Loritja Stämme 1:60] on, indem er mit den Mythen der Urzeit einsetzte (Strehlow 1907: 1–16), denen Sagen über die Urahnen aus der Traumzeit (16–102) und weitere Märchen folgten (102–104). In späteren Bänden behandelte er die Relevanz der Mythen, Sagen und Märchen im rituellen Kontext der Aranda (Strehlow 1910: 1–137) und ging auf die Formen des sozialen Lebens ein (Strehlow 1913: 10–44, 62–77). In seinen ethnographischen Darstellungen war er jeweils darum bemüht, die lokalen Kontexte der oralen Traditionen herauszustellen, indem er die Orte und Zeiten der Mythen, Sagen und Märchen sowie die Anlässe für die traditionellen Zeremonien und Rituale erwähnte. Dabei beschränkte er sich auf die Wiedergabe der mythischen Erzählungen und rituellen Handlungen, ohne jedoch deren religiösen oder theologischen Gehalt zu kommentieren. Strehlow war bezüglich der Angemessenheit seiner Darstellung der Aranda selbstkritisch genug, um die sprachlichen und kulturellen Grenzen der Interpretation religiöser Vorstellungen anzuerkennen. Obwohl er anders als Spencer und Gillen die Sprache der Aranda beherrschte, war er bemüht, in seinen Transkriptionen und Übersetzungen jedes Detail so genau wie möglich wiederzugeben (Strehlow 1907: 21–23, 32–40, 69–73, 86–90, 1910: 11–12, 14, 15–17, passim; Leonhardi 1910: vii–viii). Er folgte dabei der philologischen Methode, als er den Wortlaut der Mythen, Sagen und

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Märchen darzulegen versuchte (Harms 2003: 157). Die ausführlichen Listen indigener Begriffe belegen darüber hinaus die Rigidität seines Forschungsansatzes (Strehlow 1915: 43–78; 1920: 15–39). Im Gegensatz zur Methode der fotografischen Dokumentation von Spencer und Gillen, nutzte Strehlow die hermeneutische Methode, um die religiöse Vorstellungswelt der Aranda für die ethnologische und religionswissenschaftliche Forschung zu erschließen (Völker 2001: 200; Nicholls 2007: 85–86; Kreinath 2012: 400–401). Angesichts seines Forschungsansatzes ist es nicht verwunderlich, dass Strehlow es zeitlebens ablehnte, selber Fotografien von den Aranda zu machen. Die wenigen Fotografien, die in seinem Werk abgedruckt sind, wurden wahrscheinlich erst auf ausdrückliche Anweisung von Leonhardi von einem Mitarbeiter Strehlows angefertigt (Mulvaney/Morphy/Petch 1997: 119). Es liegt jedoch nahe, dass nach dem Erscheinen von Spencer und Gillens Werken eine Publikation zu den Aranda wohl kaum mehr ganz auf Fotografien verzichten konnte (Middendorf 2006: 99). Dennoch verwendete Strehlow in seinen Publikationen nur sehr wenige Fotografien und bevorzugte menschenleere Aufnahmen der Totemplätze (Strehlow 1907: 7, 60; 1910: 10; siehe Abb. 9 und Abb. 10). Auf den Fotografien wurden die Aranda zudem bekleidet oder ausdrücklich für das Porträt posierend abgelichtet (Strehlow 1907: 1; 1910: 1; siehe Abb. 11 und Abb. 12). Darüber hinaus präsen- Abb. 11: Die vier Schwarzen, die am meisten tierte er zahlreiche Handzeichnun- Sagen erzählt haben [Strehlow: Aranda und gen von sakralen Kultobjekten und Loritja Stämme 1: 1] totemistischen Ornamenten (Strehlow 1910: 3, 13, 15, 26, passim). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Strehlow die kulturelle Differenz auf die religiöse Vorstellungswelt der Aranda zurückführte und die oralen Traditionen als Beleg für seine Auffassung anführen konnte, und die Fotografien als Illustrationen nutzte, während Spencer und Gillen ihre Forschung auf die materielle Kultur und soziale Organisation der Aran- Abb. 12: Aranda-Mann [Strehlow: Aranda und da konzentrierten und die Fotogra- Loritja Stämme 3.1: 1]

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fien als Beweismaterial für ihre ethnographischen Darstellungen vorlegten. Im Gegensatz zu Spencer und Gillen betonte Strehlow nicht so sehr die Differenzen in der materiellen Kultur, sondern hob vielmehr die Differenzen in der religiösen Vorstellungswelt hervor, wie sie sich sprachlich manifestierten, ohne dabei jedoch die materielle Kultur prinzipiell abzuwerten, wie etwa seine detaillierten Handzeichnungen sakraler Kultobjekte nahelegen. Angesichts dieser methodologischen Unterschiede in der ethnographischen Forschung ist anzumerken, dass Spencer und Gillen ebenso wie Strehlow in ihrer Repräsentation der Aranda auf jeweils einen Aspekt der ethnographischen Forschungspraxis fokussierten. Es ist jedoch festzuhalten, dass die Fotografie seit Spencer und Gillen als paradigmatisch für die Repräsentation und Erforschung der Aranda angesehen werden kann. 8. Die religionswissenschaftliche Imagination der Aranda in der religionsethnologischen Theorie- und Begriffsbildung Wie bereits ersichtlich wurde, trugen die ethnographischen Forschungen zu den Aranda entscheidend zur religionsästhetischen Konstruktion der Kategorie der zentralaustralischen Aborigines bei. Im Kontrast zu Strehlows Werk waren es vor allem die von Spencer und Gillen zusammengetragenen Fotografien, die zur Grundlage ethnologischer Begriffsund Theoriebildung herangezogen wurden. Wie anhand des religionsethnologischen Hauptwerkes Die elementaren Form des religiösen Lebens von Émile Durkheim zu zeigen ist, spielten die Fotografien von Spencer und Gillen eine entscheidende Rolle in der religionsethnologischen Theorie- und BegriffsbilAbb. 13: Stone Churinga of the Arunta, dung der Jahrhundertwende und können Kaitiseh and Warramunga Tribes [Spen- als integraler Bestandteil religionswiscer /Gillen: Native Tribes: 131] senschaftlicher Imagination verstanden werden (Kreinath 2012). In seiner Religionstheorie fokussierte Durkheim auf den Totemismus der Aranda und nutzte alle damals zugänglichen ethnographischen Forschungen zu Zentralaustralien, einschließlich der Werke von Spencer und Gillen und

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der von Strehlow. In diesem Zusammenhang ist wichtig zu erwähnen, dass Durkheim – obgleich er selber auf die Kategorie der zentralaustralischen Aborigines verzichtete – für seine Beschreibung von Ritualen maßgeblich und zum Teil fast wortwörtlich auf das ethnographische Material von Spencer und Gillen zurückgriff und für seine Interpretation von Mythen auf das von Strehlow präsentierte Material stützte (Durkheim 1981: 131–134; Morphy 1998: 14–16, 22–24; Kreinath 2012: 378–403). Durkheim begriff, ganz im Sinne von Spencer und Gillen, das Totem als eine Repräsentation der sozialen Organisation in Form von Pflanzen- und Tiergattungen. Er ging aber über das Verständnis von Spencer und Gillen hinaus, indem er die Ornamente, die den entsprechenden Klan visuell repräsentieren, als Emblem begreift (Durkheim 1981: 143–147, 157– Abb. 14: Ceremony of the Opossum Totem 159; Morphy 1997: 38–40; Paoletti of Arimurla [Spencer/Gillen: Native 1998; Rawls 2004: 141–148). Auf ähnli- Tribes: 339] che Weise ist Durkheim verfahren, wenn er das Totem als ein Emblem oder sichtbares Zeichen definierte und das zweite Buch zu den religiösen Vorstellungen mit der Definition des Totems einsetzte (Durkheim 1981: 147– 151): [D]as Totem ist nicht nur ein Name, es ist auch ein Kennzeichen (Franz.: emblème), ein wahres Wappen … (Durkheim 1981: 158). Sie malen das Wappen … nicht nur auf die Gegenstände, die sie besitzen, sondern auch auf ihre Person. Es ist auf ihr Fleisch geprägt, es ist Teil ihrer selbst, und diese Art der Darstellung ist bei weitem die wichtigste. Im Allgemeinen versuchen die Mitglieder eines jeden Klans in der Tat, sich das Aussehen ihres Totems zu geben (Durkheim 1981: 162).

Auch hier nahm Durkheim in seiner Beschreibung des Totems als sakrales Kultobjekt Bezug auf eine der von Spencer und Gillen dargestellten Fotografien (Durkheim 1981: 163–166; siehe Abb. 13 und Abb. 14). Somit kann es als erwiesen gelten, dass Durkheim die Fotografien von Spencer und Gillen nutzte, ohne jedoch direkt auf diese Fotografien Bezug zu nehmen

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(Durkheim 1981: 17–18, 20–27; siehe auch Kreinath 2012: 367–371, 403– 306). Durkheim erkannte in seiner Religionstheorie, dass die Aranda ihre sakralen Kultobjekte als Embleme ihrer sozialen Organisation begreifen und dadurch selber eine Form der visuellen Repräsentation hervorbringen (Durkheim 1981: 45–46, 159–177). Da das totemistische Emblem als sakrales Kultobjekt, als Churinga, bei Zeremonien und religiösen Ritualen jeder Art verwendet wurde, und mit dessen Hilfe die Dinge in heilig und profan unterteilt werden konnten, konnte Durkheim den Totemismus als die primitivste Form der Religion definieren (Durkheim 1981: 17–19, 26, 64–67, 143–144, 405–410)23. Da jede Religion aus Vorstellungen und rituellen Praktiken besteht, müssen wir hintereinander den Glauben und die Riten behandeln, die der Totemreligion eigen sind (Durkheim 1981: 155).

Außerdem erlaubte diese Theorie des Totemismus, die kategoriale Unterscheidung von heilig und profan mit Mitteln der visuellen Repräsentation hervorzuheben (Durkheim 1981: 62–64, 127–128; siehe auch Morphy 1997: 40). Wenn das Totem auch zur gleichen Zeit eine Kollektivbezeichnung ist, so hat es doch auch einen religiösen Charakter. Tatsächlich werden mit seiner Hilfe die Dinge in heilige und profane eingeteilt. Es ist selbst ein typisch heiliges Ding (Durkheim 1981: 166).

Als ein System der primitiven Solidarität legte Durkheim den Totemismus seinem Religionsbegriff zugrunde. In seinem Bemühen, die elementaren Formen religiösen Lebens zu bestimmen, ging er – ganz anders als Frazer – davon aus, dass der Totemismus selbst eine Form der Religion sei (Durkheim 1981: 75, 135–138; Rawls 2004: 139–161). Nur insofern folgte Durkheim den Werken von Spencer und Gillen, als er die Aranda als primitiv klassifizierte (Durkheim 1981: 17–19, 180–181, 460–461). Dabei legte er neben einem anderen Begriff des Primitiven einen grundsätzlich anderen Religionsbegriff als Frazer zugrunde und setzte zudem einen anderen Magiebegriff voraus. Somit konnte er den Totemismus anders als Spencer und Gillen nicht als einen evolutionären Vorläufer der Religion begreifen (Durkheim 1981: 69–73, 487–490).

————— 23 Zu Durkheims Religionsbegriff siehe auch Mol 1979; Pickering 1984: 105–106, 115–117, 179–191; Rawls 2004: 112–124.

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In diesem Zusammenhang ist wichtig zu erwähnen, dass Durkheim sein Verständnis des Totemismus ebenso wie Frazer aus Spencer und Gillens Interpretation der Intichiuma Zeremonie herleitete. Abgesehen von Spencer und Gillens späterem Interesse an der Erschließung des Totemismus für das Verständnis der Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft (Durkheim 1981: 457–464, 473–479; Morphy 1997: 38) richtete Durkheim sein Forschungsinteresse insbesondere auf die visuelle Repräsentation der von Spencer und Gillen dargestellten sakralen Kultobjekte und rituellen Handlungen. Damit teilte Durkheim neben der empirischen Methode das von Spencer und Gillen vertretene Verständnis der materiellen und visuellen Kultur der Aranda, wie dies vor allem an seiner Darstellung der Churinga und der Intichiuma Zeremonie deutlich wird (Durkheim 1981: 185, 242–243, 410–418, 479– 488). Wie zweifelsohne gezeigt werden kann, begann Durkheim seine Darstellung ritueller Praktiken jeweils mit einer detaillierten Beschreibung der in den Fotografien von Spencer und Gillen dargestellten Szenen und baute darauf seine ethnographische Beschreibung auf, die er als Grundlage für sein theore- Abb. 15: Group of Women Cutting their Heads tisches Argument nutzte, wie dies with Yam Sticks during Mourning Ceremonies Warramunga Tribe [Spencer/Gillen: Northern am folgenden Beispiel deutlich Tribes: 523] wird: Gruppen von Männern und Frauen sitzen auf der Erde, weinen, klagen und umarmen sich in bestimmten Augenblicken. Diese rituellen Umarmungen wiederholen sich, solange die Trauer andauert, oftmals. Die Menschen empfinden anscheinend das Bedürfnis, sich einander zu nähern und enger miteinander zu kommunizieren. Man sieht sie zusammengedrängt und ineinander verschlungen, so dass sie eine einzige Masse bilden, aus der geräuschvolles Stöhnen kommt (Durkheim 1981: 525).

Unter Berücksichtigung der zugrunde gelegten Fotografien wird deutlich, dass Durkheim hier letztlich eine von Spencer und Gillen fotografisch dargestellte Szene beschreibt (siehe Abb. 15 und Abb. 16). Wie durchgehend gezeigt werden kann, verwies Durkheim nach Maßgabe seiner empirischen Methode jeweils auf Fotografien von Spencer und

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Gillen, bevor er sein religionstheoretisches Argument entfaltete (Kreinath 2012: 382–396). Diese Verfahrensweise wird vor allem dort ersichtlich, wo er – wie im dritten Buch seiner Elementaren Formen – seine Darstellung der wichtigsten Ritualhandlungen auf der Beschreibung von Fotografien aufbaute24. Angesichts seiner induktiven methodischen Vorgehensweise wird Abb. 16: Women Embracing and Wailing after deutlich, dass Durkheim ein starkes Cutting their Heads during the Mourning Cere- Gewicht auf die Methode der wismonies [Spencer/Gillen: Northern Tribes: 525] senschaftlichen Beobachtung legte (Pickering 1984: 329–351; Kreinath 2012: 370–371). Zudem ging er von diesem fotografischen Material aus, um seinen allgemeinen Religionsbegriff empirisch zu entwickeln (Durkheim 1981: 17–23, 27–29; siehe auch Pickering 1984: 179–191; Masuzawa 1988: 26–28; Rawls 1996: 439–440). Trotz seiner methodischen Rigidität übersah Durkheim jedoch, dass die Formen der visuellen Repräsentation im Totemismus nicht nur Ausdruck religiöser Vorstellungen sind, sondern auch Ausgangspunkt für rituelle Handlungen und mythische Erzählungen werden, die wohl auch aufgrund ihrer Visualität für die Aranda einen integralen Bestandteil der religiösen Imagination darstellen dürften. Durkheim erkannte diesen von Strehlow herausgearbeiteten Zusammenhang zwar grundsätzlich an, unternahm aber nicht den Versuch, die Formen der religiösen Imagination eigens zu analysieren oder zu interpretieren; sein Forschungsinteresse lag nicht so sehr darin, wie Strehlow die religiöse Vorstellungswelt der Aranda in lokaler Perspektive zu erforschen, sondern vielmehr beschränkte er seine Religionstheorie auf die Analyse empirisch ausweisbarer ethnographischer Daten (Stanner 1967: 234–237; Morphy 1998: 20–21). Durkheim schrieb wie Spencer und Gillen die Imagination primär der religiösen Vorstellungswelt zu, wohingegen die wissenschaftliche ung sowie die Begriffs- und Theoriebildung dem Religionswissenschaftler und Ethnologen vorbehalten blieben (Durkheim 1981: 17–20, 23–26; Fields 1995: xix–xxii, xxvii–xxviii). Diese strikte Trennung von religiöser Imagination als kollektiver Repräsentation und der religionswissenschaftlichen Imagina————— 24 Diese Verfahrensweise kann besonders gut an seiner Diskussion der asketischen Rituale (Durkheim 1981: 410–413), der Opfer- und Vermehrungsrituale (445–448), der mimetischen Rituale (473–476), sowie der Gedenkrituale und Sühnerituale (499–505) nachgewiesen werden.

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tion als Form wissenschaftlicher Erkenntnis kann auf die mit der Fotografie eingeführten empirischen Wahrnehmungsformen des ethnographischen Blickes zurückgeführt werden. Während Spencer und Gillen den Imaginationsbegriff nutzten, um die kulturelle Differenz in der religiösen Vorstellungswelt der Aranda zu vermitteln, verzichtete Durkheim darauf, den Imaginationsbegriff in einem anderen Sinne als dem der religiösen Imagination zu gebrauchen. Damit etablierte er die kategoriale Unterscheidung von religiöser Imagination und wissenschaftlicher Erkenntnis, indem er die Formen der visuellen Repräsentation jeweils zum Ausgangspunkt seiner Analysen der rituellen Praktiken machte. Durkheim übersah jedoch, dass jede wissenschaftliche Erkenntnis an die Form der Imagination im Sinne der Vorstellungskraft und der Fähigkeit der Vergegenwärtigung gebunden ist. In der Entschlüsselung ethnographischer Daten und der Bildung religionswissenschaftlicher Hypothesen spielt die Imagination bei Durkheim – wenn auch nur indirekt – insofern eine Rolle, als er für die Erschließung und Interpretation der Fotografien von Spencer und Gillen nicht nur auf die Fotografien oder der durch sie repräsentierten Gegenstände und Ereignisse verweist. An dieser Stelle kommt die religionswissenschaftliche Imagination ins Spiel, die auch Durkheim trotz seines empirischen Ansatzes nicht umgehen kann; geht er doch in seiner Begriffs- und Theoriebildung über die Sammlung von Tatsachen hinaus. Er stellt in seinem Religionsbegriff und seiner Erkenntnissoziologie Zusammenhänge her, die sich nicht direkt aus der Beobachtung oder der Visualität der von ihm zusammengetragenen und dargestellten Tatsachen ergeben. 9. Die religionsästhetische Relevanz der Imagination und das Paradigma der Fotografie in der Religionswissenschaft Die neuen Formen der fotografischen Dokumentation revolutionierten die Methoden der Feldforschung ebenso wie die Erforschung fremder Religionen. Sie ermöglichten zu Beginn des 20. Jahrhunderts neue Formen religionswissenschaftlicher Begriffs- und Theoriebildung. So konnten in empirischer Hinsicht nun Beweise für die kulturellen und religiösen Differenzen produziert und in konzeptioneller Hinsicht ethnologische und religionswissenschaftliche Vergleiche auf Grundlage des gesammelten Materials vorgenommen werden. Mit der Einführung der fotografischen Dokumentation standen nicht mehr so sehr religiöse Vorstellungen im Vordergrund der Religionswissenschaft, sondern vielmehr rituelle Handlungen, weil diese mittels der Foto-

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grafien visuell repräsentiert und zur Grundlage ethnologischer und religionswissenschaftlicher Vergleiche und Religionstheorien werden konnten. Zudem eröffneten die Fotografien ein Verständnis fremder Kulturen und Religionen, auch ohne dass die Sprache der entsprechenden Kultur bekannt sein musste. Die Vernachlässigung der kulturellen und sprachlichen Aspekte der religiösen Imagination gegenüber den sichtbaren und nichtsprachlichen Aspekten der materiellen Kultur kann zudem mit dem durch die Fotografie eingeführten empirischen Paradigma ethnographischer Forschung erklärt werden. Als Mittel ethnographischer Forschung erhielt das fotografische Dokument somit einen entscheidenden Stellenwert in der Erschließung und Konzeptualisierung fremder Religionen und verlagerte somit das Verhältnis von religiöser und religionswissenschaftlicher Imagination. Diese Verlagerung spiegelt sich auch in veränderten Repräsentationsformen wider. Zum einen ist die Tendenz zu erkennen, dass wissenschaftliche Erkenntnis bereits um die Jahrhundertwende methodologisch das Paradigma der sich in der Fotografie manifestierenden Visualität voraussetzt; zum anderen wird deutlich, dass das Paradigma der Visualität dazu diente, einen kulturunabhängigen Zugriff auf die Religion und Kultur der Aranda zu erlangen, welcher nicht mehr an die Erschließung von deren religiösen Vorstellungswelt gebunden ist. Mit dem Gebrauch der Fotografie fand die religionswissenschaftliche Begriffsbildung ihren Ausgangspunkt in einer dezidiert empirischen und an der Visualität orientierten Wahrnehmungsform. Diese Verschiebung in der methodischen Herangehensweise spiegelt sich auch in den veränderten Formen der empirischen Begriffs- und Theoriebildung wider. Darüber hinaus beruhte der ethnologische und religionswissenschaftliche Vergleich auf dem Vergleich von sakralen Kultobjekten und rituellen Handlungen als Teil der materiellen und visuellen Kultur, weniger aber auf dem Vergleich der durch die Sprache vermittelten religiösen Vorstellungen. Dabei bleibt der Imaginationsbegriff aber gleichzeitig auf die erforschte Religion beschränkt und wird als empirisch unbegründete Größe mit der Phantasie als ‚reine Imagination‘ gleichgesetzt. Eine ethnographische Rekonstruktion der religiösen Imagination wurde durch die Einführung der Fotografie für die strikt empirisch verfahrenden Forschungsansätze gleichsam hinfällig. Wie ersichtlich wurde, stellten Spencer und Gillen und Strehlow die ethnographischen Daten zu den Aranda auf grundsätzlich unterschiedliche Weise dar. Im Anschluss daran nutzten Frazer und Durkheim derartige ethnographische Darstellungen, um ihre Religionstheorien darauf aufzubauen, setzten aber unterschiedliche Forschungsansätze voraus. Diese bestimmten, wie sie die Kategorie der zentralaustralischen Aborigines mit Hilfe des

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Magie- oder Religionsbegriffes konstruierten. Damit wird ersichtlich, dass Imagination und Repräsentation in der religionswissenschaftlichen Erforschung der Aranda durch die Verwendung der Fotografie auf die Visualität der ethnographischen Daten zugespitzt wurde. Aus diesem Grund kann sogar argumentiert werden, dass der Imaginationsbegriff vor allem durch den Gebrauch der Fotografie neu gefasst wurde, als er im religionswissenschaftlichen Diskurs nun eher im Sinne der Vergegenwärtigung als im Sinne der Vorstellungskraft verwendet wurde; diese Konzeptualisierung ist in den Forschungsansätzen von Spencer und Gillen und Strehlow bereits angelegt und wird in den religionswissenschaftlichen Interpretationen von Frazer und Durkheim auf unterschiedliche Weise fortgesetzt. Außerdem kann argumentiert werden, dass der Gebrauch der Fotografie in der Erforschung der Aranda dazu führte, neue religionswissenschaftliche Begriffe zu etablieren, welche die Differenz zwischen Imagination und Visualität in der Repräsentation fremder Religionen markierte. So verwenden Spencer und Gillen den Begriff der Zeremonie, um die Form der magischen Praktiken der Aranda zu beschreiben, die aufgrund ihrer vermeintlich primitiven Form nicht dem Ritualbegriff zugeordnet wird. Ihre Begründung ist, dass der Ritualbegriff nicht für die Beschreibung der magischen Praktiken in Zentralaustralien angemessen sei. Damit legen sie eine Auffassung nahe, die es erlaubt, den Begriff der Zeremonie trotz seiner religiösen Konnotationen gegenüber dem des Rituals zu bevorzugen. Durch ihre kategoriale Unterscheidung bereiteten sie die Formation des modernen Ritualbegriffes vor, obwohl später der Terminus der Zeremonie durch den des Rituals abgelöst wurde. Somit wurde auch das, was Spencer und Gillen inhaltlich als Zeremonie bezeichneten, als Ritual gefasst, nämlich als die Form religiöser Praxis, die auf dem Vollzug von Handlungen basiert und beobachtbar ist. Damit wird der Begriff des Rituals als Form der symbolischen und indexikalischen Handlung begriffen, die einen entscheidenden Aufschluss über die Grundlagen einer Religion geben kann (Asad 1988: 74–75; Boudewijnse 1995: 43–53; Bremmer 1998: 14–19). Frazer führte zudem die kategoriale Unterscheidung von Magie und Religion ein, um die kulturelle Differenz zwischen den zentralaustralischen Aborigines und der sogenannten westlichen Zivilisation zu markieren. Er argumentierte, dass die Aborigines in einem Entwicklungsstadium der Menschheitsgeschichte leben, welches sogar dem Stadium der Religion vorausgehe. Darüber hinaus weist der Magiebegriff von Frazer visuelle Eigenschaften auf, die im Prinzip der Visualität in der Fotografie gleichkommen. Das Prinzip der Ähnlichkeit, das Frazer zur Grundlage seiner Bestimmung der imitativen Magie machte, ist in Analogie zur Bildhaftigkeit der fotografischen Repräsentation zu begreifen. Frazer verwendete

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dabei – ebenso wie Spencer und Gillen – bevorzugt den Begriff der Zeremonie, um die Wirksamkeit magischer Praktiken im Kontext mit dem zentralaustralischen Totemismus zu bestimmen. Im Gegensatz zu Spencer und Gillen und Frazer weitete Durkheim den Ritualbegriff aus, um einen besseren empirischen Zugang zur Erforschung der Aranda und eine bessere Grundlage für seine Religionstheorie zu gewinnen. Zu diesem Zweck hob er die Visualität der rituellen Praktiken hervor und legte die Emphase auf die Methode der wissenschaftlichen Beobachtung. Damit nutzte Durkheim den Ritualbegriff, um auf dessen Grundlage eine allgemeine Religionstheorie zu entwerfen, die in ihrer Zielsetzung und Ambition als universal zu begreifen ist. Insofern besteht ein systematischer und methodologischer Zusammenhang zwischen der Einführung der Fotografie als Grundlage religionswissenschaftlicher Forschung und der Transformation des Ritualbegriffs. Die Religionstheorie von Durkheim kann in dieser Hinsicht als paradigmatisch angesehen werden, insofern er in seiner religionswissenschaftlichen Arbeit die Fotografien von Spencer und Gillen als empirische Beweise nutzte und diese zur Grundlage seines Ritualbegriffes machte, ohne direkt auf sie Bezug zu nehmen. Die Imagination spielt insofern eine entscheidende Rolle in der Formation religionswissenschaftlicher Begriffe, als die zugrunde gelegten Begriffe die Aranda im religionswissenschaftlichen Diskurs als primitiv erscheinen ließen. Vor dem Hintergrund, dass Begriffe, wie etwa Zeremonie und Ritual oder Religion und Magie, das Feld ethnographischer Forschung konfigurieren, ist hervorzuheben, dass die Medien der Repräsentation entscheidend zur Bestimmung dieses Feldes religionswissenschaftlicher Forschung beitragen; denn sie bestimmen, was als ethnographische Daten definiert wird und wie diese Daten mit theoretischen Annahmen in Beziehung gesetzt werden. So berücksichtigte Durkheim in seiner Religionstheorie zwar die religiösen Vorstellungen, griff dabei aber insofern zu kurz, als seine Repräsentation der Aranda entscheidend vom Paradigma der Fotografie und der visuellen Ästhetik der rituellen Praxis geleitet war. Wie die Ausführungen zeigten, stehen die Visualität und das Paradigma der Fotografie der religiösen Imagination und Vorstellungswelt der Aranda gegenüber. Diese kategoriale Unterscheidung zwischen Visualität und Imagination wurde – wie gezeigt – erst im religionswissenschaftlichen Diskurs der Jahrhundertwende eingeführt. Während die Fotografien, die Spencer und Gillen von den sakralen Kultobjekten und rituellen Handlungen der Aranda erstellten, von den Aranda als totemistisches Emblem – nämlich als sichtbares und heiliges Zeichen – begriffen wurden, ist diese Identifikation der Aranda mittels der Fotografie mit dem totemistischen Emblem zum entscheidenden Kriterium für die religionsästhetische Konstruktion der

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Kategorie der zentralaustralischen Aborigines herangezogen worden. Dabei wurde diese durch die Aranda vorgenommene Identifikation jedoch nicht selber zum Ausgangspunkt genommen, das Verständnis der religiösen Imagination der Aranda und deren Konzept der Visualität nach Maßgabe des jeweiligen Umgangs mit der fotografischen Repräsentation zu erschließen. Ein differenzierter Imaginationsbegriff müsste jedoch die Perspektive der religiösen Imagination mit der Perspektive der religionswissenschaftlichen Imagination reflexiv aufeinander beziehen. Angesichts des dargestellten Befundes zur religionsästhetischen Konstruktion der Kategorie der zentralaustralischen Aborigines, der mittels der historischen Diskursanalyse gesichtet und analysiert wurde, sind folgende Punkte in Hinsicht auf die Imagination als analytischen Begriff der Religionsästhetik festzuhalten: 1. Um eine religiöse Tradition zu erforschen, ist die Visualität der rituellen Praktiken immer auch im Kontext der religiösen Imagination zu erforschen. 2. Um die Form der religiösen Imagination in einer bestimmten Religion angemessen zu erfassen, ist eine Reflexion auf die Imagination in der Formation religionswissenschaftlicher Begriffe und Theorien methodologisch und methodisch vorauszusetzen. 3. Religiöse Imagination und religionswissenschaftliche Imagination sind als Formen der Vorstellungskraft und als Fähigkeit der Vergegenwärtigung reflexiv aufeinander zu beziehen. 4. Für eine wissenschaftsgeschichtliche Rekonstruktion der Formation religionswissenschaftlicher Begriffe ist die Reflexion auf die Medien der religiösen Imagination auch unter ästhetischen Gesichtspunkten von entscheidender Wichtigkeit. 5. Ein religionsästhetisch gefasster Imaginationsbegriff ist geschichtlich zu fassen ebenso wie die Geschichte religionswissenschaftlicher Imagination reflexiv auf die religiöse Imagination der erforschten Religion und Kultur zu beziehen ist. Wie dieser Beitrag zeigt, ist die Geschichte des Imaginationsbegriffes als religionsästhetische Kategorie nicht auf die diskursgeschichtliche Rekonstruktion der religiösen Imagination begrenzt. Vielmehr ist die Erforschung der Imagination in unterschiedlichen religiösen Traditionen immer auch an die Geschichte der religionswissenschaftlichen Imagination zurückzubinden und somit selber als eine Form der Imagination zu begreifen.

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Danksagung An dieser Stelle möchte ich mich bei den Herausgeberinnen dieses Bandes, Annette Wilke und Lucia Traut, für ihre Geduld und Sorgfalt in der Fertigstellung dieses Beitrages bedanken. Vorläufige Ideen dazu wurden bereits am 30. Oktober 2010 auf dem Annual Meeting der American Academy of Religion (AAR) in Atlanta und am 17. Juni 2011 auf dem Jahrestreffen der Arbeitsgruppe Religionsästhetik am Seminar für Allgemeine Religionswissenschaft der Universität Münster vorgestellt. In diesem Zusammenhang bin ich vor allem Jonathan Z. Smith zu Dank verpflichtet, der mir in seiner Kritik den entscheidenden Anstoß gegeben hat, meine Argumente auf breiterer empirischer und systematischer Grundlage weiterzuentwickeln. Außerdem bin ich Klaus-Peter Köpping verbunden, der mein anhaltendes ethnographisches Interesse an Zentralaustralien weckte. Ebenso möchte ich Heinrich Middendorf gegenüber meinen Dank aussprechen, der mir über die Jahre hinweg ein ausgesprochen informierter Gesprächspartner war. Nicht zuletzt bin ich Refika Sarıönder für ihre Lektüre und Kritik unterschiedlicher Entwürfe dankbar.

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Imaginationen des Nichtwissens Zur Hubble Space Imagery und den Figurationen des schönen Universums zwischen Wissenschaft, Kunst und Religion Alexandra Grieser unter Mitarbeit von Kathrin Baumstark Für die Moderne zeigt dieser Aufsatz, dass religiöse ästhetische Praktiken sich nicht mehr allein auf religiöse Objekte richten, sondern auch auf wissenschaftlich generierte Bilder. Besonders die sogenannten bildgebenden Verfahren spielen eine große Rolle im gegenwärtigen Repertoire einer ‚gesellschaftlichen Einbildungskraft‘, und seit der Romantik stellt die Ästhetisierung von Natur und von Naturwissenschaft eines der wichtigsten religiös-ästhetischen Muster zur Verfügung. Nicht mehr Gott oder Glaubenssätze sind bestimmend, sondern die überwältigende ästhetische Erfahrung und das Imaginieren selbst werden zum definiens von Religion. Anhand der spektakulären Fotografien des Hubble Space Telescope legt der religionsästhetische Blick frei, dass seit der Ausdifferenzierung zwischen Wissenschaft, Religion und Kunst romantische Präfigurationen des Sehens, Fühlens und Interpretierens einen Rahmen stecken, in dem die gesellschaftliche Produktion von Wissen und Nichtwissen verhandelt wird.

Einleitung: Ein religionsästhetischer Blick auf neue Bilder vom Universum Wissenschaftlich generierte Bilder gehören in der gegenwärtigen Medienkultur zum wichtigsten Vorstellungsrepertoire unserer Gesellschaften. Dies zeigen etwa die Bildwelten der Neurowissenschaften und wie sie die Vorstellungen vom Denken, vom Körper und vom Menschsein verändern (Ortega/Vidal 2011). Diese kulturelle Ver- und Bearbeitung wissenschaftlicher Darstellungsmittel wird meist als Beziehung zwischen Wissenschaft und Kunst thematisiert – eine eigentümliche Schönheit wohne den technischen Bildern inne, oder Künstler nehmen sich ihrer Wirkung an. Ein Bezug zu Religion und Religionsgeschichte wird dabei zwar oft evoziert, aber selten entfaltet. Anhand der neuen Generation astronomischer Fotografien soll daher skizziert werden, dass und wie diese Verbindung wissenschaftlicher und künstlerischer Ästhetik eng mit der Religionsgeschichte der Moderne verbunden ist, und dies nicht nur in Motiven und Vorstellungen, sondern auch in Weisen des Wahrnehmens und des Interpretierens.

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Seit 1993 existieren Bilder vom Weltall, die anders sind als alle vorherigen. Aufgenommen durch die Kameras des Hubble Space Teleskops (HST), das knapp 600 Kilometer entfernt von der Erde im Weltraum kreist, erfassen die Bilder (HSTB) fernere Objekte und sind schärfer, detailreicher und brillanter als je zuvor. Wissenschaftlich haben sie zu den wichtigsten Einsichten heutiger Astrophysik geführt. Vor allem ihre spektakuläre Erscheinung – die bunte Farbigkeit, das Leuchten, die suggestiven Formen – macht sie über Fachleute und ein interessiertes Laienpublikum hinaus zum effektvollen Element von Populärkultur. Frei zugänglich auf der Website des Hubble Heritage Project und der ESA, können sie heruntergeladen werden, als Foto-Tapete, als Poster oder zur eigenen Weiterbearbeitung als Hubble Art. Bildzitate finden sich in Werbespots, auf Veranstaltungsplakaten, als Bildschirmschoner und Web-Frames, auf Visitenkarten und Covers von Büchern, Platten und CDs. Hubble-Bilder sind zu einem Stil der Populärkultur geworden, zu einem visuellen Hintergrundrauschen, das zugleich den atmosphärischen Rahmen schafft zum Beispiel für sinnstiftende Filme wie David Camerons Avatar oder Terrence Malicks Tree of Life (Plate 2012). Auf Hochglanz-Titelseiten und in populärwissenschaftlichen Darstellungen werden die Bilder von Spiralnebeln, Galaxien und explodierenden Sternen jedoch durchweg von einer Rhetorik des Faszinierenden, Einmaligen und Erhabenen flankiert. Dem religionsästhetischen Blick fällt auf, dass diese Spannung zwischen dem Besonderen und seiner unendlichen Reproduzierbarkeit genau dem Umgang mit religiösen Bildern entspricht, der zwischen der Verehrung des Außergewöhnlichen einerseits und ritueller Routine und massenhaftem Gebrauch andererseits oszilliert. Hilft uns also das Wissen über religiöse Bildpraxis1, den kulturellen Umgang mit Wissenschaftsbildern besser zu verstehen? Weiter sind die Weltraum-Fotografien überall dort zu finden, wo Wissenschaftlichkeit repräsentiert werden soll. Ein Beispiel, wie Ikonen der Wissenschaft kanonisiert und kommuniziert werden, bietet der populärwissenschaftliche Band Cosmic Images von John D. Barrow (2008), einem mit dem Templeton-Preis ausgezeichneten Physiker. Der Band versammelt die Key Images in the History of Science, Ikonen der Wissenschaft, und die HSTB sind eingereiht zwischen Da Vincis Vitruvianischem Menschen, dem Planetenmodell von Kepler und dem Foto vom ersten Menschen auf dem Mond. Neben Erklärungen, zu welchem Modell oder welcher Entdeckung die Bilder gehören, sind Zitate aus Literatur, Kunst und Alltagsmedien beigefügt, unterhaltsam, kurzweilig zu lesen, oft auf Religion anspielend, doch nicht tatsächlich in den Kontext ihrer historischen oder politischen ————— 1

Ausgeführt etwa bei Morgan 1998; Luchesi 2010; Meyer 2011.

