Kulturgeschichte des Heiligen Römischen Reiches: 1648 bis 1806: Verfassung, Religion und Kultur 9783205127987, 320599308X, 9783205993087

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Kulturgeschichte des Heiligen Römischen Reiches: 1648 bis 1806: Verfassung, Religion und Kultur
 9783205127987, 320599308X, 9783205993087

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bóhlauWien

Studien zu Politik und Verwaltung Herausgegeben von Christian Brünner • Wolfgang Mantl • Manfried Welan Band 72

Peter Claus Hartmann

Kulturgeschichte des Heiligen Römischen Reiches 1648 bis 1806 Verfassung, Religion und Kultur

Böhlau Verlag Wien • Köln • Graz

Gedruckt mit Unterstützung durch das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Wien, die Osterreichische Forschungsgemeinschaft, die Hermann Gutmann Stiftung Nürnberg, den Sparkassenverband Bayern, die Firma Götz-Gebäudemanagement Regensburg, die Münchner Bank, die Freunde der Universität Mainz und die Sparkassenstiftung Straubing

Umschlagentwurf: Beate Hartmann

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich ISBN 3-205-99308-X

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.

© 2001 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. & Co. KG, Wien • Köln • Graz http://www.boehlau.at Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier. Druck: Berger, A-3580 Horn

Vorwort Eine kulturgeschichtliche Darstellung ist besonders umfassend und deshalb schwierig, da sie alle Lebensbereiche des Menschen berücksichtigen sollte. Sie bleibt aber eine faszinierende Aufgabe. Schon der bedeutendste Kulturhistoriker des 19. Jahrhunderts, Jacob Burckhardt, hat auf das entscheidende Problem jeder Kulturgeschichte hingewiesen, daß hier Spezialistentum mit wissenschaftlichem „Dilettantismus" kombiniert werden müsse. Diese von Burckhardt für unabdingbar gehaltene Verbindung macht eine solche Darstellung aus einer Feder besser lesbar und einheitlicher, kann aber auch leicht Kritik von Spezialisten der verschiedenen berücksichtigten wissenschaftlichen Disziplinen auf sich ziehen. Allerdings besteht bei einem von verschiedenen Fachleuten verfaßten Sammelwerk die Gefahr, daß dort statt „Interdisziplinarität" in erster Linie „Multidisziplinarität" geboten würde. Mag für ein anspruchsvolles Handbuch trotz der hier aufgezeigten Gefahr der Weg eines Sammelbandes der richtige sein, so soll hier aus den erwähnten Gründen in einer Gesamtdarstellung ohne Handbuchansprüche der Versuch gemacht werden, die Grundzüge der kulturellen Entwicklung des Heiligen Römischen Reiches in seinen letzten gut 150 Jahren in einem Guß, aus einer Feder und von der Warte des Historikers aus nachzuzeichnen. Um mich gegen Kritik abzusichern, habe ich besonders exponierte Passagen verschiedenen Fachvertretern zur Uberprüfung und kritischen Durchsicht gegeben. Ich danke in diesem Zusammenhang den Universitätsprofessoren Dr. Axel Beer (Musikwissenschaft, Univ. Mainz), Dr. Dr. Otto Böcher (Evangelische Theologie, Univ. Mainz), Dr. Karl Möseneder (Kunstgeschichte, Univ. Erlangen) und Dr. Georg Schwaiger (Katholische Theologie, Univ. München). Als räumliche Abgrenzung wurde hier bewußt nicht Deutschland oder Osterreich gewählt, sondern das damals relevante Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, das nicht nur politisch, sondern auch kulturell eine lockere Einheit bildete, gleichsam eine Art Mitteleuropa der Regionen. Deshalb werden hier neben Deutschland und Österreich Gebiete berücksichtigt, die heute zu Polen, Tschechien, Slowenien, Italien, Liechtenstein, zur Schweiz, zu Frankreich, Luxemburg und Belgien gehören. Der zeitliche Rahmen vom Westfälischen Frieden 1648 bis zur Säkularisation 1803 bzw. dem Ende des Reiches 1806 bietet sich als eine für die kulturelle Entwicklung besonders interessante Epoche (Barock und Aufklärung) an.

6

Vorwort

Ganz herzlichen Dank schulde ich auch meinen Schülern Herrn Hochschuldozenten Dr. Konrad Amann und Herrn Hochschulassistenten Dr. Helmut Schmahl für die kritische Durchsicht des Manuskriptes. Für diverse den belgischen Raum betreffende Hilfestellungen danke ich Herrn Prof. Dr. Reginald de Schryver, Univ. Löwen. Da die Bebilderung zur Veranschaulichung und Untermauerung des Textes besonders wichtig ist, wurde versucht, soweit finanziell erschwinglich, hier möglichst viele Abbildungen einzufügen. Für ihre Beratung und Hilfe in diesem Bereich danke ich den verschiedenen Archiven und Amtern, die Fotos oder Dias geliefert haben, sowie den Damen und Herren I. Bruckmüller, I. Just, A. Huber, A. Mayer, L. Pelizaeus, H. Ramisch, J. J. Schmid, St. Warnatsch, A. Wilhelm und besonders meiner lieben Frau Beate. Sehr herzlich sei auch dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Wien, der Osterreichischen Forschungsgemeinschaft, der Hermann Gutmann Stiftung Nürnberg, hier namendich den Herren D. Resch und H. Novotny, dem Bayerischen Giro- und Sparkassenverband und hier vor allem Herrn Dr. Manfred Pix und Herrn Dr. Krüger, Herrn Karlheinz Götz vom Götz-Gebäudemanagement Regensburg, der Münchner Bank (Herrn Haak), den Freunden der Universität Mainz und der Sparkassenstiftung Straubing, hier Herrn Direktor Bauer, für Druckkostenzuschüsse, besonders für die Bebilderung, gedankt. Dank sage ich auch Frau Spitzenberger, Staatliche Bibliothek Passau, für ihre Unterstützung, ferner meinen Schüler(inne)n Boris Kling, Gerhard Fieguth, Nina Schneider, Marion Kruger, Annette Reese und Carsten Schneider für ihre Hilfe beim Erstellen des Textes auf dem PC. Frau Reese und Herr Schneider haben auch das Register angefertigt. Besonders danke ich außerdem den Herausgebern, den Professoren Dr. Christian Brünner, Dr. Manfried Welan und besonders Dr. Wolfgang Mand, für die Aufnahme meines Buches in ihre Reihe und dem Böhlau Verlag Wien, vor allem Herrn Dr. Peter Rauch, Frau Dr. Eva Reinhold-Weisz und Frau Ulrike Dietmayer, für die gute Zusammenarbeit. Das Manuskript war im Sommer 2000 abgeschlossen. Mainz, im Juni 2001

Peter C. Hartmann

Inhalt

Einleitung

15 I. Das Heilige Römische Reich von 1648 bis 1806 und seine Verfassung - ein idealer Rahmen für kulturelle Blüte und Vielfalt

1. Mitglieder des Reiches und ihre weitgehende Unabhängigkeit 1.1. Weltliche Fürsten und ihre Territorien 1.2. Geistliche Fürsten und ihre Territorien 1.3. Reichsprälaten, Reichsgrafen, Herren und Reichsritter 1.4. Reichsstädte und Reichsdörfer 1.5. Weitgehende Unabhängigkeit durch Landeshoheit

23 23 27 32 35 36

2. Gemeinsame Institutionen 2.1. Kaiser 2.2. Mainzer Reichserzkanzler 2.3. Reichstag 2.4. Reichskreise 2.5. Reichsgerichte

38 38 42 45 47 49

3. Bevölkerung, Gesellschaft und Wirtschaft 3.1. Einwohnerzahlen 3.2. Vielfalt der Konfessionen 3.3. Sprachliche Verschiedenheiten 3.4. Gesellschaftsstruktur 3.4.1. Adel 3.4.2. Geistlichkeit 3.4.3. Bürgertum, Bauerntum und Unterschichten 3.5. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen

51 51 52 55 55 56 59 65 68

4. Günstige Voraussetzungen für die Entwicklung vielseitiger Kultur 4.1. Garantierter Konfessionsstand und Gleichberechtigung der drei Hauptkonfessionenen auf Reichsebene

71 71

8

Inhalt

4.2.

Friedenssicherung und Friedensordnung

75

4.3.

Kulturelle Entfaltungsmöglichkeiten für Minderheiten

77

5. Auswirkungen von Außenpolitik und Krieg auf die Kultur 5.1. Außenpolitische Bindungen als Faktor von Kulturund Kunstvermittlung 5.2. Negative Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges für Kultur und Kunst 5.3.

Die Kriegsfolgen in der zweiten Hälfte des 17. und im 18. Jahrhundert

82 82 83 85

II. Religiöse Grundlagen der Kulturen 1648-1806 1. Unterschiedliche Auslegung der Heiligen Schrift in der Bilderfrage als Ausgangspunkt gegensätzlicher Kulturentwicklung

89

1.1.

Bibelstellen zugunsten der Bildergegner

89

1.2.

Bibelstellen zugunsten der Bilderfreunde

90

1.3.

Folgerungen der Kalvinisten und Zwinglianer: Bilderverbot in Kirchen Folgerungen der Katholiken: Fülle von Bildern und Figuren in den Kirchen

1.4. 1.5.

Große Variationsbreite innerhalb des Luthertums in der Bilderfrage

2. Unterschiedliche Konzeptionen von Kirchenraum 2.1.

Das katholische Kirchengebäude - ein durch besondere

2.2.

Weihe sakralisiertes Haus Gottes Reformatorische Konzeption von Kirchenraum

3. Kontroverse Abendmahlslehren 3.1. Katholische Kirche 3.2. Reformatorische Kirchen 3.3.

Auswirkungen auf Frömmigkeitsformen und Kunst

4. Unterschiedliche Konzeptionen von Gottesdienst und Kult 4.1. Katholische Messe

92 95 97 102 102 104 106 106 107 108 111 111

9

Inhalt

4.2.

Reformierter Gottesdienst

114

4.3.

Lutherischer Gottesdienst

117

5. Heiligen-und Reliquienverehrung

120

5.1.

Katholizismus

120

5.2.

Reformatorische Kirchen

124

5.3.

Schaffung zusätzlicher künstlerischer Bedürfnisse durch die Heiligenverehrung

126

6. Wallfahrten und Prozessionen 6.1.

Besondere Blüte in der katholischen Kirche

6.2.

Ablehnung der Wallfahrten und Prozessionen durch die

128 128

reformatorischen Kirchen

134

7. Religiöse Orden und Klöster, Bruderschaften und Kongregationen

136

7.1.

Blüte in der katholischen Kirche

136

7.2.

Weitgehende Ablehnung durch die Reformatoren

139

7.3.

Starke Förderung von Kirchenbau, Kunst und Bildung durch die Orden, Klöster, Bruderschaften und Bürgerkongregationen

142

8. Struktur der Kirchen

145

8.1.

Protestantische Landeskirchen

145

8.2.

Die katholische Weltkirche

147

9- Pfarreien und Pfarrer 9.1.

153

Katholische Kirche

9.2.

Protestantische Kirchen - Betonung der Pfarrgemeinde

9.3.

Große kulturelle Bedeutung des protestantischen

153 . . . . 155

Pfarrhauses 10. Besondere Akzente der religiös bestimmten Kulturen

159 161

10.1. Klöster und Orden als wichtige Bildungs-, Kultur- und Wirtschaftszentren im katholischen Raum 10.2. Große kunstschöpferische Kraft der katholischen Kirche

161 . . . 164

10.3. Anziehungskraft katholischer Frömmigkeit und Kultur im 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Konversionen

167

10

Inhalt

10.4. Besondere Förderung von Literatur und Wissenschaften durch die protestantische Wort-und Lesekultur 10.5. Ausbildung einer spezifisch protestantischen Arbeitsethik 10.6. Förderung der neuzeitlichen Demokratie durch Calvins Staats- und Kirchenidee

170 172 175

III. Kirchliche Architektur, Kunst und Musik 1. Reformierte (kalvinistische) Territorien und Reichsstädte 1.1. Kirchenbau 1.2. Kirchenmusik

177 177 180

2. Katholische Territorien und Reichsstädte 182 2.1. Kirchenbau 182 2.2. Innenausstattung der Kirchen 188 2.3. Baumeister und Künstler 190 2.3.1. Die Dientzenhofers 191 2.3.2. DieAsams 193 2.3.3. Die Wessobrunner Stukkatorenschule 194 2.3.4. Die Vorarlberger Bauschule 198 2.3.5. J. M. Fischer, B. Neumann, M. v. Welsch und J. C. Schlaun als Kirchenbaumeister 199 2.3.6. Fischer von Erlach, J. L. Hildebrandt, J. Prandtauer und andere österreichische Baumeister 202 2.3.7. Maler und Bildhauer 206 2.3.8. Sozialer Aufstieg und gute wirtschaftliche und finanzielle Absicherung durch Tätigkeit in Architektur und Kunst 210 2.3.9. Zur Finanzierung des Kirchenbaus 212 2.4. Kapellen, Wegkreuze, Heiligenfiguren und Kreuzwege 216 2.5. Kirchenmusik 220 2.5.1. Fortführung mittelalterlicher Kirchenmusik und Bedeutung des Tridentinischen Konzils 220 2.5.2. Kirchliche Musik in der Barockzeit - Andachtsmusik liturgischer Gottesdienst 222

11

Inhalt

2.6.

2.5.3. Die katholische Kirchenmusik von der Enzyklika „Annus qui" (1749) bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts 2.5.3.1. Repräsentationsgottesdienst und orchesterbegleitete Kirchenmusik 2.5.3.2. Außerliturgische Kirchenmusik und Kirchenlied Geistliches Theater und Mysterienspiele

3. Lutherische Territorien und Reichsstädte 3.1. Kirchenbau 3.1.1. Allgemeine Entwicklung 3.1.2. Kanzelkirchen 3.1.3. Frauenkirche in Dresden - Höhepunkt lutherischen Kirchenbaus 3.1.4. Baumeister und Künstler 3.1.5. Zur Finanzierung der Kirchen 3.2. Kirchenmusik 3.2.1. Kirchenlied 3.2.2. Motetten, geistliche Konzerte und Kantaten 3.2.3. Passionen und Oratorien 3.2.4. Johann Sebastian Bach - Höhepunkt evangelischer Kirchenmusik 3.2.5. Evangelische Kirchenmusik von 1750 bis 1803

226 228 229 231 234 234 234 238 239 241 242 246 246 248 250 252 254

IV. Kulturen von Minderheiten 1. Juden 1.1. 1.2. 1.3.

Zahl und Verbreitung Rechtliche Stellung und gesellschaftliche Gliederung Spezifisch jüdische Kultur im 17. und 18. Jahrhundert

2. Mennoniten, Spiritualisten, Mährische Brüder, Herrnhuter 2.1. Verbreitung und rechtliche Stellung 2.2. Religion und Kultur

255 255 256 263

Gemeine 268 268

12

Inhalt

3• Pietisten 3.1. Verbreitung und rechtliche Stellung 3.2. Spezifische Kultur der radikalen Pietisten

272 272 273

4. Hugenotten 4.1. Verbreitung und rechtliche Stellung 4.2. Spezifisch französisch-hugenottische Kultur

275 275 276

5. Rechtlich abgesicherte Nischen für Minderheitenkulturen

279

V. Höfische Kultur 1. Bedeutung des Hofes im 17-und 18. Jahrhundert 283 1.1. Repräsentationszentrum 283 1.2. Herrschaftsinstrument und Wirkungskreis des Monarchen . . . 285 2. Verschiedene Typenfürstlicher Höfe 2.1. Großer zeremonieller Hof 2.2. Hausväterlicher Hof 2.3. Musenhof und geselliger Hof

288 288 292 293

3• Besondere Bereiche höfischer Kultur 3.1. Schloßbau und Parkanlagen 3.2. Malerei und bildende Kunst 3.3. Hofmusik, Oper, Ballett und Theater 3.4. Pflege von Literatur, Wissenschaft und Bibliotheken 3.5. Höfische Feste und Jagden

295 295 303 311 316 317

VI. Bildungswesen, Bibliotheken und Literatur 1. Elementarschulen 1.1. Protestantische Territorien und Reichsstädte 1.2. Katholische Territorien und Städte

327 328 331

2. Höheres Schulwesen 2.1. Lateinschulen und Gymnasien in den protestantischen Gebieten

338 338

Inhalt

13

2.2.

Höhere Schulen in katholischen Territorien und Reichsstädten

340

2.3.

Höheres Schulwesen der Mädchen

344

3. Universitäten und Hochschulen

347

3.1.

Katholische Territorien und Städte

349

3.2.

Protestantische Staaten

352

3.3.

Bikonfessionelle Universitäten in Erfurt und Heidelberg . . . . 356

4. Bibliotheken

360

4.1.

Hof- und Fürstenbibliotheken

360

4.2.

Universitätsbibliotheken

363

4.3.

Klosterbibliotheken

365

5. Literatur

368

5.1.

Allgemeine Entwicklung

368

5.2.

Führende Stellung des protestantisch-norddeutschen Raumes im 18. Jahrhundert

371

6. Die verschiedenen Bildungslandschaften des Heiligen Römischen Reiches

373

VII. Volkskultur, Volksfrömmigkeit, Sitten und Gebräuche 1. Kleidung 2. Mahlzeiten 2.1.

Mahlzeiten, Essens-und Trinksitten des Adels

2.2.

Mahlzeiten und Essensgewohnheiten der unteren und mittleren Schichten

3. Das Haus 3.1.

Raum der Lebens- und Hausgemeinschaft

òli 380 380 382 384 384

3.2.

Bürgerhaus und Bürgerkultur

384

3.3.

Bauernhäuser und Bauernkultur

388

4. Volksfrömmigkeit, Sitten und Gebräuche

392

4.1.

Die katholische Volksreligion

393

14

Inhalt

4.2. 4.3.

Brauchtum, Volksmagie und Volksfrömmigkeit in protestantischen Territorien und Reichsstädten

399

Hexenglaube und Hexenverfolgung

401

VIII. Entwicklung im Zeitalter der Aufklärung 1. Die Aufklärung 1.1. Grundgedanken und Ziele 1.2. Aufklärung in den protestantischen Territorien und Städten 1.3. 1.4.

Die später einsetzende „katholische Aufklärung" Kritische Urteile Maria Theresias über die Aufklärung

405 405 409 410 412

2. Auswirkungen der aufklärerischen Gedanken und Ziele 415 2.1. Protestantische Führung - katholische Rückständigkeit? . . . . 415 2.2. Aufschwung der Wissenschaften 421 2.3. 2.4.

