Reformpädagogische Konzepte: Geschichte und Theorie der Frühpädagogik 9783666701528, 9783525701522, 9783647701523

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Reformpädagogische Konzepte: Geschichte und Theorie der Frühpädagogik
 9783666701528, 9783525701522, 9783647701523

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Silke Pfeiffer

Reformpädagogische Konzepte Geschichte und Theorie der Frühpädagogik

Mit 15 Abbildungen und 3 Tabellen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-70152-2 ISBN 978-3-647-70152-3 (E-Book) Umschlagabbildung: Florian Söll, Paderborn © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Kapitel I: Aktuelle Diskurse um elementarpädagogische Bildung und Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Anthropologische Grundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Entwicklungspsychologische und lerntheoretische Überlegungen . . 1.3 Konsequenzen für die Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Anforderungen an das pädagogische Personal . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Qualitätsbestimmung und Qualitätsentwicklung in Kindertagesstätten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel II: Impulse für die Elementarpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Johann Heinrich Pestalozzi – Friedrich Fröbel – Henriette Schrader-Breymann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Johann-Heinrich Pestalozzi: Lernen mit Kopf, Herz und Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Friedrich Fröbel: Ganzheitliches Lernen im Spiel . . . . . . . . . . . 2.1.3 Henriette Schrader-Breymann: Hauswirtschaftliche Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 John Dewey – Georg Kerschensteiner – Adolf Reichwein . . . . . . . . . . 2.2.1 John Dewey: Handlungs- und Projektorientierung . . . . . . . . . . 2.2.2 Georg Kerschensteiner: Handarbeit und geistige Arbeit . . . . . 2.2.3 Adolf Reichwein: Vorhaben, Feste und Fahrten . . . . . . . . . . . . 2.3 Maria Montessori – Célestin Freinet – Peter Petersen . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Maria Montessori: Polarisation der Aufmerksamkeit . . . . . . . . 2.3.2 Célestin Freinet: Freier Ausdruck und forschendes Lernen . . .

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Inhalt

2.3.3 Peter Petersen: Gespräch, Spiel, Feier und Arbeit . . . . . . . . . . 2.4 Rudolf Steiner – Alfred Lichtwark – Loris Malaguzzi . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Rudolf Steiner: Waldorfpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Alfred Lichtwark: Künstlerische Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Loris Malaguzzi: Reggio-Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel III: Professionalisierung in der Elementarpädagogik . . . . . . . . . . . . 3.1 Zum Verständnis von Professionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Forschungen in der Frühpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Professionalisierung durch Akademisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

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Kapitel I: Aktuelle Diskurse um elementarpädagogische Bildung und Erziehung

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1.1 Anthropologische Grundannahmen

Das Bild des Kindes hat sich in den letzten Jahrhunderten den gesellschaftlichen Verhältnissen entsprechend entwickelt und gewandelt. Selbst die Altersspanne, die der Kindheit zugedacht wird, hat sich erheblich verändert. Noch am Ende des 18. Jahrhunderts endete der rechtliche Status des Begriffs »Kind« mit dem 7. Lebensjahr. Sobald es in der Lage war, gemeinsam mit den Erwachsenen zu arbeiten, wurde das Kind als zusätzliche Arbeitskraft angesehen und ins Arbeitsleben integriert (vgl. Hein 2004, 27). Die »Entdeckung der Kindheit« im gesellschaftlichen Bewusstsein entstand erst mit der vollen Herausbildung des Bürgertums (vgl. Aries 1978, Postman 1983) einhergehend mit der Entwicklung einer spezifischen Kinderkultur mit allen ihren äußeren Merkmalen (z. B. Spielorte, Spielsachen, Institutionen für Kinder) (vgl. Rohlfs 2006, 19). Heute gilt Kindheit als eine eigenständige und alle Bereiche der menschlichen Entwicklung umfassende Lebensphase, die aus entwicklungspsychologischer Sicht von der Geburt bis zur sexuellen Reife reicht. Norbert Kluge schlägt in diesem Zusammenhang eine Systematisierung des Kindheitsbegriffs vor, die zum einen klare Unterscheidungen zulässt und zum anderen die Entwicklung hin zu aktuellen Vorstellungen ermöglicht (vgl. Kluge 2006, 22 ff.). Bis zum 18./19. Jahrhundert war eine Vorstellung vom »Kind als kleiner Erwachsener« vorherrschend. »Klein« galt in diesem Zusammenhang als Synonym für »unfertig« oder »unreif«. Diese defizitäre Sicht auf Kindheit schlug sich sowohl in der sozialen Rangordnung des Kindes im Verhältnis zur Erwachsenenwelt nieder als auch in seiner realen Lebenspraxis, die sich in äußeren Attributen (z. B. Alltagsgestaltung, Kleidung) ausdrückte. Die Vorstellung, dass Kinder entwicklungsmäßig unvollkommen und rechtlich unmündig sind, führte zu einer tendenziellen Abwertung von Kindheit und einer Sichtweise, die Kinder fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung zum Erwachsensein hin wahrnimmt (vgl. Scholz 1996, 22). Eine Betrachtungsweise, die vor allen Dingen psychologische Implikationen aufweist, ist die des Kindes »als Erfüllungshilfe unerfüllter Wünsche Erwach-

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Aktuelle Diskurse um elementarpädagogische Bildung und Erziehung

sener« – eine Sichtweise, die »so alt (ist), wie sich Erwachsene für die Aufzucht ihrer Nachkommen verantwortlich fühlen« (ebd., 23) und die in ihren problematischen Auswirkungen auch aktuell vor allem aus psychoanalytischer und psychiatrischer Sicht diskutiert wird. Dabei wird das Kind bewusst oder unbewusst von seinen erwachsenen Bezugspersonen instrumentalisiert, indem ihm eine Rolle zugewiesen wird, die es in der Regel nicht erfüllen kann. Richter unterscheidet in diesem Zusammenhang aus psychologischer Perspektive zwischen dem Erscheinungsbild der »Übertragung« und dem der »Projektion«. Bei der »Übertragung« wird dem Kind eine Rolle zugewiesen, die als Ersatz für vorhandene, aber unerfüllte Wünsche der Erwachsenen fungiert. Bei der »Projektion« werden Sehnsüchte und Bedürfnisse der eigenen erwachsenen Person auf das Kind übertragen. Was die erwachsene Person nicht erreicht hat, wird nun zum Ziel und Anliegen des Kindes erklärt. Richter hat bereits in den 1960er Jahren an eindrücklichen Fallbeispielen gezeigt, wie problematisch eine solche Betrachtungsweise des Kindes für seine Entwicklung und die Beziehung zwischen Kind und Erwachsenem ist (vgl. Richter 1969). In der Stellvertreterposition für fremde Bedürfnisse kann das Kind allenfalls im Widerstand seine eigenen Bedürfnisse befriedigen und eine eigene unverwechselbare Individualität herausbilden. Da das Kind unmöglich die ihm zugewiesene Rolle ausfüllen kann, kommt es zu Enttäuschungen auf beiden Seiten und zu Beziehungsstörungen in der Interaktion. Bis hinein in reformpädagogische Bestrebungen des 18./19. Jahrhunderts galt das Kind »als Objekt erzieherischer Maßnahmen«. So verlangt Pestalozzi in seinem »Buch der Mütter« von allen Müttern der Welt »eine gründliche methodische Erziehung und Bildung« ihrer Kinder, wobei er neben einer liebevollen Herzensbildung auch die Notwendigkeit klarer mechanistischer Unterweisung herausstellt (vgl. Adl-Amini 2001, 149 ff.). Mit dem von Rousseau, Humboldt und Schleiermacher vertretenen Verständnis von Bildung rückten die individuellen, eigeninitiativen Aspekte der Entwicklung des Kindes in den Mittelpunkt des Interesses. Eine einseitige, auf Einflussnahme ausgerichtete Sicht auf Kindheit wurde zunehmend von einer Sichtweise abgelöst, die das Kind »als Subjekt seines Erziehungsvorgangs« begreift. Damit einhergehend wurde der Begriff der Erziehung um den der Bildung erweitert. »Während unter Erziehung die Reaktion der Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache verstanden wird, rückt der Bildungsbegriff eher das eigenwillige und selbstständige Handeln des Individuums bei seinen Lernprozessen in den Mittelpunkt sowie deren Beziehungen zu einem übergreifenden soziokulturellen Zusammenhang. Von Humboldt ausgehend stellt Bildung ein Verhältnis zwischen dem individuellen Ich und der Welt her. Dabei wird Individualität nur durch Auseinander-

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Anthropologische Grundannahmen

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setzung mit dieser Welt gewonnen« (Schäfer, 2011, 13). Ein in philosophischen Begriffen formuliertes Menschenbild wurde zunehmend durch den Anspruch empirisch zu erforschender Individualität abgelöst. Kluge (2006) arbeitet vor allem die Philanthropen J. B. Basedow und C. Salzmann im 18. Jahrhundert, F. Fröbel im 19. Jahrhundert, die pädagogische Bewegung »vom Kinde aus« im 20. Jahrhundert mit M. Montessori, B. Otto, J. Korczak, A.S Neill, die Kinderladenbewegung der 1970er Jahre, die Humanistische Psychologie und Pädagogik mit C. Rogers und T. Gordon als Beispiele heraus, die dazu beigetragen haben, dass sich ein gesellschaftliches Bewusstsein für Kindheit als eigenständige und höchst produktive und daher bedeutsame Lebensphase entwickelt hat. Schäfer (2011) ergänzt, dass der Begriff »Kind als Akteur seiner Entwicklung« am Ende der siebziger Jahre in die Bildungsdiskussion eingeführt wurde. »Damit wurde ein Kinderbild formuliert, welches bereits damals ein Gegenpol gegen funktionsorientierte Tendenzen in der Frühpädagogik begründete und eine kindorientierte Perspektive in der Pädagogik der frühen Kindheit untermauerte« (ebd., 24). Die historischen Wurzeln sieht er in der Pädagogik von Rousseau, Pestalozzi und Fröbel begründet, an die zu Beginn des 20. Jahrhunderts im frühpädagogischen Bereich insbesondere durch Maria Montessori und die Waldorfpädagogik angeknüpft wurde. Allerdings verweist Schäfer darauf, »dass die psychoanalytische Diskussion bereits ab den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts begann, das statische Bild kindlicher Entwicklung in Frage zu stellen, um ein dynamisches Bild vom Kind in Beziehungen zu entwickeln« (ebd.). Aktuell wird eine Vorstellung von Kindheit favorisiert, die das Kind als gleichwertigen Bezugspartner in der Interaktion begreift. Dabei werden die entwicklungsbedingten Unterschiede von Kindern im Vergleich zu Erwachsenen und Unterschiede im rechtlichen Status nicht ignoriert. »Die Gleichwertigkeit eines jeden jungen Menschen leitet sich – wie bei jedem menschlichen Individuum – ab aus der anthropologischen Tatsache seiner Individualität, den individuell zu respektierenden Wertmaßstäben und der daraus resultierenden Menschenwürde« (Kluge 2006, 26).

Der Interaktion zwischen Kind und Erwachsenem, wie auch der Kinder untereinander, wird ein pädagogisches Interaktionsmodell zugrunde gelegt, das »soziale Kompetenzen auf beiden Seiten gleichermaßen voraussetzt und von Situation zu Situation neu gewichtet und einfordert. So zeigt sich das pädagogische Interaktionsmodell nicht so sehr an den Personen der Erwachsenen orientiert wie noch ältere Denkmodelle, z. B. ›pädagogischer Bezug‹ (Nohl), ›Erziehungsverhältnis‹ (Langeveld), ›pädagogisches Verhältnis‹ (Klafki). Es überzeugt durch

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Aktuelle Diskurse um elementarpädagogische Bildung und Erziehung

seine dynamische Grundstruktur und die hohe Wertschätzung des Kindes und Jugendlichen« (ebd., 26 f.). Eine solche Neubewertung kindlicher Bildungspotenziale macht eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit Bildungs- und Erziehungsverständnissen vor dem Hintergrund neuerer entwicklungspsychologischer Erkenntnisse erforderlich.

1.2 Entwicklungspsychologische und lerntheoretische Überlegungen Einhergehend mit dieser Orientierung am Kind wird in empirischen Forschungen und aktuellen Diskursen verstärkt nach den Bedürfnissen von Kindern im Alltag und ihren Bildungsvoraussetzungen gefragt. Dabei wird herausgestellt, dass es zunächst vor allem um die Befriedigung basaler Grundbedürfnisse geht, die anthropologische Konstanten darstellen und daher auch nicht auf eine bestimmte Lebensphase beschränkt sind. Krenz (2010, 18) unterscheidet 16 »Seelische Grundbedürfnisse«, deren Berücksichtigung und Entsprechung für eine gesunde Entwicklung von entscheidender Bedeutung sind: Respekt erleben

Intimität erfahren

Optimismus erfahren

Bewegung erleben

Neugierde erleben

Sicherheit spüren

Gewaltfreiheit erfahren

verstanden werden

Sexualität erleben

Vertrauen erleben

Gefühle erleben

Liebe erfahren

Erfahrungsräume haben

Ruhe erleben

Mitsprache haben

Zeit erfahren

Er verweist darauf, dass in erster Linie die strukturellen Bedingungen, unter denen Kinder aufwachsen, und die personalen Kompetenzen der Erwachsenen ausschlaggebend dafür sind, ob Kinder sich persönlichkeitsförderlich, selbstwirksam und ressourcenorientiert entwickeln können (vgl. Krenz 2010, 19). Dabei muss berücksichtigt werden, dass Kinder von Anfang an lernen. Vor diesem Hintergrund bezeichnet Schäfer (2011, 57) Kinder auch als »Anfängergeist« und stellt ihre »Basisausstattung« heraus, die sie für jegliche Auseinandersetzung mit der Welt immer schon mitbringen. Dazu gehören: Körperliche Bewegung und sinnliche Erfahrung, das emotionale Deuten von Beobachtungen und Erfahrungen, die Kommunikation mit der Umwelt einhergehend mit

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Entwicklungspsychologische und lerntheoretische Überlegungen

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dem Entschlüsseln von Mimik und Gestik und die Neugier, die sie den Dingen gegenüber zeigen. Mit Hilfe dieser Grundvoraussetzungen tritt das Kind in Beziehung zur Welt und bildet in Auseinandersetzung mit ihr seine Persönlichkeit heraus. In den ersten Jahren der Kindheit geschieht dies in erster Linie implizit in alltäglichen Handlungssituationen. Ausgehend von den Lebens-, Erfahrungs-, Könnens- und Wissenskontexten, die das Kind bereits mitbringt, erschließt es sich neue Sachverhalte und ordnet sie in das bestehende System ein, indem an bereits vorhandene Erfahrungen angeknüpft wird oder diese umgearbeitet werden. Schäfer (2011, 36) unterscheidet zwei mögliche Prozesse der Umarbeitung: »Imitation und (Re-)Konstruktion. Die Imitation versucht nachzuvollziehen, was vorgemacht und vorgedacht wurde. Die (Re-) Konstruktion versucht, mit gegebenen Mitteln (Potenzialen) Lösungen aus den vorhandenen Mitteln – gegebenenfalls unter Hinzunahme neuer Bausteine – zu entwickeln«. Während der Weg der Imitation den Kindern kaum Möglichkeiten der eigenständigen Wissenskonstruktion bietet, eröffnet der Weg der (Re-) Konstruktion dem Kind eine Vielzahl an individuellen Freiräumen. Die Bedeutung eigenständiger Wissenskonstruktion im Bildungsprozess stellt auch der gemäßigte Konstruktivismus nach Kersten Reich heraus (vgl. Reich 2008). Er vertritt die Auffassung, dass das Kind die äußere umgebende Welt nicht nur nach innen abbildet, sondern dabei eine eigene innere Struktur der Wirklichkeit entwirft. Vor diesem Hintergrund formuliert Reich drei Handlungsmuster, die im Verständnis der konstruktivistischen Didaktik grundlegend für Bildungsprozesse sind: »Konstruktion« bedeutet ein Erfinden von Sachverhalten im Verbinden von alten und neuen Erfahrungen, »Rekonstruktion« zeigt sich im Entdecken von Phänomenen und Zusammenhängen und »Dekonstruktion« stellt in Frage, ob die Dinge tatsächlich so sind, wie sie sich darstellen (vgl. ebd., 137 ff.). Als Vorläufer der konstruktivistischen Didaktik benennt Reich den pragmatischen Ansatz von Dewey, den kognitivistischen Ansatz von Piaget und Theorien des sozialen Lernens nach Wygotski. Die Positionen dieser Autoren sollen im Folgenden kurz erläutert und um weitere lerntheoretische Ansätze erweitert werden, da diese ebenfalls die aktive Seite der Akteure in Lernprozessen betonen. Der pragmatische Ansatz von Dewey stellt heraus, dass im Erkenntnisprozess des Subjekts die äußeren Wirklichkeiten nicht nur abgebildet werden, sondern in der Auseinandersetzung mit der Realität erst hergestellt werden. Experimentieren, Ausprobieren, Transferieren stellen Handlungsprozesse dar, mit denen diese Prozesse unterstützt werden können. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich dem Kind entwicklungspsychologisch bedingt in unterschiedlichen Zeiten verschiedene Entwicklungsaufgaben stellen.

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Aktuelle Diskurse um elementarpädagogische Bildung und Erziehung

So geht der lerntheoretische Ansatz von Maria Montessori davon aus, dass sich Entwicklung in »sensiblen Phasen« vollzieht, in denen bestimmte Sensibilitäten Lernen begünstigen (vgl. Hedderich 2005). Danach ist das Kind im Kleinkindalter von 0–6 Jahren sensibel für Ordnung. Es benötigt klare Strukturen am Tag und Rituale, eine übersichtliche Lebensumwelt und verlässliche Bezugspersonen. Darüber hinaus hat es einen hohen Bewegungsdrang und erwirbt die Sprache. In der Kindheit zwischen 7 und 12 Jahren beginnt das Kind zu abstrahieren, es erschließt sich den Sozialraum Schule und das moralische Bewusstsein entwickelt sich. Das Jugendalter zwischen 12 und 18 Jahren ist durch die Pubertät gekennzeichnet. Ruhe und Rückzug wechseln sich ab. Der Heranwachsende bildet seine Persönlichkeit durch Aktivität und Erproben heraus. Das Primat des Sozialen für die kognitive Entwicklung in allen Entwicklungsphasen stellt u. a. die Entwicklungstheorie von Lew Wygotzki heraus. Danach können psychische Strukturen durch soziale Phänomene beeinflusst werden. Dabei kommt es darauf an, den Kindern zunächst die jeweilige Aktivität, die auf die Zone der nächsten Entwicklung ausgerichtet ist, vorzumachen (Modelllernen), sie verbal anzuleiten (coaching), sie durch Nachahmen auf den richtigen Weg zu bringen (durch Aktivierung der Denkprozesse), ihnen im Prozess Feedback zu geben (z. B. darüber, wie nah sie am Ziel sind) und durch Zeigen von Interesse, Lob, Ermutigung ihre Motivation aufrecht zu erhalten (Verstärkung). Als »Zone der nächsten Entwicklung« wird »das Gebiet der noch nicht ausgereiften, jedoch reifenden Prozesse« (Wygotzki 1887, 83) verstanden, die erwachsene Begleiter bei Kindern beobachten können und von denen ausgehend unterstützende Maßnahmen abgeleitet werden können. Auch Schäfer (2011, 59 f.) stellt heraus, dass die sozialen Bezüge in Bildungsprozessen stets mitgedacht werden müssen, nicht nur in den Zusammenhängen, in denen es um soziales Lernen geht. Daher ist es nach seinem Verständnis unsinnig, von effektiven Lernformen zu sprechen, wenn Lernsituationen nicht hinsichtlich ihrer sozialen Bedeutung für das Kind hinterfragt werden. Beteiligung vollzieht sich danach auf drei Ebenen: der Ebene in einer unmittelbaren Beziehung zwischen Erwachsenem und Kind, der Ebene des Alltagsgeschehens in der Familie, in Institutionen und in der Öffentlichkeit und im Hinblick auf bestimmte Strukturen, wie beispielsweise Kinderparlamente. Anders als Wygotzki, der der Anleitung durch den Erwachsenen im Bildungsprozess einen hohen Stellenwert einräumt, stellt Schäfer die Bedeutung gemeinsam geteilter Erfahrung heraus. Danach braucht das Kind Menschen, die auf seine Erfahrungen eingehen, eigene Erfahrungen artikulieren und sich gemeinsam mit dem Kind einem Lerngegenstand auf Augenhöhe nähern. »Die gemeinsam geteilte Erfahrung ist gewissermaßen die Keimzelle der frühkindlichen Bildung« (ebd., 70).

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Entwicklungspsychologische und lerntheoretische Überlegungen

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Ähnlich wie Montessori und in Anlehnung an Theorien des sozialen Lernens, z. B. nach Wygotski, Bandura, Seligmann u. a. (vgl. Bodenmann/Perrez/Schär/ Trepp 2004) geht das konstruktivistisch kognitivistische Modell von Piaget davon aus, dass das Individuum sein Wissen selbstständig und aktiv auf der Grundlage seiner Erfahrung konstruiert und sich so möglichst effektiv seiner Umwelt anpasst. Während aber für Piaget die Entwicklung neuer kognitiver Strukturen die Voraussetzung für spätere Lernprozesse ist, gehen die Lernprozesse bei Wygotzki der Entwicklung voran und leiten sie. Im Mittelpunkt von Piagets Forschungsinteresse steht die Frage, wie sich Denkstrukturen und kognitive Inhalte entwickeln, während Wygotzki der Frage nachgeht, wie soziale Praktiken so optimiert werden können, dass sie (Selbst)Bildungsprozesse unterstützen können. Die grundlegenden Prozesse, die den Aufbau kognitiver Strukturen ermöglichen, bezeichnet Piaget als Assimilation (Umgestaltung der Realität als Anpassung an die eigenen kognitiven Strukturen) und Akkommodation (Anpassung der eigenen kognitiven Strukturen an die Umwelt). Davon ausgehend entwickelt er ein vierstufiges Phasenschema von der Phase der sensomotorischen Intelligenz (0–1,5 Jahre) über die präoperationale Phase (1,5–7 Jahre) und die Phase der konkreten Operation (7–12 Jahre) zur Phase der formalen Operation (ab 12 Jahre bis ins Erwachsenenalter) (vgl. Piaget 1998). In allen Phasen besteht die Aufgabe darin, ein dynamisches Gleichgewicht zwischen Assimilation und Akkommodation herzustellen, um stabile kognitive Schemata zu erlagen. Beim Spielen gewinnt die Assimilation die Oberhand über die Akkommodation. Im Ergebnis kann Piaget das Spiel lediglich »als einen Teilschritt innerhalb der Intelligenzentwicklung ansehen, der, da zu sehr auf das Subjekt hin ausgerichtet, schließlich überwunden werden muss« (Schäfer 1989, 17). Der Tätigkeit des Spielens kommt aber in Bildungsprozessen ohne Zweifel eine besondere Bedeutung zu, die Winnicott z. B. nicht auf die Phase der Kindheit beschränkt. »Gerade im Spiel und nur im Spielen kann das Kind und der Erwachsene sich kreativ entfalten und seine ganze Persönlichkeit einsetzen, und nur in der kreativen Entfaltung kann das Individuum sich selbst entdecken« (Winnicott 2006, 66). Im Spiel verbinden die Akteure ihre eigene subjektive Realität mit dem, was sie als äußere Welt anerkennen. »Das Spiel füllt also einen Zwischenraum zwischen der reinen Phantasie und der verpflichtenden Wirklichkeit. Insofern bildet es einen Möglichkeitsbereich, in dem Kinder ihr Verhältnis zur Wirklichkeit so balancieren können, dass ihre eigenen Erwartungen, Wünsche, Vorstellungen oder Wirklichkeitsentwürfe dabei nicht zu kurz kommen« (Schäfer 2011, 26). Insofern stellt Spielen einen schöpferischen Prozess der Auseinandersetzung mit sich und der Welt dar, in dem etwas Neues, Einzigartiges hervorgebracht wird, das Ausdruck der

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je individuellen Persönlichkeit ist. Dieser Prozess wird in der Literatur als »intermediärer Raum« bezeichnet (vgl. Winnicott 2006, 11, Schäfer 1989, 31). Ein wesentlicher Aspekt dieses Raumes ist, dass er mit einem gewissen Wagnis einhergeht, das sich aus dem Zusammentreffen einer nur bruchstückhaft bewussten und erkannten inneren und äußeren Realität ergibt. Ein als positiv empfundenes Spannungsverhältnis muss daher »mit einem Gefühl des Vertrauens von Seiten des Kleinkindes, das von der Vertrauenswürdigkeit der Mutterfigur oder der Umwelt abhängig ist, ein Vertrauen, das ein Beweis für die Introjektion der Vertrauenswürdigkeit ist« (Winnicott 2006, 117) verbunden sein. Dem Aufbau stabiler Beziehungen zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen wird in diesem Zusammenhang ein bedeutender Stellenwert eingeräumt. Bindungssicherheit in der frühen Kindheit greift langanhaltend in die Identitätsentwicklung des Kindes ein und leistet einen wesentlichen Beitrag zu einem positiven Selbstbild und zahlreichen weiteren Resilienzfaktoren (vgl. Bowlby 1972, 2001). Als Vorläufer des »intermediären Raumes« bezeichnet Winnicott das »Übergangsobjekt«, dem er besondere Merkmale zuschreibt (vgl. ebd., 14). Solche Merkmale sind z. B. die Beanspruchung des Rechts auf einen Gegenstand und seine emotionale Bedeutung für das Kind. Die Wahl eines Übergangsobjekts und der Umgang mit ihm kann als ein erster Schritt der Ablösung von den erwachsenen Bezugspersonen bei zunehmender Anpassungs-, Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit des Kindes verstanden werden. Neben dem Spiel sind es die unterschiedlichen Möglichkeiten des Gestaltens, mit denen das Kind seine eigenen Bildungsprozesse vorantreibt. Das Gestalten kann als eine Erweiterung der Spielbeziehung verstanden werden, die dem Kind einen stärkeren Wirklichkeitsbezug abverlangt, indem z. B. Materialeigenschaften Berücksichtigung finden müssen, wenn der Gestaltungsprozess für das Kind zufriedenstellend und zielführend sein soll (vgl. Schäfer 2011, 27). Mit den unterschiedlichen gestalterischen Möglichkeiten, die sich des Sehens, Riechens, Schmeckens, Hörens usw. bedienen, tritt das Kind seiner äußeren Realität sinnlich-körperlich gegenüber und verbindet sie mit seinen inneren Wahrnehmungen und Bildern. Sinnliche Wahrnehmung und Deutung bildet so eine wichtige Grundlage für kognitive und sozial-emotionale Entwicklung. Die frei assoziierende Auseinandersetzung zwischen innerer und äußerer Realität beim Spielen und Gestalten ist Ausdruck von Gesundheit, sie ermöglicht Reifung und stellt eine wichtige Form der Kommunikation mit sich selbst und mit anderen dar. Schäfer verweist darauf, dass im Umgang von Erwachsenen mit Kindern häufig »die Grenzen des intermediären Raumes zwischen Innen und Außen zu scharf gezogen (werden): Hier sind die Anforderungen der

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Entwicklungspsychologische und lerntheoretische Überlegungen

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Realität, dort ist die Welt innerer Bedürfnisse, von einem überhandnehmenden Realitätsprinzip vielfach bis zur Unkenntlichkeit zugestellt. Wo beide Bereiche streng auseinandergehalten werden müssen, verkümmert auch der intermediäre Bereich, dessen Sinn es ja wäre, eine flexible Vermittlung zwischen Innen und Außen zu gestalten. Ist aber der intermediäre Raum einmal gesichert und flexibel eingerichtet, wird es möglich und oft zum subjektiven Bedürfnis, innere wie äußere Ereignisabläufe in diesen Zwischenbereich und mit dessen Mitteln zu transformieren. Spiel, Kunst, Religion und selbstbezogenes Lernen tragen bei, ihn zu erweitern« (Schäfer 1989, 35 f.). Hüther (2006, 28 f.) arbeitet weitere Faktoren heraus, die dazu führen können, dass Kinder ihre natürliche Explorationsfreude nicht erhalten können. Er benennt z. B. die Tendenz zu passivem Medienkonsum, die Funktionalisierung oder Reizüberflutung vieler Lebensbereiche und die Vernachlässigung von Kindern aufgrund schwieriger Lebensverhältnisse oder eines wenig entwickelten Bewusstseins für die Bedeutung von Bildung als wesentliche Faktoren, die zur Folge haben können, dass die Herausbildung komplexer Strukturen und Vernetzungen im kindlichen Gehirn nicht gelingen kann. Neue Erkenntnisse zur Anthropologie der Kindheit haben in den letzten Jahren die Neurobiologie und die Säuglingsforschung geliefert. So hat die Gehirnforschung die Theorie der »Neuroplastizität« entwickelt, die »die Anpassungsvorgänge im Zentralnervensystem an die Lebenserfahrung eines Organismus« (Spitzer 2003, 94) beschreibt. Danach werden Menschen mit einer Überzahl an Synapsen und Nervenverbindungen in den sinnlichen Zentren des Gehirns geboren. Der Aufbau komplexer neuronaler Netze entsteht in der Folge weniger durch den Aufbau neuer Verbindungen als vielmehr durch Einschränkung bereits gegebener Synapsen. Verschaltungen, die gebraucht werden, werden dabei verstärkt, während Bahnen und Netze, die nicht gebraucht werden, absterben. So entstehen Alltagsmuster im Gehirn, die Ergebnis komplexer Auseinandersetzung des Kindes mit seiner Wirklichkeit sind. Sie können durch den Grad der Bedeutsamkeit und Emotionalität stabilisiert und im weiteren Lebensverlauf durch neue Erfahrungen modifiziert werden (vgl. Schäfer 2011, 29). Vor diesem Hintergrund konstatiert Schäfer: »Kinder lernen ihre sinnlichen Differenzierungen durch Einschränkung von Möglichkeiten zu überschaubaren Alltagsmustern und nicht durch systematischen Aufbau aus einzelnen Wahrnehmungsdetails« (ebd.) und schlussfolgert: »All diese Prozesse scheinen nicht auf direkte Instruktion angewiesen zu sein« (ebd., 30).

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Die Theorie der Neuroplastizität unterstellt der Kindheit und Jugendzeit eine »unvergleichliche natürliche Lernbereitschaft mit einer hervorragenden Lerngeschwindigkeit, die mit dem Älterwerden des Individuums stetig abnimmt« (Kluge 2006, 30). Dabei fungiert das Gehirn als Vermittler zwischen Innenrealität des Menschen und seiner äußeren Wahrnehmung. Die frühen Erfahrungen der Kinder bestimmen das Bild, das sie von sich und der Welt haben. In Auseinandersetzung mit Alltagssituationen eignen sich Kinder ein Erfahrungswissen an, das einer anderen Logik als das kulturelle Wissen folgt. Dabei ist Erfahrung ein komplexer Prozess, der nicht vornehmlich bewusst, zielstrebig, systematisch und hierarchisch erfolgt. »Kleine Kinder setzen ihr Bild von der Welt nicht aus einzelnen Elementen zusammen. Sie fügen nicht die Brust, den Mund und den Arm der Mutter zusammen, um daraus eine Fütterungssituation zu ›konstruieren‹. Vielmehr erleben sie die Stillsituation als ein integriertes Ereignis, das – wenn es sich öfter gleichartig wiederholt – wiedererkannt werden kann. Es bekommt dann allmählich typische Züge, die erwartet werden können« (Schäfer 2011, 117). Als charakteristische Unterscheidungsmerkmale werden in der Literatur der holistische Denkansatz, das heißt eine Betrachtung der Welt, die nicht von einzelnen Elementen ausgeht, sondern aus Zusammenhängen schließt, die nicht in einem unmittelbaren kausalen Zusammenhang stehen müssen, Variation und Selektion und die hohen kreativen Anteile des Erfahrungslernens herausgestellt (vgl. ebd., ff.). Vor diesem Hintergrund erscheint eine Betrachtungsweise, die Entwicklung als gesetzmäßigen stufenförmigen Prozess versteht, fragwürdig. Vielmehr scheinen Kinder in bestimmten Lebenssituationen entwicklungsbedingte Möglichkeiten des Denkens und Handelns zu haben, aus denen sie auswählen und mit denen sie ihr Denk- und Handlungsrepertoire weiterentwickeln. Dabei stellt das Zusammenspiel von Erweiterung und Auswahl keinen determinierten Prozess dar, sondern einen Prozess, der prinzipiell möglichkeitsoffen ist (vgl. ebd., 90). Ein frühpädagogisches Verständnis, das unterschiedliche entwicklungspsychologische und lerntheoretische Theorien zusammenführt, ist der metakognitive Ansatz von Ingrid Pramling Samuelsson und Maj Asplund Carlsson. Sie legen ein Konzept vor, das sie »Entwicklungspädagogik« nennen. Mit dem Begriff wollen sie zum Ausdruck bringen, dass Spielen und Lernen für junge Kinder synonyme Begriffe und keine Alternativen sind, dass Lernen in der frühen Kindheit erfahrungsbasiert und in sozialen Kontexten stattfindet und der pädagogischen Fachkraft dabei eine aktive Rolle zukommt »durch die bewusste Fokussierung von Lerngegenständen und die explizite Thematisierung des Lernvorgangs (Akt des Lernens)« (Pramling Samuelsson/Asplund Carlsson 2007, 6).

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Entwicklungspsychologische und lerntheoretische Überlegungen

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Grundlage des metakognitiven Ansatzes ist die Phänomenografie, deren Anliegen es ist, Bildungsprozesse den Kindern selbst und den erwachsenen Begleitern sichtbar und damit kommunizierbar zu machen. Dabei folgt der Ansatz drei Prinzipien: »Situationen herstellen und fördern, die Kinder zum Denken und Reden ermutigen. Kinder dazu anregen, selbst zu denken, zu reflektieren und sich sowohl verbal als auch mit anderen Mitteln auszudrücken. Die Vielfalt der Ideen der Kinder wahrnehmen« (ebd. 44). Abschließend sollen vier Annahmen der konstruktivistischen Didaktik wiedergegeben (vgl. Reich 2008, 82 ff.) und in aller Kürze erläutert werden, da sie das Fazit der dargestellten Theorien und Entwicklungslinien darstellen und zu den Konsequenzen für die Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit überleiten. Es wird davon ausgegangen, dass in Lernsituationen ebenso wie im alltäglichen Miteinander von Kindern und Erwachsenen die Beziehungsebene den Vorrang vor der Inhalts- bzw. Sachebene hat. Das bedeutet, dass es aus der Perspektive des Erwachsenen zuallererst darauf ankommt, eine Beziehung zum Kind aufzubauen, die durch Vertrauen, Akzeptanz, Offenheit und Neugier gekennzeichnet ist. Die konstruktivistische Didaktik misst der Praxisorientierung eine besondere Bedeutung bei. Das bedeutet, dass Erkenntnisse vor allem durch systematische und intuitive Beobachtungen im Alltag, ihre theoretische Reflexion und theoriegeleitete Interpretation gewonnen werden. Dabei wird hervorgehoben, dass eine zeitgemäße Didaktik der Multiperspektivität von Wirklichkeitsauffassungen heute deutlicher entsprechen muss, als das in vergangenen Zeiten der Fall war. Vor dem Hintergrund der Komplexität von Bedeutungskonstruktionen wird der Interdisziplinarität von Bildung ein besonderer Stellenwert eingeräumt. Das bedeutet, dass Bildungsinhalte niemals isoliert betrachtet werden dürfen, sondern die Herausforderung darin besteht, Zusammenhänge deutlich zu machen und damit komplexe und dynamische Denk- und Handlungsmuster aufzubauen. Eine Didaktik, die die vorangegangenen Überlegungen zugrunde legt, verzichtet auf den Anspruch, leicht und rezepthaft zu sein. Vielmehr zielt ein solches Verständnis von Didaktik auf die Reflexion von Bildungsprozessen, die grundsätzlich möglichkeitsoffen und ergebnisoffen und nur teilweise systematisch erfassbar sind.

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1.3 Konsequenzen für die Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit Wenn Entwicklung in der Frühpädagogik als evolutionärer Prozess verstanden wird, der nicht systematisch, zielstrebig und stufenförmig, sondern prinzipiell möglichkeitsoffen erfolgt und Kinder von Natur aus neugierig und weltoffen sind, ist es eine zentrale Herausforderung an die soziale Umwelt, Kindern ein Umfeld und Bedingungen zur Verfügung zu stellen, in denen sie sich ohne den Druck sozialer und gesellschaftlicher Vorstellungen in vielfältiger Weise mit ihrer Umwelt auseinandersetzen können. Bezogen auf die Pädagogik der frühen Kindheit fordert Schäfer den mentalen Wandel, »eine an Normen – z. B. Kompetenzzielen oder Wissensstandards – orientierte Pädagogik zu verlassen und eine konsequente, an den jeweiligen Möglichkeiten der Kinder orientierte Pädagogik voranzubringen« (Schäfer 2011, 84). Dass eine solche Betrachtungsweise einen Perspektivenwechsel von der Zielorientierung zur Möglichkeitsorientierung erfordert, erscheint naheliegend, auch wenn das evolutionäre Denkmodell Zielorientierung keinesfalls ausschließt, nur ergeben sich die Ziele erst im Prozess und werden von den kindlichen Akteuren zumindest mitbestimmt (vgl. ebd., 85). Selbst wenn Erwachsene ein bestimmtes Ziel verfolgen, weil sie es für die Entwicklung des Kindes für erforderlich halten, sind sie auf die Mitwirkung des Kindes angewiesen. In diesem Fall kommt es darauf an, sich über ein gemeinsames Ziel zu verständigen und so die Selbstbestimmung des Kindes aufrechtzuerhalten. Vor diesem Hintergrund erscheint die Positionsbestimmung von Schäfer, dass »alle pädagogisch geplanten Lern- und Fördermöglichkeiten nur Einschränkungen dar(stellen), selbst wenn sie so nah wie möglich auf die Erfahrungswege der Kinder abgestimmt sein mögen« (ebd., 33) wenig nachvollziehbar und kaum anschlussfähig an seine Forderung, dem Kind »eine Kultur des Lernens« zu ermöglichen, d. h. ein pädagogisches Feld zu schaffen, das den Kindern ermöglicht, ihre Kräfte vielseitig zu entwickeln, ihnen dafür eine anregende Umgebung zur Verfügung stellt und Erwachsene, die sich als Partner begreifen (vgl. ebd., 131). Eine solche »Kultur des Lernens« setzt aktive pädagogische Fachkräfte voraus, die sich einerseits für die Inhalte der Bildungsprozesse verantwortlich fühlen, die bei dem Kind die Voraussetzungen dafür schaffen, dass es ein Verständnis für die Inhalte erlangen kann und andererseits die Selbstbildungspotenziale, z. B. Erfahrungen, Interessen, Mentalitäten, Konstitutionen, kommunikative Potenziale, z. B. soziale Bezüge, Beziehungen zu Kindern und Erwachsenen und Sachpotenziale, z. B. sachliche Herausforderungen, die sich als Alltagssituationen ergeben können, berücksichtigen. In einer »Kultur des Lernens« werden diese Perspektiven aufeinander abgestimmt und ermöglichen, dass Bildung in Anlehnung an Wilhelm v. Humboldt

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Konsequenzen für die Bildung und Erziehungin der frühen Kindheit

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als Aneignungstätigkeit des Kindes verstanden werden kann, in der es darum geht, der Welt zu begegnen und sich ein Bild von ihr zu machen. Das Berliner Bildungsprogramm für die Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen bis zu ihrem Schuleintritt definiert, was es heißt, »sich ein Bild von der Welt zu machen« folgendermaßen: –– »sich ein Bild von sich selbst in dieser Welt machen –– sich ein Bild von den anderen in dieser Welt machen –– das Weltgeschehen erleben und erkunden« (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport Berlin 2004, 18). Die Aneignung der Welt geschieht in der Entwicklung des Kindes entsprechend seinen entwicklungsbedingten Möglichkeiten. »Sich ›Bilder‹ von der Welt machen heißt für das Baby zunächst, Inseln der Vertrautheit in der Wirklichkeit zu schaffen, die es umgibt. […] Die ersten ›Bilder‹ von der Welt bestehen aus Ereignismustern. In ihnen sind das Handlungsgeschehen, die damit verbundenen körperlichen Zustände, Gefühle und alle sinnlichen Erfahrungen zusammengeschlossen« (Schäfer 2011, 141). Später lernen Kinder sich Handlungen vorzustellen, was sie unabhängig vom erlebten Ereignis macht. Sie beginnen Perspektiven anderer Personen in die eigenen Wahrnehmungen und ihre Bewertung aufzunehmen. Schließlich können in der Phantasie und im Spiel auch Vorstellungen verändert werden. Mit der Entwicklung des symbolischen Denkens mittels der Sprache oder mathematischer Sachverhalte und Strukturen können Bilder von der Welt zunächst mündlich, später auch schriftlich kommuniziert werden (vgl. ebd., 140 ff.). Schäfer (201 ff.) skizziert in Anlehnung an Bruner, Nelson und Tomasello vier »Denkformate«, die bei kleinen Kindern in besonderer Deutlichkeit in Alltagssituationen erkennbar sind und Hinweise darauf geben können, welche Umweltbedingungen für Kinder besonders entwicklungsförderlich sind: –– »Szenisch handelndes (konkretes) Denken« –– »Szenisch bildhaftes (aisthetisches) Denken« –– »Szenisch sprachliches (narratives) Denken« –– »Anschluss an kulturelle Theorien – theoretisches Denken« »Szenisch handelndes (konkretes) Denken« ist dadurch gekennzeichnet, dass Kinder ihr Umfeld mit allen Sinnen erkunden und sich wiederholende Erfahrungen als Ereignismuster im Gehirn abspeichern. Eine anregende Umgebung, die es Kindern ermöglicht, verschiedene Varianten von Handlungen auszuprobieren, Handlungsabläufe zu optimieren und schließlich zum sicheren Handlungsrepertoire werden zu lassen, unterstützen die Entwicklung dieses Denkformats.