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Bedingungen gestellt. Die assoziativen Zitate vermitteln das Narrativ einer sich linear fortentwickelnden Wissenschaft, in der einzelne Objekte und Bilder Perlen einer teleologischen Kette bilden. Derart losgelöst von ihrem Kontext werden die Bilder zu einem ikonischen Verweis auf die Gesamtgeschichte der Wissenschaft. Sie stehen nicht nur für eine bestimmte Methode oder Entdeckung, sondern sie erzählen den Triumph der Wissenschaft als Bildergeschichte, die in das kulturelle Repertoire von Vorstellungen aufgenommen und in Weltanschauung überführt werden kann. Beide Aspekte – Bilder als Medium popularisierter Wissenschaft und ihre Folgen für die kulturelle Praxis – zeigen an, dass die Geschichte von Wissenschaft auch eine Geschichte des Imaginierens ist, und nicht nur eine Geschichte von Ideen, Argumenten und Erkenntnissen. Geht man davon aus, dass das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Religion eines der wichtigsten Parameter moderner Gesellschaften darstellt, und neuere religiöse Vorstellungen sich vor allem aus der Popularisierung von wissenschaftlichen Vorstellungen speisen, dann gibt eine solche Bildergeschichte des Wissens genau jenen Kreuzungspunkt an, an dem Übergänge und Transformationen zwischen künstlerischem, wissenschaftlichem und religiösem Imaginieren aufgezeigt werden können2. Eine Geschichte religiöser und wissenschaftlicher Ideen ist dabei zu ergänzen durch eine Geschichte der ästhetischen Formen und ihres Gebrauchs. Die Geschichte astronomischer Darstellungen und die Romantisierung der spektakulären Bilder vom Universum sind dafür ein hervorragendes Beispiel. Die Kunsthistorikerin Elisabeth Kessler3 hat genauer hingesehen, und ihr ist aufgefallen, dass insbesondere die Fotos von Nebulae in Farb- und Lichtgestaltung, Anordnung und Bildaufbau eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Landschaftsmalerei der US-amerikanischen Romantik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufweisen, vor allem mit Bildern von Thomas Moran, Albert Bierstadt und der Hudson-River-School (Abb. 1). —————

2 Im Projekt der „Europäischen Religionsgeschichte“ hat Burkhard Gladigow darauf hingewiesen, dass diese Prozesse – hier als „Transfers“ zwischen sozialen Sub-Systemen verstanden – bisher ungenügend wahrgenommen wurden als Teil einer Religionsgeschichte der Gegenwart: „Die Struktur einer so bestimmten Europäischen Religionsgeschichte ist durch die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse bestimmt, vor allem durch Ausdifferenzierungsprozesse, die sukzessiv gesellschaftliche Teilbereiche mit ‚eigenen‘ Sinnsystemen entstehen ließen. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Wissenschaften, die über das Medium der Popularisierung neuentstehende Sinnbedürfnisse abdecken, – oder aber in Sonderfällen selber programmatisch ‚Sinn‘ stiften. Sinnstiftung durch Popularisierung ist ein unbearbeitetes Feld der neuesten Religionsgeschichte, wahrscheinlich eines der wichtigsten“ (Gladigow 1995/2005, 36). 3 Kessler 2007; 2008; 2011; 2012. Neben der Medienanalyse hat Kessler Feldforschung mit Interviews durchgeführt im Hubble Heritage Project und dem National Air and Space Museum of the Smithsonian Institute.

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Abb. 1: Oben: Albert Bierstadt, Storm in the Rocky Mountains, Mt Rosalie, 1866 (BrooklynMuseum, no copyright restrictions); unten: Small Magellanic Cloud, NASA/ESA/ The Hubble Heritage Team (STScI/AURA)/Hubble Collaboration, 8. Januar 2007 (vgl. http://heritage.stsci.edu/2007/04/fast_facts.html; no copyright restrictions, publicly released images). Zusammengestellt durch E. Kessler, so veröffentlicht in Barley, Shanta: „The artistic choices lurking within Hubble images“, Culture Lab, New Scientist 2010; http://www.newscientist.com/blogs/culturelab/2010/04/artistic-choices-hubble-images.html (zuletzt eingesehen 08.08.2012) (siehe auch Farbtafel 9 im Anhang).

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Wie kann das sein? Die signifikante Ähnlichkeit verweist auf einen komplexen Zusammenhang von Bildtechnologien, Sehgewohnheiten und kulturellen visuellen Codes. Computergenerierte Bilder sind in mehrfacher Hinsicht nicht Abbilder von Realität. Sie entstehen durch die Umsetzungen digital erzeugter Datenpakete in visuelle Schemata und sind insofern als Bilder immer schon ‚bearbeitet‘4. Es überrascht also nicht, dass bei der Bearbeitung der Bilder gestalterische Entscheidungen getroffen werden, sowohl für die wissenschaftliche Auswertung als auch für ihre populäre Publikation, und dass dabei Gestaltungsspielräume entstehen. Auf der Internetseite des Hubble Heritage Project5 ist gar eine kurzweilige filmische Anleitung zu finden, wie man selbst aus einem Rohbild ein ansehnliches HSTB herstellen kann. Der mehrstufige Prozess beginnt bei der Umsetzung von Kamera-Rohdaten, die zunächst eindimensionale schwarz-weiße oder grünliche Darstellungen ergeben. Das Auge kann die aufgezeichneten Wellenlängen hierauf nur undeutlich unterscheiden, daher werden meist drei Versionen der Daten für ein Bild übereinander gelegt, die erst durch Farbfilter Kontraste zwischen den Wellenlängen erkennen lassen. Zusätzliche Farben werden hinzugefügt, um für das menschliche Auge nicht sichtbare Wellenlängen wahrnehmbar zu machen (Ultraviolett, Infrarot). Unerwünschte Bildinformation wird entfernt. Für wissenschaftliche Zwecke wird das Bild einheitlich ausgerichtet, für andere Zwecke so gedreht, dass der Eindruck eines ‚oben‘ und ‚unten‘, und damit einer Landschaft oder Form entsteht. Ein viereckiger Ausschnitt wird aus den aneinandergesetzten Fragmenten gewählt. Drehen, Ausschneiden, Reinigen, Einfärben, Rahmen, dies sind die normalen Arbeitsschritte der Bildbearbeitung. Wie sehr die fertigen Bilder eine ganz bestimmte Sehgewohnheit erzeugen, wird dann deutlich, wenn man mit Veränderungen spielt. Schon kleine Manipulationen der Farbzuordnung oder der Kontraste lassen beispielsweise bei dem berühmten Foto der Crab Nebula statt Raumtiefe eine Anmutung von Mikro-Organischem oder von Flechten entstehen. Ein anderer Ausschnitt, eine andere Neigung verschieben sofort unsere Wahrnehmung der Fotos als ‚Bild‘. Dass wir all dies über die digitalen Bilder wissen, scheint jedoch keine Konsequenzen für die populäre Rezeption der Bilder als Abbild einer faszinierenden Welt ‚da draußen‘ zu haben. Hans Belting hat gezeigt, dass religiöse Blickpraxis – und religiöse ästhetische Praxis überhaupt, kann man erweitern – auch in säkularen Zusammenhängen fortlebt (Belting 2005: 8). ————— 4

Dazu bereits vor der Existenz der HSTB: Lynch/Edgerton 1988. Das HHP ist 1997 von aktiven Wissenschaftlern des Space Telescope Science Institute gegründet worden, mit dem expliziten Ziel, Bilder für ein öffentliches Publikum herzustellen. 5

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Der westliche Blick könne aus seiner religiösen Bildtradition heraus kaum anders, als entweder das ‚echte Bild‘ zu verehren oder dem ‚lügenden Bild‘ zu misstrauen, dabei schwankend zwischen Idolatrie und Ikonoklasmus. Angesichts der Bilderflut durch neue Technologien setze sich dieses religiöse Verhältnis zum Bild fort: Und doch ist der Mediengebrauch, wenn wir von den Fachleuten absehen, noch immer auf dem Stand einer geradezu anachronistischen Naivität geblieben. Selbst die avanciertesten Technologien der digitalen Welt produzieren immer wieder analoge Bilder, die für das Anschauungsorgan unserer Sehgewohnheiten eingerichtet sind. Die Bilder aus dem All, die nach den komplizierten Rechenverhältnissen des Remote Sensing in Bilder umgesetzt werden, aber immer mit einer falschen fotografischen Evidenz prunken, sind dafür ein beliebiges Beispiel (ebd. 9).

Kesslers Befund macht deutlich, dass die neue Bildtechnologie mehr ist als ein beliebiges Beispiel und dass Gestaltungs- und Vorstellungsmuster in der Wissenschaft eine Rolle spielen, die sich nicht mit Kategorien wie reality und fake erfassen lässt6. Die unmittelbare Evidenz der Ähnlichkeit zwischen gemalter und digitaler Landschaft irritiert Menschen zunächst und bringt sie dazu, nach universellen Prinzipien des Schönen zu fragen oder Argumente für Intelligent Design zu erwägen – diese Übereinstimmung zwischen Natur und Kunst „kann doch kein Zufall sein“7. Eine andere Reaktion findet sich in gegenwärtigen Ansätzen, Kunst durch Kognitionstheorie und Evolutionsbiologie zu erklären (z. B. Dutton 2009). Landschaftsmalerei, gleich welcher Epochen und Kulturen, gilt hier als Ausdruck eines perzeptiven Präferenzschemas, das aus Urzeiten bis heute wirksam sei. Menschen fänden einen bestimmten Typus Landschaftsbilder schön, weil er dem prospect-and-refuge-Szenario der afrikanischen Savanne entspricht, jener Landschaft, aus der wir alle abstammen und die uns erlaubt, vom sicheren Baum und Fels aus Feinde und Jagdbeute zu beobachten, ohne selbst gesehen zu werden, und versorgt zu sein durch Wasser und Wiesen auf wirtlicher Lichtung. Statt sich mit der Kulturalität von Wissenschaftsbildern zu befassen, kann so auch die Stilisierung der HSTB als Ausdruck eines universellen Empfindens gedeutet werden. Noch einmal Barrows populärwissenschaftliche Deutung, die Kesslers Argumente referiert, um sie dann zu überbieten: Nicht die kulturelle Funktion amerikanischer Romantik bei der Eroberung —————

6 Direkt zu den HSTB: Adelmann 2009; Müller 2007. Zur Rolle von Ästhetik in der Wissenschaft Knorr-Cetina 1999; Bredekamp, Werner und Bruhn 2007; Krohn 2006, Daston und Galison 2007; Epple und Zittel 2010. Der Schwerpunkt liegt fast ausschließliche auf dem Verhältnis von Wissenschaft und Kunst; Religion wird nur ausnahmsweise systematisch bearbeitet z. B. Jones und Galison 1998; Tufte 2006. Explizit zu Religion: Latour und Weibel 2005. 7 So die Beobachtung in Quellen und bei Präsentationen des Themas.

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und Heroisierung des ‚Wilden Westens‘ sei letztlich stilprägend für jene Gemälde, die im politischen Machtzentrum, im Capitol, platziert wurden8. Vielmehr entspreche sowohl die gemalte Landschaft des 19. Jahrhunderts als auch das romantische Szenario im Kosmos den evolutionär-kognitiven Musters der afrikanischen Savanne, und es sei daher nicht überraschend, „if scientific images reflect a little of this evolutionary history as well“ (Barrow 2008: 42 f.). Sicherlich ‚reflektieren‘ Wissenschaftsbilder nicht nur die bio-physiologischen Bedingungen von Wahrnehmung. Selbstverständlich basiert künstlerisches wie auch wissenschaftliches Sehen auf Wahrnehmungspräferenzen, Prinzipien des Gestaltsehens und Imaginierens, und selbstverständlich spielen evolutionäre Bedingungen dabei eine grundlegende Rolle. Das Problem an solchen Erklärungen ist also nicht, dass man biologische Muster einbezieht, um ästhetische Praktiken zu verstehen. Ein Problem ist vielmehr, dass ignoriert wird, wie sich diese verschiedenen ästhetischen Praktiken – Kunst, Religion, Wissenschaft – als spezifische Variationen dieser Grundmuster herausgebildet haben und dass selbst in der Alltagswahrnehmung keine ‚natürliche‘ Wahrnehmung unberührt von diesen kulturellen Weisen des Sehens besteht. Die „Savanne“ also, auf die sich Dutton bezieht, markiert keinen Ursprung oder Anfangspunkt der Evolution, der sich irgendwo, irgendwann festmachen ließe9. Sie ist immer schon konfiguriertes Wahrnehmungsmuster, das sich aus viel grundlegenderen Bausteinen perzeptiver Bearbeitung von bewegter und unbewegter Umwelt zusammensetzt, und sie existiert an keiner Stelle der Evolution ‚im Original‘. Ausgangspunkt dieses Artikels ist daher, dass kulturelle Differenz – auch des ‚Schönen‘ – nicht auf ein universalisierendes Prinzip zurückführbar sind. Das romantische Szenario am astronomischen Himmel ist insofern nicht ‚natürlicher‘ als etwa eine Renaissance-Landschaft oder eine asiatische Darstellung von Natur, die dem westlichen Geschmack stilisierter erscheinen10. Sie alle spielen in unterschiedlicher Weise auf der Klaviatur der Sinne. In den Mittelpunkt rücken vielmehr die Politiken des Natürlichen, und wie ästhetische Formen des 19. Jahrhunderts als visuelle Codes des 21. Jahrhunderts wirksam werden, will man verstehen, welche Rolle die Ästhetisierung von Wissenschaft gegenwärtig spielt. Wissenschaftsbilder sind Teil einer global wirksamen Ästhetik, die zugleich eine kulturelle ————— 8

Vgl. Kessler 2008: 150 f. Zum Folgenden hilfreich van Heusden 2004 und Wilson 2010 (siehe Theoriekapitel). 10 Etwa die asiatische Landschaftsmalerei und Gartenkultur und die Bedeutung des nicht ausgefüllten Raumes darin verdeutlicht die Spannweite kultureller Konzepte, die im Grundmuster der Landschaft transportiert und gestaltet werden, vgl. van Tonder 2006. 9

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Ästhetik mit sich tragen. Sie sind – im übertragenen Sinne – zugleich „bildgebende“ und „bild-nehmende Verfahren“ in den Imaginationsgeschichten der Moderne: Sie speisen neue Vorstellungen ein in das Repertoire der „sozialen Einbildungskraft“ (s. u.), und sie nehmen vorhandene Vorstellungen und Politiken auf, aktualisieren deren Bedeutungen, verfestigen sie, und schreiben sie ein mit jedem neuen Seh-Akt, der geschieht. Der religionsästhetische Blick zeigt, dass es bei den Bildern des schönen Universums nicht nur um Wissenschaft und Kunst geht, sondern um eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Wissenschaft, Kunst und Religion. 1. Imagination, das Imaginieren, das Imaginäre – Begriffe im Netz der Religionsästhetik Die folgenden Überlegungen sind angestellt als Propädeutik für ein religionsästhetisch-analytisches Konzept von Imagination, das zwischen somatisch-sinnlicher Wahrnehmung und kulturell-sinngenerierender Interpretation analytische Schnittstellen markiert. Ein erster Eckpunkt wäre, eine Begriffsgeschichte von imaginatio, phantasia und Einbildungskraft11 selbst als Imaginationsgeschichte zu verstehen. Vorstellungen über das Imaginieren sind eingebettet in Modelle und Ideologien über die geistigen und sinnlichen Kräfte des Menschen, und wie Verstand, Gefühl oder Begierden zu fördern oder zu kontrollieren seien. Die Geschichte der Dämonisierungen und Idealisierungen von Imagination zu erarbeiten ist interessant, will man einen informierten Begriff mit Werkzeugcharakter aus jenen Diskursen heraus entwickeln. Und die Geschichte der Ausdifferenzierung zwischen Kunst, Wissenschaft und Religion selbst kann geschrieben werden als Ausbildung verschiedener Weisen, das Imaginieren zu kultivieren. Wendepunkte in den Theorien von Einbildungskraft sind so gesehen auch Wendepunkte in den kulturellen Optionen, die Imagination zu nutzen und zu trainieren. Religiöse Traditionen haben, allein für die europäische Geschichte festgestellt, vielfältigen Anteil an diesen Vorstellungen von Imagination, im ‚doppelten Pluralismus‘ konkurrierend mit anderen Wissensinstitutionen wie Philosophie oder Medizin und Rhetorik (für Esoterik etwa van den Doel und Hanegraaf 2005; von Stuckrad 2010). Ein zweiter Aspekt betrifft die spannungsvolle Konstellation, in die der Imaginationsbegriff zwischen Aufklärung und Romantik geraten ist. Dass imaginatio vor allem durch die Affekte stimulierbar erscheint, hat dazu —————

11 Vergl. Einleitung; weitere Überblicke Gesamtliteraturliste des Bandes, aus Perspektive der Rhetorik Beil 2003.

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beigetragen, sie als gefahrvolle Macht und in Kategorien des Weiblichen, Verführerischen und Sündhaften-Verwerflichen zu metaphorisieren (Vidal 2004). Diese Metaphern kennzeichnen sowohl den christlich-theologischen Imaginationsdiskurs als auch den der aufklärerischen Philosophie. Pascals Umschreibung von Imagination als „cette maîtresse dʼerreur et de fausseté, […] ennemie de la raison“12 (Lafuma 1962(Pascal 1670): 54) kehrt so oder drastischer bei vielen Philosophen wieder. Die ‚weibliche‘ Imagination zu kontrollieren ist dem Projekt der Aufklärung ebenso plausibel wie der Impuls, die irrationale Natur durch die Herrschaft der ratio zu kolonialisieren. Im romantischen Reflex muss dann Imagination nicht nur gerettet werden, sondern das Imaginieren selbst gerät zur rettenden Instanz. Somit nimmt die Romantik einerseits Kants anthropologische Wende der Ästhetik auf13 und beginnt, Imagination analytisch zu erforschen, andererseits aber wird Imagination als allumfassende synthetische Kraft dem Rationalen entgegengesetzt. Sie soll sinnlich einlösen, „was transzendentalphilosophisch als ästhetisches Ideal formuliert ist: das unerreichbare Absolute“ (Beil 2003: 938). Wenn etwa Johann Gottfried Herder die Einbildungskraft als ein „Meer innerer Sinnlichkeit“ beschreibt, in dem das „gesamte Universum der Bilder, Worte, Töne, Gefühle zusammenfleußt“ (Suphan/Herder 1967: 189 f.), dann verwendet er einerseits die aufklärerische Metapher vom bedrohlichen Überfluten des Geistes durch die Phantasie, um dann andererseits das Imaginäre als lebensspendende und integrative Kraft dem ‚Trockenlegen der Sümpfe‘ durch die instrumentelle Vernunft entgegen zu setzen14. Solche Oppositionen von Wildheit und Kultivierung, von rationaler ‚Zerteilung‘ und romantischer ‚Ganzheitlichkeit‘, von Rationalität als ‚hartem Faktum‘ und Imagination als ‚bloßer Erfindung‘ sind auch in der Wissenschaft bis heute wirksam, obwohl Imaginationstheorien diese Unterteilungen lange aufgegeben haben. Der dritte Eckpunkt besteht in der Einsicht der Geschichtswissenschaft, dass das imaginaire einer Gesellschaft einbezogen werden muss, will man neben der Ereignisgeschichte einen Zusammenhang der longe durée herstellen und auch die Geschichtsschreibung als eine Form des Imaginierens —————

12 „Jene Meisterin des Irrtums, […] die Feindin der Vernunft“, übers. von Karl Adolf Blech: Blaise Pascal: Gedanken über die Religion. Berlin 1840, 134. 13 Vor allem zum Erhabenen, das nicht mehr in äußerer Einwirkung gesehen wird, sondern als Konfrontation des Menschen mit seiner eigenen begrenzten Wahrnehmungsfähigkeit: Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Kritik der Urteilskraft, zitiert nach Kant 1913, [Kap. 32, §23.2.], 244–246; im Folgenden KdU. 14 Zur aufklärerisch-politischen Bedeutung der Trockenlegung von Landschaft für Deutschland: Blackbourn 2007; zur metaphorischen Dimension, vor allem in Hinsicht auf die Identifikation des Flüssigen mit dem Weiblichen: Roeben 2007.

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begreifen15. Zugleich aber können wir auf Imagination nicht direkt zugreifen. Dietmar Kamper (1981) hat gezeigt, dass es ‚das Imaginäre‘ nicht gibt, es vielmehr nur über die vielschichtige und disparate Geschichte seiner Auffassungen rekonstruierbar ist, will man sowohl seiner Rationalisierung als auch der regressiven Sehnsucht nach dem Imaginären entgehen (ebd. 8 f.). Auch Wolfgang Iser zeichnet nach, durch welche „Fundierungsregresse“ (Iser 1991: 293 f., 315 f.) die Phantasie in Hierarchien der Seelenkräfte eingeordnet wurde und versteht diese Geschichte als Versuch, das letztlich Uneinholbare der menschlichen Produktivität verstehbar, kontrollierbar und dienstbar zu machen (Iser 1991: 310). Aus seiner Analyse resultiert, was heute auch kognitionswissenschaftlich vertreten wird: Das Imaginäre ist nicht das ‚Andere‘ der Vernunft, sondern ist als Element jeder Wahrnehmung aktiv. „Inaktuelle Wahrnehmungen“ laufen im jeweiligen Wahrnehmungsakt immer mit, denn ohne sie könnte der Mensch nicht über Vergangenes, Zukünftiges oder räumlich Entferntes sprechen. Der Unterschied zwischen alltäglicher Wahrnehmung und dem Imaginären muss daher als ein gradueller angesehen werden, und Imagination manifestiert sich für die Analyse immer nur als ihr Produkt. Dies gilt, so ist hinzuzufügen, auch für neurowissenschaftliche Methoden, Imagination zu erforschen, denn was wir haben sind nicht Vorstellungen oder das Vorstellen selbst, sondern auch hier: nur zu interpretierende Daten und Bilder. Ein weiteres Konzept sei benannt, das darauf zielt, die geschichtliche und die individuelle Dimension des Imaginären zu verbinden. Besonders Lothar Bornscheuer hat beigetragen zu einer wissenssoziologischen Neuformulierung der rhetorischen Topik (Bornscheuer 1976), indem er den Begriff von der literaturwissenschaftlichen Tradition gelöst und zu einem gesellschafts-dynamischen Modell erweitert hat. Man kann die Topik unterscheiden in die Funktion des „Speichers“ (einen Vorrat an Imaginationen, der von Gemeinschaft geteilt wird), und die Funktion des „Rasters“ (Weisen der Verknüpfung von Imaginationen die argumentative wie affektive Wirkungen zu erzielen). Darüber hinaus zeigt Bornscheuer auf, wie sowohl der kulturelle Vorrat als auch die Weisen der Verknüpfung in zwei Richtungen wirken können: konservativ-tradierend oder als dynamische Innovation (ebd. 95). Wissenssoziologisch weitergeführt wurde dieses Modell vor allem von Hubert Knoblauch (2000). Hilfreich für die Analyse imaginativer Dynamiken ist das wissenssoziologische Modell von Internalisierung, Objektivierung‘ und Externalisierung, dass also Menschen in eine vorgefundene gesellschaftliche Topik hineingeboren werden, sie verinnerlichen und (potentiell kreativ) verändern können. Imagination ist dabei die Schnittstel————— 15

Siehe Einleitung zu dieser Sektion und den Beitrag von Jens Kugele.

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le, an der das Individuum aus dem Repertoire einer Gesellschaft wählt, und selbst beitragen kann zum Wandel dieses Repertoires. Als vierter Aspekt seien Theorien angesprochen, die Übergänge zu schaffen suchen zwischen natur- und kulturwissenschaftlichen Modellen, konzentriert auf psychische und kognitive Prozesse und auf den Versuch, die Prozessualität von Imagination unter dem Stichwort embodiment neu zu denken. Dieser Wendepunkt hängt zusammen mit der Auffassung von Wahrnehmung, die sich vom passiven „Spiegel“ der Realität hin zur „Lampe“, oder eher: dem aktiven Suchscheinwerfer auf die Realität gewandelt hat (Rorty 2009(1979)). Dieser Wandel betrifft die einflussreiche epistemologische Tradition der Urbild/Abbild-Vorstellungen als Zugang zur Wahrheit, und wie bei Iser gilt Imagination nun als Bestandteil jeder interpretativen Konstruktion von Sinn: Even in the absence of external stimulus, the brain can run imaginative simulations. [...] But the imaginative processes we detect in these seemingly exceptional cases are in fact always at work in even the simplest construction of meaning (Fauconnier/Turner 2003: 6).

Ausgehend von der conceptual metaphor-Theorie von Lakoff und Johnson, fassen diese Autoren Imagination unter den allgemeineren Prozess der Repräsentation und der Übertragung, die als komplexe Verarbeitung grundlegender Körpererfahrungen angesehen werden. Die angebotenen Konzepte sind: Wie produzieren wir ‚Identität‘? – Mapping: Wir haben ein Konzept von einem Schwan und erkennen ein Bild von einem Schwan wieder. Wie erkennen und übertragen wir Ähnlichkeit? – Blending: Der Schwan ist Gott Zeus. Wie werden diese zu komplexen Konzepten verschränkt und weitergegeben? – Durch compression, i. e. die größeren Einheiten, in denen das Spektrum von Wahrnehmungsvarianz (schwarzer, junger Schwan) und kulturellen Bedeutungen von Schwan verdichtet sind. Decompression setzt voraus, dass diese Einheiten als bekannt geteilt werden, oder aber Verständigung über Teile davon oder ihre Verknüpfungen stattfinden muss. So radikal diese Theorien embodiment in ihren Mittelpunkt stellen, so erstaunlich ist es, wie die cognitive studies den Körper auf die ‚Schaltstelle‘ Gehirn konzentrieren und weiter den Schwerpunkt auf Sprache und Sehsinn legen. In Ergänzung zu der v. a. von Schüler, Wilke und Koch (in diesem Band) verwendeten Literatur sei angeführt, dass auch Nigel Thomas darauf hingewiesen hat, Imaginationstheorien müssten nicht nur für Sprache und Sehsinn, sondern für alle Sinne gültig sein (Thomas 1999: 209, 219). Obwohl der Sehsinn eine besondere Stellung einnimmt, sind alle Sinne daran beteiligt, Repräsentationen herzustellen und zu Sinn zu verbinden. Die therapeutische Phantasiereise, die schamanische out-of-body-experience,

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die Entspannungstechnik zeigen an, dass der Körper nicht auf die Rolle der passiven Verarbeitung beschränkt ist. Thomas zeigt, dass nicht Bilder abgespeichert werden, sondern Schemata und Prozeduren, die das permanente Abgleichen der Umweltparameter durch die Sinnessysteme organisieren und gleichzeitig – und das ist entscheidend – im Prozess selbst darauf reagieren (Thomas 1999: 218). So wird deutlich, dass Imagination als Prozess deutlich mehr Elemente verbindet als das Abrufen von ‚gespeicherten Bildern‘, und dass Repräsentationen aller Sinne als Schemata der Wahrnehmung mitlaufen. Imagination folgt dann ihrer Selbstorganisation und repräsentiert nicht nur Abwesendes, sondern organisiert in FeedbackRegelkreisen Informationen der Umwelt (z. B. selektive Wahrnehmung) und überlagert, gegebenenfalls in verschiedenen Graden, die Außeninformationen der Sinne (Subjektivität bis Realitätsverlust, ebd. 218). Dieser prozessuale Zugang, den Hubert Mohr für Religion bereits ausgewertet hat (Mohr 2012), erlaubt, die aktuale Sinnesverarbeitung und die imaginativen Schemata in unterschiedlichen Verhältnissen zu beschreiben, was anregend ist für die Erklärung z. B. von Visionen oder Auditionen, aber auch von Eigendynamiken, wie sie in körperorientierten Therapien ablaufen, wenn durch ‚Aufstellungen‘ des Körpers Erinnerungen und Emotionen bearbeitbar werden. Ähnlich prozessual denkt Margret Wilson, wenn sie fordert, eine Theorie der Verkörperung müsse auch erklären können, wie im Gegensatz zur umweltabhängigen situated cognition eine „embodied cognition can go ‚off-line‘ – decouple from situation-bound reactivity and use bodybased resources for other purposes“ (Wilson 2008: 380). Wilsons Ansatz ist, die Rückwirkung der externalisierten Produkte der Imagination – z. B. Mathematik, Architektur, Zeitmessung – auf die Kognitionsentwicklung zu untersuchen und so zu einer dynamischen Kulturtheorie des re-tooling zu kommen (Wilson 2010), quasi einer evolutionstheoretischen Verfeinerung der wissenssoziologischen Dynamik zwischen Externalisierung, Objektivierung‘ und Internalisierung von Kulturprodukten. Nach diesen Überlegungen kann man diskutieren, wie sinnvoll es ist, den Begriff der Imagination beizubehalten, da er in neueren Theorien von anderen Konzepten eingeholt wird. Aber auch in diesen Theorien bleibt er Bezugspunkt der Grundfragen, die den Begriff bestimmen: 1. Wie kann die menschliche Fähigkeit des Imaginierens erfasst werden, auch ohne aktuale Sinnesreize, willentlich und unwillentlich, sinnliche Repräsentationen zu erzeugen und neu zusammenzufügen? 2. Wie werden die Resultate dieser Fähigkeit – Imaginationen – kulturell gespeichert und über lange Zeitdauer weitergegeben? Wie ist dabei das Verhältnis von Wandel und Kontinuität erklärbar?

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3. Wie interagieren diese beiden Ebenen des Individuellen und des Kulturell-Historischen, und in welchen ‚Einheiten‘ kann man diese Prozesse jeweils beschreiben? Für eine interdisziplinär-kooperative Analyse in Hinblick auf Religion ist es hilfreich, Imagination als dynamisierendes Konzept beizubehalten, das verschiedene Elemente verbindet: 1. Das Imaginäre als Speicher (Repertoire) und als Prozess (Imaginieren als Akt des Repräsentierens und Verknüpfens); 2. Die Aktualisierung durch das Individuum und die Institutionalisierung und Organisation durch die Gesellschaft; 3. Die einerseits innovativ-kreative und andererseits konservativmanifestierende Qualität des Imaginierens; die intentional eingesetzte und die ‚automatisiert‘ ablaufende Qualität; 4. Den Zusammenhang von Sinneswahrnehmung und Bedeutungskonstitution; 5. Imagination als unbemerktes Element alltäglicher Wahrnehmung und als Element außergewöhnlicher Erfahrungen und der sinnlichen Produktion von ‚Transzendenz‘; 6. Verschiedene Modi des Imaginierens (vgl. Koch in diesem Band), die sich in den sozialen Subsystemen Religion, Kunst und Wissenschaft verfestigt haben, samt ihrer kultivierenden (Ausbildung und Techniken der Sinne) und reflexiv-normierenden Institutionen (z. B. Kunstkritik oder Theologie). Imagination als derart verbindenden Angelpunkt und als Grundlage der Prozessualität zwischen Kontinuität und Wandel zu verstehen, erlaubt es, die Bilder vom „romantischen Universum“ als eine ästhetische Konfiguration zu betrachten, die historisch entstanden ist und in unterschiedlichen Medien wiederkehrt, variiert wird und weiter wirkt. Ästhetische Konfiguration meint hier, dass die jeweilige Verknüpfung einer wahrnehmbaren Form mit Emotionen, Haltungen und Argumenten in den Blick genommen wird und folgt damit einem ähnlichen Impuls, wie ihn die meisten vorliegenden Beiträge anvisieren, aber auch David Morgan mit der Verankerung des Sehens in einem Netzwerk von Beziehungen (Morgan 2012) oder Birgit Meyer, die anhand von aesthetic formations und sensational forms (Meyer 2008) das Zusammenspiel der Sinne bei der Herstellung von Erfahrungen in Religion erfasst. Der Gedanke ist, dass solche ästhetischen Konfigurationen

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in der spezifischen Verbindung von Wahrnehmung, Gefühl, Einstellung und Argumentationsmuster über lange Zeitdauer weitergegeben werden und eine starke Plausibilität auf den sich gegenseitig verstärkenden, unterschiedlichen Ebenen herstellen – man denke im Extrem an antisemitische Stereotypen, die mit körperlichem Ekel verbunden sind („Parasitentum“) und so die Notwendigkeit des Vernichtens plausibilisieren (Bovenschen 2000). Solche persuasiven Gesamtfigurationen sind prinzipiell verschiebbar und rekonfigurierbar, sowohl individuell (etwa in therapeutischer Wahrnehmungsveränderung) als auch historisch (etwa wenn ein Stereotyp zum positiven Marker wird: „Black is beautiful“), sodass sie auf Wandel reagieren und ihre Funktionen („wie werden sie rhetorisch wirksam“?) ändern können. Solch eine Konfiguration zu identifizieren, ihre historische Verankerung und ihre Verdichtung und Wiederkehr in Politiken der Wissenskommunikation zu beschreiben, wird anhand der astronomischen Fotografien und dem Imaginieren an den Grenzen von Wahrnehmung und Wissen versucht. 2. Der Blick in den Himmel zwischen Wissenschaft, Kunst und Religion 2.1. Space-scapes als Elemente einer mehrfachen Geschichte Der Blick in den Himmel gehört ebenso zur perzeptiven Grundausstattung des Imaginierens wie der Blick auf die Landschaft. Beide Topographien des Imaginären betreffen nie nur den Blick, sondern immer auch die Orientierung im Raum, die Bewegung von hier nach dort, die (Selbst-)Positionierung zwischen nah und fern, Zentrum und Peripherie, oben und unten. Solche Muster werden verwendet, um soziale Hierarchien zu beschreiben (hochstehende Person), Werturteile zu fällen (niedere Triebe), oder die Welt im Universum zu verorten. So hat der „bestirnte Himmel über mir“16 eine lange Geschichte als Projektionsfläche, als Ort für die verstorbenen Seelen und Götter, als Ziel von Himmelsreisen in Religion, Science Fiction und Raumfahrttechnologie. Als Analogien zum Mikrokosmos des Menschen ist der Kosmos nicht nur Bühne des ‚ganz Anderen‘, sondern Spiegel des Irdischen: im himmlischen Jerusalem, in der Astrologie oder als das „moralisches Gesetz in mir“, mit dem das moderne Individuum dem bestirnten Himmel entgegentritt. —————

16 I. Kant: KpV, Beschluß [Kap. 34], 161. I. Kant verknüpft im Schlußwort zur Kritik der praktischen Vernunft die „äußere Sinneswelt“ und das „unsichtbare Selbst“ anhand von der Spannung zwischen „dem bestirnten Himmel über mir“ und „dem moralischen Gesetz in mir“.

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Landschaften dagegen haben in Utopien und Paradieswelten, aber auch in der Kunst und durch geographische Karten unsere Raumerfahrung strukturiert und so ihr deutendes Potenzial erhalten17. Für die Romantik ist die Landschaft ein zentraler Bedeutungsträger und ästhetisches Prinzip, zu dem ein langer Vorlauf geführt hat: die Erfindung der Perspektive als Darstellung von Raum in der Renaissance, das Individuum, das sich als Subjekt der Natur gegenüberstellt und sie ‚anschaut‘, sei es in Kunst oder Wissenschaft. Aber auch der solvente bürgerliche Auftraggeber niederländischer Landschaftsmalerei, der nicht mehr Götter und Heilige, sondern die ihn umgebende Welt in seinem Wohnraum haben will, gehört zu den Elementen, die Landschaft zu einer eigenen Ausdrucksform machen. Kulturgeschichtliche Ausstellungen zu Himmelsbildern versuchen, diesen vielfältigen Bezügen zwischen künstlerischer, philosophischer, wissenschaftlicher und religiöser Imagination gerecht zu werden18, wissenschaftshistorische Entwürfe beginnen, Kulturgeschichte und Ästhetiken einzubeziehen19, doch eine entangled history, die Religion dabei nicht auf Theologie beschränkt, steht noch aus20. Die Ideallandschaft der amerikanischen Romantik, erklärt Kessler, war Teil jenes Prozesses, durch den sich die europäischen Einwanderer den fremden Raum aneigneten, sowohl im Sinne des Verstehbarmachens als auch im Sinne der Eroberung. So wie die romantischen Maler die Besiedlung des amerikanischen Westens begleitet, dokumentiert und verherrlicht hätten, gingen auch die Designer der astronomischen Bilder vor: „The resulting images of nebulae, galaxies, and star fields recall a well-established aesthetic tradition and in the process they make these distant spacescapes familiar“ (Kessler 2008: 151). Es ist gut erforscht, welche Bedeutung die romantische Landschaftsmalerei für die Kolonialisierung und Identitätsbildung der neuen imagined community der USA bereitstellte und wie eng sie mit der Religionsgeschichte der USA zusammenhängt (Mitchell 2002; Brunotte 2000; Albanese 1991). Als einheitsstiftendes Symbol der civil ————— 17

Dazu Cosgrove 2008; zur ästhetischen Theorie von Landschaft Ritter 1974. Ein schönes Beispiel ist eine Ausstellung des Tübinger Universitätsmuseums: Himmel. Wunschbild und Selbstverständnis, MUT: Tübingen (Seidel 2011). 19 Die meisten Geschichten der Astronomie zeigen eindrucksvolle Bilder, Karten, Globen etc., belassen es aber bei der Darstellung. Ein Gegenbeispiel ist die die Aufarbeitung visueller jesuitischer Polemik gegen das Kopernikanische System bei Remmert 2005. Einzelstudien zeigen, wie durch ästhetische Analyse der Zusammenhang von Materialität und Imagination gezeigt werden kann, etwa für die Interaktion von Maltechnik, Geschichte der Optik und Gottesvorstellung (Ganz 2011). 20 Für die Religions- und Wissenschaftsgeschichte der Astrologie grundlegend: von Stuckrad 2007; als exemplarische Skizze von „Geschichtsstunden im All“ zwischen Antike und Science Fiction: Gladigow 2013. 18

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religion ist die Verklärung von Natur anschlussfähig an traditionelle Gottesvorstellungen wie an das politische Ideal des melting pot der Religionen. Von der Hudson-River-School über die Fotografien von Ansel Adams und der environmental art zu den Hubble Space Bildern lässt sich diese Tradition erkennen. Die Naturromantik spielt als nature religion oder spirituality auch in Protest- und Umweltbewegungen ihre Rolle. Die romantischen „Bibeln“ dazu stammen von Henry David Thoreau und Ralph Waldo Emerson, und ihr Verkündiger ist ein neuer Typus Wissenschaftler, der American Scholar21. Nicht zuletzt habe die Stilisierung zur unberührten wilderness die Funktion gehabt, vergessen zu machen, dass in dieser Natur durchaus Kultur vorhanden war und die heroische Eroberung des Landes auch die Eroberung menschlicher Gesellschaften und Kulturen einschloss. Ulrike Brunotte zeigt in Feinarbeit, wie Eroberungs-, Religions- und Imaginationsgeschichte dabei ineinanderlaufen und die „Entdeckung des unendlichen Raumes“ (Brunotte 2000: 191–197) als „Gotteserfahrung“ sich zu einem globalen Bild Amerikas als einem „erhabenen Raum“ verdichtet. Hier wurden Muster moderner Religion geprägt, die nicht als Religionssystem, sondern als ästhetische Form weitergegeben werden, mit Wurzeln in Europa um 1800 und einer globalen longue durée bis in die 1960er Jahre und bis heute. Die Bilder vom schönen Universum und der romantischen Landschaft im All liegen also auf einer Schnittstelle von Imaginationsrepertoires mit jeweils langen Geschichten: wissenschaftliche Bilder, religiöse Bilder, Landschaftsmalerei als Reflex von Natur und Identität. Neue Darstellungsweisen wie die Zentralperspektive, Technologien wie das Teleskop, religiöse Konzepte von sinnhafter Ordnung und wissenschaftliche Standards des Faktischen beeinflussen einander in weit komplexerer Weise als es eine ‚Ablösungsgeschichte‘ von Religion durch Wissenschaft erfassen kann. Ausdifferenzierung geschieht hier als permanenter Austausch und Abgleich, als Inspiration und Abstoßung zwischen den unterschiedlichen Imaginationsrepertoires. Die romantische Konfiguration spielt in diesem Prozess eine signifikante Rolle, und es ist daher von Interesse, wie sie auf ästhetischer wie argumentativer Ebene verankert ist. 2.2. Romantik als ästhetisches Prinzip: Figurationen des Formlosen und die Ästhetisierung von Erfahrung Im Zuge der Debatte um multiple modernities wird zunehmend deutlich, dass die Romantik für das Verständnis der westlichen Moderne ebenso signifikant ist wie die Aufklärung und dass einfache Gegenüberstellungen ————— 21

Emerson 1971(1837).