Akademien Neue Theologien

423 425

3. Von ekr Aufklärung inspirierte Politik 3.1. Staatlich verordnete Einschränkungen im Kirchenbau und in der Musik 3.2. Reglementierung und Verbot religiöser Bräuche und Formen 3.3. Der Josephinismus - ein Höhepunkt aufklärerischer Reformpolitik 4. Weitgehende Zurückdrängung durch die Säkularisation

der katholischen

1803

427 427 428 431

Kultur 436

IX. Zusammenfassung

447

Quellen- und Literaturverzeichnis

453

Register

487

Einleitung Der Untertitel des Buches enthält die zentralen Begriffe „Verfassung", „Religion" und „Kultur" und bezieht sich auf das Heilige Römische Reich in seinen letzten gut 150 Jahren, d. h. die Zeit nach dem 30jährigen Krieg, der durch den Westfälischen Frieden und dessen ausgleichende Vertragsbestimmungen beendet wurde. Gerade fiir diese Epoche bildete die Reichsverfassung, die aus verschiedenen schriftlichen Grundgesetzen (einschließlich der Westfälischen Friedensinstrumente) und Gewohnheitsrechten bestand, mit ihrem feststehenden und weitgehend für die Zukunft geregelten konfessionellen Ausgleich einen idealen Rahmen für kulturelle Blüte, so lautet die These, die in diesem Buch ausführlich dargelegt und bewiesen werden soll. Gerade die lockere, konföderale Struktur dieses gemischtkonfessionellen, multiethnischen, politisch zersplitterten Reichsgebildes garantierte nämlich, wie wir sehen werden, eine außergewöhnliche kulturelle Vielfalt, welche relativ zentralistische Staaten mit einheitlicher Religion in dieser Form nicht kannten. Deshalb wird in einem ersten Teil diese Reichsverfassung, die den Rahmen für die Entwicklung von Religion und Kultur bildete, behandelt und deren Auswirkungen für diese Bereiche analysiert. Im Gegensatz zur heutigen Zeit, in der Deutschland und Europa durch eine zunehmende Entchristlichung aller Bereiche in Staat und Gesellschaft gekennzeichnet sind, bildete die Religion im 17. und weitgehend auch noch im 18. Jahrhundert eine dominierende Lebensmacht. Sie prägte damals ganz entscheidend Staat, Gesellschaft und Kultur. Für die Zeit von der Reformation bis zum Westfälischen Frieden spricht der Berliner Historiker Heinz Schilling sogar von einer „gespaltenen Kultur nach Konfessionen"1, und Thomas Nipperdey sieht in der seit der Reformation bestehenden konfessionellen Vielfalt und dem damit verbundenen Dualismus bis heute „eine der fundamentalen alltäglichen und vitalen Grundtatsachen deutschen Lebens" und betont: „Die Konfessionsspaltung bleibt auch in der Auswanderung aus den Konfessionen eine entscheidende Wirklichkeit deutschen Lebens, des Denkens, des Selbstverständnisses und der Politik." 2

1 2

Schilling, Heinz: Aufbruch und Krise. Deutschland 1517-1648. (Siedler Deutsche Geschichte. Das Reich und die Deutschen [Bd. 5]) Berlin 1988, S. 293. Nipperdey, Thomas: Religion im Umbruch: Deutschland 1870-1918. München 1988,

16

Einleitung

Deshalb ist es von Interesse, im folgenden der Frage nachzugehen, inwieweit man für die Zeit von 1648 bis 1803/06 noch von grundverschiedenen, von der jeweiligen Konfession bestimmten, typischen Kulturen sprechen kann. Gilt dies für die katholische Kultur, von der damals etwa 58% der Reichsbewohner geprägt waren, für die lutherische Kultur, welche die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe formte, und für die typisch reformierte (kalvinistische) Kultur, wie auch fiir die der kleinen Minderheiten, so z. B. die der Juden, die etwa 1% der Bevölkerung des Heiligen Römischen Reiches ausmachten? Deshalb lautet der zweite Zentralbegriff dieser Kulturgeschichte „Religion", und daher werden im zweiten Hauptteil die religiösen Grundlagen der verschiedenen Kulturen der drei wichtigsten Konfessionen des Reiches, die durch den Westfälischen Frieden als die anerkannten, gleichberechtigten Glaubensgemeinschaften festgeschrieben wurden, ausführlich untersucht. Im einzelnen ist hier zu zeigen, wie diese drei Konfessionen aufgrund ihrer kontroversen Lehren allgemein und speziell der unterschiedlichen Auslegung der Bibel bzw. der anderen Gewichtung verschiedener Bibelstellen, etwa in der Frage der Zulassung von Bildern in Kirchen, zu sehr gegensätzlichen Folgerungen und religiösen Konzeptionen kamen, die für die kulturelle Entwicklung entscheidend wurden. Woher kommt es, so ist zu fragen, daß z. B. die Kalvinisten vor allem aufgrund einer Stelle des Alten Testaments jede bildliche Darstellung in der Kirche als verdammungswürdigen Götzendienst betrachteten, die Katholiken aber, sich stützend auf andere Bibelstellen, die prächtige bildliche Ausgestaltung ihrer Kirchen zur Verherrlichung Gottes als besonders erstrebenswert ansahen? Warum befanden sich auf der einen Seite die Kalvinisten und Zwinglianer, die jede bildliche Darstellung, ja sogar das Kreuz mit dem Gekreuzigten in der Kirche als Götzendienst ablehnten? Sie räumten im 16. Jahrhundert dort, wo sie katholische Kirchen übernahmen, in den sogenannten Bilderstürmen diese Gotteshäuser aus, vernichteten die alten gotischen Schnitzaltäre, durchbohrten und verbrannten die Bilder und zerschmetterten die Kreuze; denn für sie waren all diese bildlichen Darstellungen Abgötterei, von denen die Kirchen gereinigt werden mußten. Ihre Kirchen wurden, so ist zu zeigen, zu nüchternen Predigtsälen, weitgehend ohne Schmuck umgestaltet bzw. als solche neu gebaut, ohne Altar mit Kreuz im alten Sinne, sondern mit einfachem Tisch für das

S. 155; vgl. auch Altgeld, Wolfgang: Katholizismus, Protestantismus, Judentum. Über religiös begründete Gegensätze und nationalreligiöse Ideen in der Geschichte des deutschen Nationalismus. Mainz 1992. (Veröffentl. d. Komm. f. Z.-Gesch„ B, Bd. 59).

Einleitung

17

Abendmahl und meist zentral gelegener Kanzel. Es wird zu untersuchen sein, warum für einen Kalvinisten und Zwinglianer die Feier der Messe ebenfalls als Götzendienst und deshalb zeitweilig als todeswürdiges Verbrechen galt, und wie sie den Gottesdienst nach ihrem Verständnis purifizierten. Im Zentrum stand jetzt die Verkündigung des Wortes, d. h. der Text der Heiligen Schrift und ihre Interpretation in der Predigt. Ansonsten waren nur Gebet und Psalmengesang zugelassen. Alle andere Musik, sogar die Orgel, wurden im allgemeinen ausgeschlossen und aus den Kirchen als störende Zutaten, als verwerflich verbannt. Man fürchtete nämlich die Ablenkung vom Wesentlichen, vom Wort Gottes. Allerdings wurden mit der Zeit auch in kalvinistischen Kirchen wieder Orgeln aufgestellt und auch Kirchenlieder zugelassen. Aufgrund dieser Lehre entstand eine Kultur, so wird herauszuarbeiten sein, die vor allem das Wort, die Vernunft betonte, eine Lesekultur, die Großes in Wissenschaft, Dichtung, Philosophie und im Staatsrecht leistete, die aber die bildende Kunst, die Malerei, die Musik und das Theater vernachlässigte und behinderte. Die Künstler der meisten Bereiche fanden hier keine Beschäftigung und kein Auskommen mehr. Auf der anderen Seite muß im folgenden ausführlich die Kultur der damals durch das Konzil von Trient wieder gefestigten und gestärkten katholischen Kirche, die sich vielfach als „ecclesia triumphans" empfand, behandelt werden. Warum, so ist zu fragen, entstanden damals im katholischen Bereich so viele prächtige barocke Kirchen mit all den Heiligen, Engeln und Putten, mit Gemälden, Fresken und Stuck, Hochaltar und Nebenaltären, viel Gold und Farbenpracht, eine Hochkonjunktur für alle Künstler, die sich über beste Arbeits- und Aufstiegsmöglichkeiten freuen konnten? Wie kam es zu dieser typischen katholischen Barockkultur mit ihrer reichen Kirchenmusik, den Prozessionen und Wallfahrten, Bruderschaften und Kongregationen sowie zu der intensiven Volksfrömmigkeit? Warum entwickelte sich eine stark alle Sinne ansprechende katholische Kultur? Zwischen diesen beiden Kulturen, der kalvinistisch-zwinglianischen und der katholischen, stand damals eine dritte, welche eine Mittelposition einnahm: die lutherische. Auch sie mit ihren speziellen Eigenheiten, etwa dem Bau der vielen Kanzelkirchen, der besonderen Pflege einer Lese- und Wortkultur sowie der Kirchenmusik wird im folgenden ausführlich zu untersuchen sein, ferner für alle drei Konfessionen die verschiedenen Gottesdienstformen, Kirchenvorstellungen, die Haltung gegenüber der Frage nach Zulässigkeit von Mönchtum,

18

Einleitung

Orden und Kongregationen, Heiligenverehrung, Wallfahrten und Prozessionen und die jeweiligen Folgen für die Kunst- und Kulturentwicklung. Neben großen konfessionsbedingten Unterschieden, ja ausgeprägten Kulturen, die auch die Oberschichten, besonders den Adel mitbestimmten, gab es auch, so ist zu zeigen, Bereiche, wo das Gemeinsame im ganzen Reich stärker war. Das gilt etwa für die jeweilige höfische Kultur und den Schloßbau der Reichsfürsten, für bestimmte Formen des bürgerlichen Lebens und der Wirtschaft, aber auch für Teile der Wissenschaft. Politisch lebte man ja in einem gemeinsamen Raum, dem Heiligen Römischen Reich, und war durch eine gewisse Solidarität, durch den gemeinsamen Reichstag, die obersten Reichsgerichte, die Reichskreise und das gemeinsame Oberhaupt, den Kaiser, verbunden, den die Kurfürsten jeweils in Frankfurt a. M. wählten. Warum garantierte dieses Reich, eine lockere Konföderation, wo die einzelnen Territorien und Reichsstädte weitgehend unabhängig waren und wo das Reich und die zentralen Institutionen zwar eine lockere Klammer bildeten, aber wenig Kompetenzen besaßen, eine, so soll im einzelnen hinterfragt werden, ungeheure kulturelle Vielfalt, die noch durch die konfessionelle Verschiedenheit gefördert wurde? Neben den vielen Höfen mit ihren Schlössern, Theatern, Orchestern und Bibliotheken konnten sich offensichtlich kalvinistische Zentren, lutherische Reichs- und Residenzstädte und Universitäten sowie katholische Kunstund Kulturlandschaften mit all ihren zahlreichen Klöstern bestens nebeneinander, in Konkurrenz zueinander, aber auch im kulturellen Austausch und in einer gewissen Zusammenarbeit und Befruchtung entfalten. Der dritte zentrale Begriff dieses Buches ist der der „Kultur", d. h. hier der Kulturgeschichte. Dieser sehr umfassende Bereich beinhaltet, wie im Vorwort angedeutet, letztlich die Totalität des menschlichen Lebens, alle Daseinsbereiche von den verfassungsrechtlichen, politischen, gesellschaftlichen, religiösen bis hin zu Kunst, Musik, Bildung, Wissenschaft, Volkskultur und täglichem Leben. Demnach m u ß Kulturgeschichte interdisziplinär betrieben werden. Damit dieses Buch nicht durch Multidisziplinarität verschiedener Spezialisten geprägt werde, eine Gefahr, die bei Sammelwerken nicht selten besteht, soll hier eine Darstellung aus einer Feder geboten werden, auch wenn hier vom Autor Bereiche zu behandeln sind, für die er nicht Spezialist ist. Angesichts der Fachrichtung des Autors wird immer der Schwerpunkt bei der historischen Betrachtungsweise bleiben. Im Rahmen einer Uberblicksdarstellung kann hier vieles nur kurz erwähnt und angerissen werden, d. h., es können vielfach nur die Grundzüge der Entwicklung und der entsprechenden Fragestellung aufgezeigt

Einleitung

19

werden. In diesem Sinne analysiert der dritte Teil des Buches die religiös bestimmte Kultur der Menschen der drei großen, reichsrechtlich voll anerkannten Konfessionen, der Kalvinisten oder Reformierten, der Katholiken und der Lutheraner. Hier werden im einzelnen die kirchliche Architektur, Kunst und Musik behandelt. Den Lebensbedingungen und der spezifischen Kultur der kleinen Minderheiten im Reich widmet sich dann der vierte Hauptteil. Es wird sich zeigen, daß sich hier die Situation von Territorium zu Territorium und von Stadt zu Stadt sehr verschieden gestaltete, daß es teilweise sehr ungünstige, diskriminierende Bedingungen gab. Teilweise bot jedoch das Reich mit seinen vielen kleinen Territorien und Städten, sehr unterschiedlichen Rechts- und Herrschaftsverhältnissen für diese kleinen Minderheiten sehr günstige „Nischen", wo sich deren Kultur prächtig entfalten konnte, so z. B. die jüdische in der von einer „Dreiherrschaft" geprägten fränkischen Stadt Fürth. In weiteren Hauptteilen werden dann die schon erwähnte höfische Kultur mit Vorstellungen der verschiedenen Hoftypen und Analyse ihrer besonderen Bereiche (Schloßbau, Kunst, Musik, Pflege von Literatur und Wissenschaft, Feste, Jagd), die wegen der Vielfalt der Territorien und damit der Höfe sich besonders gut entwickeln konnte, ferner die Bildung, d. h. die Schulen, Universitäten, Bibliotheken, die Volkskultur und das tägliche Leben sowie die Auswirkung, der Aufklärung analysiert. Hier wird im einzelnen zu behandeln sein, welche Grundgedanken und Ziele diese Geistesrichtung verfolgte und warum sie in den protestantischen Territorien und Städten des Heiligen Römischen Reiches wesentlich früher Eingang fand als in den katholischen. Ferner sollen die Auswirkungen der aufklärerischen Gedanken und Ziele untersucht werden. Es wird zu fragen sein, inwieweit es im Reich damals eine protestantische Führung und eine katholische Rückständigkeit gab. Zu behandeln sind auch der Aufschwung der Wissenschaften, die Akademiebewegung und die von der Aufklärung inspirierte Politik, d. h. die staatlich verordneten Einschränkungen, Reglementierungen und Verbote bis hin zum Josephinismus als Höhepunkt aufklärerischer Reformpolitik. Schließlich wird zu fragen sein, inwieweit die Aufklärung und die von den Radikalaufklärern durchgeführte Säkularisation 1803 die katholische Barockkultur zerstört oder zurückgedrängt hat. Die hier vorliegende Kulturgeschichte setzt den Akzent auf die enge Verflechtung von Verfassungswirklichkeit, Religion und Kultur, und sie soll aufzeigen, welchen idealen Rahmen gerade die Reichsverfassung für die diverse kulturelle Blüte bot und welche zentrale Rolle dabei die drei Hauptkonfessionen auch noch in der Zeit von 1648 bis 1803/06 spielten, die neben-

20

Einleitung

einander und in Konkurrenz zueinander standen, aber immer wieder auch zusammenarbeiten mußten. Insofern setzt diese Kulturgeschichte ganz andere Akzente und behandelt wenigstens teilweise andere Räume und andere Zeiten als die bisher vorliegenden neueren Kulturgeschichten. Hier sei als Beispiel unter anderen genannt die sehr anregende und vielseitige Arbeit von Egon Friedeil,3 der die Kultur Europas und Nordamerikas für die ganze Neuzeit bis zum Ersten Weltkrieg berücksichtigt und dabei besondere Schwerpunkte in der Geistesgeschichte setzt. Zentrales Gewicht auf die kunstgeschichtliche Entwicklung Mitteleuropas (einschließlich Polen, Litauen, Slowakei, Ungarn, Westukraine, St. Petersburg, Kroatien) in der ganzen Frühen Neuzeit legt Thomas DaCosta Kaufmann in seinem sehr schönen, mit vielen Abbildungen ausgestaltetem Buch, 4 während sich Richard van Dülmen in seinem umfassenden, mehrbändigen und viele Bereiche behandelnden Werk 5 vor allem mit dem täglichen Leben und der Volkskultur auseinandersetzt. Das Buch von Kaspar von Greyerz, Eine Kultur- und Sozialgeschichte der Religion im frühneuzeitlichen Europa 6 , konnte hier leider nicht mehr berücksichtigt werden.

3 4 5 6

Friedell., Egon: Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krise der europäischen Seele von der Schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg. München 1996 (1927-31). DaCosta Kaufman, Thomas: Höfe, Klöster und Städte. Kunst und Kultur in Mitteleuropa 1450-1800. Darmstadt 1995. Dülmen, Richard van: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, 3 Bde. München 1990-1994. Greyerz, Kaspar von: Religion und Kultur. Europa 1500-1800. Göttingen 2000.

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1. Mitglieder des Reiches und ihre weitgehende Unabhängigkeit 1.1. Weltliche Fürsten und ihre Territorien Am größten war das Herrschaftsgebiet der Habsburger Landesherren, die in diesen mehr als 150 Jahren meist auch Kaiser und somit Reichsoberhaupt waren. Mit dem im Laufe der Zeit immer ausgedehnter werdenden Königreich Ungarn und seit 1772 mit Galizien herrschten die Habsburger auch über einen großen Länderkomplex, der nicht zum Heiligen Römischen Reich gehörte. In unserem Zusammenhang sind nur die habsburgischen Reichsterritorien, nämlich Schlesien (bis 1742), Böhmen, Mähren, das Erzherzogtum Osterreich, die innerösterreichischen Herzogtümer (Steiermark, Kärnten, Krain), die Grafschaft Tirol, Vorderösterreich mit dem Breisgau, einschlägig und ab 1714 die katholischen Niederlande mit Brüssel. Jedes dieser Territorien hatte eine Hauptstadt, jeweils dort tagende eigene Landstände, die bis 1748 bei der Steuerbewilligung eine wichtige Rolle spielten. Regiert wurden die Territorien praktisch in Personalunion durch den Monarchen von Wien aus. 5

Abb. 1: Wien im 18. Jahrhundert, Gesamtansicht der größten Stadt des Heiligen Römischen Reiches, im Vordergrund die südliche Vorstadt Wieden, Stich, um ¡730, Osterreichische Nationalbibliothek.

5

Vgl. Hanke, Gerhard: Das Zeitalter des Zentralismus (1740-1848). In: Bosl, Karl (Hg.): Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, Bd. 2. Stuttgart 1973, S. 415-566; Helbing, Ernst C.: Osterreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. (Rechts- und Staatswissenschaften, Bd. 13) Wien 1956, S. 259-323; Zöllner, Erich: Geschichte Österreichs. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wien u. a. 8 1990, S. 2 4 6 - 3 3 7 ; Hartmann,

Peter C.: Das

Steuersystem der europäischen Staaten am Ende des Ancien Regime. (Beihefte d. Francia, Bd. 7) München 1979, S. 152 f.; Klueting, Harm: Das Reich und Österreich. Münster 1999.

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Das Heilige Römische Reich von 1648 bis 1806 und seine Verfassung

Gerade Wien, die Hauptstadt der habsburgischen Monarchie und (außer 1742 bis 1745) als Sitz des Kaiserhofes die bedeutendste Metropole des Heiligen Römischen Reiches, stellte das wichtigste Kulturzentrum dieses Reiches dar. Aber auch die anderen Hauptorte der habsburgischen Territorien spielten eine wichtige Rolle. Man denke an Brüssel, Freiburg i. Br., Innsbruck, Graz, Prag, Brünn oder Breslau. Der zweitmächtigste Fürst des Reiches, der reformierte (kalvinistische) Kurfürst und ab 1701 König der brandenburg-preußischen Monarchie, regierte über eine bedeutende, im 18. Jahrhundert durch Erb fall und Eroberung immer größer werdende Zahl von Territorien. Ahnlich, wie dies im Habsburgerreich der Fall war, gehörten diese teilweise zum Heiligen Römischen Reich, teilweise lagen sie außerhalb und repräsentierten unabhängige Erblande. Zu letzteren zählte das Herzogtum Preußen (später Ostpreußen). Dieses außerhalb des Reiches liegende Territorium wurde für die weitere Entwicklung Preußens so wichtig, da es im Krontraktat von Wien vom 14. 11. 1700 mit Zustimmung des Kaisers zum Königreich erhoben wurde. Dies ermöglichte dem brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III. (1688-1713), sich am 18. 1. 1701 in Königsberg zum König krönen zu lassen. Für den Aufstieg des Hauses Hohenzollern war diese Rangerhöhung von großer Bedeutung. Das durch Eroberung ständig wachsende, aufstrebende Königreich gewann im späten 18. Jahrhundert noch umfangreiche Gebiete außerhalb des Reiches hinzu. Durch die Polnische Teilung von 1772 kamen nämlich Westpreußen und das Ermland zur Monarchie, 1793 Südpreußen mit Posen und 1795 Neu-Ostpreußen mit Warschau, als der polnische Staat völlig unter die Nachbarmächte aufgeteilt wurde. Schon seit 1707 gehörte schließlich das an die Schweiz grenzende Fürstentum Neuenburg zu dieser Monarchie. Im Heiligen Römischen Reich regierte der brandenburg-preußische Monarch über die Mark Brandenburg mit Berlin, Cottbus, das Herzogtum Hinterpommern, seit 1648 über das Fürstentum (früher Bistum) Halberstadt und Hohnstein, seit 1680 über das Herzogtum (früher Erzbistum) Magdeburg mit Magdeburg und Halle. Im Jahre 1714 kam Wernigerode und 1780 Mansfeld hinzu, welche die bisherigen Territorien abrundeten. Im Nordwesten des Reiches erhielt die Monarchie neben den 1614 durch Erbschaft an die Hohenzollern gefallenen Territorien Kleve, Mark und Ravensberg, 1648 das Bistum Minden, 1702 Mörs und Lingen, 1707 Tecklenburg, 1715 Obergeldern und 1744 Ostfriesland. Einen ganz gewaltigen Zuwachs vor allem an Menschen und an Wirtschaftspotential gewann die Monarchie durch die Eroberung des größten