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Fallbeispiel Yolanda (2 Jahre) In der Kinderkrippe, die Yolanda besucht, gibt es in den Räumen verschiedene Ebenen, die zum Klettern, Rutschen und Springen einladen. Yolanda probiert in den unterschiedlichsten Formen aus, eine Treppe zu bewältigen. Sie rutscht auf dem Po von Stufe zu Stufe, sie springt von einer Stufe zur anderen, sie probiert es hüpfend auf einem Fuß und auf beiden. Manche Strategien werden von ihr bis zu zehn Mal wiederholt. Dabei werden die unterschiedlichen Bewegungsabläufe von ihr als sichtlich lustvoll erlebt. Die Bewältigung der selbstgestellten Bewegungsaufgaben stärken Yolandas Selbstbewusstsein und Fordern zur Erweiterung des Handlungsrepertoires in der konkreten Situation heraus. Yolanda holt ein Kissen und probiert auf ihm von Stufe zu Stufe zu rutschen, sie versucht es vorwärts und rückwärts. Schließlich legt sie auf jede Stufe ein Kissen und versucht mit ihrem Po immer genau auf dem nächsten Kissen zu landen. Das scheint auch andere Kinder zu interessieren, die sich nun ihrerseits am Spiel beteiligen und es Yolanda gleichtun.

»Szenisch bildhaftes (aisthetisches) Denken« ist darauf ausgerichtet, Wahrnehmungen zu ordnen, in ihnen Muster zu erkennen und ihnen Bedeutung zu geben. Als verinnerlichte Handlungs- und Ereignismuster können sie reproduziert und im Spiel in immer wieder neuer Kombination miteinander in Verbindung gesetzt werden. Dadurch können Kinder wie auch Erwachsene ihre Wahrnehmungswelt »erschließend, gestaltend und denkend verändern« (ebd., 139). Eine Umgebung, die offen ist für Variation, kreative Gestaltung und Problemlösen kann szenisch bildhaftes Denken anregen und unterstützen. Fallbeispiel Klara (2 Jahre, 10 Monate) Klara liebt es, mit der Knopfkiste zu spielen. Dabei legt sie mit den Knöpfen Figuren, sie ordnet die Knöpfe nach Farben, Formen und Größen. Sie bezieht auch die Schränke der Puppenstube ein, indem sie diese zu Knopfkisten umfunktioniert. Klara spielt mit ihrer Oma Knöpfe verkaufen, wobei sie selber die Knopfverkäuferin ist. Sie legt ihr eine Reihe von Knöpfen auf den Tisch und fordert mit ausgestreckter Hand das zu entrichtende Entgelt ein.

»Szenisch sprachliches (narratives) Denken« ermöglicht es dem Kind, die bislang bildhaft szenisch gespeicherten Handlungs- und Ereignismuster zu verbalisieren und damit kommunizierbar zu machen. Erfahrungen finden Eingang in Geschichten, die miteinander verwoben und weitergedacht werden können. Ein Umfeld, das vielfältige Handlungsanregungen bereithält und zur Kommu-

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Konsequenzen für die Bildung und Erziehungin der frühen Kindheit

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nikation unter Kindern und mit Erwachsenen herausfordert, kann das Wahrnehmen und Denken vermittelt durch Sprache unterstützen. Fallbeispiel Björn (5 Jahre, 3 Monate) und Hannes (5 Jahre, 6 Monate) Björn und Hannes haben im Raum eine große Kiste mit Bauklötzen entdeckt. Sie wollen mit ihnen ein Haus bauen, das so hoch wie ein Tisch ist. Gemeinsam überlegen sie, was sie dazu alles brauchen. Sie tragen Holzplatten herbei und beginnen zuerst mit den Klötzen ein Quadrat zu legen. Hannes regt an, den Platz für die Tür offen zu lassen. Dann schichten sie mehrere Klötze übereinander und legen eine Holzplatte darauf. Anschließend werden wieder Klötze übereinander geschichtet usw. bis das Haus eine stattliche Höhe erreicht hat. Beiden Jungen fällt auf, dass sie Fenster vergessen haben. Also werden die Steine so angeordnet, dass Platz für Fenster bleibt. Björn hat die Idee, Playmobilfiguren in das Bauwerk zu integrieren, damit es so aussieht, als ob Menschen in dem Haus wohnen. Die beiden Jungen tauschen sich darüber aus, wie sie das Haus noch verbessern können. Sie lassen Tierfiguren einziehen, installieren mit Hilfe eines Wollfadens eine Telefonleitung und bringen am Eingang eine leere Streichholzschachtel als Briefkasten an. Beim Bauen des Hauses entsteht die Geschichte des Hauses, in der Alltagserfahrungen und Phantasie der beiden Jungen Eingang finden.

»Anschluss an kulturelle Theorien – theoretisches Denken« erfolgt in der Regel zum Ende des Kindergartenalltags. Das bislang situationsgebundene szenische Denken wird durch abstrakte Konstruktionen denkend neu rekonstruiert, wobei kulturell erzeugte Theorien Berücksichtigung finden. Ausgehend von alltäglichen Erfahrungen werden z. B. Hypothesen aufgestellt, die auch ohne direkten Situationsbezug argumentativ überprüft und im Gespräch belegt oder widerlegt werden. Förderlich kann in diesem Zusammenhang ein Umfeld sein, das Raum und Zeit für Fragen und Denkwege der Kinder lässt, wie es z. B. das Konzept des Philosophierens mit Kindern vorsieht. Fallbeispiel Lisa, Erik, Tom (alle 6 Jahre) In einer Kindertagesstätte ist es üblich, dass der Tag mit einem Morgenkreis beginnt. Die Erzieherin gibt einen Stein herum, der die Kinder zum Erzählen ermutigen soll. Lisa bemerkt, dass der Stein durch die Wärme der Hände warm geworden ist und fragt in die Runde: »Warum wird der Stein warm? Lebt er denn?« Darauf antwortet Erik: »Ein Stein kann nicht leben. Das können nur Menschen und Tiere.« Tom meldet sich zu Wort: »Pflanzen leben auch und wenn Pflanzen leben, können vielleicht auch Steine leben.« Im weiteren Gespräch tauschen

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sich die Kinder darüber aus, woran man erkennt, dass etwas lebt, z. B. Wachstum, Atmung, Fortpflanzung. Zu einer gemeinsamen Antwort auf die Frage, ob Steine leben, kommen sie zwar nicht, aber der Austausch von Argumenten vor dem Hintergrund der je individuellen Erfahrungen basiert durchaus auf der Ebene theoretischen Denkens.

Vor dem Hintergrund des Anspruches, Kinder in ihrer Entwicklung zu unterstützen, stellt sich die Frage, welche Aufgabe dabei den professionellen Erwachsenen zukommt.

1.4 Anforderungen an das pädagogische Personal Aufgabe der pädagogischen Fachkraft ist es, den Rahmen aufrecht zu erhalten oder zu schaffen, in dem Kinder sich möglich eigeninitiativ und selbstreguliert ins Spiel bringen können, Kinder zu beobachten und ihre Handlungsstrategien zu erfassen, um ein möglichst dichtes Bild des je individuellen Kindes zu bekommen, aber ein Bewusstsein dafür zu erhalten, »dass es bei Kindern viele Dinge gibt, die wir nicht wissenschaftlich wahrnehmen können und die dennoch da sind« (Schäfer 2011, 83 f.). Vor diesem Hintergrund ist pädagogisches Handeln immer ein Experiment, dessen Erfolg vom Kind bestätigt werden muss. Ein solches Experiment kann aber nur gelingen, »wenn sich Erwachsene von der Vorstellung Kinder ›belehren zu müssen‹ und Kindern ›Wissen beizubringen‹, radikal und konsequent verabschieden, um für eine alltagsorientierte, lebendige, lernunterstützende ›Bildungsatmosphäre‹ zu sorgen« (Krenz 2010, 29). Eine solche Bildungsatmosphäre hat sich auf alle Bereiche des Zusammenlebens in der Kindertagesstätte zu erstrecken. Das Berliner Bildungsprogramm für die Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen (2004, 32 ff.) differenziert fünf Handlungsfelder aus, in denen konkrete Aufgaben für das pädagogische Fachpersonal ausgewiesen werden, die hier nur anhand von Beispielen dargestellt werden können. Aufgabe: »Gestaltung des alltäglichen Lebens in der Kita«

Im Alltag der Kindertagesstätte begegnen sich Kinder unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Herkunft, mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Vorerfahrungen und Interessen. Aufgabe der pädagogischen Fachkraft ist es, dieses soziale Beziehungsgefüge wahrzunehmen und günstige Bedingungen dafür zu unterstützen, dass sich jedes Kind wahr- und angenommen fühlt, aktiv und ideen-

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Anforderungen an das pädagogische Personal

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reich mitbestimmen kann und sein körperliches und seelisches Wohlbefinden gestärkt wird. Konkrete Aufgaben der Erzieherinnen und Erzieher sind daher z. B. die Gestaltung eines Tagesablaufes, der den unterschiedlichen Entwicklungsbedürfnissen der Kinder entspricht, der aufmerksame Umgang mit den Anliegen, Wünschen und Bedürfnissen der Kinder, das Schaffen eines von gegenseitigem Respekt und von Wertschätzung getragenen Klimas, die Beteiligung der Kinder an der Planung und Gestaltung des Zusammenlebens in der Kindertagesstätte und das gemeinsame Erkunden des näheren Umfelds der Einrichtung. Aufgabe: »Spiel«

Das Spiel ist die natürliche Tätigkeit des Kindes, mit der es sich selbst, andere Menschen und sein gesamtes Umfeld erkundet. Es ermöglicht in besonders ausgeprägter Weise ein selbstbestimmtes Lernen mit allen Sinnen, mit starker emotionaler Beteiligung und geistigem und körperlichem Einsatz. Das Spiel des Kindes kann durch die pädagogische Fachkraft unterstützt werden, indem sie z. B. eine anregende Umgebung mit Anreizen und Freiräumen schafft, indem sie dem Kind ermöglicht, selbst zu entscheiden, womit, wie lange und in welcher Sozialform es spielen will und nicht zuletzt indem sie als Ansprechpartner und Ratgeber zur Verfügung steht und selbst Spaß am Spiel zeigt. Aufgabe: »Planung und Gestaltung von Projekten«

Lernen in Projekten ermöglicht entdeckendes und forschendes Lernen. Es fokussiert die Aufmerksamkeit auf ein Thema über einen längeren Zeitraum und kann zu einer Öffnung der Kindertagesstätte über die Einrichtung hinaus beitragen. Projekte sind auf die Mitbestimmung der Kinder in Planungs-, Durchführungsund Evaluationsprozessen ausgerichtet und können einen wichtigen Beitrag zur Ausbildung demokratischer Grundhaltungen leisten. Die Herausforderungen der pädagogischen Fachkraft bestehen in Projekten z. B. darin, die Bedürfnisse, Interessen und Fragen der Kinder durch Beobachtung und Gespräche zu erfassen, d. h. die Lebenssituation der Kinder zu erkunden, vor diesem Hintergrund Ziele des pädagogischen Handelns zu entwickeln, die Umsetzung des Projekts gemeinsam mit den Kindern zu planen und sich über die im Projekt gewonnenen Erfahrungen mit allen Beteiligten auszutauschen. Aufgabe: »Anregungsreiche Räume«

Eine gut durchdachte Raumgestaltung regt die Wahrnehmung und Motivation der Kinder an und fördert Eigenaktivität, Orientierung, Kommunikation, soziales Zusammenleben, Körpererfahrung und ästhetisches Empfinden. Kinder sollen sich in der Kindertagesstätte wohlfühlen, z. B. Orte zum Rückzug haben,

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aber auch Anregung erfahren, z. B. durch Räume zum Forschen und Experimentieren. Aufgabe der pädagogischen Fachkraft ist z. B., das ästhetische Empfinden der Kinder durch die Farbgestaltung und Materialauswahl zu fördern, Grunderfahrungen durch die Anordnung der Möbel, durch die Bereitstellung von Materialien zu ermöglichen, den Sinn für Ordnung zu schulen und auch Erfahrungen mit Pflanzen und Tieren zu ermöglichen. Aufgabe: »Beobachten und Dokumentieren«

Die Beobachtung der Kinder in ihren Bildungsprozessen ist eine wichtige Grundlage dafür, ihre Bedürfnisse und Interessen zu verstehen und förderlich begleiten zu können. Das Dokumentieren dieser Beobachtungen ermöglicht es, Entwicklungen aufzuzeigen, mit Kindern und ihren Eltern ins Gespräch zu kommen und kollegialen Austausch im Team zu unterstützen. Der pädagogischen Fachkraft kommt dabei z. B. die Aufgabe zu, organisatorische Möglichkeiten zu realisieren, die regelmäßiges Beobachten aller Kinder (und nicht nur der, die in irgendeiner Weise auffallen) im Rahmen des Kindergartenalltags sichern, Entwicklungsfortschritte des jeweiligen Kindes in angemessener Form darzustellen, ein Dokumentationssystem für die einzelnen Bildungsbiographien zu entwickeln und Formen der Kommunikation über Entwicklungen mit den unterschiedlichen Partnern (Kindern, Eltern, Kollegen) zu praktizieren. Vor dem Hintergrund dieser vielfältigen Aufgaben stellt sich die Frage, wie pädagogische Aus-, Fort- und Weiterbildung gestaltet sein muss, um die Professionalisierung des pädagogischen Personals für und in Kindertagesstätten zu unterstützen. Schäfer (2011, 255 ff.) arbeitet vor dem Hintergrund von zwei Jahrzehnten Hochschultätigkeit in Diplom-Studiengängen der Früh- bzw. Elementarpädagogik sowie verschiedener Projekte drei Grundgedanken heraus, die für ein Nachdenken über Professionalität im frühkindlichen Bereich hilfreich sein können. Die Bedeutung biographischer Reflexion

Der Erwerb von Professionalität ist eng mit der eigenen Biographie verbunden. Wie Erwachsene Kinder wahrnehmen, welche Vorstellungen sie von Bildungsund Erziehungsprozessen haben und welches Handlungspotenzial ihnen in der konkreten Situation im Umgang mit Kindern und ihren Eltern zur Verfügung stehen, ist erheblich davon abhängig, welche Erfahrungen sie als Kinder in der Interaktion mit Erwachsenen in und außerhalb von Institutionen gemacht haben. In der Auseinandersetzung mit der eigenen Bildungsbiographie können Erfahrungsmuster bewusst gemacht werden und eine Differenzierung oder Veränderung erfahren. Dabei geht es nicht um eine lineare, hie-

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Anforderungen an das pädagogische Personal

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rarchische Auseinandersetzung, die nach entsprechender Reflexion mehr oder weniger bedeutsamer Erinnerungsstücke abgeschlossen ist. Vielmehr handelt es sich um einen zirkulären Prozess, in dem unterschiedliche Erfahrungen aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und diskutiert werden. Im wechselseitigen Bezug aufeinander werden neue Denkprozesse eingeleitet und modifizierte oder neue Denkweisen möglich. Die Bedeutung der Differenzierung professioneller Wahrnehmung

Die wahrnehmende Beobachtung von Heterogenität und Individualität ist ein wesentlicher Aspekt von Professionalität. Eine solche Betrachtungsweise unterstreicht den Eigenanteil des Kindes an seinen Bildungsprozessen und führt zu einem Perspektivenwechsel von der Aktivität des Erziehenden hin zur Aktivität des Kindes. Das Explorationsverhalten des Kindes beim Spielen, Gestalten, Musizieren, in Auseinandersetzung mit Themen und Fragen kann in Alltagssituationen (weniger in künstlich geschaffenen Bildungsbereichen) beobachtet werden, Themen und Denkwege der Kinder können entdeckt und beschrieben werden, Bildungsbegleitung im wortwörtlichen Sinne wird dadurch erst möglich. Die Kinder selbst können zu ihren Gedanken, Gefühlen, zu ihren Handlungen und Strategien befragt werden und so im Sinne metakognitiven Lernens zum Reflektieren des eigenen Lerngeschehens angeregt werden (vgl. Pramling Samuelsson/Asplund Carlsson 2007). In diesem Zusammenhang gilt es auch die Eltern als Experten ihrer Kinder einzubeziehen, um ein möglichst differenziertes Bild jedes einzelnen Kindes zu erlangen, wohl wissend, dass es kein vollständiges Bild sein kann. Professionalisierung als institutionell verankerter lebenslanger Prozess

Professionalisierung ist ein Prozess, der tendenziell unabgeschlossen und unabschließbar ist. Vielmehr geht es darum, aus Alltagssituationen zu lernen und dabei Wahrnehmungen, Theorien, Sachwissen und Handlungsstrategien immer wieder neu zu durchdenken und an der Realität zu überprüfen. Ein solcher Anspruch kann nicht im Alleingang von pädagogischen Fachkräften realisiert werden, sondern bedarf einer institutionellen Verankerung, die in der Literatur als »lernende Organisation«(vgl. Heimerl/Meyer 2007, 252 ff.) beschrieben wird. Darunter wird eine Organisation verstanden, in der einerseits von Seiten der Institution Anregungen und Unterstützung zu einem berufsimmanenten Selbstlernprozess gegeben werden und andererseits Möglichkeiten der Evaluation, der Fort- und Weiterbildung durch Externe mit dem Ziel der Differenzierung und Erweiterung professioneller Qualitäten bereitgestellt werden. Solche Qualitäten sind Wahrnehmungs- und Beobachtungsqualität, Reflexionsqualität, Handlungsqualität,

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Aktuelle Diskurse um elementarpädagogische Bildung und Erziehung

Sachqualität und kommunikative Qualität. Diese Qualitäten sollen im Folgenden anhand von Beispielen aus der frühpädagogischen Praxis erläutert werden. Wahrnehmungs- und Beobachtungsqualität

Während das Wahrnehmen auf das Zusammenführen bewusster oder unbewusster Sinneseindrücke mit dem Ziel, verschiedene Teilinformationen zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzuführen, ausgerichtet ist, wird unter dem Beobachten ein fokussierter, zielgerichteter Prozess verstanden, durch den wir uns ein Bild machen und eine Perspektive auf die Wirklichkeit konstruieren. »Beobachten meint ein aufmerksames Wahrnehmen, das darauf zielt, ein Ereignis oder Verhalten zu verstehen, eine Vermutung zu überprüfen, eine Entscheidung zu treffen« (Leu 2006, 232). In der alltäglichen Arbeit von Fachkräften in Kindertagesstätten gehören das Wahrnehmen und systematische Beobachten zu den zentralen Aufgaben. (Auf standardisierte Beobachtung soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden, da sie in der Regel von speziell ausgebildetem Personal durchgeführt wird.) Im Folgenden sollen beide grundsätzlichen Herangehensweisen gegenübergestellt und Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet werden. Wahrnehmen

Systematisches Beobachten

Wahrnehmen und Beobachten ist zum einen auf ein möglichst differenziertes Verstehen der Denk- und Handlungswege von Kindern, ihrer sozialen Praktiken und Problemlösungsstrategien ausgerichtet. Zum anderen sind Wahrnehmen und Beobachten für die Evaluation der pädagogischen Arbeit unerlässlich. Wahrnehmen und Beobachten setzen Reflexions- und Interpretationsfähigkeit voraus, die es ermöglichen, das wahrgenommene oder beobachtete Verhalten zu deuten und in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Als subjektive Empfindung einer Gesamtheit von Sinneseindrücken versucht Wahrnehmung eine komplexe Situation zu erfassen. Wahrnehmen vollzieht sich in alltäglichen Situationen, kann bewusst oder unbewusst erfolgen und ist offen für Ungewohntes und Überraschendes. Eine möglichst sensible Wahrnehmung von Stimmungen und Entwicklungen ermöglicht es, Probleme zu erkennen und sie einer genaueren Beobachtung zugänglich zu machen.

Einer systematischen Beobachtung geht die Bestimmung der Ziele voraus. Geht es z. B. um das Erfassen des Entwicklungsstandes des Kindes? Geht es mehr um die Inhalte, mit denen es sich beschäftigt? Systematische Beobachtung ist bewusstes Beobachten, das organisatorische Klärungen erfordert: Wer beobachtet? Wie wird beobachtet? Wie wird das Beobachten in die Zeitstruktur des Kindergartens integriert? Systematische Beobachtungen können Wahrgenommenes untermauern oder in Frage stellen und so zu einer differenzierteren Betrachtung komplexer Sachverhalte beitragen.

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Reflexionsqualität

Unter pädagogischer Reflexionsfähigkeit wird ein bewusstes Durchdenken einer bestimmten Situation oder Handlung verstanden, das zum einen auf theoretische Sachverhalte, z. B. entwicklungspsychologische Theorien oder pädagogische Grundsätze, ausgerichtet ist und zum anderen auf Alltagsbeobachtungen, z. B. das Verhalten von Kindern oder die Interaktion zwischen Kindern und pädagogischer Fachkraft, und beide Betrachtungsweisen aufeinander bezieht, um so Schlussfolgerungen für die weitere pädagogische Arbeit ziehen zu können. Reflexion kann auf zwei Ebenen stattfinden: in Handlungen und über Handlungen (vgl. Altrichter/ Posch 2007). Wenn in der Handlung reflektiert wird, wird die eigene unmittelbare Praxis zum Forschungsgegenstand. Mittel und Ziele der Forschung ergeben sich aus problematischen Situationen, die interaktiv erfasst und gedeutet werden und deren Ergebnisse in praktische Handlungsvollzüge überführt werden. Die Reflexionsqualität ist bei der Reflexion in Handlungen davon abhängig, inwieweit die pädagogische Fachkraft in der Lage ist, problematische Situationen in der Interaktion zu erkennen, diese zu hinterfragen und Lösungsansätze in der Situation zu entwickeln, zu erproben und dabei den Problemlösungsprozess zu analysieren, um Schlussfolgerungen für Handlungsoptionen in ähnlichen Situationen zu ziehen. Reflexion in Handlungen wird unterstützt durch Erfahrungswissen und Ambiguitätstoleranz, da der Erfolg von Problemlösungsstrategien erst im Handlungsvollzug überprüft werden kann. Wenn über eine Handlung reflektiert wird, wird die Handlung aus der direkten Interaktion herausgelöst und kann nun vor dem Hintergrund theoretischen Wissens und praktischer Erfahrung analysiert, gedeutet und bewertet werden. Routinen können so hinterfragt und implizite Theorien herausgearbeitet werden. Die Reflexionsqualität ist bei der Reflexion über Handlungen davon abhängig, inwieweit die pädagogische Fachkraft in der Lage ist, Handlungen zu analysieren, dahinter stehende Handlungsgrundlagen zu reorganisieren, die einzelnen Analyseschritte sprachlich geordnet darzustellen, bei der Analyse theoretische Wissensbestände und situative Faktoren einzubeziehen und Schlussfolgerungen für das weitere pädagogische Handeln zu ziehen. Handlungsqualität

Die Handlungsqualität in einer pädagogischen Situation äußert sich zum einen in der Handlungssicherheit der pädagogischen Fachkraft und zum anderen in ihrer Entscheidungsfähigkeit. Beide Kompetenzen werden in der Auseinandersetzung mit der Theorie und Praxis sozialpädagogischen Handelns erworben und beinhalten Wissenselemente auf unterschiedlichen Ebenen. Oberhuemer (2006, 372) unterscheidet in Anlehnung an Cochrane-Smith & Lytle (1999) vier Wissenskonzepte, die das pädagogische Handeln beeinflussen:

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Aktuelle Diskurse um elementarpädagogische Bildung und Erziehung

–– »Wissen für die Praxis«: Wissen aus den Bezugswissenschaften, grundlegende und berufsfeldspezifische Theorien und Forschungsbestände –– »Wissen über die Praxis«: Wissen, das aus der kritischen Reflexion pädagogischer Arbeit resultiert –– »Wissen innerhalb der Praxis«: Wissen, das aus eigenen Erfahrungen im pädagogischen Feld gewonnen wurde –– »Wissen über die eigene Person«: Wissen, das Ergebnis der eigenen Reflexion über Werte, Talente, Vorlieben, Emotionen etc. ist Wissenschaftliche wie auch subjektive Theorien werden in Handlungen mehr oder weniger bewusst und zielgerichtet erprobt und differenziert. »Es geht also nicht um intuitives Handeln, sondern um Handeln, das im Kreislauf von Tun und Reflexion seine Tauglichkeit, Spontanität und Flexibilität gewonnen hat. Man könnte von einer reflektierten professionellen Spontanität sprechen« (Schäfer 2011, 260). Die Handlungsqualität einer pädagogischen Fachkraft ist demnach davon abhängig, ob es ihr gelungen ist, einen professionellen pädagogischen Habitus auszubilden, der sich in einem umfangreichen Handlungswissen verbunden mit Handlungsstrategien und Handlungsmustern ausdrückt, die reflektiert und flexibel in situativen Kontexten angewandt werden können. Probierendes Handeln ist in diesem Zusammenhang ebenso hilfreich wie der Mut Fehler zu machen. Sachqualität

Sachqualität setzt voraus, dass sich das pädagogische Fachpersonal mit den Themen, die Kinder interessieren und beschäftigen, auseinandersetzt und so ein interdisziplinäres Sachverständnis entwickeln. Neben den Themen und Fragen der Kinder können die in den Bildungskonzeptionen der Länder systematisierten Bildungsbereiche dafür eine Orientierung bieten. Das Berliner Bildungsprogramm für Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen sieht folgende Bildungsbereiche vor, denen im Folgenden mögliche Bezugswissenschaften zugeordnet werden, die neben allgemeinpädagogischen Inhalten, z. B. aus der Pädagogik, Psychologie und Anthropologie, sachliche Auseinandersetzungen mit potentiellen Lerngegenständen von Kindern bieten. Bildungsbereiche

Mögliche Bezugswissenschaften

Körper, Bewegung und Gesundheit

Medizinwissenschaft, Gesundheits­ psychologie Orthopädie

Soziale und kulturelle Umwelt

Geschichte, Soziologie, Geographie

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Anforderungen an das pädagogische Personal

Kommunikation: Sprache, Schriftkultur und Medien

Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft Medienwissenschaft

Bildnerisches Gestalten

Kunstgeschichte, Kunstwissenschaft Kunsttherapie

Musik

Musikwissenschaften, Musikpädagogik Musiktherapie

Mathematische Grunderfahrungen

Mathematik, Astronomie, Physik

Naturwissenschaftliche und technische Grunderfahrungen

Physik, Chemie, Ingenieurwissenschaften

Da Kinder Themen und Fragen nicht in Kategorien von Fachwissenschaften denken und entwickeln, sondern sich ihnen interdisziplinär ausgehend von ihren alltäglichen Beobachtungen nähern, kommt es darauf an, für unterschiedliche Zugänge offen zu sein. So kann eine Frage zu ganz unterschiedlichen inhaltlichmethodischen Auseinandersetzungen führen (vgl. Pfeiffer 2012), die es erforderlich machen, dass pädagogische Fachkräfte in Aus-, Fort- und Weiterbildung ein eigenes fachliches Profil entwickeln. Kommunikative Qualität

Eine hohe kommunikative Qualität setzt zunächst kommunikative Kompetenz der pädagogischen Fachkräfte voraus. Über kommunikative Kompetenz verfügt eine Person, die sich zielgruppensicher und konstruktiv verständlich machen kann. Dabei ist sie sich der vier Aspekte menschlicher Kommunikation bewusst (vgl. Schulz von Thun 1981): –– »Sachaspekt – oder: Worüber ich informiere«: Pädagogische Fachkräfte müssen sich klar darüber sein, wie sie Sachverhalte klar und verständlich mitteilen oder Sachverhalte erklären können und über entsprechende Sprachkompetenzen verfügen, diese Informationen erfolgreich zu übermitteln. –– »Beziehungsaspekt – oder: Was ich von dir halte und wie wir zueinander stehen«: In der Art und Weise der Kommunikation, mit der Klangfarbe der Stimme, der Mimik und Gestik, der Wortwahl usw. bringt die pädagogische Fachkraft zum Ausdruck, was sie von einem Kind hält. Entsprechend fühlt es sich akzeptiert und vollwertig behandelt oder aber herabgesetzt oder nicht ernst genommen. Dem Schaffen guter Kommunikationsbedingungen (vgl. Delfos 2011, 77 ff.) kommt daher eine große Bedeutung zu. –– »Selbstoffenbarungsaspekt – oder: Was ich von mir selbst kundgebe«: Mit jeder Äußerung, die die pädagogische Fachkraft gegenüber einem Kind vor-

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Aktuelle Diskurse um elementarpädagogische Bildung und Erziehung

nimmt, gibt sie etwas Persönliches von sich weiter, etwa ob sie Freude an ihrer Arbeit hat und gern mit Kindern zusammen ist. Das Kind merkt, ob ihre Erzieherin/ihr Erzieher authentisch kommuniziert oder ob sie/er etwas verheimlicht, was zu Verunsicherung oder Abwehrhaltungen führen kann. Echte Kommunikation setzt daher Ehrlichkeit im Umgang miteinander voraus. –– »Appellaspekt – oder: Wozu ich dich veranlassen möchte«: Kommunikation verfolgt in der Regel eine Absicht. So kann die pädagogische Fachkraft ein Kind dazu veranlassen, bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen. Dieser Versuch, Einfluss auszuüben, ist vor allem dann legitim, wenn auf die Einhaltung gemeinsam besprochener Regeln hingewirkt wird und sollte daher offen und nicht versteckt erfolgen. Als besonders bedeutsam werden darüber hinaus folgende Kompetenzen herausgestellt: »Verbalisierung von Wahrnehmungen und Gedanken; schriftsprachliche und mediale Darstellung bzw. Dokumentation dieser Wahrnehmungen und Gedanken; schließlich ihre argumentative Untermauerung« (Schäfer 2011, 261). Auf eine nähere Erläuterung dieser Kompetenzen wird an dieser Stelle verzichtet.

1.5 Qualitätsbestimmung und Qualitätsentwicklung in Kindertagesstätten Als Resultat zahlreicher Studien wird die Qualität von Kindertagesstätten seit Mitte der 1990er Jahre verstärkt diskutiert. Dabei werden bestimmte Qualitätsziele sowohl im Kinder- und Jugendhilfegesetz als auch in den Gesetzen der Bundesländer ausdrücklich benannt (vgl. Hupperts 2010, 63). Einigkeit scheint auch darüber zu bestehen, dass die Qualität der pädagogischen Arbeit in Kindertagesstätten im Wesentlichen bestimmt wird durch: –– »die pädagogische Konzeption, –– die Fachlichkeit der pädagogischen Kräfte (Aus- und Weiterbildung), –– die Evaluation der Umsetzung der Konzeption sowie durch –– die Relation zwischen Fachpersonal und Kinderzahl, –– die Gruppengrößen, –– die räumlichen Bedingungen und die Ausstattung und –– das Leitbild des Trägers« (ebd., 64). Krenz (2010, 50) verweist vor diesem Hintergrund darauf, dass zahlreiche Studien, u. a. auch eine Studie, die von der Bundesregierung in Auftrag gege-

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Qualitätsbestimmung und Qualitätsentwicklung in Kindertagesstätten

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ben wurde, zu dem Ergebnis kommen, »dass die pädagogische Qualität in mehr als zwei Dritteln der deutschen Kindergärten nur mittelmäßig oder gar schlecht war« und »Kaum ein Arbeitsbereich erwies sich dabei von Qualitätsdefiziten verschont.« Als »häufigste Qualitätssünden« werden benannt: das Fehlen eines spezifischen Profils der Einrichtung, Unsicherheiten und Widersprüchlichkeiten in pädagogischen Verständnissen und ihrer Umsetzung, eine wenig entwickelte elementarpädagogische Didaktik und Methodik, ein kaum oder gar nicht vorhandenes Qualitätsmanagement und eine unzureichende Zusammenarbeit mit den Eltern (vgl. ebd.). Sowohl Wissenschaftler im elementarpädagogischen Feld als auch wissenschaftlich orientierte Praktiker fordern als Konsequenz aus diesen Befunden »die Kindertagesstätten mit […] geeigneten Evaluationsverfahren zur zielorientierten Qualitätsverbesserung zu verpflichten und in den Qualitätsentwicklungsprozessen zu begleiten« (ebd., 51). Instrumente der Qualitätsentwicklung stellen interne und externe Evaluationsverfahren dar, wobei die externe Evaluation der internen nachfolgen sollte. Für die interne Evaluation von Tageseinrichtungen für Kinder stellt der »Nationale Kriterienkatalog« (vgl. Tietze/Viernickel 2007) ein differenziertes und gut handhabbares Instrument dar. Zur externen Evaluation kann das »Kieler Instrumentarium für Elementarpädagogik und Leistungsqualität« (K.I. E.L.) (vgl. Krenz 2001) ein bereits vielfach eingesetztes Verfahren sein, das auf interne Evaluation aufbaut. Beide Instrumente sollen im Folgenden im Überblick vorgestellt werden. Der »Nationale Kriterienkatalog« zur internen Evaluation von Kindertagesstätten

Der Katalog –– beschreibt das gesamte Spektrum der pädagogischen Arbeit in Tageseinrichtungen für Kinder von 0–6 Jahren. –– ist länder-, träger- und konzeptübergreifend in allen Einrichtungen einsetzbar. –– benennt die erforderlichen professionellen Kompetenzen der pädagogischen Fachkräfte für die Betreuung, Bildung und Erziehung. –– zeigt die räumlich-materiellen Bedingungen für eine optimale pädagogische Arbeit auf. In diesem Zusammenhang werden drei Aspekte von Qualität unterschieden: –– Strukturqualität, z. B. die Organisationsform der Einrichtung, die finanziellen, räumlichen Rahmenbedingungen, das Leitbild, das pädagogische Konzept, die Professionalität des pädagogischen Personals

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–– Orientierungsqualität, z. B. Vorstellungen des pädagogischen Personals über kindliche Entwicklung und Bildungsbegleitung, Bereitschaft zu Fort- und Weiterbildung, Einsicht in die Notwendigkeit von Qualitätssicherungsprozessen –– Prozessqualität, z. B. der Tagesablauf in der Einrichtung, die Gestaltung der Interaktionen unter Kindern und zwischen pädagogischem Fachpersonal und den Kindern, die Zusammenarbeit im pädagogischen Team, die Zusammenarbeit mit den Eltern »In den insgesamt 21 Qualitätsbereichen werden all jene Situationen, Interaktionen und Routinen im Tagesablauf sowie die Organisation und die räumlich-materiellen Bedingungen oder auch Aspekte der Zusammenarbeit mit den Familien und Schulen beschrieben, die das Wohlbefinden und die Entwicklung der Kinder direkt oder indirekt beeinflussen« (Tietze/Viernickel 2007, 29). Sechs Leitgesichtspunkte bilden den grundlegenden Rahmen, in dem Kriterien für Qualität in den einzelnen Qualitätsbereichen festgelegt wurden. Diese Leitgesichtspunkte sind: –– Räumliche Bedingungen: Innenbereich, Außenbereich –– Erzieherin-Kind-Interaktion: Beobachtung, Dialogs- und Beteiligungsbereitschaft, Dokumentation –– Planung: Grundlagen/Orientierung, pädagogische Inhalte und Prozesse, Dokumentation –– Vielfalt und Nutzung von Material –– Individualisierung: Berücksichtigung individueller Bedürfnisse und Interessen, individueller Umgang mit Material und Angeboten –– Partizipation: Einbeziehung der Kinder in Entscheidungs- und Gestaltungsprozesse, Balance zwischen Individuum und Gruppe Für die Arbeit mit dem Katalog wird ein Verfahren in sieben Schritten vorgeschlagen: Schritt: Situationsanalyse Der Kriterienkatalog enthält eine Checkliste zur Selbstevaluation in jedem Qualitätsbereich, der »beste Fachpraxis« beschreibt. Diese Checkliste wird von jeder Fachkraft ausgefüllt, um den IST-Stand in der Einrichtung zu erfassen. Schritt: Qualitätsprofil der Einrichtung Bestandteil dieses Formblattes ist ein Qualitätsprofil der Einrichtung, das sich aus den Einschätzungen der einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ergibt.