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den Kontinuitäten und Dialektiken nicht gerecht werden. Zu fragen, wie ein nicht-essentialistisch gemeintes ‚romantisches Prinzip‘ formuliert werden kann, das es erlaubt, eine longue durée zu beobachten von einer kulturellen Bewegung um 1800 in Mitteleuropa, über die Landschaftsmalerei in den USA um 1860 zu einem Stil wissenschaftlicher Digitalfotos im 21. Jahrhundert, wird als Beitrag zu dieser Debatte verstanden. Sieht man die Romantik allein als eskapistische und auf bürgerliche Innerlichkeit gerichtete Bewegung, so würde man ihren Doppelcharakter verkennen. Nicht nur spielen Romantiker eine große Rolle in Bildungs- und Nationalpolitik des 19. Jahrhunderts, auch sind die Protagonisten der Frühromantik aktive Forscher, waren beteiligt an der entstehenden ‚Erfahrungsseelenkunde‘22, und prägten nachhaltig Medizin, Philologien, Geisteswissenschaften und Religionsforschung. Nicht von ungefähr entsteht die romantische Ästhetik zur selben Zeit, als die Erforschung des Sinnes- und Nervenapparates immense Fortschritte macht. Sie versteht sich daher nicht als Rückzug, sondern als ‚Kritik der Kritik‘ der Aufklärung und sucht Experiment und Forschung nicht abzulehnen, sondern zu wandeln, auf der Ebene von Argumenten und der Ebene ästhetischer Form. Für die Frage nach der Erschließung des romantischen Prinzips stellt die Kunsthistorikerin fest23: Man könnte meinen, die Hubble-Designer hätten sich die Aussage Ernst H. Gombrichs zur späten romantischen Landschaftsmalerei zum Leitspruch gemacht: Die Modemaler […] bedienten sich einer Reihe von Kunstkniffen, mit deren Hilfe jeder Dilettant ein gefälliges Landschaftsbild komponieren konnte. Sie stellten in den Vordergrund einen malerischen Baum mit breiter Krone, dessen dunkle Silhouette einen wirkungsvollen Kontrast zu dem Fernblick abgab, der sich in der Mitte auftat. Auch die Farbenskala war von vorneherein festgelegt. Für den Vordergrund sollte man vor allem warme Farben, das heißt braune und goldene Töne verwenden, während der Hintergrund in der kühlen, blauen Ferne verschwamm24.

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22 Die Erforschung von Wahrnehmung und Einbildungskraft sind zentrale Gegenstände romantischer Debatten. Vgl. Steigerwald/Watzke 2003. 23 Für den folgenden kursiv gesetzten Abschnitt, die Bildanalyse und die sachkundige Auswahl von Zitaten danke ich Kathrin Baumstark. Sie war gebeten, ‚klassische‘ Interpretationen der Kunstgeschichte zu ergänzen. 24 Gombrich 1977: 396.

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Auf den meisten der HSTB wurde ein Ausschnitt gewählt, in welchem ein Repoussoir25 im Bildvordergrund durch seine übergroße Darstellung und dunkle Farbigkeit im Verhältnis zum Rest der dargestellten Objekte eine Verstärkung des Tiefeneindruckes bzw. Tiefenraumes bewirkt. Das Repoussoir und Teile des Bildvordergrundes werden in warmen Erdtönen gehalten, während der Bildhintergrund durch blau-violett Töne hervorsticht, die in der Sfumato-Technik26 ‚verrauchen‘. Wichtige Bildelemente wie etwa Sterne werden auf dem senkrechten oder waagerechten goldenen Schnitt platziert und fungieren als ‚Sonne‘ in der Komposition. Das Hauptaugenmerk des Betrachters wird auf ein helles, blau-grünes oder blassrosa Licht, welches auf der Bilddiagonale im Bildhintergrund erscheint, gelenkt. Dieses Licht ist es auch, das sofort eine Assoziation mit der Landschaftsmalerei der Romantik hervorruft. Das ‚Sakrale Licht‘ wurde zum Instrumentarium der romantischen Malerei (siehe Abb. 2).

Abb. 2: Bildvergleich: Albert Bierstadt, Sunrise in Yosimite Valley (1870, © 2012 Amon Carter Museum of American Art, mit freundlicher Genehmigung; Messier 17 („Swan or Omega Nebula“), Anniversary Image des des ESA/NASA HST 2003 (http://www.spacetelescope.org/ images/heic0305a/, eingesehen 25.8.2013, no copyright restrictions) (siehe auch Farbtafel 10 im Anhang).

Interessant sind hier zwei Aspekte: Erstens wird deutlich, inwiefern die HSTB nicht nur Landschaft figurieren, sondern einem spezifischen Stil nachgebildet sind. Zweitens wird der schematische Aspekt romantischer Ästhetik dargestellt (hier polemisch ‚Kunstkniffe‘), der mit der ästhetischen Wirkung von branding und Werbung zu tun hat. Die Nähe romantischer Kunst zu Pathos, Popkultur und Warenästhetik (Campbell 2005) ist vielfach —————

25 Repoussoir (frz.: repousser – zurücktreiben): ein im Bildvordergrund dargestelltes dunkles Objekt, das sich vom Bildhintergrund abhebt. 26 Sfumato (ital.: „in Rauch gehüllt“) ist eine von Leonardo da Vinci entwickelte Maltechnik bei der der Hintergrund neblig unscharf wirkt, entsprechend dem menschlichen Sehen. Die Maler der Romantik übernahmen diese Methode.

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besprochen und belegt, und man kann sagen, dass dies mit dem Wissen um Sinneswahrnehmung zusammenhängt und als Vorlauf heutiger ‚Bildoptimierung‘ und Werbepsychologie gesehen werden kann. Das andere Ende des Spektrums von Romantik lässt sich verdeutlichen an einer Diskussion, die Werner Busch um den berühmten Wanderer im Nebelmeer von Caspar David Friedrich führt. Es geht dabei um die Bedeutung des Erhabenen und darum, inwiefern romantische Kunst als Ausdruck oder Verlust von Religion anzusehen ist. Das Werk Friedrichs unterscheide sich, so Busch, von der effekthaschenden Ästhetik anderer Romantiker, und seine Bilder seien nicht „erhaben“, da der Maler das Erhabene explizit als eine Erhebung über Gott ansehe (Busch 2003: 48). Zwar werde der Bruch zwischen Subjekt und Natur romantisch durch ein ästhetisches Verfahren als Sinnoffenheit thematisiert, doch unterschieden sich die Bilder durch die Naturrichtigkeit und akribische Komposition und seien daher zu sehen als „unverzichtbare Referenz an Gottes Schöpfung“ (ebd.). Das berühmt gewordene Bild sei dagegen „hypertroph“, übertreibe die Mittel und sei vermutlich eine Auftragsarbeit für einen bereits Verstorbenen, denn „dadurch erfährt das Pathos wenigstens die Einschränkung, daß es hienieden nicht möglich ist“ (Busch 2003: 48; 99 f.). Die hier offenbare Ambivalenz des Romantischen – auf der einen Seite Vorläufer von Pop und Warenästhetik, auf der anderen Seite höchste Blüte der Frömmigkeit – war schon in der Zeit ihrer Emergenz angelegt27 und hat sich in Codierungen von Affekten und Diskursen von ‚Kitsch‘ und ‚echtem Gefühl‘ abgespielt. Das Neue an der romantischen Form lag denn auch nicht in der Erfindung neuer Techniken. Die Bildtradition des sakralen Lichtes als Quelle des Göttlichen („Heiligenschein“) war bereits erprobt, und selbst Natur zum alleinigen Bildgegenstand zu erheben und Figuren nur noch als Beiwerk oder gar nicht mehr auftreten zu lassen, war durch die niederländischen Landschaften des 18. Jahrhunderts bekannt. Neu ist dagegen die Ausrichtung der Techniken auf das Wahrnehmen und die Sinnesempfindungen selbst im Gegensatz zur Semantik und Gegenständlichkeit der Bilder, und die Steigerung der Mittel, die die Imagination nicht zur Reflexion über die Empfindung, sondern zur unmittelbaren Affizierung von Empfindungen anregen soll. Sinnstiftung läuft hier nicht über Zuschreibung von Bedeutung, sondern die Bestätigung eines Affektes. Für eine religiöse Bildtradition heißt dies, dass nicht mehr Inhalte, Narrative oder Symbole im Zentrum stehen, sondern die Empfindung beim Akt der Wahrnehmung. —————

27 Vgl. die „pathologische Rührung“, die der Kunstkritiker F. W. Basilius von Ramdohr im berühmten ‚Ramdohr-Streit‘ dem Bild Tetschener Altar von Caspar David Friedrich vorwirft, in: Zeitung für die elegante Welt vom 17.–21. Januar 1809.

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In Poesie, Musik oder bildender Kunst werden zur Erzeugung dieser Affekte ästhetische Formen gefunden, die vermeintlich Formlosigkeit und Transformation erlebbar machen. So wie in romantischer Poesie und Prosa „anti-rhetorische“28 Verfahren der Paradoxie, Ironie und Metaphorik zum Einsatz kommen, um Eindeutigkeit zu unterlaufen und Effekte des Prozessualen zu erzielen, bietet auch das visuelle Schema romantischer Landschaften Figurationen des Auflösens und der Übergänge, die eine ‚unmittelbare‘ Erfahrung der Vereinigung von Gesehenem und Empfundenem evoziert. Diese soll als individuell erlebt werden und so eine deutungsoffene Alternative bieten, sowohl zur aufklärerisch diskreditierten Theologie als auch zur romantisch diskreditierten rationalistischen Philosophie. Im Gegensatz zum Effekt der Deutungsoffenheit kann man aber sehen, dass weder die Inhalte noch die Formen der Erfahrungen offen bleiben, und dass sowohl die ästhetische Form als auch die Qualität der Erfahrung weniger ‚individuell‘ sind als vom Individuum erlebt. Hier setzen die Argumentationsstrategien romantischer Reflexion ein, und als pars pro toto sei jener Text ins Zentrum gestellt, der am stärksten und nachhaltigsten den romantischen Neuentwurf von Religion zuspitzt und die Kernelemente auch anderer Autoren widerspiegelt: Friedrich D. E. Schleiermachers Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern von 179929. In der Diskussion um das Erhabene hatte Kant die Wirkungen der Imagination nicht mehr, wie noch Edmund Burke, der Objektwelt zugeschrieben, sondern sie im Subjekt selbst verortet. Übersinnlichkeit wird so als Empfindung erklärbar, die durch die Erfahrung der begrenzten Erkenntniskräfte hervorgerufen werde. In Bezug auf das unendlich-Große und unendlich-Kleine, das durch die Erfahrung mit dem Teleskop und dem Mikroskop (sic!) vermittelt ist, schreibt Kant, dass die Unangemessenheit unseres Vermögens der Größenschätzung der Dinge der Sinnenwelt [zusammenhängt mit der] Erweckung des Gefühls eines übersinnlichen Vermögens in uns. [...] Mithin ist die Geistesstimmung, durch eine gewisse die reflektierende Urteilskraft beschäftigende Vorstellung, nicht aber das Objekt, erhaben zu nennen (Kant, KdU, [Kap. 34. A, §25], 250).

Genau diese anthropologische Wende nimmt Schleiermacher auf, wenn er Religion absetzt von Metaphysik und Moral, dem Beweisdruck philosophi—————

28 Unter Anti-Rhetorik sind solche Strategien zu verstehen, die – durchaus mit rhetorischer Eloquenz – den Eindruck der Ungeplantheit, rednerischen Unfähigkeit, Unaussprechlichkeit erwecken und so die rhetorische Kunstfertigkeit und Regelhaftigkeit durch eine „Herzensrhetorik“ oder die Authentizität des Gefühlsausdrucks zu unterlaufen suchen. 29 Schleiermacher, Reden 1958(1799), (im Folgenden ‚Reden‘). Zur eminenten Wirkung Korsch 2011.

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schen Wissens und der Verpflichtung moralischen Handelns entzieht und re-definiert als „Anschauung und Gefühl“ und „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ (29 f). Weniger sentimentalisch als man denken könnte fungiert das Gefühl in dieser religionsphilosophisch scharfen Argumentation als subjektive Komponente des Erkennens, die in Anschlag gebracht wird gegen den aufklärerischen Rationalismus. Auch der Begriff des Unendlichen wird, im Gegensatz zu wissenschaftlichen Konzepten von Unendlichkeit, etwa in Geometrie und Mathematik (Maor 1991), als metaphorischer Grenzbegriff aufgebaut, der es erlaubt, dem ‚Endlichen‘ als sinnlich erfahrbarer Vielfalt eine Totalität gegenüberzusetzen. Grundzug von Schleiermachers romantischen Konzepts ist die Annahme eines aktiv sich offenbarenden Universums (32) und eines passiv-affizierten Subjekts, das an dieser Offenbarung teilhat, sofern es die richtige (symbolische) Sprache oder Anschauung findet. Diese Annahme erlaubt, dass in Bezug auf die Anschauungen eine radikale Individualität in Sachen Religion vertreten wird: [...] welche von diesen Anschauungen des Universums ein Mensch sich zueignet, das hängt ab von seinem Sinn fürs Universum […], ob er zu seiner Anschauung einen Gott hat, das hängt ab von der Richtung seiner Phantasie (Schleiermacher 1958: 71).

Zugleich aber wird diese Individualität gebunden an das universale Gefühl, das die Anschauung begleitet und zum Argument wird für die Präfiguration einer religiösen Erfahrung sui generis: Dieses Gefühl, das Ihr freilich oft kaum gewahr werdet, kann in andern Fällen zu einer solchen Heftigkeit heranwachsen, daß Ihr des Gegenstandes und Eurer selbst darüber vergeßt, Euer ganzes Nervensystem kann so davon durchdrungen werden, daß die Sensation lange allein herrscht und lange noch nachklingt, und der Wirkung anderer Eindrücke widersteht; aber daß ein Handeln in Euch hervorgebracht, die Selbsttätigkeit eures Geistes in Bewegung gesetzt wird, das werdet Ihr doch nicht den Einflüssen äußerer Gegenstände zuschreiben? Ihr werdet doch gestehen, daß das weit außer der Macht auch der stärksten Gefühle liege, und eine ganz andere Quelle haben müsse in Euch (ebd. 37 f.).

Diese Beschreibung lässt sich erstaunlich parallel lesen mit religionsästhetischen Analysen, wie imaginative Skriptes die aktuelle Wahrnehmung von Außenreizen überlagern können (vgl. oben die Theorie von Thomas) und durch Wiederholung und Kultivierung der Sinne zu einem religiösen Wahrnehmen von der Welt führen können. Doch Schleiermacher wendet seine Beschreibung zur performativen Evokation des religiösen Gefühl in der überraschenden Passage der ‚Heiligen Umarmung‘. Er wechselt dafür in das Register von Poesie und christlicher Vereinigungsmystik, die in der Metapherntradition der unio mystica die Identität von Anschauung und

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Gefühl, von Individuum und Totalität in die Körpermetapher geschlechtlicher Vereinigung überführt: Ich liege am Busen der unendlichen Welt: ich bin in diesem Augenblick ihre Seele, denn ich fühle alle ihre Kräfte und ihr unendliches Leben, wie mein eigenes, sie ist in diesem Augenblicke mein Leib, denn ich durchdringe ihre Muskeln und ihre Glieder wie meine eigenen, und ihre innersten Nerven bewegen sich nach meinem Sinn und meiner Ahndung wie die meinigen. […] Dieser Moment ist die höchste Blüte der Religion (ebd. 41 f.).

Abb. 3: Eine kaum zu überblickende Flut an populärer Weiterverarbeitung und Variation der HSTBildästhetik ist vor allem im Bereich populärer Wissenschaften und universalisierender Semiosen zu finden. Das Pferdemotiv und andere Variationen dekorativer Figurationen unter „Hubble Heritage Art“: http://heritage.stsci.edu/commonpages/art/visuals/index.html, no copyright restrictions; Plakat zur „Transmission“-Veranstaltung Buddhismus des Europe Center of Diamond Way Buddhist project; http://europe-center.org/blog/2010/10/21/7th-transmission-weekend-buddhismscience/, eingesehen 25.08.2013. Cover Illustrationen des Hands-on Guide for Science Communicators, hg. von Lars Lindbergh Christensen, Springer Science: München, 2007, Titel: „Bringing the Universe to the Attention of Others and opening their Eyes“, bearbeitet durch Martin Kornmesser. Vortragsplakat zur Eröffnung einer Bibliothek zum Thema Religion und Wissenschaft an der Universität Bochum; Foto © Volker Scheub (siehe auch Farbtafel 11 im Anhang).

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Mit dieser Rhetorik präfiguriert Schleiermacher nicht nur ein universelles Gefühl und setzt es an die Stelle eines universellen Dogmas, sondern er evoziert es auch durch den Wechsel in die poetische Sprache. Eine Ästhetik der Überwältigung und die Suspendierung von Reflexion ist damit sowohl argumentativ als performativ entworfen und eine Emotion präfiguriert, die vor allem darin besteht, Aspekte von Normalität, Komplexität und Negativität auszuschließen und die Identifikation mit diesem Zustand als ästhetische Erfahrung zu identifizieren. Schauen wir noch einmal auf die digitalen Bilder und beschreiben die Elemente des romantisierenden Effekts quer zu kunstgeschichtlichen Formulierungen, so fallen Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf. Wie in religiösen Ästhetiken allgemein, wirken die verschiedenen Elemente gemeinsam auf einen Effekt hin und stützen einander im Sinne einer Systemverstärkung. Die Farbigkeit ist von hoher Intensität und erzeugt durch ihre Anordnung eine starke Tiefenwirkung. Beim Sehen verbinden sich physiologische Effekte – blau tritt in der Wahrnehmung zurück, rot tritt hervor – mit kognitiven Effekten – blau als Farbwahrnehmung von Himmel und Wasser – und kultur-symbolischen Effekten – blau als Farbe der Himmelskönigin, der Transzendenz. Die Wirkung dieser Verknüpfung ist keine Frage des Glaubens oder Wissens um religiöse Ikonographien, sondern verdankt sich eingeübten Seh- und Interpretationsgewohnheiten. Höllenschlünde sind in Europa nicht blau, sondern schwefelgelb oder grün um ein rötliches Feuer. Bei der digitalen Bearbeitung werden ganze Dateneinheiten (Wellenlängen) schematisch in derselben Farbe eingefärbt. Es findet kein Auftragen mehr statt, die Materialität und das Relief, die Lichteffekte des individuellen Entstehungsprozesses fehlen. Der Effekt ist eine glatte entindividualisierte Oberfläche, die den Herstellungsprozess nicht zeigt (siehe Abb. 3, die kreative Weiterverarbeitung der HST-Bilder mit dem Pferdekopf-Motiv, der mit digitalem Acrylfarbeneffekt bearbeitet wurde). Neben den Farbkontrasten sind die Lichtkontraste extrem gestaltet. Helldunkel-Kontraste verstärken die Tiefenwirkung in der Bildmitte; die ‚Lichtquelle‘ (die bei nicht selbstleuchtenden Objekten gar nicht vorhanden ist) wird meist ‚hinter‘ eine Gaswolke verlegt, sodass der Effekt einer Sonne am Rand einer Gewitterwolke nachgeahmt und farblich übersteigert wird. Von diesen Lichteffekten wird der Blick nach oben gelenkt, sodass Monumentalität als Eindruck entsteht. Die Raumtiefe, die durch Kontraste, Linien, und Farben hergestellt wird, fördert ein identifikatorisches Sehen, das gut bekannt ist von Caspar David Friedrichs Rückenfiguren, die den Blick in die Tiefenmitte des Bildes richten. Die Hubble-Bilder fügen einen weiteren Effekt hinzu. Durch die An-

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ordnung von (vergrößerten und durch Filter strahlende) Sternen im Kontrast mit dem massiven Dunkel im ‚Hintergrund‘ entsteht der Bewegungseindruck, der in Science Fiction-Filmen als Fahrt mit dem Raumschiff durch ‚unendliche Weiten‘ animiert wird. Der WARP-Effekt, vorbeirasende Sterne, die eine Reise mit Überlichtgeschwindigkeit simulieren, legt besonders in 3D ein visuelles und verkörpertes Vorstellungsschema an, sich im Weltraum aufzuhalten und zu bewegen. Das Hineingezogen-Werden ins Bild macht die romantischen Stilmittel zum Vorläufer des Kinos mit seinen Körper-stimulierenden Möglichkeiten und seiner überzeugenden virtuellen Realität, die Sehen in eine Gesamterfahrung überführen. Bei den Nebulae im Weltraum handelt es sich zum Großteil um Gaswolken nach Explosionen, und dies macht sie zu den bevorzugten Objekten romantischer Stilisierung. Der Effekt des Nebligen und der unscharfen Übergänge wird durch Farbwahl, Kontraste und Tiefe herausgehoben, und er charakterisiert als Figuration des ‚sakralen Lichts‘ die Gesamtform. Für die moderne Fotografie ist Unschärfe zu einem ästhetischen Mittel geworden, den Realismus des Dokumentarischen zu unterlaufen (Hüppauf 2011; zu Unbestimmtheit Boehm 2006). Auch die romantischen Maler studierten die Effekte von Nebel und Wolken30 und setzten sie als Zonen des Unbestimmten dem Cartesianische Ideal von Klarheit und Schärfe entgegen. Die Konstruktion dieser Wolkigkeit ist nicht selbst ein intuitiver Gefühlsakt, sondern Ergebnis präziser Gestaltung und Proportion. Bei den HSTB kommt hinzu, dass die unscharfen Übergänge in einer nie dagewesenen Auflösung präsentiert werden. Die ‚brilliante Unschärfe‘ verstärkt den Effekt einer ‚Figuration der Formlosigkeit‘ wie auch in den Bildern der Romantiker erst die Detailtreue im Kontrast zu den unscharfen Übergängen den transzendierenden Effekt ausmachen. Hier sind wir am Kern der romantischen Wirkung, der sich gut mit den Grundlagen des Gestaltsehens erklären lässt (Ben Shahar/Zucker 2006). Imaginierendes Sehen sucht zunächst nach Figuration und Bedeutungsstrukturen, und diese werden genau in dem Maße befriedigt, dass Ordnung und Orientierung noch gegeben sind. Die graduelle Auflösung der eindeutigen Form jedoch (Disfiguration) stimuliert die Imagination, die sich – ohne auf einen ‚Gegenstand‘ fokussieren zu können – auf die Wahrnehmung selbst richtet und das Empfinden, das durch den Effekt des Lichtes, der Tiefe und der Bewegung in den Raum hinein angeregt wird. Dieser Effekt einer imaginativen Bewegung hinein in —————

30 Vgl. Friedrich, Caspar David: „Wenn eine Gegend sich in Nebel hüllt(,) erscheint sie größer, erhabener und erhöht die Einbildungskraft und spannt die Erwartungen; gleich einem verschleierten Mädchen. Auge und Phantasie fühlen sich im Allgemeinen mehr von der duftigen Ferne angezogen als von dem, so nah und klar vor Augen liegt“ (Eberlein 2010(Friedrich 1924): 203).

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einen Raum, der aber kein Ziel bietet, korreliert – wie für Schleiermacher gezeigt – in romantischer Dichtung und Prosa mit dem Ausdruck von ‚Sehnsucht‘ hin auf ein unerfüllbares Ziel und die ‚Vereinigung mit dem Universum‘, die nur deshalb empfunden werden kann, weil wir in diesem Universum den eigenen Sehgewohnheiten begegnen. Die digitalen Bilder unterscheiden sich weiter von den Ölbildern dadurch, dass der Bearbeitungsprozess solange verändert werden kann, bis das optimale Bild erreicht ist. Individualität etwa des ‚Strichs‘, der trainierten Hand, der Tagesform des Künstlers ist aus dem materialen Prozess ausgeschlossen. Bildoptimierung erlaubt es, das Prinzip der amplificatio nochmals zu steigern. Vor allem aber ist ihr Entstehungshintergrund ein anderer: Sie sind technische Bilder, zu deren Gebrauch man einen Entschlüsselungscode lernt und deren Gestaltung mit Argumenten zu tun hat, die in der scientific community gerechtfertigt werden müssen. Die Frage nach dem Zusammenhang von Sinnen, Empfindung und Erkenntnis, die die romantischen Maler theoretisch und praktisch beschäftigt hat, ist bei den HSTB bereits vom Bildbearbeitungsprogramm und vom analytischen Zugriff beantwortet. Die Bilder der Frühromantik waren forschende Bilder, die heutigen sind Bilder für die Forschung, bei denen ‚Ästhetik‘ als hinzugefügte Dekoration verstanden und von Erkenntnis und Interpretation abgekoppelt wird. In ihrer Medialität und Reproduzierbarkeit sind sie zu einem standardisierten visuellen Code geronnen, der vielfach variiert und ikonisch eingesetzt wird, wie die Abbildungen der populären Semiosen zeigen (siehe Abb. 3). Sie sind nicht auf Kreativität angelegt, sondern auf in sich abgeschlossene Wiedererkennung und Affirmation. Sie sind als ready-mades variierbar, ironisierbar, aber nicht veränderbar in ihrer Funktion. Sie machen Wissenschaft zu Pop, aber auch zum imaginären Gegenüber von Religion, das mit dem Wissen über das Universum zugleich Wissen über den Betrachter und die letzten Dinge zu liefern scheint. Wenn Matthijs van de Port die Romantik zu den wirkungsmächtigsten „strategies of immediacy“ im Prozess der Modernisierung rechnet und als einen Stil der Herstellung von Realität kennzeichnet, der eine klare „prefence for the veiling of the mediation process“ repräsentiert (van de Port 2011: 87), so ist dem sicher zuzustimmen. Die Romantik erfindet erst jene Wahrnehmungsform von Natur und Landschaft, die als Gegenpol zu einer sich von natürlichen Lebensbedingungen abkoppelnden Lebensweise zur Projektionsfläche des Idealen werden kann. Sie erreicht, dass die Natur des Englischen Garten uns ‚natürlicher‘ vorkommt als die ungeordnete, unbegehbare, unzugerichtete Natur selbst. Erst seit Natur ‚schön‘ ist, kann sie Spiegel der ‚schönen Seele‘ sein.

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[…] nothing in the romantic English garden spurs you on to contemplate the fact that it was designed. These styles seek to effectuate an unmediated immersion into the conceptual order which they propose, and through that effect, endow that order with the sensation of being fully real (ebd.).

Der Erfolg des romantischen Prinzips liegt jedoch nicht allein in diesem Effekt. Was das Prinzip zu einem Schlüsselmodell für die Problemlagen seiner Entstehungszeit macht, und mehr noch der Krisenerfahrungen zwischen dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, ist die Möglichkeit der doppelten Rezeption: Zwar ist die Überwältigungsästhetik darauf angelegt, ihren Konstruktcharakter vergessen zu machen, doch für ihre Wirkung ist dies gar nicht nötig. Selbst wenn man weiß, dass der Garten gestaltet und die Bilder manipuliert sind, liefert ja die sinnlich und emotional präfigurierte ‚ästhetische Erfahrung‘ die Evidenz. Glauben ist daher keine notwendige Kategorie mehr für Religion. Weder bestimmte Inhalte oder Objekte noch eine verborgene Quelle für Mythen und Bilder sind nötig. Es geht um die Empfindung (die Gänsehaut im Kino) und den Akt des kreativen Erschaffens31 selbst. Dies ist das romantische Prinzip, das in den gegenwärtigen religiösen Formen, die unter Erfahrungsreligiosität oder ‚Spiritualität‘ gefasst werden, ebenso wirksam ist wie in fiction-based religions (Davidsen 2012). Wie weitgehend das romantische Prinzip solche Reflexivität integrieren kann, bis in die Wissenschaft hinein, ist ausführlich an der Überführung des Erfahrungsbegriffs in die Religionsphänomenologie gezeigt worden (Überblick bei Stausberg 2010). Es ist deutlich geworden, dass es sich bei dem ästhetischen Diskurs der Romantik nicht allein um eine Apotheose der Kunst handelt oder nur um das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft. Es geht zentral um die Stellung und die Funktion von Religion im Prozess der Modernisierung. Der Doppelcharakter der Romantik reicht über van de Ports Analyse der veiled mediacy hinaus: Es ist nicht so sehr von Belang, dass nun Natur und Kunst statt Gott oder Dogmen an die Stelle der Inhalte von Religion treten können. Mit dem Fokus auf das Funktionieren der Imagination selbst wird vielmehr ein neuer Modus von Religion eingeführt, der sich scheinbar unabhängig macht von Institutionen und traditionellen Formen – weder Kirche, Gott noch Unsterblichkeit sind noch vonnöten, sondern der Kern der Religion ist das Imaginieren selbst, gerichtet auf ‚das Unendliche‘ des Universums. An die Stelle traditioneller Religion kann daher auch Kunst und Wissenschaft als religiöse Imagination treten. —————

31 Vgl. dazu Hans Blumenberg zum romantischen Projekt des Fort- und Neuschreibens der Bibel, 1986: 267–280.

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3. Imaginationen des Nicht-Wissens: Ästhetik und Politik des (A-)Historischen In ihrem Artikel „Fear and Loathing of the Imagination in Science“ (2005) zeigt Lorraine Daston, dass die Zuverlässigkeit wissenschaftlichen Wissens vielfach daran festgemacht wird, dass Imagination in Wissenschaft keinen Platz habe. Diese Haltung stamme aus der Reaktion der Aufklärung gegen die mythische Phantasie der Religion, aber auch auf den epistemologischen Schock nach der Kopernikanischen Wende, dass eine ganze Kultur auf falschen Vorstellungen von der Welt aufgebaut sein kann. In der Wissenschaft, so die Erwartung, gehe es um Fakten, Messungen, Beweise, nicht aber um frei flottierende Erfindungskunst oder Fiktion. Versteht man jedoch unter Imagination, wie oben beschrieben, die grundlegend funktionale Fähigkeit, Abwesendes auch ohne äußere Stimulanz zu appräsentieren, dann ist plausibel, dass sie eine große Rolle spielt in wissenschaftlicher Arbeit, und dies nicht nur in den legendären Heureka-Momenten und Phasen kreativer Innovation. Erst das Trainieren und Kultivieren von Wahrnehmung und Vorstellungskraft über Jahre hinweg ermöglicht etwa Physikern, in Dimensionen zu denken und theoretische Modelle mit Mess- und Rechenoperationen zu verbinden, die außerhalb von Computersimulationen kein sinnliches Korrelat mehr haben. Künstlerische, religiöse und wissenschaftliche Formen des Imaginierens sind deshalb aber nicht unterschiedslos. Vielmehr kann man sagen, dass diese Unterscheidungen zu einem Teil erst als unterschiedliche Modi, kulturelle Praxen und Professionalisierungen des Imaginierens ausgebildet wurden und dass erst durch ihre zunehmende Differenzierung Prozesse des Übergangs und der De-Differenzierung zwischen Wissenschafts-, Kunst- und Religionsdiskursen stattfinden können. Geht man von dem (idealtypischen) Unterschied aus, dass Wissenschaft ihre Modellvorstellungen reflektiert, überprüft und auf einen umrissenen Modellrahmen begrenzt, Religion aber ihre Modellvorstellungen darauf anlegt, überzeugende und langlebige Gesamtdeutungen zu produzieren und, in Clifford Geertz’ berühmter Definition, eine „Aura der Faktizität“ (Geertz 1983: 48) zu erzeugen, dann wird deutlich, dass gerade in den Naturwissenschaften das Bewusstsein von der Geschichtlichkeit, dem Konstruktcharakter und der Medialität ihrer Fakten nicht ausgeprägt ist oder sogar zurückgewiesen wird (Latour 2010). Dieses reflexive Bewusstsein aufzurufen, ist an die Kunst und – eine weitere Differenzierung – die Geschichts- und Kulturwissenschaften verwiesen, die seit dem aesthetic turn der 1980er Jahre die epistemischen und interpretativen Aspekte von Dingen, Metaphern und Darstellungsformen in der Wissenschaft aufzuarbeiten begonnen

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hat. Der affirmative Charakter von Bildern, so hat die neuere Bildwissenschaft gezeigt, veranlasst noch mehr als Metaphern und Analogiebildungen dazu, das Modellierte nicht mehr vom Modell zu trennen und für ein Abbild von Realität zu halten32. Viele der von Kessler interviewten Wissenschaftler äußern sich denn auch skeptisch bis ablehnend gegen die „pretty pictures“ des HST (Kessler 2011), und sie akzeptieren sie eher nolens volens, wegen der nötigen Forschungsfinanzierung und der populären Attraktivität, die ein Publikum dazu bringt, sich für das weniger eingängige wissenschaftliche Wissen zu interessieren (Smith et al. 2011). Das Unbehagen der Wissenschaftler unterscheidet dabei zwischen dem analytischen und ‚trügerischen‘ Bildgebrauch und bewegt sich zwischen den Kategorien von Bildkontrolle und Bildfaszination, eine Alternative, die die tatsächlich vielfältige Wirkung der Bilder verdeckt. Hinweisend auf ihre unmittelbare „fotografische Evidenz“ fügt Belting an: „Wir reden dann allzu rasch und etwas oberflächlich von Popularisierung, als wenn wir wissenschaftliche Bilder je davon ausnehmen könnten“ (Belting 2005: 9). Mit Recht weist er darauf hin, dass Sinnstiftung durch Ästhetisierung nicht nur eine Frage der Kommunikation von Wissenschaft ist, sondern dass auch in der wissenschaftlichen Bildpraxis die „operative Bildlichkeit“ (Krämer 2009) übergeht in Ontologisierungen. Insofern Wissenschaftsbilder auch populäre Bilder werden, ist ihre Ästhetik immer auch politisch. Die Popularisierungsstrategie der faszinierenden Bilder zielt darauf, einen Zustand herzustellen, der Wissenschaft im Modus der Begeisterung und des Abenteuers auffasst und als Teil des eigenen Lebens und Weltbildes integriert – „Scientists really want some kid to have a poster of this on a wall, …. They want science to invoke a sense of frontier and discovery“33. Der Stil dieser Wissensvermittlung setzt auf das narrative Muster von Geheimnis und Offenbarung und ist – als „Faszination Wissen“ und „Abenteuer Forschung“ – fester Bestandteil medialer Didaktik. Musik, Rhetorik, Sprecherstimme in populären TV-Formaten evozieren ein Mysterium, und als Mystagoge fungiert der Wissenschaftler. Es geht bei dieser Dramatisierung meist nicht darum, die Grenzen wissenschaftlichen Wissens tatsächlich zu benennen und verstehbar zu machen. Die Dramatisierung des Nichtwissens zum Geheimnis ist hier Stilmittel, und seine Mystifikation verschafft – von Ernst Haeckels Welträtseln bis zu den enthusi—————

32 Zu Theorien, die sich mit der epistemologischen Qualität von Bildern befassen Heßler/Mersch 2009. 33 Jennifer Carnig, Astronomers interpret Hubble images in the same majestic light as early painters of America’s Western landscape; University of Chicago Chronicle 24 (11), March 3, 2005 http://chronicle.uchicago.edu/050303/hubble.shtml [12.09.2011].

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asmierenden Hubble-Fotos – der Wissenschaft den Status einer Instanz der Offenbarung, die mit religiösem Wissen konkurriert34. Eine Erforschung solcher populär mystifizierter Wissenschaft fragt auch nach der Bildpraxis, was es Menschen bedeutet, wenn sie sich mit FotoTapeten der Hubble-Bilder umgeben, oder – vergleichbar mit religiösem Bildgebrauch – ein außergewöhnliches Erleben überführen in abrufbare und wiederholbare Erfahrungen, wie etwa der zweite Gewinner des zweiten Platzes im Hubble Pop Culture-Contest: Since I was a very young child, I was an astronomy enthusiast in love with space photography. […] The power behind these amazing pictures connects us with important questions: who we are, why we are here, what the purpose of life is. And even when we are not aware of these questions, something moves deep inside us when we look at a Hubble photograph. When I was a 12-year-old I couldn’t put it into words, yet there are things that are best communicated without words35.

Mystifizierung ist hier nicht auf didaktische Ästhetik reduziert, sondern zum Element von Wahrnehmung- und Interpretationsmustern geworden. Wenn wir unter Mystifizierung mit Kenneth Burke (1969) beschreibbare rhetorische Strategien verstehen, die Hierarchien ausbilden und aufrechterhalten, dann wird deutlicher, dass mit dieser Ästhetik sinnlich und körperlich weit mehr eingeübt wird als Enthusiasmus gegenüber der Wissenschaft. Die Stilisierung von Nichtwissen als unbestimmte power, als ineffabile und intuition stellt den Gegenpol dar zum naturwissenschaftlichen Wissen, das die „important questions“ zu beantworten in der Lage ist – auch wenn es sich um Fragen von Identität und Lebenssinn handelt. Zu diesen Strategien der „identification through mystification“ (Foss/Littlejohn 2011: 142) gehören die Loslösung vom geschichtlichen, sozialen und alltäglichen Kontext, Rhetoriken der Naturalisierung und des Unaussprechlichen sowie das Herstellen eines dualistischen Gegensatzes, der sich dann als überwindbar erweist. Nur wenn soziale, praktische und epistemologische Bedingungen realen Wissenschaftstreibens ausgeblendet werden, wird es plausibel, das eigene Ich mit dem „Universum“ zu identifizieren, wie es der Pop-Song We are Stardust vermittelt, der ein Zitat des Astrophysikers Neil de Grasse Tyson als Refrain verwendet36:

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34 Ausführlich zur Struktur und Funktion von Offenbarung & Geheimnis: Assmann, Assman/Sundermeier 1998. 35 Vgl. http://www.spacetelescope.org/projects/20anniversary/hubblepopculture/ [13.09.2012]. 36 Das Musikprojekt sieht sich als Fortführung der Arbeit von Carl Sagan, Physiker und Populärwissenschaftler: http://www.symphonyofscience.com/ [23.09.2012]

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We are part of this universe; We are in this universe; The universe is in us; Yes, the universe is in us.