Mitglieder des Reiches und ihre weitgehende Unabhängigkeit

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Teils von Schlesien mit der Grafschaft Glatz im Jahre 1742. Für kurze Zeit fielen 1791 auch die fränkischen Markgrafentümer Ansbach und Bayreuth an Preußen. Relativ geschlossen präsentierte sich der Länderkomplex nur im Osten, während die anderen Territorien im Reich verstreut lagen und vom Monarchen in Personalunion von Berlin aus regiert und verwaltet wurden. Die meisten Territorien besaßen eigene Landstände, die in den Territorialhauptorten tagten, deren Stellung sich jedoch recht verschieden gestaltete. In den meisten Ländern, besonders in der Kurmark, versuchten die Kurfürsten bzw. Könige seit Friedrich Wilhelm ( 1 6 4 0 - 1 6 8 8 ) die Stände immer mehr auszuschalten. Neben Berlin und Potsdam spielten die Hauptorte der Territorien, besonders Breslau, eine bedeutende Rolle im kulturellen Bereich. 6 Neben den beiden deutschen Großmächten spielten im Reich auch die vier weiteren weltlichen Kurfürstentümer Sachsen, Bayern, Hannover und Pfalz eine bedeutende Rolle. Zumindest bei den drei erstgenannten konnten die Länder zu relativ modernen Staaten ausgebaut werden, die wenigstens zeitweilig auch in Europa und im Reich eine gewisse eigenständige Politik betrieben. Hierbei kam Kursachsen zugute, daß dessen Landesherr ab 1697 zeitweise gleichzeitig König von Polen war. Das gleiche gilt für Kurhannover, dessen Monarch ab 1714 in Personalunion König von Großbritannien wurde. Die Kurpfalz gewann ab 1685 an Bedeutung, weil der Kurfürst von da an auch die Herzogtümer Jülich und Berg sowie das Fürstentum Pfalz-Neuburg regierte. In Bayern, Sachsen und Hannover standen den Landesherren Landstände bzw. Ständedeputationen gegenüber, die an der Finanzverwaltung des Territoriums teilhatten. Bayern zählte etwa 1,2 Millionen, Sachsen 1,02 Millionen, Kurhannover ca. 800.000 Einwohner und die Kurpfalz 228.000 Menschen. Der politischen und wirtschaftlichen Bedeutung der vier Kurfürstentümer entsprach auch die kulturelle. Deren Hauptstädte München, Dresden, Hannover, Heidelberg und Mannheim legten davon ein lebhaftes Zeugnis ab. In München und in der Kurpfalz bzw. in Dresden und Hannover regierten die Dynastien der Wittelsbacher bzw. der Wettiner und Weifen, die neben den Habsburgern und Hohenzollern die deutsche Geschichte der Neuzeit stark mitbestimmten. 7 6

7

Vgl. dazu: Braubach, Max: Der Aufstieg Brandenburg Preußens 1640 bis 1815. Freiburg i. Br. 1933; Dietrich, Richard: Geschichte Preußens. Berlin 1966; Klinisch, Johannes: Das Mirakel des Hauses Brandenburg. München 1978. Vgl. dazu u. a. Spindler, Max / Kraus, Andreas (Hg): Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. 2. München 2 1988; Hartmann, Peter C.: Bayerns Weg in die Gegenwart. Regensburg

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Das Heilige Römische Reich von 1648 bis 1806 und seine Verfassung

Abb. 2: Dresden ¡765, Gemälde von Bernardo Bellotto

An die Kurpfalz kamen damals die bedeutenderen der mittleren Herzogtümer und Fürstentümer des Reiches heran, Württemberg hatte sogar noch mehr Einwohner. Es gab nämlich eine große Menge größerer Herzog-, Landgrafen-, Markgrafen- und Fürstentümer, deren Einwohnerzahl zwischen 600.000 und 100.000 schwankte. Zu nennen sind hier das Herzogtum Württemberg mit 600.000, die Herzogtümer Jülich mit 193.400 und Berg mit 212.700 Einwohnern Ende des 18. Jahrhunderts, die mecklenburgischen Herzogtümer, das Herzogtum Holstein, die Landgrafschaften Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt, die badischen und fränkischen Markgrafentümer, die Grafschaft Oldenburg u. a. Diese Territorien kannten ein beachtliches kulturelles Leben, und deren Hauptstädte waren entsprechend wichtige Zentren. Weniger bedeutend waren die vielen kleinen Fürstentümer und Zwergherzogtümer. Zu erwähnen wären die nassauischen Fürstentümer, die sächsischen Zwergherzogoder Fürstentümer, die Grafschaft Hoya im Norden, die Fürstentümer Pfalz-

1989; Blaschke, Karlheinz: Sachsen im Zeitalter der Reformation. (Schriften d. Vereins f. Reformationsgesch. Bd. 185) Gütersloh 1970; Ders., Bevölkerungsgeschichte von Sachsen bis zur industriellen Revolution. Weimar 1967; Hartmann, Das Steuersystem, S. 226 ff.; Schnath, Georg: Geschichte Hannovers im Zeitalter der neunten Kur und der englischen Sukzession 1714-1874, Bd. 1 - 4 . Hildesheim / Leipzig 1938, 1976-82; Schaab, Meinrad: Geschichte der Kurpfalz, Bd. 2: Neuzeit. Stuttgart u. a. 1992; Hartmann,

Peter C.: Bevölkerungszahlen

und Konfessionsverhältnisse des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und der Reichskreise am Ende des 18. Jahrhunderts. In: Z H F 22 (1995) S. 357 fif.

27

Mitglieder des Reiches u n d ihre weitgehende Unabhängigkeit

Links: Abb. 3: Kurfirst Kupferstich PHILIPPUS V i m E / L M l / S D Cr hmts Ha/attm/s MmiS-Itr. jirtAiiAtsaiir/iri e£££ec£or, : Jlavarzar ezr.

Philipp

Rechts: Abb. 4: Küifurstliches kurpfälzischen

Wilhelm

von der

Pfalz,

(1685-1690)

Wappen

Schloß in Mannheim

mit dem

(1720-1760)

Neuburg mit 88.000 und Pfalz-Sulzbach mit 41.340 Einwohnern 1794 8 im bayerischen Raum, das Fürstentum Hohenzollern im Schwäbischen Kreis und viele andere, die alle, bei manchmal weit unter 50.000 Menschen pro Territorium, eine kulturelle Rolle spielten. 9 Gerade in dieser Hinsicht waren auch die geistlichen Fürstentümer von großer Bedeutung.

1.2. Geistliche Fürsten und ihre Territorien Wenn die geistlichen Fürstentümer auch keine modernen Macht- und Leistungsstaaten waren und nur sehr bescheidene Truppen unterhielten, so zählten sie im Bereich der Kultur vielfach zu Faktoren ersten Ranges. Man denke etwa an geistliche Residenzstädte wie Bonn mit Brühl, Würzburg oder Salzburg. Da die geistlichen Landesherren sich auf den Schutz des Reiches und der Reichsverfassung verließen, für die sie weit überproportionale Lasten trugen, benötigten sie kein stehendes Heer, nur wenige Soldaten und konnten deshalb erhebliche Mittel für Bauten und kulturelle Zwecke einsetzen, ohne daß die Untertanen dadurch besonders hart belastet wurden. Bei den geistlichen Für-

8

Z u d e n E i n w o h n e r z a h l e n vgl. Hartmann,

9

V g l . z. B. d i e K a r t e „ D e u t s c h l a n d 1 6 4 8 " im „ G r o ß e n H i s t o r i s c h e n Weltatlas". H g . v. Bayer.

B e v ö l k e r u n g s z a h l e n , S. 3 5 7 , 3 6 1 .

S c h u l b u c h - V e r l a g , T. 3 . M ü n c h e n ' 1 9 6 7 , S. 1 2 4 / 1 2 5 . H i e r e r k e n n t m a n d e u t l i c h d e n w i r r e r s c h e i n e n d e n territorialen „ F l e c k e n t e p p i c h " m i t all d e n vielen k l e i n e n geistlichen u n d weltlichen T e r r i t o r i e n .

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Das Heilige Römische Reich von 1648 bis 1806 und seine Verfassung

stentümern handelte es sich um eine spezifische Form von geistlichen Staaten, die in Europa damals nur noch im römischen Kirchenstaat und im E r m l a n d Parallelen fanden. Als Kurfürsten oder Fürsten a u f der einen und Erzbischöfe und Bischöfe a u f der anderen Seite übten diese geistlichen Fürsten eine D o p pelfunktion als Landesherr eines Territoriums und als geistlicher Oberhirte einer Diözese aus. D i e geistlichen Kurfürsten und Fürstbischöfe wurden von den größtenteils adeligen Domkapiteln gewählt und stammten ihrerseits in unserem Untersuchungszeitraum fast ausschließlich aus dem Adel und sogar zu rund einem Drittel aus dem Hochadel, vor allem den großen Dynastien der Habsburger, Wittelsbacher und später auch der Wettiner. Im ganzen gab es damals drei geistliche Kurfürstentümer und 2 4 Erz- und Hochstifte im Reich, die fast alle katholisch waren. Das Hochstift Osnabrück hatte als alternierendes H o c h stift abwechselnd einen katholischen und bei dessen T o d einen evangelischen Fürstbischof und das Hochstift Lübeck mit der Hauptstadt Eutin einen evangelischen Fürstbischof. W i e die Domkapitelpfründe galten diese Fürstenpositionen als Versorgungsstätten jüngerer Adelssöhne. 1 0 Seit dem Mittelalter spielten die drei geistlichen Kurfürsten von Mainz, Köln und Trier in der Reichsgeschichte als Königs- bzw. Kaiserwähler und Erzkanzler des Reiches eine wichtige Rolle. Dies gilt, wie noch zu zeigen sein wird, besonders für den Mainzer Reichserzkanzler für Germanien. Die drei geistlichen Kurfürsten, die gleichzeitig katholische Erzbischöfe waren, sicherten in der Neuzeit die katholische Mehrheit des Kurkollegs und damit die Wahl von Kaisern dieser Konfession. Das wichtigste geistliche Kurfürstentum war Kurmainz mit der Hauptstadt Mainz. Es bestand aus dem um die Hauptstadt herum gelegenen Unterstift und dem Oberstift mit dem Hauptort Aschaffenburg. Zusammen lebten dort Ende des 18. Jahrhunderts 1 9 3 . 5 0 0 Einwohner. Dazu kamen das Eichsfeld mit 7 4 . 0 0 0 Untertanen und Erfurt mit Umland ( 3 6 . 0 0 0 Einwohner) im thüringischen R a u m , so daß ganz Kurmainz damals 3 0 3 . 0 0 0 Menschen zählte. Kurköln, das sich aus dem linksrheinischen Erzstift, ferner dem Herzogtum West-

10 Pütter, Staatsverfassung II, S. 172-182; Feine, Hans Erich: Die Besetzung der Reichsbistümer vom Westfälischen Frieden bis zur Säkularisation 1648-1803. (Kirchenrechtliche Abhandlungen, 97/98) Stuttgart 1921 (ND 1964), bes. S. 32 ff., 406, 408; Gatz, Erwin (Hg.): Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1648 bis 1803. Ein biographisches Lexikon. Berlin 1990; Kremer, Stephan: Herkunft und Werdegang geistlicher Führungsschichten in den Reichsbistümern zwischen Westfälischem Frieden und Säkularisation. (Rom. Quartalschr. f. christl. Altertumskunde u. Kirchengesch., 47, Suppl. 17) Freiburg i. Br. u. a. 1992.

Mitglieder des Reiches und ihre weitgehende Unabhängigkeit

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Abb. 5: Portal des kurfürstlichen Schlosses in Mainz mit Mainzer Doppelrad und Wappen mit Schwert, Kurhut (Symbol der weltlichen Macht) und Bischofistab (Symbol des geistlichen Erzbisekofiamtes)

falen mit dem Hauptort Arnsberg und der Veste Recklinghausen zusammensetzte, zählte 258.000 Menschen, und Kurtrier, dessen Territorium sich von der Reichsgrenze im Westen beiderseits der Mosel bis zum Rhein bei Koblenz erstreckte und ein rechtsrheinisches Gebiet bis einschließlich Limburg umfaßte, hatte 231.000 Untertanen. Die Hauptstadt Kurkölns war Bonn, da Köln als freie Reichsstadt den ursprünglich bischöflichen Stadtherrn ausgebootet hatte, während Kurtrier zwei Hauptstädte, nämlich Trier und Koblenz, besaß. Die militärische Potenz dieser Kurfürstentümer, die nur wenige Truppen unterhielten, war gering; auch von ihren Wirtschaftskapazitäten und Bevölkerungszahlen her zählten sie zu den kleineren Territorien des Reiches. Typisch fiir das Heilige Römische Reich war jedoch, daß sie trotzdem im Verfassungsleben und in der Politik des Reichsverbandes als Kurfürsten eine überproportional wichtige Rolle spielten. Allerdings wurden sie auch überverhältnismäßig stark zu den Reichslasten herangezogen. Stammten die Kurfürsten von Mainz und Trier damals mit einer Ausnahme aus dem Reichsadel (Reichsgrafen und Herren, Reichsritter), so kam der Kölner bis 1761 aus der bayerischen Wittelsbacher Dynastie; ab 1784 war mit Maximilian Franz ( 1 7 5 6 - 1 8 0 1 ) ein Habsburger Kurfürst. Während Kurmainz keine Landstände mehr hatte, spielten diese in Kurköln und Kurtrier noch eine beachtliche Rolle. Kulturell stellten die drei Kurfürstentümer, besonders Kurköln, in der höfischen Architektur, aber auch in der allgemeinen kulturellen Entwicklung wichtige Faktoren dar. 11 Ähnliches gilt auch für das Erzstift Salzburg sowie die meisten Hochstifte und großen Reichsabteien. In den hier behandelten ca. 150 Jahren waren das Erzstift Salzburg und die Hochstifte Trient, Brixen, Freising, Passau, Regensburg, Eichstätt, Bamberg, 11 Vgl. Hartmann, Bevölkerungszahlen, S. 357; Gatz, Bischöfe, passim; Feine, Besetzung, S. 334 f.; BLmning, T. C. W.: Reform und Revolution in Mainz 1743-1803. Cambridge 1974, S. 39-209;

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Das Heilige Römische Reich von 1648 bis 1806 und seine Verfassung

Würzburg, ab 1752 Fulda, Hildesheim, Lübeck (evangelisch), Osnabrück (alternierend), Münster, Paderborn, Lüttich, Worms, Speyer, Straßburg, Basel, Konstanz, Chur und Augsburg wichtige Stützen des Reichsganzen, ohne deren große Beiträge das Reich nicht mehr hätte existieren können. Geschützt durch die Reichsfriedens- und Rechtsordnung konnten diese Hochstifte gerade im kulturellen Bereich erstaunliche Leistungen vollbringen. Man denke nur an Würzburg und Bamberg, besonders die Würzburger Residenz, eines der schönsten Schlösser der Zeit in Europa, an das barocke Eichstätt, oder an Salzburg mit seinem Dom und seinen Schlössern, wo W. A. Mozarts aus Augsburg stammender Vater Leopold als Hofkomponist und Vizekapellmeister wirkte.

Abb. 6: Passau, eine typische Haupt- und Residenzstadt eines Hochstifies mit alter Residenz (77. Jh.), neuer Residenz (18. Jh.) im Vordergrung und dem Oberhaus (Burgschloß, ¡4.-16. Jh.) im Hintergrund, Ausdruck der weltlichen Herrschaft, und dem überwiegend barocken Dom (17. Jh.), Wirkungsstätte der geistlichen Funktionen des Fürstbischoß von Passau

Braubach, Max: Kurköln. Gestalten und Ereignisse aus zwei Jahrhunderten rheinischer Geschichte. Münster 1949, S. 81 ff., 157 ff., 217 ff., 401 ff.; Laufrer, Richard: Die Landstände von Kurtrier im 17. und 18. Jahrhundert. In: Rhein. Vierteljahresblätter 32 (1968), S. 2 9 0 - 3 1 7 ; für das Hochstift Augsburg siehe z. B.: Schmid, Josef Johannes: Alexander Sigism u n d von Pfalz-Neuburg Fürstbischof von Augsburg 1690-1737. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte Schwabens im Hochbarock. Weißenhorn 1999, bes. S. 256—368.

Mitglieder des Reiches und ihre weitgehende Unabhängigkeit

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Kulturell kamen den Hochstiften vielfach die großen Reichsabteien und -propsteien fast gleich, die zu den geistlichen Fürsten zählten, so die Reichsabteien Fulda (bis 1752) und Kempten, von Prüm, Stablo und Corvey oder die Reichspropsteien Berchtesgaden, Ellwangen und Weißenburg. Zu den geistlichen Reichsfursten gehörten auch der Hoch- und Deutschmeister sowie der Johannitermeister. Die Einwohnerzahlen dieser geistlichen Fürstentümer variierten zwischen Münster (350.000 E.), Salzburg (250.000 E.), Würzburg (200.000 E.) und Freising (14.000 E.) oder gar Regensburg mit nur 9.000 Einwohnern. Ebenso war das Territorium des jeweiligen geistlichen Fürsten sehr unterschiedlich umfangreich. Die größten wie etwa Münster, Salzburg und Lüttich hatten 2 2 0 bis 230 Q M (= 12.100-12.650 km 2 ) bzw. 164 Q M (= 9.020 km 2 ) bzw. 115 Q M (= etwa 6.325 km 2 ). 1 2 Wenn wir einen Vergleich mit heutigen Bundesländern ziehen, so ist etwa das Saarland mit seinen 2.569 km 2 wesentlich kleiner, aber Schleswig-Holstein mit 15.677 km 2 und Rheinland-Pfalz mit 19.839 km 2 sind viel größer als diese umfangreichsten Hochstifte. Die kleinsten geistlichen Fürstentümer wie Freising oder Regensburg hatten nur ca. 13 Q M (=715 km 2 ) bzw. 6 Q M (= 330 km 2 ) reichsunmittelbares Territorium, dazu allerdings reiche Grundherrschaften, die anderen Landesherren unterstanden. W i e bei den Hochstiften die Domkapitel, so wählten bei den großen Reichsabteien die meist adeligen Konvente auch adelige Reichsfürstäbte bzw. Pröpste. 13 Zu diesen geistlichen Fürsten zählte jedoch auch die bunte Welt der Reichsprälaten. Abb. 7: Ehemalige Fürstabtei Kempten (¡7. Jh.) mit mächtiger St.-Lorenz-Kirche, ab ¡652 erbaut von Michael Beer (Schwaben)

12 Vgl. Hartmann, Bevölkerungszahlen, S. 356; den., Geld als Instrument, S. 57; Hoeck, Johann Daniel A.: Handbuch der neuesten Erdbeschreibung und Statistik, Bd. 1. Schweinfurt 1803, S. 140 f.; Seyfried, Joseph Elias: Statistische Nachrichten über die ehemaligen geistlichen Stifte. Hg. von J. C. von Aretin. Landshut 1804, S. 320. 13 Seyfried, Statistische Nachrichten, S. 304-307.

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Das Heilige Römische Reich von 1648 bis 1806 und seine Verfassung

1.3. Reichsprälaten, Reichsgrafen, Herren und Reichsritter Von den mehr als 80 geistlichen Reichsterritorien repräsentierten die Mehrzahl jene vielen Reichsprälaten, die zum größten Teil im „Rheinischen Prälatenkollegium" oder im „Schwäbischen Prälatenkollegium" zusammengefaßt waren und jeweils eine gemeinsame Kuriatstimme auf dem Regensburger Reichstag hatten. Hierher gehören die Reichsäbte von Elchingen, Irsee, Roggenburg, Schussenried, Ursberg, Wettenhausen, Ochsenhausen, Zwiefalten oder Weingarten, die heute noch wesentlich die Kulturlandschaft Bayerisch Schwabens oder Südwürttembergs prägen. Im Rheinischen Kollegium waren 19 Prälaten zusammengefaßt, wie z. B. die Frauenabtei von Essen, ferner Werden, Corneli-Münster und die Bailei Koblenz. Es gehörten hierzu aber auch die drei Regensburger Reichsabteien St. Emmeram und die zwei Damenstifte Ober- und Niedermünster, ferner die Zisterzienserabtei Kaisheim bei Neuburg a. D. und St. Ulrich und Afra in Augsburg.

Ohne Kuriatstimme und Sitz auf dem Reichstag war z. B. die Abtei Otto-

beuren trotzdem unmittelbare Reichsabtei. Alle diese Reichsklöster waren bedeutende Kulturzentren mit repräsentativen Klosterbauten und

herrlichen

Kaisersälen. Sie beherrschten und prägten ganze Landschaften. Ihre Patres und Äbte stammten aus dem Bürger- und Handwerker-, seltener aus dem Bauernstand. Ahnlich wie die Prälaten zu gemeinsam votierenden Kollegien zusammengefaßt wurden, war dies auch bei den Grafen und Herren der Fall.1 ^ Die große Herrschaftsvielfalt im Westen und Süden des Reiches wurde durch die vielen reichsunmittelbaren Grafen und Herren verstärkt, die jeweils Anteil an einer Kuriatstimme auf dem Reichstag hatten, und zwar an einer Stimme des Abb. 8: Ehemalige Reichsabtei Roggenburg (Schwaben), ¡8. Jh.