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Qualitätsbestimmung und Qualitätsentwicklung in Kindertagesstätten

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Schritt: Fachliche Orientierung Diese Phase ist der Teil des Qualitätsentwicklungsprozesses, in der das Team sich intensiv mit ausgewählten fachlichen Fragen beschäftigt und dies als gemeinsame Fortbildung versteht. Ziel ist es, einen fachlichen Konsens über die anzustrebende Qualität herzustellen. Schritt: Diskussion von Veränderungszielen In dieser Phase diskutiert das Team, wo es die Qualität der pädagogischen Arbeit verbessern will und bezieht dabei die Ergebnisse der fachlichen Orientierung ein. Es formuliert ausgehend von ausgewählten Merkmalen des Qualitätsbereichs eigene zu erreichende Qualitätsziele, Erhaltensziele und Veränderungsziele. Schritt: Zielvereinbarungen In einer Zielvereinbarung legt das Team die Qualitätsziele für die Einrichtung fest und alle Beteiligten bestätigen die Verbindlichkeit durch ihre Unterschrift. Schritt: Planung von Umsetzungsschritten In dieser Phase werden konkrete, überprüfbare Schritte der Erreichung eines Qualitätsziels benannt und die zeitlichen, organisatorischen und inhaltlichen Aspekte sowie die personellen Verantwortlichkeiten zur Erreichung der Ziele festgelegt. Schritt: Ergebnissicherung In der Phase der Ergebnissicherung wird festgestellt, ob ein Qualitätsziel (SOLL) verwirklicht worden ist. Dieser Schritt schließt einen Zyklus der Qualitätsentwicklung ab und ist dann Ausgangspunkt für ein neues Ziel in diesem Qualitätsbereich (neuer IST-Zustand). Für alle Phasen enthält der Kriterienkatalog Formblätter, die übersichtlich und gut handhabbar sind, und daher den Prozess sehr gut unterstützen können. Die pädagogische Leitung der Einrichtung hat eine wichtige Steuerungsfunktion zu erfüllen, die z. B. darin besteht, zu motivieren, zu informieren und zu moderieren, Ziele zu vereinbaren, den Prozess zu koordinieren und zu dokumentieren und letztlich die Ergebnisse auszuwerten.

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Das »Kieler Instrumentarium für Elementarpädagogik und Leistungsqualität« (K.I. E.L) zur internen und externen Evaluation von Kindertagesstätten

Das K.I. E.L. geht von 14 grundlegenden Qualitätselementen in der Kindertagesstätte aus, die sich ebenso wie im »Nationalen Kriterienkatalog« an den drei Teilbereichen »Strukturqualität«, »Orientierungsqualität« und »Prozessqualität« orientieren (vgl. www.kita-portal-mv.de): –– Eine professionelle Grundorientierung, d. h. die pädagogischen Fachkräfte kennen aktuelle elementarpädagogische Diskurse und beziehen sie auf ihre pädagogische Praxis. –– Orientierung am Kind, d. h. die pädagogischen Fachkräfte orientieren sich an den Bedürfnissen, Interessen und Vorverständnissen der Kinder und verfügen über entsprechende Beobachtungs- und Analysekompetenzen. –– Professionelles Selbstverständnis als Fachkraft, d. h. die pädagogischen Fachkräfte sind in der Lage, ihre eigenen Sach-, Personal-, Sozial- und Methodenkompetenzen richtig einzuschätzen und eigene Entwicklungsaufgaben davon abzuleiten. –– Professionelle Arbeit mit Kindern, d. h. die pädagogischen Fachkräfte planen die Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsarbeit in der Einrichtung vor dem Hintergrund aktueller Theorien und Forschungsergebnisse und beziehen diese in die Begleitung und Evaluation von Bildungsprozessen ein. –– Leitungsfunktion, d. h. alle in der Einrichtung beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind sich der Bedeutung von Leitungsaufgaben bewusst und sind bereit, ihnen von der Leitung übertragene Aufgaben zu erfüllen. –– Arbeit im Team, d. h. Einzelkämpfertum wird zugunsten eines kooperativen Miteinanders zurückgestellt. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fühlen sich für die Qualität der Bildungsarbeit verantwortlich. –– Entwicklungsförderliche Raumgestaltung, d. h. das pädagogische Fachpersonal weiß um die Bedeutung der Raumgestaltung in Bildungsprozessen und ist in der Lage, Räume zu gestalten, in denen sich Kinder wohlfühlen und ihrem natürlichen Explorationsverhalten nachgehen können. –– Öffentlichkeitsarbeit, d. h. die gesamte Einrichtung öffnet sich nach außen und macht Aktivitäten und Pläne öffentlich. –– Fort- und Weiterbildung, d. h. die pädagogischen Fachkräfte wissen um die Bedeutung lebenslangen Lernens und sind bereit und in der Lage, Qualifikationsmaßnahmen wahrzunehmen. –– Zusammenarbeit mit den Eltern, d. h. das pädagogische Fachpersonal ist sich der Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit mit den Eltern bewusst und verfügt über ein breites Repertoire an Möglichkeiten dazu.

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Fazit

–– Zusammenarbeit mit dem Träger, d. h. das pädagogische Fachpersonal entwickelt gemeinsam mit dem Träger die Einrichtung weiter und regt Diskussionen über notwendige Veränderungen an. –– Zusammenarbeit mit Institutionen, d. h. das pädagogische Fachpersonal sucht den Kontakt zu anderen Einrichtungen im sozialen Umfeld. –– Begleitung und Beratung von Praktikantinnen und Praktikanten, d. h. Praktikantinnen und Praktikanten werden als zukünftige pädagogische Fachkräfte angesehen, die neue wissenschaftliche Erkenntnisse in die Einrichtung bringen können. –– Verantwortliche Trägerschaft, d. h. der Träger zeigt sich verantwortlich dafür, Qualitätsmerkmale in der Kindertagesstätte zu unterstützen, zu evaluieren und ggf. Qualitätsentwicklungsmaßnahmen einzuleiten. Die Qualitätskriterien werden anhand von praktischen Beispielen aus der Kita eingeschätzt, wobei es 4 Einschätzungsstufen gibt. Der idealtypische Ablauf des K.I. E.L. gestaltet sich folgendermaßen: Zunächst erfolgt eine Verständigung über die Notwendigkeit qualitätssichernder Maßnahmen im Team. Anschließend wird Kontakt zum Kieler Institut aufgenommen und es erfolgt ein Treffen zwischen Institut und Team, bei dem Absprachen zu Ablauf, Zielstellung etc. getroffen werden und ein Vertrag abgeschlossen wird. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beginnen in Eigenarbeit die Items des Fragebogens zum K.I. E.L. zu bearbeiten, wobei für jedes Item drei Belegbeispiele formuliert werden müssen, um das Item letztlich einer Bewertung zuzuführen. Ausgehend von diesen Ergebnissen werden SOLL-Vorgaben formuliert und Wege der Umsetzung mit einem Auditor besprochen. Im Prozess der Umsetzung der SOLL-Vorgaben wird ein Qualitätshandbuch geführt, das sowohl beim Zwischenergebnistreffen (2 Tage) als auch beim Abschlusstreffen ausgewertet wird. Nach erfolgreicher Evaluation erhält die Einrichtung ein Abschlusszertifikat, das gültig für 3 Jahre ist. In dieser Zeit verpflichten sich Träger und Mitarbeiterinnen für eine gleichbleibende und im K.I. E.L. exakt beschriebene Qualität der Einrichtung zu sorgen.

1.6 Fazit Kindheit wird heute als eigenständige Lebensphase begriffen, in der die Heranwachsenden sich eine Welt erschließen, die ihnen eine Vielzahl an Entwicklungsaufgaben stellt. Diesen Aufgaben sind Kinder von Natur aus nicht nur gewachsen, sondern sie selbst fordern mit ihrer Neugier und ihrem Wissensdrang das Ent-

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Aktuelle Diskurse um elementarpädagogische Bildung und Erziehung

decken der Welt und die Entwicklung ihrer Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit ihr heraus. Der Kindertagesstätte kommt dabei neben der Bildung und Erziehung in der Familie ein großer Stellenwert zu. Kindertagesstätten müssen sich als einen Raum begreifen, in dem Kinder sicher und unterstützt ihr natürliches Explorationsverhalten erhalten und weiter entwickeln können. Dabei sind sie auf pädagogische Fachkräfte angewiesen, die »sich selbst als personengebundene Träger eines vermittelbaren Bildungsgutes verstehen und in ihrer Person selbst Bildungsmerkmale tragen, die sich für sich selbst und für Kinder als entwicklungsförderlich erweisen. Gemäß dem Motto, dass Kinder und Erwachsene gleichermaßen lernende Subjekte sind und Kinder nicht zu belehrenden Objekten degradiert werden« (Krenz 2010, 9). Dabei werden entwicklungsbedingte Unterschiede von Kindern und Erwachsenen nicht ignoriert, sondern können im Bildungsprozess fruchtbar gemacht werden. Wenn Welterkenntnis nicht als hierarchischer, linearer Prozess begriffen wird, sondern als prinzipiell unabgeschlossener unabschließbarer Differenzierungsprozess, dann liegt eine Vorstellung nahe, die Bildung als lebenslange Herausforderung begreift, die sich Kindern wie Erwachsenen in jeder Phase ihrer Entwicklung stellt. In der sozialen Interaktion zwischen Kindern und pädagogischem Fachpersonal kommt der Beziehungsqualität zwischen den Akteuren eine besondere Bedeutung zu. Eine zentrale Aufgabe von Kindertagesstätten ist, das Vertrauen der Kinder in ihre eigenen Kräfte zu stärken, Konfliktfähigkeit und Resilienz zu unterstützen und damit zu einem positiven Selbstbild des Kindes beizutragen. Das setzt bei den pädagogischen Fachkräften eine Vielzahl an Kompetenzen voraus. Sachkompetenz weist sie als Experten tradierter Wissensbestände aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, z. B. der Pädagogik, der Psychologie, aber ebenso der Mathematik oder den Gesundheitswissenschaften aus. Wahrnehmungs- und Reflexionskompetenz unterstützt einen sensiblen Umgang mit den vielfältigen Handlungssituationen im pädagogischen Alltag. Kommunikationskompetenz ermöglicht den Austausch mit Kindern und im pädagogischen Team. Pädagogische Professionalität ist ein Anspruch, der den pädagogischen Akteuren in der je einzigartigen Situation ein breites Handlungsrepertoire abverlangt, das in unterschiedlichen Qualitäten ausgeprägt sein kann. Diese Qualitäten zu erfassen, zu hinterfragen und weiter zu entwickeln ist ein wichtiger Anspruch elementarpädagogischer Arbeit (vgl. Kap. III dieses Buches).

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Kapitel II: Impulse für die Elementarpädagogik

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Zur Einführung

Die Elementarpädagogik als noch junge Teildisziplin der Erziehungswissenschaft ist eine Disziplin, die durch zahlreiche pädagogische Ansätze und Theorien vorbereitet wurde und beeinflusst wird. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es im deutschsprachigen Raum verschiedene Institutionen im frühkindlichen Bereich. Mit den Reformen der öffentlichen Kleinkinderziehung und Schule zwischen 1890 und 1930 wurden Vorläufer der Reformpädagogik, wie z. B. die Theorien und Praxisbeispiele der Pädagogen Johann-Heinrich Pestalozzi und Friedrich Fröbel, verstärkt rezipiert und ihre Ideen zu neuen Verständnissen von Bildung und Erziehung sowie praktischen Reformansätzen im frühkindlichen Bereich weiterentwickelt. Darüber hinaus entstanden vor dem Hintergrund charakteristischer Merkmale der Epoche und internationaler Verflechtungen und Diskurse neue reformpädagogische Intentionen und Schwerpunktsetzungen. In diesem Kapitel sollen an ausgewählten Beispielen Entwicklungslinien aufgezeigt werden, die implizit oder explizit zur Entwicklung und zu aktuellen Debatten um frühpädagogische Theorie und Praxis einen Beitrag geleistet haben, leisten oder leisten können, teilweise aber bislang gar nicht oder wenig im Fokus des elementarpädagogischen Diskurses standen. Vor dem Hintergrund, dass die Pädagogik der frühen Kindheit auf eine sehr viel kürzere Tradition zurückblicken kann als z. B. die Allgemeine Pädagogik, die Schulpädagogik oder Sozialpädagogik, und davon ausgegangen werden darf, dass es neben entwicklungsbedingten oder zeithistorischen Spezifika auch Gemeinsamkeiten im Hinblick auf Bildungs- und Erziehungsprozesse gibt, erscheint es legitim, nach der Bedeutung von Theorien und Diskursen auch aus diesen Bereichen für die Elementarpädagogik zu fragen. Gleiches sollte zukünftig auch in umgekehrter Richtung Berücksichtigung finden. Des Weiteren folgt die Darstellung der Annahme, dass pädagogische Grundsätze und Theorien nicht unwesentlich durch biografische Erfahrungen und deren zeitgeschichtliche Einbettung beeinflusst sind. Daher werden nach einer kurzen Einführung der ausgewählten Pädagoginnen und Pädagogen zunächst ihr Leben, anschließend ihr pädagogisches Werk und in einem dritten Schritt

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Impulse für die Elementarpädagogik

Impulse für die aktuelle Elementarpädagogik skizziert, die, wohl wissend, dass dabei nur einzelne Aspekte des Ansatzes in den Mittelpunkt treten, durch Exkurse ins aktuelle elementarpädagogische Feld ergänzt werden. Die Zusammenstellung der pädagogischen Ansätze folgt keiner strengen Systematik, sondern beabsichtigt lediglich einige Gemeinsamkeiten, wie auch Unterschiede in den Verständnissen herauszuarbeiten.

2.1 Johann Heinrich Pestalozzi – Friedrich Fröbel – Henriette Schrader-Breymann

1746–1827

1782–1852

1827–1899

Zwischen Johann-Heinrich Pestalozzi, Friedrich Fröbel und Henriette Schrader-Breymann gibt es zahlreiche Bezüge. So ist Fröbel ein unmittelbarer Schüler Pestalozzis. Seine pädagogischen Grundüberlegungen hat er bereits als Erzieher an der »Musterschule« in Frankfurt/Main kennengelernt, wo Fröbel im Jahr 1805 arbeitet. In der Zeit zwischen 1808 und 1810 lernt er Pestalozzi persönlich kennen. In dieser Zeit lebt er mit drei adligen Heranwachsenden, die unter seiner Aufsicht gebildet und erzogen werden sollen, in Pestalozzis Institut in Iferten in der Schweiz. Nach anfänglicher überschwänglicher Sympathie zeigt sich Fröbel zum Ende seines Aufenthaltes hin enttäuscht über Pestalozzis Starrheit im Umgang mit seinen Mitarbeitern. Seine unmittelbare Erfahrung in der Umsetzung der Lehre Pestalozzis führt zu einer Weiterentwicklung wesentlicher Elemente seiner Theorie, wie z. B. der Elementarmethode. Fröbel entdeckt die fundamentale Bedeutung der frühen Kindheit und nimmt so gegenüber seinem Lehrer eine eigene, ganz spezifische Schwerpunktsetzung vor. Das Verhältnis zwischen beiden Pädagogen bleibt zeitlebens gespannt.

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Johann Heinrich Pestalozzi – Friedrich Fröbel – Henriette Schrader-Breymann

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Schrader-Breymann ist eine Großnichte von Fröbel. Sie besucht von 1848 bis 1854 zunächst als Schülerin und später als Erzieherin die von ihm gegründete Bildungs- und Erziehungsinstitution in Keilhau bei Rudolstadt. Später gründet sie eine eigene Bildungs- und Erziehungseinrichtung für Mädchen im Alter von 7 bis 18 Jahren, den »Verein für Volkskindergärten und Volkserziehung«, und das noch heute in Berlin existierende »Pestalozzi-Fröbel-Haus«, für dessen Konzeption und theoretische Basis die Pädagogik Pestalozzis und Fröbels von zentraler Bedeutung sind. 2.1.1 Johann-Heinrich Pestalozzi: Lernen mit Kopf, Herz und Hand Leben

Johann-Heinrich Pestalozzi wird 1746 in Zürich geboren und stirbt mit 81 Jahren 1827 in Brugg. Sein Vater ist ein gebürtiger Städter und als Wund- und Augenarzt tätig. Seine Mutter stammt vom Land, hatte wenig Umgang mit anderen Menschen und wird von Pestalozzi selbst als wenig weltoffene und eher schlichte Natur beschrieben (vgl. Adl-Amini 2001, 141 ff.). Pestalozzi wächst gemeinsam mit einem wenig älteren Bruder, einer fünf Jahre jüngeren Schwester und unter der Obhut der Dienstmagd Babeli in sehr beengten Verhältnissen auf, einer Situation, die sich nach dem frühen Tod des Vaters noch verschärft. Von besonderer Bedeutung für Pestalozzis Entwicklung ist sein Großvater väterlicherseits, Andreas Pestaluz-Ott, der als Pfarrer in Höngg, einem Dorf unweit von Zürich, lebt. Pestalozzi ist oft bei seinem Großvater. Dabei sind vor allem drei Eindrücke prägend: »[…] einmal die überaus rührige Seelsorge des Dekans in seiner Gemeinde, die er infolge großer menschlicher Eigenschaften schlechthin vorbildlich leistete, dann die Schulsorge dieses Mannes, der sich vergeblich bemühte, eine schlechte Didaktik mit einer guten Erziehung in Einklang zu bringen, schließlich aber die Lage des armen Landvolkes, das schwer sein Dasein fristete« (Schönebaum 1927, 3 f.). Den Großvater erlebt er als stark, weitsichtig, gerecht und in sich ruhend, während er mit der Natur des eher schwachen und früh verstorbenen Vaters lebenslang hadert. »Vater« ist für Pestalozzi zuallererst göttlicher Vater, der für Gerechtigkeit, Sittlichkeit und Verantwortungsbewusstsein steht, sittliche Haltungen, die auf Erden vom Landesvater und vom Vater in der Familie erwartet werden. Pestalozzi überhöht die Figur des Vaters in einer Weise, an der er bei der Erziehung seines eigenen Sohnes scheitern muss. »Vatersein ist nichts für Schwache und Anlehnungsbedürftige. Der Vater muss stark sein, damit seine Kinder sich an ihn anlehnen können. So wenig Gott als

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Impulse für die Elementarpädagogik

himmlischer Vater schwach und anlehnungsbedürftig ist, so wenig darf ein irdischer Vater schwächlich sein« (Adl-Amini 2001, 65).

Der Mutter weist Pestalozzi in seinen Schriften die Aufgabe der »Stubenlehrerin« zu, die ihr Kind durch genaue liebevolle, aber konsequente Unterweisung unterrichtet, eine Unterweisung, die Pestalozzi bei seiner eigenen Mutter vermisst. Im »Buch der Mütter« und später in »Wie Gertrud ihre Kinder lehrt« stellt er seine Methode detailliert dar. »Bemerken« und »Reden« stellen die Grundelemente der Methode dar, die in zahlreichen Übungen ihren Ausdruck finden und z. B dazu anleiten, das Vor- und Nachsprechen von Lauten und Wortfolgen bis zu 50-mal täglich zu wiederholen. Die Mutter soll das Kind zum Tun ermutigen und zum Sein anleiten, aber wie dies zu geschehen hat, bestimmt nicht die Mutter und nicht das Kind, sondern die Methode, die Ausdruck eines göttlichen Planes ist, denn »Für Pestalozzi ist Bildung die Perfektion des Perfekten, ist totale Lückenlosigkeit und systematische Vollständigkeit« (ebd., 162). 1769 heiratet Pestalozzi Anna Schulthess und 1770 kommt ihr gemeinsamer Sohn Hans Jakob zur Welt. Als dieser dreieinhalb Jahre alt ist, beginnt Pestalozzi seine Methode auf den Sohn anzuwenden, der sehr unter der Strenge des Vaters und den schematischen Abläufen leidet, was sich in einer kränklichen Natur und nur geringen Fortschritten im Lernen niederschlägt. Hans Jakob stirbt mit nur 31 Jahren. Sein Verhältnis zum Vater ist zeitlebens zerrüttet. Zwischen 1773 und 1774 nehmen die Eheleute Pestalozzi vierzig Kinder aus verarmten Familien auf ihrem Landgut auf. Hier will Pestalozzi sittliche-religiöse Erziehung mit praktischer Ausbildung verbinden. Die Kinder lernen: spinnen, weben, das Land bestellen und werden in der Religion unterwiesen. Pestalozzi hofft von den Erträgen das Gut erhalten zu können, muss die Anstalt aber nach fünf Jahren wieder schließen. In den darauf folgenden zwanzig Jahren widmet er sich vor allem dem Schreiben. 1799 gründet Pestalozzi ein Waisen- und Armenhaus in Stans und ein Jahr später sein berühmtes Erziehungsinstitut in Schloss Burgdorf, das 1804 nach Yverdon-les-Bains übersiedelt. Interne Streitigkeiten führen auch zum Scheitern dieser Einrichtung, die 1825 geschlossen werden muss. Pestalozzi zieht sich auf sein Gut zurück und stirbt zwei Jahre später. Werk

Ähnlich wie aktuelle lernpsychologische Ansätze geht die Pädagogik Pestalozzis davon aus, dass alle wesentlichen Kräfte beim Kind natürlich angelegt sind und durch lernförderliches Tun und geeignetes Material entfaltet werden können. In diesem Zusammenhang ist es die Aufgabe des Pädagogen zwischen den natürlichen Anlagen des Kindes, den Regeln menschlichen Zusammenlebens und

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Johann Heinrich Pestalozzi – Friedrich Fröbel – Henriette Schrader-Breymann

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tradiertem Wissen zu vermitteln. Herz, Kopf und Hand sollen dabei gleichermaßen gefördert werden, denn sie bilden für Pestalozzi die drei Hauptwurzeln der Vollkommenheit des Menschen, wie sie nach seinem Verständnis göttlich angelegt ist. »Herz, Kopf und Hand sind zunächst nichts als die drei Grundlagen, die in der menschlichen Natur schlummern und auf ihre Vervollkommnung und Veredlung warten. Ohne Erziehung und Bildung verkümmern sie, und das soll unbedingt verhindert werden, denn die Natur will, dass sie gefördert werden« (ebd., 163). Herz, Kopf und Hand stehen für einen ganzheitlichen Bildungsansatz, der sowohl sittliche Bildung, als auch intellektuelle und künstlerisch-kreative Bildung einschließt, wobei der sittlichen und emotionalen Bildung, der »Herzensbildung«, ein besonderer Stellenwert eingeräumt wird. Empathie, Mitmenschlichkeit, Gemeinschaft stellen zentrale Werte dar. In der praktischen Umsetzung seiner Pädagogik sensibilisiert Pestalozzi dafür, dass es die Lebensumstände sind, die das Lernen des Kindes entscheidend beeinflussen. Bildung kann einen Beitrag dazu leisten, die Kräfte der Heranwachsenden (bei Pestalozzi sind es vor allem die armen und sozial benachteiligten Kinder) zu stärken und sie zu eigenständigem und selbstverantwortlichem Leben zu befähigen. Dabei folgt Pestalozzi keiner ausgefeilten Theorie und bedient sich keiner künstlichen Hilfsmittel, sondern er entscheidet sich, »die die Kinder umgebende Natur, die täglichen Bedürfnisse und die immer rege Tätigkeit derselben selbst als Bildungsmittel derselben zu benutzen« (nach Klafki 1971, 11). In der Einheit von Handeln, Sprache und Emotion gilt es, Lernprozesse zu initiieren, die ihren Ausgangspunkt im alltäglichen Miteinander haben und in Anlehnung an die häusliche Erziehung durch einen liebevollen Umgang mit den Zöglingen bestimmt sind. Der Rolle des Erziehers weißt er dabei eine Bedeutung zu, die der einer Mutter oder eines Vaters gleichkommt. »Jede gute Menschenerziehung fordert, dass das Mutteraug in der Wohnstube täglich und stündlich jede Veränderung des Seelenzustandes ihres Kindes mit Sicherheit in seinem Auge, auf seinem Munde und seiner Stirn lese. Sie forderte wesentlich, dass die Kraft des Erziehers reine, und durch das Dasein des ganzen Umfangs der häuslichen Verhältnisse allgemein belebte Vaterkraft sei. Hierauf baute ich. Dass mein Herz an meinen Kindern hange, dass ihr Glück mein Glück, ihre Freude meine Freude sei, das sollten meine Kinder vom frühen Morgen bis an den späten Abend, in jedem Augenblick auf meiner Stirne sehen, und auf meinen Lippen ahnden« (ebd., 12). Pestalozzi sieht in der vertrauensvollen Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern die entscheidende Grundlage, die pädagogische Arbeit erst möglich macht. »Vor allem wollte und musste ich also das Zutrauen der Kinder, und ihre Anhänglichkeit zu gewinnen suchen. Gelang mir dieses, so erwartete ich zuversichtlich alles Übrige von selbst« (ebd.).

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Impulse für die Elementarpädagogik

Zur Rolle der direkten Instruktion finden sich in den Schriften Pestalozzis widersprüchliche Aussagen. In seinem »Buch der Mütter« beschreibt Pestalozzi Übungen, die zeigen, welch lückenloses, systematisches und akribisches Einwirken er bereits bei Säuglingen für pädagogisch wertvoll hält. Ein Beispiel dafür ist die dritte Übung, mit der die Mutter durch ständige Wiederholung wichtiger Körperglieder ihr Kind unterweisen soll. »Der Kopf ist ein Teil des Körpers; das Angesicht ist ein Teil des Kopfes. Die Stirn ist ein Teil des Angesichts. Der Kopf ist ein Teil des Körpers; das Angesicht ist ein Teil des Kopfes. Die Augenbrauen sind Teile des Angesichts; die rechte Augenbraue ist ein Teil der rechten Seite des Angesichts. Die linke Augenbraue ist ein Teil der linken Seite des Angesichts« (zitiert nach Adl-Amini 2001, 159 f.). Dagegen beschreibt er in seinem »Brief an einen Freund über seinen Aufenthalt in Stans« (1799) eine Haltung, die eher indirektes Lernen favorisiert. »Ich habe meinen Kindern unendlich wenig erklärt; ich habe sie weder Moral, noch Religion gelehrt; aber, wenn sie still waren, dass man eines jeden Atemzug hörte, dann fragte ich sie: Werdet ihr nicht vernünftiger und braver, wenn ihr so seid, als wenn ihr lärmet?« (nach Klafki 1971, 19). Dem Lernen aus Erfahrung wird besondere Bedeutung beigemessen, da das selbst Erfahrende von den Heranwachsenden unmittelbar empfunden wird und sich daher nachhaltiger einprägt. Erfahrung soll auf das ausgerichtet sein, was der Mensch in seinem alltäglichen Leben braucht: Lesen, Schreiben, Rechnen, Religion, aber auch alltägliche Verrichtungen im Haushalt oder auf dem Feld. Die meisten der hier angesprochenen pädagogischen Grundsätze und Überzeugungen sind auch heute noch hochaktuell. Es sei aber auch auf einen problematischen Aspekt hingewiesen, der in der Zusammenschau von Leben und Werk von Pestalozzi, die Bedeutung der pädagogischen (Selbst)Reflexion unterstreicht. Für sein einziges Kind, Hans Jakob, an dem er seine im »Buch der Mütter« beschriebene Methode anwandte, war Pestalozzi ein äußerst problematischer Vater, der die Entwicklung des Jungen durch seine pädagogischen Interventionen eher behinderte, als dass er sie beförderte. Sein Erziehungsstil seinem Sohn gegenüber war durch Strenge, wenig Empathie und einem Hang zur systematischen Unterweisung gekennzeichnet. So kommt ein Biograph Pestalozzis zu dem Schluss: »Hans Jakob war zart und schwächlich, fragil, krank und gebrechlich. Er starb mit 31 Jahren, ohne wirklich gelebt zu haben. War das ›sein‹ Schicksal, war das ›seine‹ Natur, oder hat die unangemessen harte Erziehung durch den Vater ihn gebrechlich gemacht und am Ende gebrochen« (Adl-Amini 2001, 173)?

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Impulse für die aktuelle Elementarpädagogik

Unabhängig von der zeitgeschichtlichen Bedeutung der Pädagogik Pestalozzis sind es vor allen Dingen sein Bild vom Kind als vollwertigem Wesen, das mit einer natürlichen Grundausstattung der Welt begegnet, und seine Überzeugung, dass eine natürliche, entwicklungsförderliche Umgebung die Entfaltung dieser natürlichen Anlagen begünstigen kann, die für den aktuellen elementarpädagogischen Diskurs von Bedeutung sind. Zahlreiche Praxisansätze, z. B. Kindertagesstätten, die nach Montessori, Freinet oder dem Situationsansatz arbeiten, folgen der Überzeugung, dass alltägliche Lebenssituationen als Bildungssituationen fungieren können, wenn Lernprozesse auf alltägliche Verrichtungen ausgerichtet sind, in denen unmittelbare Erfahrungen auf unterschiedlichen Ebenen gewonnen werden können. Dabei hat ganzheitliches Lernen mit Herz, Kopf und Hand einen zentralen Stellenwert, wenn Erfahrungen nachhaltig zu Haltungen, Erkenntnissen und Handlungsmöglichkeiten beitragen sollen. Der Beziehungsebene zwischen erwachsenen Begleitern und den Kindern und der Kinder untereinander wird dabei ein besonderer Stellenwert eingeräumt. Es besteht Konsens darüber, dass Kinder für ihre Entwicklung neben einem Klima der Sicherheit und des Wohlwollens im Alltag Herausforderungen brauchen, anhand derer sie sich ausprobieren und an denen sie wachsen können. Der Nachahmung und Weiterentwicklung von Handlungen und Strategien kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Kinder lernen auch durch Beobachtung von Erwachsenen. Wenn Pestalozzi auf das Vorbild der Eltern und des Erziehers als entscheidende Einflussgrößen auf die Entwicklung des Kindes verweist, stellt er die Notwendigkeit des Austausches zwischen diesen Personen und die Bedeutung der (Selbst)Reflexion aller am Bildungs- und Erziehungsprozess Beteiligten heraus – ein Aspekt, der seit Mitte der 1990er Jahre unter Elementarpädagogen verstärkt diskutiert wird. Exkurs: Reflexion der eigenen Vorverständnisse in der Erzieherausbildung am Pädagogischen Kolleg in Rostock

Das Pädagogische Kolleg Rostock ist eine Fachschule für Sozialpädagogik, die seit 1998 Staatlich anerkannte Erzieherinnen und Erzieher ausbildet. Im Rahmen biographischen Lernens wird der Reflexion von anthropologischen Grundannahmen und Rollenverständnissen von Anfang an ein großer Stellenwert eingeräumt. Dabei werden verschiedene methodische Formen, wie das Erzählen, das Vorlesen von Texten und Geschichten, das kreative Schreiben, Malen und Gestalten, Selbsterfahrungslernen, Körperarbeit, die Auseinandersetzung mit Kinder- und Bilderbüchern und Zukunftswerkstätten, eingesetzt, die z. B. im Portfolio zusammengeführt werden können.

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Impulse für die Elementarpädagogik

Inhaltlich werden die Ziele verfolgt, grundlegende positive Motive beruflichen Handelns zu entwickeln und zu stabilisieren, Kinder grundsätzlich vor dem Hintergrund eines positiven Menschenbildes zu betrachten, selbst erlebte negative Erfahrungen zu bewältigen, um so einschränkende Wiederholungszwänge zu vermeiden und eigene Visionen für das pädagogische Handeln zu entwickeln. In diesem Zusammenhang werden z. B. Übungen durchgeführt, die darauf ausgerichtet sind, Regie abgeben zu lernen, nicht über die Kinder hinwegzugehen oder Grenzen für unerwünschtes Verhalten so zeigen zu können, dass das Kind damit konstruktiv umgehen kann. Bei dem gesamten Vorgehen wird davon ausgegangen, dass nicht nur das Lernen von Kindern, sondern ebenso das von Erwachsenen immer auch die Veränderung bereits vorhandener Einstellungen und Verständnisse bedeutet und daher rezeptivem Lernen deutliche Grenzen gesetzt sind. Vielmehr gilt es die eigenaktive Auseinandersetzung zu stärken und Wege aufzuzeigen, wie positive Entwicklungen unterstützt werden können. 2.1.2 Friedrich Fröbel: Ganzheitliches Lernen im Spiel Leben

Friedrich Fröbel wird 1782 in Oberweißbach (Thüringen) als sechstes Kind des Pfarrers Johann Jacob Fröbel und seiner Frau Jacobine Eleonore geboren. Fröbels Mutter stirbt in seinem neunten Lebensmonat, sodass er in den ersten Lebensjahren vor allem unter dem Einfluss seines Vaters und seiner älteren Geschwister steht. Als Fröbel drei Jahre alt ist, heiratet sein Vater erneut. Nach anfänglich gutem Verhältnis zur Stiefmutter verschlechtert sich die Beziehung, als diese eigene Kinder bekommt, die sie ihren Stiefkindern vorzieht. Der Junge zieht sich in der Folge zurück und wendet sich verstärkt der Naturbeobachtung zu. Vonseiten des Vaters wird Fröbels Kindheit vor allem durch dessen dogmatische Frömmigkeit bestimmt. »Tägliche Morgen- und Abendandachten sowie der sonntägliche Besuch des Gottesdienstes, dem Friedrich allein in der Sakristei beiwohnen musste, banden ihn an ein christliches Selbstverständnis, das von Sünde und Strafe bestimmt war und das Kind ängstigte« (Heiland 1999, 10). Eine bedeutende Veränderung bringt der Umzug zu seinem Onkel Johann Christoph Hoffmann nach Stadt Ilm in seinem 10. Lebensjahr. Fröbel besucht die Elementarschule, glänzt aber keinesfalls mit guten Schulnoten, worauf der Vater ihm im Gegensatz zu seinen Brüdern ein Studium verweigert. 15-Jährig geht Fröbel in eine Lehre als Feldvermesser, wird aber bereits nach zwei Jahren entlassen, da man mit seiner Arbeit unzufrieden ist. Nach Einlenken des Vaters nimmt Fröbel 1799–1801 ein Studium der Naturwissenschaften in Jena auf. Um

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1805 findet er in Frankfurt erstmals Zugang zum pädagogischen Beruf als Lehrer und Hauslehrer. Von 1806–1810 ist Fröbel Hauslehrer bei der Familie von Holzhausen und mit der Erziehung der drei Söhne betraut. In diese Zeit fallen ein zweiwöchiger und ein zweijähriger Aufenthalt Fröbels in Pestalozzis Erziehungs-Institut in Iferten, wo er sich intensiv mit dessen Erziehungstheorie und ihrer Umsetzung auseinandersetzt. Nach Kündigung der Hauslehrerstelle studiert Fröbel ab 1812 in Berlin und tritt 1814 eine Anstellung als Assistent im Mineralogischen Institut der Universität an. Nach dem Tod seines Bruders 1816 widmet sich Fröbel gemeinsam mit seiner Frau Henriette Wilhelmine Hoffmeister der Erziehung seiner drei Neffen und gründet die Erziehungsanstalt in Griesheim, die ein Jahr später nach Keilhau verlegt wird und sich bis 1831 zu einem Internat mit Familiencharakter entwickelt. 1831 gründet Fröbel eine Erziehungsanstalt in Wartensee bei Luzern, die zwei Jahre später nach Willisau übersiedelt. 1835 übernimmt er die Leitung des Waisenhauses und der Elementarschule in Burgdorf. Während sich Fröbel in dieser Zeit vor allem mit dem schulpädagogischen Bereich beschäftigt, wendet er sich ab 1835 verstärkt Fragen der Pflege des Klein- und Vorschulkindes zu. 1837 übersiedelt er nach Bad Blankenburg, wo er die »Anstalt zur Pflege des Beschäftigungstriebes der Kinder und Jugend« gründet, mit der Ausbildung von pädagogischem Personal beginnt und seine Konzeption der Spielgaben entwickelt. 1840 wird anlässlich des Gutenberg-Festes die Stiftung des Allgemeinen Deutschen Kindergartens in Keilhau und Blankenburg gegründet. Zahlreiche Spielkreise entstehen, die sich die Spielpflege zur Aufgabe machen. Einen herben Einschnitt in diese Entwicklung stellt das Verbot der Fröbel’schen Kindergärten 1851 in Preußen dar, das erst 1860 wieder aufgehoben wird. Diese Entscheidung des Verbotes wird damit begründet, dass die Kindergärten von Fröbel »einen Teil des Fröbel’schen sozialistischen Systems (darstellen), das auf die Heranbildung der Jugend zum Atheismus gerichtet ist« (zitiert nach Heiland 1999, 120). 1852 stirbt Fröbel in Schloss Marienthal. Werk

Ausgehend von naturwissenschaftlichen Studien und Beobachtungen entwickelt Fröbel in seiner Pädagogik ein eigenständiges Weltbild, das im »sphärischen Gesetz« seinen Ausdruck findet. Danach geht alles zunächst von einer Einheit aus und strebt zu ihr zurück. Das trifft für das Universum ebenso wie für den Menschen zu, den er in Anlehnung an Pestalozzi als Einheit der drei Hauptkräfte Körper, Seele und Geist begreift. In Gott sieht Fröbel den Ursprung aller Erscheinungen und die verbindende Kraft zwischen Mensch und Natur. Erziehung hat in diesem Zusammenhang die Bestimmung, die drei Kräfte zu einem

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Ganzen auszubilden (vgl. Frey/Gehrlein/Wosnitza 2006, 48 ff.) und damit das natürlich angelegte göttliche Wesen des Menschen hervorzubringen. Dabei geht Fröbels Pädagogik von einer ursprünglichen Anlage aus, die nach freier Entfaltung strebt und nicht durch künstliche Begrenzungen und äußere Bestimmungen eingeschränkt werden darf. Der handelnden Auseinandersetzung mit der Umgebung, der Selbsttätigkeit, die inneres Wesen des Menschen und äußere Welt miteinander verbindet, misst Fröbel dabei eine besondere Bedeutung bei. »Darum soll und muss das Kind, der junge Mensch, gleich von seinem Erscheinen auf der Erde, gleich von seiner Geburt an, seinem Wesen nach aufgefasst, richtig behandelt und in den freien, allseitigen Gebrauch seiner Kraft gesetzt werden. Nicht soll der Gebrauch einiger Kräfte und Glieder auf Unkosten der anderen befördert und diese in ihrer Entfaltung gehemmt, das Kind soll weder teilweise gekettet, gefesselt, gewickelt, noch später gegängelt werden. Den Schwerpunkt, den Beziehungspunkt aller seiner Kräfte und Glieder in sich zu finden, in demselben zu ruhen, darin ruhend sich zu bewegen, frei zu bewegen und tätig zu sein, mit eigenen Händen zu greifen und festzuhalten, auf eigenen Füßen zu stehen und zu gehen, mit eigenen Augen zu finden und anzuschauen, alle seine Glieder gleichmäßig, gleichkräftig zu gebrauchen, das soll der junge Mensch, das Kind, früh lernen« (Fröbel 1982, 20). An die Stelle der Belehrung, wie sie Pestalozzi in Form verschiedener Übungen empfiehlt, tritt in der Fröbel’schen Pädagogik das Spiel mit den Möglichkeiten. An die Stelle isolierter, abstrakter, kognitiver Übungen tritt das Wahrnehmen und Erfahren in lebensnahen, ganzheitlichen Situationen (vgl. Heiland 1999, 114). Fröbel geht von einem angeborenen Tätigkeitstrieb aus, der sich in der frühen Kindheit in erster Linie im Spiel realisiert und durch Spielen angeregt und ausgebaut werden kann. Im Kindergarten Fröbels bestimmen drei Tätigkeitsbereiche den Alltag der Kinder: die Auseinandersetzung mit Spiel- und Beschäftigungsmitteln, Bewegungsspiele und die Gartenpflege. In der frühen Kindheit ist das Spiel »das reinste geistige Erzeugnis des Menschen […] und ist zugleich das Vorbild und Nachbild des gesamten Menschenlebens, des Innern geheimen Naturlebens im Menschen und in allen Dingen; es gebiert darum Freude, Freiheit, Zufriedenheit, Ruhe in sich und außer sich, Frieden mit der Welt« (Fröbel 1982, 36). Spielend entwickelt das Kind verschiedene Grundfähigkeiten in einem Prozess, der durch die Bereitstellung spezieller Spielgaben und Spielmaterialien unterstützt werden kann. Dem Spiel in der Natur kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, da jede natürliche Erscheinung einen Teil der Vielfalt der Natur repräsentiert. Kindergärten im Sinne Fröbels sollten den Heranwachsenden das Pflegen kleiner Gärten, das Behüten und Pflegen der