Diese Überlegungen gelten auch für die weiterführende Frage, welche Vorstellungen gegenwärtige Gesellschaften davon haben, was Wissen ist – und damit auch, wie sie Nichtwissen begreifen. Figurationen von Wissen sind etwa der Baum – der biblische Baum der Erkenntnis wie Darwins Verzweigung der Arten –, aber auch die kartierte Landschaft (‚weiße Flecken‘ auf der Landkarte), die Bibliothek und der Korpus, der vollständige und funktionsfähige Körper des Wissens. Das Projekt der Encyclopédie der französischen Aufklärer steht für die Vorstellung, dass ein Kompendium vollständigen Wissens möglich ist. Dessen Telos ist in diesem Fall nicht religiöses Heil, sondern die aufgeklärte Gesellschaft. Dass man wissen soll, und dass alle wissen sollen, ist nicht selbstverständlich. Im Gegensatz etwa zum mittelalterlich-theologischen Verdikt gegen die weltliche Neugier oder der Überzeugung, Frauen sollten nicht mehr wissen als zur Alltagsbewältigung nötig ist, [sehen] neuzeitliche, moderne Gesellschaften im Wachstum des Wissens eines ihrer zentralen Merkmale und begreifen das Nichtwissen (und erst recht das ‚NichtWissen-Wollen‘) als einen kognitiv wie normativ inakzeptablen, korrekturbedürftigen Zustand37.

Nichtwissen erscheint in jedem Fall als etwas, das aufgelöst und negiert werden muss, sei es als Entdeckung des ‚dunklen‘ Kontinents oder als geschichtsteleologische Vorstellung, es gebe ein vollständiges, im Ganzen erreichbares Wissen, ein ‚Noch-nicht-Wissen‘, von dessen Vervollständigung uns nur noch ein zeitlicher Abstand trennt. Es ist hier nicht der Raum, auf millenaristische, teleologische oder gnostische Muster der Europäischen Religionsgeschichte und ihre Einflüsse auf die Imaginationen und Praktiken des Wissens einzugehen (von Stuckrad 2010). Festzustellen ist aber, dass in der Ästhetikdebatte um 1800 das Verhältnis zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt mit hohem Form- und Problembewusstsein diskutiert wurde. Hatte sich die Romantik auf die Fahnen geschrieben, die Grenzen rationalistischen Wissens aufzuzeigen, die zunehmende Suspendierung des Subjektiven (‚Gefühl‘) im wissenschaftlichen Verhältnis zum Objekt zurückzunehmen und Naturbeobachtung mit weltanschaulicher Deutung verbunden zu halten, so hat sie jedoch zugleich zu einer Trennung zwischen Ästhetik und Wissenschaft beigetragen. Verwiesen an die standardisierte (und romantisch als Religion verstandene) ‚Schönheit‘ wissenschaftlicher ————— 37

Wehling 2007: 486. Zum folgenden hier ein guter Überblick.

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Bilder werden Gefühle erzeugt, die dann auf das Wissen und die Wissenschaft rückübertragen werden. Diese ‚Arbeitsteilung‘ reduziert die Bedeutung des Ästhetischen für die Erzeugung von Wissen und hält die Opposition von aufklärerischem Rationalismus und romantischer Wiederverzauberung aufrecht. In beiden Fällen aber wird das konstruktive und dialektische Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Welterzeugung entweder negiert oder in einer Totalität aufgehoben. Sieht man Wissen hingegen nicht als anwachsenden ‚Korpus‘, der Nichtwissen verdrängt, sondern als ein soziales und geschichtliches Medium von Welterfahrung, das Informationen erst interpretierend zu Wissen verarbeitet, dann ist Nichtwissen ein integraler Bestandteil dieses Prozesses, der nicht aufgehoben oder getilgt werden kann. Es ist besonders in der Technologie- und Risikodebatte deutlich geworden, dass mit der Produktion von Wissen auch permanent neue Formen von Nichtwissen entstehen. Ein einschlägiges Beispiel, mit dem sich mittlerweile die nuclear semiotics befassen, ist das Problem der Atommüllentsorgung und die Frage, mit welchen Zeichen man kommende Generationen vor den giftigen Deponien warnen soll. Es gibt kein Wissen darüber, wie Bedeutungsstrukturen und Medien funktionieren werden in einem Zeitraum, der um ein Vielfaches weiter entfernt liegt als die bisherige Kulturgeschichte dauert. Auch die Annahme, Wissen brächte in jedem Fall eine Verbesserung der Lebensqualität, wird herausgefordert durch Problemstellungen, die ein Recht auf Nicht-Wissen plausibel machen und fraglich werden lassen, ob man wissen soll oder muss, dass man eine tödliche Erbkrankheit hat oder ein Kind mit Trisomie 21 erwartet. Auch wenn man die moralischen Aspekte ausschließt, ist deutlich, dass die ‚Grenzen des Wissens‘ pragmatisch, aber auch imaginativ bearbeitet werden müssen, und dass dabei Wahrnehmungen verändert und Tabugrenzen verschoben werden im Imaginationshaushalt einer Gesellschaft. Die Einbildungskraft an den Rändern des Wissens einer Gesellschaft zu besetzen – wie denken wir, imaginieren wir über die Grenzen des Wissens hinaus? – ist politische Macht,38 und sie wird nicht nur durch Inhalte besetzt, sondern auch durch die Strukturen des Imaginierens. Wenn Popularisierung von Wissenschaft neben Fakten und Wissen auch dem Nichtwissen mehr Aufmerksamkeit schenken und die geschichtliche Entstehung unserer Vorstellungen einbeziehen könnte, wäre dies sicher hilfreicher für die Koordination unterschiedlicher Wissensformen als die Illusion einer romantischen Einheit.

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38 Zum Zusammenhang von der Rede über das Sublime in der Wissenschaft und totalitärer Ästhetik Hoffman/Boyd 2011.

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Alexandra Grieser

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Imagination des Nichtwissens

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Schlussreflexionen – Ergebnisse des Bandes Annette Wilke

Keine Religion ohne Imagination – Erträge für die fachliche und fachübergreifende Forschung Will man die Hauptthese dieses Bandes auf einen kurzen Nenner bringen, so ist es der Satz: „Keine Religion ohne Imagination“. Die Aufsatzsammlung thematisiert erstmals auf breiter empirischer, methodischer und theoretischer Basis die zentrale Rolle von Imagination in den Religionen und ihre sinnlichen Verkörperungen. Dabei wird ‚Imagination‘ sowohl als religiöse Schlüsselkategorie akzentuiert wie auch als religionswissenschaftliche Analysekategorie aufgearbeitet und dergestalt als Grundbegriff und critical term der Religionsästhetik und kulturwissenschaftlichen Religionswissenschaft sehr etabliert. Mit der exemplarischen Untersuchung von Imaginationstechniken, -räumen, -politiken und der Imaginationsgeschichte anhand von Fallbeispielen aus aller Welt wird ein Beitrag zur religionsvergleichenden Forschung und der Begriffs- und Theoriebildung der kulturwissenschaftlich orientierten und diskursiven Religionswissenschaft wie auch zum fächerübergreifenden Forschungsthema ‚Imaginationstheorie‘ geleistet. Anhand thematischer historischer und gegenwartsbezogener Beispiele aus Europa (Grieser, Koch/Meissner, Kugele, Laack, Schüler, Traut) und anderen Teilen der Welt – Afrika (Wilkens), Australien (Kreinath), Indien (Luchesi, Rieck, Wilke), Japan (Triplett), Sri Lanka und Thailand (Hermann) – werden kontextsensitiv Imagination, Imaginieren und kollektive Vorstellungswelten (Formen des ‚Imaginären‘, franz. l’imaginaire) und ihre sinnlichen Medien, ‚Materialisierungen‘ und verkörperten Performanzen untersucht (Menschen/Körper, Bilder, Karten, Fotografien, Bauwerke, Raumgestaltungen, Riten, Tanz, Gebetspraktiken, Visualisationen, Rezitationen usw.). Dabei kommt auch die eigene Standortbestimmung und der selbstkritische Blick auf die Fachgeschichte und eigene Verortung zur Sprache (v. a. Kreinath und Laack, s. auch Vorwort). Die mit den Fallbeispielen verbundenen theoretischen Erörterungen und Analysen werden gemäß der kulturwissenschaftlichen Religionswissenschaft sehr in großer methodischer und disziplinärer Bandbreite vorgenommen: Grieser (Kunstgeschichte, Philosophiegeschichte, Imaginationsund Kulturtheorien), Hermann (Raumtheorien), Koch (Suggestions- und

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Annette Wilke

Placeboforschung), Kreinath (Geschichte der Ethnographie), Luchesi (Praxis der Ethnographie), Kugele (Geschichtswissenschaften/École des Annales), Rieck (Postkoloniale Studien, Ethnologie), Laack (kognitions- und kulturwissenschaftliche Imaginationstheorien, Kulturgeographie), Schüler (Kognitionswissenschaft, Metaphernforschung), Traut (Kultur- und Literaturwissenschaft, Imaginationstheorien, Entwicklungspsychologie), Triplett (Bildwissenschaft, Japanologie), Wilke (kognitionswissenschaftliche blending-Theorie, kulturwissenschaftliche Imaginationstheorien, Indologie), Wilkens (Ethnographie, Afrikanistik, Sozialwissenschaft). Dabei wurde aus eigenen Doppelkompetenzen geschöpft, über die die Autoren und Autorinnen verfügen. Neben der Philologie (Triplett, Wilke, Wilkens) beziehen viele eigene Feldforschungen mit ein (Koch, Laack, Luchesi, Schüler, Wilkens). Überdies wurde in persönlicher interdisziplinärer Kooperation gearbeitet, wie im Falle der Religionswissenschaftlerin Anne Koch in Zusammenarbeit mit der Medizinerin Karin Meissner oder im Falle von Alexandra Grieser und der Kunstwissenschaftlerin Kathrin Baumstark. In allen Artikeln wird neben dem religionsästhetischen Fokus auf vorausgehende Imaginationstheorien Bezug genommen. Die meisten Beiträge enthalten ein eigenes Theoriekapitel mit dem gewählten, spezifisch imaginationstheoretischen Zugriff oder mehreren relevanten Ansätzen, sodass diese auch in ihrem eigenen Recht zur Darstellung kommen. Unabgesprochen finden sich nirgends theoretische Überschneidungen (über ggf. kurze Erwähnungen hinaus); kein gewählter Theorieansatz gleicht dem anderen, sodass ein großes Theoriearsenal zur Erklärung imaginativer Prozesse und Materialisationen beerbt, dargestellt und religionswissenschaftlich aufgearbeitet wird. Die Gesamteinleitung und die gemeinsam verfassten Einleitungen zu den vier Teilen des Bandes fassen wichtige Grundannahmen und Thesen und den breiten theoretischen Rahmen zusammen, der die Einzelstudien vernetzt. Damit wird mehrperspektivisch und vielstimmig zur inhaltlichen und systematisch-theoretischen Aufarbeitung einer religionswissenschaftlichen Forschungslücke beigetragen und Imagination als Analysekategorie fundiert und zugleich in die fachübergreifende Imaginationsforschung ein genuin religionswissenschaftlicher Beitrag eingebracht. Imagination war bislang kaum ein Thema in der Religionswissenschaft, obgleich man von einer Schlüsselkategorie von Religion sprechen kann und der Imaginationsbegriff hohes Erklärungspotenzial hat. Es waren vorwiegend andere Disziplinen, in denen Imagination in den Fokus wissenschaftlicher Reflexion rückte. Sie bieten wertvolle Ansätze, Imagination für die Religionsästhetik systematisch zu erschließen und wir haben davon reichen Gebrauch gemacht. Wir meinen jedoch ebenso, dass nicht nur die Religionswissenschaft von solchen Ansätzen etwas lernen kann, sondern dass sie

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Schlussreflexionen – Ergebnisse des Bandes

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auch eigene Potenziale besitzt, die Ansätze weiterführend zu vertiefen, zu erweitern, zu differenzieren und möglicherweise gar da und dort zu korrigieren dank des reichen Materials aus der Religionsgeschichte, das weit über Europa hinausgeht, in dem diese Theorien fast ausnahmslos entstanden – aber auch wegen des besonders ‚imaginationsergiebigen‘ Themas Religion. In diesem Band werden über die ‚Religionsexpertise‘ der Autoren/innen und die Reflexion unterschiedlicher religionsgeschichtlicher Beispiele neue Perspektiven und Materialien zu Imaginationstheorien eingebracht. Die Erarbeitung emischer Begrifflichkeiten und das Verständnis von Imagination, Praktiken des Imaginierens, Formen des Imaginären in anderen Kulturen können möglichen eurozentrischen oder neuzeitlichen Verengungen in Begriffsverständnis und theoretischen Verortungen entgegenwirken. Einen eigenständigen religionswissenschaftlich-religionsästhetischen Beitrag zur Theoriediskussion stellen die Begriffe und Einleitungstexte, die den Kapiteln dieses Bandes überstellt sind, dar (Imaginationstechniken, Imaginationsräume, Imaginationspolitiken, Imaginationsgeschichte). Hier finden sich neue analytische Kategorien und theoretische Verortungen, die für die Fachdisziplin wie auch die fächerübergreifende Diskussion zum Thema ‚Imagination‘ von Interesse sind. Der bisher weitgehenden Stille der Religionswissenschaft in dieser Theoriediskussion steht die Zentralität imaginärer Prozesse im religiösen Feld gegenüber. Religion kann geradezu als Paradefall imaginativer Praxis gelten, so die Ausgangsthese, da sie wichtige Eigenschaften teilen, wie Nichtpräsentes anwesend zu machen, etwas als etwas Anderes wahrzunehmen als es sich den Sinnen darbietet, überzuwechseln in andere Welten, worin die üblichen Beschränkungen von Zeit und Raum aufgehoben sind, und mit ihnen emotionale Identifikation zu schaffen. Imagination teilt mit Religion aber auch die Notwendigkeit medialer Vermittlung, um sozial wirksam zu werden. Hier wird die unmittelbare Schnittstelle zur Religionsästhetik deutlich. Die religionsästhetische Perspektive mit ihrem weiten Ästhetikbegriff trägt dazu bei, das den westlichen Imaginationsdiskurs weitgehend prägende visuelle, kunsttheoretische und epistemologische Paradigma zu überschreiten und alle Sinne, wie auch die Ebene der Emotionen und die der Ethik und Moralität mit in die Theoriebildung einzubeziehen. Der religionsästhetische Ansatz in Ergänzung und partiell auch Revision existenter wissenschaftlicher Theorien zur Imagination und dem Imaginären, birgt deshalb neue Potenzialitäten. Gezeigt wird u. a., dass Imagination über das Bildliche und Geschriebene hinaus „maßgeblich an der Erfahrungs- und Vorstellungswelt der Menschen beteiligt ist, indem nicht nur Bilder produziert, sondern diese auch in Körperempfindungen und Affekte umgesetzt

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und bei jeder Zeichenhandlung präsentiert und repräsentiert werden“ (vgl. Einleitung „Imaginationsgeschichte“). Dass alle beteiligten Autorinnen und Autoren recht unterschiedliche Forschungs- und Kompetenzbereiche haben, hat sich als Chance für ertragreiche Synergieeffekte erwiesen. Es entsteht dergestalt ein breites Spektrum an vielfältigem Quellenmaterial, mit welchem ein aus verschiedenen Theorien abgeleitetes ‚Begriffsfeld Imagination‘ überprüft, durch die Reflexion emischer Kategorien ergänzt und durch Vergleiche und eigenständige Theoriebildungen weiterentwickelt wurde. Zu den Vorgaben der versammelten Aufsätze gehörte die konsequente Verbindung von Empirie und Theorie, religionshistorischem Einzelfall und religionssystematischer Metaebene. Es wurde jedoch keine Definition von Imagination vorgegeben, vielmehr wurde der Begriff je nach Fragestellung und Zugriff deduktiv und induktiv erschlossen. Gleichwohl ergibt sich ein gemeinsames begriffliches Feld, das über das Kant’sche Axiom des Präsentmachens des Nichtanwesenden hinausgeht bzw. dieses erweitert. Das rein subjektive Element wird auf das Kollektive hin überschritten (in Übereinstimmung mit kulturwissenschaftlichen Theorien zum Imaginationsbegriff) und das ‚unsinnliche‘, der physischen Wahrnehmung entzogene Moment wird in seinem Zusammenhang mit der Wahrnehmung bedacht und konsequenter als andernorts wird die ganze sinnliche Wahrnehmung einbezogen. Trotz der Varianzbreite und Mehrperspektivität der Beiträge, die zeigen, dass der critical term ‚Imagination‘ als ein fluider Begriff mit offenen Grenzen konzipiert werden muss, haben sich dennoch klare Linien für einen Allgemeinbegriff ‚Imagination‘ herauskristallisiert, der über den Einzelfall/die Einzelfälle hinaus operationalisierbar ist. In der Synthese der Beiträge ergibt sich so etwas wie eine Definition oder Begriffsbestimmung von ‚Imagination‘ bzw. ein Begriffsfeld, das die semantischen Grenzen absteckt. Wir verstehen darunter sowohl die menschliche Fähigkeit und Tätigkeit des Vorstellens und Imaginierens, wie auch deren Inhalte und Produkte – und zwar sowohl persönliche wie kollektive Empfindungs-, Sinnund Bildwelten (das ‚Imaginäre‘). Bei letzteren ist es allerdings komplex, denn zum einen sind kollektive Vorstellungswelten schon vorfindlich, gehen also der Imagination als konstituierendem Element jeder Wahrnehmung voraus, zum anderen sind sie aber ebenso das Material des Imaginierens wie auch sein Produkt. So kann Imagination als Akt des Repräsentierens, Verknüpfens und kognitiven Überblendens verstanden werden, worin eben diese Vorstellungswelten und geistigen Anschauungen mit sinnlicher Wahrnehmung und vorfindlicher Welt zusammenfließen, sodass etwas Neues entsteht. Das heißt, Imagination schafft in jedem Akt der Wahrnehmung auch diese Vorstellungswelten und hat überdies die potentielle

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Macht, neue und andere zu generieren. Die Schaffung neuer Räume, affektiver Besetzungen und Sinnzusammenhänge durch die Verknüpfung von Außenwahrnehmung und Vorstellungswelten scheint ebenfalls ein Charakteristikum der Imagination par excellence. Imagination fungiert als Schaltstelle oder dritter Raum, nicht nur, was transformative Potenziale und die Ermöglichung neuer (umkanalisierter) kognitiv-affektiver Denkbahnen, Körperwahrnehmung und besonderer Erfahrungen etc. betrifft, sondern auch in der Zusammenführung von Innenund Außenräumen und von Einzelnem und Kollektiv. Dass religiöse Imaginationen in der Regel nicht nur privat, sondern öffentlich sind, verbindet alle Beiträge. In vielfältiger Weise wird gezeigt, dass Imagination maßgeblich zur individuellen wie auch kollektiven Identitätsbildung beiträgt und sich individuelle kreative Akte der Aneignung, Sinngebung und Neuschöpfung mit kulturellem Sinn und kollektivem Gedächtnis verbinden und neben Konservierung die Neugestaltung kollektiver Identitäten ermöglichen. Im Folgenden werden mehr ins Detail gehende Ergebnisse zur religionssystematischen, -geschichtlichen und -vergleichenden Forschung vorgestellt. Da viele Ergebnisse bereits in die Einleitungen eingegangen sind und nicht nochmals im Einzelnen wiederholt werden sollen, sei auch auf die Einleitungen zurückverwiesen. 1. Erträge für die kulturwissenschaftliche und diskursive Religionswissenschaft Das Thema ‚Imagination‘ erlaubt, neu über Religion und ihre Medien nachzudenken und die Verschränkung von sinnlich-verkörperlichten und semiotisch-semantischen Aspekten besser zu konzeptualisieren. Dies umfasst subjektive wie kollektive Vorstellungs- und Erlebniswelten. Ein spezifischer Gewinn ist, dass der Imaginationsbegriff ermöglicht, wieder neu und anders auch in der kulturwissenschaftlichen Religionswissenschaft sehr von Bereichen zu sprechen, die mit der radikalen Abkehr von der Religionsphänomenologie lange vernachlässigt und ausgespart blieben, aber zweifellos maßgeblich zu Religionen mit dazu gehören: religiöses Erleben, das Mentale, Vorstellungs- und Innenwelten, Emotionen, veränderte Bewusstseinszustände, übersinnliche Erfahrungen, Trance, Visionen, Träume und Ideale (das romantische Potenzial auch vor der Romantik). Schwer fassbare Dinge wie Gefühle und die Mystik, die bei den Phänomenologen so beliebt waren, waren für die wissenschaftliche Bearbeitung unter dem Label subjektive Spekulationen und romantisch-phänomenologische ‚Innerlichkeits‘-Perspektive tabuisiert und wer sich damit beschäftigte, musste damit rechnen,

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den Titel ‚Wissenschaftlichkeit‘ nicht zu verdienen. Die religiösen Binnenperspektiven interessierten erstaunlich wenig seit der kulturwissenschaftlichen Wende des Fachs. Vorherrschend war vielmehr ein sozialwissenschaftliches Methodenrepertoire und die ‚Außenperspektive‘ des streng objektiven Wissenschaftlers (in der Annahme, dass es diesen gibt). Forschungsgebiete wurden zunehmend vorher vernachlässigte Themen wie religiöse Gegenwartskultur, europäische Religionsgeschichte und der Körper, die Sinne, material religion. Es kommt vielleicht nicht von ungefähr, dass heute ein notwendiger Umschwung eingetreten ist, nachdem man den Kinderschuhen der notorischen Abgrenzung gegenüber den Religionsphänomenologen und Schleiermachers innerlicher Religion einigermaßen entwachsen ist. Es kommt wohl auch nicht von ungefähr, dass sich gerade die Religionsästhetik der Imagination annimmt. Das religionsästhetische Programm, Körper, Sinne und Medien in den Mittelpunkt zu stellen und mit den Dichotomien von Körper und Geist, Natur- und Geisteswissenschaft etc. zu brechen, ist programmatisch gefeit, nicht einer (wissenschaftlich immer noch unerwünschten) Innerlichkeitsperspektive zu verfallen. Der religionsästhetische Blick auf Imagination bringt die getrennten Stränge – die Innenwelt der Vorstellungen und Gefühle und die Außenwelt der sozialen Interaktionen – zusammen und betont ihr Wechselverhältnis. In den Hauptfokus treten die sinnlichen Mediationen und öffentlichen Kommunikationen versus die psychischen Prozesse und subjektiven Erfahrungen. Betont werden die Verkörperungen von Ideen, die Rolle und Möglichkeiten des Körpers, die geschichtlich-sozialen Kontexte und das kollektive (sozio-kulturelle) Imaginäre, ohne welches die religiösen Innenwelten gar nicht adäquat verständlich wären. Der Imaginationsbegriff der Religionsästhetik gibt dem Mentalen, Affektiven, Visionären, Phantastischen und subjektiven Bedeutungszuschreibungen somit wieder Raum und vermeidet zugleich die ‚Innerlichkeits‘-Perspektive älterer Religionsforschung. Vielleicht ist dies nicht der letzte und einzige Blick auf das Thema ‚Imagination‘ (Binnenperspektiven haben immer noch ein schweres Leben), aber ein sehr gewinnbringender, wie der Band verdeutlicht. Wie wichtig die lange ausgesparten Themen für das religiöse Leben sind, zeigen mehrere Artikel. Hier sei nur auf Katja Riecks stimulierenden Beitrag zur Selbstästhetisierung der indischen Kolonialismuskritik des 19. Jahrhundert verwiesen: Imagination, affektives Empfinden und Romantik werden hier zum Instrument politischen Widerstands und sozialer Veränderung. Ein weiterer Gewinn des Bandes ist, dass er eine ‚Lagerbildung‘ zwischen einer ‚gegenwärtig/empirisch‘ versus einer ‚historisch/philologisch‘

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arbeitenden Religionswissenschaft vermeidet und beide Perspektiven unter einer systematischen Fragestellung zusammenbringt1. Sowohl die Thematik ‚Imagination‘ als auch der Forschungszugang Religionsästhetik scheinen hierfür besonders geeignet, d. h. mit einem besonderen „konnektiven“ Potenzial2 ausgestattet, interdisziplinäre Anschlussfähigkeit zu bieten. Interdisziplinarität bleibt nicht nur ein Ideal und Stichwort in diesem Band. Dies machen eigentlich alle drei Theorieebenen (Gesamteinleitung, Einleitungen zu den vier Teilen, Einzelbeiträge) und gerade auch die versammelten Artikel sehr deutlich. Durch das multimethodische Vorgehen und die Berücksichtigung verschiedener theoretischer Ansätze und spezifisch imaginationstheoretischer Zugriffe werden diese nicht nur vorgestellt, sondern auch miteinander ins Gespräch und Interaktion gebracht, ohne sie einer gleichmachenden Perspektive zu unterwerfen. Damit leistet der Band einen substantiellen Beitrag zur kulturwissenschaftlich orientierten, multimethodisch arbeitenden Religionswissenschaft. Religions-, Kultur- und Gesellschaftstheorien aus anderen Disziplinen wurden in den letzten Jahrzehnten zwar sehr stark rezipiert, doch zeigt sich am Beispiel Imagination, dass die viel beschworene Multidisziplinarität des Fachs längst nicht ausgeschöpft ist. Viele der Theorien, bei denen in unserem Sammelwerk Anleihen gemacht werden, sind im Fach Religionswissenschaft bislang noch wenig bekannt und rezipiert, bieten aber viel Relevantes für den Gegenstand Religion und werden hier entsprechend für die Analyse fruchtbar gemacht. Damit leistet der Band neben „dichten Beschreibungen“ diverser religionshistorischer Beispiele auch eine systematische Aufarbeitung und trägt zur religionswissenschaftliche Typen-, Begriffs- und Theoriebildung bei. Ferner ist die gute Aufbereitung der verwendeten Theoriemodelle (die i. d. R. durch längere Abschnitte etwas detaillierter vorgestellt werden) hilfreich für einen ersten Überblick und stimulierend für weitere Vertiefung. Der Religionsästhetik wurde verschiedentlich vorgeworfen, sie sei lediglich eine neue Perspektive oder ein neues Gegenstandsfeld, trage aber nichts zur Theoriebildung bei3. Insofern leistet der Band mehr Sichtbarkeit des auch theoretischen Anspruchs der Religionsästhetik, wie sie vom ‚Arbeits—————

1 Dies entspricht dem religionsästhetischen Forschungsprogramm, wie es Mohn (2004: 309) formulierte. Für die vollständigen bibliographischen Angaben s. Literaturverzeichnis Einleitung. 2 Zu diesem zentralen Gedanken von Alexandra Grieser, der auf einer Tagung in Groningen 2013 im Zentrum stand, ist derzeit ein weiterer Band der DVRW-Gruppe Religionsästhetik in internationaler Erweiterung (hg. A. Grieser) in Vorbereitung. 3 So noch jüngst etwa das Studierendensymposium 2014 („Materialität – Körperlichkeit – Religion“) in Bremen oder das nicht Vorsehen der Religionsästhetik in neu geplanten Theorie- und Methodebänden. Der Vorwurf ist etwas kurios, denn neue Perspektiven und Gegenstandsfelder fordern immer auch neues Theoretisieren heraus.

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kreis Religionsästhetik‘ (dem die Autoren/-innen des Bandes angehören) seit seiner Gründung (2007) verstanden wurde. Wie dies in der neueren Religionswissenschaft insgesamt weitgehend der Fall ist, wird es gar nicht als wünschenswert angesehen, nur eine Theorie oder eine Methode zu finden; das wäre einem so komplexen Gegenstand wie Religion kaum angemessen. Gerade das Multimethodische und Multidisziplinäre vermag die verschiedenen Dimensionen von Religion(en) besser zu fassen und erlaubt differenzierte Mehrperspektivität. Es gehört zu den Stärken des vorliegenden Bandes, dass die Theoriediskussion auf mehreren Ebenen stattfindet. Neben dem großen Fundus an Theorien und Methoden in den Einleitungen – durchaus auch in eigenständiger spezifisch religionsästhetischer Theoriebildung – steht manch eigenständige These, Begriffsbildung und Typologisierung darüber hinaus in den Einzelbeiträgen. Die erarbeiteten Theoriemodelle sind wiederum übertragbar auch auf andere Inhalte und somit von Wert für die systematische Religionswissenschaft wie die Religionsgeschichte und ihre notwendige Verschränkung. Eigens hervorzuheben ist schließlich, dass der Band in der Erarbeitung von Metaperspektiven auf das Material und eines Metabegriffs von Imagination auch einen spezifischen Beitrag zur diskursiven Religionswissenschaft leistet. Bereits in der Gesamteinleitung zeigte sich, wie stark das allgemeinmenschliche Vermögen ‚Imagination‘ – via Wahrnehmung, Medien und Deutung – geschichtlichen Wandlungen unterworfen ist und ebenso kulturrelativ wie auch gesellschaftsintern unterschiedlich eingeschätzt, aktiviert und verhandelt wird. Selbstkritisch zählen wir zu dieser Geschichte der Imagination und der sich wandelnden Formen des Imaginierens und Imaginären auch unsere eigene Fachgeschichte – einschließlich des vorliegenden Projekts. Wir sind uns des – durchaus auch problematischen – europäischen Erbes des Imaginationsbegriffs bewusst. Die abendländischchristlich geprägte Geschichte zwischen Ablehnung und Verherrlichung wurde in der Einleitung bereits kritisch reflektiert und im Band war es allen Autorinnen und Autoren ein Anliegen, nicht in den Sog von Abwehr und Verlangen gezogen zu werden, der gerade diesen Begriff umgibt und auch Imaginations- und Religionstheorien immer wieder bestimmt hat – man denke an Freuds Zukunft einer Illusion und Corbins mundus imaginalis. In Bezug auf die Reflexion der eigenen Forschungsgeschichte wird berücksichtigt, wo auch Wissenschaft bei der Erschließung und Darstellung ihrer Quellen Imaginationen produziert und tradiert (vgl. insb. Kreinath, aber auch Grieser zum Wissenschaftsmystizismus in Religionsforschung und Astrophysik). Dieses Thema der Religionsproduktivität der Religionsforschung wurde in der neueren Religionswissenschaft bereits oft diskutiert, angestoßen nicht zuletzt von Jonathan Z. Smith, Imagining Religion (1982:

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xi; 1998: 269–284; vgl. auch Taylor 1998: 7–8)4, der die provokante These aufstellte, Religion werde durch die Imagination des Wissenschaftlers erst kreiert. Smiths (nicht weiter geklärter) Imaginationsbegriff wurde häufig engführend im Sinne von ‚Einbildung‘ und ‚Erfindung‘ rezipiert und – da viele Kulturen den Religionsbegriff (in dieser Form bzw. mit den christlichprotestantischen Konnotationen des 19. Jh.) tatsächlich nicht kennen oder sich ein solcher erst im 19. Jahrhundert entwickelte (z. B. „Hinduismus“) – wurden ganzen Kulturen, z. B. den östlichen Traditionen, Religion in der Vormoderne praktisch abgesprochen. Die gute Intention in Ehren, hatte dies den fatalen Effekt, dass im Namen postkolonialer Kritik koloniale Denkmuster weiter tradiert wurden. Nicht nur die Religion der Anderen wurde imaginiert, sondern auch ihre Nicht-Religion. Ein weiterer Imaginationsbegriff, wie er diesem Band zugrunde liegt, kann die zentrale Problematik, auf die Smith aufmerksam machte, besser fassen. Es geht um die Macht der Repräsentation und die Ohnmacht der Selektion. Zum einen ist selbstkritisch die realitätsproduzierende und religionsproduktive Macht des Wissenschaftsdiskurses in der Erzeugung bestimmter Bilder und Vorstellungen zu bedenken, zum anderen der subjektive Anteil im Darstellen, Auswählen und Interpretieren und das Einfließen (und Bearbeiten!) von Fragen der eigenen Zeit und Gesellschaft. Mit der Repräsentations- und Selektionsproblematik hat jede historische Wissenschaft zu kämpfen. Auch für die Geschichte der Religionswissenschaft gilt, was Karl-Heinz Kohl in seiner ethnologiegeschichtlichen Studie Abwehr und Verlangen (1987: 3)5 so treffend für die Ethnologie bemerkt: Die Fachgeschichte war nicht nur „eine Abfolge sich einander ablösender Theorien oder Paradigmata“, vielmehr spielten auch „wechselnde Themen und Motive“ eine wichtige Rolle; jede der Epochen hatte ihr „besonderes Besessenheitsmerkmal“. Treffender könnte man die sich wandelnden wissenschaftlichen Moden und Diskurse und den imaginativen Anteil auch in der religionswissenschaftlichen Fachgeschichte nicht beschreiben und dies gilt ebenso für das folgende Zitat, bei dem wir die Leser bitten, imaginativ das „ethnologisch“ durch „religionswissenschaftlich“ zu ersetzen: Der ethnographische Blick ist notwendig selektiv. Er vermag immer nur einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit fremder Kultur wahrzunehmen. Gelenkt wird das ethnographische Auge von individuellen Erfahrungen und Wunschvorstellungen ebenso wie von den einem historischen Wandel unterworfenen kollektiven Erfahrungsstrukturen und Konflikten [wie auch religiösen Wunschvorstellungen vom besseren Leben] der eigenen Gesellschaft.“ (Kohl 1987: 4)

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Für die vollständigen bibliographischen Angaben s. Literaturverzeichnis Einleitung. Für die vollständigen bibliographischen Angaben s. Literaturverzeichnis Einleitung.

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Imposant hat dies Hans G. Kippenberg (1997) in seinem Werk Die Entdeckung der Religionsgeschichte6 für die frühe akademische Religionsforschung Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts aufgezeigt. Er legt dar, wie stark die Forscher und Forscherinnen auf gegenwärtige Fragen ihrer Gesellschaften reagierten in der Art, wie sie Vergangenheit rekonstruierten und Religion repräsentierten. Im vorliegenden Band zeigt Jens Kreinath, dass auch der Medienwandel maßgeblichen Einfluss auf die religionswissenschaftliche Imagination und Begriffbildung hatte – im Fallbeispiel das damals neue Medium der Fotografie auf die Repräsentation der ‚primitiven‘ Gesellschaft der australischen Aranda und den Ritualbegriff. Kreinaths Beitrag könnte man zwischen den Zeilen aber auch als (Selbst-)Kritik der Religionsästhetik lesen oder als Lektion, die wir gerade wieder lernen. Im historischen Fallbeispiel waren es weniger die fotografierenden Ethnologen als der textzentrierte mythenstudierende Missionar, der die Vorstellungswelt der Aranda besser erfasste. Materielle Kultur und Bilder allein sagen noch zu wenig und zu Unsicheres aus, solange man die Vorstellungswelt nicht kennt. Nicht nur material religion, der Körper und die Sinne, sondern auch Texte und Semiotik bleiben wichtige Gegenstände der Religionsästhetik. Das nächste Projekt der DVRW-Arbeitsgruppe Religionsästhetik soll tatsächlich wieder herkömmlichere Medien – Texte und ihre narrativen Strukturen – sein. Im vorliegenden Band zeigen die Artikel von Jens Kugele und Katja Triplett, wie stark Text(semantik) und Bild(semantik) zusammengehören können und wechselseitige Imaginationsverstärker darstellen. Annette Wilkes und Lucia Trauts Beiträge basieren auf reinem Textstudium und den performativen Leistungen dieser Texte. Der Band macht deutlich, dass bei aller Selbstkritik, das religionsästhetische Programm seine eigenen Stärken hat, angefangen mit der Aufeinanderverwiesenheit von sinnlicher Wahrnehmung und Imagination. Welch eminente Rolle die reine Materialität spielen kann in Sachen Sakralisierung und Stimulierung religiöser Gefühle und Erfahrungen zeigen eindrücklich Brigitte Luchesi, Isabel Laack und Alexandra Grieser. Im Falle der nordindischen jhanki-Bilder (Luchesi) werden kleine Jungen zu Göttern/Götterbildern nicht durch besondere Meditation, Gebetspraxis oder Askese (wie im Fallbeispiel Wilke), sondern durch Schminke, Farben, Dekorationen, mit denen sie (im passiven Liegen) ‚bearbeitet‘ werden. Die Landschaft und Bauwerke von Glastonbury (Laack) erlangen selbst eine so starke eigene agency, dass sie nicht nur als Zeugen einer vorzeitlich-archaischen Religi————— 6

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onskultur wahrgenommen werden, sondern auch als sinnlich spürbare Kraftorte, die mit spezieller spiritueller Energie aufgeladen übersinnliche Erfahrungen hervorrufen – hiervon berichten erstaunlich viele Besucher. Die modernen Fotografien vom Weltall schließlich (Grieser) akkumulieren genau deshalb eine so große Faszination und „Überwältigungsästhetik“ für die Rezipienten – bis hin zu Empfindungen mystischer Einheit mit dem Universum –, weil sie technisch bearbeitet und manipuliert romantischen Malereien angeglichen und von der Romantik initiierten Seh- und Denkgewohnheiten angepasst werden. In allen drei Fallbeispielen, die inhaltlich wenig gemeinsam haben – traditionell-nordindische Hindupraxis, religionenüberschreitende moderne Spiritualität, Verschmelzung von Wissenschaft und Religion – ist ein gemeinsames Strukturmuster erkennbar. Neben den materiellen Stimuli ist die Macht und Notwendigkeit der Imagination bzw. die Wichtigkeit mitlaufender kulturell und historisch geformter imaginativer Besetzung besonders evident in diesen Beispielen. Aber das gilt für religiöse Vorstellungswelten und Riten insgesamt. Jede religiöse Vorstellungswelt und rituelle Handlung setzt, insofern sie als signifikant wahrgenommen wird, einen – beinah unbewussten – imaginativen Akt des Überwechselns in eine andere Wirklichkeit voraus. Es ist erst dieser (sozial antrainierte) imaginative Akt des Verknüpfens und Überwechselns, der das Vorstellungsbild als Teil einer sakralen Wirklichkeit wahrnehmen lässt, entsprechende Erfahrungen und Emotionen auslöst und den rein motorischen Akt zur Weihehandlung macht, die Heiligung und Transformation bewirkt. Auch diese Rekonstruktionen haben natürlich mit Imagination zu tun. In der kulturwissenschaftlichen Religionswissenschaft sehr besteht die Tendenz, die Problematik der Repräsentation nur in der frühen Religionsforschung zu sehen – v. a. bei den Religionsphänomenologen –, während die eigene Standortgebundenheit und eventuell ebenso große Geprägtheit von zeitgenössischen Fragestellungen seltsam unreflektiert bleibt. Zu den heutigen „Besessenheitsmerkmalen“ der mit Religion befassten Wissenschaften gehört der Körper. Man kann auch weniger drastisch von wissenschaftlichen Moden und bevorzugten Diskursen sprechen, die selber Produkt ihrer Zeit sind. Manches spricht dafür, dass das zeitgenössische, nicht nur religionsästhetische, Interesse an sinnlicher Wahrnehmung, Körper und materieller Kultur bzw. „materieller Religion“ (material religion) korrelativ zu Säkularisierung, Eventkultur, Ästhetisierung und der Körperzentriertheit moderner Spiritualität ‚gelesen‘ werden könnte. Dass jetzt auch Imagination in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt ist, hat vorerst lediglich subjektive Gründe – der Anstoß waren Forschungsprojekte der beiden Herausgeberinnen zu pen-and-paper-Rollenspielen und tantrischer Visualisationslitera-

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tur. Vielleicht ist das erneute Interesse auch am Geist mit wissenschaftlichen Pendelbewegungen erklärbar, doch ist es freilich nicht der ‚reine Geist‘, sondern ein holistischeres Modell von Körper und Geist, sinnlicher Wahrnehmung und Imagination, das in diesem Band vertreten wird. Die Frage nach der gesellschaftlichen Einordnung wird erst relevant, wenn sich ‚Imagination‘ als Grundbegriff und critical term der Religionswissenschaft tatsächlich durchsetzt auch über diesen Band hinaus. Es ist nicht auszuschließen, dass moderne Subjektivierung von Religion und Säkularisierung (womöglich gar ein spätromantischer Impetus? neben einem aufklärerischen?) den Ermöglichungsgrund abgegeben haben, intensiviert über Imagination nachzudenken. Wie immer man das einordnen möchte – einstweilen genügt es festzustellen, dass die Autoren/-innen Imagination, Imaginieren und das Imaginäre wie auch das Sprechen über sie in diesem Band als menschliches Vermögen, das geschichtlich und sozio-kulturell determiniert wird, verstanden wissen wollen, und wir schließen davon die imaginativen Anteile der Religionsgeschichtsschreibung – einschließlich unserer eigenen – nicht aus. 2. Einige Ergebnisse im religionsgeschichtlichen Vergleich Dank des Verfahrens gemeinsamer systematischer Einführungen in die vier Teile des Bandes und der den Einzelbeiträgen vorangestellten abstracts können sich Leser relativ schnell einen fundierten Überblick über die Inhalte des Bandes verschaffen. Auf eine inhaltliche Vorstellung der Einzelartikel kann deshalb verzichtet werden. Relevant scheint jedoch der Hinweis, dass nicht nur die Themenbereiche der vier Teile – Imaginationstechniken, räume, -politiken und -geschichte – eng verzahnt sind. Vielmehr zeigen sich auch auf Ebene der Einzelbeiträge, trotz des sehr varianten Materials, das zur Bearbeitung unter religionsästhetisch-imaginationstheoretischer Perspektive herangezogen wurde, immer wieder interessante Parallelen und Anknüpfungspunkte zwischen den einzelnen Artikeln, von denen wir besonders auffällige im Fließtext mit Querverweisen markiert haben. Es handelt sich um markante Strukturanalogien, teilweise gar inhaltliche Homologien, die religionskomparatistisch von Interesse sind. Längst nicht alle Verbindungslinien wurden jedoch durch Querverweise markiert. Zum Abschluss sollen deshalb die Bezüge noch etwas breiter aufgearbeitet werden: Sie zeigen sich auf Ebene von interessanten Details, auf Ebene ganzer Themencluster und Topoi und schließlich auch auf Ebene bandübergreifender Ergebnisse.