14 Vgl. dazu Gebhardt / Grundmann: S. 781 ff. 15 Vgl. Kap. 3.4.2.1.

Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 2. N D 1981,

Mitglieder des Reiches und ihre weitgehende Unabhängigkeit

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Abb. 9: Ehemalige Reichsabtei Ochsenhausen (heute Württemberg), Kirche mit Fürstenbau und typischer Mariensäule, 18. Jh.

Wetterauischen, Schwäbischen, Fränkischen oder Westfälischen Grafenkollegiums, und die somit als unterste Kategorie des Hochadels galten. Hier handelte es sich z. B. um die Grafen und Herren von Nassau-Usingen, NassauWeilburg, Solms-Braunfels, Solms-Rödelheim, Sayn-Wittgenstein-Berleburg etc. beim Wetterauischen Kollegium, um die Grafen Fugger, von Sternberg usw. beim Schwäbischen, die Grafen von Hohenlohe, von Castell, von Schönborn u. a. beim Fränkischen, die Grafen Wied, von der Lippe, von Bentheim etc. beim Westfälischen Grafenkollegium. Im ganzen gab es fast 100 Reichsgrafschaften.16 Soweit sie katholisch waren, bemühten sich deren jüngere Söhne um Domherren-, Fürstbischofs- oder Kurfürstenwürden. Mit-

Abb. 10: Schbß Weißenstein, Pommersfelden. Vom Mainzer Kurfürsten Lothar Franz von Schönborn erbautes Schloß der Reichsgrafen Schönbom-Wiesentheid (Ofr.), 1711-1716, hauptsächlich von ]. Dientzenhofer

glieder dieser Familien aller drei anerkannten 16 Gebhardt II, S. 783 f.; Press, Volker: Reichsgrafenstand und Reich. Zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des deutschen Hochadels in der frühen Neuzeit. In: Heideking, Jürgen / Hufnagel, Gerhard / Knipping, Franz (Hg.): Wege in die Zeitgeschichte. FS f. G. Schulz. Berlin u. a. 1989, S. 3-29; Lanzizolle, Carl W. V.: Ubersicht der alten Reichsstandschafts- und Territorial-Verhältnisse vor dem französischen Reichskriege. Berlin 1830; Böhme, Ernst: Das fränkische Reichsgrafenkollegium im 16. und 17. Jahrhundert. Untersuchungen zu den Möglichkeiten und Grenzen der korporativen Politik mindermächtiger Reichsstände. (VeröfF. IEG M Z AU, Bd. 132) Stuttgart 1989, S. 9 iE, 285 ff; Woljf, Fritz: Grafen und Herren in Hessen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In: Heinemeyer, Walter (Hg.): Das Werden Hessens. Marburg 1986, S. 333-347; Hatzfeld, Lutz: Zur Geschichte des Reichsgrafenstandes. In: Nass. Annalen 70 (1959), S. 41-54; Kesting, Herrmann: Geschichte und Verfassung des Nieder-

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Das Heilige Römische Reich von 1648 bis 1806 und seine Verfassung

Konfessionen suchten auch Positionen in der Reichsverwaltung, im Reichsheer und bei den Reichsgerichten und außerdem bei den großen Landesherren. Die Grafen und Herren bildeten vielfach die Klientel des Kaisers, auf die er sich im Reich besonders stützen konnte. Diese Familien spielten nicht nur in ihren Schlössern und kleinen Territorien eine kulturelle Rolle, sondern wirkten auch durch ihre geisdichen Fürsten, Äbte und Domkapitulare als Mäzene und Bauherren, bis hin zu den großen Domherren- und Adelspalais, die sie in den Erzbischofs- oder Bischofsstädten errichten ließen, deren Domkapitel sie bevölkerten. Das gilt in eingeschränktem Maße auch für Reichsritterfamilien.17 Im ganzen gab es etwa 350 Reichsritterfamilien in Franken, Schwaben, im Rheinland und in der Wetterau, die zusammen über etwa 250.000 Untertanen herrschten. Ihre kleinen Territorien waren zwar reichsunmittelbar, ihre ritterschafüichen Herren jedoch keine Reichsstände, da die Reichsritter weder Sitz noch Stimme auf dem Reichstag hatten. Sie gehörten auch nicht wie die Reichsstände zu Reichskreisen und beteiligten sich nicht bei den üblichen Reichssteuern. Vielmehr waren sie in eigenen Ritterkreisen organisiert und trugen durch eine spezielle Abgabe zu den Reichslasten bei, durch die sog. „subsidia caritativa". Sie waren im Schwäbischen, Fränkischen und Rheinischen Ritterkreis organisiert, die jeweils aus mehreren Ritterkantonen bestanden. Ahnlich wie die Reichsgrafen und Herren strebten die Reichsritter, besonders die jüngeren Söhne, nach Amtern im Reich, bei großen Landesherren und nach Domkapitelpfründen und Bischofssitzen. Dabei spielten auch sie eine kulturelle Rolle. Die Familie Schönborn, die nicht nur besonders viele Kurfürsten- und Bischofssitze in Trier, Mainz, Speyer, Konstanz, Würzburg und Bamberg erobern konnte, sondern auch zu den baufreudigsten Familien des Reiches zählte, stammt ursprünglich aus der Reichsritterschaft und wurde erst 1701 in den Reichsgrafenstand erhoben. In den Reichsritterschaftsgebieten lebten, wie wir noch genauer sehen werden, relativ viele Juden. 18

sächsisch-Westfälischen Reichsgrafenkollegiums. In: Westfäl. Zeitschr. 106 (1956), S. 175— 246; Lünig, Johann Christian: Thesaurus Juris derer Grafen und Herren des Heiligen Römischen Reiches, worin von deren Ursprung, Wachstum, Praerogativen u n d Gerechtsamen gehandelt [...]. Frankfurt / Leipzig 1725. 17 Vgl. Hersche, Peter: Die deutschen Domkapitel im 17. und 18. Jahrhundert, Bd. 2. Bern 1984, S. 70 ff., 117 ff.; Rödel, Walter G.: Mainz und seine Bevölkerung im 17. und 18. Jahrhundert. Demographische Entwicklung, Lebensverhältnisse u n d soziale Strukturen in einer geistlichen Residenzstadt. (Geschichtl. Landeskunde, Bd. 28) Wiesbaden 1985, S. 62 f. 18 Vgl. Press, Volker: Die Reichsritterschaft im Reich der frühen Neuzeit. In: Nassauische Annalen 87 (1976) S. 101-122; ders.: Reichsritterschaften. In: Jeserich, Kurt G. A. / Pohl, Hans / Unruh, Georg-Chr. v. (Hg.): Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1. Stuttgart 1983, S. 6 7 9 - 6 8 9 .

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Mitglieder des Reiches und ihre weitgehende Unabhängigkeit

1.4. Reichsstädte und Reichsdörfer Nach dem 30jährigen Krieg gab es im Reich noch 51 Reichsstädte von sehr unterschiedlicher Größe und Bedeutung. Angefangen von der Hansestadt Hamburg, die 1760 ca. 97.000 Einwohner hatte, wozu noch 25.000 kamen 19 , die in den ländlichen Gebieten der Reichsstadt wohnten, bis hin zu den schwäbischen Reichsstädten Buchau mit 860 und Buchhorn mit 800 Einwohnern 20 gab es hier eine große Variationsbreite. Trotzdem hatten alle Reichsstädte im Prinzip die gleiche reichsrechtliche Position, waren als unabhängige Stadtrepubliken nur Kaiser und Reich unterstellt und besaßen jeweils Sitz und Stimme im Städtekollegium des Reichstages. — „ ^



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Abb. 11: Reichsstadt Hamburg im 18. Jahrhundert, Stich von Homann, 1730

Abgesehen von Hamburg war die große Blütezeit der meisten Reichsstädte nach dem 30jährigen Krieg vorbei. Das gilt auch fiir so bedeutende Städte wie Köln, Augsburg und Nürnberg, obwohl dort ebenso wie in Frankfurt a. M. noch viel Geld vorhanden war, verliehen wurde und Handel und Gewerbe intensiv betrieben wurden. Die Reichsstädte litten nicht nur sehr häufig an den Folgen des 30jährigen Krieges, sondern auch unter der Konkurrenz und den merkantilistischen Wirtschaftsmaßnahmen der größeren Nachbarterritorien sowie unter der überproportionalen Belastung durch die Pflichten für Kaiser und Reich. Andererseits war den Reichsstädten klar, daß nur Kaiser und Reich und die von ihnen garantierte Rechts- und Friedensordnung ihre Unabhängigkeit weiterhin sicherstellen konnten. Wenn auch die Reichsstädte nicht mehr die Kulturzentren par excellence wie etwa Ende des Mittelalters oder Anfang des 19 Hess, Jonas Ludwig v.: H a m b u r g topographisch, politisch und historisch beschrieben, T. I. Hamburg 1787, S. 3 , 6 . Hamburg war zwar schon lange de facto Reichsstadt, de jure aber erst endgültig mit Sitz und Stimme auf dem Reichstag seit 1770. 20 Hartmann,

Bevölkerungszahlen, S. 368.

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Das Heilige Römische Reich von 1648 bis 1806 und seine Verfassung

16. Jahrhunderts waren, so gingen doch von manchen unter ihnen noch starke kulturelle Impulse aus. Augsburger Goldschmiede fertigten z. B. kunstvolle Kelche, Monstranzen und andere kirchliche Geräte für weite Teile des Reiches an, oder Hamburg wurde in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein wichtiger Mittelpunkt der Musikpflege und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein besonderes Zentrum von Lesekultur, Zeitschriften und Lesegesellschaften. 2 1 Neben den Reichsstädten gab es nach

1648 noch einige

Reichsdörfer vor allem im fränkischen und schwäbischen Raum, bis zur Einverleibung durch Frankreich auch im Elsaß. Sie waren zwar reichsunmittelbar, hatten aber weder Sitz noch Stimme auf dem Reichstag und besaßen wegen ihrer geringen Größe wenig Bedeutung. In unserem Zusammenhang ist wichtig, daß alle erwähnten Mitglieder des Reiches, angefangen von den großen weltlichen und geistlichen Fürsten bis hin zu den Reichsgrafen und Reichsstädten, die Landeshoheit besaßen, die Reichsritter und Reichsdörfer eine fast vergleichbare Herrschaftsgewalt.

1.5. Weitgehende Unabhängigkeit durch Landeshoheit Die im Spätmittelalter entstandene, aus der Landesherrschaft hervorgegangene Landeshoheit wurde den Landesherren im Westfälischen Frieden von 1648 endgültig zugestanden. Es handelte sich um die „allen anderen Hoheitsrechten und Rechtstiteln gegenüber selbständige territoriale Herrschaftsgewalt", die allerdings nicht mit der vollen Souveränität gleichzusetzen ist, auch wenn man das bei manchen Historikern und Juristen lesen kann; denn die Souveränität kam Kaiser und Reich als Ganzem zu. Unter Landeshoheit verstand man, so der Staatsrechtler Christian August von Beck (1720-1784), den „Inbegriff aller derjenigen Rechte,

21 Zu den Reichsstädten vgl. Pütter, Staatsverwaltung II, S. 207—212; Press, Volker: Die Reichsstadt in der altständischen Gesellschaft. In: Klinisch, Johannes (Hg.): Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte. Berlin 1987, S. 9^42; Müller, Rainer A. / Buberl, Brigitte (Hg.): Reichsstädte in Franken. Katalog zur Austeilung, 3 Bde. München 1987; Böhme, Helmut: Frankfurt und Hamburg. Des Deutschen Reiches Silber- und Goldbörse und die allerenglischste Stadt des Kontinents. Frankfurt 1968; François, Etienne: Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648-1806. (Abh. z. Gesch. d. Stadt Augsburg, Bd. 33) Sigmaringen 1991; zu den Reichsdörfern in dieser Zeit: Conrad, Hermann (Hg.): Recht und Verfassung des Reiches in der Zeit Maria Theresias. Die Vorträge zum Unterricht des Erzherzogs Joseph. (Wissenschaftl. Abh. d. Arbeitsgemeinschaft f. Forschung d. Landes Nordrhein-Westfalen, 28) Köln / Opladen 1964, S. 502 f.

Mitglieder des Reiches und ihre weitgehende Unabhängigkeit

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welche einem Landesherrn sowohl in Kirchen- als weltlichen Sachen seines Territorii nach den Reichsgesetzen, Verträgen und Observanzen zustehen". 22 Im einzelnen hatten die Landesherren dadurch das Recht, Gesetze zu erlassen, die Jurisdiktion über ihre Untertanen, die „Polizei und Aufsicht über Handel und Wandel" auszuüben, das Recht, Krieg zu fuhren, allerdings nicht gegen Mitstände, Kaiser und Reich, das Bündnis-, Gesandschaftsrecht u. a. 2 3 Diese Landeshoheitsrechte konnten allerdings nur die größeren Territorien voll ausschöpfen. Aber auch die kleineren und ganz kleinen besaßen dadurch eine relativ große Unabhängigkeit, die sich u. a. im Kirchenregiment der protestantischen Herren und Magistrate, in etwas geringerem M a ß e ebenfalls in den Rechten der kleinen katholischen Fürsten, Ritter oder Reichsstädte auswirkte. Obwohl die einzelnen Glieder des Reiches, besonders die größeren Reichsstände, durch die Landeshoheit eine recht weitgehende Unabhängigkeit besaßen, bildete das Reich doch eine gewisse Klammer, die all die Vielfalt an größeren, kleineren und ganz kleinen Territorien und Städten zusammenhielt. Die Funktion, hier die Klammer zu bilden, kam den gemeinsamen Institutionen zu.

Abb. 12: Wahlzimmer im Römer in Frankfurt, wo die Wahlbotschafter der Kurfürsten über die Wahlkapitulationen

u. a. berieten.

Stich, angefertigt zur Wahl und Krönung Karls VII. 1742

22

Conrad, Recht, S. 567.

23 Dickmann,

Fritz: Der Westfälische Frieden. Münster 5 1985, S. 3 2 5 - 3 3 2 ; Willoweit, Dietmar:

Deutsche Verfassungsgeschichte vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands. Ein Studienbuch. (Jur. Kurzlehrbücher) München 3 1997, S. 147 ffi; Conrad, Recht, S. 567 ff.

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Das Heilige Römische Reich von 1648 bis 1806 und seine Verfassung

2. Gemeinsame Institutionen 2 . 1 . Kaiser Das Heilige Römische Reich hatte ein gemeinsames Oberhaupt, den Kaiser, der jeweils von den Kurfürsten gewählt wurde. Er war der oberste Repräsentant, der höchste Lehnsherr, im Prinzip auch der oberste Richter des Reiches. Zusammen mit der Gesamtheit der Reichsstände verkörperte er - bei aller großen Unabhängigkeit der Reichsmitglieder - die volle Souveränität des Reiches. Sein Handlungsspielraum als Reichsoberhaupt war jedoch durch die Mitbestimmung der Reichsstände in allen wichtigen Angelegenheiten, die das Reich betrafen, stark eingeschränkt. Seine Macht beruhte deshalb vor allem auf der Größe seiner Erbländer. Da in der von uns behandelten Zeit, abgesehen von dem kurzen Kaisertum des Wittelsbachers Karl VII. ( 1 7 4 2 - 1 7 4 5 ) , immer die Habsburger bzw. Lothringen-Habsburger das Reichsoberhaupt stellten, stand ihnen in der Regel der bedeutende habsburgische Länderkomplex als Machtbasis zur Verfügung.

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Abb. 13: Einzug des Mainzer Kurfürsten Philipp Carl zum Wahltag in Frankfiirt am 21. Oktober Stich von J, W Albrecht / Ostertag u. Holdenritter

1741,

Gemeinsame Institutionen

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Formal galt der Kaiser als der „erste und vornehmste Potentat" des Abendlandes mit dem allseits anerkannten Titel Majestät, ja theoretisch wurde er auch noch als das „weldiche Haupt, der oberste Vogt, Schutzherr und Schirmherr der ganzen Christenheit" angesehen. Seine Titulatur begann mit „Wir N. erwählter römischer Kaiser, allzeit Mehrer des Reiches, König in Germanien etc.", und man fugte dann die Titel der Erbländer an: „König von Ungarn, Böhmen ... und Jerusalem; Erzherzog zu Österreich, Herzog zu Burgund und zu Lothringen etc." 24 Diese Titulatur stützte sich auf alte Traditionen. So kommt etwa das „allzeit Mehrer des Reiches" von dem alten „Semper Augustus", König von Germanien nannten sich die Kaiser seit Maximillian I. (1493-1519) und König zu Jerusalem seit Friedrich II. (1212-1250). 25 Das kaiserliche Wappen bestand aus einem schwarzen, „mit ausgebreiteten Flügeln schwebenden Adler mit 2 Hälsen und Köpfen, deren einer nach rechts, der andere nach links sieht, mit gelben Schnäbeln und Füßen, in einem goldenen Feld. Über des Adlers Köpfen sieht man die Kaiserkrone."26 Trotz seiner hohen Würde und seines europaweiten Ansehens war die Regierungsgewalt des Kaisers im Reich stark eingeschränkt. Unabhängig konnte er nämlich nur in seinen eigenen Erblanden als Landesherr schalten und walten. Bei allen Regierungsmaßnahmen, die das ganze Reich betrafen, zum Beispiel dessen Außen- oder Finanzpolitik, bei der Erklärung von Reichskriegen oder -frieden, war der Kaiser an die Mitwirkung oder Zustimmung der Reichsstände auf dem Reichstag gebunden. Auf eine gewisse Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit konnte er nur bei der Ausübung seiner kaiserlichen Reservatsrechte pochen, wie etwa beim Recht der Standeserhöhung, der Legitimierung, der Erteilung von Privilegien und Dispensationen. Er hatte außerdem die Möglichkeit, die Fürstbischofs- und Reichsabtswahlen zu beeinflussen und sich durch Vergabe von Reichsämtern und Vergünstigungen eine Klientel bei den kleinen Reichsfursten, besonders den Geistlichen und den Reichsgrafen, Herren und Reichsrittern zu schaffen. Schließlich standen ihm als Reichsoberhaupt gewisse Rechte auf Begnadigung und Exemtion von der Reichsgerichtsbarkeit zu. In dieser Funktion als oberster Richter konnte er im Reichskammergericht den Vorsitzenden Kammerrichter und die Präsidenten der Senate sowie im Reichshofrat alle Richter ernennen. 27

24 Beck in: Conrad, Recht, S. 448 ff. 25 Beck in: Conrad, Recht, S. 449. 26 Idem.S. 450. 27 Vgl. Moser, Johann Jacob: Grund-Riß der heutigen Staats-Verfassung des Teutschen Reiches. Tübingen 1754, S. 126-179; vgl. Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 170 f.

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Obwohl die eigentlichen Funktionen des Reichsoberhauptes recht begrenzt waren, besaß er doch sehr großes Ansehen. Der Kaiserhof in Wien, weitaus der prächtigste und größte im Reich, hatte eine besondere Vorbildfunktion. Dieser Hof mit der Haupt- und Residenzstadt Wien wurde spätestens seit Leopold I. (1658-1705) auch das wichtigste Kulturzentrum des Reiches, das zum Anziehungspunkt für viele Künstler aus den anderen Territorien wurde. Man denke an Mozart und Beethoven. 28 Da der Kaiser Reichsoberhaupt war, beteAbb. 14: Reichskanzleitrakt der Wiener Hofburg mit Reichskrone, 17. Jh.

ten die Gläubigen in den katholischen und protestantischen Kirchen der verschiedenen Territorien und Reichsstädte für ihn. Alle

Reichsklöster, aber auch viele andere Klöster sowie die Residenzen vieler Fürstbischöfe hatten prächtige Kaisersäle. Wohl der schönste dieser Säle befindet sich in der Residenz der Würzburger Fürstbischöfe. Die dortigen Gemälde stammen von dem damals berühmtesten europäischen Freskenmaler Giovanni Battista Tiepolo. 29 Die Kaisersäle dienten zumindest hier und da den Reichsoberhäuptern als Repräsentationssäle auf ihren Reisen, besonders auf dem Weg zur feierlichen Krönung in St. Bartholomäus in der Freien Reichsstadt Frankfurt und zurück. Diese Wahl und Krönung der Kaiser in Frankfurt a. M. zählten zu den zentralen gemeinsamen Ereignissen und Festen des ganzen Reiches. Nach dem feierlichen Einzug der Gesandtschaften und den Präliminar-Konferenzen war der eigentliche Wahlvorgang in der Seitenkapelle der Frankfurter St.-Bartholomäus-Kirche ein besonderes Fest, das Zehntausende von Menschen anzog. Die Kurfürsten, besonders der Mainzer, ritten hier zum Teil persönlich im Kurhabit und mit Kurhut in die Kirche. Bei der Wahl Karls VII. nahmen alleine 18.000 Personen am prächtigen Zug vom Römer zum „Dom" zur Begleitung der Wählenden teil. Nach der feierlichen Uberführung der Reichskleinodien

28 Vgl. Kap. VI. 29 Vgl. Krückmann, New York 1996.

Peter O.: Der Himmel auf Erden. Tiepolo in Würzburg, Bd. 1. Münster /

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von Aachen und vor allem von Nürnberg nach Frankfurt mit der wertvollen Kaiserkrone, die jeder gewählte Kaiser nur bei der Krönung aufgesetzt bekam (s. T. I.), zog dieser mit viel Gefolge und außerdem all die anderen Teilnehmer, das heißt die Kurfürsten oder ihre Gesandten, Wahlbotschafter, Adeligen, in die Stadt und zur Krönung, deren Ordo auf das Jahr 962 zurückging und sich an dem Ottos des Großen orientierte.