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Natur und damit den verantwortlichen Umgang mit der Schöpfung ermöglichen. Spielgaben und Beschäftigungsmittel repräsentieren Ausschnitte der Wirklichkeit, die im spielerischen Umgang mit ihnen Einblicke in größere Zusammenhänge ermöglichen. »Durch das Spiel mit den Gaben wird das Kind zum Einen mit den Naturgesetzen vertraut (Mathematik), zum anderen werden seine sensorischen, motorischen, kognitiven, emotionalen und kreativen Fähigkeiten gefördert. Damit sollen die Spielgaben ›ins eigene Leben einführen‹« (Frey/ Gehrlein/Wosnitza 2006, 121 f.). Spielgaben sind z. B. Würfel, Walzen, Stoffbällchen, Legetäfelchen, Muscheln und Materialien zum Falten, Nähen etc.. Daneben gibt es Beschäftigungsmaterialien, die teilweise vorgeformt sind, wie z. B. Mosaik-Legetäfelchen und der Fröbel’sche Baukasten, oder formlos, wie z. B. Knete, Ton. Das anzustrebende pädagogische Verhältnis zwischen Kind und Erwachsenem wird in der Pädagogik Fröbels als vertrauensvoll und von Respekt getragen beschrieben. Dabei werden der Beobachtung von Kindern und der Reflexion eigener Kindheitserfahrungen auf Seiten der Erziehenden ein hoher Stellenwert für den Aufbau von Professionalität eingeräumt (vgl. Fröbel 1951). Ausgehend von eigenen Beobachtungen unterscheidet Fröbel Entwicklungsstufen des Menschen, in denen sich verschiedene Entwicklungsaufgaben stellen. Dem Säuglingsalter, in dem das Kind erste Erfahrungen mit der eigenen Sinnlichkeit und seiner Umgebung macht, folgt das Kindesalter, in dem für Fröbel die eigentliche Erziehung des Menschen beginnt. »Die Stufe des Kindes beginnt mit der Entwicklung der Sinnes-, Körper- und Gliedertätigkeit bis hin zum geraden und aufrechten Gang, sowie mit dem ersten Wort als Anfang des Ich-, Gegenstands-, Raum- und Zeitbewusstsein« (Frey/Gehrlein/Wosnitza, Landau 2006, 95). Der Stufe der Kindheit folgen die Stufen des Knaben/Mädchens, des Jünglings/der Jungfrau, des Mannes/der Frau und des Greises/der Matrone. Ähnlich wie Pestalozzi stellt Fröbel die Bedeutung der Familie, insbesondere der Mutter, für die Entwicklung des Kindes in den ersten Lebensjahren heraus. In seinem Buch »Mutter- und Koselieder« schildert Fröbel im ersten Kapitel eindringlich die Bedeutung einer liebevollen Beziehung zwischen Mutter und Kind. Im zweiten Kapitel stellt er 50 Spiellieder zusammen, die der Förderung in unterschiedlichen Sinnesbereichen, der kognitiven und emotionalen Entwicklung des Kindes dienen. Impulse für die aktuelle Elementarpädagogik

In wesentlichen pädagogischen Grundüberzeugungen folgt Fröbel seinem Lehrer Pestalozzi. So eint sie die Überzeugung, dass das Kind von Geburt an mit ursprünglichen und unverletzten Anlagen ausgestattet ist und über einen ange-

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borenen Tätigkeitstrieb verfügt und dass Bildung und Erziehung ihr Ziel verfehlt, wenn sie nicht den Menschen als ganzheitliches Wesen anspricht. Aber anders als Pestalozzi, der seine Pädagogik in erster Linie mit armen Kindern und Jugendlichen im Schulalter entwickelt hat, wendet sich Fröbel der Pädagogik der frühen Kindheit zu und sensibilisiert für die Bedeutung dieser Entwicklungszeit für das ganze weitere Leben. Beobachtungen und theoretische Reflexionen führen ihn zu der Einsicht, dass Wahrnehmung und Bewegung, d. h. sinnliche Erfahrung und körperliche Aktivität, wesentliche Erkenntnisquellen in der frühen Kindheit sind. Dem Spiel weist er dabei die zentrale Rolle zu. Es ist das Medium des Kindes, seine Wirklichkeit konstruktiv zu erfassen und innere und äußere Welt miteinander zu verbinden. Eine auf das Kind abgestimmte Spielumgebung und Materialien, die universellen Gesetzmäßigkeiten folgen, z. B. die Kugel, die Walze, können dem Kind intuitiv Einblick in größere Zusammenhänge geben und damit indirektes Lernen unterstützen. Auch der Gedanke, dass frühe Naturerfahrungen und ein verantwortlicher Umgang mit der Natur sowohl einen Beitrag zur sittlichen Erziehung als auch zum nachhaltigen Erkennen von Zusammenhängen und Strukturen leisten kann, ist heute aktueller denn je und wird z. B. in Wald- und Freilandkindergärten konsequent umgesetzt. Ebenso wie Pestalozzi ist Fröbel davon überzeugt, dass liebevolle ElternKind-Beziehungen und ein vertrauensvoller und wertschätzender Umgang zwischen Erziehenden und Kindern für die Entwicklung von Ich-Stärke, von Selbst- und Weltvertrauen von zentraler Bedeutung sind – ein Gedanke, der u. a. der Umsetzung bindungstheoretischer Überlegungen im Rahmen von Eingewöhnungsmodellen in Kindertagesstätten zugrunde liegt. Exkurs: Das »Zwergennest« in Stuttgart-Hausen

Wie der Bildungsauftrag in eindrucksvoller Weise in einer Kinderkrippe umgesetzt wird, beschreibt Julia Maier (Maier 2009, 32 ff.) anhand der Einrichtung »Zwergennest« in Stuttgart-Hausen. Konzeptionell folgt die Einrichtung dem am Institut für angewandte Sozialforschung entwickelten »infansKonzept« unter Einbeziehung der Kleinkindpädagogik von Emmi Pikler. Im Mittelpunkt steht dabei, an die natürliche Neugier der Kinder anzuknüpfen, ihren angeborenen Forscherdrang zu unterstützen und enge, vertrauensvolle Beziehungen zwischen dem Kind und den erwachsenen Bezugspersonen zu ermöglichen. In der Krippe »Zwergennest« werden 24 Kleinkinder und Babys bis zu drei Jahren von unterschiedlich qualifizierten Mitarbeiterinnen (Diplom-Pädagogin-

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nen, Erzieherinnen, Kinderpflegerinnen, Entspannungspädagoginnen, Praktikantinnen) betreut. »In der Eingewöhnungsphase haben Kinder und Eltern die Möglichkeit, die Einrichtung und die Erzieherin kennenzulernen und Vertrauen aufzubauen. Eine gelungene Eingewöhnung ist der Grundstein für jede weitere Zusammenarbeit mit den Eltern. Für das Kind bedeutet sie noch viel mehr: Es lernt die Krippe und die Beziehungserzieherin als ›sichere Basis‹ für seine weitere Entwicklung kennen« (ebd., 33).

Neben dem Aufbau sicherer Bindungen wird in Anlehnung an Emmi Pikler der beziehungsvollen Pflege und der Selbsterfahrung durch freie Bewegung ein hoher Stellenwert eingeräumt. Als besonders wichtige vertrauensbildende Pflegesituation wird das Wickeln angesehen. »Es ist keine rein pflegerische, sondern eine pädagogische Handlung. In der Wickel- und Pflegesituation erfährt das Kind die ungeteilte Aufmerksamkeit der Erzieherin […] Durch Sprache wird das Tun während des Wickelns begleitet und die Kinder sind aktiv daran beteiligt« (ebd., 34). In der Kinderkrippe »Zwergennest« kann das Kind vielfältige Bewegungserfahrungen machen. Treppen, schiefe Ebenen, unterschiedliches Handlungsmaterial laden zum Austesten des eigenen Körpers ein. »Die Erzieherin unterstützt es dabei durch aufmerksame Anwesenheit. Sie gibt jedoch keine Bewegungsabläufe vor, wie beispielsweise das Führen des Kindes an der Hand oder das frühzeitige Hinsetzen. Erst wenn das Kind sich selbst dazu in der Lage fühlt zu laufen, wird es von ganz alleine damit anfangen. Es muss ihm weder gezeigt, noch vorgemacht werden« (ebd.). Die Entwicklung der Kinder wird vom ersten Tag an von den pädagogischen Fachkräften beobachtet, dokumentiert und im Portfolio durch Lerngeschichten, Zeichnungen, Fotos etc. abgebildet. 2.1.3 Henriette Schrader-Breymann: Hauswirtschaftliche Bildung Leben

Henriette Breymann wird als erstes von zehn Kindern 1827 in Mahlum im Harz geboren. Ihr Vater, Ferdinand Breymann, ist Pfarrer, ihre Mutter, Luise Breymann, geb. Hoffmann, kommt aus einem wohlhabenden Haushalt und ist eine sehr gebildete Frau. Henriette Breymann ist die Großnichte Friedrich Fröbels. Ihre Kindheit ist geprägt durch zahlreiche schwere Krankheiten, die auch Spuren in ihrem späteren Leben hinterlassen. Breymann besucht die Dorfschule,

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erhält von ihrem Vater Privatunterricht, wird 1841 in die Töchterschule nach Wolfenbüttel geschickt, worauf eine Ausbildung bei Verwandten in Reichenbach in Haushaltsführung folgt. Ab 1848 absolviert sie gemeinsam mit ihrer Schwester Marie eine Ausbildung zur Kindergärtnerin bei Fröbel im Landerziehungsheim in Keihau, das Breymann im Vergleich zum orthodoxen Elternhaus als »geistigen Klimawechsel« erlebt (vgl. Lyschinska 1922, 47). Nach enger Zusammenarbeit mit Fröbel kommt es zu ersten Konflikten, da die Großnichte ihren Onkel als zynisch und herrisch erlebt (vgl. ebd., 102). Nach der Loslösung von Fröbel kehrt Breymann in ihr Elternhaus zurück und übernimmt den Unterricht für ihre Geschwister. 1851 tritt sie die Leitung einer konfessionslosen Schule für 10–12-jährige Mädchen in Schweinfurt an und arbeitet nach deren Schließung ein Jahr später weiter als Privatlehrerin. 1854 eröffnet die 27-Jährige eine eigene Erziehungsanstalt im inzwischen nach Watzum umgezogenen Pfarrhaus des Vaters. Breymann hält Vorträge über die Pädagogik Fröbels und gründet 1861 gemeinsam mit ihrer Schwester einen Dorfkindergarten in einer alten Scheune in Watzum. 1864 erfolgen der Umzug und die Eröffnung des Breymann’schen Erziehungsinstituts »Neu-Watzum« in Wolfenbüttel, in dem eine Lehrerinnenausbildungsklasse etabliert wird. Im Zusammenhang mit der Gründung des »Vereins für Erziehung« lernt Breymann ihren späteren Ehemann Schrader kennen. Die Arbeit des Vereins beginnt 1866 mit der Gründung eines Kindergartens im Wolfenbüttler Schloss, in das auch die Ausbildungsstätte »Neu-Watzum« integriert wird. Nach Unstimmigkeiten zwischen den Mitarbeitern zieht sich Breymann in ihr Vaterhaus zurück und eröffnet dort erneut einen Kindergarten, zu dem auch zwei untere Schulklassen gehören. 1872 heiraten Breymann und Schrader. Das Paar zieht nach Berlin, wo Schrader-Breymann einen Kindergarten mit unteren Elementarklassen gründet. Sie arbeitet eng mit dem »Verein für häusliche Gesundheitspflege« und dem »Berliner Verein für Volkserziehung« zusammen. Die verschiedenen Erziehungs- und Ausbildungsstätten des Pestalozzi-Fröbel-Hauses entstehen. Die Anstalt umfasst einen Volkskindergarten mit schulischen Anfangsklassen, eine Koch- und Haushaltsschule und ein Seminar zur Ausbildung von Kindergärtnerinnen und Leiterinnen von Kindereinrichtungen (vgl. ebd., 72). Ab 1877 steht Schrader-Breymann mit den führenden Vertreterinnen der gemäßigten Frauenbewegung, z. B. mit Helene Lange, in Verbindung und pflegt eine enge Freundschaft mit der sozial engagierten Kronprinzessin Victoria und späteren Kaiserin Friedrich. In ihren letzten Lebensjahren reist Schrader-Breymann trotz ihres angeschlagenen gesundheitlichen Zustandes viel. 1896 lernt sie anlässlich einer großen

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Kochausstellung die gut situierte Kaufmannsfrau Wetzel-Heckmann kennen, die dem Verein beim Aufbau eines neuen Hauses an der Grenze von Schöneberg zu Berlin behilflich ist. 1899 stirbt Henriette Schrader-Breymann in Schlachtensee. Werk

Das pädagogische Wirken von Henriette Schrader-Breymann ist zum einen stark beeinflusst durch das Werk von Friedrich Fröbel und zum anderen durch die Bestrebungen der bürgerlichen Frauenbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Von zentraler Bedeutung ist vor diesem Hintergrund das Erziehungskonzept der »geistigen Mütterlichkeit«, das mit der Kindergärtnerin/Erzieherin eine anerkannte Berufsgruppe schuf. Unter »geistiger Mütterlichkeit« versteht Schrader-Breymann eine Fähigkeit, »die das Kleine groß erfasst im Zusammenhange mit dem ganzen Leben, die die Entwicklung der Seele des Kindes schaut und mit keuscher Zurückhaltung ihr sich naht und doch mit inniger Liebe, welche wie Strahlen der Sonne entwickelt wird, ohne sie direkt zu berühren mit ungeschickter Hand; diese Mütterlichkeit, die ihre Macht erstreckt über den Familienkreis hinaus; die ernst macht mit der Nächstenliebe, die der Gesellschaft Mutter ist und ihr hier mit Interesse, dort mit einer Gabe oder endlich mit Einsetzung der Person, zu helfen sucht, wo keine näheren Pflichten fordernd an sie herantreten« (ebd., 157). »Geistige Mütterlichkeit« wird demnach sowohl als Qualifikation für den privaten Bereich in der Familie als auch im beruflichen Bereich der Kinderpflege verstanden und ist nicht in erster Linie auf die Selbstverwirklichung der Frau, sondern im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Nützlichkeit ausgerichtet. Die Unterstellung einer natürlichen Bestimmung und besonderen Befähigung des weiblichen Geschlechts ist sicher eine Antwort auf die männlich geprägte Ideengeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, führt aber letztlich zu einer Verherrlichung der Ungleichheit der Geschlechter und prägt die berufliche Wirklichkeit in sozialpädagogischen Berufen bis in unsere Zeit (vgl. Kleinau/Opitz 1996). In der Tradition von Pestalozzi und Fröbel haben die Kindereinrichtungen von Schrader-Breymann familienähnliche Strukturen und sind nicht isolierte Einrichtungen, sondern werden in Verbindung mit nachfolgenden Bildungsinstitutionen, z. B. Elementarschulen, gesehen und entsprechend organisiert. So können die Übergänge fließend gestaltet und für die Kinder eine größere Kontinuität erhalten werden. Das Kind sieht Schrader-Breymann mit natürlichen Anlagen ausgestattet, auf die erzieherische Bemühungen fördernd oder hemmend einwirken können. Die »Kinderstube« ist der Ort der ganz kleinen Kinder. Für diesen Bereich formuliert Schrader-Breymann die »Geistesmittelnahrungslehre«. Danach sollte die Kinderstube ein Raum sein, in dem »das Kind sich frei […] ausleben und selbst nach und

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Impulse für die Elementarpädagogik

nach an der Herstellung von Ordnung, Reinheit und Schönheit mitarbeiten kann« (Schrader-Breymann 1872, 34 f.). Als nötigen Rahmen eines Kindergartens sieht Schrader-Breymann Räume mit einer Küche, mit hauswirtschaftlichen Geräten und einem Garten, möglichst auch mit Tieren an. Im Mittelpunkt der täglichen Verrichtungen stehen im Kindergarten für sie nicht das Lernen und Aneignen, sondern das Erfahren, das Ansprechen des Gemüts und die Übernahme von Verantwortung für die Gemeinschaft. Dabei orientiert sich das methodische Vorgehen der Kindergärtnerin oder Erzieherin an einem Algorithmus, den Schrader-Breymann »Muster der Behandlung eines Unterredungsgegenstandes im Kindergarten« nennt (ebd., 43). Dabei handelt es sich um ein Vorgehen in vier Phasen (vgl. ebd. 43 ff.): –– Kennenlernen des Gegenstandes in seiner natürlichen Umgebung, z. B. eines Baumes, einer Pflanze, Wahrnehmen des Gegenstandes mit allen Sinnen –– Fragen und Antworten zum Gegenstand, z. B. »Welche Form haben die Blätter? Welche Farben haben die Blüten?«, gestalterische Darstellung des Wahrgenommenen, z. B. durch Malen oder Tanzen –– Bewegungsspiele in Verbindung mit der Wiederholung der besprochenen Fragen und Antworten –– Abschluss der Auseinandersetzung mit einer Geschichte, einem Bild, einer Musik. Der kreativ-künstlerischen Auseinandersetzung mit Lerngegenständen kommt in der Pädagogik Schrader-Breymanns eine besondere Bedeutung zu, da diese Herangehensweise für besonders geeignet gehalten wird, an den natürlichen Schöpfungstrieb des Kindes anzuknüpfen und ihn zu vergeistigen. Dabei sollte an den Alltagserfahrungen der Kinder angeknüpft werden. Die inhaltliche Ausrichtung der Beschäftigungen im Kindergarten orientiert sich in den von Schrader-Breymann geführten Einrichtungen am »Monatsgegenstand« mit seinem jahreszeitlichen Bezug. In einer ganzheitlichen Beschäftigung mit einem Thema soll ein Verständnis der Natur und des Lebens vermittelt werden, dass der Selbstvergewisserung und der Hingabe für die Gemeinschaft dient. Bei der Auswahl des Monatsgegenstandes soll berücksichtigt werden: 1. »Das Charakteristische der Jahreszeit und des betreffenden Monats, 2. der Lebenskreis der Kinder, 3. die Tätigkeit, welche den Kindern aus demselben erwächst, 4. die einzelnen Gegenstände aus dem Tier- oder Pflanzenreiche sollen Gattungen derselben repräsentieren, 5. möglichste Abwechslung zwischen Pflanzen, Tieren und anderen Gegenständen, 6. Zusammenhang der Gegenstände untereinander« (ebd., 88 f.).

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Johann Heinrich Pestalozzi – Friedrich Fröbel – Henriette Schrader-Breymann

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Bei allem Vorgehen soll keinerlei Belehrung stattfinden, sondern es gilt, die Fragen der Kinder aufzunehmen und die Kinder zu ermutigen, diese selbst weiterzuentwickeln und zu bearbeiten. In Anlehnung an Fröbel stellt Schrader-Breymann die Bedeutung des Spiels für die kindliche Entwicklung heraus. Daneben betont sie die Bedeutung der Kleinkinderarbeit. »Im Pestalozzi-Fröbel-Hause werden an verschiedenen Tagen einige Stunden, gewöhnlich 3–4 Stunden wöchentlich, auf bestimmte Haus- und Gartenarbeit verwendet, aber außerdem haben die Kinder wechselweise täglich wiederkehrende häusliche Geschäfte zu verrichten« (ebd., 82 f.). In der Ausbildung von Erzieherinnen und Kindergärtnerinnen liegt Schrader-Breymann die hauswirtschaftliche Bildung als Grundlage der Familienarbeit und des gemeinsamen Lebens in familienähnlichen Verhältnissen sehr am Herzen. Impulse für die aktuelle Elementarpädagogik

Anknüpfend an Pestalozzi und Fröbel betont Schrader-Breymann die Bedeutung der Alltagserfahrung der Kinder und den handelnden Umgang mit alltäglichen Verrichtungen für Bildungs- und Erziehungsprozesse. Während sich aber Pestalozzi und Fröbel vor allem an männliche Heranwachsende wenden und in ihre pädagogische Arbeit vor allem solche praktischen Tätigkeiten integrieren, die eher männlich dominiert sind, wie z. B. handwerkliche Tätigkeiten oder Feldarbeit, wendet sich Schrader-Breymann an Mädchen und Jungen gleichermaßen und erweitert das Spektrum praktischer Tätigkeiten um den hauswirtschaftlichen Bereich. Daneben etabliert sie pädagogische Einrichtungen, z. B. eine Koch- und Haushaltsschule, Seminare zur Ausbildung von Kindergärtnerinnen für verschiedene Bildungsstufen des weiblichen Geschlechts. Durch das Übernehmen von Verantwortlichkeiten sollen bereits kleine Kinder lernen, sich in die Gemeinschaft einzubringen und Tugenden wie Hilfsbereitschaft, Fleiß und Zuverlässigkeit entwickeln. Insgesamt kommt dem sozialen Lernen im pädagogischen Ansatz von Schrader-Breymann eine große Bedeutung zu. Familienähnliche, altersgemischte Gruppen hält sie für besonders geeignet, sowohl soziales als auch individuelles Lernen zu fördern. Neben der praktischen Arbeit werden verschiedene Formen des Spiels und der künstlerisch-kreativen Auseinandersetzung hervorgehoben. Insgesamt strebt Schrader-Breymann in ihrer pädagogischen Arbeit einen Wechsel von Spiel und angeleitetem Tun an. Mit dem Prinzip der »geistigen Mütterlichkeit« stellt Schrader-Breymann die Bedeutung einer natürlichen Fürsorglichkeit und Sorge des weiblichen Geschlechts heraus – ein Gedanke, der im Selbstverständnis von Erzieherinnen

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Impulse für die Elementarpädagogik

immer noch eine Rolle spielt, aber vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit Genderfragen und der Forderung nach mehr männlichen Pädagogen im frühkindlichen Bereich heute eher kritisch gesehen werden muss. Dagegen hat Schrader-Breymanns Vorstellung und Praxis einer engen Verbindung des Kindergartens mit anderen institutionellen Bildungseinrichtungen, vor allem der Grundschule, nicht an Aktualität verloren. Je besser Kindergärten und Grundschulen zusammenarbeiten, desto gelingender können Übergänge für die Kinder gestaltet werden. Auch die Bedeutung einer praxisnahen Ausbildung des pädagogischen Personals wird heute in frühpädagogischen Ausbildungen und Studiengängen an Fach- und Hochschulen angestrebt. Die von Schrader-Breymann aufgebauten Ausbildungskindergärten können dafür sinnvolle Anregungen geben. Exkurs: Hauswirtschaftliche Bildung in der Kindertagesstätte »Schritt für Schritt« der Werkstattschule in Rostock

Die Kindertagesstätte »Schritt für Schritt« in Rostock beherbergt eine Kinderkrippe und einen Kindergarten und ist eng mit der zum gleichen Träger gehörenden Grund- und Gesamtschule verbunden. Zum Selbstverständnis der Einrichtung gehört, dass alle Kinder, Jungen wie Mädchen, Aufgaben, wie z. B. das Decken des Tisches oder Aufräum- und Reinigungsaufgaben, übernehmen. Ein besonderer Höhepunkt stellt die Kochwerkstatt dar, die jeden Freitag angeboten wird. Die Kochwerkstatt wird jede Woche von einer pädagogischen Fachkraft und ihrer Kindergruppe durchgeführt. »Am Vormittag kochen oder backen die Kinder in kleinen Gruppen Kuchen oder andere Speisen. Am Nachmittag werden sie beim Überraschungskaffee gemeinsam mit allen Kindern der Einrichtung verspeist. Damit die Kinder möglichst selbstständig vorgehen können, hat Silvia Reichart (eine Erzieherin der Einrichtung) dafür einen Ordner mit Rezepten zusammengestellt. Jedes Rezept ist mit Fotos so beschrieben, dass die Kinder es anhand der Abbildungen ausführen können. Zwei oder drei Kinder werden als Chefköche bestimmt. Als Zeichen tragen sie an der Schürze einen roten Punkt« (Pfeiffer 2012, 67). Auf die Frage, wie die Kochwerkstatt von den Kindern angenommen wird, antwortet Silvia Reichart: »Die Kinder lieben es, ihr Essen selbst zuzubereiten. Es duftet in der ganzen Kindertagesstätte verführerisch, wenn z. B. Waffeln oder Muffins gebacken werden. Die kleinen Bäcker sind dann sehr stolz auf ihre Arbeit, vor allem, wenn die anderen Kinder sagen, wie gut es ihnen schmeckt« (ebd., 68).

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John Dewey – Georg Kerschensteiner – Adolf Reichwein

2.2 John Dewey – Georg Kerschensteiner – Adolf Reichwein

1859–1952

1854–1932

1898–1944

John Dewey, Georg Kerschensteiner und Adolf Reichwein haben sich als Wissenschaftler und Schulpädagogen verstanden, die ihre Bildungsphilosophie und Schulpraxis in Abgrenzung und Kritik an einem vor allem kognitiven Verständnis von Bildung entwickelt haben. Gemeinsam ist ihnen eine Sichtweise auf Pädagogik, die Handlungs- und Erfahrungsorientierung als zentrale Prinzipien des Lernens herausstellt. Einer auf Systematik und lückenloser Vermittlung von Wissensbeständen ausgerichteten Herangehensweise an unterrichtliche und außerunterrichtliche Bildungssituationen werden Formen exemplarischen Lernens und gemeinschaftlicher Erfahrung im Lernprozess gegenübergestellt. Verschiedene Formen von Projekten, Werkstätten, Vorhaben, freier Arbeit sollen dazu beitragen, dass Heranwachsende ihre eigenen Fragen und Themen einbringen und sich forschend und entdeckend, möglichst selbstbestimmt und eigenaktiv mit ihnen auseinandersetzen können. Viele Aspekte des reformpädagogischen Ansatzes von Dewey, Kerschensteiner und Reichwein haben aktuell bewusst oder unbewusst bereits in Kindertagesstätten Einzug gehalten. Andere Überlegungen finden bislang wenig oder keine Berücksichtigung und sollen daher ebenso zur Diskussion gestellt werden. 2.2.1 John Dewey: Handlungs- und Projektorientierung Leben

John Dewey wird 1859 in Burlington (USA) als dritter Sohn eines Händlers geboren und stirbt 1952 in New York City. Nach dem Besuch der Schule studiert Dewey an der Universität zu Vermont in Burlington und nimmt daran

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anschließend eine dreijährige Tätigkeit als Lehrer an High Schools in Vermont und Pennsylvania auf. Von 1882 bis 1884 studiert er an der Johns Hopkins University in Baltimore Philosophie. Als Philosoph ist Dewey ein Vertreter des Pragmatismus, einer Lehre, die das Handeln als Voraussetzung und Ziel des Denkens begreift. Seiner Variante des Pragmatismus gibt Dewey die Bezeichnung »Instrumentalismus«, womit er die Bedeutung des Denkens und Handelns als Werkzeug für Erkenntnis und Lebensbewältigung herausstellt. 1886 heiratet er Alice Chipman. Das Ehepaar hat insgesamt sechs Kinder, von denen zwei frühzeitig sterben. Nach Abschluss seiner Promotion lehrt Dewey von 1884–1894 an den Universitäten von Michigan und Minnesota, 1888 wird er als Professor an die Universität Minnesota berufen. »Er entwickelte ein wachsendes soziales und politisches Interesse, das u. a. über seine Beziehung zu Jane Addams und Hull House, einem Hilfswerk für das Immigranten-Proletariat, vermittelt war« (vgl. Bohnsack 2012, 44). 1894 wechselt er zur neu gegründeten Universität von Chicago, zwei Jahre später wird die berühmte Universitätsversuchsschule (Laboratory School) gegründet, die Dewey von 1896– 1904 gemeinsam mit seiner Frau Alice und der Pädagogin Ella Flagg Young leitet. Nach Konflikten mit der Universitätsleitung geht Dewey bis zu seiner Emeritierung 1930 an die Columbia University nach New York. Er stirbt 92-jährig und hinterlässt eine Gesamtausgabe seiner Werke mit 37 Bänden (vgl. ebd. 44 f.). Werk

Im Mittelpunkt der Pädagogik John Deweys steht die Erfahrung als Resultat von Interaktion zwischen Individuum und einem bestimmten Aspekt der Welt. Diese Erfahrung ist wesentlich bestimmt durch die Einsicht in die enge Verbindung zwischen Tun und Erleben, wobei eine bestimmte Qualität und bewusste Erfahrung angestrebt wird. »Weil man sich rasch mit etwas Neuem beschäftigt, findet keine einzige Erfahrung die Gelegenheit, sich zu einem vollständigen Ganzen zu entwickeln. Was man unter Erfahrung versteht, wird dermaßen zusammengewürfelt und zusammenhanglos, dass es kaum noch den Namen verdient. Widerstand betrachtet man als ein Hindernis, das aus dem Wege geschafft werden muss, nicht als Anregung zum Nachdenken […] Auch durch ein Zuviel an Empfänglichkeit werden Erfahrungen an der Reifung gehindert. Was dabei als Wert hervorgehoben wird, ist das bloße Erleben von diesem und jenem, ungeachtet der Wahrnehmung irgendwelcher Bedeutung« (Dewey 1988, 58). Das Erkennen eines Widerspruchs zwischen dem bereits Bekannten und Gekonnten und den Anforderungen, die sich aus einer konkreten Lebenssitu-

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ation ergeben, bildet den Antrieb als das Anfangsstadium einer ganzheitlichen Erfahrung. Damit setzt die Pädagogik Deweys beim Individuum in unmittelbaren Situationen an und mündet in das Postulat, »dass jedes Individuum und jeder Moment seines Lebens, auch der des Kindes in der Schule, einmalig und unersetzbar ist und nicht für Zwecke aufgeopfert werden darf« (Bohnsack 2012, 47). Folgerichtig hat sich institutionelle Bildungsarbeit am Feld außerinstitutioneller Lernsituationen zu orientieren, »welche primär nicht das Lernen, sondern ein Tun verlangen, das Denken erfordert« (ebd., 50.). Ein solches Vorgehen fasst Dewey in der knappen Formulierung »Learning by doing« zusammen, womit er sich in die Tradition der Arbeitsschulbewegung einreiht. Der bewussten Pflege und Übung der Handfertigkeit wird in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung beigemessen. »Nachdem infolge des sozialen und wirtschaftlichen Strukturwandels Haus, Hof und väterliches Handwerk dem Kinde nicht mehr die Möglichkeit der Betätigung mit seinen Händen gäben, müsse die Schule diese Bildungsfunktion übernehmen« (Scheibe 2009, 197). Kognitionen haben gegenüber dem unmittelbaren Lebenszusammenhang eine dienende Funktion. »Doch diese ist notwendig, um die Unmittelbarkeit zukünftiger experience durch Erfahrung, als Aufdeckung und Entwicklung von Bezügen und Relationen, mit mehr Sinngehalt zu bereichern: darin besteht für Dewey Fortschritt« (Bohnsack 2012, 46). Die Bewältigung und Ausschöpfung einer Bildungs- und Erziehungssituation ist nach Dewey wesentlich bestimmt durch die Grundhaltungen des Erziehers. »Initiative, Kreativität, Flexibilität, Unabhängigkeit der Beobachtung und Treffsicherheit im Eingehen auf vorausgesehene Folgen und nicht zuletzt die Zivilcourage des Abweichens von den Vorschriften der Überlieferung und des Sich-hinaus-Wagens auf neue Wege« (ebd., 49) machen Grundtugenden aus, die Laxheit im Umgang mit den Heranwachsenden und Fixierung auf Vorurteile oder vermeintliches Wissen ausschließen. Charakteristische Merkmale einer Schule der Zukunft sind für Dewey, »dass (1) ihre Lebens- und Lernprozesse nicht zufällig, sondern geplant verlaufen; dass sie (2) zu komplexe Strukturen der Gesellschaft vereinfacht (simplified environment); dass sie (3) wünschenswerte Züge auswählt, unerwünschte aussondert und insofern eine bereinigte (purified) Umwelt herstellt; und dass sie (4) gesellschaftliche Ungleichheiten und Trennungen durch familiäre Traditionen, durch Rasse, Einkommen, Religion auszugleichen sucht und zu einer gewissen Verbundenheit führt« (ebd., 50).

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Impulse für die Elementarpädagogik

In umfassenden und problemhaltigen Projekten sollen sich die Heranwachsenden in Werkstätten, Bibliotheken, in der Küche oder in außerschulischen Einrichtungen mit der komplexen Wirklichkeit handlungsorientiert auseinandersetzen und im sozialen Miteinander für eine wünschenswerte Gesellschaft gebildet und erzogen werden. Dabei soll die Initiative von den Kindern ausgehen und die Durchführung der Projekte möglichst selbstständig sein. »Der Lehrer vermeidet unnötige Hilfe und greift ein, wenn z. B. bei Vier- bis Sechsjährigen Blockierungen (blocks) auftreten oder das Interesse nachlässt, und liefert im rechten Moment Informationsstücke oder einen Hinweis« (ebd., 53). Das bedeutet, dass das Kind »seine eigene Methode des Lernens, als testand-see-for-yourself-Haltung« (ebd.) entwickeln muss. Im Umgang mit realen Situationen, die Herausforderungen darstellen, entwickelt das Kind individuelle Problemlösungsstrategien und eignet sich neues Wissen an. Lernen ist in diesem Zusammenhang ein notwendiger Nebenertrag, ein indirekter Prozess, der vom Lehrer oder Erzieher allenfalls begleitet werden kann. Im Mittelpunkt der Bildungsphilosophie Deweys steht die Selbstbestimmung des Menschen, die nicht früh genug beginnen kann und Voraussetzung und Ziel eines demokratischen Zusammenlebens ist. »Dewey hat den Gleichheitsbegriff der Französischen Revolution gleichsam umgedreht, indem er Gleichheit als das Recht bestimmt, anders zu sein, als die ›Chance, eine Person zu werden‹, allerdings nicht isoliert bzw. ich-bezogen: Selbstverwirklichung und Dienst an der Gemeinschaft, Individualisierung und Sozialisierung sind miteinander verbunden« (ebd., 47). In der Projektmethode sieht Dewey die authentische individuelle Auseinandersetzung mit persönlich bedeutsamen Lerngegenständen und soziales Lernen eng aufeinander bezogen. Impulse für die aktuelle Elementarpädagogik

Dewey ermutigt in seiner Pädagogik dazu, an die unmittelbare Lebenssituation des Kindes anzuknüpfen und das zum Lerngegenstand zu machen, was sich gerade als Frage, als Problem oder Interesse zeigt. Dabei favorisiert er eine Herangehensweise, die eine bestimmte Tiefe und Intensität der Auseinandersetzung ermöglicht, was die Bereitstellung von ausreichend Zeit und Muße, Raum und Material voraussetzt. Dem Erfassen und Nutzen komplexer und nachhaltiger Bildungssituationen in Projekten und Werkstätten, dem Experimentieren mit Möglichkeiten, dem Aufstellen und Erproben von Hypothesen, dem konkreten Tun kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Wenn Dewey von planvollen Lernprozessen spricht, dann meint er damit nicht in erster Linie Planungen der

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John Dewey – Georg Kerschensteiner – Adolf Reichwein

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pädagogischen Begleiter im Vorfeld der Auseinandersetzung mit einem Lerngegenstand, sondern ein planvolles Vorgehen, dass das Kind allein, gemeinsam mit anderen Kindern und in Absprache mit Erwachsenen entwickelt. Im Zentrum steht das Kind und nicht ein Curriculum oder ein Handlungsalgorithmus, das sich tastend, probierend, also handelnd, einem Problem oder Sachverhalt nähert und dabei auf Herausforderungen und mitunter auch Überforderungen trifft. Lernen ist dabei ein Nebenertrag der unmittelbaren Erfahrung. Die pädagogische Fachkraft fungiert nicht als Anleitung, sondern als professionelle Begleitung, die sich durch ein hohes Maß an Flexibilität, Einfühlungsvermögen und Kreativität auszeichnet. Dewey ermutigt die pädagogischen Begleiter zur Zivilcourage im Umgang mit Vorgaben und vermeintlichen Wissensbeständen. Letztlich ist Bildung für ihn ein experimenteller Prozess, der sich in der je einmaligen Situation zu bewähren hat und daher allenfalls hinsichtlich einiger Rahmenbedingungen zu standardisieren ist. Ein wesentlicher Anspruch der Pädagogik Deweys ist die Umsetzung von Chancengleichheit in Bildungsfragen. Dieser Anspruch ist in den aktuell geführten Inklusionsdebatten präsenter denn je und im theoretischen Diskurs auch weitestgehend Konsens. Unterschiedlich sind die Auffassungen darüber, wie die Praxis einer solchen Bildungsarbeit aussehen könnte. Eine Pädagogik, die bei dem je individuellen Kind ansetzt und seine Lebenssituation zum Gegenstand ihrer Bildungsbemühungen macht, die den sozialen Austausch über Erfahrungen in den Mittelpunkt rückt und sich von einseitig kognitiven Ansprüchen verabschiedet, die vielfältige Handlungsmöglichkeiten einräumt und auf Selbstbestimmung des Einzelnen ausgerichtet ist, kann als tragfähige Grundlage inklusiver Bildungsarbeit (nicht nur) in der Kindertagesstätte dienen. Exkurs: Werkstattzeit in der Kindertagesstätte »Schritt für Schritt« der Werkstattschule in Rostock

Jeden Tag gibt es in der Kindertagesstätte »Schritt für Schritt« vormittags eine Werkstattzeit. Die Kinder können selbst entscheiden, welche Werkstatt sie besuchen. Dafür stehen ihnen zehn verschiedene Werkstätte, z. B. eine Holzwerkstatt, eine Bau- und Konstruktionswerkstatt, eine Kreativwerkstatt, eine Theaterwerkstatt zur Verfügung (vgl. Pfeiffer 2012). In den Werkstätten hat alles seinen Platz und ist den Kindern frei zugänglich. Darüber hinaus gibt es in einigen Werkstätten besondere Regeln, z. B. müssen in der Holzwerkstatt aus Sicherheitsgründen feste Schuhe getragen werden. Die Kinder entscheiden selbst, was sie tun wollen.