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Unsere Leser mögen noch weitere Querverbindungen entdecken. Für einige unter ihnen – etwa Studierende der Religionswissenschaft und generell religionsbezogene Forschungen – könnte es ebenso spannend sein, wie im Band trotz der Parallelen ganz unterschiedliche Theorieentwürfe fruchtbar gemacht und weiterentwickelt werden, um die religionshistorischen Beispiele auf einer abstrakteren Ebene zu reflektieren. Diese Entwürfe sind selbst wiederum übertragbar auf ganz andere Inhalte, die weit über die Parallelen hinausgehen. Auch die folgenden Beispiele sind sowohl von systematisch-religionsvergleichendem wie auch theoretisch-analytischem Interesse. 2.1. Detailbezogene Parallelen und Verbindungslinien Ein interessanter Aspekt, der in bisherigen Imaginationstheorien geringe Beachtung fand und alles andere als evident für unser alltäglich-intuitives Imaginationsverständnis ist, ist der Zusammenhang von Ethik, Ästhetik und Imagination, der in mehreren Artikeln dieses Bandes zum Vorschein kommt. Dieser Aspekt verbindet Katja Riecks Beitrag zum Unabhängigkeitskampf in Indien mit dem ansonsten inhaltlich wie theoretisch so unterschiedlichen Artikel von Sebastian Schüler zu den Gebetspraktiken evangelikaler Christen. Riecks Artikel hat aber auch einen deutlichen Querbezug zu dem von Alexandra Grieser über Hubble Space-Fotografien und deren Manipulation und ästhetische Wirkung, da im bearbeiteten Material beider Autorinnen die Romantik eine maßgebliche Rolle spielt in ganz unterschiedlichen rezeptionsästhetischen Varianten. Für die neuere Geschichte der Imagination hat die Romantik – in ihrer Ausstrahlung sogar über Europa hinaus – eine offensichtlich große Rolle gespielt, aber auch das moderne Wissenschaftsverständnis. Wechselwirkungen im Sinne von Verflechtungsgeschichten (entangled histories) zwischen Asien und Europa seit dem späten 19. Jahrhundert finden sich nicht nur bei Rieck, sondern auch in Adrian Hermanns Beitrag. Hier ist es die Übernahme des wissenschaftlichen Weltbilds durch Buddhisten (aber nicht die Annahme des Christentums, wie sich die Missionare erhofften) aufgrund des ‚besseren Arguments‘ moderner Kartographie gegenüber buddhistisch-‚mythischer‘ Topographie. Import und Export von imaginaires, Medien und Praktiken der Imagination zwischen Asien und Europa funktionierten natürlich auch in die umgekehrte Richtung, gerade im religiösen Bereich. Dies erklärt die inhaltlichen Querverbindungen in rituellen Praktiken zu den Körpercakras, die sich bei Anne Koch (zu alternativen Heilriten) und Annette Wilke (zu tantrischen Riten) feststellen lassen.

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Während sich bei Koch und Wilke gewisse Parallelen mit komplexen Diffusionsprozessen erklären lassen (u. a. über die Vermittlungsinstanz der Theosophen und New-Thought-Bewegung) gibt es strukturelle Querbezüge in den Techniken der Imagination über den so genannten Buchteil hinaus, v. a. mit Lucia Traut (zu den jesuitischen Exerzitien). Die drei Artikel (Koch, Traut, Wilke) stellen Beispiele aus ganz unterschiedlichen religiösen, sozio-kulturellen und historischen Kontexten vor, worin sehr bewusst und strategisch von der Imagination und ihrer Fähigkeit einer Umpolung der Aufmerksamkeitslenkung Gebrauch gemacht wird – freilich mit vollkommen varianten Zielen (die auch tatsächlich erreicht werden). Solche Techniken, die Transformation herbeizuführen suchen, haben immer auch etwas mit Politiken, Interessengruppen und Machtstrukturen und der Veränderung solcher Strukturen zu tun. Wenn Traut dies am jesuitischen Diskurs explizit verdeutlicht, hätten Koch und Wilke dies ähnlich auch an der modernen Therapieszene, respektive am tantrischen Diskurs aufzeigen bzw. detaillierter ausführen können. Was in allen Artikeln des Bandes sehr deutlich wird, ist die maßgebliche Rolle, die Imagination in Identitätspolitiken spielt – denen von Individuen, Gruppen und größeren Kollektiven. Dies beginnt damit, welche Imaginationen erlaubt und welche unerlaubt sind oder was als auszugrenzend oder gar dämonisch und was als göttlich und segensvoll erachtet bzw. imaginiert wird. Lebendige Gottheiten (Brigitte Luchesi), Besessenheit (Katharina Wilkens) oder Hexen (Jens Kugele) sind hier lediglich die offensichtlichsten Beispiele in diesem Band. Ein weiterer gemeinsamer Aspekt und vielleicht der wichtigste, der alle Artikel verbindet – nicht nur jener des betreffenden Themenfeldes ‚Raum/Räume‘ – ist die Erschaffung spezifischer Imaginationsräume über bestimmte ästhetische Konfigurationen, Ensembles, Inszenierungen und Medien – ob es sich nun um Landschaften und Architektur handelt, die mit besonderer Sakralität belegt werden (Isabel Laack) oder um Medien im mehr klassischen Sinne wie etwa bebilderte Hagiographien (Katja Triplett). Dass sich Medienwandel (z. B. in der Kartographie oder mit der Entdeckung der Fotografie) oft auch unmittelbar auf einen Wandel der Imaginationen auswirkt, zeigen in unterschiedlichen kulturellen und wissenschaftlichen Kontexten Adrian Hermann und Jens Kreinath. 2.2. Themen – Topoi – Typen Die Fallbeispiele sind von beachtlicher Bandbreite und thematisch immer auf spezifische Fragestellungen zugespitzt. Dies reicht von aufschlussreichen historischen Themen bis hin zur gegenwärtigen Vielfalt religiöser Optionen. Dabei ergeben sich aber dennoch interessante thematische Clus-

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ter, die quer zu den systematischen Themengebieten/Teilen im Band liegen und somit auch eine andere, mehr inhaltlich ausgerichtete Sortierung des Materials erlaubt hätten oder auch eine andere Gruppierung innerhalb der vorhandenen vier Teile. Ein solcher Themenkomplex sind Perfektionsideale und teilweise analoge imaginative Praktiken („Imaginationstechniken“), die eine Selbsttransformation herbeiführen sollen, in unterschiedlichen religiösen und kulturellen Kontexten: in Bildmeditationen und Ikonoklasmus bei Hōnen (Reine Land-Buddhismus) in Japan im 14. Jahrhundert (Triplett), in tantrischen Riten, Visualisationen und Mantrapraktiken in Indien im 16. Jahrhundert (Wilke) und in den Exerzitien des Ignatius von Loyola in Europa/Spanien im 16. Jahrhundert (Traut). Von Interesse ist bei diesen strukturellen Parallelen, die noch besser komparatistisch ausgewertet werden könnten, dass Hōnen wie Ignatius zuerst als häresieverdächtig galten und die von Wilke besprochene Kaula-tantrische Tradition ihren Häresiestempel nie ganz verlor bzw. dieser eher zunahm. Dies berührt das wichtige Thema der Diskrepanz zwischen den Imaginationen von Insidern und Outsidern und von Sakralisierungen und Dämonisierungen desselben Gegenstands und derselben Personen. Imagination und Imaginieren betreffen nicht nur Techniken der Selbstkultivierung und Selbstvervollkommnung, die in allen drei oben genannten Fällen zugleich starke gemeinschaftsbildende Funktionen haben, indem sie teils an kulturelle imaginaires anschlossen, teils Neues einführten und dadurch selbst neue, kollektiv wirksame Vorstellungskomplexe des Imaginären prägten, die Langzeitwirkung entfalten sollten. Die Macht der Imagination und des Imaginierens betrifft aber ebenso longue-durée-Phänomene von othering, Stigmatisierung und Verteufelung, von Gewalt, Tortur und Verfolgung, wie dies am „Hexenwahn“ in Europa deutlich wird (Kugele), der vom 15.–17. Jh. einen traurigen Höhepunkt erreichte, aber mit dem „böse Hexe“-Bild noch bei Walt Disney weiterwirkt. Der Artikel von Jens Kugele bearbeitet historische Verschiebungen im Hexen-imaginaire und stellt in Bild und Text ein Fallbeispiel aus dem 17. Jh. ins Zentrum, das verdeutlicht, dass für die inhumanen Praktiken der Verfolgung, Folter und Hinrichtung der „Hexen“ bereits ein kleines Muttermal als Beweis ihrer Schuld reichte (das sinnliche imaginaire des „Hexenmals“ und die „Nadelprobe“) und der ‚Nachweis‘ auch eine populäre öffentliche Inszenierung war. Das Beispiel zeigt aber ebenso, dass das Hexenbild diskursiv verhandelt und von manchem Zeitgenossen öffentlich beklagt und kritisiert wurde, sodass es geradezu zu Umkehrungen „der falschen Zauberer-Richter“ und „frommen Unschuldigen“ kommen konnte.

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Ein weiterer Themenkomplex sind die tiefgreifenden politischen, soziokulturellen und religiösen Veränderungen in der Kolonialzeit in unterschiedlichen geographischen Räumen und sehr unterschiedliche imaginative Formen von Widerstand und Positionierungen gegenüber positivistischer Wissenschaft bei indischen Reformern (Rieck) und im buddhistischen Modernismus (Hermann) im späten 19. und frühen 20. Jh., während die Quellen zur zeitlich und politisch analogen Situation in Australien die Einheimischen zu ‚Primitiven‘ und passiven Subjekten – ohne eigene Stimme – ihrer europäischen Beobachter und deren unterschiedliche ‚Imaginationen‘ machen (Kreinath). Ein weiterer größerer Themencluster schließlich wären die unterschiedlichen Formen religiöser Gegenwartskultur gewesen, die im Band diskutiert werden: von evangelikalen Milieus (Schüler) bis zu alternativer Spiritualität (Laack) und Therapeutik (Koch) und von der Verlängerung romantischer religiöser Muster und Bildprogramme in Sternennebel-Hubble SpaceFotografien (Grieser) bis zu Geister(-Besessenheits)-Tänzen und Exorzismen bei Muslimen und Christen in Ostafrika (Wilkens) und hinduistischen Götterspielen in Nordindien, in denen kleine Jungen zur Verkörperung von Göttern werden (Luchesi). Man sieht schon an diesem knappen Überblick, dass es (unabgesprochen) thematische, zeitliche und räumliche Analogien gibt, die noch weitere Vergleiche, als dies hier geschieht, zuließen. Ebenfalls wird deutlich, dass der Konnex Religion-Imagination-Ästhetik auf mehreren Ebenen und in vielen Feldern/Kultursegmenten wirksam ist: im Individuellen wie im Kollektiven, in religiösen Riten wie in der Wissenschaft, in der Kunst wie in der Politik. Wiederkehrende Themen und Topoi im Sinne gemeinsamer Strukturelemente sind neben den schon genannten spirituellen Heiligkeits- und Perfektionsidealen auch Ideale spezifisch moralischer Gemeinschaft (Schüler, Rieck, Traut) und generell die identitäts- und gemeinschaftsbildende Funktion von Imagination (Koch, Laack, Luchesi, Triplett, Wilke, Wilkens, aber auch Hermann, Grieser, Kreinath, Kugele). Die persönliche und kollektive Sozialisierung geschieht durch körperzentrierte, ansozialisierte Kulturtechniken und Techniken des Selbst (Luchesi, Wilke, Wilkens), imaginative raumzentrierte Ausdrucksformen in realen Landschaften und virtuellen Räumen (Grieser, Hermann, Koch, Laack, Schüler, Wilke), Bilder und Stereotypisierungen des Eigenen und ‚Anderen‘ (Kreinath, Kugele, Rieck, aber auch Traut, Triplett, Wilkens) und imaginativer Habitualisierung durch rituelle Wiederholung (Koch, Luchesi, Schüler, Wilke, Wilkens, aber auch Grieser, Laack, Kreinath, Kugele, Triplett). Deutlich werden aber zugleich die Vielfalt und Ambiguität der Ausgestaltungs- und Deutungsmöglichkei-

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ten derselben Diskurse und Praktiken (Hermann, Kreinath, Kugele, Wilkens, aber auch Rieck, Triplett, Wilke). Zum imaginativen Haushalt von Personen und Kollektivitäten gehört das Phantastische und Außerordentliche (Grieser, Kugele, Laack, Triplett, Wilke, Wilkens, aber auch Luchesi und Schüler,), jedoch ebenso die Banalität und Reproduzierbarkeit (Grieser, Luchesi). Ästhetisch umgesetzte Imagination besitzt kreative, innovative und transformative Potenziale (Hermann, Koch, Rieck, Schüler, Traut, Triplett, Wilke), aber auch Funktionen der Disziplinierung, Manipulation und Stabilisierung (Grieser, Hermann, Koch, Kreinath, Luchesi, Schüler, Traut, Triplett, Wilke). In mehreren Beiträgen werden suggestive und manipulative Verfahren sehr deutlich (Grieser, Koch, Kreinath, Kugele, Traut, aber auch Hermann, Luchesi, Triplett, Wilke, Wilkens). In der Moderne werden die Spannungsfelder von Religion und Wissenschaft auf vielerlei Weise akut (Grieser, Hermann, Kreinath, Rieck). Diese Themen und Topoi könnten die Basis liefern für einen ersten Entwurf religionswissenschaftlicher Typenbildung und Topik zum Imaginationsbegriff. Eine auf Imaginationstechniken im Tantra konzentrierte Typologie wurde von Annette Wilke (S. 179f.) vorgeschlagen mit Fokus auf Techniken und Wirkungen („Eine Typologie der Performativität aktiver Imagination im PKS“). Eine wichtige Frage im Zusammenbringen von Religionsästhetik und Imaginationstheorie ist die nach der Rolle aller Sinne versus Visualität und Bild. Der Band zeigt, dass das Vorherrschen des Bildhaften und Visuellen – äußere und mentale Bilder, außengerichtete und innere Visualität – in gängigen Imaginationstheorien zwar eine gewisse Berechtigung hat, zugleich aber deutlich zu eingeschränkt ist. In den meisten Beiträgen sind bildgebende Verfahren und bildhafte Imagination zwar die Regel (Hermann, Grieser, Koch, Kreinath, Kugele, Laack, Luchesi, Triplett, Schüler, Wilke), aber diese stehen z. T. nicht im Mittelpunkt oder werden maßgeblich ergänzt durch Körperpositionen/Gesten, Sprache/Text, Klänge, Riten und Prozessionen, Gebete und Raumgestaltungen (Koch, Luchesi, Traut, Triplett, Schüler, Wilke). Sprachliche Verfahren können kulturüberschreitend wichtiger als Bilder sein, aber der Fokus auf Semantik und Klang kann stark variieren (Traut, Wilke). In einem Artikel spielt traditionelles Handwerk und der Imaginationsbegriff selbst7 eine herausragende Rolle für das emotionale und ästhetische Empfinden von Gemeinschaft (Rieck), in einem anderen sind es Landschaft und Bauwerke (Laack), wiederum in einem anderen das —————

7 Hier sind die indischen Kolonialismuskritiker von der deutschen und englischen Romantik inspiriert. Vgl. für ähnliche Gedanken wie bei Rieck auch Grieser, S. 460f.

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Verschmelzen von Gebet und selbstinszenierten Raum-Ensembles (Schüler). In manchen Fällen sind definitiv andere Medien als Bilder die vorherrschenden, z. B. Körperbewegungen, Tanz und Ritual (Wilkens). Man sieht, dass der Bildbegriff zu eng ist, all diese Varianten zu fassen8. Während Wilkens ihre Beispiele von Geistertanz, Besessenheit und Trance als „inkorporierte Imagination“ klassifiziert, werden in Riecks Beispiel von indischer Kolonialismuskritik Ende des 19. Jahrhunderts Imagination und Ästhetik selbst zum Mittel des Protests und Widerstands gegen den wissenschaftlichen Rationalismus und das utilitaristische Fortschrittsdenken der Briten. Traditionelles Handwerk, schöne Stoffe, Götterbronzen etc. werden zum Ausdruck eines affektiven ästhetischen und moralischen Empfindens von Gemeinschaft. Sind es bei Wilkens Tanz und Trommeln, die in körperliche Trance versetzen, ist es bei Rieck die von indischen Reformern betonte schöpferische Kraft der Imagination und das ästhetische Empfinden über die einmaligen kulturellen und religiösen Formen Indiens, die über den Alltag hinausheben. Ähnlich innerlich ist nur noch Alexandra Griesers Beispiel vom Sternenhimmel und Unendlichkeitsempfinden, aber auch dieses Empfinden wird durch konkrete Bilder stimuliert (romantische Malerei, technisch manipulierte Hubble Space-Fotografien, Buchcovers). Strukturanaloge Kombinationen von Innerlichkeit und sinnlicher Wahrnehmung, von Abstraktion und Konkretion finden sich in Katja Tripletts buddhistischem und Annette Wilkes hindu-tantrischem Beispiel, aber auch bei Lucia Traut. Körper und Geist fließen in Konzeptionen wie den Körper-Cakras zusammen (Koch, Wilke). Zumeist drückt sich religiöse Imagination sehr konkret aus: in Körpermalen und -gesten, Bemalungen, Schminke, Kleidung oder Nacktheit, Tanzbewegungen, Trommeln, Riten, Pilgerrouten, Gebäuden, Bildern, Karten und Globen, Rauminstallationen, Dekorationen, schönen Stoffen, Fotografien. Sie alle sind ‚Sprungbrett‘, in andere Welten abzuheben, sich über den Alltag zu erheben oder ihn umzucodieren, Personen und Gegenstände zu transformieren, Körpergrenzen zu sprengen, Heil und Heilung hervorzurufen. Welten gibt es viele, zumeist erwünschte und ersehnte (zuweilen auch unerwünschte): Welten des unendlichen Raums (Grieser), der Vollkommenheit und übernatürlichen Kräfte (Triplett, Wilke), der übersinnlichen Erfahrungen (Laack), der Heilung und Trance (Koch, Wilkens), der Wunder und Visionen (Schüler, Triplett, s. auch Laack und Wilke), der weltumspannenden oder nationalen (moralischen und affektiven) Gemeinschaft (Laack, Schüler, Rieck), der Götter (Luchesi), der Geister (Wilkens), —————

8 Die Integration aller Sinne in den Imaginationsbegriff fand sich schon bei Johann Gottfried Herder, allerdings stark normativ kodiert (vgl. Grieser, S. 453).

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der Astralkörper und des Christuslichts (Koch), der ritterlichen Soldaten Christi (Traut, s. auch Schüler), der Hexen (Kugele), der ‚Wilden‘ (Kreinath) oder der wissenschaftlichen Rationalität (Hermann). Stimuli und Praktiken, um dorthin zu gelangen oder einen „imaginativen Modus“ (Koch) des Erlebens einzunehmen, sind nicht nur Riten, Musik und suggestive sinnliche Ensembles bzw. natürliche und artifizielle physischmaterielle Umwelten, sondern wesentlich auch diverse Manipulationen und Umpolungen: des eigenen Geistes (durch Meditationen, Rezitationen, Gebete, Visualisationen), des Körpers (durch Tanz, Bewegungen oder Stillstellen der Bewegung, durch bestimmte Gesten, Berührungen, Fasten etc.), konkreter Orte (durch Erzählungen, Prozessionen, Raumdekorationen, Lichtquellen etc.), der Texte/Mythen (wenn sie z. B. dem wissenschaftlichen Weltbild der Karten und Globen nicht mehr entsprechen), der Bilder bzw. Fotos (um durch archaische Rituale und Nacktheit die Aranda ‚primitiv‘ erscheinen zu lassen; technische Manipulation von Bildern des Weltalls zu farbigen Sternennebel, um im Betrachter Überwältigung und Faszination hervorzurufen) etc. 2.3. Bandübergreifende Ergebnisse Neben vielfältigen Parallelen, die oben aufgelistet wurden, hat sich zugleich gezeigt, wie divers die Beiträge sind. Die Klammer, die Querverbindungen und Diversität zusammenhält, ist ein religionsästhetischer Fokus und das grundlegende Axiom „Keine Religion ohne Imagination“. Was in sämtlichen Beiträgen deutlich wird, sind Grundfunktionen der Imagination: zu repräsentieren und zu verknüpfen, Nichtpräsentes präsent zu machen, in andere Welten einzutauchen, Dinge und Menschen mit neuer Bedeutung auszustatten, Affekte hervorzurufen. Imagination ist deshalb für religiöse Sinnerzeugung und die subjektive wie kollektive Aneignung und Interiorisierung von Religion geradezu lebensnotwendig. Wichtig für den Band ist, dass ‚Imagination‘ als critical term subjektive und kollektive Identität nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu erklären vermag. Das geistige Vermögen, imaginativ Welten zu erschaffen und zu modellieren und vollständig in die religiöse Wirklichkeit‘ überzuwechseln und/oder sie mit dem Alltag zu verschmelzen, ist nicht nur die subjektive Fähigkeit einiger religiöser Virtuosen, sondern eignet potentiell allen Menschen und vermag deshalb auch, ganze Kollektive über Zeiten und Räume hinweg zu verbinden. Werden Imaginationen und Imaginieren kollektiv geteilt und gerinnen zum intersubjektiv wirksamen ‚Imaginären‘, wie dies bei religiösen Vorstellungswelten der Fall ist, haben sie eine große Macht, Gemeinschaft und normative Ordnungen zu schaffen. Diese Grundfunktionen verbinden sich mit materiellen

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Architekturen und sensuellen Stimuli als ‚Imaginationsverstärker‘ und ‚-auslöser‘. Die religionsästhetische Perspektive ist deshalb beim Thema Imagination von zentraler Bedeutung. Umgekehrt kann Imagination als Brückenkategorie gesehen werden zur religionsästhetischen Frage nach dem Verhältnis von Wahrnehmung, Medien und Semiotik/Semiose, denn sie liefert das Erklärungsmodell für die Wechselseitigkeit dieser drei Domänen. Mehr ins Detail gehend sind folgende bandübergreifende Ergebnisse für die Religionsästhetik besonders relevant, was Wahrnehmung, Medien, Semioseprozesse und ihre Verknüpfungen betrifft, und ertragreich auch für die Religionswissenschaft insgesamt und die fächerübergreifende Imaginationsforschung: 1)

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Imagination hat zwar – wie schon die etymologische Ableitung von imago zeigt – ein besondere Affinität zur Visualität: konkreten Bildern, Ikonologien und Bildprogrammen, inneren Bildern, ‚innerem Sehen‘, mentalen Landkarten, kollektiven Vorstellungswelten. Imagination nur auf Visualität einzuengen, wäre allerdings zu kurz gegriffen. Der religionsästhetische Ansatz macht sehr deutlich: Alle sinnlichen Wahrnehmungsformen sind einzubeziehen – und letztlich ist jeder Akt der Wahrnehmung imaginativ mit Bedeutung überformt. Gerade bei sinnlichen Wahrnehmungsräumen von Religion wird dies besonders deutlich, denn nichts in der Welt ist ‚an sich‘ religiös oder sakral, aber alles kann durch imaginative Akte der Bedeutungszuschreibung dazu werden. In diese Wahrnehmungen fließen präformierte religiöse Vorstellungswelten und ansozialisierte Seh- und Hörgewohnheiten etc. ein, doch sind neben bekannten Schemata und ‚traditionsbewusster Phantasie‘ auch Neucodierungen und Neukompositionen möglich, die wiederum neue imaginative Vorgaben bereit stellen, die multisensorischen Stimuli der Außenwelt in einen sakralen Kosmos einzuordnen oder bestimmte Sinneswahrnehmungen als ‚sakral‘, ‚herausragend‘, ‚überwältigend‘, ‚besonders energiegeladen‘ etc. zu selektieren. Was sich in allen Beiträgen ebenfalls zeigt, ist die Wichtigkeit von Medien (technische, natürliche, künstlerische etc.) als sinnlich rezipierbare Imaginationshilfen und als Vehikel, Imaginationen öffentlich zu machen. Medien fungieren als expressive Mittel der Darstellung wie auch der Erzeugung imaginativen Wissens, das emotional einbindet, bestimmte ‚Sehweisen‘ antrainiert und das kulturelle Gedächtnis prägt. Medienwandel kann zu veränderten oder neuen Sehweisen füh-

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Schlussreflexionen – Ergebnisse des Bandes

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ren. Die Medien der Imagination hätten einen eigenen Teil verdient9 – sowohl was die technischen Medien als auch was die Medialisierung durch ästhetische Formationen“ betrifft: sinnliche Architekturen, expressive ‚imaginative Objekte‘, suggestive Beschreibungen etc., die ein Zusammenfließen von Virtualität und Realität stimulieren. Auch religiöse Praktiken sind mediale Formen. Sie sind zugleich sozial erlernte Prozesse des Imaginierens. Kulturwissenschaftlich gesehen haben religiöse Praktiken die Funktion von gemeinschafts- und identitätsstiftenden Kulturtechniken und Technologien des Selbst, in denen imaginativ alltägliche Gegenstände zu etwas anderem werden. Man mag ein Gebet zwar gedankenlos sprechen und ein religiöses Ritual durchführen, ohne seine Bedeutung zu kennen oder für wichtig zu halten, doch ist imaginativ immer habitualisiertes Wissen gegeben, dass es eine andere Welt ist als die Alltagswelt. Kognitiv-affektive Verstärker solch mitlaufender bewusster und unbewusster Semioseprozesse sind rituelle Gesamtensembles (von Gesten, Bewegungsabläufen verbalen Handlungen und oft sehr aufwändigen ästhetischsinnlichen Arrangements), die auf mehreren Ebenen wirken (sinnlich, körperlich, mental, emotional) und performativ an der rituellen Effizienz wesentlich beteiligt sind. Doch könnten sie diese nicht erreichen ohne den imaginativen Akt des Überwechselns, Verknüpfens und Umcodierens. Die Beiträge des Bandes zeigen, wie stark rituelle Wirksamkeit und persönliche Transformation nicht nur mit Praktiken und Techniken, sondern auch mit Imagination zu tun haben, sodass sich sogar die These aufstellen ließe: Keine Transformation (im Individuum wie im Kollektiv) ohne Imagination. Die Langzeitwirkung und Stabilität bestimmter imaginierter Schemata bestimmen das kulturelle Gedächtnis oder öffentliche, kollektive Imaginäre, doch unterliegt auch dieses geschichtlichen Wandlungsprozessen und sozialen Verhandlungen. Die im Band versammelten Artikel sind kleine Geschichtsschreibungen des Imaginären in unterschiedlichen zeitlichen und räumlichen Kontexten und viele haben auch Wandlungsprozesse zum Thema. Eine wichtige Einsicht, die im Band exemplarisch belegt wird, ist, dass Imagination eine Scharnierfunktion für Stabilität und Wandel einnimmt. Es ist dieselbe Kraft der Imagination, die beides ermöglicht. Imagination ist sowohl für Konservierung verantwortlich, indem sie Dinge als common sense und – gerade

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9 Tatsächlich war noch in der zweiten Arbeitskreissitzung zunächst ein eigener Teil „Imaginationsmedien“ angedacht, doch ist dies bei unserem weiten Medienbegriff ein so umfassendes Thema, dass sich die geplanten Artikel sinnvoller in die vier vorliegenden Teile eingliedern ließen.

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religiöse Sachverhalte – als unveränderliche Realitäten und ewige Wahrheiten repräsentiert. Ihr eignet aber auch die widerständige und dynamisierende Potenz des Anders-Denken-Könnens und damit die Macht der kreativen Umgestaltung und Reform des Vorhandenen. In beiden Aspekten hat Imagination immer auch eine politische Dimension. Sie unterliegt gesellschaftlichen Machtverhältnissen, hat aber zugleich die Potenz, diese zu steuern, umzupolen und neu zu ordnen. Sozio-kultureller Wandel und transformierte Imaginationen und Imaginationsästhetiken bedingen sich wechselseitig. Der Konnex von Imagination und Ästhetik (sinnlichen Wahrnehmungsräumen) verbindet alle Artikel und entspricht auch anderen zeitgenössischen Imaginationstheorien. Kaum wurde jedoch an die Verbindung von Imagination und Ethik gedacht. Dieser Konnex verbindet zwar lange nicht alle Artikel, scheint aber mit der Codierungsform Religion zu tun zu haben, die in bisherigen Imaginationstheorien keine maßgebliche Rolle spielte. Typisch für religiöses Imaginieren ist das Spannungsfeld von Kreativität und Disziplinierung. Diese Beobachtung spielt auch in den vorausgehenden Punkten 1–4 eine wichtige Rolle und kommt in vielen Beiträgen des Bandes in unterschiedlichen Zusammenhängen zum Tragen.

Der Mehrwert, der mit Imagination als religiöser Schlüsselkategorie und critical term der Religionsästhetik und Religionswissenschaft eingeführt wird, liegt in der Füllung eines blinden Flecks in der bisherigen Religionsforschung, im analytischen Erklärungspotenzial und einer Vielzahl verknüpfender Funktionen, die der menschlichen Vorstellungskraft eignen. Die Worte ‚Brückenfunktion‘ und ‚Scharnierfunktion‘ sind gefallen; man kann auch von einem ‚dritten Raum‘ oder von einer ‚Schnittstelle‘ sprechen. Imagination verschmilzt nicht nur Innen- und Außenwelt, sondern verknüpft – gerade in den Religionen – auch Individuum und Kollektiv, das innerliche und öffentliche Imaginäre, persönliches Erleben und kollektives Empfinden. Vielleicht stellt sich beim einen oder anderen Leser in der Beschäftigung mit Imagination und Imaginationstheorien eine ähnliche Entdeckerfreude und Bereicherung für das eigene Arbeiten ein wie bei Autorinnen und Autoren dieses Bandes. Isabel Laack beispielsweise fand in der vertieften Beschäftigung mit ‚Imagination‘ ein besseres Verständnis und Erklärungsmuster (als die bisher präferierten Diskurstheorien) für die von ihr beobachteten Bildung einer „neuen kollektiven Identität“ rund um den südenglischen Ort Glastonbury. Ihre Ausführungen dazu thematisieren einen Mehrwert des critical terms ‚Imagination‘ (wenn auch nicht den einzigen), der in anderen

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Schlussreflexionen – Ergebnisse des Bandes

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Beiträgen ebenfalls deutlich wird, da hier eine ‚Schnittstelle‘ gefunden war zwischen Sinnlichkeit und Kognition, Somatik und Semiotik, individueller Erfahrung und kollektivem Interpretationsrahmen, Gegenwart und Vergangenheit (kulturellem Gedächtnis), persönlicher und kollektiver Identitätsbildung. Imagination war (nicht nur in diesem Fallbeispiel) das Scharnier, das die Bedeutung sowohl individueller Kreativität und Einbildungskraft in der Generierung religiöser Erfahrung (z. B. Glastonbury als stimulierender „Kraftort“ besonderer sinnlicher und übersinnlicher Erfahrungen) als auch den kollektiven Interpretationsrahmen und kulturelle Deutungen (z.B. Glastonbury als uraltes spirituelles Zentrum) zugleich ins Auge fassen ließ. Imagination konnte beides erklären, sowohl die individuellen Vorstellungen wie auch die kollektive Identitätsbildung, denn mit der Imagination war der wechselseitige Konnex zwischen individueller Phantasie/persönlicher Erfahrung und kulturellem Symbolsystem/kollektivem Empfinden gefunden. Diesen Konnex und die weiteren oben angesprochenen Verknüpfungen noch besser zu bedenken und zu überprüfen ist ein Feld für zukünftige Forschungen. Bereits in diesem Band wird jedoch deutlich, dass viele der Grundfragen, die sich mit dem Themenfeld ‚Imagination‘ verbinden, auch zu Religionen stellen ließen. Es sind diese Grundfragen, die Imagination, Imaginieren und die kollektiven imaginaires besonders relevant für die systematische Religionswissenschaft machen. Sie umreißen große Spannungsbögen10: In welchem Verhältnis stehen Individuum und Kollektiv? – Alltagswelt und religiöse Welt? – alltägliche Wahrnehmung und außerordentliche Erfahrung? – konservativ-normierende und innovative, transformierende Qualitäten? – intentional eingesetzte Imagination(stechnik) und ‚automatisierte‘, habitualisierte, gleichsam unbewusst ablaufende Imagination? – Kontinuität und Wandel religiöser Vorstellungswelten? – Sinneswahrnehmung und Bedeutungskonstitution? – Forscher und Feld? Der Band leistet Beiträge zur Bearbeitung dieser Fragen und will zur weiteren fachwissenschaftlichen und fachübergreifenden Diskussion anregen. In notwendiger Selbstbescheidung muss eingeräumt werden, dass mit dem Band lediglich ein Anfang gemacht wurde, ein in der Religionswissenschaft bislang wenig exploriertes Feld aufzuarbeiten. Zwar wurde relativ umfassend ein erster Schritt zur Etablierung der ‚Imagination‘ als critical term gemacht. Doch ist das Thema nicht erschöpft. Kontexte außerhalb Europas müssten noch breiter untersucht werden.

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Dieser Fragekatalog wurde von Alexandra Griesers Beitrag, S. 456f., angeregt.

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Farbtafeln

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Farbtafeln

Farbtafel 1: Dieser Junge verkörperte 2010 während der Holi-Feierlichkeiten im nordindischen Andreta den Sonnengott Surya. Auf ein hohes Gestell gebunden blickte er durch einen Ring, der Sonnenstrahlen vorstellen sollte, reglos auf die vorbeidefilierenden Betrachter hinunter. In den Händen hielt er Keule (gada) und Rad (cakra), beides herkömmliche Embleme Suryas (© B.L.).

Farbtafel 2: Jugendliche Darsteller, die in lebenden Bildern (Jhanki) mit religiösem Inhalt mitwirken, dürfen sich im nordindischen Kangratal nicht selbst herrichten. Sie werden von Älteren geschminkt und eingekleidet und müssen sich widerstandslos deren Anweisungen fügen. Der Junge im Vordergrund repräsentierte 2010 am ersten Tag der Jhanki-Vorführungen in Andreta die Große Göttin (vgl. die folgende Farbtafel 3) (© B.L.).

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Farbtafeln

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Farbtafel 3: Tragegestell mit einem lebenden Bild, das die Große Göttin inmitten von vier Göttern thematisiert. Ganesa und der vierköpfige Brahma stehen rechts und links vor ihr, Visnu und Siva – hier nicht sichtbar – hinter ihr. Die Göttin ist mit Krone und in prächtiger rotgoldener Kleidung auf einem Löwen reitend dargestellt; in den Händen hält sie Schwert und Rad. Der vor dem Gestell stehende Brahmane Ravi Sharma vollzieht im Rahmen der einleitenden Verehrungshandlungen eine Lichtzeremonie (arati) mit einer Kampferflamme. Kurz darauf wurde das lebende Bild von Männern zum öffentlichen Festplatz von Andreta getragen. (25. 2. 2010) (© B.L.).