Abb. 15: Krönung Karls VII. am 12. Februar 1742, Stich von I. G. Funck/ M. Rößler, Diarium Karl VII

Nach der Zeremonie zog der Kaiser, die Krone auf dem Haupt, unter Glockengeläut und Kanonendonner auf einer eigens aus Brettern gebildeten, mit Tuch ausgelegten Triumphstraße von der St.-Bartholomäus-Kirche zum Römer, so daß ihn die riesige versammelte Menge unter dem von Frankfurter Schöffen getragenen Himmel sehen konnte. Leibhaftige Kurfürsten hielten dabei die Enden des Krönungsmantels. Dies geschah jeweils unter dem großen Jubel der Volksmassen, vor deren Augen auch die traditionellen Funktionen der Reichserzämter als symbolischer Ehrendienst für den neuen Herrscher ausgeführt wurden. 3 0

30 Vgl. Hartmann, Peter C.: Karl Albrecht - Karl VII., S. 215 ff.; Jung, Johann David (Hg.): Vollständiges Diarium von den merckwürdigsten die sich vor, in und nach der höchstbeglück-

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In der Zeit von 1648 bis 1806 gab es folgende Kaiser: Ferdinand III. (1636-1657), Leopold I. (1658-1705), Joseph I. (1705-1711), Karl VI. (1711-1740), Karl VII. (1742-1745), Franz I. (1745-1765), Joseph II. (1765-1790), Leopold II. (1790-1792) und Franz II. (1792-1806, ab 1804 Kaiser Franz I. von Österreich). 31 Bei der Wahl und Krönung des Reichsoberhauptes spielte der Kurfürst von Mainz eine zentrale Rolle.

Abb. 16: Leopold II. im Krönungsornat unter einer Ehrenpforte — Allegorie der Huldigung. Im Hintergrund Frankfurter Bürger und Stadtsilhouette. Gedächtnisblatt von I. C. Berndt zur Krönung Leopolds II. am 9. Oktober 1790

2.2. Mainzer Reichserzkanzler Der Mainzer Kurfürst und Reichserzkanzler hatte die verschiedensten Funktionen, angefangen von Einflußmöglichkeiten auf die beiden höchsten Reichsgerichte, das Reichspostwesen bis hin zur Führung des Reichserzkanzlerarchivs. Hier sollen jedoch nur die drei wichtigsten genannt werden. Zunächst ist erstens auf das Recht des Mainzer Kurfürsten hinzuweisen, die Kaiser- oder Königswahl zu leiten. Beim Tod des jeweiligen Reichsoberhauptes ten Crönung des Allerdurchlauchtigsten, Großmächtigsten und Unüberwindlichsten Fürsten und Herrn, Herrn Carls VII. ... zugetragen. Frankfurt a. Main 1743, S. 36 fif., 65 ff. 31 Vgl. Schindling, Anton / Ziegler, Walter (Hg.): Die Kaiser der Neuzeit 1519-1918. Heiliges Römisches Reich, Osterreich, Deutschland. München 1990, S. 142-306.

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wurde der Mainzer Erzbischof als Reichserzkanzler für Germanien gleichsam „zum Verweser des Reiches und damit zur Hauptfigur der Politik" in der Interregnumszeit. Moser schreibt dazu in seinem „Churfürstlich-Maynzischen Staats-Recht" vom Jahre 1755: „Wann der Kayserliche Thron erledigt wird, m u ß es gleich Chur-Maynz berichtet werden. Der Churfürst berufft sodann Seine übrigen Mit-Churfursten zur Wahl und setzet den Termin an, wann, auch wo, Sie oder Ihre Gesandte erscheinen sollen. So auch wann bey Lebzeit eines Rom. Kaysers ein Rom. König erwählt werden sollte, schreibet der Churfürst zu Maynz, auf Verlangen des Kaysers, oder auch ohne dasselbe, einen Churfurstlichen Collegial-Convent aus, um auf demselben zu berathschlagen, ob man zu einer Wahl schreiten wolle oder nicht? und wann das erster beschlossen wird, ladet Chur-Maynz die übrige Mit-Churfürsten brevi manu zur Wahl ein." 32 Eine weitere wichtige Funktion des Mainzer Kurfürsten und Reichserzkanzlers war zweitens die Ernennung des Personals der Reichshofkanzlei in Wien. Moser drückt dies so aus: „Chur-Maynz hat das Recht, dem Kayser diesen Reichs-Vice-Canzlar, oder Reichs-Hof-Vice-Canzlar, zu präsentieren" und „Krafft des Erz-Canzler-Amtes hält Chur-Maynz ferner beständig an dem kayserlichen Hof eine eigene Canzlei [...] und ihre Zimmer in der Kayserlichen Burg oder dem Kayserlichen Residenz-Schloß hat." Daraus folgt, daß Kurmainz Reichskanzleiordnungen verfaßte und in dieser Reichskanzlei alle Schreiben, die der Kaiser als Reichsoberhaupt wegschickte, ausgefertigt wurden. Diese Dokumente waren vom Kurfürsten, dem Reichsvizekanzler oder ihren Vertretern gegenzuzeichnen, Dekrete sogar allein zu unterschreiben. Außerdem verwahrte die Reichskanzlei das kaiserliche Siegel und führte das Reichsarchiv. Als dritte zentrale Funktion sei hier noch das Reichsdirektorium auf dem Reichstag genannt, eine Art Präsidentschaft dieses Staatenhauses. In diesem Sinne war Kurmainz ein Vorgänger des heutigen deutschen Bundesratspräsidenten. „Es ist schon gemeldet worden", so betont Moser, „daß Chur-Maynz bey Reichs-Conventen das allgemeine Reichs-Direktorium führet; und zwar dieses ganz allein." So mußten sich die Vertreter der Reichsstände beim Mainzer Direktorium durch Abgabe ihrer Vollmachten legitimieren. Ferner lag es an diesem Direktorium, die kaiserlichen Propositionen, die zur Abstimmung gelangen sollten, „per Dictaturam" den „übrigen Reichs-Ständen" mitzuteilen. Auch das Abstimmungsverfahren der drei Reichstagsgremien, dessen vornehmstes,

32 Moser, Johann Jacob: Einleitung in das Churfürstlich-Maynzische Staats-Recht. Frankfurt/Main 1755, S. 31.

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das Kurkollegium, Mainz präsidierte, wurde vom Direktorium geleitet, die Voten in schriftliche Form gebracht und als Reichsgutachten dem Kaiser oder dessen Vertretern übergeben. Aber der Kurfürst und Reichserzkanzler bzw. sein Vertreter leitete nicht nur den Immerwährenden Reichstag und das Abstimmungsverfahren, sondern er führte auch wegen der auf der Reichsversammlung anstehenden, diskutierten und zu beschließenden Angelegenheiten eine rege Korrespondenz mit dem Kaiser, den Reichsständen, den bedeutenden und kleinen, mit auswärtigen Herrschern und dem Papst; einen Schriftverkehr, der in diesem Umfang nur aus seiner Position als zweiter Mann im Reich und nicht als Landesherr eines kleinen Kurfürstentums zu erklären ist. Angesichts all dieser Funktionen als zweiter Mann im Reich springen das relativ kleine mainzische Kurfürstentum mit 303.500 Einwohnern Ende des 18. Jahrhunderts, seine entsprechend mittelmäßigen Staatseinkünfte und die geringe Militärmacht ins Auge. Hier im Reich galt offensichtlich nicht, wie so oft in der Geschichte der Grundsatz „Macht vor Recht", sondern „Recht vor Macht". 3 3 Abb. 17: Philipp Carl von Eitz, Erzbischof und Kurfurst von Mainz, des Heiligen Römischen Reiches durch Germanien Erzkanzler (1732-1743) Links vom Wappen: Mitra, Bischofistab und Pallium, Zeichen seiner Erzbischoßwiirde, und rechts vom Wappen Kurhut und Schwert, Zeichen seiner weltlichen Herrschaß. Kupßerstich von E Hammer, C. H. Müller, 1742

Der Rechtswissenschaftler und Lehrer des späteren Kaisers Joseph II., Christian August von Beck ( 1 7 2 0 - 1 7 8 4 ) , charakterisierte die Bedeutung des Kurfürsten und Erzbischofs von Mainz mit den Worten: „... welcher des Heiligen Römischen Reichs Erzkanzler durch Germanien ist und sowohl in dem geistlichen als weltlichen Staat von Deutschland nach

33 Vgl. Hartmann, Peter Claus: Der Mainzer Kurfürst als Reichserzkanzler. Einführung in die Problematik und Thematik des Kolloquiums. In: Ders. (Hg.): Der Mainzer Kurfürst als Reichserzkanzler. Funktionen, Aktivitäten, Ansprüche und Bedeutung des zweiten Mannes im alten Reich. (Gesch. Landeskunde, Bd. 45) Stuttgart 1997, S. 1 - 8 ; Mathy, Helmut: Über das Mainzer Erzkanzleramt in der Neuzeit. Stand und Aufgaben der Forschung. In: Gesch. Landeskunde, Bd. 2. Wiesbaden 1965, S. 109-149; Härter, Karl: Das Kurmainzer Reichstagsdirektorium: eine zentrale reichspolitische Schaltstelle des Reichserzkanzlers im Reichssystem. In: Hartmann, Kurfürst, S. 171-203.

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dem Kaiser die erste Person vorstellt. Hierauf gründen sich dessen besondere Vorzüge und Rechte bei der Kaiserwahl und Krönung, das Directorium auf dem Reichstage und insonderheit in dem kurfürstlichen Collegio, die Visitation des kaiserlichen Reichshofrates und Kammergerichts, die Schutzgerechtigkeit über die Reichsposten und andere mehr." 34 Neben dem Kaiser und dem Mainzer Reichserzkanzler stellte der Reichstag, der ab 1663 als „Immerwährender Reichstag" in der Freien Reichsstadt Regensburg, der östlichsten des Reiches, versammelt war, eine ganz zentrale gemeinsame Institution des Reiches dar.

2.3. Reichstag Hier handelte es sich um die Versammlung der Reichsstände, d. h. der stimmberechtigten Reichsmitglieder bzw. ihrer Vertreter. Ab 1663 war dieser Reichstag ein „Immerwährender Reichstag", d. h. ein Kongreß der Gesandten von Kurfürsten, Fürsten und Reichsstädten mit Sitz in Regensburg. Er stellte somit eine Art Staatenhaus dar, wo die vielen regionalen Obrigkeiten vertreten waren. Dieser „Immerwährende Reichstag", der vom Mainzer Direktorium geleitet wurde, bestand aus drei Gremien, dem Kurfurstenrat, dem Fürstenrat und dem Reichsstädtekollegium. Dem ebenfalls von Kurmainz geleiteten Kurkolleg kam dabei eine besondere Rolle zu. Beim Rat der Fürsten gab es zwei unterschiedliche Stimmen. Während heute bei der U N O das Votum Indiens mit einer Milliarde Einwohnern ebensoviel zählt wie das eines Zwergstaates mit 100.000 Einwohnern, wie des kleinen Katar im Persischen Golf, hatten auf dem Reichstag in Regensburg nur die fürstlichen Territorien eine volle Stimme, d. h. eine Virilstimme, während die ganz kleinen, also die Grafen, Herren und Prälaten, nur jeweils einen Anteil an einer Gruppen- oder Kuriatstimme besaßen. So teilte sich der Graf von Ortenburg mit 24 anderen Grafen bzw. mindermächtigen Fürsten das Votum des Wetterauer Grafenkollegiums. Der Reichstag übte eine wichtige politische Funktion zur Sicherung des Friedens in Mitteleuropa aus, zur Aufrechterhaltung einer Art kollektiven Sicherheitssystems in diesem Raum mit Verteidigung gegen gemeinsame Feinde, zum Beispiel im Kampf gegen die Türken, die das Reich und die Christenheit bedrohten. Außerdem bewilligte die Reichsversammlung im Laufe der Zeit

34

Conrad, Recht, S. 484.

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große Geldmittel und beschloß die Aufstellung von bedeutenden gemeinsamen Truppenkontingenten flir die immer nur defensiven Reichskriege. Aber auch im Bereich des Münz- und Geldwesens, der Justizreform, der Wirtschaftspolitik, der Gesellenordnung und des Sozialwesens, der Ernährung der in Not geratenen Bevölkerung weiter Teile des Reiches wurde viel geleistet. Außerdem hat der Reichstag Spannungen seiner Mitglieder untereinander ausgeglichen. Neben den obersten Reichsgerichten sicherte nämlich diese Versammlung der Territorien und Reichsstädte auch den reliAbb. 18: Regensburg, Altes Rathaus, Tagungsort des Immerwährenden Reichstags

giösen Frieden und die Einhaltung der Verfassung und der Rechtsordnung des Reiches. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts

und im ganzen 18. Jahrhundert spielte der Reichstag im Bereich der Verfassungs- und Rechtsordnung, aber auch im wirtschaftlichen sowie politisch-diplomatischen Geschehen eine wichtige Rolle. Dies gilt, wie Härter zeigt, sogar noch in den letzten 17 Jahren dieser Versammlung, in der Revolutions- und Napoleonszeit von 1789—1806.^ Diese Reichsversammlung hatte ein kompliziertes Abstimmungsverfahren. Zunächst diskutierte und votierte jedes der drei Kollegien, nämlich Kurfürstenrat, Fürstenrat und Reichsstädtekurie, getrennt nach dem Mehrheitsprinzip. Die einzelnen Beschlüsse mußten dann miteinander abgestimmt werden. Zunächst wurde ein gemeinsames „Conclusum" (Beschluß) der zwei ersten Gremien hergestellt, dem sich dann meist die Städte anschlössen. Der Beschluß der drei Kurien hieß „Reichsgutachten", das durch ein Dekret des Kaisers zum „Reichsschluß" (= Beschluß) wurde. 36

35 Vgl. Fürnrohr, Walter: Der immerwährende Reichstag zu Regensburg. Regensburg / Kallmünz 1964; Schindling, Anton: Die Anfänge des immerwährenden Reichstags zu Regensburg, Ständevertretung und Staatskunst nach dem Westfälischen Frieden. (Veröffentlichungen des Instituts fiir Europäische Geschichte Mainz, Abteilung fur Universalgeschichte, 143) Mainz 1991; Härter, Karl: Reichstag und Revolution 1789-1806. Die Auseinandersetzungen des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg mit den Auswirkungen der französischen Revolution auf das alte Reich. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 46) Göttingen 1992; Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 171-174. 36

Conrad, Recht, S. 530-546; Noël, Jean-François: Le Saint-Empire. (Que sais-je? 1646) Paris 3

1993, S. 80 f.

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Angesichts der Schwäche der Zentralgewalten und der immer stärker werdenden Partikularkräfte im Reich kam nicht nur dem Reichstag als Versammlung der Reichsstände eine große Bedeutung zu, sondern auch den regionalen Formationen des Reiches, d. h. den zehn Reichskreisen.

2.4. Reichskreise Das Heilige Römische Reich war seit 1512 in zehn Reichskreise eingeteilt. Ausgenommen waren die Reichsritterschaftsgebiete sowie Böhmen, Mähren, die Lausitzen und Schlesien und schließlich die noch locker zum Reich gehörenden norditalienischen Staaten. Im Nordwesten des Reiches lag der Burgundische Kreis mit Brüssel. Daran schloß sich im Osten der Niederrheinisch-Westfälische Kreis mit dem Hochstift Lüttich im Westen an, der durchbrochen von kurrheinischem Gebiet über Westfalen bis Oldenburg und Ostfriesland reichte. Östlich der Weser lag der Niedersächsische Kreis, der sich von Bremen über Holstein bis an die Ostgrenze Mecklenburgs erstreckte. Im Nordosten des Reiches befand sich der Obersächsische Kreis mit Pommern, Kurbrandenburg und den verschiedenen sächsischen Territorien. Ein unzusammenhängendes Gebiet bildete der Kurrheinische Kreis, der in erster Linie aus den verschiedenen Teilen von Kurköln, Kurtrier, Kurmainz und dem Stammland der Kurpfalz bestand. Der Oberrheinische Kreis erstreckte sich in seinem damals reichsrechtlich einzig relevanten Kerngebiet vom nördlichen Hessen über pfälzische Gebiete bis zum Elsaß. Weitere vier Kreise befanden sich im Süden des Reiches. Zwischen Rhein und Lech lag der Schwäbische Kreis, der von vorderösterreichischen Gebieten und Reichsritterländern durchbrochen war. Daran grenzte im Osten der weitgehend geschlossene Bayerische Kreis an, zu dem im wesentlichen das heutige Altbayern und das heutige Land Salzburg gehörten. Nördlich der beiden schloß sich der Fränkische Kreis an, der vom Hochstift Eichstätt im Süden bis ins heutige Thüringen reichte. Im Süden und Südosten des Reiches befand sich der Österreichische Kreis. Diese Reichskreise besaßen deshalb für das Reichsganze eine so große Bedeutung, weil sie es waren, welche die Beschlüsse des Reichstages erst in die Tat umsetzten. Die kreisausschreibenden Fürsten leiteten die Dekrete des Kaisers an die einzelnen Reichsstände weiter und setzten die Befehle, Anordnungen oder Wünsche des Reichsoberhauptes um. Auf den Kreistagen entschieden die Stände vielfach kooperativ und kollegial, inwieweit und wie die Reichstags-

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beschlüsse, d. h. die Erhebung der beschlossenen Reichssteuern, die Aufstellung der Reichskontingente etc., im Bereich des jeweiligen Kreises in die Tat umzusetzen waren. Die Kreise hatten nämlich die Aufgabe, das anfallende Kreiskontingent als Teil des Reichsheeres aufzustellen, auszurüsten und zu unterhalten, die Reichssteuern zu erheben, das Geld- und Münzwesen überterritorial in Währungzonen zu regeln, die Exekution der Reichsgerichtsurteile zu vollziehen und außerdem die Friedenssicherung und -Ordnung zu garantieren. Außerdem präsentierten sie einen Teil der Richter des Reichskammergerichtes.