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Werfen wir einen Blick in die Bau- und Konstruktionswerkstatt: Lucas und Tom haben sich einen Bau-Teppich geholt und die große Kiste mit den Würfeln. Sie beginnen mit Hilfe weiterer Materialien, z. B. dünnen Platten und Bauklötzen, einen Turm zu bauen. Dabei unternehmen sie mehrere Versuche, diskutieren, entscheiden, handeln. In der Ecke sitzen Swenja und Ole mit einer Kiste voller Bausteine und beginnen, eine Straße zu bauen. Nele kommt dazu. Sie hat in der Holzwerkstatt gestern ein kleines Auto gebaut und will nun mitspielen. Unweit von den drei Kindern sitzt die Erzieherin mit Anuk. Sie ist erst vor kurzem von der Kinderkrippe in den Kindergarten gewechselt und wirkt noch etwas unsicher. Die Erzieherin gibt ihr die nötige Sicherheit, damit sie die neue Umgebung erforschen und sich in ihr wohlfühlen kann. Sie sagt nicht: »Mache dieses oder jenes«, sondern vermittelt einfach durch ihre wohlwollende Aufmerksamkeit ein geborgenes Gefühl. Sie weiß, dass Anuk noch etwas Zeit braucht und von allein aktiv werden wird. Es sind noch acht weitere Kinder im Raum alle machen etwas anderes und sind dabei sehr beschäftigt. Manche Kinder spielen zu zweit oder zu dritt, andere spielen alleine. Zum Ende der Werkstattzeit wird aufgeräumt, wobei Dinge, die am nächsten Tag weitergebaut werden sollen, stehen bleiben dürfen. Jedes Kind hat etwas gelernt – über die Dinge, die anderen, sich selbst.

2.2.2 Georg Kerschensteiner: Handarbeit und geistige Arbeit Leben

Georg Kerschensteiner wird am 29. Juli 1854 in München geboren und stirbt am 15. Januar 1932. Die familiären Verhältnisse, in denen Kerschensteiner aufwächst, beschreibt er wie folgt: »Die Familie war blutarm geworden. Sie hauste in einer Wohnküche, deren zwei Fenster auf einen dunklen Hof hinausgingen, und einer düstern Kammer, in der mein jüngerer Bruder und ich schliefen, die zwei letzten unmündigen Kinder zweier aufeinanderfolgender mit dreizehn Sprösslingen gesegneten Ehen meines Vaters. Schon vor meiner Geburt […] hatte mein Vater, der früher mitten im Herzen der Stadt […] ein Haus und ein Priechlergeschäft besessen hatte, alles verloren […] Die gleichwohl nie verzagte, ewig heitere, rührige unendlich sorgsame Mutter war zur Ernährerin der Familie geworden« (Kerschensteiner 1982, 110). Kerschensteiner besucht die Heiliggeist-Pfarrschule in München und wird mit acht Jahren wegen Bandendiebstahl in Arrest genommen. Nach Beendigung der Volksschule mit elf Jahren zieht Kerschensteiner die fünfjährige Vorbereitungsschule für den Lehrerberuf einer kirchlichen Karriere vor. Mit 16 Jahren ist er bereits als Hilfslehrer in einem Dorf in der Nähe von München tätig. Als er seinen Dienst antritt, reagiert sein Vorgesetzter darauf mit den Worten

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»O verflucht, jetzt schickt mir die Regierung gar ein kleines Kind zum Schulehalten« (ebd., 114). Kerschensteiner absolviert 1871 das Lehramtsexamen. Nach drei Jahren verlässt er den Schuldienst, um das Abitur nachzuholen und anschließend an der Universität und an der TH München Mathematik und Physik zu studieren. Nach dem Staatsexamen 1881 erfolgt die Promotion zum Dr. phil. in Mathematik an der Universität München und der Beginn seiner Gymnasiallehrertätigkeit an verschiedenen Gymnasien in München, Nürnberg und Schweinfurt. Kerschen­ steiner erteilt zunächst Unterricht in Mathematik, ab 1890 darüber hinaus in naturwissenschaftlichen Fächern. Außerdem betreibt er Studien zur Botanik, Zoologie und Mineralogie an der Universität München. »In dieser Zeit entwickelt er in Auseinandersetzung mit der Schulpraxis und vorliegenden Konzepten seine didaktisch-methodische Konzeption und seine Vorstellungen zum Lehrplan dieser Fächer« (Adrian 1998, 13). 1895 wird er als Schulrat und Königlicher Schulkommissar in München berufen. Diese Aufgabe übt er bis 1918 aus. »Zu Beginn seines Schulratamtes revidiert er den Realienplan für die Münchener Volksschulen und reformiert das Münchener Volksschul- und Fortbildungswesen. Kerschensteiner unternimmt zahlreiche Studien- und Vortragsreisen im In- und Ausland und erlangt als engagierter Schulreformer und Pädagoge weltweite Bedeutung« (ebd.). 1911 tritt Kerschensteiner der Freisinnigen Volkspartei bei und nimmt ein Reichstagsmandat an. In dieser Zeit beschäftigt er sich intensiver mit bildungstheoretischen Grundlagenproblemen. Nach seinem Ausscheiden aus dem Amt arbeitet er als Honorarprofessor an der Universität München. »Mit dieser Honorarprofessur verbindet er die Absicht, auf die Praxis des öffentlichen Bildungswesens mit einer von ihm konzipierten Bildungstheorie und Schultheorie einzuwirken« (ebd., 15). Werk

Im Mittelpunkt der Pädagogik Georg Kerschensteiners steht in Anlehnung an Dewey die manuelle und geistige Arbeit als zielgerichtete Tätigkeit. Ausgehend von dem Erfahrungskreis, den die Kinder mitbringen, und in der unmittelbaren Lebenswirklichkeit sollen die natürlichen produktiven Kräfte des Kindes angesprochen und weiterentwickelt werden. »Das ganze rastlose Spielleben des Kindes ist eine direkt von der Natur gewollte Einrichtung, dass die geistigen und körperlichen Kräfte wachsen unter dem Einfluss lebendiger Erfahrungen aller Art […] In Werkstätten und Küche, im Garten und auf dem Felde, im Stall und am Fischerboote sind sie stets zur Arbeit bereit. Hier ist ihr ausgiebiges Lernfeld« (ebd., 28).

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Bildungsinstitutionen (Kerschensteiner hat in erster Linie Schulen im Blick) sollen die Selbsttätigkeit, die Selbstbehauptung, die Unternehmungslust und die Neugier auf Neues herausfordern und vor allem die soziale Natur des Kindes ansprechen. In der gemeinschaftlichen Auseinandersetzung mit Fragen und Problemen des Alltags sollen so moralische Tugenden wie Empathie, Solidarität und Kooperationsfähigkeit gefördert werden. Der Anspruch der Individualisierung wird in diesem Zusammenhang nicht als Widerspruch zur Gemeinschaftserziehung gesehen. Vielmehr gilt es pädagogische Situationen zu schaffen, in denen jedes Kind sein eigenes Lernfeld finden kann. »In der Werkstatt, im Laboratorium, in der Schulküche, im Schulgarten, im Zeichensaal, im Musikzimmer findet jedes Kind die Arbeit, die es bewältigen kann. Hier arbeitet der Schwache neben dem Starken und findet Hilfe bei ihm, oder kann und soll sie finden. Hier können nebeneinander die kleine Kraft an der kleinen, die große Kraft an der großen Arbeit die Freude und den Segen des Gelingens empfinden« (ebd., 32). In der Auseinandersetzung und im tätigen Umgang mit Aquarien, Terrarien, Volieren, Raupenkästen, bei der Blumenpflege oder beim Nachempfinden von Landschaften in Sandbaukästen soll das Kind handelnd sein Wissen erweitern und zielgerichtet Handlungsstrategien entwickeln. Solches Tätigsein bezeichnet Kerschensteiner als Arbeit im pädagogischen Sinne in Abgrenzung zur stupiden, wertlosen oder fremdbestimmten Verrichtung von Tätigkeiten. »Allmählich, um das zweite Lebensjahr herum, stellt sich das Bewusstsein von der Wirkung des eigenen Tuns ein. Jetzt beginnt das Kind mehr und mehr Wirkung und Ursache in seinem Tun, d. h. Zweck und Mittel seines Tuns zu unterscheiden. […] Aus dem Drange des Kindes zum Spiel ohne Ziel und Zweck wächst jetzt der Wille zum Regelspiel […] oder der Wille zur Beschäftigung mit Setzung eines Zweckes und schließlich der Wille zur Arbeit mit allen ihren Anstrengungs- und Selbstüberwindungskennzeichen« (ebd., 56). In der Pädagogik Kerschensteiners entwickeln sich aus dem Spiel als Betätigung, die nur um ihrer selbst willen betrieben wird, drei weitere Formen der Betätigung: der Sport, die Beschäftigung und die Arbeit. Charakteristisch für den Sport ist die Anstrengung und Ausrichtung auf maximale Leistungsfähigkeit. Beschäftigung unterscheidet sich nur graduell von Arbeit, »indem bei der Beschäftigung das Moment der Anstrengung und Ermüdung, das beim Arbeitsbegriff eine ausschlaggebende Rolle spielt, entweder ganz in Wegfall kommt, oder doch stark in den Hintergrund tritt« (ebd., 58). Bei der Arbeit werden drei Formen unterschieden: Arbeit im körperlichen Sinne, die die gegenständliche Veränderung der Umwelt zur Folge hat, Arbeit im geistigen Sinne, die zur Veränderung von Bewusstseinsinhalten führt, und

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John Dewey – Georg Kerschensteiner – Adolf Reichwein

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Arbeit im pädagogischen Sinne als »eine geistige oder geistig-körperliche Betätigung, die ihren Zweck in der Herbeiführung und Durchführung einer immer vollendeteren sachlichen, d. h. objektiven seelischen Einstellung hat, sei es in der Gestaltung der Bewusstseinsinhalte an sich, sei es in der Verwirklichung des gestaltenden Bewusstseins in der Außenwelt« (ebd.). Arbeit im pädagogischen Sinne hat nach Kerschensteiner ihren Ursprung im praktischen Tun, im problemorientierten Handeln, das alles Denkenwollen erst herausfordert. Dieses problemorientierte Handeln – Wollen im Sinne eines Wachsen-Wollens – ist nach Kerschensteiner in jedem Kind als natürliche Anlage von Anfang an vorhanden und kann gefördert oder durch rigide, fremdbestimmte Formen des Umgangs unterdrückt werden. Eher experimentelle Formen produktiven, problemlösenden Lernens sind in der Pädagogik Kerschensteiners daher gegenüber systematisch angelegten, möglichst lückenlos fortschreitenden Formen der Wissensvermittlungen vorzuziehen. Dem exemplarischen Prinzip wird daher ein hoher Stellenwert eingeräumt. (vgl. Adrian 1998, 278). In der zielgerichteten Auseinandersetzung mit Phänomenen des Alltags entwickeln Kinder Arbeits- und Entdeckerfreude als Freude an der eigenen Wirkungsmächtigkeit im Umgang mit der sie umgebenden Welt. Impulse für die aktuelle Elementarpädagogik

Ähnlich wie bei Dewey, auf den er sich explizit bezieht, müssen nach Kerschen­ steiner Bildungsbemühungen an die unmittelbare Lebenswelt und die Vorerfahrungen der Kinder anknüpfen und ihre produktiven Kräfte herausfordern. Einen solchen Ansatz, der auf systematische Vermittlung zugunsten experimentellen, exemplarischen Lernens verzichtet, stellt in der Elementarpädagogik z. B. der Situationsansatz dar. In ihm werden Schlüsselsituationen, die für Kinder von besonderer Bedeutung sind oder die immer wieder zum Thema werden, aufgegriffen und gemeinschaftlich bearbeitet. Dabei kann es z. B. um Tiere und Pflanzen oder Freundschaft und Gerechtigkeit gehen und jedes Kind unterschiedliche Wege der Auseinandersetzung anregen. Die tätige Auseinandersetzung setzt die Bereitstellung unterschiedlicher Materialien (bei Kerschensteiner sind es z. B. Aquarien, Raupenkästen) und die Einführung in verschiedene Formen der Auseinandersetzung, z. B. Werkstätten und Projekte, voraus. Je vielfältiger, im qualitativen, nicht im quantitativen Sinne, die Möglichkeiten der Kinder in ihrem Umfeld sind, desto wahrscheinlicher kann es gelingen, dass jedes Kind die Tätigkeit finden kann, die es herausfordert. So kann ein leerer Raum mitunter mehr Handlungspotenzial herausfordern als eine Vielzahl an Spielzeugen und Materialien. Die Unterscheidung in (Frei-)Spiel, Sport, Beschäftigung und Arbeit kann für unterschiedliche Schwerpunktsetzungen im Alltag einer Kindertagesstätte

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Impulse für die Elementarpädagogik

sensibilisieren. Während das Spiel nur um seiner selbst willen betrieben werden kann, geht es beim Sport um das Messen der Kräfte. Bei der Beschäftigung wird dem Kind ein Bildungsangebot unterbreitet, es wird angeregt (möglicherweise auch angeleitet), sich mit einer Frage oder einem Sachverhalt zu beschäftigen. Bei der Arbeit steht das Erbringen einer Leistung für sich und andere, z. B. das Putzen eines Fensters oder das Decken des Tisches, im Mittelpunkt. Im Alltag von Kindertagesstätten finden alle vier Formen der Betätigung ihre Umsetzung, gehen aber häufig ineinander über. So wird angeleitetes Tun in der Kindertagesstätte in der Regel in spielerischer Form erfolgen, ebenso wie Sport und Arbeit. Individualisierung und Gemeinschaftserziehung werden dabei als parallele Prozesse verstanden, die sich wechselseitig beeinflussen. Exkurs: Der Situationsansatz in der Praxis

Monika Braun-Ingrassano und Monika Koschnitzki-Schmidtke, zwei Erzieherinnen in der »Kita am Fließ« in Berlin-Hermsdorf geben in einem Erfahrungsbericht ein Beispiel dafür, wie in ihrer Einrichtung der Situationsansatz umgesetzt wird. »In unserer Kita, einem alten Gebäude im Berliner Stadtteil Hermsdorf, beobachteten wir fast täglich, dass Kinder beim Buddeln oder nach Regengüssen, im Garten Porzellan- und Glasscherben fanden, und fragten uns, wie diese denn in den Garten kämen. Auffällig war, dass es sich häufig um alte Porzellanteile handelte, z. B. Tassenhenkel oder altes Glas, die nicht aus der heutigen Zeit stammen konnten. Die Kinder fanden, dass es sich um außergewöhnliche Fundstücke handelte und fragten neugierig immer wieder nach, was es wohl sein könnte, ob es etwa ein vergrabener Schatz sei, z. B. von Piraten am See« (Braun-Ingrassano/Koschnitzki-Schmidtke 2010, 32).

Diese Ausgangssituation nahmen die Erzieherinnen und die Kinder zum Anlass der Geschichte des Hauses, in dem die Kindertagesstätte untergebracht ist, nachzugehen. Gemeinsam wurden Fragen gesammelt, z. B. »Wer hat früher in der Kita gelebt?«, »Wie sah das Haus früher aus?«, »Wie waren die Menschen gekleidet, was haben sie gegessen, wo gingen sie zur Schule?«. Kinder und pädagogisches Fachpersonal brachten Fotos und Bücher aus früheren Zeiten mit, gemeinsam wurde das Heimatmuseum besucht und schließlich ein Brief entdeckt, den eine frühere Bewohnerin des Hauses geschrieben hat. Es stellte sich heraus, dass sich in der heutigen Kita früher das »Restaurant Seebad« befand. Mit Hilfe der Erwachsenen schrieben die Kinder einen Brief an die Zeitzeugin, luden sie ein und erhielten tatsächlich Gelegenheit, alle ihre Fragen zu stellen.

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John Dewey – Georg Kerschensteiner – Adolf Reichwein

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»Der Nachmittag war für alle Beteiligten sehr interessant und ergreifend […] Die Vorstellung, dass diese Frau früher an diesem Ort gespielt und mit ihrem Blechauto durch den Garten gefahren ist, beeindruckte alle« (ebd., 34). Das Beispiel zeigt, dass sich bereits junge Kinder ausgehend von konkreten Situationen und Erfahrungen mit komplexen Sachverhalten auseinandersetzen können. Allerdings bedürfen sie dabei der Unterstützung der Erwachsenen. 2.2.3 Adolf Reichwein: Vorhaben, Feste und Fahrten Leben

Adolf Reichwein wird am 3. 10. 1898 in Bad Ems geboren und nach einem Schauprozess vor dem »Volksgerichtshof« am 20. 10. 1944 in Berlin-Plötzensee von den Nationalsozialisten umgebracht. Seine Kindheit und Jugend ist stark durch die Wandervogel-Bewegung geprägt, der er sich schon 1907 anschließt. Als Kriegsfreiwilliger im 1. Weltkrieg wird Reichwein 1917 schwer verwundet. »Das traumatische Kriegserlebnis in den bereits mit hochtechnisierten Waffensystemen geführten Materialschlachten machte ihn zu einem entschiedenen Kriegsgegner und ließ in ihm die Überzeugung wachsen, dass seine Generation mit dieser Lebenserfahrung verpflichtet sei, den menschenverachtenden Tendenzen in der modernen Industriegesellschaft entgegenzuwirken und sich für eine demokratische Entwicklung in Deutschland einzusetzen« (Amlung/ Lingelbach, 2012, 203 f.). Reichwein studiert Germanistik, Geschichte, Volkswirtschaft, Soziologie und Philosophie in Frankfurt am Main und in Marburg und promoviert zum Dr. phil. an der Universität Marburg. Er ist von 1921 bis 1923 Geschäftsführer beim Ausschuss der Deutschen Volksbildungsvereinigungen in Berlin und von 1923 bis 1929 Geschäftsführer, bzw. Leiter, der Volkshochschulen in Thüringen und Jena. In dieser Funktion gründet und verwaltet er ein Volkshochschulheim für Jungarbeiter und entwickelt seine Arbeitsbildungskonzeption. Das Jungarbeiter-Wohnheim am Beuthenberg in Jena ist konzipiert »als Ort der Weiterbildung junger Berufstätiger neben ihrer beruflichen Arbeit und zugleich als Stätte eines weitgehend selbstverwalteten Gemeinschaftslebens im Heim« (Reichwein 2000, 32). Von 1926 bis 1929 unternimmt Reichwein zahlreiche Forschungsreisen durch die USA, Alaska, Mexiko, nach Japan und China sowie Exkursionen nach Skandinavien und Südosteuropa. Als Ergebnis der gesammelten Erfahrungen plädiert er nachdrücklich für eine europäische und globale Verständigung der Nationen und erwirbt sich Anerkennung als Weltwirtschaftsexperte (vgl. ebd., 204 f.).

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1929/1930 wirkt er als Leiter der Pressestelle und persönlicher Referent des preußischen Kultusministers in Berlin und von 1930 bis 1933 als Professor für Geschichte und Staatsbürgerkunde an der Pädagogischen Akademie Halle. Nach Hitlers Machtergreifung 1933 wird Reichwein aufgrund seines sozialdemokratischen Engagements aus dem akademischen Lehramt entlassen und auf eigenen Wunsch als Landschullehrer an die einklassige Dorfschule in Tiefensee, in die Nähe von Berlin, versetzt. »Wer ihn dort besuchte – und es kamen viele Besucher mit pädagogischen und politischen Fragen –, fand ihn bis in die Nacht über Büchern und Tabellen oder Feile und Schraubstock, am Tage meist inmitten der Kinder, die, sehr mannigfaltig beschäftigt und dazu in der verschiedensten Weise gruppiert, den Gast unbefangen aufnahmen und mit ihrem hellen Eifer ansteckten. Man spürte, wie wenig ihnen falsche Töne und leere Routine bekannt waren; zueinander waren sie so offen, achtsam und hilfsbereit, dass man sie sich verdrückt oder gehässig kaum denken konnte« (Bohnenkamp 1993, 23). An dieser Schule entwickelt und erprobt Reichwein sein »zukunftsweisendes Konzept praktischen und sozialen Lernens mit Kopf, Herz und Hand […], das ihn bald über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt machte« (Amlung/ Lingelbach, 2012, 205). 1939 wird Reichwein als Leiter des Volkskundemuseums nach Berlin berufen, wo er einen bedeutenden Beitrag zur Begründung der Museumspädagogik leistet. Adolf Reichwein gehört zum »Kreisauer Kreis« um Helmuth James Graf v. Moltke und damit zum Widerstand gegen Hitler. Am 4. 7. 1944 wird er verhaftet und nach einem öffentlichen Prozess hingerichtet. Werk

Adolf Reichwein deutet Bildungsarbeit als einen mehrdimensionalen pädagogischen Auftrag, der folgende »Grunddimensionen« umfasst: »Die Dimension des Erkennens, des zweckorientierten Produzierens und Gestaltens (gärtnerisch, agrarisch, handwerklich, technisch), des sozialen und politischen Wirklichkeitsverstehens und Handelns, der ästhetischen Wahrnehmung und des ästhetischen Gestaltens im musikalischen, bildnerischen, tänzerischen, sprachlich-dichterischen Bereich und in der schauenden Naturbetrachtung, des lustvollen und verantwortlichen Umgangs mit dem eigenen Leib und dem Leib des jeweils anderen. Schließlich und nicht zuletzt die Dimension der individuell und gemeinschaftlich zu vollziehenden Besinnung auf ethische und religiöse Sinnorientierungen des menschlichen Lebens und der Bemühung darum, das als richtig, als verbindlichen Anspruch Erkannte in der eigenen Lebenspraxis zu verwirklichen« (Reichwein 2000, 23).

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Damit knüpft Reichwein an bildungstheoretische Ansätze von Pestalozzi, Humboldt und Herder an. In seinem Verständnis ist Bildung ein lebenslanger Prozess, der allen Menschen ermöglicht und durch institutionelle und politische Entscheidungen unterstützt werden soll. Wie Reichwein sich die praktische Umsetzung eines solchen Bildungsansatzes vorstellt, schilderte er 1937 eindrucksvoll in seiner Schrift »Schaffendes Schulvolk«, in der er über seine Erfahrungen als Landschullehrer in Tiefensee berichtet. »Gedanken der Arbeitsschulbewegung, insbesondere des Projektansatzes, aufgreifend und mit Reformideen aus der Kunsterziehungsbewegung und Erlebnispädagogik verbindend, entwickelte Reichwein in Tiefensee das Konzept einer schulischen Werkerziehung, das er später […] als ›gegenständlichsten Ausschnitt der gesamten Ausdruckspädagogik‹ in den übergreifenden Zusammenhang musischer Erziehung einordnen sollte« (Amlung/Lingelbach, 2012, 206). Einen zentralen Stellenwert nehmen in Reichweins Pädagogik »Vorhaben« ein. Darunter sind komplexe Auseinandersetzungen zu verstehen, die sich aus der unmittelbaren Lebenswirklichkeit der Kinder ergeben oder durch die erwachsenen Begleiter an sie herangetragen werden. Im Frühling und Sommer sind es Vorhaben zur Erkundung der Natur, z. B. zur Beschaffenheit des Bodens, zum Wetter, zu Pflanzen und Tieren, im Herbst und im Winter sind es Vorhaben, die sich mit der Geschichte, der Geografie oder mit naturwissenschaftlichen Phänomenen beschäftigen. Reichwein stellt die Bedeutung der Beobachtung und des Verweilens bei einem Thema/einer Frage besonders heraus. Es geht ihm um tiefes Verstehen und Erkennen von Zusammenhängen als einem Bedürfnis, das auch schon jüngeren Kindern eigen ist und das durch erzieherische Begleitung unterstützt werden kann. »Das beobachtende Kind steckt ganz in den Ereignissen drin. Es ist gefangen davon. Es spürt, dass Geheimnisse dahinter stecken. Und es will, dass sie enträtselt werden. Es fragt! Rätsel bleiben zwar Rätsel, aber doch ahnt das Kind etwas von der Wahrheit des großen Goetheschen Leitmotivs, ›das Erforschliche erforscht zu haben, und das Unerforschliche ruhig zu verehren‹. In der kindlichen Lust am Lauern und Forschen steckt ein tiefer, ernster Forscherdrang, der auch nach Wissen strebt. Wo so lebendig gefragt wird, soll in den Grenzen des Möglichen auch Antwort gegeben werden« (Reichwein 1993, 64).

Neben der direkten Lebenswelt der Kinder werden in ausgewählten Vorhaben Themen und Sachverhalte thematisiert, die weit über ihre vertrauten Lebensverhältnisse hinausgehen. Dabei wird die Zielstellung verfolgt »das Blickfeld

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Impulse für die Elementarpädagogik

und den Fragehorizont der Landkinder auf weltweite Wandlungsprozesse hin zu erweitern, die gewonnenen Lernerfahrungen aber ständig wieder auf die eigenen Lebensprobleme zurück zu beziehen. Das räumlich Ferne wird als das in der örtlichen Lebenswelt Nahe und Alltägliche wiederentdeckt« (Amlung/ Lingelbach, 2012, 208). In der Auseinandersetzung mit einem Vorhaben ist es Reichwein besonders wichtig, dass das Kind den Erziehenden selbst als Fragenden und Lernenden erlebt, der Spezialist für das eine oder andere sein mag, immer aber auch Anfänger, der sich wie das Kind selbst neue Gebiete erschließt. Für die Umsetzung der Vorhaben werden stetig alle brauchbaren Baustoffe und Materialien, z. B. Garnrollen, Zigarettenkistenholz, Rundhölzer, Pappen, gesammelt, geordnet und einer umfangreichen Materialsammlung zugeführt. Die Arbeit an den Vorhaben wird von den Erziehenden durch die Unterstützung »kindlicher Eigenformen« vorbereitet und unterstützt. Hier unterscheidet Reichwein »das Spielen mit Gegenständen« und das »spielende Gestalten« (vgl. ebd., 106 ff.). Während die erste Form des Spiels ein Erproben und Untersuchen von Gegenständen im Spiel darstellt, geht es bei der zweiten Form um ein Einwirken und Verändern von Gegenständen, was Kenntnis der Materialeigenschaften voraussetzt. »Es setzt voraus, dass man die Dinge ›kennt‹: Farbe zum Malen, Papier zum Falten, Bindfaden zum Knüpfen, Kleister zum Kleben, Holz zum Sägen, Nägel zum Fügen. Wir geben dem Kind vom ersten Tag Raum für dieses gestaltende Spiel« (ebd., 107). Spiel, Versuch und Werk sind in der Pädagogik Reichweins die Grundformen kindlichen Lernens, die darauf ausgerichtet sind, Wissen und Fähigkeiten zu erwerben, zu sichern und zu bewahren. Das kann aber nur gelingen, wenn möglichst viele Sinne einbezogen werden, z. B. die Schulung der Beobachtung durch das Erkennen von Mustern und Strukturen in der Natur, die Schulung des Hörens durch das Erfassen von Melodien und Klangformen, die Schulung der Sprache durch das Aufnehmen und Erfinden von Geschichten und Reimen, die Schulung des körperlichen Ausdrucks im Tanz. Einen großen Stellenwert nehmen in Tiefensee auch Feste als besondere Höhepunkte für die Kinder ein. »Man nehme dies wörtlich: Nicht nur ein Grund zum Sich-freuen, sondern ein Anlass zu gesteigertem Sein. Darin liegt seine erzieherische Kraft! Es erhebt das Kind, nicht im sentimentalen, sondern im wirklichen Sinn, über den üblichen Stand des Lebens. Nicht nur am Festtag selbst, Wochen und Monate vorher schon ist unsere ganze Schar in jenem Alarmzustand, der, weit entfernt von dem viel beredeten ›Fieber‹ vor Festen, vor allem ein Zeichen erhöhter Tätigkeit

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ist und dessen Nachklänge noch Wochen später zu spüren sind« (ebd., 81). Vor allem drei große Feste, in deren Gestaltung auch das Umfeld der Schule einbezogen wurde, begleiteten und strukturierten den Jahresverlauf an der Dorfschule: das Mittwinterfest (Weihnachten), das Frühlingsfest (die Arbeiterfeier des 1. Mai), das Herbstfest (der Erntedank) (vgl. ebd. 82).

Neben diesen Festen stellt die sommerliche Großfahrt einen Höhepunkt im Alltag von Kindern und Erziehern dar. Das gemeinsame Leben unter einfachsten Bedingungen, das Aushandeln von sozialen Ordnungen und das Übernehmen von Verantwortung sind dabei zentrale Elemente. »Nur wenn jeder für den anderen mitdenkt und –handelt, kommt er selbst zu dem, was er braucht. Gerade weil keine Eltern da sind, die ihm diese Verantwortung und dieses Sorgen abnehmen, erlebt das Kind draußen auf Fahrt, wie das Leben eigentlich ist« (ebd., 89 f.).

Wirft man einen abschließenden Blick auf das Leben und Lernen in Tiefensee, so bestechen die konsequente Zuwendung zum Kind und die Tiefe der Aus­ein­ andersetzung mit den Lerngegenständen, die Achtung gegenüber jeder Form von Leistung, die große Vielfalt gemeinsamer Unternehmungen und methodischer Arrangements. Impulse für die aktuelle Elementarpädagogik

Im pädagogischen Verständnis Adolf Reichweins ist Bildung ein mehrdimensionaler und interdisziplinärer Prozess, der auf ein tiefes Verstehen der Lebenswirklichkeit und der Welt durch die Lernenden ausgerichtet ist. Während Dewey und Kerschensteiner in diesem Zusammenhang die Begriffe »Projekt« und »Werkstatt« als zentrale Organisationsform exemplarischen Lernens verwenden und die unmittelbare Erfahrung als zentral herausstellen, spricht Reichwein von »Vorhaben« und betont damit die tendenzielle inhaltlich-methodische Offenheit der Auseinandersetzung. Vorhaben ergeben sich aus der Lebenswirklichkeit des Kindes, können aber auch von den pädagogischen Kräften initiiert werden und gehen bei Reichwein mitunter bewusst über die vertraute (ländliche) Lebenswirklichkeit der Kinder hinaus, um ihre Neugier herauszufordern und ihr Blickfeld zu vergrößern. So kann es auch für kleine Kinder schon interessant sein, sich mit fremden Ländern und Kulturen oder anderen Lebensweisen auseinanderzusetzen und in Nähe und Distanz zur eigenen Lebenswirklichkeit erste Vorstellungen von der Komplexität der Welt zu entwickeln. Das Fremde und Unbekannte kann eine Hal-

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Impulse für die Elementarpädagogik

tung der Neugier herausfordern und eine Suchbewegung auslösen, die darauf ausgerichtet ist, im Alltäglichen das vermeintlich Fremde wiederzuentdecken. Neben solchen Auseinandersetzungen orientieren sich die Vorhaben bei Reichwein an den Jahreszeiten und damit dicht am unmittelbaren Erleben der Kinder. Die Vorbereitung der Vorhaben durch das Spielen mit und das Erproben von Gegenständen und Materialien ist ein natürlicher Prozess, der in der Praxis von Kindertagesstätten in vielfältiger Weise zu beobachten ist. Das Anlegen von Materialsammlungen mit unterschiedlichen Alltagsmaterialien, z. B. Knopfkisten, Papiersammlungen, Garnrollen, Stofftruhen, ist eine geeignete Form, um das Explorationsverhalten der Kinder zu fördern und ihnen schnell und unkompliziert eine Vielzahl an Materialien für die unterschiedlichsten Vorhaben zur Verfügung stellen zu können. Gemeinsam mit den Kindern organisierte Feste und Fahrten können den Alltag der Kindertagesstätte auflockern und zu mehr Selbstständigkeit und Gemeinschaftssinn beitragen. Als immer wiederkehrende Rituale können solche Höhepunkte der Einrichtung ein Gesicht geben und sie auch für den Sozialraum öffnen. Exkurs: Den Stadtkindern das ländliche Leben näher bringen

Ging es Reichwein im Kontext seiner Zeit in erster Linie darum, den Horizont der Kinder im ländlichen Raum zu erweitern, indem sie sich auch mit überregionalen Themen auseinandersetzen, geht es heute darum, den Kindern, die überwiegend in der Stadt leben, den ländlichen Raum näher zu bringen. Die »Kinder- und Jugendfarm e. V.« am Stadtrand von München ist dafür ein gutes Beispiel. Sie befindet sich am Rande einer Schnellstraße und dennoch erscheint es »als betrete man eine kleine friedliche Oase. Überall gibt es Sträucher und Bäume, die im Sommer mit ihren grünen Blättern einen frischen Kontrast zu den grauen Betonbauten bilden« (Hoppe 2008, 10). Außerdem gibt es auf der Farm Freiläufe für Ponys und Ziegen, Hängebauchschweine, Schafe, Hühner, Gänse und in einem Hasenstall mehrere liebevoll gezüchtete Hasen. Aber die Farm ist kein Zoo. Wer sie besucht, muss mit anpacken. Das gilt auch schon für die Kleinsten, die bei der Versorgung der Tiere und beim Bauen von Zäunen und anderen Gerätschaften in der hauseigenen Schreinerei einbezogen werden. »Für die Farm ist die Arbeit mit den kleinsten Kindern auch eine eigennützige Präventionsarbeit. Wenn die Kinder die Farm mit den Tieren kennen lernen, findet eine Art Identifikation statt und sie werden sich später an die Wertschätzung zurückerinnern, wenn ihre Freunde versuchen zu randalieren, Zäune kaputt zu machen und Müll herum zu schmeißen. Daher gibt es auf der Farm eher selten Vandalismus« (ebd., 11).

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Maria Montessori – Célestin Freinet – Peter Petersen

Außerdem gibt es auf dem Gelände der Farm einen großen Spielplatz und eine Feuerstelle, die häufig genutzt wird. Kinder- und Jugendfarmen gibt es in ganz Deutschland. Alternativ besuchen Kindergartengruppen aber auch Bauernhöfe oder laden Beschäftigte solcher Höfe ein. So kann das Leben und Lernen entlang des Jahreslaufes mit der Erkundung des eigenen Umfeldes verbunden werden und den Kindern neue Erfahrungsräume erschließen.

2.3 Maria Montessori – Célestin Freinet – Peter Petersen

1870–1952

1896–1966

1884–1952

Während Pestalozzi und Fröbel grundlegende philosophische, anthropologische und pädagogische Grundverständnisse in den pädagogischen Diskurs eingebracht haben, die Schrader-Breymann vor dem Hintergrund der Frauenbewegung ihrer Zeit gedeutet hat und Dewey, Kerschensteiner und Reichwein Prinzipien und Organisationsformen des Lernens theoretisch entwickelt und praktisch erprobt haben, sind die reformpädagogischen Theorien von Montessori, Freinet und Petersen eher als reformpädagogische »Schulen« zu verstehen, die auf diese Grundannahmen aufbauen oder doch zumindest nicht im Gegensatz zu ihnen stehen. Die pädagogischen Ansätze von Montessori, Freinet und Petersen haben vieles gemeinsam, z. B. die Altersmischung in den Kindergruppen, die Freiarbeit als zentrale Arbeitsform, das Favorisieren bestimmter Materialien, daneben setzen sie typische didaktisch-methodische Schwerpunkte, die sie als »Montessori-Pädagogik«, »Freinet-Pädagogik« und »Jena-Plan-Pädagogik« ausweisen. Geographisch wird der Bogen von Italien über Frankreich nach Deutschland geschlagen, was die Internationalität der reformpädagogischen Bewegung unterstreicht.

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Impulse für die Elementarpädagogik

2.3.1 Maria Montessori: Polarisation der Aufmerksamkeit Leben

Maria Montessori wird 1870 in Chiaravalle bei Ancona in gutbürgerlichen Verhältnissen geboren. Montessori, die schon früh eine naturwissenschaftlichmathematische Begabung zeigt, besucht die Technische Schule, eine Art Gymnasium, das auf ein Hochschulstudium vorbereiten soll und im Gegensatz zur Höheren Schule in Italien auch für Mädchen offen ist. Obwohl Frauen zum Medizinstudium eigentlich nicht zugelassen werden, ist Montessori die erste Medizinstudentin und die erste Ärztin Italiens. 1896 wird sie Assistenzärztin an der Universitätskinderklinik in Rom und promoviert zum Dr. med. Dort widmet sie sich zusammen mit Giuseppe Montesano, dem Vater ihres 1898 geborenen Sohnes Mario, der Erforschung und Erziehung geistig behinderter Kinder mit Hilfe unterschiedlicher Sinnesübungen und erzielt erstaunliche Erfolge. Montessori reist in viele Länder Europas, um die dort vorhandenen Einrichtungen und Behandlungsmöglichkeiten geistig behinderter Kinder kennen zu lernen. 1902 nimmt Montessori erneut ein Studium auf, in dem sie sich mit pädagogischen und anthropologischen Fragen beschäftigt. In der Folgezeit erweitert sie ihre Erfahrungen im Hinblick auf die Erziehung gesunder Kinder im Vorschulalter aus und habilitiert 1904 im Fach Pädagogische Anthropologie. 1907 eröffnet Montessori ihr erstes Kinderhaus, die »Casa dei Bambini«, in einem römischen Proletarierviertel und entwickelt ihre Methode der Kleinkindererziehung weiter. »1909 ermöglichte ihr ihre große Sponsorin, die der Theosophie angehörige Baronin Alice Franchetti, in ihrer luxuriösen Villa La Montesca einen ersten Ausbildungskurs in der neuen Montessori-Methode durchzuführen, dem 1910 bereits ein erster internationaler Kurs folgte« (Böhm 2012, 79). Später weitet Montessori ihre pädagogische Arbeit auf Kinder im Schulalter aus und publiziert ihre pädagogischen Grundsätze bis 1918 in zwölf Sprachen, was ihr internationale Anerkennung einbringt (vgl. Oswald/Schulz-Benesch 2008). 1914 verlässt Montessori Italien und siedelt nach Barcelona über, wo sie »ihre Methode auf die religiöse Erziehung nach dem katholischen Bekenntnis anwandte« (Böhm 2012, 79). In der Folgezeit widmet sich Montessori der Verbreitung ihrer Pädagogik durch Schriften, Vorträge, Ausbildungskurse und die Gründung der internationalen Montessori-Gesellschaft. Kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges reist Montessori Ende 1939 nach Indien und wird dort als italienische Staatsangehörige interniert. »Obwohl Montessori schon siebzig Jahre alt ist, kann ihr diese Zeit nicht den Mut nehmen. […] Bis Montessori 1949 nach Holland zurückkehrt, hat sie

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Maria Montessori – Célestin Freinet – Peter Petersen

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in Indien ein blühendes Montessori-Erziehungswesen aufgebaut« (Oswald/ Schulz-Benesch 2008, 271). Am 5. Mai 1952 stirbt Montessori im holländischen Noordwijk. Werk

Ausgangspunkt des pädagogischen Ansatzes von Montessori ist nach ihren eigenen Aussagen die Beobachtung der tiefen Konzentration von Kindern auf Phänomene ihres Alltags, was Montessori mit der Bezeichnung »Polarisation der Aufmerksamkeit« umschreibt. Bei ersten Versuchen des Einsatzes verschiedener Materialien mit kleineren Kindern beschreibt sie: »Als ich meine ersten Versuche […] durchführte, beobachtete ich ein etwa dreijähriges Mädchen, das tief versunken war in die Beschäftigung mit einem Einsatzzylinderblock, aus dem es die kleinen Holzzylinder herauszog und wieder an ihre Stelle steckte. Der Ausdruck des Mädchens zeugte von so intensiver Aufmerksamkeit, dass er für mich eine außerordentliche Offenbarung war. […] Zu Anfang beobachtete ich die Kleine, ohne sie zu stören, aber dann […] nahm ich das Stühlchen, auf dem sie saß, und stellte Stühlchen und Mädchen auf den Tisch; die Kleine sammelte schnell ihr Steckspiel auf, stellte den Holzblock auf die Armlehnen des kleinen Sessels, legte sich die Zylinder in den Schoß und fuhr mit ihrer Arbeit fort. Da forderte ich alle Kinder auf zu singen […] aber das Mädchen fuhr unbeirrt fort, seine Übung zu wiederholen […] Ich hatte 44 Übungen gezählt. Und als es endlich aufhörte, tat es dies unabhängig von den Anreizen der Umgebung […] und das Mädchen schaute zufrieden um sich, als erwachte es aus einem erholsamen Schlaf« (zitiert nach Oswald/ Schulz-Benesch 2008, 77 f.).