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Farbtafeln

Farbtafel 4: Das Bild visualisiert die glückselige Vereinigung des göttlichen Paares Siva-Sakti im Zentrum der Juweleninsel/des Ritualdiagramms Sricakra. Die erotische Konnotation der roten Farbe markiert die Göttin als Kamesvari und den Gott als Kamesvara, d. h. Siva und Sakti in Form leidenschaftlicher Liebenden. In der Verehrung wird das Bild zur Imaginationsvorlage mystischer unio.

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Farbtafeln

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Farbtafel 5: Kleiner Altar in einem „Boiler Room“ in Stanford-le-Hope, Essex, England. Boiler Rooms sind lokale Gemeinschaften, die bestimmte Werte und Praktiken teilen, wie gemeinsames Gebet, gemeinsame Mahlzeiten oder Gastfreundschaft. In Standford-le-Hope besitzt die Gemeinschaft ein eigenes Haus, in dem neben einer Küche und Gästeräumen auch ein dauerhafter Gebetsraum eingerichtet wurde. Dieser ‚Altar‘ befindet sich in dem Gebetsraum und zeigt einen Doppeldeckerbus in beschützenden Händen. Dieses Bild steht für Gottes Schutz über einem Sozialprojekt, in dem sich die Gemeinschaft engagiert. Das Projekt „Bar´n Bus“ ist ein mobiles Jugendzentrum in einem Doppeldeckerbus, der soziale Brennpunkte anfährt und Jugendlichen neben Gesellschaftsspielen auch die Möglichkeit für Gespräche und Gebet anbietet. Das Foto wurde im August 2010 aufgenommen (© Sebastian Schüler).

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Farbtafeln

Farbtafeln 6 und 7: Hōnen shōnin gyōjō ezu Szene 7.5 (Schaurichtung von 7 nach links zu 6): Hōnens begegnet dem chinesischen Mönch Shandao bzw. Zendō im Traum. Dies ist eine Schlüsselszene für die Legitimierung der von Hōnen geprägten Lehre. In der Hōnen-Hagiographie heißt es, dass der Heilige einen Maler damit beauftragte, das Traumbild zu malen. Dieses Portrait von Zendō sei als „Zendō im Traum“ weithin bekannt geworden. Es soll sich von dem in China gemalten ‚naturalistischen‘ Portrait, einem buddhistischen Kultbild, in nichts unterschieden haben. Die Szene 7.5 zu dieser Textpassage in der Bildrolle zeigt das Traumgesicht, „Zendō im Traum“, in einem narrativen Setting mit Hōnen rechts im Bild am Ufer eines stark strudelnden Gewässers, an dem bunte Wasservögel abgebildet sind, die meist in kleineren Gruppen umherfliegen und der Szene eine harmonische und gleichzeitig dynamische Atmosphäre verleihen. Die Gefilde sind von regenbogenfarbenen Wolken am oberen Rand gerahmt, welche zusätzlich den Traumcharakter der Szene akzentuieren. Aus den Wolken um Zendō strahlen silberne Lichtstrahlen auf den japanischen Mönch am anderen Ufer, die die Übertragung der Lehren aus China und deren Segenskraft symbolisieren sollen.

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Farbtafeln

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Farbtafel 7

Farbtafel 8: Hōnen shōnin gyōjō ezu Szene 8.3 (Ausschnitt; s. auch Triplett Abb. 12-14): Der Ausschnitt zeigt das Ende einer längeren Bildszene, die Hōnens Botschaft illustriert, dass allein das hingebungsvolle Sprechen des Namens des Amida Buddha Erlösung verheiße und die Bildpraxis mit äußeren Bildern überflüssig sei. Es handelt sich bei dem Abgebildeten um ein raikōzu, ein im Reine Land-Buddhismus in der Prägung Hōnens typisches „Bild des Kommen [Amidas] und Willkommenheißens [ins Reine Land]“.

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Farbtafeln

Farbtafel 9: Albert Bierstadt, Storm in the Rocky Mountains, Mt Rosalie, 1866; unten: Small Magellanic Cloud, NASA/ESA/ The Hubble Heritage Team (STScI/AURA)/Hubble Collaboration, 8. Januar 2007 (vgl. http://heritage.stsci.edu/2007/04/fast_facts.html). Zusammengestellt durch E. Kessler, so veröffentlicht in Barley, Shanta: „The artistic choices lurking within Hubble images“, Culture Lab, New Scientist 2010; http://www.newscientist.com/blogs/culturelab/2010/04/artisticchoices-hubble-images.html (08.08.2012). Die signifikante Ähnlichkeit zwischen der Bildgestaltung amerikanischer Landschaftsmalerei und den zugerichteten Weltraumbildern lässt besonders deutlich werden, wie Wissenschaftsbilder in kulturelle Semiosen einwirken und aufgenommen werden. Wie Kessler zeigt, sind Parallelen zu sehen zwischen der Eroberung des „Wilden Westen“ um 1850 und des „unendlichen Weltraums“ im ausgehenden 20. Jahrhundert. Die Ästhetisierung des vermeintlich unberührten Raumes lässt diese Eroberung als anziehendes Faszinosum und zu lösendes Geheimnis erscheinen.

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Farbtafeln

Farbtafel 10: Bei genauem Hinsehen geht die Gestaltung der wissenschaftlichen Bilder über Verschönerung oder auch Anpassung an menschliche Wahrnehmungsparameter wie Landschaft und Himmel, oben und unten, hinaus. Wie die Romantiker trennen auch die Gestalter der digitalen Bilder die Stimmung, die durch die Sinne erzeugt wird, vom Motiv und dessen Bedeutung, um dem „Gefühl“ eine neue Bedeutung beizufügen. Kommt die romantische Landschaft von der Defigurierung her, dem nebligen Verrauchen der Formen und dem sakralen Licht, so kommt die Spacescape von der Figurierung her, die dem Amorphen und Überdimensionalen menschlich erfassbare Gestalt gibt. Die ästhetische Konfiguration der romantischen Landschaft stellt ein interpretatives Konglomerat von Wissen, Emotionen und Ideologemen bereit, das in seiner je historischen Situation als imaginäres Repertoire neue Aufgaben übernimmt. Hier setzt die religionsgeschichtliche Bedeutung an, denn dieser Mechanismus erlaubt nicht nur eine Religion der individuellen Erfahrung ohne Dogma und Gott, sondern erlaubt vor allem, die ehemals als Konkurrenten der Religion aufgefassten Bereiche der Kunst und der Wissenschaft zum ästhetischen Material der „religösen Erfahrung“ zu wandeln.

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Farbtafel 11: Die romantisierte Ästhetik der HST Fotos wird kaum überblickbar variiert, kreativ und dekorativ weiterverarbeitet, und dient vor allem dem thematischen Nexus von Religion und Wissenschaft als assoziative Gestaltungsform. Das Verhältnis von Figuration zu Disfiguration stellt dabei das ästhetische Prinzip, sei es, dass die amorphen Nebulae zur Rahmung dekorativer Motive geformt werden (das Pferdemotiv und andere Variationen unter „Hubble Heritage Art“: http://heritage.stsci.edu/commonpages/art/visuals/index.html, no copyright restrictions) oder, dass dem Konferenzthema Buddhismus und Wissenschaft universelle Dimensionen unterlegt werden (Diamond Way Buddhist project; http://europe-center.org/blog/2010/10/21/7th-transmissionweekend-buddhism-science/, [25.08.2013]). Vor allem im Bereich popularisierter Wissenschaft, aber auch zunehmend im binnenwissenschaftlichen Design kommt die Identifizierung des Individuum mit dem Universum zum Tragen, hier auf dem Cover des Handbuches zur Wissenschaftskommunikation als Auge, das sich selbst im Zentrum der Nebel erkennen, mit Händen fassen und präsentieren kann, oder auf einem Vortragsplakat zur Eröffnung einer Bibliothek zum Thema Religion und Wissenschaft als ikonisch variiertes Spiel mit Michelangelos Erschaffung Adams, das an die Stelle des Menschen die digitale Ästhetik seiner wissenschaftlichen Bildtechnologie setzt (© private Fotografie). Das höchst einflussreiche Muster der Romantik, die Reflexion auf die menschlichen Konstruktionsbedinungen von „Welterzeugung“ auf eine Einheit von Individuum und Universum in der ästhetischen Erfahrung zurückzuführen, hat so Eingang gefunden in ein Feld, das den dominanten Sinngenerator Naturwissenschaft mit affektiven „Imaginationen des Nichtwissens“ umgibt und ihn zugleich als Zentrum der Aufklärung bestehen lässt.

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Angaben zu den Autoren Alexandra Grieser Dr. Alexandra Grieser ist Assistant Professor for the Theory of Religion am Trinity College in Dublin. Zuvor war sie als research associate an der Universität Groningen, Niederlande beschäftigt. Ihr Forschungsprojekt zur „Ästhetik des Wissens“ als komparativem Zugang zum Verhältnis von Religion und Wissenschaft konzentrierte sich vor allem auf die kulturelle Praxis wissenschaftlicher Bilder. Ausgebildet in Religionswissenschaft, Rhetorik und Deutscher Literatur in Tübingen und München, schrieb sie ihre Doktorarbeit über den Wandel religiöser Plausibilitätsmuster in der Moderne (Transformationen von Unsterblichkeit, 2008) und publizierte über Wissensproduktion in Museen (2011) und über Faszination als ästhetische Strategie in Religion und Wissenschaft (2009). Neben Theorie und Methode der Religionswissenschaft umfassen ihre Forschungsinteressen Wissensgeschichte, Wissenschaftsgeschichte, Europäische Religionsgeschichte und Religionsästhetik. Sie arbeitet an der Internationalisierung der Religionsästhetik und bereitet einen Sammelband zu „Aesthetics as a Connective Concept for the Study of Religion“ vor. Adrian Hermann Adrian Hermann ist Kultur- und Religionswissenschaftler. Er hat Religionswissenschaft, Theaterwissenschaft und Amerikanische Literaturwissenschaft sowie Soziologie in München, Bielefeld und Basel studiert. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der religionswissenschaftlichen Theoriebildung, der Außereuropäischen Christentumsgeschichte (bes. auf den Philippinen) sowie der Religionsgeschichte der globalisierten Welt. Seine 2011 an der Universität Basel eingereichte Dissertation befasst sich mit der Globalisierung des Religionsbegriffs mit besonderem Fokus auf buddhistische Kontexte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Seit September 2014 ist er als Stipendiat des Schweizer Nationalfonds als Visiting Scholar am Department of Philosophy and Religious Studies der Utrecht University und dem Department of Anthropology der Stanford University tätig. Weitere Informationen unter www.adrian-hermann.de.

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Angaben zu den Autoren

Anne Koch Dr. Anne Koch, Privatdozentin im Interfakultären Studiengang Religionswissenschaft, Universität München. Forschungen zu: Gegenwartsreligion in Europa und transcultural flows; alternatives Heilen, seine Wirksamkeit und Entwicklung in der Spätmoderne; Kulturökonomie und die Affektregulation von Schulden und Wohltätigkeit; globaler Yoga und kosmopolitische Spiritualität. Neben zahlreichen Lehraufträgen forschte sie 2012–14 als Fellow an mehreren Universitäten Tokios zu globaler Ökonomisierung anhand des dortigen anglophonen Yogas. Das Verstehen des Fremden (2002) entwirft eine Epistemologie des Fremdverstehens auf der Grundlage von Kognitionspsychologie und -philosophie, Körperwissen (2007) entwickelt Kategorien einer somatischen Religionsästhetik, Religionsökonomie (2014) führt in bisherige Arbeiten zu Religion und Wirtschaft und zentrale Analysekonzepte ein. Sie ist book review Editorin des Journal of Religion in Europe und in der Religion in Europe-Programmgruppe der American Academy of Religion. Jens Kreinath Dr. Jens Kreinath ist Professor für Kulturanthropologie an der Wichita State University. Seine wissenschaftsgeschichtlichen Forschungsinteressen liegen in der Formation religionswissenschaftlicher Grundbegriffe und der Etablierung religionsethnologischer Forschungsfelder. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Erforschung interreligiöser Dynamiken in der türkischen Provinz Hatay. Seit 2013 ist er Mitglied der interdisziplinären und internationalen Forschergruppe „Reassembling Democracy“ an der Universität Oslo. Er ist Mitherausgeber von Theorizing Rituals (Brill, 2006-2007) und Herausgeber von The Anthropology of Islam Reader (Routledge, 2012). Seine Veröffentlichungen beinhalten unter anderem: „Virtuality and Mimesis“ in Religion – Ritual – Theatre (Lang, 2009) und „Naven, Moebius Strip, and Random Fractal Dynamics“ in Journal of Ritual Studies (2012) sowie „The Dynamics of Virtual Seduction and the Veneration of Saints in Hatay“ in Astray: The Seductions of Pilgrimage (Palgrave, im Druck) und „Encountering Hizir and Elijah: Dreaming and Healing in the Alawi Traditions of Hatay“ in Anthropology of the Contemporary Middle East and Central Eurasia (im Druck).

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Angaben zu den Autoren

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Jens Kugele Jens Kugele, PhD, studierte Religionswissenschaft, Politikwissenschaft und Jüdische Geschichte an der LMU München. Nach abgeschlossenem Promotionsstudiengang an der Georgetown University in Washington DC arbeitete er von 2010 bis 2012 als wissenschaftlicher Mitarbeiter (Assistenz) am interdisziplinären Studiengang Religionswissenschaft, LMU München, und hat seit November 2012 eine Postdoc-Stelle inne am exzellenzgeförderten International Graduate Center for the Study of Culture (GCSC) in Gießen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Schnittpunkt der europäischen Literatur-, Kultur- und Religionsgeschichte, im Feld der Erinnerungstheorie, Raumtheorie und der deutsch-jüdischen Geschichte. Isabel Laack Dr. Isabel Laack studierte Religionswissenschaft, Ethnologie, Musikwissenschaft, Altamerikanistik und Ev. Theologie an den Universitäten Heidelberg und Bonn. Ihre religionswissenschaftliche Dissertation Religion und Musik in Glastonbury. Eine Fallstudie zu gegenwärtigen Formen religiöser Identitätsdiskurse (Vandenhoeck & Ruprecht 2011) wurde mit dem Dissertationspreis der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft ausgezeichnet. Derzeit arbeitet Laack im Rahmen eines Marie Curie International Outgoing Fellowship (European Research Agency) am Department of Anthropology der Harvard University (Cambridge, USA). Ihr dortiges Forschungsprojekt beschäftigt sich mit sinnlichen und materiellen Aspekten der piktorialen Schriften der Azteken und der sozialen Textpraxis im Rahmen mesoamerikanischer Religionen. Vgl. http://www.zegk.uni-heidelberg. de/religionswissenschaft/mesoamerica/index.html Brigitte Luchesi Brigitte Luchesi, Dipl. Soz. und PhD, studierte Soziologie in Frankfurt am Main sowie Ethnologie, Religionswissenschaft und Judaistik in Berlin. Zwischen 1970 und 1989 war sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrbeauftragte an den Berliner Instituten für Judaistik und für Ethnologie tätig, danach bis 2008 als Dozentin im Studiengang Religionswissenschaft/Religionspädagogik an der Universität Bremen. Ein Schwerpunkt ihrer Lehrtätigkeit wie auch ihrer vergangenen und aktuellen Forschungen ist die gelebte Wirklichkeit von Hindu-Religionen. Seit mehr als drei Jahr-

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Angaben zu den Autoren

zehnten arbeitet sie dazu im nordindischen Bundesland Himachal Pradesh. In jüngerer Zeit befasst sie sich zudem mit religiösen Bekundungen indischer Hindus und tamilischer Migranten aus Sri Lanka in Deutschland. Karin Meissner PD Dr. Karin Meissner ist Ärztin und leitet am Institut für Medizinische Psychologie der LMU München die Arbeitsgruppe „Placeboforschung“. Sie studierte in München Medizin und promovierte sowie habilitierte an der LMU München in Medizinischer Psychologie. Ihr wissenschaftliches Interesse gilt der Erforschung von Placeboeffekten und körpereigenen Selbstheilungsmechanismen. So untersucht sie z. B. die Rolle von Erwartungen, Lernen und sozialer Unterstützung für Gesundheit und Krankheit. Ausgewählte Publikationen: Meissner, Kohls, Colloca (guest eds): Placebo effects in medicine: mechanisms and clinical implications, Theme Issue der Philosophical Transactions of the Royal Society B, 366:1572, 2011. Colloca, Flaten, Meissner (eds.): Placebo and pain: from bench to bedside, Academic Press, 2013. Sebastian Schüler Dr. Sebastian Schüler ist Juniorprofessor für Religionswissenschaft am Religionswissenschaftlichen Institut der Universität Leipzig. Er studierte Religionswissenschaft und Kulturanthropologie an der Universität Frankfurt und promovierte in diesen Fächern an der Universität Münster. Seine Dissertation Religion, Kognition, Evolution: Eine religionswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Cognitive Science of Religion (Kohlhammer 2012) wurde mit dem Dissertationspreis der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft ausgezeichnet (2011). Schüler arbeitete von 2006–09 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Allgemeine Religionswissenschaft und von 2009–11 am Exzellenzcluster Religion und Politik an der Universität Münster. Von Januar 2012 bis September 2013 war er Juniorprofessor für empirische Religionswissenschaft an der Universität Greifswald. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Evangelikalismus, Religion und Körper sowie Kognitive Religionsforschung.

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Lucia Traut Lucia Traut, wissenschaftliche Mitarbeiterin (in Elternzeit) und Doktorandin am Seminar für Allgemeine Religionswissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit Abschluss des Studiums in Religionswissenschaft, Angewandter Kulturwissenschaft – Kultur, Kommunikation und Management (M.A.) und katholischer Theologie (Diplom) promoviert sie zum Thema „Religion und Imagination“ am Beispiel imaginierter Jerusalem-Pilgerreisen im Spätmittelalter. Forschungsschwerpunkte sind Imaginationstheorien und ihre Anschlussfähigkeit für die Religionswissenschaft, Tanz und Religion, katholische Frömmigkeit sowie FantasyRollenspiele. Ihre Magisterarbeit erschien 2011 in der Reihe „Veröffentlichungen des Centrums für Religiöse Studien“ bei LIT unter dem Titel Ritualisierte Imagination. Das Fantasy-Rollenspiel „Das Schwarze Auge“. Katja Triplett Prof. Dr. Katja Triplett, Studium der Religionswissenschaft, Japanologie und Völkerkunde in Marburg. 2002 dort Promotion (Religionswissenschaft). 2004–2005 Post-doctoral Fellow an der School of Oriental and African Studies, University of London. 2007–2012 Akademische Rätin für Religionswissenschaft und Kustodin der Religionskundlichen Sammlung in Marburg. Seit 2012 Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Religionen Japans, Ostasiatischer Buddhismus, visuelle und materielle Aspekte von Religionen; Religion und Medizin. Veröffentlichungen (Auszug): Menschenopfer und Selbstopfer in den japanischen Legenden: das Frankfurter Manuskript der Matsura Sayohime-Legende. Religiöse Gegenwart Asiens; 2. Münster [u.a.]: Lit, 2004; Katja Triplett und Michael Pye. Streben nach Glück: Schicksalsdeutung und Lebensgestaltung in japanischen Religionen. Religiöse Gegenwart Asiens; 1. Berlin [u.a.]: Lit, 2007; "Gründungslegenden in der Erinnerungspflege japanisch-buddhistischer Tempel am Beispiel des Tsubosakasan Minami Hokkeji." In Geschichten und Geschichte: Historiographie und Hagiographie in der asiatischen Religionsgeschichte, hg. von Max Deeg, Oliver Freiberger und Christoph Kleine. Historia religionum; 30. Uppsala: Almqvist & Wiksell, 2010, 140-180; Toripuretto, Katiya トリプレット、カティ ヤ (d.i. Triplett, Katja). "法然上人絵伝の中の像と想像 Hōnen shōnin eden no naka no zō to shisō." In 法然上人とその可能性:法然上人八〇〇 年大遠忌記念 Hōnen shōnin to sono kanōsei: Hōnen shōnin happyaku-nen onki kinen, edited by 佛教大学総合研究所 Bukkyô daigaku sôgô

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Angaben zu den Autoren

kenkyûjo. Kyoto: 宝藏館 Hōzōkan, 2012, 673-692; "Magical Medicine? – Japanese Buddhist Medical Knowledge and Ritual Instruction for Healing the Physical Body." Japanese Religions (Special Issue: Religion and Healing in Japan, ed. by Christoph Kleine and Katja Triplett) 37.1&2 (2012): 63-92. Annette Wilke Annette Wilke ist Professorin für Religionswissenschaft an der Westfälischen Wilhelms Universität Münster und Leiterin des dortigen Seminars für Allgemeine Religionswissenschaft. Sie ist am Exzellenz-Cluster „Religion und Politik“ mit dem Forschungsprojekt „Globaler Hinduismus – Die Chinmaya Mission in Indien und weltweit“ beteiligt. Zu ihren Arbeitsgebieten gehören Hindu-Traditionen der Vergangenheit und Gegenwart, Religionsästhetik, Ritualstudien, Mystik, kulturelle Transfers und religiöse Gegenwartskultur. Im Bereich Hinduismus verbindet sie Textstudien und Feldforschung und hat insbesondere zu Göttinnenverehrung, Tantra, Advaita-Vedanta, sinnlich-ästhetischer Kommunikation (v.a. auditive und visuelle Aspekte) und der tamilischen Diaspora in Deutschland gearbeitet. Rezente Publikationen umfassen: Sound and Communication. An Aesthetic Cultural History of Sanskrit Hinduism, 2011; Tamil Temple Fesitval Culture in Germany: A New Hindu Pilgrimage Place, in: South Asian Festivals on the Move, hg. U. Hüsken & A. Michaels, 2013, 339–395; Säkularisierung oder Individualisierung von Religion? Theorien und empirische Befunde, ZfR 21,1, 2013, 29–76. Katharina Wilkens Dr. Katharina Wilkens, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Interfakultären Studiengang Religionswissenschaft an der LMU München, studierte Religionswissenschaft, Ethnologie und Islamwissenschaft in Bayreuth und Edinburgh. Sie promovierte zu religiöser Heilung in Ostafrika. Ihre Forschungsinteressen sind afrikanische und europäische Religionsgeschichte, Religionsästhetik, Heilung sowie Methodologie der Religionswissenschaft. Ausgewählte Publikationen: Religiöse Heilung in Ostafrika, Lit, 2011, Relocating Religion(s). Museality as Critical Term for Aesthetics of Religion, Sonderausgabe des Journal of Religion in Europe, 2011, „Mary and the Demons. Marian Devotion and Ritual Healing in Tanzania“ in Journal of Religion in Africa, 2009.

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Index Aborigines, zentralaustralische 407–41 absolut, das Absolute 331, 333, 334, 335,

Alltagskleidung, alltägliche Kleidung (→ Kleidung)

345, 351, 373, 377, 378, 459

Alltagskultur 197, 199, 211

Absolutheitsanspruch 196, 273

Alltagsleben 18, 325, 332, 335, 337,

abstrakt, Abstraktion 38, 60, 61, 109, 163, 168, 170, 171, 175, 180, 181, 187, 221, 222, 289, 303, 315, 388, 410 abstrakte Imagination (→ Imagination) abstrakte Vorstellung (→ Vorstellung) abstrakter Prozess, Abstraktionsprozess 55, 305

342–45 Alltagssprache, alltagssprachlich 24, 41, 53, 60, 214, 215, 220, 222, 240 Alltagsverständnis von Imagination (→ Imagination) Alltagswahrnehmung, alltägliche Wahrnehmung 54, 208, 378, 457,

abstrakter Raum (→ Raum)

460, 463, 509

Affekt, affektiv (s.a. Emotion) 27, 56, 78,

Alltagswelt, Alltagswirklichkeit 18, 40,

134, 280, 300, 302, 332, 335, 341, 342,

44, 76, 137, 148, 149, 175, 178, 180,

345, 460, 520

367, 507, 509

Afrika, afrikanisch 77, 107, 109, 110, 111, 117, 121, 123, 247, 264, 456, 457 agency (s.a. Handlungsmacht) 137, 164, 183

Alltagswissen 223 altered state of consciousness (s.a. Bewusstsein) 108 alternativ

aisthesis, Aisthetik (s.a. Ästhetik, Wahrnehmung) 21, 23, 24, 44, 45, 55, 76, 77, 187, 211, 403 Imaginationsaisthetik (→ Imagination) Religionsaisthetik (s.a. Religionsästhetik) (→ Religion)

alternative Spiritualität (→ Spiritualität) alternatives Heilen, alternative Heilriten (→ heilen) Alumbradentum, Alumbrados 278, 283, 305, 309 Ambiguität 107, 116, 117, 118, 119, 126,

aktiv, Aktivität

127, 502

aktive Imagination, aktives Imaginieren (s.a. Jung, C.G.) (→ Imagination) aktivieren, Aktivierung der Imagination (→ Imagination) Alcheringa (s.a. Traumzeit) 424 Alice Springs 414, 415 Alkohol 112, 121, 122, 157, 159, 170, 173, 175, 180, 189

ambivalent, Amibvalenz 109, 110, 138, 150, 176, 271, 469 analytische Philosophie (→ Philosophie) Anatomie, anatomisch (→ Körper) Anderson, Benedict 19, 226, 271, 315, 316, 317, 344 anjali 88, 92, 93, 100 anschauen, Anschauung (→ schauen)

Alltag, alltäglich

Anthropologie, anthropologisch 36–39, 50,

alltägliches Denken (→ Denken)

62, 199, 241, 408, 414, 419, 422

Alltagshandlung, Alltagspraxis,

Anthropologie der Sinne (→ Sinne)

Alltagsroutine 18, 75, 217, 220, 318, 327

Anthropologische Wende (s.a. Kant, Immanuel) 459, 470

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Index

Bildanthropologie (s.a. Belting, Hans) (→ Bild)

ästhetische Erfahrung (→ Erfahrung) ästhetische Form 337, 344, 345, 453,

historische Anthropologie 385, 398 Kulturanthropologie (→ Kultur) Medienanthropologie (→ medial, Medien)

457, 466, 467, 470 ästhetische Formation (s.a. Meyer, Birgit) (→ Formation) ästhetische Gestaltung, Ausgestaltung

antikapitalistisch, Antikapitalismus 315, 344

395, 398 ästhetische Konfiguration (→

Antike 24–28, 31, 37, 45, 46, 247, 298, 366, 389

Konfiguration) ästhetische Tradition (→ Tradition)

antikolonial, Antikolonialismus 315, 318, 337, 344

ästhetische Wirkung (→ Wirkung) ästhetischer Ausdruck 215, 226, 231

Aranda, Aranda-Stämme, Arunta (s.a. Aborigines) 407–41

ästhetischer Diskurs (→ Diskurs) ästhetischer Stil (→ Stil)

arati, arati-Zeremonie 86, 92, 102

ästhetisches Arrangement 76, 188

Arbeiter, Arbeiterklasse 327, 328, 344

ästhetisches Handeln, ästhetische Praxis

Aristoteles 26, 377

(→ Praxis)

Aristotelismus 25

ästhetisches Prinzip 465, 466

Armut 291, 320, 321, 322, 330, 341 arts-and-crafts-Bewegung (→ Bewegung (soz.))

246, 251, 253, 254, 256, 257, 457, 465 astronomische Bilder, Bildtechnologien,

Arunta (→ Aranda)

Fotografien 384, 451, 453, 464, 465

asiatisch, Asien 246, 264, 354, 355, 457, 499

buddhistische Astronomie 263, 264 Atem 138, 147, 149, 150, 159, 167, 169,

südasiatisch, Südasien 85, 199 südostasiatisch, Südostasien 238, 246, 248

179 Atmosphäre, atmosphärisch 54, 137, 177, 204, 206, 208, 209, 292, 293, 295, 452

Askese, asketisch (s.a. Gefühlsaskese) 286, 293, 436, 496

Audition (s.a. Vision) 158, 207, 208, 462 Aufklärung, aufgeklärt 21, 30, 319, 338,

Ästhetik (s.a. Aisthetik, Religionsästhetik) Ästhetikbegriff 21, 489 Ästhetiktheorie 53 Imaginationsästhetik (→ Imagination) religiöse Ästhetik 315, 318, 319, 344, 345, 386, 473

341, 343, 346, 458, 459, 466, 467, 477, 480 Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeitslenkung 76, 131–51, 155, 180, 187–89, 375, 500 Auge 27, 46, 49, 91, 95, 100, 149, 150, 176, 360, 366, 455, 474

Rezeptionsästhetik (→ Rezeption) romantische Ästhetik 467, 468 visuelle Ästhetik 440 Wahrnehmungsästhetik (→ Wahrnehmung) ästhetisch

Astronomie, astronomisch 195, 237, 244,

inneres Auge 27, 193, 215, 276 aushandeln, Aushandlungsprozess 58, 134, 183, 193, 203, 208, 224, 271, 274, 280, 282 außen, äußerlich (s.a. innen, innerlich) 48, 51, 200

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Index Außenperspektive 369, 492 Außenwahrnehmung 134, 179, 181, 491 Außenwelt (s.a. Innenwelt) 25, 77, 147, 156, 164, 182, 200, 252, 492, 506, 508

religionswissenschaftlicher Begriff, Begriffsbildung 409, 411, 413, 419, 437, 440, 441 Behandlung, Heilbehandlung (s.a. heilen) 111, 113, 131–51

äußere Sinne (s.a. innere Sinne) (→ Sinne)

Behandlungsmythos, Behandlungsnarrativ 134, 151, 152

außeralltäglich, Außeralltäglichkeit 108, 157, 181, 215, 232

bekennen, Bekenntnis 115, 279, 287, 393 Belting, Hans 351, 352, 354, 366, 455, 478

Australien, Zentralaustralien 407–41

Bengal Renaissance 337

authentisch, Authentizität 229, 232, 326,

beobachten, Beobachtung 121, 124, 258,

329, 337, 345, 365, 369, 422, 470 autistisch, autistic world (s.a. Pruyser, Paul W.) 34, 35, 181

298, 299, 371, 372, 416, 437, 480 besessen, Besessenheit 77, 78, 97, 107–28, 133, 185, 502, 504

autonom, Autonomie 138, 175, 176, 177, 184, 325, 377

beten, Gebet 27, 114, 115, 125, 134, 142, 143, 144, 145, 169, 185, 194, 195, 213–

Autorität 111, 158, 393, 423, 429

33, 283, 285, 294, 300, 306, 308, 309,

Avalon 197–212

367, 384, 487, 496, 499, 503, 504, 505,

Babylon 288

507

Bedeutung 38, 55, 56, 58, 60, 183, 190,

24/7-Prayer (→ Bewegung (soz.))

197, 209, 225, 240, 271, 303, 315, 316,

Gebetsbewegung 213–33

318, 340, 372, 461, 506, 507

Gebetsimagination 28, 229

Bedeutungsgenerierung, -herstellung, konstitution 152, 203, 216, 222, 458, 463, 505, 509

Gebetsraum 213–33 Bewegung (mot.) (s.a. unbeweglich) bewegungslos 81, 85, 86, 92, 96, 99

Bedeutungsstruktur, -system, -gefüge 58, 135, 224, 474, 481 Bedeutungsträger 55, 465 Bedeutungszuschreibung, -zuweisung 38, 136, 147, 151, 193, 194, 203, 210, 221, 223, 366, 384, 469, 492, 506 symbolische Bedeutung 146, 149, 228 befreien, Befreiung 77, 123, 160, 164, 168, 174, 177, 180, 190, 344, 347, 356 begrenzt, unbegrenzt 163, 167, 168, 170, 177, 180, 184, 214, 250, 339, 347, 459, 470

Bewegungsmuster 124, 127 imaginative/imaginierte Bewegung, Fortbewegung 298, 474 Körperbewegung (→ Körper) Bewegung (soz.) 24/7 Prayer-Bewegung, 24/7 Prayer 194, 195, 217 arts-and-crafts-Bewegung 333, 340 Gebetsbewegung (→ beten) Nationalbewegung (→ Nationalismus) Reformbewegung (→ Reform) bewusst, Bewusstsein (s.a. unbewusst) 17,

Begriff, begrifflich

18, 40, 75, 78, 108, 117, 132, 135, 144,

Begriffsgeschichte der Imagination (→ Imaginationsbegriff) Grundbegriff (→ critical term)

149, 150, 155–91, 198, 200, 205, 222, 257, 281, 294, 307, 360, 372, 477, 491 bhuta-suddhi 162, 167, 179

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Index

Bibel, biblisch 219, 225, 228, 282, 296, 297, 299, 310, 354, 415, 430, 466, 476, 480

Blickrichtung 95 Blickwechsel 100 Böser Blick 48

Bild, bildlich

Boehm, Gottfried 117, 351, 352, 354

astronomische Bilder, Fotografien (→ Astronomie)

Bornscheuer, Lothar 460 Bourdieu, Pierre 336

Bildanthropologie (s.a. Belting, Hans) 351, 353

Brahma (→ hinduistische Gottheiten) Brahman 160, 173

Bilddiskurs 351, 352, 353, 358, 371 Bilderverehrung 163, 356, 370, 375, 456 Bildpolitik 134, 271, 274 Bildpraxis 352, 354, 355, 358, 370, 376, 452, 478, 479

Brahmane, brahmanisch 86, 89, 92, 103, 159, 160, 166 brahmarandhra, Scheitelchakra, tausendblättriger Lotus (→ Cakra) Brann, Eva T. H. 24, 49

Bildprogramm 151, 164, 362, 365, 502, 506

British Empire 319, 338 Buch, Buchdruck 54, 55, 151, 257, 281,

Bildtradition 377, 456, 469 Bildwissenschaft 35, 199, 211, 351, 352, 353, 354, 357, 377, 478 Götterbilder, Gottesbild (→ Gott)

399, 504 Buddhismus Buddhismus-Forscher, -Forschung 353, 354

inneres, mentales Bild 17, 20, 37, 45, 56,

Buddhist Superman 351, 374

57, 61, 62, 108, 116, 121, 134, 168,

buddhistische Kosmologie (→

179, 182, 200, 211, 293, 308, 354, 363, 364, 383, 390, 410, 503, 506 kollektive Bilder 36, 37, 58, 387, 390, 391, 399, 403

Kosmologie) Friends of Western Buddhist Order 202 Mahāyāna 353, 373, 377 Pali, Pali-imaginaire 237, 242, 243, 244,

Kultbild, Kultbildnis (→ Kult) Landschaftsbild, -malerei (→ Landschaft)

253 Reine Land, -Buddhismus 356, 358, 361, 378, 501

lebendes Bild, tableau vivant (s.a. jhanki) 81–104

Reine Land, Reine Land-Buddhismus 364, 367, 373, 375, 376

Vorstellungsbild, Imaginationsbild (→ Vorstellung)

Theravāda 243, 263 Tibetischer Buddhismus 202

Weltbild (→ Weltbild) Bildung (päd.) 28, 31, 33, 55, 160, 272, 303, 304, 306, 309, 337, 467 Biographie, biographisch 107–28, 131, 143, 152, 203

Zen, Chan 202, 369, 376 buddhistisch buddhistische Astronomie (→ Astronomie) buddhistische Geographie, Kosmo-

Hōnen-Biographie 351–78 Ignatius‘ Biographie 289, 290, 303, 304 Blick

Geographie (→ Geographie) buddhistische Mönche (→ Mönch) buddhistischer Modernismus (→

Blicklenkung, Blickführung 136, 298

modern)

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Index buddhistisches Weltbild (→ Weltbild) Bulkeley, Kelly 186

cognitive blending, kognitive Überblendung → Kognition

Bürger, bürgerlich 31, 55, 323, 465, 467

Coomaraswamy, Ananda K. 315–47

Cakra, Chakra (s.a. Leibort) 155–91

Corbin, Henry 26, 27, 31, 494

anahata-cakra, Herzchakra, Herzcakra, Herzlotus 165, 166, 167, 169, 177 brahmarandhra, Scheitelchakra, tausendblättriger Lotus 147, 148, 159, 161, 165, 168, 169 Chakra-Theorie 140 Kehlchakra 134

critical term, Grundbegriff 18, 19, 20, 22, 30, 60, 61, 63, 178, 487, 490, 498, 505, 508, 509 Dämon, dämonisch, dämonologisch (s.a. Geister) 18, 26, 28, 36, 86, 90, 107, 114, 115, 118, 122, 123, 176, 288, 393, 394, 403, 500

Körperchakra (→ Körper)

darsan 86, 94, 100

muladhara 159, 161, 166, 168, 174

darstellen, Darstellung (s.a. Repräsentation)

Carlyle, Thomas 338, 339, 340, 341

20, 41, 51, 59, 110, 117, 170, 177, 200,

Castoriadis, Cornelius 37, 38, 39, 41, 50, 57

245–51, 265, 283, 358, 362, 367–70,

Chakrabarty, Dipesh 315, 316, 317, 344

383, 391, 397, 400, 403, 422, 451, 466,

Charisma, charismatisch 110, 114, 115,

477, 506

123, 185, 213, 219, 225 China, chinesisch 49, 139, 355, 364, 365, 371, 372

ethnographische Darstellung 407–41 Götterdarstellungen (s.a. jhanki) (→ Gott)

Christen, Christentum, christlich Christenverfolgung 229 christliche Mission, Missionare (→ Mission)

Darsteller, Götterdarsteller 81–104 Denken (s.a. Kognition) 22, 26, 29, 36, 38, 182, 195, 200, 211, 220–26, 233, 293, 295, 319, 329, 330, 332, 336, 337, 347,

evangelikal, Evangelikalismus 202, 213, 225, 232, 499, 502 Pfingstler, pfingstlerisch 28, 122, 123, 144

354, 451, 477, 481 alltägliches Denken 215 Denken und Fühlen 33, 56, 58, 164, 182, 183, 307, 372

Christus, Jesus Christus 27, 142, 143, 225,

diskursives Denken 44, 56, 185

285, 287, 288, 289, 290, 291, 293, 305,

Devotio moderna 300, 306, 309

356

dichotom, Dichotomie 34, 224, 257, 288,

Christusfrömmigkeit, Christusmystik 309

289, 295, 307, 492 Didaktik, didaktisch 271, 478, 479

Christuskraft, Christuslicht, Christussonne, Christusstern 142, 147, 149, 151

Imaginationsdidaktik (→ Imagination) Differenz, Differenzierung Ausdifferenzierung 23, 403, 451, 453,

Churinga, Schwirrholz 424, 428, 434, 435 Code 113, 133, 164, 190, 455, 457, 475 codieren, Codierung 55, 76, 126, 161, 166, 169, 171, 174, 178, 179, 180, 181, 188, 190, 191, 216, 469, 504, 506, 507, 508

458, 466 kulturelle Differenz 420, 422, 431, 437, 439, 457 Diskurs, diskursiv ästhetischer Diskurs 29, 30, 476

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Index

Bilddiskurs (→ Bild) Diskursanalyse 407, 408, 441 diskursive Religionswissenschaft (→ Religionswissenschaft) diskursives Denken (→ Denken) Gelehrtendiskurs 387, 388 Imaginationsdiskurs (→ Imagination)

Emanzipation, emanzipatorisch 39, 336, 344, 346 embodiment (s.a. Körper, Verkörperung) 142, 461 emisch 150, 162, 165, 178, 187, 315, 351, 489, 490 Emotion (s.a. Affekt, Gefühl) 24–35, 43–

kolonialer Diskurs 338, 340

62, 131–51, 200, 206, 215, 216, 224,

religionswissenschaftlicher Diskurs 411,

236, 271, 273, 275–311, 462, 463, 473,

415, 417, 420, 421, 439, 440 Disney, Walt 388, 398, 399, 400, 401, 402, 403

476, 489, 491, 497, 503, 506, 507 aesthetic emotions (s.a. Harris, Paul) 44 Emotionalität 138, 149, 284, 301, 303

Disziplin (akadem.) 23, 24, 32, 35, 41, 198,

Empirie, empirisch 30, 50, 185, 216, 266,

356, 389, 403, 408, 487, 488, 489, 493

317, 319, 360, 408, 409, 435–40, 487,

interdisziplinär 36, 64, 390, 463, 488,

492

493

empirische Methode, Methode der

multidisziplinär 19, 58, 60, 403, 493, 494

Beobachtung (→ Methode) empirisches (Forschungs-)Paradigma

Disziplin, disziplinieren, Disziplinierung 17, 55, 78, 175, 181, 189, 195, 271, 294, 304, 503, 508

410, 411, 438 Verknüpfung von Empirie und Theorie 63, 64, 490

Dünne, Jörg 238, 239, 240, 241 Durkheim, Émile 432, 433, 434, 436, 437, 438, 439, 440

Energie 49, 77, 155–91, 197–212, 334, 399, 497, 506 Heilenergie (→ heilen)

École des Annales (s.a. nouvelle histoire, histoire des imaginaires, Le Goff) 36, 37, 38, 57, 199, 385 einbilden, Einbildungen (psych.) (s.a.