Abb. 19: Tagung des Schwäbischen Kreises in Ulm 1669

Die Entwicklung der Reichskreise gestaltete sich jedoch recht unterschiedlich. Während die Kreisaktivitäten im Norden des Reiches Ende des 17. Jahrhunderts immer geringer wurden, funktionierten vor allen die süddeutschen Kreise recht gut, am besten der Schwäbische und Fränkische Kreis. Dort wurden regional und zugleich überterritorial Wirtschaftsförderungs-, Ernährungs-, Polizei- und Straßenbaumaßnahmen ergriffen. Gerade die süddeutschen Reichskreise besaßen im Verfassungs- und Wirtschaftsleben und in der Reichspolitik noch eine große Bedeutung. Sie waren Garanten für das Funktionieren der Reichsexekutive und bis zu einem gewissen Maße Organe der Reichs- und Regionalverwaltung. Die Reichskreise hatten auch eine große Bedeutung für die höchste Gerichtsbarkeit im alten Reich. 3 7 Wenigstens in dessen westlichen und 3 7 Vgl. Dotzauer,

Winfried: Die deutschen Reichskreise (1383—1806): Geschichte und Akten-

Gemeinsame Institutionen

49

südlichen Teilen agierten die Kreisausschreibenden Fürsten nämlich als Garanten der Reichsverfassung und Vollstrecker von Reichsgerichtsurteilen. 38

2.5. Reichsgerichte Die beiden höchsten Reichsgerichte, d. h. das Reichskammergericht und der Reichshofrat, waren als gemeinsame Institutionen des Gesamtreiches so wichtig, weil sie neben dem Kaiser, dem Reichstag und den Reichskreisen schon durch ihre Existenz, aber auch durch ihr Wirken, vor allem jene Reichsfriedensund respektierte Rechtsordnung sicherten, die das Zusammenleben all der verschiedenartigen kleinen und größeren Territorien und Städte garantierte. Das war wiederum u. a. eine Voraussetzung der vielfältigen Kulturentwicklung; denn diese Rechts- und Friedensordnung ermöglichte etwa einer kleinen Reichsabtei wie Ottobeuren, die keine Soldaten und keine militärische Macht besaß, ihre Mittel für Bauten und Kultur einzusetzen, ohne vom stärkeren Nachbarn erobert oder ausgeplündert zu werden. Es gab zwei höchste Reichsgerichte, das Reichskammergericht, das sich bis 1689 in der Reichsstadt Speyer und dann in der Reichsstadt Wetzlar befand, und den Reichshofrat am Sitz der Kaiserhofes, also außer 1742-1745 in Wien. Die Rechtsordnung, aber auch die Reichsfriedensordnung wurden, wie angedeutet, zum großen Teil von den beiden höchsten Reichsgerichten, dem Reichskammergericht in Speyer (später Wetzlar) und dem Reichshofrat, der meist in Wien saß, garantiert. Während die meisten Richter des Reichskammergerichtes nach einem ausgeklügelten Proporzsystem in erster Linie von den in den Kreisen zusammengefaßten Reichsterritorien präsentiert wurden, ernannte der Kaiser die Reichshofräte. Beide Gerichte erlebten noch in den letzten Jahredition. Stuttgart 1998; Hartmann, Peter C.: Zur Bedeutung der Reichskreise für Kaiser und Reich im 18. Jahrhundert. In: Landesgeschichte und Reichsgeschichte. Festschrift für Alois Gerlich. Stuttgart 1995, S. 305-319; den. (Hg.): Regionen der Frühen Neuzeit. Reichskreise im deutschen Raum, Provinzen in Franken, Regionen unter polnischer Oberhoheit: Ein Vergleich ihrer Struktur, Funktion und ihrer Bedeutung. (ZHF, Beih.17) Berlin 1994; Hartmann, Peter C.: Der Bayerische Reichskreis (1500 bis 1803). Strukturen, Geschichte und Bedeutung im Rahmen der Kreisverfassung und der allgemeinen institutionellen Entwicklung des Heiligen Römischen Reiches. (Sehr. z. Verfassungsgesch., Bd. 52) Berlin 1997, S. 36-98. 38 Vgl. für den Schwäbischen Kreis: Fimpel, Martin: Reichsjustiz und Territorialstaat. Württemberg als Kommissar von Kaiser und Reich im Schwäbischen Kreis (1648-1806). (Frühneuzeit-Forsch., Bd. 6) Tübingen 1999, bes. S. 51 ff.

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Das Heilige Römische Reich von 1648 bis 1806 und seine Verfassung

zehnten des 18. Jahrhunderts nach mancher Reform und Verbesserung einen Aufschwung. Sie bildeten ein ganz wesentliches Element der Reichsverfassung, der weithin anerkannten und respektierten Reichsfriedensordnung und der Vereinheitlichung der Rechtsprechung der einzelnen Territorien und verhinderten auch durch ihre Existenz und Tätigkeit Justizmißbräuche und Rechtsverweigerungen durch Landesherren. Noch im späten 18. Jahrhundert wurde gerade der Reichshofrat in Wien von besonders vielen Untertanen von Reichsfursten angerufen. Während im 18. Jahrhundert beim Reichskammergericht jährlich etwa 200 bis 300 Klagen eingingen, waren es beim Reichshofrat, der schneller und effizienter arbeitete, 2.000 bis 3.000 Beschwerdeschriften. 39

Abb. 20: Sitzung des Reichskammergerichtes in Wetzlar, 18. Jh.

39 Smend, Rudolf: Das Reichskammergericht. Geschichte und Verfassung. (Quellen u. Studien z. Verfassungsgeschichte d. Deutschen Reiches in Mittelalter u. Neuzeit, Bd. 4, H . 3) Weimar 1911 ( N D 1965); Sellert, Wolfgang: Uber die Zuständigkeitsabgrenzung von Reichshofrat und Reichskammergericht insbesondere in Strafsachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit. (Untersuchungen z. deutschen Staats- u n d Rechtsgeschichte NF, Bd. 4) Aalen 1965; Diestelkamp, Bernhard (Hg.): Die politische Funktion des Reichskammergerichts. (Quellen u. Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 24) Köln u. a. 1993; Press, Volker: Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte. (Schriften der Gesellschaft f. Reichskammergerichtsforschung, 3) Wetzlar 1987; Sellert, Wolfgang (Hg.): Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis. (Quellen u. Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 34) Köln u . a . 1999.

51

3. Bevölkerung, Gesellschaft und Wirtschaft

3.1. Einwohnerzahlen Die Aufgabe, für das 17. und 18. Jahrhundert die Bevölkerungszahlen zu ermitteln, ist mangels exakter statistischer Unterlagen wesendich schwieriger als für das 19. Jahrhundert. Dazu k o m m t die Zusammensetzung des Reiches aus einer Vielzahl von kleinen und größeren Territorien und Reichsstädten. Dies macht die Aufgabe noch komplizierter als etwa die Berechnung der Einwohner für einen relativ zentralistischen Staat wie das damalige Frankreich. Deshalb beschränken sich die einschlägigen Quellen und Handbücher meist auf grobe Schätzungen. Der bedeutende Berliner Geograph Anton Friedrich Büsching nimmt zum Beispiel für ganz Deutschland ohne Schlesien 1789 eine Einwohnerzahl von 2 4 - 2 6 Millionen an. 4 0 Im historisch-statistischen Handbuch von Moritz Gotdieb Grellmann, erschienen 1801, werden einschließlich Schlesien 2 9 , 4 Millionen Einwohner angegeben. 41 Eine sehr detaillierte Quelle des Reichserzkanzlerarchivs von 1795 kommt für die zehn Reichskreise und die böhmischen Länder auf eine Gesamtbevölkerung von 2 5 . 4 7 3 . 6 7 8 . Dazu wären die etwa 2 5 0 . 0 0 0 Menschen der Reichsrittergebiete und das hier nicht berücksichtigte Schlesien zu zählen. Addieren wir die 1 . 7 7 6 . 0 0 0 Einwohner dieses großen Herzogtums hinzu, so kommen wir auf eine Reichsbevölkerung von 2 7 . 4 9 9 . 6 7 8 Einwohnern. Die überwältigende Mehrheit davon, nämlich 2 3 . 3 6 0 . 3 1 8 Menschen oder 8 4 , 9 % , lebten in den Territorien der weldichen Fürsten (einschließlich Schlesien), 3 . 1 2 1 . 0 0 0 oder 1 1 , 3 % in geisdichen Territorien und 7 6 8 . 3 6 0 oder 2 , 8 % in Reichsstädten. Diese Verteilung war jedoch je nach Reichskreis recht unterschiedlich. Wurden im Kurrheinischen Kreis 7 6 2 . 5 0 0 oder 7 5 , 8 % von geistlichen und nur 2 4 , 2 % von weltlichen Fürsten beherrscht, so gab es im Burgundischen oder Obersächsischen Kreis in dieser Zeit keine Untertanen geistlicher Fürsten. Relativ hoch war der Anteil der Bewohner geistlicher Territorien im Fränkischen Kreis mit 4 5 % und im NiederrheinischWestfälischen Kreis mit 3 6 , 7 % . Weitaus den höchsten Prozentsatz an Reichsstädtebewohnern wies mit 1 6 , 3 % der Schwäbische Kreis auf, gefolgt vom Fränkischen mit 8 % .

40 Büsching, Erdbeschreibung, Bd. 5, S. 26. 41

Grellmann, Heinrich Moritz Gottlieb: Historisch-statistisches Handbuch von Teutschland und den vorzüglichsten seiner besonderen Staaten. Göttingen 1801, S. 28.

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Das Heilige Römische Reich von 1648 bis 1806 und seine Verfassung

Die Einwohnerzahl der Reichskreise betrug nach der Quelle in den Reichstagsakten damals rund 2 Millionen im Burgundischen Kreis, 2.496.870 im Niederrheinisch-Westfälischen Kreis, 2.095.500 im Niedersächsischen Kreis, 3.830.870 im Obersächsischen Kreis, 1.018.500 im Kurrheinischen Kreis, 1.447.100 im Oberrheinischen Kreis, 1.622.738 Bewohner im Schwäbischen Kreis, ca. 4,5 Millionen im Österreichischen und 1.509.500 im Bayerischen Kreis. Die zusammen etwa 27,5 Millionen Einwohner des Heiligen Römischen Reiches gehörten verschiedenen Konfessionen an. 4 2

3.2. Vielfalt der Konfessionen Während Spanien oder Frankreich damals die katholische Staatsreligion, England, Dänemark oder Schweden eine protestantische Staatsreligion kannten und deshalb dort jeweils religiöse Minderheiten benachteiligt oder nicht geduldet wurden, gab es im Reich eine Vielfalt von Konfessionen. Laut Westfälischem Frieden waren drei Hauptkonfessionen anerkannt und voll berechtigt, die katholische, lutherische und reformierte (kalvinistische). Außerdem lebten in vielen Territorien und Reichsstädten jüdische Minderheiten. Schließlich gab es kleine reformatorische Gemeinschaften, wie die Mennoniten, Herrnhuter, Waldenser und Hugenotten (französische Kalvinisten). Nach dem furchtbaren 30jährigen Krieg, der als Religionskonflikt begonnen hatte, war durch den Westfälischen Frieden der konfessionelle Ausgleich der drei Hauptreligionen gewährleistet. Dieser Frieden, der als wichtiges Grundgesetz die Verfassung des Reiches von 1648 bis 1806 stark mitbestimmte, machte künftig Religionskriege unmöglich; denn er brachte einen dauerhaften Ausgleich der Konfessionen auf der Ebene des Reiches und der Territorien untereinander. Katholische, lutherische und kalvinistische Reichsstände wurden 1648 gleichberechtigt, und ihre Position war reichsrechtlich gesichert. 43 Die Duldung bzw. Nichtduldung der sehr kleinen Minderheiten der Juden (1% der Reichsbevölkerung), Mennoniten, Böhmischen Brüder u. a. gestaltete sich allerdings je nach Territorium und Stadt verschieden. Voll gleichberechtigt waren sie nirgends. Immerhin wurde an vielen Orten ihr öffentlicher Got42 Vgl. Hartmann, Peter Claus: Bevölkerungszahlen und Konfessionsverhältnisse des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und der Reichskreise am Ende des 18. Jahrhunderts. In: ZHF 22 (1995), S. 345-369, hier bes. 345-352. 43 Antin, Karl Otmar von: Das Alte Reich 1648-1806, Bd. 1. Stuttgart 1993, S. 4 4 - 5 6 .

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Bevölkerung, Gesellschaft und Wirtschaft

tesdienst gestattet. Ein besonderes jüdisches Zentrum befand sich z. B. in Fürth, wo auf Grundbesitz des Bamberger Domkapitels eine große Judengemeinde lebte, die dort mehrere Synagogen und sogar eine Talmudhochschule unterhielt. 44 In diesem Reich lebten Ende des 18. Jahrhunderts etwa 58% Katholiken, 41% Protestanten und 1% Juden. 45 Wenn wir die Verteilung der Konfessionen in den Reichskreisen betrachten, so gab es laut Johann Jacob Moser ganz evangelische, ganz katholische und gemischte Kreise. 46 Nach Büsching waren der Ober- und Niedersächsische Kreis ganz evangelisch, der Osterreichische und Burgundische Kreis ganz katholisch und die restlichen gemischt. Aus diesen Aussagen geht hervor, daß, grob gesprochen, der Norden des Reiches protestantisch, der Westen und der Südosten katholisch und der Rest gemischt war. 47 Wenn wir die Konfessionsstruktur genauer analysieren, so ergibt sich ein komplexeres Bild, das hier kurz im Überblick präsentiert werden soll. Überprüft man diese Struktur, so war der Obersächsische Kreis zu 99,6% protestantisch, der Niedersächsische zu 98,5%. Es lebten somit 1795 in diesem norddeutschen Raum 5.883.000 Protestanten. Demgegenüber war der Südosten des Reiches (habsburgische Lande ohne das preußische Schlesien) zu 92,1% katholisch. Etwa 7.575.000 Katholiken standen dort ca. 610.000 Protestanten gegenüber. Fast zu 100% katholisch war der Burgundische Kreis mit seinen 2 Millionen Einwoh-

ohne Schlesien Katholiken 58.6 %

Katholiken 58 %

Juden

Juden

1%

1% Protestanten

40.4 %

41 %

Heiliges Römisches Reich am Ende des 18. Jahrhunderts

Abb. 21: Graphiken: Konfessionsverteilung im Heiligen Römischen Reich Ende des 18. Jh.s

44 Vgl. Kapitel IV. 1. 45 Hartmann,

Bevölkerungszahlen, S. 369.

46 Moser, Johann Jacob: Von der teutschen Crays-Verfassung. Frankfurt / Leipzig 1773 ( N D 1968), S. 26. 47 Büsching, Erdbeschreibung, Bd. 5, S. 68.

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Das Heilige Römische Reich von 1648 bis 1806 und seine Verfassung

nern, und auch den Bayerischen Kreis bewohnten mit 97,6%, ferner den Kurrheinischen Kreis mit 78,8% überwiegend Katholiken. Hingegen wiesen der Fränkische Kreis (43% katholisch, 56% protestantisch und 1% jüdisch) und der Schwäbische Kreis (46,3% katholisch, ca. 53,6% protestantisch) eine recht ausgewogene Religionsstruktur auf. Mit 57,6% war im Niederrheinisch-Westfälischen Kreis der Katholikenanteil etwas höher, wesendich kleiner jedoch mit ca. 25,2% im Oberrheinischen, wo die Protestanten fast eine Dreiviertelmehrheit besaßen. 48 Angesichts der katholischen Mehrheit des Kurkollegs war das Kaisertum des Alten Reiches im Gegensatz zum betont protestantischen Kaisertum des von Bismarck geschaffenen Zweiten Reiches katholisch. Wenn auch theoretisch ein evangelisches Reichsoberhaupt nicht ausgeschlossen war und manche Projekte und Aktionen in dieser Richtung geschmiedet wurden, so gab es, wie H. Duchhardt zeigt, doch keine ernsthaften Versuche, das katholische Kaisertum zu ersetzen. 49 Im Alten Reich garantierten zwar viele Bestimmungen des Westfälischen Friedens die konfessionelle Parität auf Reichsebene. Trotzdem führten aber der katholische Kaiser, die Kurfurstenmehrheit und der Mainzer Reichserzkanzler und Erzbischof zu einem katholischen Ubergewicht im Verfassungsleben des Reiches. Dies entsprach zwar den Konfessionsverhältnissen der Reichsbewohner, rief aber auf protestantischer Seite manche Klage über eine Bevorzugung der Katholiken hervor. In bestimmten Bereichen, etwa bei Standeserhöhungen und bei manchem Urteil des Reichshofrates traf das sicherlich z u . A l l e r d i n g s war doch garantiert, daß die Protestanten in den wichtigsten gemeinsamen Gremien, so auf dem Reichstag, in allen die Religion betreffenden Fragen nicht majorisiert werden konnten. Zur konfessionellen Vielfalt kam im Reich auch eine gewisse Verschiedenheit der Sprachen und deren weitgehende Duldung.

48 Hartmann, Bevölkerungszahlen, S. 352—369. 49 Duchhardt, Heinz: Protestantisches Kaisertum und Altes Reich. Die Diskussion über die Konfession des Kaisers in Politik, Publizistik und Staatsrecht. (Veröff. IEG MZ, AU, Bd. 7) Wiesbaden 1977, bes. S. 326 ff. 50 Vgl. Haug-Moritz, Gabriele: Kaisertum und Parität. Reichspolitik und Konfession nach dem Westfälischen Frieden. In: ZHF 19 (1992), S. 445-482; Amin, Reich, Bd. I. S. 50 ff

Bevölkerung, Gesellschaft und Wirtschaft

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3.3. Sprachliche Verschiedenheiten Verschiedene Sprachen konnten ebenfalls fiir die kulturelle Vielfalt - und sei es nur für die Volkskultur - von Vorteil sein. Selbstverständlich dominierte das Deutsche, das von der großen Mehrheit der Reichsbevölkerung gesprochen und auch von den Kanzleien des Kaisers, der meisten Territorien und Reichsstädte gebraucht wurde. Dabei ist jedoch zu beachten, daß es noch keine einheitliche neuhochdeutsche Sprache gab. Vielmehr wurde in der südlichen Reichshälfte Oberdeutsch gesprochen, das auch den Kanzleistil prägte. In Sachsen, Thüringen, Hessen und am Mittelrhein sprach man Mittelhochdeutsch, im Norden Niederdeutsch oder Friesisch. Büsching betonte noch 1789, „daß ein Deutscher oftmals den anderen nicht versteht". Bei amdichen Schreiben der Reichskanzlei mit den französischsprachigen Teilen im Westen des Reiches gebrauchte man meist das damals allen Gebildeten geläufige Latein. Neben Französisch wurde in Teilen des Reiches auch Italienisch, Polnisch, Tschechisch und anderes gesprochen. Büsching schreibt 1789: „Die slawonische Sprache, ist die zweyte Hauptsprache in Deutschland."-51 Alle diese Sprachen wurden damals, zumindest bis zum Regierungsantritt Josephs II. in seinen Erblanden 1780, nicht systematisch unterdrückt. Es gab noch keine Eindeutschungsmaßnahmen und nur wenige Verbote, andere Sprachen zu gebrauchen, die dann später unter nationalistischen Vorzeichen recht üblich wurden. Im Alten Reich existierte der ausgeprägte moderne Nationalismus noch nicht, der soviel Unheil über Europa und die Welt gebracht hat. Für das Reich war damals die im Westen gebrauchte französische Sprache eine besondere Ergänzung und Bereicherung, aber auch das im Süden gesprochene Italienische und die slawischen Sprachen. Sie zeigen noch etwas von dem universalen Charakter des Alten Reiches.52 Wichtig für das Verständnis der Kultur des Reiches sind neben der Verfassungs- und Konfessions- auch die Gesellschaftsstruktur und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. 3.4. Gesellschaftsstruktur Ahnlich wie in den meisten damaligen Staaten Europas war auch im Heiligen Römischen Reich die Gesellschaft ländlich-agrarisch bestimmt. Noch um 1800 51 Büsching, Erdbeschreibung, Bd. 5, S. 27. 52 Antin, Reich I, S. 112 ff.; Noel, Saint-Empire, S. 56 ff.

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lebten ca. 85% der Bevölkerung auf dem Lande. Der ländlich-bäuerlichen Schicht und den städtischen Unter- und Mittelschichten stand eine kleine Oberschicht gegenüber, die zu einem großen Teil Nutznießer der Arbeit der bäuerlichen Bevölkerung war. Zu der vor allem von dieser Arbeit lebenden Oberschicht gehörten der Adel, der Klerus und ein Teil des gehobenen Bürgertums. Rechtlich gesehen handelte es sich damals um eine Ständegesellschaft. Da die Reichsstände, die sich auf dem Reichstag versammelten, die Obrigkeiten waren, welche etwa im Gegensatz zu den französischen Generalständen die Landeshoheit ausübten, eignen sie sich für die Analyse der Gesellschaft nur sehr wenig. Es müssen somit hier die Stände in einer allgemeinen Sicht behandelt werden. Hier gab es den Adel als die wichtigste Schicht, die Geistlichkeit der verschiedenen Konfessionen, das Bürgertum der Städte und Märkte, die Bauern sowie die städtischen und ländlichen Unterschichten. 53

3.4.1. Adel Im Ancien régime stellte im Heiligen Römischen Reich wie im übrigen Europa der Adel die bedeutendste, ja beherrschende Gruppe der Bevölkerung dar. Ahnlich wie in den anderen Staaten war er nicht homogen, sondern setzte sich aus verschiedenen Schichten zusammen. 54 Als oberste und mächtigste ist hier der Hochadel zu nennen. Dabei handelte es sich um die Landesherren und ihre Familien, also diejenigen, welche auf dem Reichstag in den beiden ersten Kollegien vertreten waren und dort Sitz und Stimme hatten. Die Spitze der Gesellschaftspyramide bildete der Kaiser mit seiner Dynastie, d. h. der Kaiserin, den Erzherzögen und Erzherzoginnen aus dem Hause Habsburg bzw. Lothringen-Habsburg. Dann folgten die großen Dynastien, die Hohenzollern, Wittelsbacher, Wettiner, Weifen, hierauf die der größeren Mittelstaaten Württemberg, Baden, Hessen etc. und die der Zwergfursten und -her53 Vgl. Weis, Eberhard: Gesellschaftsstrukturen und Gesellschaftsentwicklung in der frühen Neuzeit. In: Bosl, Karl / Weis, Eberhard: Die Gesellschaft in Deutschland, Bd. 1. München 1976, S. 131-141. 54 Vgl. zum Adel: Weis, Gesellschaftsstrukturen, Bd. 1, S. 134-142; Rössler, Hellmuth (Hg.): Deutscher Adel 1555-1740. (Sehr. z. Problematik d. deutschen Führungsschichten d. Neuzeit) Darmstadt 1965; Press, Volker: Kriege u n d Krisen. Deutschland 1600-1715. (Neue deutsche Gesch., Bd. 5) München 1991, S. 5 6 - 7 0 ; Endres, Rudolf: Adel in der frühen Neuzeit. (Enzyklopädie deutscher Gesch., Bd. 18) M ü n c h e n 1993; Keller, Katrin / Josef: Geschichte des sächsischen Adels. Köln u . a . 1997.