Da dieses Phänomen immer wieder beobachtet werden kann, bezeichnet Montessori es als »konstanten Aspekt innerer Bildung« (ebd. S. 78), der sich in drei Phasen manifestiert: Der Vorbereitung als Zuwendung zur Tätigkeit, dem konzentrierten Arbeiten und einer Phase der Ruhe in Form innerer Sammlung und Betrachtung. Die »Polarisation der Aufmerksamkeit« kann durch das Vorfinden einer bestimmten Umgebung, der »Vorbereiteten Umgebung«, unterstützt werden. Merkmale der »Vorbereiteten Umgebung« sind Kontinuität, d. h. das Vorhandensein eines verlässlichen Ordnungssystems, Progressivität, d. h., dass die Materialien sich am Entwicklungsstand des Kindes orientieren und eine Herausforderung darstellen, Einfachheit, d. h., dass die Materialien sich durch Schlichtheit in Form und Verarbeitung auszeichnen, und Proportionalität, d. h., dass die

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Impulse für die Elementarpädagogik

gesamte Umgebung des Kindes sich in ihren Proportionen der Form des kindlichen Körpers anpasst. Montessori hat gemeinsam mit ihrem Sohn Mario Montessori eine Vielzahl an Materialien entwickelt, die ebenfalls bestimmten Kriterien genügen müssen. Dazu zählen z. B. die Isolation einer Schwierigkeit, indem Gegenstände vorbereitet werden, die sich nur in einer Eigenschaft (Größe, Farbe, Oberflächenbeschaffenheit o. ä. voneinander unterscheiden), die mengenmäßige Begrenzung, d. h. jedes Material ist nur einmal vorhanden, die ästhetische Qualität und die immanente Fehlerkontrolle. Darüber hinaus sollen die Materialien Sinne, Kognitionen und Emotionen des Kindes ansprechen und Schlüsselfunktionen für das Erlernen eines Sachverhalts im Sinne exemplarischen Lernens ausüben können. »Ein weiteres Merkmal des Entwicklungsmaterials muss seine Eignung für die Tätigkeit des Kindes sein. Die Möglichkeit, die interessierte Aufmerksamkeit des Kindes zu erhalten, hängt nicht so sehr von der in den Dingen enthaltenen ›Qualität‹ ab, sondern vielmehr davon, welche Anregungen sie zum Handeln bieten« (ebd., 113). Dies trifft auch für die »Übungen des täglichen Lebens« zu, die manuelle Arbeit im täglichen Zusammenleben und geistige Konzentration miteinander verbinden. Übungen des täglichen Lebens sind z. B. Löffel- oder Zangenübungen, bei denen Kugeln oder Muscheln von einem Gefäß in ein anderes transportiert werden, Knöpf- und Bindeübungen, z. B. das Zuknöpfen einer Jacke oder das Zubinden der Schuhe, das Staubwischen, Bodenkehren und Fensterputzen. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive vollzieht sich Entwicklung in der Montessori-Pädagogik in verschiedenen Phasen. Die erste Phase erstreckt sich von der Geburt bis zum sechsten Lebensjahr, die zweite von sechs bis zwölf Jahren, die dritte von zwölf bis achtzehn. »Nach dem 18. Lebensjahr kann der Mensch als voll entwickelt angesehen werden. Bei ihm tritt keine beachtenswerte Veränderung mehr auf. Er wird nur älter« (ebd., 85). Innerhalb der Phasen beobachtete Montessori bestimmte »Empfänglichkeitsperioden« (Sensible Phasen). »Die innere Empfänglichkeit bestimmt, was aus der Vielfalt der Umwelt jeweils aufgenommen werden soll und welche Situationen für das augenblickliche Entwicklungsstadium die vorteilhaftesten sind […] Sobald eine solche Empfänglichkeit in der Seele des Kindes aufleuchtet, ist es, als ob ein Lichtstrahl von ihr ausginge, der nur bestimmte Gegenstände erhellt, andere hingegen im Dunkeln lässt. Nicht nur, dass das Kind jetzt das lebhafte Bedürfnis empfindet, sich in bestimmte Situationen zu versetzen und bestimmte Dinge um sich zu haben; es entwickelt auch eine besondere, ja einzigartige Fähigkeit, diese Elemente seinem seelischen Wachstum dienstbar zu machen« (ebd., 90). In der Entwicklungsphase der 0–3-Jährigen beobachtete Montessori eine besondere Sensibilität für Ordnung, für Bewegung und Sprache, während die

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Maria Montessori – Célestin Freinet – Peter Petersen

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3–6-Jährigen auf die Erweiterung ihrer (wenn auch sporadischen) sozialen Beziehungen bei zunehmendem (selbst)reflexiven Verhaltens ausgerichtet sind. Im Alter von 6–12 Jahren steht die Entwicklung des moralischen Bewusstseins und des abstrakten Denkens im Mittelpunkt. Für die 12–18-Jährigen hat Montessori ihren »Erdenkinderplan« erarbeitet, der die zunehmende Integration in das gesellschaftliche Leben und die Einsicht in globale Zusammenhänge unterstützen soll. Der institutionellen Bildungsarbeit räumt Montessori einen großen Stellenwert ein. Das Kinderhaus für die Kleinsten »Nido dei bambini« nimmt Kinder von 1–3 Jahren auf. Daran schließt sich an das »Casa dei Bambini« für die 3–6-Jährigen, die Montessori-Grundschule für Kinder im Alter von 6–12 Jahren und die Montessori-Sekundarschulen für die 12–18-Jährigen. In allen Institutionen der Montessori-Pädagogik wird der Altersmischung ein hoher Stellenwert eingeräumt, wobei ein Altersunterschied von mindestens drei Jahren in den Gruppen angestrebt wird. Des Weiteren wird eine enge Verbindung von vorschulischer- und Grundschulerziehung als wichtig angesehen. Das inhaltliche Spektrum der Bildung umfasst in der Montessori-Pädagogik acht Dimensionen: Sprachliche Bildung, mathematische Bildung, musischkünstlerische Bildung, sittliche und soziale Erziehung, Stilleerziehung, religiöse Erziehung, kosmische Erziehung und Friedenserziehung. Entgegen gängiger Praxis meint Montessori: »Die geschriebene Sprache kann von vierjährigen Kindern viel leichter erlernt werden als von sechsjährigen, für die gewöhnlich die obligatorische Erziehung beginnt. Während die Kinder im Alter von sechs Jahren mit großer Mühe und großer Anstrengung wider ihre Natur mindestens zwei Jahre auf das Erlernen des Schreibens verwenden müssen, lernen die vierjährigen Kinder die zweite Sprachform innerhalb weniger Monate. Sie erwerben sie nicht nur ohne Mühe und Anstrengung, sondern mit Enthusiasmus« (ebd., 160).

Mathematische Bildung in der frühen Kindheit muss der Schwierigkeit Rechnung tragen, dass »die mathematischen Gegenstände […] nicht in der Umgebung verteilt (sind) wie die Bäume, die Blumen und die Tiere. Somit fehlt die Gelegenheit, im Kindesalter spontan den mathematischen Geist zu entwickeln« (ebd. 163 f.). Daher ist die Bereitstellung mathematischen Materials erforderlich. Beim Zeichnen werden in der Montessori-Pädagogik häufig ornamentale Motive und Figuren vorgegeben, das freie Zeichnen dagegen findet kaum Berücksichtigung. »Das sogenannte freie Zeichnen hat in meine Methode keinen Eingang gefunden, ich vermeide unreife Versuche, die unnötig anstrengen,

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Impulse für die Elementarpädagogik

sowie die abscheulichen Zeichnungen, die in modernen fortschrittlichen Schulen so sehr geschätzt werden« (ebd., 165). Neben dem Nachempfinden der Natur im Bild wird der Musik, dem Singen, Musizieren und Tanzen ein großer Stellenwert eingeräumt. Ordnung und Sittlichkeit sind in der Montessori-Pädagogik eng miteinander verbunden. Ein wichtiger Aspekt ist darüber hinaus die Erziehung zur Stille, die im Verständnis dieses pädagogischen Ansatzes eine grundsätzliche Funktion hat. »Ich hätte doch nicht gedacht, dass diese kleinen Kinder diese geheimnisvolle, einfache Sache, welche die Stille ist, derart lieben würden« (ebd., 182). In der Stille tritt ein, was Montessori den Aufenthalt »in einer verfeinerten, subtilen Welt« (ebd., 184) nennt. Religiöse Erziehung ist in der Montessori-Pädagogik unverzichtbar. In Barcelona schuf Montessori dafür das Beispiel der »Kirche der Kinder«, in der sich die Umgebung den Proportionen der Kinder anpasst und Kinder durch Liebe und sanfte, gütige Zuneigung an den Glauben herangeführt werden. Der kosmischen Erziehung liegt ein universeller Lehrplan zugrunde, in welchem sich die neuen Generationen all die Einzelheiten der Bildung aneignen und in ihrer Komplexität begreifen müssen, um Bewunderung der Schöpfung und Verantwortung für sie entwickeln zu können. Friedenserziehung formuliert Montessori als übergreifendes Ziel aller Erziehung: »[…] Der Frieden ist ein Ziel, das nur durch Übereinkunft erreicht werden kann, und es sind zwei Wege, die zu dieser friedensstiftenden Union führen. Einer ist die unmittelbare Anstrengung, die Konflikte ohne Gewalt zu lösen d. h. die Kriege zu vermeiden; der andere besteht in der Anstrengung auf lange Sicht, einen stabilen Frieden unter den Menschen aufzubauen. Konflikte zu vermeiden ist Werk der Politik, den Frieden aufzubauen ist Werk der Erziehung« (ebd., 207). Impulse für die aktuelle Elementarpädagogik

Im Mittelpunkt der Montessori-Pädagogik steht das Kind mit seinem natürlichen Entwicklungsdrang, der sich in einer ungeteilten Aufmerksamkeit und Hingabe in der Betrachtung von Phänomenen zeigt, was Montessori mit der Bezeichnung »absorbierender Geist« (Montessori 2007, 23) umschreibt. Diese natürliche Anlage kann durch die Gestaltung des Raumes und die »vorbereitete Umgebung« in der Kindertagesstätte unterstützt werden. Nicht das Kind soll sich seiner Umgebung anpassen, sondern die Umgebung dem Kind. Ordnungssysteme erleichtern dem Kind die Orientierung sowohl in der äußeren als auch in der innerpsychischen Welt. Die Beschaffenheit der Montessori-Materialien orientiert sich am übergreifenden Prinzip der Ordnung und Ästhetik und ermöglicht dem Kind eine

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selbstständige Fehlerkontrolle. Ganz im Sinne vom Leitsatz »Hilf mir, es selbst zu tun!« sind alle pädagogischen Anstrengungen darauf ausgerichtet, die Selbstständigkeit und Eigenverantwortung des Kindes zu stärken. Diesem Ziel dienen auch die »Übungen des täglichen Lebens«, bei denen die Kinder sich in der Verrichtung alltäglicher Arbeiten üben und so lebenspraktische Kompetenzen erweitern. In altersgemischten Gruppen werden familienähnliche Strukturen nachempfunden, in denen jüngere und ältere Kinder voneinander lernen und Empathie und Solidarität üben können, wobei sich die Altersmischung in den Einrichtungen unterschiedlich gestalten kann. Während einige Einrichtungen eine Altersdifferenz von bis zu drei Jahren anstreben, entscheiden sich andere für ein engeres Altersspektrum von ein bis zwei Jahren. Montessoris Ablehnung des freien Malens und Zeichnens ist vor dem Hintergrund ihres naturwissenschaftlichen Ansatzes zwar nachvollziehbar, kann aber in Anbetracht der kreativen Potenziale dieser Ausdrucksform heute nicht mehr zugestimmt werden. Ebenfalls empirisch nicht haltbar ist ihre Annahme, dass vierjährige Kinder generell die Schriftsprache schneller und müheloser lernen als Kinder im schulpflichtigen Alter. Im Gegensatz dazu wird in der Grundschuldidaktik heute davon ausgegangen, dass der Erwerb der Schriftsprache ebenso wie der der gesprochenen Sprache individuell sehr unterschiedlich verlaufen kann und keiner künstlichen Verfrühung bedarf. Einer engen Zusammenarbeit von vorschulischer Einrichtung und Grundschule wird nach wie vor zumindest in der Theorie ein hoher Stellenwert eingeräumt. In der praktischen Umsetzung gibt es regional erhebliche Unterschiede. Exkurs: Montessori-Kindergarten Bernau

Der Träger des Montessori-Kindergartens Bernau ist der Montessori-Kinderladen e. V. als anerkannter freier Träger der Jugendhilfe. Die Einrichtung besteht seit 1998. Die Einrichtung besuchen 46 Kinder im Alter von zwei Jahren bis zur Einschulung. In den Stammgruppen sind die Kinder im Alter von zwei und drei Jahren, von drei und vier Jahren und vier bis sechs Jahren in jeweils einer Gruppe. Im Montessori-Kindergarten Bernau arbeiten sechs pädagogische Fachkräfte inklusive einer pädagogischen Leiterin. Im Innenbereich gibt es einen Freiarbeitsraum mit Montessori Material in offenen Regalen, mit einem Lese-, Bau- und Töpferbereich, einer Bärenecke und einem Puppenhaus. Außerdem gibt es einen Bewegungsraum, der auch als Schlafraum genutzt wird, mit Klangschalen und Musikinstrumenten, einen Essenraum mit integrierter Küche, in der sich alle Arbeitsflächen auf Kinderhöhe befinden, eine Finnische Blockbohlensauna, zwei Sanitärbereiche und einen

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Eingangsbereich mit Bildergalerie und Garderobe. Der großzügige Außenbereich ist naturnah gestaltet mit Spielgeräten und Unikaten aus Holz, z. B. einem Hexenhaus und einer Eisenbahn, mit einem Natur- und Erlebnisgarten, z. B. mit einer Kräuterspirale aus Naturstein und einem Tastweg aus unterschiedlichen Materialien. Zum Außenbereich gehören außerdem eine große Rasenfläche mit altem Baumbestand und eine Terrasse mit Sitzgelegenheiten. Die Tagesstätte ist Montag bis Freitag von 7.00 Uhr bis 17.00 Uhr geöffnet. Der Tagesablauf ist streng geregelt und beginnt um 7.30 Uhr mit dem gemeinsamen Frühstück. Daran schließt sich von 8.00 Uhr bis 10.00 Uhr Morgenkreis, Freiarbeit und/oder Projektarbeit und 10.00 Uhr–11.00 Uhr ein Aufenthalt im Freien an. Nach dem Mittagessen folgt die Mittagsruhe oder alternativ eine Phase individuellen Spielens. Ab 14.15 Uhr erfolgt nach der Vesper die Nachmittagsgestaltung, die sich am Jahresverlauf orientiert.

Zusätzlich zu diesem pädagogischen Angebot wird die Kindertagesstätte durch externe Pädagogen bei Veranstaltungen zur Musikalischen Früherziehung, beim Waldwandern und bei sportlichen Wettkämpfen unterstützt (vgl. www.montessori-kindergarten-bernau.de) 2.3.2 Célestin Freinet: Freier Ausdruck und forschendes Lernen Leben

Célestin Freinet wird 1896 als fünftes von acht Kindern einer südfranzösischen Bauernfamilie in dem kleinen Dorf Gars geboren. Das Leben in der Natur und der Umgang mit der einfachen dörflichen Bevölkerung haben erheblichen Einfluss auf Freinets Kindheit und prägen seine späteren Vorstellungen von Bildung und Erziehung. Freinet wird bereits mit vier Jahren eingeschult und besucht nach der Volksschule und dem Gymnasium ab 1913 das Lehrerbildungsseminar. 1914 verritt er einen in den Krieg einberufenen Lehrer in einer ersten Klasse, bevor er selbst 1915 einberufen und 1916 durch einen Lungenschuss schwer verwundet wird. Nach zwei Jahren in Lazaretten und Sanatorien, wo er sich teilweise mit Naturheilverfahren selbst behandelt, wird er 1919 zu 70 Prozent kriegsgeschädigt entlassen (vgl. Kock 2006, 15). Er nimmt sein Studium wieder auf, erwirbt 1920 die Lehrbefähigung für die Primarschule und wird im gleichen Jahr in den Schuldienst übernommen. Hier beginnt er in Auseinandersetzung mit seinen Kindheitserfahrungen und der sich etablierenden Reformpädagogik nach dem 1. Weltkrieg, z. B. von Hermann Lietz, Paul Geheeb und Adolphe Ferriere, seine Vorstellungen von Pädagogik zu verwirklichen. Daneben ist er politisch aktiv.

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»Um die soziale Armut der Kleinbauern zu verbessern, gründet er Ein- und Verkaufsgenossenschaften, die er zeitweise sogar als Vorsitzender leitet. Er schließt sich 1922 der Antikriegsbewegung ›Clarté‹ (›Klarheit‹) an und tritt in die linksorientierte ›Einheitsgewerkschaft der Arbeiter im Bildungswesen‹ ein […] Schließlich wird er 1929 Mitglied der ›Kommunistischen Partei Frankreichs – PCF‹« (Jörg 2009, 172).

1926 heiratet Freinet seine Frau Elise, die als Lehrerin tätig ist und seine politischen und pädagogischen Überzeugungen teilt. Freinet reist durch Europa, um die Reformbestrebungen anderer Länder kennenzulernen, studiert das sowjetische Schulsystem und nimmt u. a. 1928 am internationalen pädagogischen Kongress in Leipzig teil, wo er neben vielen Reformpädagogen auch Peter Petersen trifft. Freinet ruft 1924 eine Bewegung – die Coopérative de l’enseignement laic – ins Leben, die hauptsächlich Materialien für den Unterricht herstellt und sich als eine Plattform für den pädagogischen Austausch versteht. Mit zunehmender Zahl der Anhänger der Freinet-Pädagogik wachsen auch die gesellschaftlichen Widerstände gegen sie, die 1933 dazu führen, dass Freinet sich vom Schuldienst beurlauben lässt. Die Zeit der Beurlaubung nutzt Freinet gemeinsam mit seiner Frau zur Konzeption einer gemischten Schule für arme und proletarische Kinder von vier bis vierzehn Jahren. 1935 wird die Schule eröffnet, findet aber mit Beginn des Krieges 1940 ein vorläufiges Ende. Im selben Jahr wird Freinet wegen antinationaler Aktivitäten verhaftet und interniert. Er schließt sich nach seiner Entlassung der Résistance an. Nach Ende des Krieges ist Freinet vor allem publizistisch tätig. Er veröffentlicht in der Zeit zwischen 1945 und 1966 mehr als 11 Bücher, 42 Broschüren und 1289 Artikel (vgl. Kock 2006, 34). Nach heftigen Auseinandersetzungen verlässt Freinet gemeinsam mit seiner Frau Elise die Kommunistische Partei, da er sich nicht parteipolitisch instrumentalisieren lassen will. 1966 stirbt Freinet und wird in seinem Geburtsort Gars beerdigt. Werk

Die Pädagogik Célestin Freinets ist auf das unmittelbare (Er)Leben des Kindes in seiner natürlichen Umgebung und die Ermöglichung authentischer Erfahrungen ausgerichtet. Dieses Verweilen in der unmittelbaren Lebenswirklichkeit und die handelnde Auseinandersetzung mit ihr realisieren sich als ein tastendes Versuchen oder tastendes Heranarbeiten. »Im experimentellen Tasten als tastendes Erforschen von Umwelt und Welt erkennt Freinet das Grundphänomen allen Lebens, welches das Werden und

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Verhalten jedes Einzelnen, jeden wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt und die ganze menschliche Geschichte begründet« (ebd., 48).

Dabei wird der Aufhebung der Isoliertheit und der Öffnung von Bildungseinrichtungen zum sozialen und gesellschaftlich-ökonomischen Umfeld eine große Bedeutung beigemessen. So besucht Freinet mit den Kindern seiner Schulklassen die ansässigen Bauern und Handwerker und lässt sie darüber Berichte anfertigen. Die Kinder beteiligen sich an der Garten- und Feldarbeit, organisieren Erkundungsgänge und Fahrten und fertigen handwerkliche, technische oder künstlerische Produkte an, die dann verkauft werden. Häufig werden Experten, Handwerker, Arbeiter und Bauern in den Unterrichtsprozess einbezogen, die über ihre Arbeit berichten und die Kinder anleiten. Auch die Eltern der Schülerinnen und Schüler werden unmittelbar in die Vorbereitung und Durchführung der schulischen Aktivitäten einbezogen. »Die Schule wird durch Einrichtung von Schulgärten, Umgestaltung des Klassenraums, Ausgestaltung von Arbeitsateliers, Einführung von Forschungsarbeiten, neuen Arbeitstechniken und Wandzeitungen, Neustrukturierung des Tagesablaufs und Organisation wöchentlicher Versammlungen so ausgestattet, dass in ihr selbst neue Erfahrungen gemacht werden können […] Die Schule versteht sich dabei als Prototyp der Schule der Zukunft und als Embryo der neuen Gesellschaft, in der die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller, Erwachsener und Kinder, verwirklicht ist« (ebd., 68).

In Schulen, die nach dem pädagogischen Ansatz Freinets arbeiten, organisieren die Schülerinnen und Schüler ihre Arbeit selbst, stellen Arbeitspläne auf, kontrollieren den Arbeitsprozess und werten ihn aus. Die Lehrperson fungiert als Lernberater. Der Kommunikation und dem freien Ausdruck misst Freinet eine besondere Bedeutung bei, da er Aufschluss über die Fragen, Interessen und Denkwege der Kinder gibt. Der freie Ausdruck ermöglicht ihnen sich aktiv mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzen, sich ihrer Erfahrungen bewusst zu werden und in den Austausch mit anderen Menschen zu treten. Freier Ausdruck in Verbindung mit der Druckerei stellen das inhaltliche Material zur Verfügung, an dem sich der Unterricht auszurichten hat. Dabei muss sich der freie Ausdruck nicht auf schriftsprachliche Formen beschränken. »Freier Ausdruck kann sich im Komponieren eines Liedes vollziehen, im freien Malen, im Gestalten eines Linoldrucks, einer Lithographie, einer Collage, einer

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Fotographie, eines Films, in einem selbst kreierten Tanz, einer Pantomime, einem Theaterstück, in Arbeiten mit Ton und Holz oder in einem Vortrag. Auch andere Techniken freien Ausdrucks sind denkbar« (ebd., 76).

Austausch und Kommunikation wird außerdem durch die innerschulische Korrespondenz, die Klassenkorrespondenz, die Wandzeitung und die Schulund Klassenzeitung unterstützt. Im Klassentagebuch wird das Geschehen in der Schulklasse, im persönlichen Schultagebuch individuelle Erlebnisse dokumentiert. Neben den verschiedenen Formen des freien Ausdrucks wird in der FreinetPädagogik dem forschenden Lernen ein hoher Stellenwert eingeräumt. Dafür entwickelt Freinet die Form der Arbeitsateliers bzw. Arbeitsecken. Als außerhalb der Schule liegende Ateliers werden der Gemüse- und Obstgarten und der Tierpflegeraum genutzt. Innerhalb der Schule sieht Freinet Ateliers vor für manuelle Elementararbeiten, z. B. Feldarbeit und Tierpflege, Schmiede und Schreinerei, Spinnen, Weben, Schneidern, Kochen und Hausarbeit, und Ateliers für theoretisch-geistige Arbeitsvorhaben, z. B. Planung, Wissenserwerb, Versuche, Ausdruck und Mitteilung (vgl. ebd., 75). Die Ateliers sind nicht als separate Funktionsräume konzipiert, sondern eher als Raumabteilungen, was Freinet in seinem Werk »Die moderne französische Schule« wie folgt erklärt: »Gerade gegen eine solche pädagogische Konzeption […], gegen die anormale Trennung der geistig arbeitenden Klasse von dem Raum, in dem sie sich auch werktätig beschäftigt, wenden wir uns energisch. Diese Trennung zwischen geistigem und werktätigem Tun ist es, die den Handarbeiter als mittelmäßig abstempelt und die Klasse der Intellektuellen desto dünkelhafter erscheinen lässt, je mehr sie sich steril abkapselt« (zitiert nach Jörg 2007, 102).

Eine besondere Bedeutung kommt in der Freinet-Pädagogik der Mitverantwortung der Schülerinnen und Schüler bei der Gestaltung des Schullebens zu. In den letzten beiden Stunden der Unterrichtswoche wird eine Vollversammlung der Schüler- und Lehrerschaft abgehalten, die von dem jeweils für eine Woche gewählten Präsidenten der Schulgemeinde geleitet und durch seinen Sekretär protokolliert wird. Die Versammlung beginnt mit dem Vorlesen des Protokolls der letzten Vollversammlung. Aufgaben der Vollversammlung sind: »Offenlegung der Finanzlage, Diskussion der Tagesordnungspunkte; Kontrolle der Arbeitsergebnisse, Auswertung der Wandzeitung mit den Rubriken: Wir beglückwünschen – Wir fordern – Wir üben Kritik; Besprechung der allgemeinen Seite des Klassentagebuchs« (ebd., 94).

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Im Rahmen der Vollversammlung werden Arbeiten, die in der Woche entstanden sind, ausgestellt. Die Vollversammlung ist auch offen für die Eltern der Kinder. Impulse für die aktuelle Elementarpädagogik

Viele der von Freinet ursprünglich für die Schule entwickelten Grundsätze lassen sich auch auf den Kindergarten übertragen. Vor dem Hintergrund, dass viele Kinder das soziale Umfeld ihres Wohnortes kaum kennen, da die Wege zur und von der Kindertagesstätte häufig schnellstmöglich und häufig auch motorisiert zurückgelegt werden, kommt der Öffnung der Bildungseinrichtungen zum sozialen, gesellschaftlichen und ökonomischen Umfeld auch aktuell eine große Bedeutung zu. Projekte in Kindergärten, die sich mit Themen wie z. B. »Auf dem Bahnhof«, »Im Supermarkt«, »Beim Tierarzt« auseinandersetzen, können Kindern Einblicke in unterschiedliche Sozialräume ermöglichen und ihnen helfen, sich besser in ihrem sozialen Umfeld zu orientieren. Experten, z. B. Handwerker, Künstler, Sportler, können in die Kindertagesstätte eingeladen werden und den Kindern eine ihnen fremde Welt nahebringen. Das Anlegen von Beeten, die Übernahme von Verantwortlichkeiten für Pflanzen und Tiere, die Einbeziehung der Kinder in die hauswirtschaftlichen Tätigkeiten können die Kinder an alltägliche Verrichtungen heranführen und dazu beitragen, dass sie für einen verantwortlichen Umgang mit der Natur und für ein solidarisches Miteinander sensibilisiert werden. Formen der Mitbestimmung und Mitwirkung, z. B. in Kinderräten oder Kindervollversammlungen, haben bereits in einige Kindertagesstätten Einzug gehalten. So können z. B. Kinder mit darüber entscheiden, was auf dem Speiseplan der Einrichtung steht, was angeschafft wird und was zum inhaltlichen Schwerpunkt werden soll. Ein weiterer Schwerpunkt der Freinet-Pädagogik ist der freie Ausdruck. Auch wenn das Erwerben der Schriftsprache in systematischer Form der Schule vorbehalten ist, beginnen Kinder bereits im vorschulischen Alter in vielfältigen Formen sprachlich zu kommunizieren, z. B. durch das Schreiben von Namen und das Abdrucken von Buchstaben. Darüber hinaus werden vielfache Formen des Zeichnens, Malens und Druckens genutzt, für die eine Freinet-Druckerei mit beweglichen Lettern hilfreich sein kann, aber keine Voraussetzung ist. In Arbeitsecken, die dem Experimentieren und Forschen, dem Gestalten, Musizieren oder Theater spielen vorbehalten sind, können die Kinder forschendes Lernen und freien Ausdruck miteinander verbinden.

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Exkurs: Die Buchwerkstatt

Melanie Hössel bietet in verschiedenen Bildungseinrichtungen das Projekt »Buchwerkstatt« für Kinder von zwei bis zehn Jahren an. In dem Projekt können die Kinder ihre eigenen Bücher herstellen. Sie denken sich eine Geschichte aus, die entweder allein oder mit Hilfe der Erwachsenen aufgeschrieben wird. Die Geschichten werden mit Bildern, meist Linoldrucken, illustriert und gebunden. Daneben nehmen sich die Akteure viel Zeit. »Die kontinuierliche Arbeit an einem Buch ist ein sehr entscheidendes Merkmal für den pädagogischen Prozess der Schreib- und Sprachförderung. Die Kinder wachsen mit ihren Geschichten und ihren Buchhelden zusammen, die Geschichte wird ein Teil von ihnen und sie gewinnen ihre Buchhelden lieb. So entstehen immer neue Abenteuer und die Kinder lernen sich zu konzentrieren, und üben sich in Ausdauer und Merkfähigkeit, schließlich müssen sie eine oder zwei Wochen später noch wissen, wie weit sie in ihrer Geschichte sind« (Hössel/Kühne 2010, 39).

Die Arbeit in der Buchwerkstatt erfolgt in Gruppenarbeit. Die Kinder unterstützen sich beim Mischen von Farben, beim Anfertigen der Linolschnitte, sie erzählen sich neue Details zu ihren Geschichten und geben sich gegenseitig Hinweise und Anregungen. So kennen am Ende alle Kinder alle Geschichten. In den Jahren zwischen 2005 und 2010 haben ungefähr 1000 Kinder ein eigenes Buch in diesem Projekt gemacht und kein einziges Kind hat dabei aufgegeben. Am Ende präsentieren die Kinder ihre Bücher in einer abschließenden Lesung. Meist können sie ihre Texte dann schon auswendig vortragen. Dazu werden auch Eltern, Großeltern und Freunde eingeladen. 2.3.3 Peter Petersen: Gespräch, Spiel, Feier und Arbeit Leben

Peter Petersen wird 1884 als ältester von sieben Geschwistern in Großenwiehe, einem Dorf in der Nähe von Flensburg, geboren. Seine Eltern betreiben einen Bauernhof. »Die bäuerliche Lebenswelt Nordfrieslands formte seinen Charakter: Beharrlichkeit und Zielbewusstsein gepaart mit Strenge und Fleiß sind die wesentlichen Merkmale. Das Erleben des Aufeinander-Angewiesenseins in der dörflichen Umwelt hat nicht nur die Hilfsbereitschaft gefördert, die Petersen später seinen Mitmenschen gegenüber immer wieder erwiesen hat, sondern auch

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den Grund für die im Begriff der Gemeinschaft zentrierte Pädagogik Petersens gelegt« (Dietrich 1995, 23).

Petersen besucht nach der Dorfschule, die ihn im positiven Sinne nachhaltig beeindruckt hat, das Gymnasium in Flensburg und studiert ab 1904 an der Universität Leipzig, später in Kiel, Kopenhagen und Posen evangelische Theologie, Philologie, Geschichte, Psychologie und Nationalökonomie. Nach seinem Studium arbeitet er als Lehrer in Leipzig und Hamburg. In Hamburg leitet er ab 1919 die nach dem Reform- und Museumspädagogen benannte Lichtwark-Schule. »In dieser ersten Versuchs-Oberschule führt Petersen zusammen mit einem Kollegium […] praktische Versuche zur Schulreform durch. Ein neuer Lehrplan wird erarbeitet, der u. a. Querverbindungen zwischen den Inhalten verschiedener Fächer vorsieht. Organisatorisch wird der Unterricht nach Grund- (kern-) und Kursunterricht differenziert […] Vor allem aber stellt man das Gemeinschaftsleben der Schüler in den Mittelpunkt der Unterrichtsarbeit. In der sogenannten ›Schulgemeinde‹ arbeiten Lehrer, Eltern und Schüler zusammen« (ebd., 26).

Petersen promoviert und habilitiert neben seiner vielfältigen schulischen und schulpolitischen Tätigkeit und wird 1923 auf den Lehrstuhl für Erziehungswissenschaften an der Universität Jena berufen. Gleichzeitig wird ihm die Leitung der zur Universität gehörenden Übungsschule übertragen. Gemeinsam mit seiner Frau Else entwickelt er sein Schulmodell, das er als »Kleinen Jena-Plan« 1927 erstmals vorstellt. Zahlreiche Reisen und Vorträge schließen sich an. Diesem kleinen Jena-Plan folgt der ausgearbeitete »Große Jena-Plan« 1930–1934 (vgl. Scheibe 2009, 310). 1932/33 kandidiert Petersen dreimal erfolglos bei den Wahlen zum Reichstag. Er tritt der NSDAP nicht bei, ist aber ab 1934 Mitglied des Nationalsozialistischen Lehrerbundes. 1950 wird die Jenaer Universitätsschule geschlossen. Peter Petersen stirbt am 21. März 1952 in Jena. Werk

Im Zentrum der Pädagogik Petersens stehen vier Arbeitsbereiche, die einen unauflöslichen Zusammenhang darstellen: der Aufbau einer realistischen und möglichst autonomen Erziehungswissenschaft, die Gestaltung der Schulwirklichkeit des Jena-Plans, die Begründung, Entwicklung und Durchführung einer eigenständigen pädagogischen Forschung und die Verwirklichung der universitären Lehrerbildung. In Abgrenzung zur vorherrschenden Lehre Herbarts vertritt Petersen die Überzeugung, »dass die Erziehungs- und Bildungsprozesse […] nicht nur als

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bewusste, stetige, von außen zu beeinflussende Vorgänge zu betrachten sind, sondern dass es sich auch und noch wesentlicher um Phänomene handelt, die überall dort wirken können, wo sich Menschen im humanen Sinne begegnen« (ebd., 31). Damit geht Petersen im Gegensatz zu Herbart von der grundsätzlichen Unfestlegbarkeit und Offenheit von Bildungs- und Erziehungsprozessen aus und entwickelt eine Vorstellung von Pädagogik, die dem Menschen Ansatzpunkte und Möglichkeiten sittlichen Handelns aufzeigt, ihn aber in der Verantwortung für Denken, Tun und Entwicklung belässt. Diese grundlegende Auffassung vom Menschen hat Auswirkungen auf Petersens Vorstellungen von Schule und Unterricht. Statt Klassen gibt es in Schulen, die nach dem Jena-Plan arbeiten, Stammgruppen mit einer Mischung nach verschiedenen Jahrgängen, mit beiden Geschlechtern und unterschiedlichsten Begabungen und Talenten. Die »Untergruppe« vereint des Kinder des 1.–3. Schuljahres, die »Mittelgruppe« die des 4.–6. Schuljahres, die »Obergruppe« die Schülerinnen und Schüler des 6.–8. Schuljahres und die Jugendlichengruppe solche des 8.–10. Schuljahres (vgl. Petersen 1996, 42). Im Konzept Petersens gibt es kein »Sitzenbleiben«, sondern alle rücken nach spätestens dreijähriger Arbeit in einer Gruppe in die nächst höhere auf. »Die in solcher Gruppe vereinigten Kinder sind in keinem Stück zum gemeinsamen Fortschreiten vom Lehrer gezwungen, sondern arbeiten frei, selbsttätig und weitgehend selbständig vom ersten Schultage an im Vollbesitz ihrer Bewegungsfreiheit […] Dabei bilden sich alsbald frei zusammentretende Tischgruppen aufgrund von Freundschaften, persönlicher Zuneigung, aber ebenso oft aufgrund gemeinsamen Interesses oder auch, weil sie vom Gruppenführer zusammengeführt, d. h. auf die Gemeinsamkeit ihrer Arbeit aufmerksam gemacht sind, und weil sie den Vorteil gemeinsamer Arbeit eingesehen haben« (ebd., 44).

Innerhalb der Stammgruppen und darüber hinaus übernehmen ältere Schülerinnen und Schüler Patenschaften für die jüngeren. »Bei allen gemeinsamen Feiern sitzen die Großen neben ihren Patenkindern auf festen Plätzen, die eine Ehrung innerhalb der Schulgemeinde bedeuten« (ebd., 66). Das Klassenzimmer ist als »Schulwohnstube« konzipiert und Nischen und Abtrennungen lassen Funktionsecken entstehen, auf den Fensterbänken sind Aquarien, Terrarien, Blumen untergebracht. In der Pädagogik Petersens werden vier »Urformen des Lernens« unterschieden: Gespräch, Spiel, Arbeit und Feier. Im »Wochenarbeitsplan« werden diese Formen variabel und undogmatisch berücksichtigt. Dabei handelt es sich um eine »arbeits- und lebensrhythmisch

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abgestimmte Ordnung der pädagogischen Situationen, durch die das Insgesamt an Schüleraktivitäten in einem flexiblen, im Tages-, Wochen- und Jahresrhythmus schwingenden Jahresplan organisiert wird. So berücksichtigt der Wochenarbeitsplan die Leistungskurven des Menschen ebenso wie den durch Jahreszeiten und Feste geprägten Ablauf des Schuljahres« (Klein-Landeck 1998, 134). Ein erstes Beispiel eines Wochenplanes hat sich an der Universitätsschule in den ersten Schulwochen für die konkrete Lerngruppe herauskristallisiert und kann allenfalls als grobe Orientierung dienen. Bei der Konkretisierung sind stets die Rahmenbedingungen und die Situation der Stammgruppe zu berücksichtigen. Das Kreisgespräch ist für Petersen von hohem Bildungswert. Am Wochenbeginn knüpft das Gespräch an die Erlebnisse der Kinder an, am Wochenende dient es dem Rückblick. Daneben gibt es Gelegenheitskreise anlässlich besonderer Vorkommnisse. Da für Petersen das Spiel neben der Bildungsfunktion von erheblicher erzieherischer Wirkung ist, werden an der Jena-Plan-Schule rhythmische Spiele, Sportspiele, Pausen- und Schauspiele und Lernspiele besonders gepflegt. Aufgrund ihrer gemeinschaftsfördernden Wirkung werden Wochenanfang und Wochenabschluss, Geburtstage, kirchliche Feste, der Empfang der Schulanfänger feierlich begangen. Die Feiern werden von den Stammgruppen weitestgehend selbstständig vorbereitet. Unterschiedliche Arbeitsformen, Gruppenarbeit, Gesamtunterricht, Kurse und Werkarbeit, sollen im Schulalltag ein möglichst vielseitiges Lernen ermöglichen. Die Schulstuben sind für die Eltern jederzeit offen. »Eltern sind Mitarbeiter, wo sie sich nur einordnen können in Unterricht und Feier, in Werkstatt und Garten, auf Wanderungen und Reisen. Solche Schulen bieten weniger das Bild einer wohlorganisierten ›Zusammenarbeit‹ – ja, das soll es eben nicht nur sein –, sondern sie ist ein Ort, an dem Familien und Erzieher zusammen leben« (Petersen 1996, 69).