Engel 107, 287 Heilengel (→ heilen) Engwura Zeremonie (s.a. Initiationsritual, totemistisches Ritual) 417, 420

vorstellen) 20, 24, 31, 47, 118, 119, 123,

Entfremdung (→ fremd)

495

Entwicklung

Einbildungskraft (s.a. Imagination, Phantasie, Vorstellungskraft) 23, 49 produktive, reproduktive Einbildungskraft (s.a. Kant) 30 Stimuli der Einbildungskraft 81, 88, 104 visuelle Einbildungskraft 199, 200, 281 Ekstase, ekstatisch 27, 132, 159, 172, 173, 175, 360

Entwicklungspsychologie (s.a. Harris, Paul) 33, 44 Entwicklungsstadium 415, 425, 426, 427, 439 epistemologisch 18, 30, 193, 244, 255, 338, 346, 403, 461, 477, 479 epistemologischer Imaginationsbegriff (→ Imaginationsbegriff)

Elite, elitär (s.a. Intellektuelle) 36, 115, 235–66, 275–311, 315–47, 356

Erfahrung (s.a. Erleben) ästhetische Erfahrung 30, 343, 346, 347, 451, 473, 476

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533

Index außergewöhnliche, außerordentliche

164, 178, 181, 187, 189, 195, 200, 206–

Erfahrung 78, 155, 181, 183, 190,

12, 216, 219, 227, 272, 304, 309, 479,

205, 463, 509

491, 505, 508

Erfahrungsraum 41, 58, 143, 152, 216, 316

sinnliches Erleben, Erlebnis 133, 181, 195, 204, 208, 272

Erfahrungsreligiosität 476

subjektives Erleben 133

Gotteserfahrung (→ Gott)

Erotik, erotisch 57, 160, 161, 163, 169–81

imaginative Erfahrung 286, 301, 303,

erschaffen, Erschaffung (s.a. kreativ,

305, 309

schöpfen) 18, 23, 25, 43, 136, 163, 164,

Körpererfahrung, körperliche Erfahrung (→ Körper)

167, 168, 169, 180, 181, 182, 183, 214, 316, 385, 476, 500, 505

mystische Erfahrung 183, 185, 186, 303, 304

erzählen, Erzählung 44, 119, 133, 206, 207, 254, 255, 265, 295, 296, 399, 424, 429,

religiöse Erfahrung 186, 194, 197, 198, 210, 212, 471, 509 samādhi-Erfahrung (→ samādhi) sinnliche Erfahrung, Sinneserfahrung (→ Sinne)

430, 436, 505 große Erzählung 17 erzeugen Erzeugen von Affekten, Emotionen, Gefühlen 45, 136, 152, 470, 481

spirituelle Erfahrung 184, 210, 211, 286, 301, 302, 303, 305 übersinnliche Erfahrung (→ übersinnlich)

Erzeugen von Imaginationen, Phantasien, Bildern, Vorstellungen 53, 54, 58, 59, 78, 79, 157, 168, 169, 189, 191, 195, 213–16, 220, 221, 225, 227, 298, 308,

erhaben, das Erhabene 21, 176, 330, 333,

317, 351, 352, 370, 462, 495, 506

334, 335, 337, 343, 384, 452, 459, 466,

Erzeugen von Wissen 222, 223, 481

469, 470, 474

Welterzeugung, Wirklichkeitserzeugung

Erinnerung (s.a. Gedächtnis) 62, 120, 121, 125, 126, 136, 197, 215, 287, 295, 297, 298, 309, 383, 384, 462 Erinnerungskultur 120, 127 Erinnerungsstütze 247, 296 kollektive Erinnerung 121, 201 kulturelle Erinnerung 201, 210 Erkenntnis 39, 44, 57, 221, 257, 266, 284,

(→ Welt) Esoterik, esoterisch 28, 31, 158, 169, 171, 175, 179, 202, 342, 343, 374, 458 Ethik, ethisch (s.a. Ethos, Moral) 54, 59, 214, 220, 232, 331, 334, 341, 343, 489, 499, 508 ethnisch 408, 412 Ethnographie, ethnographisch 316, 407–41,

318, 339, 342, 346, 354, 359, 366, 371,

495

373, 377, 470, 475

ethnographische Darstellung (→

Erkenntnissoziologie 437 Erkenntnistheorie 26, 412 wissenschaftliche Erkenntnis 41, 237, 254, 437, 438

Darstellung) Ethnologie 35, 41, 42, 117, 121, 132, 385, 407–41, 495 Religionsethnologie (→

Erleben, Erlebnis (s.a. Erfahrung) 34, 35,

Religionsethnologie)

61, 76–79, 126, 131–33, 135, 152, 155,

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534

Index

Ethos (s.a. Ethik, Moral) 331, 332, 335, 336, 345

Fiktion, fiktional 39, 40, 41, 44, 181, 190, 208, 366, 477

Europa, europäisch

fiktiv, das Fiktive (s.a. Iser, Wolfgang) 39,

europäische Begriffs- und

40, 44, 45, 113, 208, 250, 280, 299, 301

Theoriegeschichte der Imagination

Film 44, 175, 218, 387–403, 452, 455, 474

(→ Imaginationsbegriff)

fingieren (s.a. fiktiv, Fiktion) 39

europäische Geschichte, Geistesgeschichte (→ Geschichte)

Formation ästhetische Formation (s.a. Meyer,

europäische Kunst (→ Kunst) europäische Religionsgeschichte (→ Religionsgeschichte) eurozentrisch, Eurozentrismus 19, 24, 49, 50, 489

Birgit) 51, 507 Forschung Forschungsgeschichte 42, 355, 494 Fortschritt 256, 294, 315–47, 504 Fotografie, fotografieren 407–41

evangelikal, Evangelikalismus (→

astronomische Fotografie, astronomische

Christentum)

Bilder (→ Astronomie)

Evidenz, evident 237, 302, 316, 456, 476, 478

Foucault, Michel 79, 272 Fragment, Fragmentierung 44, 335, 343,

Evolution 34, 426, 434 Evolutionsbiologie 33, 456

346, 455 Frazer, James George 389, 421, 422, 423,

Evolutionspsychologie 33

425, 426, 427, 428, 429, 434, 435, 438,

Evolutionstheorie 409, 421, 423, 427,

439, 440

429, 462

Freikirche (→ Kirche)

Exerzitien, geistliche Übungen (s.a. Ignatius) 275–311 Exorzismus 107, 114, 115, 118, 122

fremd Entfremdung 39, 49, 333 Fremdgeister 110, 111, 121

Fachgeschichte (→ Geschichte)

Freud, Sigmund 20, 32, 34, 126, 494

Fähigkeit

Friedrich, Caspar David 469, 474

außergewöhnliche, paranormale Fähigkeit 190, 358 Faktizität 76, 196, 208, 336, 344, 347 Aura der Faktizität (s.a. Geertz, Clifford) 54, 59, 477

Friends of Western Buddhist Order (→ Buddhismus) fromm, Frömmigkeit 81, 121, 282, 290, 296, 300, 301, 306, 387, 469, 501 Frömmigkeitsliteratur 283, 290, 297,

Fantasy 175, 215

310

Farbe, färben 55, 98, 113, 140, 147, 455, 467, 473, 496

Galenismus 25, 26 Ganesa (→ hinduistische Gottheiten)

Fauconnier, Gilles 56, 221 feinstofflich (s.a. Körper) 139, 140, 141, 149, 150, 159, 164 Feldforschung 159, 197, 208, 330, 408, 414, 421, 423, 437, 488

ganzheitlich, Ganzheitlichkeit 189, 276, 277, 292, 303, 306, 310, 328, 342, 343, 459 Gebärmutter 47 Gebet (→ beten)

Ficino, Marsilio 29

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535

Index Gedächtnis (s.a. Erinnerung, memoria) 297, 298, 299, 306

genial, Genie (s.a. Künstler) 21, 25, 29, 30, 386

Gedächtniskultur 191

Geographie, geographisch 36, 64, 136, 144,

kollektives Gedächtnis 134, 190, 491

193, 195, 203–10, 217, 226–30, 235–66,

kulturelles Gedächtnis 61, 182, 199, 506,

330, 398, 422, 465

507, 509

buddhistische Geographie, Kosmo-

Geertz, Clifford 37, 54, 58, 59, 60, 179, 477 Gefühl, fühlen (s.a. Emotion, Affekt) 36,

Geographie 235–66 Kulturgeographie (→ Kultur)

42, 53, 125, 132, 134, 140, 146, 152,

geozentrisches Weltbild (→ Weltbild)

179, 186, 206, 219, 224, 232, 301, 307,

Geräusch (s.a. Klang) 52, 53, 166

309, 331, 342, 383, 384, 451, 458, 459,

Geruch (→ riechen)

464, 469, 471, 472, 473, 474, 480, 491,

Gesang (→ singen)

492, 496

Geschichte, geschichtlich

Denken und Fühlen (→ Denken) Erzeugen von Affekten, Emotionen, Gefühlen (→ erzeugen) Gefühlsaskese 295 Gefühlsmanagement 55 Gefühlswelt 299

Begriffsgeschichte der Imagination (→ Imaginationsbegriff) europäische Geschichte, Geistesgeschichte 24, 247, 352, 353, 458 europäische Religionsgeschichte (→

Körpergefühl (→ Körper)

Religionsgeschichte)

Gegenreformation (→ Reformation)

Fachgeschichte 64, 494, 495

geißeln, Geißelung 293, 295

Forschungsgeschichte (→ Forschung)

Geist, geistig (ment.) 27, 163, 164, 166,

Geschichtswissenschaft 35, 41, 65, 389,

168, 170, 172, 179, 180, 223, 498, 504 europäische Geistesgeschichte (→ Geschichte)

403, 459 Imaginationsgeschichte (→ Imagination) Kulturgeschichte (→ Kultur)

Philosophie des Geistes (→ Philosophie) Geister (s.a. Dämonen) 77, 107–28, 206, 242, 288, 307

Kunstgeschichte (→ Kunst) Mediengeschichte (→ Medien) Mentalitätsgeschichte (s.a. École des

geistliche Übungen (→ Exerzitien)

Annales, nouvelle histoire) (→

Gemeinschaft 77, 103, 119, 120, 122, 142,

Mentalität)

218, 230, 272, 310, 332, 335 Gemeinschaftsbildung, gemeinschaftsbildend 271, 501, 502 imaginäre, imaginierte Gemeinschaft (s.a. imagined community) 227, 318 moralische Gemeinschaft, moral community 345 religiöse Gemeinschaft, Religionsgemeinschaft 108, 202, 384

nouvelle histoire (s.a. École des Annales, Mentalitätsgeschichte, Le Goff) 36 Religionsgeschichte (→ Religionsgeschichte) Rezeptionsgeschichte (→ Rezeption) Wahrnehmungsgeschichte (→ Wahrnehmung) Wissenschaftsgeschichte (→ Wissenschaft) Geschlechtsverkehr, Sexualakt 155–91

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536

Index

Geschmack (ästh.), "Geschmacksverrat" 315–47, 457, 471

Gottesbild 20, 168 Gottesdienst 122, 142

Geschmack (sinnl.) (→ schmecken)

Gotteserfahrung 159, 466

Gesellschaft, gesellschaftlich 35–43, 55, 57,

Göttin 155–91

58, 59, 61, 63, 111, 116, 120, 121, 204, 223, 225, 226, 243, 271, 272, 273, 274, 278, 279, 354, 383, 384, 385, 386, 387– 403, 435, 451–81, 495, 496, 498, 508

göttliche Wesen (s.a. transzendent) 81, 94, 98 hinduistische Gottheiten (→ Hinduismus)

Gesellschaft Jesu 275–311

tantrische Gottheiten 168

gesellschaftlicher Wandel (→ Wandel)

vergöttlichen, Vergöttlichung 162, 167,

Gesellschaftsform, Gesellschaftsordnung 272, 330, 337, 338, 339, 340, 342, 343, 345, 346

179 Grundbegriff (→ critical term), (→ critical term)

Gesellschaftspolitik, gesellschaftspolitisch 48, 107, 344, 345, 347

Guru 161, 165, 188 Habitus (s.a. Bourdieu) 17, 22, 64, 75, 76, 77, 178, 181, 189, 190, 272, 277, 278,

indische Gesellschaft 315–47 Gespräch 115, 139, 215, 228, 231, 282, 283, 284, 285, 287, 300, 301, 305, 306, 308, 309

294, 308, 336, 337, 502, 507, 509 Hagiographie, hagiographisch 351, 352, 353, 357, 364, 371, 377, 384 Halluzination (s.a. Wahngebilde) 32, 147

Gillen, Francis 407–41 Glastonbury 197–212 Glaube, glauben 42, 118, 127, 147, 218, 251, 279, 291, 310, 335, 339, 343, 345, 361, 384, 385, 393, 429, 434, 451, 473, 476

handeln, Handlung (s.a. Praxis) Handlungsmacht (s.a. agency) 78, 111, 114, 116, 125, 137, 138, 204, 206, 209, 211 moralisches Handeln, moralische Handlung 214, 220, 223, 225, 232,

Volksglaube 393, 395 global 121, 126, 136, 188, 217, 218, 230, 232, 247, 264, 457, 466 Glück, Glückseligkeit 79, 86, 155–91, 221, 333, 341

471 Hare Krishna 202 Häresie, Häretiker, häretisch 273, 278, 351, 357, 378, 394, 501 Harris, Paul L. 33, 44, 307

Gnosis, gnostisch 31, 143, 167, 480

Hegarty, James 199, 203, 208

Gott, Gottheit, göttlich 202, 206, 208, 393

Hegemonie, hegemonial 273, 319, 325, 337,

das Göttliche 46, 96, 101, 165, 168, 174, 189, 191, 332, 334, 339, 340, 342, 393, 469

344, 347, 353 heilen, Heilung 33, 107–28, 131–51 alternatives Heilen, alternative Heilriten

Götterbild 20, 25, 81–104, 163, 496

131–51, 197

Götterdarsteller (→ Darsteller)

Heilenergie 131–51

Götterdarstellung (s.a. jhanki) 81–104

Heilengel 142, 147, 148, 150

Götterrepräsentation (s.a. Götterbild,

Selbstheilung 133, 148, 149, 150

Götterdarstellung) 94, 101, 104

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537

Index heilig, Heiligkeit 18, 76, 157, 288, 289, 290,

Santosi Mata 90

424

Sita 86, 90

das Heilige (s.a. Otto, Rudolf) 224

Siva 90, 92, 98, 99, 155–91

das Heilige Land 298, 305

Syama 160, 163, 166

heilig und profan (s.a. Durkheim) 184,

Vaisno Devi 82, 90, 98, 99

193, 295, 434

Varahi 160, 162, 163, 164, 166, 167,

Heilige 114, 201, 287, 290 heiligen, Heiligung 157, 158, 167, 179 Heiliger Geist 114, 158, 278 Heiligtum 201, 206 Heilsgeschichte (→ Geschichte) heliozentrisches Weltbild (→ Weltbild) Herder, Johann Gottfried 459, 504

175, 176, 177 Visnu 85, 90, 92, 99, 172 histoire des imaginaires (s.a. École des Annales, nouvelle histoire, Le Goff) (→ imaginaire) historische Anthropologie (→ Anthropologie)

Hermetismus 31

Holi 81–104

heuristisch 387, 388, 408, 409

Hōnen 351–78

Hexe, hexen, Hexerei 42, 114, 115, 202,

hören, Gehör, hörbar 21, 22, 100, 158, 297,

387–403

301, 303, 506

Hierarchie, hierarchisch 113, 122, 123, 181, 188, 252, 272, 300, 305, 306, 328, 398,

Hypnose 131–51 Hypochondrie, hypochondrisch (s.a.

460, 464, 479

organische, pathologische Imagination)

Sinneshierarchie,

47

Wahrnehmungshierarchie (→ Sinne) Hinduismus, indische Religion (s.a. Tantra) 49, 51, 81–104, 155–91, 315–47, 340 Neohinduismus 202 hinduistische Gottheiten Bhairon 82, 90, 99 Brahma 90, 92, 172, 252 Devi 98, 99

Hysterie (s.a. organische, pathologische Imagination) 32, 47 Ideal 291, 331, 332, 333, 334, 337, 347, 399, 400, 402, 459, 465, 466, 475, 491, 501, 502 idealisieren, Idealisierung 328, 330, 368, 386, 458 idealistisch, Idealismus 332, 334, 335

Durga 90

Identifikation 138, 172, 202, 289, 290, 440,

Ganesa 90, 91, 92, 160, 165 Hanuman 82, 90, 91, 98, 99

441, 459, 473, 479, 489 Identität 19, 58, 76, 116, 168, 195, 209,

Krisna 86, 87, 90

245, 403, 461, 466, 479

Laksmi 90

Identitätsbildung, -formierung 107, 193,

Lalita 155–91

196, 211, 275–311, 465, 491, 502,

Mahadevi 90, 91

507, 509

Para 160, 166, 174, 178, 180

katholische Identität 275–311

Parvati 90

kollektive Identität 121, 122, 127, 194,

Radha 86

195, 197, 198, 201, 208, 209, 210,

Ram 85, 86, 90, 98 Sakti 155–91

211, 212, 345, 491, 505, 508, 509 kulturelle Identität 58, 59, 272

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538

Index

religiöse Identität 197, 198, 203, 272

Alltagsverständnis von Imagination 20

Idolatrie (s.a. Bilderverehrung) 46, 456

Gebetsimagination (→ beten)

Ignatius von Loyola 275–311

Imaginationsaisthetik 45

Ikone, ikonisch 29, 94, 134, 163, 175, 296,

Imaginationsangebot 81, 88, 96, 104,

452, 453, 475, 506

183

iconic turn, ikonische Wende 354

Imaginationsästhetik 45, 46, 50, 53, 508

Ikonographie 37, 362, 369, 370, 390,

Imaginationsbild, Vorstellungsbild (→

397, 473

Vorstellung)

Ikonoklasmus 292, 351, 375, 376, 456 Illusion, illusionär, illusionistisch 20, 34,

Imaginationsdidaktik 275–311 Imaginationsdiskurs 31, 353, 459, 489

35, 38, 50, 182, 302, 360, 372, 481

Imaginationsgeschichte 64, 383–481

illusionistic world (s.a. Pruyser) 34, 35

Imaginationshilfe 51, 55, 158, 159, 161,

Illustration, illustrieren 42, 47, 55, 98, 358, 364, 387, 399, 431 imaginaire, l'imaginaire (s.a. imaginär) 31,

164, 506 Imaginationskommunikation 21, 52, 57, 222, 273, 280, 281, 283

36, 57, 58, 274, 385, 387–403, 459, 487,

Imaginationskultur 53, 54, 55

499

Imaginationsmedien 53, 241, 280, 507

Hexen-imaginaire (→ Hexe)

Imaginationsmodus, imaginativer Modus

histoire des imaginaires (s.a. École des Annales, nouvelle histoire, Mentalitätengeschichte, Le Goff) 36 kollektives imaginaire 17, 191, 509 kulturelles imaginaire 22, 64, 501 Pali-imaginaire (→ Buddhismus) imaginär, das Imaginäre 21, 23, 35–43, 54, 61, 63, 64, 200, 240, 241, 248, 249, 264,

45, 131, 156, 158, 178, 180, 295, 297, 301, 302, 303, 304, 505 Imaginationspolitiken 64, 271–378 Imaginationspraktiken, imaginative Praktiken, Praktiken der Imagination 31, 54, 180, 241, 499 Imaginationsprozess 21, 22, 33, 39, 43, 50, 51, 52, 53, 54, 110, 111, 118, 158,

308, 384, 385, 386, 387–403, 451–81

183, 224, 275–311, 391, 401, 488

imaginäre, imaginierte Gemeinschaft,

Imaginationsraum 64, 162, 163, 175,

imagined community (→ Gemeinschaft; imaginativ, imaginiert) kollektives Imaginäres (s.a. imaginaire) 121, 134, 135, 199 Imagination (s.a. Einbildungskraft,

193–266, 274, 281, 297, 310, 500 Imaginationsstil, Imaginationsstilistik 275–311 Imaginationstechnik 64, 75–191, 241, 272, 273, 274, 275, 281, 282, 283,

Vorstellungskraft)

292, 295, 296, 298, 306, 308, 309,

abstrakte Imagination 45

311, 402

aktive Imagination, aktives Imaginieren (s.a. Jung, C.G.) 31, 32, 78, 134, 155–91, 286

46, 275–311 Imaginationsverständnis (s.a.

aktivieren, Aktivierung der Imagination 63, 75, 76, 172, 189, 190, 292, 296, 297, 306, 307

Imaginationsübung, imaginative Übung

Imaginationsbegriff) 56, 276, 499 individuelle Imagination 108, 111, 117, 134, 272, 280

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539

Index inkorporierte Imagination 107–28 kollektive Imagination (s.a. kollektives Imaginäres, imaginaire) 35, 108, 120–24, 156, 191, 194, 204, 232, 387–403

europäische Begriffs- und Theoriegeschichte der Imagination 23–32, 49, 386, 458–64 Imaginationstheorie 197, 459, 461, 503 kulturwissenschaftliche

kreative Imagination (→ kreativ) Lenkung der Imagination, Vorstellungslenkung 75, 181, 190, 220, 228, 275, 297 material-based imagination 52 moralische Imagination 195, 213–33 mundus imaginalis (s.a. Corbin, Henry) 27, 31, 494

Imaginationstheorie 35–43, 198, 201, 210, 490 philosophische Imaginationstheorie 19, 23, 24–32, 198 psychologische Imaginationstheorie 32– 35 imaginativ, imaginiert imaginative Betrachtung 290, 299

narrative Imagination(stechnik) 295, 299

imaginative Dichte 273

organische Imagination (s.a. Milz,

imaginative Dinge (s.a. Schwarte,

Gebärmutter, Hypochondrie, pathologische Imagination) 47, 48 pathologische Imagination (s.a.

Ludger) 51, 110, 118, 122, 158, 183, 292 imaginative Erfahrung (→ Erfahrung)

organische Imagination) 28, 32, 47,

imaginative Performanz (→ Performanz)

280

imaginative, imaginierte Bewegung,

performative Imagination 281, 299, 300, 301, 308, 402

Fortwegung (→ bewegen) imagined community (s.a. Gemeinschaft,

public imagination (s.a. Hegarty, James) 199

Anderson, Benedict) 19, 197, 227, 316, 465

religiöse Imagination, religiöses Imaginieren 21, 407–41, 451–81 rituelle Imagination 155–91 sinnliche Imagination 301 sprachliche Imagination 45, 280, 281, 295

imaginierte Szenerie (→ Szenerie) imaginierte, imaginative Inkorporation (→ Inkorporation) Imitation, imitieren 77, 120, 121, 126, 289, 290 Imitatio Christi 277, 290

szenische Imagination 124, 136

Immanentes, Immanenz (→ transzendieren)

textliche Imagination 55, 281, 296

Immersion 301, 476

verkörperte Imagination, somatische

Indien, indisch 49, 81–104, 107, 155–91,

Imaginationstechniken 22, 76, 77, 78,

315–47

108, 135, 141, 151, 474

indischer Nationalismus/Hindu-

vis imaginationis (s.a. Meister Eckhart) 27

Nationalismus, indische Nationalbewegung 315–47

Imaginationsbegriff 409 epistemologischer Imaginationsbegriff 25, 30, 31, 43, 44, 45, 55, 56, 489

indisches Theater (→ Theater) Indifferenz 286 Individuum, individuell

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540

Index

Individualismus, individualistisch 329, 330, 334, 335, 473 individuelle Imagination (s.a. Vorstellung) (→ Imagination) Industrie, Industrialisierung 315–47 Initiation, Einweihung 111, 112, 113, 126,

225, 264, 355, 356, 357, 374, 387, 397, 407–41, 458, 473, 475, 479, 509 intersubjektiv (→ subjektiv) Interview 123, 124, 125, 133, 146, 429 Intichiuma Zeremonie, Vermehrungsritual 420, 426, 435

127, 159, 161, 162, 165, 166, 188, 201,

Introspektion, introspektiv 292, 295

275–311

irrational, Irrationalität (s.a. rational) 223,

Initiationsritual 160, 161, 417, 419, 420 Inkorporation, inkorporieren imaginierte, imaginative Inkorporation 107–28

224, 225, 337, 459 irreal, Irrealisierung (s.a. real) 39, 40, 44, 181 Iser, Wolfgang 39, 44, 295, 460, 461

inkorporierte Imagination (→ Imagination)

Islam, islamisch 107–28, 330 Jainismus 155

Inkorporation, inkorporieren (s.a. Leib, verleiblichen) 302 innen, innerlich 48, 51, 164, 200, 303, 467,

Janamastami 86 Japan, japanisch 238, 244, 255, 263, 264, 351–78

491, 492, 504

Jerusalem 247, 288, 304, 464

Innenperspektive 140, 149, 378, 492

Jesuiten, Gesellschaft Jesu, societas Jesu

Innenwahrnehmung 134, 149, 150, 179

275–311

Innenwelt (s.a. Außenwelt) 17, 25, 76,

Jesus, Jesus Christus (→ Christus)

77, 143, 152, 181, 200, 491, 492

jhanki (s.a. tableau vivant) 81–104

innere Sinne (s.a. äußere Sinne) (→ Sinne)

Johnson, Mark 56, 221, 223, 224, 225, 461 Jung, Carl Gustav 31, 32, 126

inneres Auge (→ Auge) inneres, mentales Bild (→ Bild) Inquisition 278, 282, 283, 300, 309, 394, 395

Juweleninsel (s.a. Srividya, Kaula-Tantra, PKS) 163, 164, 170, 171, 176, 179, 180 kamakala 161, 174 Kant, Immanuel 20, 23, 30, 31, 62, 459,

inszenieren, Inszenierung 296, 387–403

464, 470

Integration, integrativ, integrieren 126, 184,

kanya devi (jungfräuliche Göttin) 97

227, 305, 309, 331, 332, 335, 341, 459,

Kartographie, kartographisch 235–66

478, 504

Kaste 89, 103, 160, 330, 331, 332, 334, 342

Intellekt (s.a. Ratio, Verstand) 26, 28, 29, 31, 56, 189, 306

katholisch, Katholizismus 108, 115, 123, 124, 134, 157, 202, 245, 275–311

intellektuell, Intellektuelle 235–66, 280, 296, 297, 303, 315–47 Intention, intentional, Intentionalität 75, 78,

katholische Identität (→ Identität) katholisches, Katholizismus katholisches Weltbild (→ Weltbild)

161, 181, 185, 190, 204, 398, 410, 463,

Kaula, linkshändiges Tantra 155–91

509

Kehlchakra (→ Cakra)

Interpretation, interpretieren 56, 107, 116, 133, 183, 187, 189, 194, 195, 315–47,

Kelten, keltisch 197–212 Kibuki (s.a. Geister, Kult) 107–28

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541

Index Kinästhetik, kinästhetisch 52, 208, 298, 299 Kippenberg, Hans G. 42, 496 Kirche, kirchlich 37, 108, 110, 115, 122,

Kolonialkritik, Kolonialismuskritik 315– 47, 503 Kommunikation 17, 22, 42, 43, 57, 60, 111,

157, 201, 202, 207, 230, 393, 394, 476

123, 131, 134, 135, 136, 143, 144, 146,

Freikirche 202

179, 183, 216, 222, 273, 274, 280, 298,

Kirchenpolitik, kirchenpolitisch 275–

303, 304, 308, 394, 492

311

Imaginationskommunikation (→

Missionskirche (→ Mission) Klan 426, 433

Imagination) Kommunikation von Wissenschaft,

Klang (s.a. Geräusch) 27, 52, 53, 55, 61, 77, 158, 161, 167, 168, 170, 175, 179, 187, 189, 191, 200, 208, 308, 361, 503 Klassifikation, klassifizieren 407–41 Kleidung 36, 81, 92, 110, 324, 326, 337, 398, 400, 418, 419, 504 Kognition, kognitiv

Wissenskommunikation 452, 464, 478 Kommunikationswissenschaft 308 kommunikativ 22, 64, 221, 222, 283, 300, 310 kommunizieren 34, 51, 135, 190, 222, 273, 300, 305, 435

cognitive blending, kognitive Überblendung 181, 184, 185 Kognitionswissenschaft 25, 32, 33, 35, 56, 65, 460

Kommunion 115, 282, 302 komparatistisch, komparativ 264, 352, 353, 394, 498, 501 Konfession, Konfessionalisierung 109, 114,

kognitive Linguistik (→ Linguistik) kognitive Rahmung (→ Rahmung)

275–311 Konfiguration 138, 141, 143, 194, 440, 457,

Kohl, Karl-Heinz 41, 495

466

kollektiv

ästhetische Konfiguration 61, 63, 384,

kollektive Bilder (→ Bild) kollektive Erinnerung (→ Erinnerung)

463, 464, 500 Konstruktion 461, 474, 481

kollektive Identität (→ Identität)

kollektive Konstruktion 393, 394, 398

kollektive Imagination (→ Imagination)

kulturelle Konstruktion 59, 198, 203

kollektive Konstruktion (→

mentale Konstruktion 410

Konstruktion)

Rekonstruktion 127, 204, 207, 257, 328,

kollektive Performanz (→ Performanz) kollektive Repräsentation (→ Repräsentation)

385, 391, 407–41, 497 religionsästhetische Konstruktion 407– 41

kollektives Gedächtnis (→ Gedächtnis)

Kontemplation, kontemplativ 165–68, 178–

kollektives imaginaire (→ imaginaire)

91, 277, 309, 333, 370, 371, 372, 374

kollektives Imaginäres (→ imaginär)

Kontrolle, kontrollieren 24–35, 43–58, 118,

kolonial, Kolonialismus (s.a. antikolonial,

138, 175, 176, 177, 184, 228, 281, 286,

postkolonial) 108, 109, 112, 127, 235,

294, 295, 305, 307, 331, 458, 459, 460,

238, 315–47, 465

478

kolonialer Diskurs (→ Diskurs)

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542

Index

Konzentration, konzentrieren 96, 113, 140,

critical term, Grundbegriff (→ critical

147, 162, 166, 167, 168, 178, 180, 186, 292, 293, 294, 301, 302, 360, 372 Körper, körperlich (s.a. embodiment, somatisch, verkörperlichen) Anatomie, anatomisch 46, 47, 139

term) Kolonialismuskritik (→ kolonial) Religionskritik (→ Religion) Selbstkritik 19, 41, 487, 494, 495, 496 Kult, Kultus, kultisch 108, 112, 121, 122,

geschlossenes Körperbild 48, 49

123, 124, 158, 159, 166, 170, 191, 355,

Körperbewegung 120, 122, 123, 126,

356, 368, 369, 389

149, 504

Kultbild, Kultbildnis 81, 98, 100, 101,

Körperchakra 139, 140, 186

104, 163, 167, 168, 169, 170, 172,

Körpererfahrung, körperliche Erfahrung 76, 168, 189, 224, 461

180, 364, 368 Kultobjekt, Verehrungsobjekt 163, 365,

Körpergefühl 200

368, 407–41

körperlos 37, 104, 149, 164, 178, 398 Körperpraktiken 75, 159, 163, 169, 175, 189, 190

Kultur Erinnerungskultur (→ Erinnerung) Gedächtniskultur (→ Gedächtnis)

Körpertechnik 52, 64, 75, 76, 77, 78, 127, 195, 294

Imaginationskultur (→ Imagination) Kulturanthropologie,

Körperwahrnehmung 132, 149, 180, 203, 491

kulturanthropologisch 35, 43, 50, 58, 63

Körperwissen 123, 151

Kulturbegriff 58, 60

osmotisches Körperbild 48

Kulturgeographie 197, 198, 203

yogischer Körper 161, 164, 167, 170

Kulturgeschichte 22, 121, 273, 274, 388,

Kosmologie, kosmologisch 157, 161, 171,

389, 403, 465, 481

237, 244, 248, 249, 251, 253, 256, 264,

Kulturkontakt 415, 418

286, 287, 288

Kulturtechnik, kulturelle Technik 75,

Kosmos 140, 160, 170, 174, 178, 288, 457, 464, 506

121, 132, 189, 257, 308, 502, 507 materiale Kultur 389, 390, 397, 398

krank, Krankheit 126, 133, 140, 141, 145, 151, 152, 383, 481 kreativ

visuelle Kultur 390, 403, 412, 416, 420, 435, 438 Writing Culture-Debatte 41, 385

kreative, schöpferische Einbildungskraft,

kulturell

Imagination, Phantasie 25, 29, 30, 38,

kulturelle Erinnerung (→ Erinnerung)

39, 52, 55, 56, 57, 59, 156, 175, 189,

kulturelle Identität (→ Identität)

204, 344, 347, 386, 504

kulturelle Konstruktion (→

Kreativität 78, 116, 118, 175, 182, 196,

Konstruktion)

199, 201, 205, 210, 211, 212, 213–33,

kulturelle Performanz (→ Performanz)

475, 508, 509

kulturelle/r Wandel, Transformation (→

Krisna (→ Hinduismus)

Wandel)

Kritik 38, 41, 115, 176, 273, 278, 282, 298,

kulturelles Gedächtnis (→ Gedächtnis)

387, 391, 397, 411, 429, 463, 467, 495

kulturelles imaginaire (→ imaginaire)

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543

Index Kulturwissenschaft 23, 58, 62, 151, 238,

Landschaftsbild, -malerei 453, 456, 457,

239, 240, 385, 387, 390, 396, 461, 477, 507

464–69 therapeutische Landschaft (→ Therapie)

kulturwissenschaftliche Imaginationstheorien (→ Imaginationstheorie) kulturwissenschaftliche

Le Goff, Jacques 27, 37, 387, 388, 389, 390, 391, 394, 396, 397, 402, 403 Leben Lebensstil 279, 315–47

Religionswissenschaft (→

Lebensweise 291, 323, 328, 475

Religionswissenschaft)

Lebenswelt 39, 40, 41, 332, 343, 347,

Kultus (→ Kult)

384

kundalini, kosmische Energie 159, 173, 186, 187

Legende 290, 367 Lehrer 89, 114, 161, 162, 165, 166, 173,

Kunst 21, 25, 29, 34, 35, 51, 99, 182, 215, 219, 226, 315–47, 355, 384, 390, 391,

305 Leib, leiblich (s.a. Körper) 37, 77, 96, 151,

397, 451–81, 502

159, 164, 165, 170, 287, 291, 307, 396,

europäische Kunst 351, 398

472

Kunstgeschichte 117, 135, 182, 351,

einverleiben (s.a. Inkorporation) 152,

368, 389, 399, 467, 473 Kunsttheorie 21, 25, 29, 403, 489 Kunstwissenschaft 21 Künstler, künstlerisch (s.a. Genie) 25, 30,

177 Leibort (s.a. Cakra) 159, 165, 168 Leib-Seele-Dualismus 20, 24, 26 lernen, Lernen 21, 22, 33, 34, 112, 121,

36, 91, 95, 100, 204, 219, 226, 308, 328,

126, 127, 139, 147, 221, 272, 277, 278,

336, 337, 343, 365, 368, 390, 399, 401,

286, 296, 303, 304, 307, 308, 309, 333,

451–81, 506

340, 475, 507

künstlerisches Schaffen, Schaffenskraft,

Lernpsychologie 33, 302, 304

Produktion, Produktivität (s.a. kreativ) 21, 25, 37, 324, 390 Lacan, Jacques 38, 240 Lakoff, George 45, 56, 221, 461 Laksmi (→ hinduistische Gottheiten) Lalita (→ hinduistische Gottheiten) Land 217, 244, 246, 320, 323, 324, 328,

religiöses Lernen 182, 277, 307 lesen, Lektüre (s.a. Bibel) 22, 39, 44, 54, 55, 230, 281, 283, 284, 289, 290, 296, 303, 310 Licht 131–51, 155–91, 359, 360, 361, 363, 375, 376, 453, 468, 473, 474 sakrales Licht 468, 469, 474

332

Linguistik 199, 221, 412

das Heilige Land (→ heilig)