Matzerath,

Bevölkerung, Gesellschaft und Wirtschaft

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Abb. 22: Der Osteiner Hof (¡749), erbaut von J. v. Thomann, ein typisches Adelspalais in der Haupt- und Residenzstadt des geistlichen Kurflirstentums Mainz

zogtümer. Die unterste Kategorie bildeten schließlich die reichsunmittelbaren Grafen- und Herrenfamilien, die noch durch einen Anteil an einer Kuriatstimme im Reichstag vertreten waren. Der Hochadel, besonders das Kaiserhaus und die großen Dynastien spielten, wie wir sehen werden, im Kulturleben des Reiches als Auftraggeber von Bauten, Förderer von Kunst, Bildung und Wissenschaft eine zentrale R o l l e t 5 Für die unterste Kategorie des Hochadels gilt dies natürlich wegen ihrer meist recht eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten nur wesentlich weniger. Diese Kategorie bildete zusammen mit den Reichsrittern die Schicht des sogenannten Reichsadels, der vor allem durch Erwerb geistlicher Pfründe in seinen neuen kirchlichen Positionen als Bauherr und Mäzen auftrat. Die Reichsritter gehörten jedoch schon zur zweiten Schicht des Adels, zum niederen Adel. Die Reichsritterschaft bestand aus ca. 350 Familien in Franken, Schwaben und am Rhein, die mit ihren reichsunmittelbaren Gebieten eine Art obere Gruppe dieser Niederadelskategorie bildeten. Zu dieser Kategorie gehörten ferner die landsässigen Adeligen, d. h. diejenigen, die der Hoheit eines Landesherrn unterworfen waren und meist bei den entsprechenden Territoriallandtagen den Ritterstand repräsentierten. In den habsburgischen Ländern gab es allerdings auch den Herrenstand, der zwar nach Reichsrecht nicht zum Hochadel gezählt wurde, da er weder Sitz noch Stimme auf dem Reichstag hatte, deren Besitzungen und reale Macht aber so groß war, daß sie zum hohen Adel (aber nicht Hochadel) gerechnet wurden. 5 6 Trotzdem oder deshalb galt es für die Oberhäupter dieser Herrendynastien als interessant und erstrebenswert, durch Standeserhöhungen und Erwerb wenigstens eines kleinen Reichsterritoriums, Reichsstand zu werden. So hat etwa die reiche, hohe böhmische Adelsfamilie 55 Vgl. Conrad, Recht, S. 476 f. 56 Weis, Gesellschaftsstrukturen, Bd. 1, S. 136 f.

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Lobkowitz im 17. Jahrhundert die winzige oberpfälzische Reichsherrschaft Störnstein erworben und wurde dadurch bayerischer Kreisstand und bald auch Reichsstand mit Sitz und Stimme auf dem Reichstag. Obwohl die kleine reichsunmittelbare Herrschaft finanziell wenig einbrachte und in gar keinem Verhältnis zu den reichen Grundherrschaften in Böhmen stand, ermöglichte deren Besitz den Aufstieg zum wirklichen Hochadel des Reiches. Diesen Prestige- und Ansehensgewinn ließ sich die Familie Lobkowitz viel kosten, denn sie mußte nun zu den nicht unerheblichen Reichslasten beitragen. 57

Als dritte und unterste Schicht des Adels existierte der Amts- und Briefadel. Es handelte sich hier um bürgerliche Aufsteiger, die aufgrund ihrer Ämter vom Kaiser oder großen Landesherren geadelt wurden, oder um Kaufleute, die sich wegen ihres großen Vermögens zur Ruhe setzten und sich meist eine Herrschaft und einen Adelsbrief kauften. Diese Gruppe vermochte es vielfach, in die Altadelsschicht durch Heiratsverbindungen aufzusteigen und brachte dort Blutauffrischung, Zuwachs und Geld. Gute Beispiele hierfür waren die Häuser T h u m und Taxis und Fugger, die als reiche Kaufleute und Unternehmer zunächst geadelt, dann in den niederen Adel und schließlich durch Standeserhöhungen sogar in den Hochadel aufgenommen wurden. Dieser soziale Aufstieg vollzog sich meist im Laufe mehrerer Generationen. Ein niederer Adeliger und Hofmarksherr wie der Freiherr von Prielmair, der in einer Generation seinen Aufstieg vom Enkel eines leibeigenen Bauern und Sohn eines zum Schran57 Vgl. Weis, Gesellschaftsstrukturen, Bd. 1, S. 136 f.; Hartmann, Reichskreis, S. 191 f.

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nenknecht gewordenen Tagelöhners in Erding zum Hofmarksherrn und bayerischen „Finanzminister" schaffte, zählte zu den Ausnahmen. Dies war nur durch große Bildung, enormen Fleiß und die Förderung durch die Jesuiten möglich, die dem mittellosen Jungen kostenlos Schule und Unterhalt gewährten.-'8 Auch dieser niedrige Adel und Amtsadel spielte als Bauherr und Kunstförderer eine wichtige Rolle.

3.4.2. Geistlichkeit Wegen der Verschiedenheit der Konfessionen und den großen Unterschieden in Stellung und Position war die Geistlichkeit recht heterogen und wies konfessionsspezifische Eigenheiten auf. Was die katholische Geistlichkeit betrifft, so stammten, wie schon angedeutet, die Erzbischöfe und Bischöfe der katholischen Reichskirche, die geistliche Hirten einer Diözese und gleichzeitig Landesherren eines Territoriums waren, von 1648 bis 1806 fast ausschließlich aus dem Adel. Laut Feine kamen, die Kumulationen eingerechnet, etwa ein Drittel aus dem Hochadel, ein Drittel aus dem Reichsadel und ein Drittel aus dem landsässigen Adel. Die geistlichen Kurfürsten- und die Bischofssitze waren für diese Adeligen Versorgungsstätten für ihre jüngeren Söhne. Diese mußten nämlich nach ihrem Aufstieg zu hohen geistlichen Würden nicht mehr von der Dynastie oder dem Chef des Adelshauses unterhalten werden. Für bestimmte Häuser, so zum Beispiel die bayerischen Wittelsbacher, bot die systematische Politik zum Erwerb von Reichsbistümern die Möglichkeit eines erheblichen Machtzuwachses für das Haus. So blieb beispielsweise das Kurfürstentum Köln in einer Art Sekundogenitur von 1583 bis 1761 in der Hand eines bayerischen Wittelsbachers. 59 Die Bischöfe der Reichskirche wurden von den Domkapiteln gewählt, die damals ebenfalls fast ausschließlich aus Adeligen bestanden. Auch diese Dom-

58 Press, Volker: Korbinian von Prielmaier (1643-1707). Bedingungen, Möglichkeiten u n d Grenzen sozialen Aufstiegs im barocken Bayern. Ottenhofen 1978, S. 3 - 3 1 . 59 Vgl. Kremer, Stephan: Herkunft und Werdegang geistlicher Führungsschichten in den Reichsbistümern zwischen westfälischem Frieden und Säkularisation. Fürstbischöfe-WeihbischöfeGeneralvikare. (Rom. Quartalschrift f. Chr. Altertumskunde u. Kirchengeschichte, 47. Supplementbd.) Freiburg 1992; Feine, Hans Erich: Die Besetzung der Reichsbistümer vom Westfälischen Frieden bis zur Säkularisation 1648-1803. (Kirchenrechtl. Abt. H . 97 u. 98) Stuttgart 1921 ( N D 1964), bes. S. 321 ff. u. 411 ff.

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kapitelpfründen galten als wichtige Versorgungsstätten jüngerer Adelssöhne. 60 Angesichts dieser engen Verknüpfung geistlicher Amter mit weltlichen Herrschaftsrechten oder Pfründen, die für viele Kandidaten im Vordergrund standen, führten nicht wenige geistliche Kurfürsten, Fürstbischöfe und Domkapitulare ein recht weltliches Leben. Es gab eine Anzahl, die nicht einmal zum Priester und Bischof geweiht war. Daneben sind aber auch sehr fromme, kirchentreue Vertreter zu nennen. Im Zeitalter des Barock betrachteten diese hohen Geistlichen das Weltliche und Kirchliche als durchaus vereinbar. Ein Clemens August von Köln, der gegen seine Neigung 1728 zum Priester geweiht wurde, konnte etwa in der Frühe einen Gottesdienst zelebrieren und dann im Laufe des Tages ein höfisches Leben wie die weltlichen Fürsten führen, mit Staatsgeschäften, Treibjagd sowie Diner und Ball am Abend. Den Fürstbischöfen, die vielfach wegen ihrer weltlichen Aufgaben an den geistlichen gehindert wurden, standen Weihbischöfe zur Seite, die oft aus dem Bürgertum stammten und die bischöflichen Funktionen (Pontifikalämter, Firmungen, Priesterweihen etc.) ausübten. Den Päpsten und der Kurie war die Struktur der aristokratischen Reichskirche ein Dorn im Auge. Sie versuchten deshalb von Abb. 25: Fürstbischof Ferdinand Graf von Rabatta (Passau, 1713-1722), Grabmal im Dom

Zeit zu Zeit die gegen die Bestimmungen des Trienter Konzils verstoßenden Bistumsanhäufungen einzuschränken. So hatte Clemens

August sogar mit Kurköln, Münster, Paderborn, Hildesheim und Osnabrück fünf Bistümer inne und war gleichzeitig Hoch- und Deutschmeister des Deutschen Ordens. Aber schließlich und endlich gab der jeweilige Papst immer wieder dem Druck, der von den katholischen Dynastien ausgeübt wurde, nach. Die geistlichen Kurfürsten und Fürstbischöfe hatten oft studiert und waren meist gebildete, kunstsinnige Aristokraten, die zwar häufig nicht dem Ideal eines tridentinischen Bischofs entsprachen, aber als Förderer der Kunst und Wissenschaft Großes leisteten. Von diesem Standpunkt aus gab es hier geistliche Für-

60 Hersche, Peter: Die deutschen Domkapitel im 17. u. 18. Jahrhundert. Bern 1984, bes. Bd. 2, S. 70 ff, 139-181.

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sten, die mit den kunstsinnigsten weltlichen sehr wohl konkurrieren konnten. 61 Neben den Reichsbistümern waren auch die großen Reichsabteien und -propsteien, die zu den geistlichen Fürstentümern zählten, dem Adel vorbehalten. Bei den kleinen, zum Reichsprälatenstand zählenden Reichsstiften gab es Adelskonvente mit adeligen Äbten oder Äbtissinnen und bürgerliche Konvente. Die Frauenabteien, zum Beispiel Essen, Lindau oder Niedermünster in Regensburg, waren adelige Damenstifte. In Niedermünster legte beispielsweise nur die Äbtissin ein ewiges Keuschheitsgelübde ab, während die Kapitularinnen diese zwar wählten und ein klösterliches Leben im Stift führten, dieses jedoch ohne weiteres wieder verlassen konnten, um zu heiraten. Ein großer Teil der Männerprälatenklöster hatte Äbte, die aus dem Bürgeroder Bauerntum stammten und oft gelehrte

Abb. 26: Franz Ludwig Pfalzgrafvon Neuburg ah Hoch- und Deutschmeister (seit 1694). Er war gleichzeitig, ohne zum Priester geweiht zu sein, Fürstbischof von Worms und Fürstpropst von Ellwangen. 1716 wurde er Kurflirst von Trier.

Männer waren. Hier eröffnete sich eine Aufstiegsmöglichkeit aus dem Bauern- oder Bürgertum sogar bis zum gefürsteten Reichsabt und Reichsstand. 62 Diese Konvente und Äbte sind mehr mit dem jeweiligen landsässigen Prälatenstand der größeren katholischen Territorien wie Kurbayern oder Osterreich vergleichbar. Es handelte sich um die Konvente und Äbte bzw. Pröpste all jener vielen Klöster der alten Orden, d. h. der Benediktiner, Zisterzienser, Prämonstratenser und Augustinerchorherren, die über ihre Grunduntertanen herrschaftliche Rechte und oft auch die niedere Gerichtsbarkeit ausübten. Diese Prälaten, Bauherren unzähliger barocker Kloster- und Wallfahrtskirchen,

61 Man denke besonders an die Fürstbischöfe und geistlichen Kurfürsten aus den Häusern Wittelsbach oder Schönborn; Gatz, Bischöfe, passim. 62 Schiaich, Heinz W.: Das Ende der Regensburger Reichsstifte St. Emmeram, Ober- und Niedermünster. Ein Beitrag zur Geschichte der Säkularisation und der Neugestaltung des bayerischen Staates. In: V H O R 97 (1956), S. 188 ff. u. 205 ff.; Hartmann,

Reichskreis, S. 138.

Siehe auch die entsprechenden Monographien von Reichsprälatenklöstern wie z. B. Reinhardt, Rudolf (Hg.): Reichsabtei St. Georg in Isny 1096-1802. Weißenhorn 1996, ab. S. 113.

62

Das Heilige Römische Reich von 1648 bis 1806 und seine Verfassung

stammten meist aus dem ländlichen und städtischen Bürgertum, zum kleinen Teil auch aus dem Bauernstand und den Unterschichten. 63 Außer diesen Klöstern mit

bedeutender

Grundherrschaft, die im platten Land verstreut waren, gab es die vielen Klöster in den Städten, die der Bettelorden, d. h. der Franziskaner, Dominikaner und Kapuziner, die vielen Frauenorden, so auch die Schulorden der Englischen Fräulein und Ursulinen

und

schließlich die Jesuiten mit ihren Kollegien und Stationen, die in dieser Zeit bis zu ihrem Abb. 27: Propst Franz Tops! (1744-1796), Augustiner-Chorherren-Kloster Polling (Obb.)

Verbot 1773 eine zentrale Rolle im Kulturund Geistesleben der katholischen Territorien spielten. Die Herkunft der Klosterkonvente

war recht unterschiedlich. In den Jesuitenorden traten neben Männern unfreier Herkunft auch viele Söhne des gehobenen Bürgertums sowie Adelige ein, wobei letztere aber den Adelstitel ablegten. Es ist interessant, die soziale Herkunft der Äbte und Pröpste einmal anhand eines landständischen bayerischen Klosters wie der Prämonstratenserabtei Steingaden im Pfaffenwinkel, soweit bekannt, nachzuzeichnen. Dieses Kloster hat die wunderschöne Wallfahrtskirche Wies erbaut und betreut. Von 1708 bis 1715 fungierte dort der Sohn des Klosterrichters Anton Erath, Edler von Erathsburg als Abt, von 1715 bis 1729 der Bauernsohn Hyacinth Gassner. Sein Nachfolger, der Bauherr der Wieskirche, Marian Mayer, der von 1745 bis 1772 regierte, war ebenfalls Bauernsohn. Von 1772 bis 1774 war dann der Siebmachersohn Gregor Fischer Abt, von 1774 bis 1777 der Bauernsohn Franziskus Weber, von 1777 bis 1784 der Klosterrichtersohn Augustin Bauer und von 1786 bis 1803 der Sohn eines Knöpflers Gilbert Michel. 64 Diese Aufzählung beweist, daß die bayerischen Prälaten, die wichtigen Träger jener kirchlich geprägten Barockkultur mit den herrlichen Kloster- und Wallfahrtskirchen, schmuck63 Vgl. Krausen, Edgar: Die Herkunft der bayerischen Prälaten des 17. und 18. Jahrhunderts. In: ZBLG 27 (1964), S. 257—285; Maier-Kren, Gerda: Die bayerischen Barockprälaten und ihre Kirchen. In: Schneider, Georg / Stube, J.: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg, Bd. 3. Regensburg 1969, S. 123-324, bes. die Liste „Katalog II", S. 247-309. 64 Vgl. Maier-Kren, Barockprälaten, S. 308.

Bevölkerung, Gesellschaft und Wirtschaft

63

vollen Gebäuden mit Fest- oder Kaisersälen, Bibliotheken etc., den Kult- und Bildungszentren, aus den breiten Schichten des Volkes stammten und deshalb mit diesen verbunden waren. Neben dem hohen Klerus und den zahlreichen Ordensleuten gab es die ordentliche weltliche Geistlichkeit, d. h. die Pfarrer, angefangen von den Stadtpfarrern bis zu den kleinen Dorfpfarrern, die Kapläne, Vikare, Frühmeßner und die Religionslehrer aller Art. Sie kamen letztlich aus allen Volksschichten und waren deshalb meist recht volksverbunden. Durch das Zölibat konnte es zu keinen Pfarrerdynastien kommen, wie dies bei der verheirateten protestantischen Geistlichkeit oft der Fall war. Protestantische Bischöfe gab es damals im Reich nur zwei, den evangelischen Fürstbischof von Lübeck, der in Eutin residierte, und den von Osnabrück, wenn in diesem alternierenden Hochstift gerade der Protestant an der Reihe war. Beide evangelische Fürstbischöfe waren Landesherren und gleichzeitig als Bischöfe religiöses Oberhaupt ihres Territoriums, ähnlich wie ihre katholischen Kollegen. In den anderen lutherischen Territorien gestaltete sich die Situation allerdings nicht so grundlegend anders; denn der jeweilige Landesherr war gleichzeitig als Summus Episcopus, d. h. als höchster Bischof, religiöses Oberhaupt seines Territoriums und hatte somit auch eine Doppelfunktion. Obwohl der Kalvinismus an sich eine Presbyterialverfassung vorsah, die demokratische Elemente enthielt, blieben auch in reformierten Territorien wie der Kurpfalz die Landesherren das religiöse Oberhaupt. Diese Struktur führte dazu, daß es eine große Anzahl lutherischer und reformierter Kirchen gab, die zwar untereinander solidarisch, aber doch auch völlig unabhängig waren. Das galt auch für die Zwergterritorien und Reichsstädte. Der Zusammenschluß der protestantischen Kirchen Deutschlands bis hin zur 1945 gegründeten EKD (Evangelische Kirche in Deutschland) ist erst ein Phänomen des 19. und des 20. Jahrhunderts. 65 Da die jeweiligen Landesherren oder Reichstadtmagistrate durch den Summepiskopat gleichzeitig die religiösen Oberhäupter waren, hatten die protestantischen Geistlichen eine beamtenähnliche Stellung. Das Landeskirchenregiment führte so zu jener engen Bindung von Thron und Altar, die besonders für die lutherischen Territorien charakteristisch war. Die protestantische Geistlichkeit stammte vor allem aus dem Bürgertum. Etwa ein Drittel bis über 50% der Pfarrer waren wieder Pfarrerssöhne, so daß sich wahre Dynastien herausbildeten. Im Bereich der Superintendentur Darm-

65 Vgl. Kap. II.8.1.

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Das Heilige Römische Reich von 1648 bis 1806 und seine Verfassung

Stadt betrug z. B. der Anteil der Pfarrerssöhne im 17. Jahrhundert über 41% und im 18. Jahrhundert sogar 55%. 66 Dieser hohe Prozentsatz an Pfarrerssöhnen wurde von der Kirche und den Geistlichen besonders gefördert; denn Pfarrerssöhne hatten aufgrund ihrer familiären Herkunft und ihrer häuslichen Erfahrungen viele Vorteile und positivere Startbedingungen als andere Anwärter. So waren in der Superintendentur Darmstadt von 1567 bis Anfang des 19. Jahrhunderts 51 % der Stipendiaten für Theologie Söhne von Geistlichen, im 18. Jahrhundert sogar 64 %. 6 7 Auch die Ehefrauen der Pfarrer stammten oft aus Pfarrhäusern, zu einem bedeutenden Teil ferner aus dem gehobenen städtischen Bürgertum. 68 Im allgemeinen entschieden Umfang und Länge des Studiums über die Karriere im Kirchendienst. Für diejenigen, die lediglich kurze Studienzeiten hatten, was gleichzusetzen ist mit geringerer Bildung, war es nahezu ausgeschlossen, in das Definitorium aufgenommen zu werden. 69 Sozialgeschichtlich ist interessant, daß - anders als in der katholischen Kirche relativ wenige evangelische Geistliche aus dem Adel und aus dem Bauerntum kamen. Wenn man bedenkt, wie viele Gelehrte, Dichter und Denker

aus

evangelischen

Pfarrhäusern

stammten, wird man deren kulturelle BedeuAbb. 28: M. Daniel Pfisterer, evangel. Pfarrer in Köngen (Wü.), 18. Jh.

tung für die protestantischen Territorien ermessen können. 70 Daraufist jedoch in anderem Zusammenhang noch näher einzugehen.