Neben der unmittelbaren pädagogischen Arbeit hat Petersen erkannt, »dass Erziehungswissenschaft in vollem Umfang und in ganzer Breite erst durch empirische Forschung möglich ist« (Dietrich 1995, 116). Die dabei zur Anwendung kommende Methode bezeichnet er als »Pädagogische Tatsachenforschung« (vgl. ebd.). Die pädagogische Tatsachenforschung untersucht die schulische Wirklichkeit in all ihren Bedingungszusammenhängen und Erscheinungen.

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»Im Einzelnen handelt es sich u. a. um folgende Problemgebiete: Wie arbeiten Kinder? In welcher Weise unterscheidet sich der kindliche Arbeitsvorgang von dem des Erwachsenen, und zwar nicht nur allgemein, sondern bei bestimmten Gegenständen? Welche Gruppenbeziehungen und -formen entwickeln Kinder in verschiedenen Altersstufen, wenn sie sich während der Arbeit frei vergesellschaften dürfen? Form- und Farbgebung der Schulräume und welche Art der Schulmöbel begünstigen kindliches Arbeiten« (ebd. 118 f.).

Unter solchen und weiteren Gesichtspunkten sind an der Jenaer Versuchsschule Untersuchungen durchgeführt worden. Pädagogische Tatsachenforschung hält Petersen auch für die Lehrerbildung von großer Bedeutung. Im Studium sollten zuerst die realen Tatbestände untersucht werden und daran anschließend die systematische Behandlung der erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen herangezogen werden (vgl. ebd., 128 ff.). Impulse für die aktuelle Elementarpädagogik

Ohne das Setzen eines groben Rahmens für die wesentlichen Abläufe in der Kindertagesstätte kommt keine Einrichtung aus. Eine Orientierung an den vier Tätigkeiten, die Petersen »Urformen des Lernens« nennt, Gespräch, Spiel, Arbeit und Feier kann dafür hilfreich sein. Das Kreisgespräch, z. B. als Morgenkreis, Wochenbeginn- oder -abschlusskreis, gehört in vielen Kindertagesstätten zum fest etablierten Bestandteil der Alltagskultur und kann auch dazu beitragen, dass Kinder sich über ihre Gedanken und Gefühle austauschen und ihre Wünsche und Ideen artikulieren können. Es kann nach und nach in die Verantwortung der Kinder übergehen. Spiele bestimmen den Alltag in jeder Kindertagesstätte und finden in unterschiedlichsten Formen als Freispiel oder in angeleiteter Form statt, wobei dem Freispiel eine besondere Bedeutung zukommt. Kinder brauchen Spielen nicht zu lernen, sie können es von Anfang an und entwickeln in ihm ganz ohne Anleitung der erwachsenen Begleiter Zielstrebigkeit und Ausdauer, die Übernahme unterschiedlicher Perspektiven, das Improvisieren und Kooperieren mit anderen und die Übernahme der Spielführung. Allerdings müssen sie sich dafür wohl und in ihrem Tun akzeptiert und wertgeschätzt fühlen. Arbeit findet in der Pädagogik von Petersen z. B. ihren Ausdruck in der Übernahme von Verantwortlichkeiten und Patenschaften. So können ältere Kindergartenkinder in bestimmten Feldern, z. B. auf Exkursionen, die Patenschaft über jüngere übernehmen oder auch umgekehrt, z. B. bei der Vorbereitung der Geburtstagsfeier. Feste können im Kindergartenalltag ritualisiert werden, indem z. B. Kin-

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Impulse für die Elementarpädagogik

der im Übergang von der Krippe zum Kindergarten mit einem Willkommensfest empfangen werden oder im Übergang vom Kindergarten in die Schule im wahrsten Sinne auf einer großen Rutsche mit allen ihren Utensilien aus der Kita rutschen. Exkurs: »Heute übernimmt Neva die Leitung«

Rita Greine schildert in einem Artikel in der Fachzeitschrift »klein und groß« (01/2013, 36 ff.) sehr eindrücklich eine Erfahrung im Morgenkreis in der Evangelischen Konsultationskita »Büscherstiftung«, die deutlich macht, welche Potenziale in dieser methodischen Form stecken, wenn sie ganz auf die Verantwortung und die Mitwirkung der Kinder ausgerichtet ist. Der Morgenkreis in dieser Einrichtung wird reihum von einem Kind geleitet, das mit dem immer gleichen Ablauf des Kreises vertraut ist. An dem besagten Tag war es Neva, die die Leitung übernahm. Im Vorfeld, mitunter schon einen Tag vorher, melden die Kinder, die es wünschen, einen Redebeitrag an, indem sie ihr Foto in eine dazu vorgesehene Kiste legen. Um 9.15 Uhr erschallt dann die Glocke und alle Kinder und Erzieherinnen finden sich in ihren Räumen auf ihren Sitzkissen zum Morgenkreis ein. An diesem Tag zündete Neva eine Kerze an, in diesem Fall die blaue Donnerstagskerze. Nach einem gemeinsamen Lied, das in verschiedenen Sprachen gesungen wurde, und einem Gebet, das Neva mit den anderen Teilnehmern gemeinsam sprach, fuhr sie selbstbewusst mit dem Ablauf fort. »Vor ihr lag eine laminierte Liste mit den Fotos der Kinder aus ihrer Gruppe, und daran orientierte sie sich bei der Überprüfung der Anwesenheit. Sie kannte alle Namen, also wurde jedes Kind mit seinem Namen angeredet und gefragt ›Mika, bist du da?‹, ›Alice, bist du da?‹. Ganz aufmerksam warteten die Kinder, bis sie aufgerufen wurden, um dann zu antworten: ›Ja, ich bin da.‹ Neva malte jedes Mal ganz konzentriert mit einem Filzschreiber einen Punkt hinter das Bild […] Ich bekam eine Gänsehaut dabei und beobachtete, wie gewissenhaft und fast ehrfürchtig das fünfjährige Mädchen diese Aufgabe wahrnahm« (Greine 2013, 37).

Im nächsten Schritt kam die Kiste mit den Fotos zum Zuge. Neva nahm die Fotos nacheinander aus der Kiste und forderte die Kinder zum Erzählen auf. Nachdem alle Redebeiträge angehört und hier und da Fragen oder Kommentare abgegeben wurden, schloss Neva den Kreis und fragte jedes Kind und auch die Erzieherinnen, was sie nach dem Morgenkreis vorhaben. Nach diesem Austausch beendete sie den Morgenkreis. Rita Greine resümiert in ihrem Beitrag:

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Rudolf Steiner – Alfred Lichtwark – Loris Malaguzzi

»Dieser Morgenkreis wirkt noch lange in mir nach. Hätte ich nicht daran teilgenommen, wäre ich skeptisch, ob so etwas in der Form überhaupt möglich ist. Es ist möglich. Und es ist beeindruckend und nachahmenswert. Indem einem (fünfjährigen) Kind in regelmäßigen Abständen die Chance gegeben wird, eigenständig vor einer Gruppe aufzutreten, erhöht man die Chance, dass dieser Mensch auch als Erwachsener selbstbewusst den Auftritt vor einer Gruppe meistern wird« (ebd., 38).

2.4 Rudolf Steiner – Alfred Lichtwark – Loris Malaguzzi

1861–1925

1852–1914

1920–1994

Steiner, Lichtwark und Malaguzzi sind geisteswissenschaftlich sehr unterschiedlich verortet. Während Steiner weltanschaulich eng mit der Anthroposophie verbunden sich als Philosoph und Theosoph versteht und seine Pädagogik vor diesem Hintergrund entwickelt, ist Lichtwarks wissenschaftliche Bezugsdisziplin die Kunstwissenschaft, in der er pädagogische Potenziale sieht und die er für die Entwicklung seiner Museumspädagogik nutzt. Malaguzzi hingegen versteht sich weniger als Theoretiker, sondern vielmehr als Grundschullehrer, Pädagoge und Teammitglied einer pädagogischen Bewegung, die sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in die pädagogische Theorie und Praxis einbeziehen möchte. Gemeinsam ist allen drei Vertretern, die hier der reformpädagogischen Bewegung zugeordnet werden, ihre gesellschaftskritische Haltung gegenüber den historischen Entwicklungen ihrer Zeit, eine kritische Sicht auf die Pädagogik, die besondere Wertschätzung künstlerisch-kreativer Betätigung in Bildungsprozessen und eine besondere Sensibilität für die Lernumgebung, z. B.

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Impulse für die Elementarpädagogik

der räumlichen Voraussetzungen, der Materialien, der Ermöglichung von vielfältigen Handlungsformen. 2.4.1 Rudolf Steiner: Waldorfpädagogik Leben

Rudolf Steiner wird 1861 als erstes von drei Kindern in Kraljevec (Kroatien) geboren. Sein Vater ist Bahnbeamter. Nach dem Besuch der Realschule und dem Erwerb des Abiturs in Wiener Neustadt studiert Steiner von 1879 bis 1883 als Stipendiat an der Technischen Hochschule in Wien Mathematik, Naturgeschichte und Chemie. Gleichzeitig besucht er Vorlesungen an der Universität in Philosophie, Literatur, Psychologie und Medizin. Von 1884 bis 1890 arbeitet er als Hauslehrer in einer jüdischen großbürgerlichen Familie, bevor er für die Zeit von 1890 bis 1897 als freier Mitarbeiter am Goethe- und Schillerarchiv in Weimar arbeitet, wo er die naturwissenschaftlichen Schriften Goethes editiert. Im Rahmen der Auseinandersetzungen mit Goethes Naturbetrachtungen promoviert Steiner 1891 extern an der Universität Rostock zum Doktor phil. Im Jahre 1894 kommt sein philosophisches Hauptwerk »Die Philosophie der Freiheit« heraus. 1897 zieht Steiner mit seiner ersten Ehefrau und ihren Kindern von Weimar nach Berlin, wo er aufgrund von Arbeitslosigkeit und nur gelegentlichen Lehraufträgen, z. B. an der Arbeiterbildungsschule Berlin, in sehr ärmlichen Verhältnissen lebt (vgl. Ullrich 2012, 62), bis er 1902 das Amt des Generalsekretärs der Theosophischen Gesellschaft annimmt. In der Theosophischen Bibliothek, in der er seine erste Anhängerschaft für die sich entwickelnde Anthroposophie findet, lernt Steiner seine zweite Ehefrau Marie von Sivers kennen. 1912 trennt sich Steiner aufgrund von unüberbrückbaren Differenzen von der Theosophischen Gesellschaft und gründet die Anthroposophische Gesellschaft, »deren Tagungen durch die Aufführung von Mysteriendramen (seit 1907) und durch die neue Bewegungskunst der Eurythmie (seit 1913) auch eine künstlerisch-kultische Dimension erhalten« (ebd., 63). Zwischen 1914 und 1922 beschäftigt sich Steiner intensiv mit der Planung und der Begleitung des Baus einer eigenen Aufführungs-. und Tagungsstätte, dem Goetheanum in Dornach bei Basel. 1919 wendet sich der Besitzer der Waldorf-Astoria Zigarettenfabrik in Stuttgart, Emil Molt, an Steiner mit der Bitte, für seine Arbeiter und Angestellten eine Schule mit anthroposophischer Grundausrichtung aufzubauen. Die erste Waldorfschule entsteht 1919 in Stuttgart; es folgen weitere, z. B. in Dornach, Hamburg, Hannover, Berlin und Dresden. »Bis zum Ausbruch seiner todbringenden Krankheit nimmt er an ca. siebzig Lehrerkonferenzen teil und leitet die Geschicke einer Schule, deren Schülerzahl schnell auf das Dreifache ansteigt«

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Rudolf Steiner – Alfred Lichtwark – Loris Malaguzzi

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(ebd., 63 f.). Am 30. März 1925 stirbt Rudolf Steiner nach mehrmonatiger schwerer Krankheit in Dornach. Werk

Grundlegend für die Pädagogik Rudolf Steiners sind seine anthropologischen Grundannahmen. »Steiner sah das irdische Sein des Menschen im Zusammenhang mit seinem vorgeburtlichen Geistsein, in das er nach seinem Tode wieder zurückkehrt und von dem er auch in seinem irdischen Sein nicht getrennt ist« (Scheibe 2009, 302).

Bildung und Erziehung betrachtet Steiner als Kunst, sowohl den sichtbaren physischen Leib des Kindes als auch seine nicht sichtbaren, aber erkennbaren Wesensbereiche, die er als Lebenskräfte bezeichnet, zu unterstützen. »Steiner erteilt dem nur materialistischen Menschenverständnis und einer darauf ausgerichteten Pädagogik eine Absage und macht die Vielschichtigkeit, die zeitlich-biografisch unterschiedlichen Entwicklungs- und Umwandlungsprozesse deutlich, die sich in jedem Kind ereignen« (Compani/Lang 2011, 12).

Neben der individuell unterschiedlichen Entwicklung von Kindern wird in der Waldorfpädagogik von einer Entwicklungslogik ausgegangen, die sich an einem Siebenjahresrhythmus orientiert. Im Mittelpunkt der ersten sieben Jahre steht die Entwicklung des physischen Leibs und der Sinne. Vielfältige Möglichkeiten der Sinneswahrnehmung und Nachahmung werden als entscheidende Voraussetzungen für physische und psychische Gesundheit betrachtet. »Das Nachahmen ist für das Kind ebenso wichtig wie das Atmen: Die Sinneseindrücke werden eingeatmet, das Nachahmen folgt wie das Ausatmen« (Carlgren/ Klingborg 2009, 31). In dieser Phase geben verlässliche Bezugspersonen, enge emotionale und soziale Beziehungen, eine starke Rhythmisierung des Tagesablaufes und die Orientierung von Bildungsangeboten an den Jahreszeiten den Kindern Sicherheit und Sinn. Dem Beziehungsaufbau zwischen Erwachsenem und Kind wird in der Waldorfpädagogik eine besondere Bedeutung beigemessen. Deshalb wird in Waldorfkindergärten in geschlossenen Gruppen und mit festen Bezugserzieherinnen gearbeitet. Die Eingewöhnung der Kinder erfolgt in der Regel in Anlehnung an das Berliner Eingewöhnungsmodell »infans«. In dieser frühen Phase der Kindheit wird auch der Grundstein für das gelegt, was in der Waldorfpädagogik »schöpferische Phantasie« genannt wird. Gemeint ist damit »die Kraft,

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über alles, was ist, hinauszugehen und sich – durch eigene Tätigkeit – mit dem zu verbinden, was im Begriff ist zu werden« (ebd., 43). Unterstützt werden kann die Entwicklung schöpferischer Kräfte durch die Bereitstellung ungefertigten Materials, z. B. von Steinen, Muscheln, Holzstücken, Zweigen, Filz, Tüchern und einer möglichst funktionsfreien, natürlichen Umgebung. Ein weiteres wesentliches Ausdrucksmittel von der frühen Kindheit an ist die rhythmische Bewegung, in der Waldorfpädagogik »Eurythmie« genannt. Im zweiten Jahrsiebent entwickelt sich der »ätherische Leib« und es werden Kräfte für die seelische Denk-, Lern- und Gedächtnisentwicklung frei. Diese Phase kann unterstützt werden durch Formen von Schulgestaltung und Unterricht, die es ermöglichen, komplexe Sachverhalte zu durchdringen, z. B. im »Epochenunterricht«, durch künstlerische und handwerkliche Betätigung und vielfältige Auseinandersetzungen mit Sprache. Im dritten Jahrsiebent wird das emotionale Innenleben verfeinert und damit die Fähigkeit entwickelt, das eigene Innere der Seele durch Introspektion bewusst und intensiv zu erleben. Die Fähigkeit zur Urteilsbildung erweitert sich. Unterstützt kann die Entwicklung in dieser Phase durch besondere Raumesübungen, Praktika und theoretische und fachwissenschaftliche Auseinandersetzungen werden. Mit dem Beginn des vierten Jahrsiebents gilt das Ich des Menschen als voll entwickelt und der Prozess der weiteren Selbsterziehung als fundiert. Neben der Theorie von den »vier Jahrsiebten« ist Steiners Lehre der »vier Temperamente« für die Waldorfpädagogik von zentraler Bedeutung. Grob werden hier Sanguiniker, Melancholiker, Phlegmatiker und Choleriker unterschieden. Während der Sanguiniker heiter und lebhaft ist, zeigt der Melancholiker eine schwermütige und trübsinnige Gemütsverfassung. Der Phlegmatiker neigt zu ruhigem und langsamem Verhalten, während der Choleriker leicht erregbar, unausgeglichen aber willensstark agiert. Jedem Temperament ist ein Element als überwiegende Substanz zugeordnet. »Eines der vier Elemente waltet vor bei einem Jeden, und es muss das Ergebnis von Erziehung und Unterricht sein, die Harmonisierung zwischen den vier Gliedern herzustellen« (Steiner zitiert nach Eller 2010, 91). Steiner empfiehlt von klein auf an, gleiche Temperamente in Bildungssituationen zusammenzuführen. »Es handelt sich darum, dass man sich im Temperament des anderen spiegelt, sich selbst gegenübersteht, sich nun selbst unbewusst erkennt und die eigenen Eigenschaften am anderen nicht leiden mag. Dabei entsteht unbewusst das Bedürfnis, ein anderer zu werden, das hervorstechende Temperament ›abzuschleifen‹« (Eller 2010, 95).

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Für die allseitige Entwicklung der Heranwachsenden in Einrichtungen, die der Pädagogik Rudolf Steiners folgen, ist die künstlerische Betätigung von zentraler Bedeutung. Malen, Zeichnen, Modellieren, Musizieren, Rezitieren und das Aufführen von dramatischen Szenen wird vom Kindergarten bis hin zur Erwachsenenbildung ein hoher Stellenwert eingeräumt. »Das künstlerische Üben hat eine Sonderstellung in unserem Leben« (Carlgren/Klingborg 2009, 58). In der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Welt wird sowohl die äußere als auch die innere Welt verändert und mitunter erst zugänglich. »Manche künstlerischen Aufgaben verlangen eine innere Haltung, zu der wir instinktiv gar nicht imstande sind. Der Vorsichtige kann gezwungen sein, kühn zu werden, der Übermütige bedachtsam zu sein, der Willensschwache Ausdauer zu zeigen, der Eigensinnige anpassungsfähig zu werden« (ebd., 59).

Künstlerische Auseinandersetzungen können so tiefgehende und nachhaltige erzieherische Wirkungen auf Kinder haben, die durch kein anderes Medium zu ersetzen sind. Impulse für die aktuelle Elementarpädagogik

Das Kind lernt im Verständnis der Waldorfpädagogik zum einen durch Nachahmung und Wiederholung und zum anderen durch die kreative und schöpferische Auseinandersetzung mit der eigenen inneren und mit der äußeren Realität. Diese Prozesse sind bei jedem jüngeren Kind zu beobachten und können durch ein geeignetes Umfeld unterstützt und gefördert werden. Verlässliche zeitliche Strukturen, eine Rhythmisierung des Tages, der Woche, des Monats und des Jahres können dem Kind Sicherheit geben. Die gemeinsamen Mahlzeiten sind in Waldorfkindergärten wichtige Elemente im Tagesablauf. Die Hauptmahlzeiten folgen darüber hinaus in manchen Waldorfeinrichtungen einem festen Speiseplan, wobei besonders auf eine ausgewogene Ernährung geachtet wird. Außerdem sind in den Einrichtungen in der Regel den Wochentagen bestimmte Aktivitäten vorbehalten, z. B. Walderkundung oder Theaterspiel. Auch das Einhalten bestimmter räumlicher Ordnungen kann ein Gefühl der Verlässlichkeit und Sicherheit vermitteln. Während viele Kinderzimmer und Kindergärten mit künstlichem Material, z. B. vorgefertigtem Spielzeug, ausgestattet sind, favorisiert die Waldorfpädagogik sparsames Material, das möglichst naturbelassen ist und Räume, die nicht schon Funktionen vorgeben. Die Erfahrungen vieler Erzieherinnen traditioneller Einrichtungen bestätigen, dass Kinder oft intensiver und kreativer spielen, wenn sie selbst etwas erfinden, selbst Sinn

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stiften können. So wird z. B. mit ein paar Brettern auf dem Hof der Kindertagesstätte eine Küche gebaut oder eine alte Kiste zur Raumstation. Dem freien Spiel wird in Waldorfkindergärten eine besondere Bedeutung beigemessen. Im Spiel »gebrauchen die Kinder alle Formen kindlicher, sinnlicher Erfahrungen, szenischer oder bildhafter Vorstellungen, subjektiver Fantasien, sprachlichen und nichtsprachlichen Denkens sowie des sozialen Austauschs und der Verständigung. Diese werden im Spiel zu einem zusammenhängenden Prozess gestaltet« (Compani/Lang 2011, 93). Während des Freispiels wird auch gemalt. Das Malen wird als eine natürliche Form des Ausdrucks verstanden, mit der das Kind bewusste und unbewusste innere Prozesse abbilden kann, die im Auge geschulter pädagogischer Begleiter als Entwicklungsprozesse gelesen werden können. Was für die Kinderzeichnung zutrifft, gilt in gleicher Weise für andere künstlerisch-kreative Tätigkeiten, z. B. das Musizieren, die Bewegung und den Tanz, das Basteln und Gestalten, das Theater-Spielen. Da diese Formen der Auseinandersetzung Potenziale entwickeln und erschließen können wie keine andere Handlungsform, sind sie auch für die frühkindliche Bildung und Erziehung unverzichtbar. Sie setzen beim pädagogischen Fachpersonal wie bei der gesamten pädagogischen Arbeit in der Kindertagesstätte ein hohes Maß an Reflexivität und Teamarbeit voraus. Der Zusammenarbeit mit den Eltern wird ebenfalls ein hoher Stellenwert eingeräumt. Dabei werden die Formen Eltern- oder Familienbildungsarbeit, z. B. über Kurse und Seminare, Elternpartizipation, z. B. die Einbeziehung der Eltern in Erneuerungsmaßnahmen der Einrichtung, Mitgestaltung von Festen, Organisation von Elternabenden und Elternberatung, z. B. das Etablieren regelmäßiger Sprechstunden des pädagogischen Fachpersonals, unterschieden. Exkurs: Waldorfkindergarten Hude e. V.

Der Waldorfkindergarten Hude e. V. entstand aus einer privaten Eltern-KindGruppe und besteht seit ca. zehn Jahren. Den Kindergarten besuchen bis zu 25 Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren und werden in festen, alterserweiterten Gruppen von zwei bis drei Erzieherinnen mit Waldorf-Zusatzausbildung und zusätzlichen Praktikantinnen betreut. Die Kernbetreuungszeit ist Montag bis Freitag von 8.00 bis 12.00 Uhr, mit Frühund Spätdienst von 7.30 bis 14.00 Uhr. Jeder Tag ist rhythmisch gegliedert in Morgenkreis, Freispielzeit, gemeinsames Frühstück, Draußenspielzeit und Abschlusskreis. Daneben gibt es jeden Tag eine besondere inhaltliche Ausrichtung: Montag – Waldtag, Dienstag – Euryth-

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mie, Mittwoch – Backtag, Donnerstag – Aquarellieren, Freitag – Puppenspiel (vgl. www.waldorfkindergarten-hude.de).

Berücksichtigung finden auch die Jahreszeiten, vor allem die christlichen Feste und die Geburtstage der Kinder, die mit kleinen Festen gefeiert werden. Die Raumgestaltung ist sparsam und die Materialien sind vorwiegend naturbelassen. Besonderer Wert wird im Waldorfkindergarten Hude e. V. auf gesunde Ernährung gelegt. »Eine gesunde Ernährung mit Lebensmitteln aus biologisch-dynamischem Anbau ist die Grundlage für das gemeinsame Frühstück, an dessen Zubereitung die Kinder täglich mitwirken« (ebd.). Als Mittagsmahlzeit wird ein selbst gekochtes Bio-Vollwert-Essen angeboten. Neben den Kindergartengruppen gibt es an drei Tagen in der Woche die Spielgruppe für maximal fünf Kinder zwischen knapp zwei bis drei Jahren, einmal in der Woche die Eltern-Kind-Gruppe für Kinder ab ca. einem Jahr in Begleitung eines Elternteils und einmal in der Woche die Eltern-Säugling-Gruppe für Säuglinge ab ca. fünf Monaten in Begleitung eines Elternteils. In der Eltern-Säugling-Gruppe wird nach dem Vorbild von Emmi Pikler gearbeitet. 2.4.2 Alfred Lichtwark: Künstlerische Erziehung Leben

Alfred Lichtwark wird 1852 in Hamburg-Reitbrook geboren. Sein Vater ist der Besitzer der Reitbrooker Mühle, seine Mutter stammt aus der direkten Linie des Komponisten Johann Sebastian Bach. Lichtwark wächst gemeinsam mit drei Halbgeschwistern aus der ersten Ehe des Vaters auf dem Lande auf, bis sein Vater aus finanziellen Gründen die Mühle verkaufen muss und die Familie nach Hamburg zieht, wo er eine schlecht gehende Gastwirtschaft führt. Lichtwark besucht die Bürgerschule, wo er sich als talentierter Schüler erweist. Neben der Schule ist er als Hilfslehrer tätig. Nach dem Abitur, das er 1873 nachholt, studiert Lichtwark Kunst und Pädagogik in Dresden, Leipzig und Berlin. Nach Abschluss des Studiums ist er in Berlin an verschiedenen Schulen tätig. 1889 wird Lichtwark zum Direktor der Hamburger Kunsthalle bestellt, die er bis zu seinem Tod leitet. Neben dem Auf- und Ausbau der Kunsthalle setzt sich Lichtwark sehr für die Hamburger Kunstszene ein und ist Initiator des Hamburger Künstlerclubs. Fragen der Pädagogik und der sittlichen Erziehung durch die Auseinandersetzung mit Kunst bleiben zentrale Themen seines beruflichen und privaten Engagements. »Das Museum wollte er nicht nur als bewahrende Sammlung verstanden

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wissen, sondern als Volksbildungsstätte. Der Lehrer sollte der Vermittler sein.« (Scheibe 2009, 141). In seinem Museum führt Lichtwark selbst Gespräche mit Schülerinnen und Schülern über Kunstwerke durch und organisiert Malkurse. Seine Erfahrungen publiziert er in zahlreichen Vorträgen und Schriften. Er gilt daher als einer der Begründer der Museumspädagogik. Von herausragender Bedeutung für den reformpädagogischen Diskurs seiner Zeit ist Lichtwarks Organisation der drei Kunsterziehungstage 1901 in Dresden, 1903 in Weimar und 1905 in Hamburg. »Lehrer aller Schularten, Künstler und viele weitere Interessierte waren versammelt und referierten und diskutierten über Kunst und Erziehung. Sie fanden sich, bei manchen Unterschieden im Einzelnen, zusammen in der Überzeugung, dass Volksbildung und Schule einer Erneuerung durch eine umfassende Kunsterziehung bedürfen« (ebd., 141).

Lichtwarks pädagogische Ideen führen schließlich zur Gründung der LichtwarkSchule 1914 in Hamburg. Alfred Lichtwark stirbt 1914 in Hamburg. Werk

Der Gedanke der künstlerischen Erziehung durchzieht das gesamte Schaffen von Alfred Lichtwark. In der Auseinandersetzung mit dem Kunstverständnis seiner Zeit entwickelt er neben den etablierten Künsten eine Vorstellung von Ästhetik im Alltäglichen und der Verfeinerung der Wahrnehmung, die er als »Erziehung des Auges« (vgl. Lichtwark 1991) bezeichnet. »Dass der Inhalt der bildenden Kunst nicht nur auf Bilder, Bildsäulen und Prunkbauten beschränkt ist, liegt dem gebildeten Deutschen meilenfern. Soweit er künstlerische Bildung hat, ist sie ein toter Schatz. Sie hilft ihm nicht, seine Wohnung einzurichten, seinen Anzug den Forderungen des Geschmacks zu unterwerfen. Ja, noch heute läuft ein Mann, der ästhetische Ansprüche an seine Umgebung und seine Erscheinung stellt Gefahr, nicht nur für leichtsinnig, sondern sogar für unaufrichtig und unzuverlässig zu gelten« (ebd., 129).

Für die Aufgabe des Pädagogen hält er es, alle Kräfte des Heranwachsenden zu entwickeln. »Dass dazu auch die künstlerischen Kräfte gehören, die das Leben gestalten sollen, ohne deren Ausbildung, ohne deren Einwirkung auf Sprache, äußere Erscheinung, Lebenseinrichtung und Lebensführung, auf Schaffen und Genuss in jeder Gestalt das Dasein […] ein Vegetieren bleibt, hat die Theorie

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nie bezweifelt, soll aber für das Leben unseres Volkes als ein neues Ziel der Entwicklung erst erobert werden« (ebd, 131). Am Beispiel seiner Wahrnehmung der Hamburger Haustüren macht Lichtwark z. B. in einem Aufsatz deutlich, welcher Bildungswert mit der alltäglichen Auseinandersetzung mit Kulturgütern verbunden sein kann. »Wenn ich heute noch in unberührten Straßen an einer alten Haustür vorüberkomme, habe ich ein Gefühl, als müsste ich den Hut ziehen. Denn die Türen und Portale unserer alten Häuser waren meine ersten Lehrer der Kunstgeschichte, ausgezeichnete Lehrer, die nicht redeten, aber doch beständig anregten« (ebd., 136).

Als Leiter der Hamburger Kunsthalle und ein Begründer der Museumspädagogik misst Lichtwark der Tätigkeit des Sammelns eine besondere Bedeutung für die Aneignung von Bildung bei. Beim Sammeln von Kulturgütern jeglicher Art »entwickelt der Sammler auf der einen Seite alle Kräfte der Empfindung […] auf der anderen Seite alle Fähigkeiten, die dem Forscher, dem Wissenschaftler eigen sind« (ebd., 182). Sammeln bedeutet in diesem Zusammenhang nicht Anhäufung von Kunstwerken oder Gegenständigen, sondern die aktive Auseinandersetzung mit ihnen vor dem Hintergrund des gesunden Menschenverstandes. Ein Zeitgenosse Lichtwarks schildert seine Begegnung mit ihm wie folgt: »Und wenn ich heute zurückdenke, wer mich allmählich sehen lehrte, wer mich ermutigte in allen Dingen nicht Bücher zuerst, sondern den gesunden Menschenverstand um Rat zu fragen, wer mich anleitete, auch bei der Kunstbetrachtung als Mensch Menschenwerk, nicht als Gelehrter Fachobjekten gegenüberzutreten, so erinnere ich mich dankbar der Abende bei Lichtwark. Mein ganzes früheres Wissen war […] eine öde Aneinanderreihung toter verstaubter, da und dort zusammengetragener Fragmente. Lichtwark gab mir einen Strauß lebendiger Blumen dafür« (zitiert nach Schaar 1991, 14).

Die kreative Auseinandersetzung mit der Poesie des Alltags in der Sprache, in der Musik, in der Bewegung, in der bildenden Kunst und mit Hilfe der Amateurfotografie, der er sich besonders verpflichtet fühlt, bezeichnet er im positiven Sinne als »ernsthaften Dilettantismus« (ebd., 99). Vor dem Hintergrund der systematischen Entwicklung der Wissenschaften seiner Zeit konstatiert er »überall eine Gefahr akademischer Erstarrung« (ebd., 100) und sieht in der freien Betätigung der Kräfte im Dilettantismus »eine treibende Macht neben der Arbeit des Fachmannes, wie wir denn überhaupt eine große, fast die größte

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Zahl der ganz neuen, umgestaltenden Ideen im Grunde kühnen, durch akademische Schulung nicht eingeengten Begabungen verdanken« (ebd.). Lichtwarks Betonung der Bildung durch schöpferische Auseinandersetzung mit dem Ästhetischen hat auch in der nach ihm benannten, 1914 in Hamburg gegründeten, Reformschule Eingang gefunden. Die unmittelbare Zusammenarbeit von Künstlern und Amateuren mit Kindern hat hier das Ziel Kreativität und Ausdrucksfreude zu fördern und so zu einer identitätsstiftenden Wahrnehmung und Wertevermittlung beizutragen. Impulse für die aktuelle Elementarpädagogik

Im Rückgriff u. a. auf Gottlieb Baumgartens »Ästhetica« (1750) gilt heute als weitestgehend unbestritten, dass sich die ästhetische Erfahrung und Erkenntnis als gleichberechtigte Erkenntnisform neben der rationalen Erkenntnis realisiert. Gilt dies im Allgemeinen, so doch in besonderer Weise für Kinder. Wenn unter Ästhetik im Sinne Lichtwarks verstanden wird, sich sinnenhaft mit seiner Umgebung auseinanderzusetzen, sie handelnd zu gestalten und nach den eigenen Vorstellungen umzugestalten, über sie oder anhand ihrer zu reflektieren, dann verfügen Kinder über eine besonders ausgeprägte, ursprüngliche, eine ästhetische Beziehung zu ihrer Lebenswelt und zu sich selbst. Dabei müssen die Objekte der Erkenntnis nicht etablierte Kunstwerke sein. Ähnlich wie bei Dewey soll die ästhetische Erfahrung im Verständnis von Lichtwark bei den Grundelementen des Ästhetischen, bei dem, was die sinnliche Aufmerksamkeit erregt, was zum Staunen und Innehalten herausfordert, was als angenehm oder schön empfunden wird oder gegenteilige Empfindungen auslöst, ansetzen. Das kann z. B. eine alte Tür sein, ein Knopf, eine Kiste, ein Bonbonpapier und natürlich auch ein Bild, ein Musikstück oder eine Skulptur. Von besonderer Bedeutung ist das Ästhetische als Ausdrucks- und Erklärungshilfe dort, wo der Sprachgebrauch als unzureichend empfunden wird, weil er nicht über geeignete Mittel und Möglichkeiten des Ausdrucks verfügt, wenn es z. B. um das Ausdrücken von Gefühlen, von Stimmungen, Visionen, oder Träumen geht. Ein Verständnis, das Ästhetik nicht als abgehobenen Kunstverstand versteht, sondern als sinnliche Begegnung mit Gegenständen, Phänomenen, Menschen, kann in ganz besonderer Weise im frühkindlichen Bereich einen Beitrag zur ganzheitlichen Bildung, zur Ausbildung von Individualität, zur Förderung von Gemeinschaftssinn und zu mehr Orientierung und Sinn durch eigenschöpferisches Handeln leisten. Authentische Begegnungen mit besonders kreativen Menschen, z. B. Künstlern unterschiedlicher Genre, können dabei sicher ebenso zusätzliche Unterstützung geben wie der Besuch von Museen, Kunsthallen und Galerien. Museums-

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pädagogische Angebote, wie sie Lichtwark und seine Mitarbeiter entwickelt haben, gehören heute zu etablierten Formen der Auseinandersetzung von Kindern und Erwachsenen mit Kunst und Ästhetik. Exkurs: Kinder entdecken Natur und Kultur im Kindergarten Welsberg

Der bildende Künstler Christopher Oberhuemer aus München bietet regelmäßig philosophische Kunstworkshops in Kindertagesstätten an (vgl. Oberhuemer 2012, 32 ff.). Ausgangspunkt sind alltägliche Beobachtungen der Kinder, aber auch etablierte Kunstwerke der bildenden Kunst oder der Musik. So geht er mit den Kindern in die Natur, lässt die Kinder ganz bewusst mit allen Sinnen wahrnehmen, sie Skizzen anfertigen, die später auf Großformate übertragen und von den Kindern kommentiert werden. Für ein anderes Projekt wählte er das Musikbild »Bolero« von Maurice Ravel aus. »Das Stück umfasst exemplarisch viele Möglichkeiten im musikalischen Ausdruck. Der Beginn ist sehr leise, Ton für Ton entwickelt sich die Musik; nach und nach kommen die verschiedenen Instrumente dazu. Jedes Instrument soll neue Pinselzeichen und Farbinterpretationen bekommen. Der Rhythmus des Stückes bleibt konstant derselbe, die Musik schwillt an, wird immer kräftiger. Analog dazu wurde auch die Interpretation der Kinder kräftiger. Sie sprangen und wippten und traktierten das Bild mit Energie und Leidenschaft. Alles endete abrupt, mit großer Wirkung. Dann folge Stille« (ebd., 35).

Die Auseinandersetzung mit der Natur und mit der Musik brachte in den Kindern ganz eigene Bilder und Empfindungen hervor, die die Sprache so niemals hätte transportieren können. 2.4.3 Loris Malaguzzi: Reggio-Pädagogik Leben

Loris Malaguzzi wird 1920 in Correggio/Italien geboren. »Er ist keine Gründergestalt im traditionellen Sinne wie etwa Fröbel und Montessori, sondern verstand sich immer als Mitglied eines Kollektivs und als pädagogischer Berater« (Lingenauber 2007, 85). Nach dem Abschluss des Gymnasiums studiert er Pädagogik und arbeitet als Grundschullehrer. 1945 schließt er sich der Nachkriegsinitiative zur Kindererziehung in Reggio Emilia an. Er gilt daher als Begründer der Reggio-Pädagogik. Die norditalienische Stadt ist traditionell politisch links und gilt als Gründungsort der Kommunistischen und Sozialistischen Partei und verschiedener

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Gewerkschaftsbewegungen (vgl. Bumann, 2008). Die Entwicklung des pädagogischen Ansatzes der Reggio-Pädagogik ist eng mit der gesellschaftlichen Situation nach dem zweiten Weltkrieg verbunden. »Das Engagement von Eltern und Bürgern für die Zukunft ihrer Kinder und ihr Wunsch, den Zerstörungen des Krieges lebensbejahende und neue Erziehungsformen entgegenzusetzen, ist der Grundstein des pädagogischen Konzeptes, das im Verlauf vieler Jahre entwickelt wurde. Der Dialog und Austausch über Formen und Inhalte der Kindererziehung begann 1945 und ist noch heute Grundlage des Projektes« (Dreier 1999, 18).