Literatur, literarisch 30, 35, 36, 39, 40, 42,

Reines Land (s.a. Buddhismus) 356, 360, 361

54, 84, 135, 175, 176, 182, 241, 290, 296, 308, 337, 387, 390, 391, 393, 452

Landkarte, Karte 144, 152, 193, 194, 235– 66, 316, 465, 480, 487, 504, 505 mentale Landkarte, mental map 155, 190, 506

Frömmigkeitsliteratur (→ fromm) Literaturwissenschaft 35, 290, 403, 460 Macht 25, 34, 59, 77, 78, 118, 126, 158, 160, 164, 165, 173, 175, 177, 178, 180,

Landschaft 193, 194, 197–212

184, 187, 190, 191, 193, 255, 256, 257,

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544

Index

258, 259, 272, 278, 322, 326, 337, 383,

Materialität 55, 56, 58, 60, 76, 134, 194,

396, 397, 457, 459, 481, 495, 497, 508

205, 219, 226, 386, 387, 395, 403,

Handlungsmacht (s.a. agency) (→ handeln)

465, 473, 496 Medien, medial

Machtstruktur, Herrschaftsstruktur 273, 299, 383, 500, 501, 505 Magie, magisch 26, 28, 31, 391, 399, 419, 426, 427, 428

Imaginationsmedien (→ Imagination) medialer Wandel, Umbruch (→ Wandel) Medialisierung 20, 43, 51, 53, 54, 57, 64, 272, 274, 298, 394, 395, 402, 507

imitative Magie (s.a. Frazer) 427, 428, 439

Medienanthropologie (s.a. Dünne, Jörg) 240

Magiebegriff 411, 413, 420, 421, 427, 434, 439, 440

Medienbegriff 43, 50, 51, 63, 507 Mediengeschichte 29, 43, 51, 54, 63,

Magma (s.a. Castoriadis) 37, 38 Mahabharata 155–91, 331 Mahāyāna (→ Buddhismus) malen, Malerei 84, 364, 365, 366, 368, 433,

238, 239, 276 Medientheorie 43, 50, 240, 241 Meditation 18, 46, 78, 132–34, 146, 148, 149, 162–69, 174, 184–87, 282–86, 294,

468, 497, 504

297, 298, 303, 307, 310, 362, 371, 496,

Landschaftsmalerei, Landschaftsbild (→

505

Landschaft), (→ Landschaft) Maltechnik 465, 468 manipulieren, Manipulation, manipulativ 33, 51, 53, 64, 78, 131, 161, 165, 167, 179, 188, 455, 476, 497, 499, 503, 505

Heilungsmeditation, Selbstheilungsmeditation (→ heilen, Selbstheilung) meditativ 140, 165, 297, 371, 373, 374 meditieren 98, 174, 202, 284, 285, 295

Mantra 155–91

Medium (s.a. besessen) 107–28

Märchen (s.a. Mythos) 35, 394, 398, 399,

Medizin, medizinisch 26, 47, 111, 124, 135,

429, 430, 431

136, 139, 141, 151, 383, 458, 467

Maria, die Mutter Jesu 107–28

Meister Eckhart 27, 28

Marian Faith Healing Ministry (MFHM)

memoria (s.a. Gedächtnis, Erinnerung) 27,

108, 114, 119, 127 Material, materiell

297 Mensch, menschlich

material religion 43, 63, 492, 496, 497 material-based imagination (→ Imagination)

Menschenbild 277, 287 übermenschlich 78, 116, 358, 393 mental 33, 45, 50, 52, 57, 64, 77, 108, 116,

materiale Kultur (→ Kultur)

155–91, 213, 214, 216, 240, 241, 279,

materialisieren, Materialisierung,

491, 492, 507

Materialisation 39, 49, 57, 132, 136, 138, 148, 149, 151, 203, 280, 360, 364, 487

Landkarte) mentale Bilder (→ Bild)

materialistisch 323, 328, 334, 335, 338, 339

mental map, mentale Landkarte (→

mentale Konstruktion (→ Konstruktion) mentale puja (→ puja) mentale Struktur (→ Struktur)

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545

Index mentale/r Akt, Handlung, Operation 20,

buddhistischer Modernismus 235–66

25, 51, 52, 175, 210, 220, 307, 388

Moderne 42, 55, 123, 224, 325, 326,

mentaler Raum (→ Raum) Mentalität 36, 290, 310 Mentalitätsgeschichte (s.a. École des Annales, nouvelle histoire, histoire des imaginaires) 385, 389, 398

387, 451, 458, 466 moderne Religion (→ Religion) moderner Nationalstaat (→ Nationalstaat) Mönch, monastisch 202, 207, 208

Mesmerismus 31

buddhistische Mönche 235–66, 351–78

Metapher, metaphorisch (s.a. Metonym) 29,

mittelalterlich-mönchisch (→

38, 45, 127, 137, 161, 170, 180, 184, 185, 190, 193, 195, 213–33, 302, 303, 459

Mittelalter) Monotheismus, monotheistisch 27, 31, 377 Urmonotheismus 429

Metapherntheorie (s.a. Lakoff, Johnson) 45, 185, 225

Moral, moralisch (s.a. Ethik, Ethos) moral community, moralische

Metasprache, metasprachlich 18, 19, 60, 61, 109, 178

Gemeinschaft (→ Gemeinschaft) moral folk theory 224, 225

Methode, Methodik, methodisch empirische Methode, Methode der Beobachtung 372, 411, 416, 435, 436, 440

moralische Imagination (→ Imagination) moralische/s Handeln, Handlung (→ handeln) Morgan, David 43, 390, 463

Initiationsmethode (→ Initiation)

Motivation 134, 275–311, 385, 401, 402

Metonym (s.a. Metapher) 173, 184, 185

Mukerjee, Radhakamal 315–47

Meyer, Birgit 43, 51, 63, 463

muladhara (→ Cakra)

Mills, Wright 40

mundus imaginalis (s.a. Corbin, Henry) (→

Milz 47

Imagination)

Mimesis, mimetisch 25, 76, 120, 121, 122, 174, 180, 200, 297, 308, 309, 366, 436 Mission

Musik, musikalisch, Musiker 29, 35, 52, 53, 77, 89, 92, 111, 113, 116, 117, 118, 122, 145, 160, 219, 227, 470, 478, 479, 505

christliche Mission, Missionare 109, 195, 235–66, 416

Mystik, mystisch 27, 28, 167, 171, 172, 173, 278, 297, 300, 305, 370, 377, 497

Missionar 355, 414, 415, 429, 496, 499

Mystagoge 304, 478

Missionskirche 110, 123

Mystiker 27, 31, 279, 304, 374

Mittelalter 27–28, 37, 46, 47, 246 japanisches Mittelalter, mittelalterliches Japan 351, 352, 353, 364, 367 mittelalterlich-mönchisch 275, 294, 297, 307

Mnemotechnik 298 modern, Moderne

unio mystica 28, 175, 471 mythisch, Mythos (s.a. Märchen) 53, 98, 100, 107, 163, 170, 190, 217, 384, 420, 424, 429, 430, 436, 477, 499

Spätmittelalter 42, 47, 276, 279, 288, 290

mystische Erfahrung (→ Erfahrung)

Behandlungsmythos (→ behandeln) mythisches Weltbild (→ Weltbild) Mythologie, mythologisch 77, 81, 85, 94, 109, 163, 201

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546

Index

Nadelprobe 391, 393, 396, 397, 402, 501 narrativ

oral, Oralität 49, 289, 295, 296, 297, 420, 430, 431

Behandlungsnarrativ (→ Behandlung) Narration, Narrativ 77, 107, 110, 117, 127, 181, 199, 201, 247, 357, 385, 393, 453, 469

Organisation, soziale Organisation 103, 114, 272, 318, 340, 419, 426, 431, 433, 434, 463 orthodox, Orthodoxie 159, 160, 277, 278,

narrative Imagination, Imaginationstechnik (→ Imagination) Nationalstaat 315–47 Natur 25, 30, 103, 136, 137, 140, 204, 208,

282, 286, 287, 294, 310, 317 orthopraktisch, Orthopraxis 277, 278, 290, 310 osmotisches Körperbild (→ Körper)

262, 334, 339, 341, 400, 451, 456, 457,

Pädagogik, pädagogisch 33, 55, 121, 307

465, 466, 469, 475, 476

Pali, Pali-imaginaire (→ Buddhismus)

Naturgeister 110, 206

pancamakara 159

Naturwissenschaft 451, 461, 477, 479,

Papst 275, 283, 291, 300, 305

492

Para (→ hinduistische Gottheiten)

nenbutsu (s.a. Meditation) 351–78

Paracelsus 29

Neuplatonismus (→ Platonismus)

Paradigma

Neurowissenschaft, neurowissenschaftlich 181, 184, 185, 187, 189, 451, 460 non-dual, Nondualität 158, 160, 168, 170, 174, 189, 190

Forschungsparadigma 411, 412 Paradigma der Fotografie (→ Fotografie) Paradigmenwechsel 409, 410, 411, 412,

Norm, normativ, normieren 59, 76, 77, 78,

413, 417, 425

79, 108, 111, 119, 122, 125, 127, 180,

Parasurama-Kalpasutra 155–91

194, 195, 196, 214, 225, 272, 383, 402,

Parvati (→ hinduistische Gottheiten)

463, 480, 504, 505, 509

pathologische Imagination (→ Imagination)

nouvelle histoire (s.a. École des Annales, histoire des imaginaires,

Patlagean, Evelyne 389, 397, 403 Performanz 108, 110, 122, 123, 124, 133,

Mentalitätsgeschichte, Le Goff) (→

138, 150, 151, 157, 162

Geschichte)

imaginative Performanz 162, 167

nyasa 163, 172, 179

kollektive Performanz 57, 118, 122, 183,

Objekt

200

Kultobjekt, Verehrungsobjekt (→ Kult)

kulturelle Performanz 75, 117

objektivieren, Objektivierung 52, 183,

performativ, Performativität 22, 51, 52,

190, 216, 422, 460, 462 Objektsprache, objektsprachlich 19, 60 okkult, Okkultismus 30, 31, 202, 358 Ökonomie, ökonomisch 38, 126, 224, 315– 47

171, 179, 181, 183, 471, 473, 507 performative Imagination (→ Imagination) Perspektive

Opfer, opfern 19, 92, 111, 113, 144, 173, 174, 176

77, 78, 81, 84, 86, 121, 124, 156, 157,

Außenperspektive (→ außen) Innenperspektive (→ innen)

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Index religionsästhetische Perspektive 10, 20,

Politik, politisch

21, 36, 39, 41, 58, 62, 76, 88, 124,

Bildpolitik (→ Bild)

196, 240, 265, 276, 383, 386, 489,

Gesellschaftspolitik (→ Gesellschaft)

506

Imaginationspolitik (→ Imagination)

Perzeption (s.a. aisthesis, Wahrnehmung) 21, 28, 55, 135, 194, 456, 457, 464 Pfingstler, pfingstlerisch (→ Christen), (→ Christentum)

Kirchenpolitik (→ Kirche) Kolonialpolitik (→ kolonial) Politikbegriff 271 postkolonial, Postkolonialismus 41, 495

Phänomenologie, phänomenologisch (s.a. Religionsphänomenologie) 31, 32, 38, 117

prasad 92, 93, 100 Praxis, Praktiken (s.a. handeln) Alltagspraktiken (→ Alltag)

Phantasie 23, 117, 119, 132, 134, 157, 173, 175, 180, 181, 197, 220, 385, 391, 410,

ästhetische Praxis, ästhetisches Handeln 216, 272, 347, 451, 455, 457

411, 424, 438, 459, 506

Bildpraxis (→ Bild)

individuelle, private Phantasie 17, 182,

Gebetspraxis (→ beten)

199, 280, 509

Imaginationspraxis (→ Imagination)

kreative, schöpferische Phantasie (→ kreativ)

Körperpraxis (→ Körper) primitiv, Primitivität 384, 407–41

phantasia 26, 458 Phantasiereise, gelenkte Phantasie 197, 276, 461

profan, Profanität 299, 331 heilig und profan (s.a. Durkheim) (→ heilig)

Phantasiewelt 182 phantasmata (s.a. Aristoteles) 26 phantastisch, das Phantastische 180, 189, 386, 401, 492, 503 Traumphantasie (→ Traum) tutored fantasy (s.a. Pruyser) 35, 57 Philosophie, philosophisch 32, 160, 161,

Programm Bildprogramm (→ Bild) Imagiationsprogramm (→ Imagination) Programmierung 33, 278 Prozess Aushandlungsprozess (→ aushandeln) Imaginationsprozess (→ Imagination)

178, 185, 220, 354, 355, 372, 383, 387,

ritueller Prozess 132, 160, 166, 189

393, 403, 458, 459, 465, 470, 471

Transformations-, Wandlungsprozess

analytische Philosophie 32 Philosophie des Geistes 32 philosophische Imaginationstheorien (→ Imaginationstheorie) Pico della Mirandola 29 Platon 366, 377

(→ Wandel) Zuschreibungsprozess (→ Zuschreibung) Prozession 51, 86, 102, 398, 503, 505 Pruyser, Paul W. 34, 35, 57, 164, 181, 182, 183, 280

Platonismus, Neuplatonismus, platonisch 20, 25, 26, 27, 29, 30, 31 Poesie, Poetik 29, 41, 54, 163, 168, 170, 171, 172, 173, 178, 181, 316, 470, 471,

Psychoanalyse, Psychoanalytiker (s.a. Freud, Lacan, Pruyser, Winnicott) 32, 34, 37, 38, 182 Psychologie, psychologisch

473

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Index

Entwicklungspsychologie (→ Entwicklung)

real, Realität (s.a. irreal) Realitätsdichte 302

Lernpsychologie (→ lernen) psychologische Imaginationstheorie (→ Imaginationstheorie) psychophysisch, psychophysiologisch 77, 131–39, 159, 164, 167 puja (s.a. bhuta suddhi, nyasa, kamakala, sandhya) 92, 93, 97, 101, 155–91, 169– 71

Realitätssetzung 272, 273 religiöse Realität (→ Wirklichkeit) Recodierung (→ Code) reflektieren 19, 30, 40, 61, 64, 75, 208, 232, 271, 277, 286, 303, 304, 306, 457, 470, 477 Reflexion Selbstreflexion 40, 41, 178, 385

Sakti-puja 163, 170, 176, 177 Radha (→ hinduistische Gottheiten) Rahmung

Reform Reformbewegung 223, 333 Reformation, Gegenreformation 275–311

kognitive Rahmung 214, 220, 233

reglos, still, unbewegt 81–104

Rahmungstechnik 286, 292, 295

Reine Land, Reine Land-Buddhismus (→

rituelle Rahmung 109, 162, 179

Buddhismus)

Ramayana 85, 90, 331

Reine Land-Buddhismus (→ Buddhismus)

Ramesvara 160, 173, 177, 178

Rekonstruktion (→ Konstruktion)

Ramlila 85, 96

Religion (s.a. Religiosität)

Ramnagar 85, 86

moderne Religion 384, 466

Raslila 85

Religionsbegriff 42, 426, 434, 436, 437,

ratio (s.a. Intellekt, Verstand) 46, 459 rational (s.a. irrational) Rationalisierung 42, 119, 224, 225, 334, 460

439, 495 Religionsgemeinschaft (→ Gemeinschaft) traditionelle Religion 201, 476

Rationalität 224, 304, 332, 459, 505

Religionsaisthetik 55, 64, 264

Zweckrationalität 294, 301, 304, 332,

Religionsästhetik, religionsästhetisch

335, 339, 341

religionsästhetische Kategorie (→

Raum, räumlich

Kategorie)

abstrakter Raum 193 Erfahrungsraum (→ Erfahrung) Gebetsraum (→ beten) Imaginationsraum (→ Imagination) Innenraum (→ innen) mentaler Raum, Vorstellungsraum 64, 255, 298

religionsästhetische Konstruktion (→ Konstruktion) religionsästhetische Perspektive (→ Perspektive) religionsästhetische/s Programm, Themen 19–23, 43 Religionsethnologie, religionsethnologisch

Raummedien 193, 195, 196, 235–66 Raumverständnis 242, 248

384, 407–41 Religionsgeschichte, religionsgeschichtlich

Raumvorstellung 235–66, 244

23–43, 61, 62, 63, 64, 77, 78, 79, 135,

sozialer Raum 116

194, 196, 197–212, 277, 352, 356, 357,

Wahrnehmungsraum (→ wahrnehmen)

384, 385, 398, 451, 465, 489, 494, 498

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549

Index europäische Religionsgeschichte 17, 23, 383, 453, 480, 492 Religionsphänomenologie 476, 491, 497

religiöses Symbol (→ Symbol) Religiosität 203, 212, 219 Erfahrungsreligiosität (→ Erfahrung)

Religionssemiotik (s.a. Semiotik) 55, 63

Renaissance 28, 31, 304, 457, 465

religionssystematisch 50, 62, 277, 490, 491

Repräsentation

Religionswissenschaft

Götterrepräsentation (s.a. Götterbild,

diskursive Religionswissenschaft 487, 491, 494

Götterdarstellung) (→ Gott) kollektive Repräsentation 410, 436

kulturwissenschaftliche Religionswissenschaft 10, 19, 60, 64,

symbolische Repräsentation 55 visuelle Repräsentation, Darstellung

274, 388, 403, 487, 491, 493, 497 religionswissenschaftliche Theorie, Theoriebildung (→ Theorie) religionswissenschaftliche/r Begriff, Begriffsbildung 407–41 religionswissenschaftlicher Diskurs (→ Diskurs)

407–41 Rezeption Rezeptionsästhetik 295, 499 Rezeptionsgeschichte 32, 156, 355, 376 Rhythmus, rhythmisch 58, 77, 108, 113, 116, 117 riechen, Geruch 22, 53, 134, 144, 301, 302

religiös

Ritter, ritterlich 275–311

religiöse Ästhetik (→ Ästhetik)

Ritual, Ritus

religiöse Bilder, Bildnisse (→ Bild)

Initiationsritual (→ Initiation)

religiöse Diversität 201, 203

Ritualbegriff 407, 408, 409, 411, 439,

religiöse Erfahrung (→ Erfahrung) religiöse Gemeinschaft (→ Gemeinschaft)

440, 496 Ritualdiagramm 158–77 Ritualisierung 108, 159, 161, 232, 272

religiöse Gruppe (s.a. Gemeinschaft) 136, 145, 198, 202, 209

Ritualtheorie 141, 157 rituell

religiöse Identität (→ Identität)

rituelle Imagination (→ Imagination)

religiöse Imagination, religiöses

rituelle Rahmung (→ Rahmung)

Imaginieren (→ Imagination)

ritueller Prozess (→ Prozess)

religiöse Praxis (→ Praxis)

Rolle (soz.) 275–311

religiöse Technik (→ Technik)

Romantik, romantisch 30, 31, 55, 78, 315–

religiöse Texte (→ Text)

47, 451–81, 491, 498, 499

religiöse Topographie (→ Topographie)

romantische Ästhetik (→ Ästhetik)

religiöse Tradition (→ Tradition) religiöse Vorstellungswelt (→ Vorstellung)

sakral 103, 157, 158, 163, 178, 190, 211, 295, 416, 424, 425, 430, 431, 432, 433, 434, 435, 438, 440, 497, 506

religiöse Wirklichkeit, Realität (→ Wirklichkeit)

sakrales Licht (→ Licht) sakralisieren, Sakralisierung 17, 18, 60,

religiöse/r Transformation, Wandel (→ Wandel)

157, 162, 164, 166, 179, 204, 496, 501

religiöses Lernen (→ Lernen)

Sakralität 76, 500

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550

Index

Selbst-Sakralisierung 165 Sakrament, sakramental 165, 174, 300, 305, 310, 332

sehen, Sehen 21, 22, 48, 49, 56, 84, 133, 276, 298, 301, 344, 360, 363, 366, 372, 451, 457, 463, 468, 473, 474, 506

Sakti (→ hinduistische Gottheiten)

Selbstheilung (→ heilen)

samādhi, samādhi-Erfahrung 373, 374, 377

Selbstreflexion (→ Reflexion)

sandhya 165

Semantik, semantisch 23, 108, 110, 111,

Satan 110, 114, 284, 288, 307

146, 156, 157, 161, 168, 169, 175, 176,

schauen, anschauen (s.a. betrachten, sehen)

179, 188, 371, 388, 469, 490, 491, 496,

48

503

anschauen, Anschauung 20, 27, 30, 36,

Semiotik, semiotisch (s.a.

64, 104, 284, 293, 299, 363, 384, 456,

Religionssemiotik, Zeichen) 20, 43, 55,

465, 471

58, 61, 120, 156, 178, 180, 204, 491,

geistige Anschauung, inneres Schauen 27, 30

496, 506, 509 sensorisch 20, 53, 143, 144, 145, 151, 201,

Schau, mystische Schau 31, 160, 322, 370, 377

208, 209, 210, 211, 506 Sexualität, sexuell 42, 44, 96, 168, 171,

Veranschaulichung 81–104 Scheitelchakra (→ Cakra)

175, 189, 318 sichtbar, Sichtbarkeit (s.a. unsichtbar) 36,

Schlaf, schlafen 166, 283, 286, 293, 294

57, 81, 84, 113, 122, 139, 141, 158, 159,

Schleiermacher, Friedrich D. E. 470, 471,

163, 164, 178, 183, 199, 339, 359, 386,

473, 475, 492

438

schmecken, Geschmack(ssinn) 21, 22, 27, 208, 301, 302, 303 Schmerz, Schmerzempfinden 53, 132, 143, 145, 294, 300, 424 Scholastik, scholastisch 278, 296, 303, 394 schöpfen, Schöpfung (s.a. erschaffen, kreativ) 98, 160, 174, 190, 343, 389, 491 Schrift, schriftlich 43, 54, 55, 84, 281, 294, 296, 387, 388, 397 Schriftsprache 54

singen, Gesang 53, 150, 207, 208 Sinne, sinnlich (s.a. sensorisch) Anthropologie der Sinne 45 äußere Sinne (s.a. innere Sinne, inneres Auge) 27, 46, 168, 464 innere Sinne (s.a. inneres Auge) 27, 46, 47 Sinneserfahrung, sinnliche Erfahrung 25, 56, 196, 219, 285, 383 Sinneshierarchie,

verschriftlichen, Verschriftlichung 252, 282, 283

Wahrnehmungshierarchie 46, 50, 128, 188

Schulte-Sasse, Jochen 24, 25, 48, 54, 55

Sinnesorgan 18, 372

Schwarte, Ludger 118, 155, 182, 183, 184

Sinnesreiz 144, 199, 200, 292, 462

Seele 25–28, 46, 48, 142, 162, 167, 177,

Sinneswahrnehmung, sinnliche

287, 288, 291, 297, 300, 301, 303, 307, 324, 339, 383, 424, 428, 464, 472, 475 Leib-Seele-Dualismus (→ Leib) Seelenkräfte, Seelenvermögen 26, 306, 460

Wahrnehmung (→ Wahrnehmung) sinnliche Imagination (→ Imagination) sinnliches Erleben, Erlebnis (→ erleben) Sita (→ hinduistische Gottheiten) Siva (→ hinduistische Gottheiten)

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551

Index Sivaratri ("Nacht Sivas") 87

Struktur

Smith, Jonathan Z. 19, 42, 43, 494, 495

Bedeutungsstruktur (→ Bedeutung)

Societas Jesu (→ Jesuiten)

Machtstruktur, Herrschaftsstruktur (→

Solidarit, Solidaritätsgefühl 332, 335, 342, 345, 426, 434

Macht) mentale Struktur, Denkstruktur 21, 226,

Somatik, somatisch 49, 61, 75, 77, 131–51, 158, 163, 167, 188, 458, 509 Soziologie, Sozialwissenschaften 19, 35, 37, 40, 41, 64, 75, 403, 412, 492 Erkenntnissoziologie (→ Erkenntnis) Wissenssoziologie (→ Wissen) Spencer, Baldwin 407–41 Spiritualität, spirituell

271, 272 Symbolstruktur (→ Symbol) Wahrnehmungsstruktur (→ Wahrnehmung) subjektiv das Subjektive 17, 35, 61, 480 intersubjektiv 59, 178, 190, 191, 280, 505

alternative Spiritualität 201

subjektives Erleben (→ Erleben)

spirituelle Erfahrung (→ Erfahrung)

Subjektivität 17, 20, 79, 107, 116, 272,

spirituelles Heilen (→ heilen) Sprache, sprachlich, Sprechen

278, 282, 318, 343, 345, 462 Südasien, Südostasien (→ Asien)

metaphorische Sprache 220, 221, 223

Suggestion, suggestiv 131–51

objektsprachlich (→ Objekt)

Sünde, sündhaft 47, 162, 166, 284, 287,

Schriftsprache (→ Schrift) sprachliche Imagination (→ Imagination)

291, 292, 294, 361, 459 svarup 86, 87, 92, 93, 97 Swahili 110, 112

Sricakra 169, 170, 172, 174, 175, 180

Syama (→ hinduistische Gottheiten)

Srividya 155–91

Symbol, symbolisch

Stil

das Symbolische 388, 389

ästhetischer Stil 228

religiöses Symbol 20, 309, 337, 402

Imaginationsstil (→ Stil)

symbolische Bedeutung (→ Bedeutung)

Lebensstil (→ Leben)

symbolische Repräsentation (→

Stilisierung 456, 466, 474, 479 Stilmittel 222, 367, 474, 478 Stillstand (→ reglos) Stimmung 177, 292, 293, 396 stimulieren, Stimulus 180, 181, 182, 288, 289, 294, 295, 458, 474, 477, 496, 497,

Repräsentation) Symbolstruktur 281, 286 Symbolsystem 37, 38, 182, 190, 278, 280, 288, 289, 307, 308, 310, 410, 509 Szene, Szenerie 52, 85, 90, 100, 120, 123,

504, 505, 506, 507

132, 142, 143, 145, 187

Stimuli der Einbildungskraft (→

imaginierte Szenerie 275–311

Einbildungskraft) Strategie, strategisch 64, 75, 78, 138, 164,

szenische Imagination (→ Imagination) tableau vivant (s.a. jhanki) (→ Bild)

185, 189, 194, 213, 226, 237, 239, 246,

Tansania 107–28

254, 271, 310, 353, 367, 412, 422, 470,

Tantra, tantrisch 155–91

478, 479, 500

tantrische Gottheiten (→ Gott)

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552

Index

yogisch-tantrisch (→ Yoga) Tanz, Tänzer 52, 77, 107–28, 143, 160, 215, 227, 487, 504, 505 Trancetänzer (→ Trance) Technik (s.a. Technologie) Imaginationstechnik (→ Imagination)

Tibetischer Buddhismus (→ Buddhismus) Topik (s.a. Bornscheuer) 41, 460, 503 Topographie 193, 464, 499 religiöse Topographie 197–212 Totem, Totemismus 407–41 Tradition, traditionell

Körpertechnik (→ Körper)

ästhetische Tradition 336

Kulturtechnik, kulturelle Technik (→

Bildtradition (→ Bild)

Kultur)

religiöse Tradition 78, 84, 195, 197, 198,

Maltechnik (→ malen) Rahmungstechnik (→ Rahmen) religiöse Technik 18, 232 Technologie (s.a. Technik) 240, 256, 315, 316, 383, 456, 466, 481 Technologien des Selbst (s.a. Foucault) 78, 79, 165, 168, 180, 272, 507

201, 202, 203, 205, 208, 209, 210, 378, 410, 441, 458 traditionelle Religion (→ Religion) Trance 107–28 hypnotische Trance 132 Trancetänzer 107–28 Transformation, transformieren

Teufel, Teufelsmal, Teufelspakt 387–403

religiöse Transformation 279, 282

Text, textlich 39, 40, 41, 44, 55, 77, 151,

Selbsttransformation 165, 179, 190, 501

161, 263, 264, 276, 277, 283, 295, 296, 297, 351, 355, 356, 357 religiöser Text 39, 98, 297 textliche Imagination (→ Imagination) Thailand 235–66

Transformationsprozess, Wandlungsprozess (→ Wandel) transformative/r Wirkung, Effekt (→ Wirkung) transzendent 174, 175, 285, 342, 343

Theater 34, 85, 86, 87, 95, 97, 298, 391, 398

das Transzendente 18, 316, 336, 337, 341

Theorie, theoretisch

transzendente Wesen, Entitäten 22, 60,

Imaginationstheorie (→ Imaginationstheorie)

109, 179 transzendieren, Transzendenz 21, 45, 56,

Kunsttheorie (→ Kunst)

135, 158, 180, 182, 280, 297, 301, 302,

Medientheorie (→ Medien)

303, 304, 306, 308, 336, 344, 474

Ritualtheorie (→ Ritual) Verbindung von Empirie und Theorie (→ Empirie)

Transzendenz und Immanenz 18, 334 Traum, träumen 36, 181, 328, 360, 363, 364, 366

Theosophie, theosophisch 133, 139, 140,

Tagtraum 44, 56, 215, 220, 301

188, 500

Traumbild, Traumgesicht 363, 364

Theosophische Gesellschaft 340

Traumzeit (s.a. Alcheringa) 419, 424,

Therapie, Therapeut, therapeutisch 32, 33,

430

77, 78, 107–28, 131–51, 186, 188, 202,

Turner, Mark 56, 221

209, 276, 461, 462, 464, 500

übersinnlich 198, 206, 207, 208, 210, 470,

therapeutische Landschaft 131–51

491, 497

Theravāda (→ Buddhismus)

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553

Index überzeugen, Überzeugungskraft 95, 100, 104, 131, 132, 134, 147, 151, 158, 195, 245, 246, 250, 253, 257, 258, 261, 306, 339, 344, 390, 474, 477 Übung, üben

Verhaltensforschung 33 Verhaltensmodell 308 verinnerlichen, Verinnerlichung 278, 302, 303, 325, 460 verkörperlichen, verkörpern (s.a.

geistliche Übungen (→ Exerzitien)

embodiment, Körper, Leib) 17, 29, 51,

Imaginationsübung, imaginative Übung

59, 76, 78, 86, 96, 97, 462, 487, 491,

(→ Imagination) kontemplative Übung 179, 185

492, 502 verkörperte Imagination, somatische

Übungsmethode, Übungsprogramm

Imaginationstechniken (→

275–311

Imagination)

unbestimmt 38, 109, 116, 117, 118, 122, 126, 127, 474

Verstand (s.a. Intellekt, Ratio) 276, 284, 303, 306, 310, 458

unbeweglich, unbewegt (→ reglos) unbewusst 155, 156, 158, 189, 205, 281, 300, 307, 308, 497, 507, 509 unendlich, Unendlichkeit 38, 45, 165, 169, 191, 466, 471, 474, 476 unio mystica (→ Mystik) universal, universalisieren 39, 42, 50, 53, 58, 61, 62, 151, 247, 251, 264, 265, 333, 344, 440, 457, 471 Universum 161, 497

verwandeln, Verwandlung (s.a. Transformation, Wandel) 157, 162, 163, 164, 165, 173, 174, 175, 177, 178, 179, 188, 200, 376, 399, 400 verwirklichen, Verwirklichung 96, 332, 333, 334, 335, 336, 343, 344 Virtualität, virtuell 38, 156, 162, 163, 170, 173, 178, 180, 181, 194, 222, 230, 289, 474, 502, 507 Vision 357, 358, 360, 363, 364, 365, 370,

Bilder vom Universum 451–81 unsichtbar, das Unsichtbare (s.a. sichtbar) 57, 59, 76, 77, 104, 116, 118, 158, 159, 164, 179, 183, 299, 339 unsterblich, Unsterblichkeit 157, 165, 166, 167, 169, 171, 172, 173, 180, 476 Urmonotheismus (→ Monotheismus) Utopie, utopisch 59, 328, 386, 465 Varahi (→ hinduistische Gottheiten) verehren, Verehrung 114, 155–91, 316, 339,

371, 372, 373, 374, 376, 462 Visnu (→ hinduistische Gottheiten) visualisieren, Visualisation 18, 20, 48, 49, 55, 94, 104, 108, 139, 147, 156, 163, 165, 166, 167, 168, 171, 178, 188, 199, 227, 242, 294, 297, 298, 316, 371, 407– 41 Visualität 49, 158, 163, 280, 407–41, 503, 506 visuell

340, 359, 360, 367, 368, 452

visuelle Ästhetik (→ Ästhetik)

Bilderverehrung, Kultbildverehrung (→

visuelle Darstellung, Repräsentation (→

Bild)

Repräsentation)

Götterverehrung 155–91, 201 Verhalten 39, 59, 76, 112, 143, 164, 175,

visuelle Einbildungskraft (→ Einbildungskraft)

181, 189, 272, 276, 291, 305, 322

visuelle Kultur (→ Kultur)

Verhaltensform, Verhaltensweise 76,

visuelle Vorstellungen (→

101, 118, 120, 123, 181, 310

Vorstellungen)

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554

Index

visuelle Wahrnehmung (→ Wahrnehmung) Volksglaube (→ Glaube) Vorstellung, (sich etwas) vorstellen (s.a

149, 156, 181, 182, 189, 193, 194, 196, 197–212, 226, 386, 387, 388, 458, 463, 469, 490, 496, 497, 498, 504, 506, 509

Einbildung, Imagination)

visuelle Wahrnehmung 33, 56

Vorstellungslenkung, Lenkung der

Wahrnehmungsästhetik 43, 45, 63

Imagination (→ Imagination) Vorstellung, (sich etwas) vorstellen (s.a. Einbildung, Imagination) abstrakte Vorstellungen 155, 180, 214, 231

Wahrnehmungsform 437, 438, 475, 506 Wahrnehmungsgeschichte 43, 45, 63 Wahrnehmungshierarchie, Sinneshierarchie (→ Sinne) Wahrnehmungslenkung 137, 155

individuelle Vorstellungen 36, 119, 211, 389, 403, 509

Wahrnehmungsraum 137, 181 Wahrnehmungsstruktur 21, 22, 43, 56,

Raumvorstellung (→ Raum)

221, 222

Vorstellungsbild, Imaginationsbild 21,

Wandel (s.a. Transformation, verwandeln)

35, 52, 56, 171, 177, 189, 275–311,

384, 386, 461, 462, 463, 464, 467, 495,

497

509

Vorstellungskraft 17, 18, 20, 26, 28, 33, 64, 75, 84, 97, 240, 301, 410, 423, 437, 439, 441, 477, 508 Wandel von Vorstellungen (→ Wandel) Vorstellungswelt 36, 58, 76, 109, 181, 189, 196, 243, 272, 301, 386, 390, 489, 490, 496

gesellschaftlicher Wandel 122, 124, 127, 346 kultureller Wandel, Transformation 273, 280, 310, 336, 508 medialer Wandel, Umbruch 55, 239, 273, 383, 494, 496, 500, 506 Wandel von Vorstellungen, Imagination

individuelle Vorstellungswelt 389, 403 kollektive Vorstellungswelt 36, 389, 395, 396, 403, 410, 487, 490, 506 religiöse Vorstellungswelt 17, 386, 407– 41, 497, 505, 506, 509 Wahngebilde, Wahnvorstellung (s.a. Halluzination) 9, 20, 24, 32, 386 Wahrheit 27, 118, 189, 208, 259, 264, 265, 333, 335, 339, 340, 342, 343, 346, 371, 373, 461, 508

55, 235–66, 256, 273, 274, 494, 500 Wandlungsprozess, Transformationsprozess 78, 127, 151, 243, 276, 279, 280, 282, 290, 291, 306, 309, 310, 311, 383, 453, 507 Warnock, Mary 24, 44, 45 weihen, einweihen 37, 102, 114, 158, 161, 163, 171, 176, 190, 201, 278, 497 Weihrauch 82, 134 Weihwasser 60, 100, 101, 115, 157

Wahrnehmung (s.a. aisthesis, Perzeption) Außenwahrnehmung (→ außen) Innenwahrnehmung (→ innen)

Welt, weltlich Alltagswelt, Alltagswirklichkeit (→ Alltag)

Körperwahrnehmung (→ Körper)

Außenwelt (→ außen)

sinnliche Wahrnehmung,

Gefühlswelt (→ Gefühl)

Sinneswahrnehmung 9, 20, 21, 22,

Innenwelt (→ innen)

27, 28, 33, 34, 56, 58, 62, 76, 116,

Lebenwelt (→ Leben)

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555

Index Phantasiewelt (→ Phantasie) Weltanschauung 266, 453 Welterzeugung, Wirklichkeitserzeugung

transformative/r Wirkung, Effekt (s.a. Transformation) 29, 76, 119, 187 Wissenschaft, wissenschaftlich 407–17

103, 168, 178, 180, 181, 216, 240,

Bildwissenschaft (→ Bild)

389, 481

wissenschaftliche Erkenntnis (→

Weltbild 27, 30, 36, 40, 49, 58, 79, 158, 170, 189, 190, 191, 250, 253, 272, 274, 299, 300, 307, 308, 310, 478

Erkenntnis) wissenschaftliches Weltbid (→ Weltbild)

buddhistisches Weltbild 237, 253

Wissenschaftsgeschichte 257, 441

geozentrisches Weltbild 262

Wissenskommunikation,

heliozentrisches Weltbild 263 katholisches Weltbild 275, 277

Wissenschaftskommunikation (→ Kommunikation)

mythisches Weltbild 289

Writing Culture-Debatte (→ Kultur)

wissenschaftliches Weltbild 195, 196,

Yoga 136

499, 505

yogischer Körper (→ Körper)

Werte 17, 26, 120, 121, 122, 127, 224, 225, 230, 308, 315–47

yogisch-tantrisch (s.a. Tantra) 49, 171, 175, 190, 375

Werte und Normen 119, 120, 200

Zeichen (s.a. Semiotik) 20, 21, 36, 43, 55,

White Eagle Lodge 131–51

63, 75, 135, 151, 178, 190, 191, 241,

Winnicott, Donald W. 34

265, 304, 305, 383, 433, 440

wirklich, Wirklichkeit (s.a. Realität) 168,

Zeichendeutung 43, 63

178, 367, 373, 376, 389, 410, 428, 495,

Zeichenhandlung 386, 490

497

Zeichentrick(film) 398, 400, 401, 402

Alltagswirklichkeit (→ Alltag)

Zeichnung 248, 400, 431, 432

geistige Wirklichkeit 56, 57

Zen, Chan (→ Buddhismus)

religiöse Wirklichkeit, Realität 18, 45,

Zeremonie (s.a. Ritual) 86, 102, 133, 148,

497, 505

188, 398, 407–41

Wirklichkeitserzeugung (→ Welterzeugung) Wirkung

Zuschreibung Bedeutungszuschreibung (→ Bedeutung)

ästhetische Wirkung 468, 499

Zuschreibungsprozess 48, 56

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