66 Jansen, Udo: Die evangelisch-lutherische Pfarrerschaft der Superintendentur Darmstadt von der Landesteilung bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. (Masch.) Magisterarbeit. Mainz 1999, S. 23 f. 67 Jansen, Pfarrerschaft, S. 51. 68 Idem, S. 26. 69 Jansen, S. 97; Schorn-Schütte, Luise: Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit. Deren Anteil an der Entfaltung frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft. (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, Bd. 62) Heidelberg 1996, S. 191 f. 70 Vgl. Lutherisches Handbuch. Hg. v. Lutherischen Weltbund. Genf 1972; Schorn-Schütte, Geistlichkeit, S. 84 ff. u. 91 ff.; Schorn-Schütte, Luise / Spam, Walter (Hg.): Evangelische Geistlichkeit. Zur sozialen und politischen Rolle einer bürgerlichen Gruppe in der deutschen Gesellschaft des 18. bis 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1996; Franz, Günther (Hg.): Beamtentum und Pfarrerstand 1400-1800. (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit, Bd. 5) Limburg 1972.

Bevölkerung, Gesellschaft und Wirtschaft

65

3.4.3. Bürgertum, Bauerntum und Unterschichten Wie der Adel und die Geistlichkeit stellte auch das Bürgertum eine heterogene Schicht dar, die von den reichen Kaufleuten und Bankiers in großen Handelsstädten wie Hamburg oder Frankfurt bis hin zu den kleinen städtischen Flickschustern in teilweise winzigen Ackerbaustädten reichte. Kriterium für Bürgertum war der Besitz des Bürgerrechts. Die Oberschicht bildeten im allgemeinen Großkaufleute, Bankiers, reiche Rentiers und die Mitglieder der oberen Zünfte der Apotheker und Goldschmiede. Dazu kamen die freien Berufe (Ärzte, Notare, Advokaten) und die Beamtenschaft, die allerdings oft zum großen Teil nicht zur eigentlichen Bürgschaft mit Bürgerrecht gehörten. Die große Mittelklasse wurde von den Zunftbürgern gebildet, deren Rang je nach Beruf eingestuft war, zum Beispiel die Metzger vor den Bäckern und ganz am Schluß die Flickschuster und Leinenweber. Ihr Leben war geprägt durch die Zünfte, die nicht nur das Berufsleben, das Auskommen, die Gesellen-, Lehrlings- und Meisterordnung regelten, sondern auch für soziale Sicherheit der Witwen und Waisen sorgten. In katholischen Gebieten hatten sie nicht selten gleichzeitig den Charakter von religiösen Bruderschaften. Abb. 29: Bürgerfamilie des 18. Jahrhunderts, die Familie Nicolai in Berlin

Diese Schichten waren von einer allgemeinen, kirchlich bestimmten Bürgerund Volkskultur geformt. Eine spezielle Bürgerkultur, die von der Aufklärung, einer eigenen bürgerlichen Moral und einem neuen Selbstbewußtsein geprägt war, entstand in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert beim gehobenen und gebildeten Bürgertum. 71

71 Vgl. Vierhaus, Rudolf: Deutschland im Zeitalter des Absolutismus. (Deutsche Geschichte, Bd. 6) Göttingen 1978, S. 113 ff.; Münch, Paul: Lebensformen in der Frühen Neuzeit 1500 bis 1800. (Ullstein-Buch, Nr. 26 520) Berlin 2 1998, S. 90 ff. u. 199 ff

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Das Heilige Römische Reich von 1 6 4 8 bis 1 8 0 6 und seine Verfassung

Den weitaus zahlreichsten und einen für die Wirtschaft besonders wichtigen Stand stellten damals die Bauern dar. Abgesehen von einem geringen Prozentsatz freier Bauern waren sie einer Grundherrschaft unterworfen, d. h. dem Obereigentum eines Grundherrn, der oft auch polizeiliche und niedergerichtliche Rechte ausübte. Die Leihe- und Pachtformen gestalteten sich im Reich recht divers, von Territorium zu Territorium, von Region zu Region, aber auch innerhalb

eines Territoriums

verschieden.

Wichtig blieb hier vor allem der Unterschied der Stellung der Bauern links und rechts der Abb. 30: Barocke GeschUchterwappen im Münster der evangelischen Reichsstadt Ulm

Elbe. Im Westen waren nämlich Grund und Boden an die Grunduntertanen in verschiedenen Leiheformen vergeben, die sich aber in der Praxis immer mehr anglichen. Dort mußten die Bauern dem Grundherren zwar Abgaben und manchmal Frondienste leisten. Das Entscheidende war jedoch, daß sie westlich der Elbe den größten Teil des Bodens in eigener Regie, oft als vererbliches Untereigentum bewirtschafteten. Für die soziale Stellung der Bauern blieb dabei vor allem die Größe ihrer Höfe von Bedeutung, d. h. der Umstand, ob sie Voll-, Halb- oder Viertelbauern oder Nebenerwerbslandwirte waren. Die Leibeigen-

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schaft, dort, wo sie noch existierte, reduzierte sich seit der Mitte des 17. Jahrhunderts meist auf Abgabepflichten und Frondienste und tat

Abb. 31: Bauern bei der Ernte im 18.Jh., Württembergs. T.II

zum

Beispiel

einem

Vollbauern

keinen

Abbruch. Wesentlich schlechter erwies sich die Situation der meisten Bauern im ostelbischen Deutschland, wo die Gutsherrschaft dominierte und die Bauern meist erbuntertänig waren. M i t der Erbuntertänigkeit blieb näm-

Bevölkerung, Gesellschaft und Wirtschaft

67

lieh Gutshörigkeit und Schollenpflichtigkeit verbunden. Die Abgaben und Fronen der Untertanen waren im Gegensatz zum Westen steigerungsfähig, die Freizügigkeit der Menschen beschränkt. Außerdem brauchten die Bauern für die Heirat die Zustimmung des Gutsherrn, während die Kinder dem Gesindezwang unterlagen. Ferner wurden die Bauernstellen nicht an den Ältesten oder Jüngsten vererbt, sondern nach Gutdünken des Herrn vergeben. So kann man hier von Privatuntertanen sprechen, die sehr intensiv für die Arbeiten des Gutshofes eingesetzt wurden. Diese konnten sich dann zum großen Teil zu gewinnbringenden Großbetrieben entwickeln. 72 Sowohl in den Städten wie auf dem Land gab es hohe Prozentsätze von Unterschichten. In der Stadt handelte es sich um Tagelöhner, im 18. Jahrhundert auch um Heim- und Manufakturarbeiter, ferner um Witwen, die durch häusliche Dienste Geld verdienten, um besitzlose Handwerker, Dienstboten, Gehilfen und Lehrlinge und die traditionelle Schicht der ,Armen", d. h. die Alten, Arbeitsunfähigen, Dauerkranken, Arbeitslosen, Landstreicher und Bettler. Diese Schicht, die es auch auf dem Lande gab, konnte in Not- und Kriegszeiten besonders anwachsen. In der Freien Reichsstadt Augsburg umfaßten die gesamten Unterschichten z. B. 1735 ca. 39% der Bevölkerung. Auf dem Lande gehörten neben den „Armen" auch die sog. Leerhäusler und Inwohner zur Unterschicht, die meist ihren Lebensunterhalt als Tagelöhner verdienten, ferner das Gesinde, d. h. die Knechte und Mägde, die in der Hofgemeinschaft wohnten. Wie neuere Forschungen zeigen, handelte es sich hier oft um jüngere Bauernsöhne und -töchter, die nur einige Jahre am fremden Hof arbeiteten, um sich später mit dem Ersparten selbst eine Existenz zu gründen. Die obere Kategorie der ländlichen Unterschichten stellten schließlich die

72 Lütge, Friedrich: Die bayerische Grundherrschaft. Stuttgart 1949; ders.: Geschichte der deutschen Agrarverfassung vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart 1963, S. 102-168; Franz, Günther: Geschichte des deutschen Bauernstandes vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart 1970, S. 17, 77 ff., 228 ff.; Spies, Klaus: Gutsherr und Untertan in der Mittelmark Brandenburg zu Beginn der Bauernbefreiung. Berlin 1972; Weis, Eberhard: Ergebnisse eines Vergleichs der grundherrschaftlichen Strukturen Deutschlands und Frankreichs vom 13. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. In: VSWG 57 (1970), S. 1 - 1 4 ; Endres, Rudolf: Sozialer Wandel in Franken und Bayern auf der Grundlage der Dorfordnungen. In: Hinrichs, Ernst / Wiegelmann, Günter (Hg.): Sozialer und kultureller Wandel in der ländlichen Welt des 18. Jahrhunderts. (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 19) Wolfenbüttel 1982, S. 211-227; Wunder, Heide: Die bäuerliche Gemeinde in Deutschland. (Kleine Vandenhoeck-Reihe, 1483) Göttingen 1986, S. 80 ff; Trossbach, Werner: Bauern 1648-1806. (Enzyklopädie dter Gesch., 19) München 1993, S. 6 - 5 0 .

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Das Heilige Römische Reich von 1648 bis 1806 und seine Verfassung

Häusler oder Söldner, Bündner oder Kleinhöfler dar. Sie besaßen ein eigenes Haus mit Gartenland und etwas Ackerboden im Untereigentum und waren für ihren Unterhalt auf zusätzliche Arbeit als Landhandwerker oder Tagelöhner angewiesen. Diese Kleinstbauern und Nebenerwerbslandwirte wurden besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts relativ zahlreich. 73

3.5. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen Da jede Kultur-, Kunst- und Wissenschaftsförderung Geld kostet, sind für deren Entfaltung günstige wirtschaftliche Rahmenbedingungen nötig. Sie sollen hier für die Zeit von 1648 bis 1803 kurz skizziert werden. Angesichts einer Bevölkerungsstruktur mit 85% ländlichen Bewohnern bildete ftir das Reich die Landwirtschaft die Grundlage der gesamten Wirtschaft, der Produktion und der Staatseinkünfte der diversen Territorien. Wenn auch die Landwirtschaft sogar bei vielen Reichsstädten eine wichtige Rolle spielte, so war dies bei den großen nicht der Fall. Abgesehen von diesen bedeutendsten Reichsstädten erbrachten jedoch in fast allen Reichsterritorien die aus der Landwirtschaft gezogenen Grundsteuern den höchsten Prozentsatz der Staatseinnahmen. Auch die meisten Grundherren bezogen ihre wichtigsten Einkünfte aus der an die Bauern übertragenen landwirtschaftlichen Nutzung des Bodens. Bei den ostelbischen Gutsherren konnte sich schon eine Art Agrarkapitalismus entwickeln, und diese Großunternehmen betrieben Getreideexport in beträchtlichem Ausmaß. Ganz allgemein kann man sagen, daß im Reich damals fast überall die Hauptlast auf den Schultern der Bauern lag und daß die wichtigsten Einnah-

73 Vgl. Zorn, Wolfgang: Unterschichten, Außenseiter und soziale Frage. In: Aubin, Hermann / Zorn, Wolfgang (Hg.): Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 1. Stuttgart 1971, S. 599 ff.; Mitterauer, Michael: Familie und Arbeitsteilung: historisch-vergleichende Studien. (Kulturstudien, 26) Wien u. a. 1992; Hartinger, Walter: Bayerische Dienstbotenleben auf dem Land vom 16. bis 18. Jahrhundert. In: ZBGL 38 (1975), S. 598638; Stutzer, Dietmar: Unterbäuerliche gemischte Sozialgruppen Bayerns und ihre Arbeitsund Sozialverhältnisse. In: Glaser, Hubert (Hg.): Wittelsbach und Bayern, II/l. München 1980, S. 264—268; Diepolder, Gertrud: Das Volk in Kurbayern zur Zeit des Kurfürsten Max Emanuel. In: Glaser, Hubert (Hg.): Kurfürst Max Emanuel, Bayern und Europa um 1700, Bd. 1. München 1976, S. 387-405; Hippel, Wolfgang von: Armut, Unterschichten, Randgruppen in der frühen Neuzeit. (Enzyklopädie deutscher Gesch., Bd. 34) München 1995, S. 15-17, 23-28.

Bevölkerung, Gesellschaft und Wirtschaft

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men von Staat, Grundherr und Kirche vor allem von ihrer Arbeit stammten und somit auch die hauptsächliche materielle Basis für die Finanzierung von Kultur im weitesten Sinne bildeten. 7 ^ In großen Teilen des Reiches diente die Landwirtschaft, nämlich besonders der Getreideanbau, aber auch Weinanbau und Viehzucht in erster Linie der Selbstversorgung. Bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts machte die Agrarwirtschaft nur langsame Fortschritte. Dann beschleunigte man diese durch zunehmende Bebauung des Brachfeldes mit Futterpflanzen, durch Stallfütterung und besonders seit den siebziger Jahren durch Anbau der aus Amerika stammenden Kartoffel. 7 5 Im Wirtschaftsleben eines Teils der Territorien spielten damals auch die Gewinnung von Salz und der Abbau von Bodenschätzen eine wichtige Rolle, aus denen die Landesherren G e w i n n e und wichtige Staatseinkünfte erzielen konnten. D i e Manufakturen erlangten demgegenüber im gesamten Reich eine begrenzte Bedeutung, wenn es auch bestimmte Zentren etwa der Textilbranche oder der Glaserzeugung gab. Allerdings blieb im größten Teil des Reiches das Handwerk der wichtigste Faktor der gewerblichen Produktion. N e b e n dem zünftigen Stadthandwerk gab es häufig auch ein weitverzweigtes, leistungsfähiges ländliches Handwerk. D e r Großhandel konzentrierte sich a u f die großen H ö f e und a u f Städte wie Hamburg, Bremen, Frankfurt, Leipzig und andere. W i c h t i g e Messestädte waren Frankfurt am M a i n , Leipzig, Linz und Bozen. Daneben gab es eine große Zahl kleinerer Händler und Hausierer, die in vielen Territorien dominierten. Als besondere Bankzentren dienten Hamburg, Antwerpen, Frankfurt, W i e n und Augsburg. Bei den Bankiers handelte es sich oft um Kalvinisten oder jüdische Hoffaktoren. 7 6 W ä h r e n d früher die Forschungsmeinung bestand, die politische Zersplitterung des Heiligen Römischen Reiches sei für die Wirtschaft des mitteleuropäischen Raumes ein erheblicher Nachteil gewesen, k o m m e n neueste Studien zu einem ganz anderen Ergebnis. So zeigt Oliver Volckart, daß diese politische Zersplitterung in Wirklichkeit die Wirtschaftsentwicklung nach 1 6 4 8 weniger

74 Hartmann, Peter Claus: Das Steuersystem der europäischen Staaten am Ende des Ancien Régime. (Beih. d. Francia, Bd. 7) München 1979, S. 125-313. 75 Hartmann, Peter Claus: Landwirtschaft in Frankreich und im deutschen Raum im 17. und 18. Jahrhundert. In: Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Antrittsvorlesungen, Bd. 5. Mainz 1989, S. 1-13. 76 Vgl. Abel, Wilhelm: Landwirtschaft 1648-1800. In: Aubin I Zorn, Handbuch I, S. 495 ff.; Zorn, Wolfgang: Gewerbe und Handel. In: idem, S. 531 ff.

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Das Heilige Römische Reich von 1648 bis 1806 und seine Verfassung

gehemmt als vielmehr gefördert hat. 77 Der fiir die damalige Zeit festzustellende Wirtschaftsaufschwung wurde nämlich vielfach durch die Konkurrenz der kleinen Territorien angekurbelt, private Initiative war zugelassen und hohe Zollabgaben wurden vermieden. So entstanden z. B. im räumlich zersplitterten Rheinland erfolgreiche Manufakturen, während gleichzeitig die von Berlin im Rahmen merkantilistischer und dirigistischer Maßnahmen geförderte Seidenproduktion im großen Territorium Brandenburg-Preußen scheiterte. 78 Volkkart bemerkt dazu: „Wo im Laufe des 18. Jahrhunderts ein Produktionswachstum auftrat, waren die durch den Wettbewerb zwischen den Obrigkeiten geschaffenen Bedingungen dafür von größter Bedeutung." 79 Ohne den Wirtschaftsaufschwung im 18. Jahrhundert wäre auch die kulturelle Blüte schwer zu finanzieren gewesen, die ebenfalls durch die politische Zersplitterung und Vielfalt der Territorien und Städte stark begünstigt wurde.

77 Volckart, Oliver: Politische Zersplitterung und Wirtschaftswachstum im Alten Reich, ca. 1650-1800. In: VSWG 86 (1999), S. 1-38. 78 Volckart, Zersplitterung, S. 33, 35. 79 Volckart, Zersplitterung, S. 38.

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4. Günstige Voraussetzungenfiirdie Entwicklung vielseitiger Kultur

Für die Entfaltung einer vielseitigen Kultur war es außerdem sehr förderlich, daß im Reich 1648 der Konfessionsstand garantiert wurde und sich auch durch Fürstenkonversionen und den Regierungsantritt von Herrschern anderskonfessioneller Linien einer Dynastie im allgemeinen nicht wesentlich änderte. Wichtig war auch die grundsätzliche Gleichberechtigung der drei Hauptkonfessionen auf Reichsebene, weil sich dadurch deren drei konfessionell geprägte Kulturen nebeneinander und auch in Konkurrenz miteinander entwickeln konnten.

4.1. Garantierter Konfessionsstand und Gleichberechtigung der drei Hauptkonfessionen auf Reichsebene Wie angedeutet, wurde durch die Westfälischen Friedensinstrumente der Konfessionsstand, der im sogenannten Normaljahr 1624 existierte, garantiert. Allerdings gab es einige Ausnahmen, so zum Beispiel in der Kurpfalz. Aufs Ganze gesehen wirkte diese prinzipielle Konfessionsregelung im Reich aber beruhigend und stabilisierend. Sie sicherte auch den protestantischen Besitzstand, als Ende des 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Landesherren einiger Territorien zum Katholizismus konvertierten oder als katholisch gewordene Seitenlinien der entsprechenden Dynastien zur Regierung kamen, wie etwa in Kursachsen, Württemberg oder Hessen-Kassel. In diesen Fällen blieben die Territorien rein protestantisch, der Landesherr durfte nur in der Hofkirche oder -kapelle die katholische Messe feiern. Pfarreien und Gemeinden dieser Konfession wurden dort nicht geduldet. Als in der gemischtkonfessionellen Kurpfalz 1685 die katholisch gewordene Linie Pfalz-Neuburg die Regierung übernahm, förderten und bevorzugten allerdings die neuen Kurfürsten ihre Glaubensgenossen. Verfassungsrechtlich waren nach dem Westfälischen Frieden Katholiken, Lutheraner und Kalvinisten auf Reichsebene gleichberechtigt. Wenn auch wegen des geschilderten katholischen Ubergewichts im Reich die Katholiken da und dort bevorzugt wurden, sah man doch im Alten Reich prinzipiell auf

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Parität, so auch im Reichstag. Dort traten die Reichsstände bei Behandlung von Religionsfragen in zwei Parteiungen auseinander, das Corpus catholicorum, geführt von Mainz, und das Corpus evangelicorum, geführt von Kursachsen. Keines der beiden konnte majorisiert werden. So gab es in diesem Bereich nur eine gütliche Einigung. Ebenso war vorgesehen, daß die Richter der obersten Reichsgerichte nicht die anderen Konfessionen majorisieren konnten, wenn es um Religionsangelegenheiten ging. Dies galt ebenfalls, wie von Aretin betont, für den mehrheitlich katholischen Hofrat, der in diesen Fragen die Minderheit der protestantischen Hofräte nicht überstimmen durfte. 8 0

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