Die materielle Ausgangsbasis ist der Erlös aus dem Verkauf eines Panzers. Zunächst wird der Kindergarten durch eine Elterninitiative geleitet, die von Loris Malaguzzi beraten wird. 1952 gründet er das erste Kindertheater der Stadt und zwei Jahre später einen kommunalen Theaterclub. »In jener Zeit entwarf er eine Idee vorschulischer Erziehung, die mit dem Ziel einer umfassenden Idee aller Kinder auch die Künste, das heißt, Theater, Schauspielerei, Malerei, Musik, einbeziehen müsse« (Dreier 1994, 168). 1963 wird der Reggio-Kindergarten durch die Stadt in kommunaler Trägerschaft übernommen. Im Laufe der 1960er Jahre entwickelt Malaguzzi seine theoretischen Grundlagen der Kindererziehung, wobei er stark von Jean Piaget beeinflusst wird (vgl. Rieber 2002). In den 1970er Jahren wird die zentrale Koordinations- und Beratungsstelle für Reggio-Pädagogik mit Malaguzzi als Leiter eingerichtet. 1971 und 1972 finden der erste und zweite Kongress statt, auf denen der erreichte Stand der Reggio-Pädagogik diskutiert wird. 1981 konzipiert Malaguzzi mit seinem Team die Wanderausstellungen »Wenn das Auge über die Mauer springt« und »Die hundert Sprachen der Kinder«, die internationale Aufmerksamkeit finden und dazu beitragen, dass die US-amerikanische Zeitschrift »Newsweek« die Kitas von Reggio zu den besten und schönsten Einrichtungen der Welt erklärt. 1993 gründet Malaguzzi die Stiftung »Reggio Children« mit dem Ziel, die Rechte der Kinder, insbesondere ihr Recht auf Kreativität, zu verteidigen (vgl. ebd.). 1994 stirbt Malaguzzi in Correggio. Werk

Der Reggio-Pädagogik liegt die Überzeugung zugrunde, dass Kinder »von Geburt an aktive und kreative Gestalter ihrer eigenen Entwicklung und ihrer Beziehung zur Umwelt (sind)« (Dreier 1999, 59) und »die Kunst des Forschens bereits als Potenzial besitzen« (Lingenauber 2007, 17). In diesem Zusammen-

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hang hat Malaguzzi die Metapher der »100 Sprachen«, über die ein Kind verfügt, um sich mit der Welt auseinanderzusetzen, geprägt. Aufgabe der erwachsenen Begleiter ist, eine Atmosphäre des sozial-emotionalen Wohlbefindens zu schaffen, das Bemühen um echtes Verstehen der Entwicklungsprozesse, Gedanken und Gefühle der Kinder, das Rückmeldung gebende Begleiten ihres Alltags und die Beratung mit allen am Bildungs- und Erziehungsprozess Beteiligten (vgl. Knauf 2000). Ein wichtiger Bestandteil der Reggio-Pädagogik ist Projektarbeit. Entscheidend ist dabei nicht das Produkt, sondern der Prozess des Lernens. Ausgangspunkt ist die selektive Wahrnehmung des Kindes, die das Interesse auf einen bestimmten Gegenstand oder eine Frage lenkt. Das Staunen und Fragen führt zum genauen Beobachten und Analysieren des Phänomens und zur Kommunikation über den Sachverhalt. Schließlich wird das Wahrgenommene und subjektiv Beobachtete verinnerlicht und verarbeitet in Form einer gegenständlichen Repräsentationsform, z. B. einem Bild, einem Bauwerk, einem Spiel (vgl. Bumann 2008). Das Spiel kann Ausgangspunkt, Begleiter oder auch Ergebnis von Projekten sein und bildet ihre Grundlage. So verfügt Reggio über einen fest angestellten Puppenspieler. Gemeinsam mit den Kindern wird z. B. im Schattenspiel experimentiert. Im Konstruktionsspiel werden mitunter Konstruktionen gebaut, die den Rahmen des Gruppenraumes sprengen. Erkundungsspiele dienen dem Erkunden von Phänomenen mit allen Sinnen und fordern die Explorationsfreude der Kinder heraus. Große Bedeutung wird in der Reggio-Pädagogik auch dem Raum als »drittem Erzieher« beigemessen. Das Zentrum des Kindergartens bildet die »piazza«, ein zentraler Platz für Zusammenkünfte und Ausstellungen. Von dort gehen unmittelbar ab Gruppenräume, die Küche, das Atelier. Auf Flure als trennende Elemente wird verzichtet. Zu jedem Gruppenraum gehört ein »Mini-Atelier«. Das Atelier ist »der Arbeitsplatz der ›atelierista‹, der Künstlerin, die in jeder Einrichtung zum Personal gehört. […] Im Atelier arbeiten Kinder in Kleingruppen mit künstlerischer Unterstützung in der Regel an den Projektinhalten, in denen es in besonderer Weise um den ästhetischen Ausdruck, um die ›hundert Sprachen‹, ihre Erhaltung und Entwicklung geht« (Ullrich/Brockschnieder 2009, 78). Neben den Ateliers gibt es Werkstätten mit unterschiedlichsten Materialien: »Dinge zum Betrachten, Anfassen, Vergleichen, Sortieren, Gestalten und Ordnen; Muscheln und Steine, Federn, Knöpfe, Perlen, Schneckenhäuser usw. […] In großen Mengen vorhanden sind Materialien wie Draht, Ton, Papier, Pappe, Farben, Stifte, Papprohre, Klebeband, Bindfaden und Werkzeuge aller Art für deren Ver- und Bearbeitung« (ebd., 79).

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Die Materialausstattung der Räume leiten die Prinzipien Ordnung, Klarheit und Schönheit. Charakteristisch für die räumliche Gestaltung von Reggio-Einrichtungen sind darüber hinaus die vielfältigen Spiegel, z. B. Eck-, Decken- und Zerrspiegel, die Bekanntes verfremden und dadurch interessant und ungewöhnlich machen, und die zahlreichen Geräte, z. B. Leuchttische und Lampen, die zur Auseinandersetzung mit Licht und Schatten anregen. Grundlegend für das Selbstverständnis von Einrichtungen der Reggio-Pädagogik sind umfangreiche institutionalisierte Formen der Beteiligung von Kindern, Eltern und pädagogischem Personal. Die Kinder einer Gruppe treffen sich mit ihrer Erzieherin oder ihrem Erzieher zum »Kinderparlament«. In diesem Rahmen werden Projektideen ausgetauscht und Entscheidungen für inhaltliche Schwerpunktsetzungen getroffen. Die Kinder lernen nicht nur ihre eigenen Gedanken und Wünsche zu artikulieren und die Überlegungen anderer Kinder aufmerksam wahrzunehmen, sie machen darüber hinaus Diskussionserfahrungen in einer großen Gruppe. Die Leitung der Einrichtung liegt nicht in der Hand einer einzigen Person, sondern gleichermaßen in den Händen von pädagogischen Fachkräften, Eltern und Bürgern der Region. Gemeinsam bilden sie den Leitungsrat der Einrichtung. Die Arbeit im Rat wird durch das »reglemento« festgelegt. Die Tätigkeiten lassen sich in vier Bereiche unterteilen: »… erstens die Auseinandersetzung des gemeinschaftlichen Leitungsrats mit den Lebensbedingungen der Familien; zweitens die Organisation der Kindertagesstätte, z. B. in Hinsicht auf Öffentlichkeitsarbeit und Finanzen; drittens die Planung von Aktivitäten und Projekten und viertens die Auseinandersetzung mit dem Thema Kindheit« (Lingenauber 2007, 106).

Impulse für die aktuelle Elementarpädagogik

Im Mittelpunkt der Reggio-Pädagogik steht das Spiel, das in »100 Formen« die »100 Sprachen« des Kindes abbildet. Zahlreiche dokumentierte Bau- und Konstruktionsspiele, Gestaltungsspiele, Puppenspiele, Erkundungsspiele, Sortierspiele usw. sind Beispiele dafür, für wie bedeutungsvoll in der Reggio-Pädagogik diese Form der Auseinandersetzung gehalten wird. Spiele sind häufig in Projekte integriert, die die Auseinandersetzung mit einem Thema unterschiedlichster Art zum Gegenstand haben und sich über einen längeren Zeitraum erstrecken. Sie können z. B. Ausgangspunkt, Gegenstand oder Ergebnis von Projekten sein. Der künstlerisch-kreativen Auseinandersetzung wird in diesem Zusammenhang ein besonderer Stellenwert eingeräumt, was sich auch in der bunten, anregenden Raumgestaltung ausdrückt. Spiegel, Leuchttische und Lampen kön-

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nen Kinder zu vielfältigen Auseinandersetzungen anregen und dazu beitragen, Erscheinungen zu hinterfragen oder einmal mit anderen Augen zu sehen. Künstlerisch geschultes Personal, das zum festen Mitarbeiterteam der Einrichtungen gehört, ermöglicht es, spezifisch künstlerische Ausdrucksformen sowohl in die Philosophie der Einrichtungen als auch in die alltägliche Gestaltung in der Einrichtung einzubeziehen. Darüber hinaus werden die pädagogischen Fachkräfte von anderen Experten aus der Region unterstützt, was dazu führt, dass die Kinder und das pädagogische Personal authentische Begegnungen mit Erwachsenen unterschiedlicher Profession haben können. Das erscheint vor allem vor dem Hintergrund der Vielfalt von Wissensgebieten und Perspektiven bedeutsam. Das Verteilen von Leitungsfunktionen und Verantwortlichkeiten auf viele Schultern, die Einbeziehung der Eltern und weiterer Partner in der Region und nicht zuletzt die aktive Einbeziehung der Kinder in alle Entscheidungsprozesse lässt alle Beteiligten Erfahrungen mit demokratischen Strukturen machen und trägt zur Identifikation vieler Menschen in der Region bei. Exkurs: Kinder spielen für Kinder Theater

Von einer Benefizveranstaltung der besonderen Art, die Kinder der Kindertagesstätte »Bültmannshof« aus Bielefeld unter Anleitung ihrer Erzieherinnen und in Kooperation mit der »Niekamp Theater Company« Bielefeld durchgeführt haben, berichten die Erzieherinnen Heidrun Blechschmidt und Claudia Vollmer (vgl. Blechschmidt/Vollmer 2011, 37 ff.). Nach einem Puppenspiel der Company anlässlich des 40. Jubiläums der Kindertagesstätte entschlossen sich pädagogische Fachkräfte und Kinder der Einrichtung selbst ein Puppenspiel zugunsten eines krebskranken Kindes aufzuführen. Sie entschieden sich für zwei zwanzigminütige Stücke. Die Wahl fiel auf »Rumpelstilzchen« von den Brüdern Grimm für ein Stabpuppenspiel und die Geschichte »Der Regenbogenfisch« von Marcus Pfister als Schattenspiel. Nachdem die Kinder die Geschichten mehrmals gehört hatten, die Rollen vergeben waren und die Texte verteilt, begann der Puppenbau. »Wir entschieden uns für 1,70 Meter große Stabpuppen. Das Grundgerüst bestand aus einem Kreuz von Holzlatten. Als Arme verwendeten wir Plastikketten und daran wurden mit Watte ausgestopfte Kinderhandschuhe befestigt. Ein Perückenkopf vervollständigte das Ganze« (ebd., 37).

Die Kinder dekorierten die Köpfe. Für die Fische wurden tellergroße Fensterbildfische bestellt, die ebenfalls von den Kindern mit verschiedenfarbiger Folie gestaltet und mit Laternenstäben zum Hochhalten versehen wurden. Anschlie-

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Impulse für die Elementarpädagogik

ßend wurde die Kulisse gestaltet, sodass ein richtiges Bühnenbild entstand. In mehreren Proben und mit Hilfe professioneller Unterstützung wurden die beiden Stücke einstudiert und schließlich vor einem großen Publikum von Kindern, Eltern und Großeltern aufgeführt. Am Ende resümieren Blechschmidt und Vollmer: »Es hat uns viel Spaß gemacht, Theaterluft zu schnuppern. Abgesehen von den interessanten Einblicken hinter die Kulissen konnten die Kinder bei diesem Projekt auch miterleben, wie aus einer Idee eine Theatervorstellung werden kann. Vor allem aber waren die Kinder anschließend voller Stolz und Selbstvertrauen, weil sie jemandem geholfen haben. Unser Wunsch ist es nun, die Benefizveranstaltungen der besonderen Art weiterzuführen, nach dem Motto ›Kinder spielen für Kinder Theater‹«(ebd., 39).

2.5 Fazit Die vorgestellten reformpädagogischen Ansätze stellen eine Auswahl dar, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit und schon gar nicht auf strenge Systematik erhebt. Vielmehr handelt es sich um eine Zusammenschau verschiedener Theorien vor dem Hintergrund aktuell diskutierter anthropologischer, pädagogischer und didaktisch-methodischer Annahmen im elementarpädagogischen Bereich. In diesem Rahmen wurde der Versuch unternommen, die Grundaussagen dieser ausgewählten Pädagogen im Überblick darzustellen und daraufhin zu untersuchen, ob sie anschlussfähig an aktuelle elementarpädagogische Diskurse sind, bereits Berücksichtigung gefunden haben oder Anlass zur Rezeption in diesem Bereich geben. Es ist davon auszugehen, dass in diesem Rahmen eine Vielzahl interessanter und relevanter theoretischer und praktischer Ansätze der Pädagogik und angrenzender Wissenschaften keine Berücksichtigung finden konnten. Leitmotive, die in diesem Zusammenhang auszumachen sind, stellen die konsequente Orientierung der Pädagogik an der Lebenswelt und an den Lernvoraussetzungen des Kindes, eine konstruktivistische Vorstellung vom Lernen, die Wertschätzung des Spiels als zentrale Lern- und Entwicklungsform in der frühen Kindheit, die Differenzierung verschiedener Organisationsformen des Lernens und die Betonung von handlungsorientiertem und ästhetischem Lernen dar. Diese Leitmotive werden im 3. Kapitel wieder aufgegriffen, um davon ausgehend einige Forschungsperspektiven zu skizzieren, die zu einem tieferen Verständnis von Prozessen in der Frühpädagogik beitragen könnten. Die Skizzierung des biografischen Hintergrundes soll der Annahme Rechnung tragen, dass Grundannahmen und Verständnisse immer von individuellen

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Fazit

Erfahrungen und gesellschaftlichen Einbettungen beeinflusst sind, was auch Auswirkungen auf ihre zeitgeschichtliche und ihre aktuelle Bedeutung haben kann. Exemplarische Exkurse ins elementarpädagogische Feld sollen Einblicke in die aktuelle Praxis der Bildungsarbeit von Kindertagesstätten geben und den Transfer von Theorie und Praxis unterstützen. Wünschenswert wären für die Zukunft ein breiter und intensiver Diskurs von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und Praktikerinnen und Praktikern über die Bedeutung dieser und weiterer Ansätze für den elementarpädagogischen Bereich, theoriebildende und praxisbegleitende Forschung ebenso wie das Einfließen der Ergebnisse eines solchen Vorgehens in die Aus- und Weiterbildung pädagogischer Fachkräfte auf allen Ebenen im Dienste einer weiteren Professionalisierung im beruflichen Feld der frühen Bildung.

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Kapitel III: Professionalisierung in der Elementarpädagogik

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3.1 Zum Verständnis von Professionalität

Der Begriff der Professionalität wird im elementarpädagogischen Diskurs unterschiedlich definiert. Zum einen wird Professionalität synonym für die Akademisierung des pädagogischen Fachpersonals verwendet, die einhergeht mit bestimmten formalen Voraussetzungen, wie z. B. Zugangsberechtigungen und akademischen Abschlüssen, und einer auf wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen basierenden Reflexionspraxis. Eine zweite Lesart stellt im Zusammenhang mit Professionalität die fall- und feldbezogene berufsspezifische Interaktion in den Mittelpunkt. Eine dritte Herangehensweise arbeitet Planungskompetenzen als Professionalitätsgrundlagen heraus und eine vierte definiert Professionalität allgemein entlang der im beruflichen Feld erforderlichen Kompetenzen (vgl. von Balluseck 2008, 25). Gemeinsam ist den verschiedenen Herangehensweisen, dass sie die Qualität der Bildungs- und Erziehungsarbeit im Kontext frühkindlicher Bildungsprozesse herausstellen. »Dabei stehen zum einen im Vordergrund die Sensibilität gegenüber den Bedarfen und Bedürfnissen der Subjekte, mit denen Pädagogik zu tun hat, Förderung ihrer Autonomie und gegenseitige Anerkennung […] Das ist zum zweiten die Kompetenz und Selbstreflexivität, mit Ungewissheit umgehen zu können […] und schließlich die Forderung nach einem pädagogischen Habitus […]« (ebd., 25 f.).

Eine besondere Herausforderung stellt in diesem Zusammenhang der Anspruch einer wechselseitigen Bezogenheit von wissenschaftlichen Erkenntnissen und berufspraktischem Handeln dar. Eine intensive Kooperation zwischen Fachund Hochschulen und Praxiseinrichtungen der Frühpädagogik kann die u. a. von der Robert Bosch Stiftung (2008) problematisierte Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit auf beiden Seiten tendenziell reduzieren (vgl. www. profis-in-kitas.de). Im Auftrag der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft hat der AKTIONSRATBILDUNG 2012 ein Gutachten publiziert, das herausarbeitet,

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Professionalisierung in der Elementarpädagogik

»welche Qualifikationen das frühpädagogische Personal erwerben muss, welche Differenzierungen diesbezüglich zu empfehlen sind und wie das vorhandene Personal eine Chance zur Personalentwicklung erhält« (Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. 2012, 9). Als zentrale Forderungen formuliert der AKTIONSRATBILDUNG Empfehlungen in den Bereichen Verantwortlichkeiten und Koordination, Ausbildung an Fach- und Hochschulen, Qualitätsentwicklung von Kindertagesstätten und Vergütung (vgl. ebd., 13 f.). Gefordert werden die Entwicklung eines koordinierten Gesamtkonzepts für die Aus-, Fort- und Weiterbildung des frühpädagogischen Fachpersonals auf verschiedenen Ausbildungsebenen unter Verantwortlichkeit der Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) und der Kultusministerkonferenz (KMK) und mit Begleitung durch ein Forschungsprogramm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Hinsichtlich der Ausbildung an Fach- und Hochschulen wird angeregt: –– die Schwerpunktsetzung im Bereich der Frühpädagogik in der fachschulischen Ausbildung; –– die Vereinheitlichung der frühpädagogischen Studiengänge an Hochschulen und eine Schwerpunktsetzung in den Bereichen Didaktik und Methodik der einzelnen Bildungsbereiche, Sprachdiagnostik und -förderung, Heterogenität, Inklusion und Leitung; –– die Etablierung von berufsbegleitenden frühpädagogischen Studiengängen; –– der Ausbau der Forschungs- und Ausbildungsstrukturen an Universitäten und damit einhergehend die Erhöhung der Anzahl der Professuren für Frühpädagogik. Mit Blick auf die Qualitätsentwicklung von Kindertagesstätten und die Vergütung des pädagogischen Personals werden als zentrale Forderungen formuliert: –– die Entwicklung von zertifizierten Weiterbildungsprogrammen in Zusammenarbeit mit den Hochschulen; –– die verpflichtende Fort- und Weiterbildung des pädagogischen Personals in Kindertagesstätten; –– die Weiterqualifizierung von Kinderpflegerinnen/Kinderpflegern und Sozialassistentinnen/Sozialassistenten und der Verzicht auf Neueinstellungen; –– die Verbesserung des Übergangs von der Kindertagesstätte zur Grundschule; –– die Beschäftigung mindestens einer auf hochschulischem Niveau ausgebildeten frühpädagogischen Fachkraft in jeder Kindertagesstätte bis 2020; –– die Weiterentwicklung der Einrichtungen zu Familienzentren; –– die Vergütung hochschulisch ausgebildeter pädagogischer Fachkräfte auf dem Niveau vergleichbarer Studiengänge.

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Zum Verständnis von Professionalität

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Hinsichtlich der Kompetenzorientierung wird darauf verwiesen, dass sich in Anlehnung an die Professionsforschung im Schulbereich auch im Elementarbereich »Strukturfassetten professioneller Handlungskompetenz« (ebd., 62) ausmachen lassen. Dabei wird berufliche Handlungskompetenz definiert als »die Fähigkeiten, die Fertigkeiten, die Denkmethoden und die Wissensbestände eines Menschen, die es ihm erlauben, sowohl vertraute als auch neuartige Arbeitsaufgaben zu bewältigen« (ebd.). Es wird davon ausgegangen, dass professionelle pädagogische Handlungskompetenz in Aus-, Fort- und Weiterbildung erworben, vertieft und erweitert werden kann. Als strukturelle Facetten einer solchen Handlungskompetenz werden unterschieden: –– Professionswissen – dazu zählen Fachwissen, fachdidaktisches Wissen und allgemeinpädagogisches Wissen. –– Pädagogische Orientierungen und Einstellungen – dazu zählen Einstellungen zu frühpädagogischen Ansätzen, Vorstellungen von den Aufgaben in einer frühpädagogischen Einrichtung, Vorstellungen von der eigenen pädagogischen Rolle, Vorstellungen von der Bedeutung der verschiedenen Bildungsbereiche in der Kindertagesstätte und Vorstellungen darüber, wie Kinder lernen und sich bilden. –– Motivationale und emotionale Aspekte – dazu zählen emotionale Haltungen gegenüber den Bildungsbereichen, das Interesse an ihren Inhalten, die Freude an der pädagogischen Arbeit mit den Kindern und Selbstwirksamkeitserwartungen im Hinblick auf den Bildungserfolg der Kinder. –– Selbstregulatorische Fähigkeiten – dazu zählen ein effektiver Umgang mit den Anforderungen im frühpädagogischen Feld und die Sorge für die eigene psychische und physische Gesundheit (vgl. ebd., 62 ff.). Diese Facetten sind nicht als isolierte Elemente, sondern im Sinne eines komplexen Professionsverständnisses zu verstehen und bedingen einander. Letztlich kann ein bestimmter Grad an Professionalität nur im konkreten Handeln im Alltag festgestellt werden (vgl. von Balluseck 2008, 27) und misst sich z. B. daran, inwieweit es gelingt, die Autonomie sowohl der Professionellen als auch der Kinder zu unterstützen. Wenn, wie die Ergebnisse der Neuropsychologie (u. a. Hüther 2005) zeigen, »nur Selbstbildungsprozesse Bildung ermöglichen, während in von Macht geprägten Beziehungen nur Wissen erlernt wird« (von Balluseck 2008, 29), stellt sich weniger die Frage, was Autonomie der Kinder bedeutet. Der Anspruch der Autonomie der Professionellen ist dagegen erklärungsbedürftig. Von Ballusseck bezweifelt z. B., dass der Anspruch, »die eigenen Autonomiebestrebungen mit Verantwortung für andere zu verknüpfen, immer umgesetzt wird« (ebd.) und fordert von Pädagoginnen und Pädagogen

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die kommunikative Leistung, ihre vermeintliche Überlegenheitsposition aufzugeben und sich zu Partnern aller am Bildungs- und Erziehungsprozess Beteiligten, vor allem aber der Eltern, zu machen. »Die Autonomie der FrühpädagogIn kann sich also nicht auf eine absolute Überlegenheit der Kompetenzen stützen und darf dies auch nicht, um das pädagogische Handeln nicht zu gefährden. Kinder, deren Eltern nicht wertgeschätzt werden, können an den Bildungsprozessen der Kita nicht voll teilnehmen, denn Kinder sind in erster Linie gegenüber ihren Eltern loyal, nicht gegenüber einer Professionellen oder einer Institution« (ebd.). »Vor diesem Hintergrund muss der Grad der Autonomie der pädagogischen Fachkräfte immer wieder neu ausgehandelt werden« (ebd.).

Das setzt einen hohen Grad an (Selbst)Reflexion voraus und ist eine Voraussetzung für einen pädagogischen Habitus. Als Habitus wird in Anlehnung an Bourdieu ein berufsspezifisches Verhalten verstanden, das im Laufe der Berufsbiografie vor dem Hintergrund individueller Merkmale, z. B. Schichtzugehörigkeit, Erfahrungen, erworben wird und weitestgehend unbewusst ist. Ein wesentliches Merkmal von Professionalität ist, die in den pädagogischen Habitus eingegangenen Anteile (Erfahrungen, Motive, Verletzungen etc.) ausbildungs- und berufsbegleitend zu reflektieren, was voraussetzt, dass dafür die Rahmenbedingungen (zeitlich, finanziell, organisatorisch) gegeben sind.

3.2 Forschungen in der Frühpädagogik Der Bedarf an Forschung im frühpädagogischen Bereich wird in den letzten zehn Jahren sowohl von offiziellen Institutionen als auch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verstärkt angemahnt. Folgende Begründungszusammenhänge werden thematisiert (vgl. Fröhlich-Gildhoff/Nentwig-Gesemann/Haderlein 2008): Die frühpädagogische Theorie und Praxis hat sich aus unterschiedlichen pädagogischen und soziologischen Traditionen entwickelt. Untersuchungen über Wirkungen von anthropologischen, pädagogischen und didaktisch-methodischen Setzungen gibt es aber kaum. Stattdessen wird von der Plausibilität von bestimmten Setzungen, z. B. altersgemischten Gruppen, Eingewöhnungsmodellen, ausgegangen.

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Qualitätsentwicklung und Qualitätsmanagement werden zunehmend als wichtige Aufgaben von Trägern und Kindertageseinrichtungen angesehen. Zugleich gibt es kaum abgesicherte Kriterien dafür, wie Qualität erfasst und beschrieben werden kann. Politische Entscheidungen im Bereich der Frühpädagogik bedürfen empirisch generierter und überprüfter Theorien. Die aktuelle unzufrieden stellende Forschungslage im Bereich der frühen Bildung führt dazu, dass auf Forschungsergebnisse vor allem aus dem englischsprachigen Ausland zurückgegriffen werden muss. Dabei wird häufig kaum thematisiert, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nur bedingt vergleichbar sind. Eine hochwertige Ausbildung von pädagogischen Fachkräften an Hochschulen setzt eine forschungsbasierte Lehre voraus. Im Folgenden sollen exemplarisch Gegenstand und Ergebnisse von drei empirischen Forschungsarbeiten vorgestellt werden, wobei auf die Darstellung des detaillierten forschungsmethodischen Vorgehens an dieser Stelle verzichtet und stattdessen auf die Quellen verwiesen wird. Während die Probanden der ersten und zweiten Untersuchung Kinder im vorschulischen Bereich sind, wendet sich die dritte Studie an Schulkinder im Alter von 7 bis 12 Jahren. Da dieses Thema aber inhaltlich und hinsichtlich des methodischen Vorgehens ebenso interessant für jüngere Kinder sein dürfte, wurde es in die Wahl der Forschungsbeispiele aufgenommen. Anschließend sollen vor dem Hintergrund der Impulse im 2. Kapitel dieses Buches weitere Forschungsperspektiven entwickelt werden. Maike Rönnau, Gabriele Kraus-Grunner, Eva-Maria Engel: »Resilienzförderung in der Kindertagesstätte«

Bei diesem Forschungsprojekt (vgl. Rönnau/Kraus-Grunner/Engel 2008, 117 ff.) handelt es sich um ein präventives Projekt zur Resilienzförderung in vier Kindertagesstätten mit insgesamt 247 Kindern und 44 Erzieherinnen und Erziehern unter Einbeziehung der Eltern und externer Kooperationspartner. Das Projekt wurde vom 01. 08. 2005 bis 31. 07. 2007 unter Federführung des Zentrums für Kinder- und Jugendforschung e. V. an der Evangelischen Hochschule Freiburg und mit Unterstützung der Aktion Mensch unter Leitung von Prof. Dr. Klaus Fröhlich-Gildhoff durchgeführt. Neben der Durchführungsgruppe haben sich die Forscherinnen für eine Kontrollgruppe mit insgesamt 193 Kindern und 51 Erzieherinnen und Erziehern entschieden. »Das Ziel des Projekts bestand darin, Kindern präventiv unterschiedliche Wege aufzuzeigen, wie sie Belastungen in einer entwicklungsförderlichen Weise bewältigen und diese meistern können.

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Die Kindertagesstätten und die tätigen Fachkräfte sollten qualifiziert werden offene Anlaufstelle für Familien zu sein, gezielt präventive Angebote für Kinder und ihre Bezugspersonen zu machen und Vernetzungsprozesse kontinuierlich zu gestalten« (ebd., 118). Es wurde ein triangulatives Verfahren gewählt, das sowohl quantitative als auch qualitative Methoden beinhaltete. So wurden verschiedene standardisierte Fragebögen eingesetzt, Tests und Interviews mit den unterschiedlichen Akteuren durchgeführt. Sechs protektive Faktoren, die positiv auf Resilienz auswirken, konnten empirisch gewonnen werden (vgl. ebd., 122): –– eine angemessene Selbsteinschätzung und Informationsverarbeitung, –– die Überzeugung, Anforderungen bewältigen zu können, –– die Fähigkeit zur Regulation von Gefühlen, –– die Beherrschung von Strategien zur Problemlösung, –– die Fähigkeit bei Problemen Unterstützung einzuholen, –– die Fähigkeit zum situationsangemessenen Handeln. Im Projekt wurde ein Mehrebenenansatz verfolgt. In der Arbeit mit Kindern wurde mit Trainingsprogrammen, Einzelförderungsmaßnahmen und zielgruppenspezifischen Angeboten gearbeitet. Für das pädagogische Fachpersonal gab es Fortbildungen und Fallsupervision. Die Eltern erhielten die Möglichkeit zur Teilnahme an Elternkursen und Elternberatungen. Die Kindertageseinrichtung wurde bei verschiedenen Initiativen zur sozialräumlichen Vernetzung unterstützt. Wesentliche Ergebnisse des Forschungsprojektes bezogen auf die Kinder waren: –– Das Selbstbild (Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit) der Kinder der Durchführungsgruppe verbesserte sich im Vergleich zur Kontrollgruppe signifikant. –– Auch im kognitiven Bereich konnten positive Entwicklungen nachgewiesen werden. –– Die Kinder der Durchführungsgruppe zeigten mehr Geduld und Ausdauer mit sich selbst. –– Sie verbesserten auch ihre Fähigkeit, über Gefühle und Grenzen zu kommunizieren. Die Eltern schätzten nach dem Projekt ein, –– dass sie mehr Ruhe, Gelassenheit und Zufriedenheit im Erziehungsprozess verspüren, –– dass die Beziehung zu ihren Kindern offener und intensiver geworden ist und die Stärken der Kinder mehr Berücksichtigung finden,

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–– dass sich der Kontakt der Eltern untereinander in der Einrichtung verbessert hat, –– dass sie sich insgesamt kompetenter in Erziehungsfragen fühlen. Auch das pädagogische Personal schätzte positive Effekte als Ergebnis des Projekts ein. Sie beschrieben vor allem einen stärker ressourcenorientierten Blick auf die Kinder, positive Auswirkungen auf das Team und eine bessere Zusammenarbeit mit den Eltern als gewinnbringende Effekte. Resümierend schätzten die Forscherinnen ein: »Mit dem Projekt konnten Kindertagesstätten so qualifiziert werden, gezielt präventive Angebote für Kinder und ihre Bezugspersonen zu machen und Vernetzungsprozesse kontinuierlich zu gestalten. Sie haben sich so zu Einrichtungen weiterentwickelt, die stärker die Mitverantwortung für die ganzheitliche Entwicklung von Kindern übernehmen und sich als vernetzte, gesundheitsförderliche Lern- und Lebensorte im Sozialraum definieren. Die Kindertagesstätten sind somit zentrale Knotenpunkte im Netz resilienzförderlicher Aktivitäten geworden« (ebd., 142). Nicole Kirstein: »Partizipation im Kindergarten – Kinderparlament und Kinderrat«

Bei diesem Forschungsprojekt (vgl. Kirstein 2008, 65 ff.) handelt es sich um eine qualitative Untersuchung mittels teilnehmender und nicht teilnehmender Beobachtung und anschließender Dokumentenanalyse. Das Forschungsinteresse sucht anhand von Partizipationsgremien wie Kinderkonferenz und Kinderrat zu erfassen, »wie Kinder Aushandlungsprozesse zur Konfliktlösung gestalten, welche Ergebnisse mit sozialen Interaktionen erzielt werden und welche Faktoren auf diese Vorgänge einwirken« (Kirstein 2008, 65). Als Datenbasis dienen 44 schriftliche Beobachtungsprotokolle und fünf Videoanalysen von Kinderkonferenzen und Kinderratssitzungen. Beteiligt waren 84 Kinder im Alter von 3–6 Jahren. Die Analyse der Daten erfolgte über ein am Material entwickeltes Kategoriensystem. Dabei wurden nur die 22 schriftlichen Protokolle von Kinderkonferenzen und Kinderratssitzungen ausgewählt, die Konfliktbearbeitungen enthielten. Auf der Basis der Daten wurden die fünf Basis-Kategorien »Konfliktthemen«, »Vorschläge zur Konfliktlösung«, »Entscheidung«, »Umsetzung«, »Ergebnisse und Erfahrungen« gebildet und die entsprechenden Äußerungen aus den Protokollen zugeordnet. Folgende Darstellung zeigt einige Ergebnisse auf der Ebene der Kategorie »Konfliktthemen« (vgl. ebd., 76.):

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Konfliktthemen

Professionalisierung in der Elementarpädagogik

Ergebnisse

Beispiele

Normative Regelungen

»Manche Kinder räumen nicht auf.« Mädchen, 5 Jahre »Dass man mein Gebautes nicht futsch macht.« Junge, 5 Jahre »Nie krieg ich im Hof ein Fahrzeug.« Mädchen, 5 Jahre »Die Kleinen stören uns beim Bauen.« Junge, 5 Jahre »Das Fußballfeld ist zu klein.« Junge, 6 Jahre »Manche Kinder reißen mich vom Roller runter.« Mädchen, 5 Jahre »Wir – gemeint sind hier die Mädchen – wollen nicht von den Jungen gejagt werden.« Mädchen, 5 Jahre

Bestandswahrung Materielle Ressourcen Abgrenzungsbestrebungen Territoriale Erweiterung Körperliche Integrität Geschlechterthemen

Bei der Analyse der Äußerungen wurden geschlechtsspezifische Unterschiede hinsichtlich der Themenwahl deutlich. »Mädchen klagen eher die Einhaltung bestehender Normen ein, sind also eher normwahrend orientiert. Jungen drängen hingegen meist auf neue, ihren Wünschen entgegenkommende Freiräume, agieren demzufolge normerweiternd bzw. -korrigierend« (ebd.). Interessant ist auch der Befund, dass Konflikte zwischen dem pädagogischen Personal und den Kindern in keiner der Kinderkonferenzen und Kinderratssitzungen zur Sprache gebracht wurden und daher offensichtlich in anderen Feldern ausagiert werden. Hinsichtlich der Lösungsvorschläge verfügten die Kinder ebenfalls über ein breites Repertoire. Z. B. schlugen sie optische Hinweise (eine Polizeikelle bei Verstößen), räumliche Lösungen (einen Sportplatz außerhalb des Kindergartens), die Verhängung von Sanktionen (Verbote) und Kontrollen (Stoppuhr) vor. Auch hier wurden geschlechtsspezifische Unterschiede deutlich. »Jungen bevorzugen in der Regel eher rigide Sanktionen, während Mädchen häufiger fürsorgliche Anteile in ihre Vorschläge integrieren« (ebd., 77). Die Analyse der Entscheidungsprozesse im Kinderrat machte deutlich, dass die Entscheidungsprozesse in erster Linie den persönlichen Interessen der Mitglieder folgten und eher nicht die Interessen aller Kinder der Einrichtung mit einbezogen. Bestimmend waren Gruppenhierarchien und Schlüsselpositionen. Für die Umsetzung der gefundenen Regelungen wurden Strategien der Erwachsenen, z. B. Phasen der Projektplanung, berücksichtigt, die häufig neue Aushandlungen nach sich zogen. Die Ergebnisse des Aushandlungsprozesses hatten für unterschiedliche Zeiträume Gültigkeit und stellten (im Gegensatz zu Annahmen von Piaget und Kohl-

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Forschungen in der Frühpädagogik

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berg) eine mehr oder weniger selbstverpflichtende Bindung dar, an die die Kinder bereit waren, sich auch unabhängig von Normvorgaben der Erwachsenen zu halten. Als Konsequenzen für die Gremienarbeit von Kindern in der Kindertagesstätte kommt das Forschungsprojekt zu den Ergebnissen, –– dass strukturelle Abläufe demokratischer Entscheidungsfindung in Kleingruppen, z. B. in Demokratiewerkstätten, eingeübt werden müssen, –– dass eine konfliktfreudige Gesamtatmosphäre für die Ausbildung demokratischer Tugendenden von erheblicher Bedeutung ist, –– dass Strategien zur konstruktiven Konfliktbearbeitung erlernt und geübt werden müssen, –– dass regelmäßige Reflexionsphasen zu gefundenen Konfliktlösungen ermöglicht werden sollten, um im Sinne gleichberechtigter Teilhabe aller Kinder zu wirken, –– dass manche Konfliktthemen besser geschlechterdifferent thematisiert werden könnten, damit sich Jungen und Mädchen gleichermaßen einbringen können, –– dass Elemente der Gewaltenteilung, z. B. Rotation von Verantwortlichkeiten, geheime Wahl, Berücksichtigung finden müssen. In Abwägung der Chancen und Grenzen von Partizipation von Kindern in Kinderkonferenzen und Kinderräten kommt die Studie einerseits zu dem Ergebnis, dass »Kinderkonferenzen Indikatoren für kindliche Entwicklungsthemen, unberücksichtigte Interessen, ungleiche Geschlechterverhältnisse oder sonstige ›Dissonanzen‹ innerhalb der Partizipationskultur der jeweiligen Einrichtung (beinhalten)«, andererseits aber »die Entwicklungsimpulse der Partizipationsgremien auf einen kleinen Teil teilhabender Kinder reduziert und gleichzeitig soziale Ungleichheiten manifestiert (werden)« (ebd., 86). Sarah Maria Soldanski: »Killerschlangen und Kuschelhasen: Das Verhältnis von Kindern zu Tieren«

In der folgenden qualitativen Untersuchung (vgl. Soldanski 2008, 149 ff.) haben 19 Kinder im Alter von 7 bis 12 Jahren »die Möglichkeit erhalten, ihren Bezug zu Tieren anhand der von ihnen gemachten Erlebnisse und Erfahrungen frei darzulegen, ohne auf eine vermutete Erwartungshaltung vonseiten der Forscherin zu reagieren« (ebd., 153). Als Erhebungsverfahren wurde die Gruppendiskussion ausgewählt, da so neben individuellen Orientierungsmustern auch solche, die Ergebnis der Peersozialisation sind, erfasst werden konnten. Drei Erhebungen fanden in pädagogischen Einrichtungen mit Tierhaltung statt, während die vierte Erhebung mit einer Kontrollgruppe durchgeführt wurde, die nicht nach

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Professionalisierung in der Elementarpädagogik

einem tierpädagogischen Konzept arbeitet. Dabei wurde der Annahme gefolgt, dass der Grad der Vertrautheit des Umgangs mit Tieren Auswirkungen auf die Orientierungen der Kinder in Bezug auf Tiere hat. »Bei der Interpretation der Daten ließen sich drei Hauptmerkmale des Verhältnisses von Kindern zu Tieren ausmachen: ȤȤ Tiere als soziale und emotionale ›Bezugspersonen‹ ȤȤ Tiere als Spiegel anthropologischer Grundfragen und existentieller Erfahrungen des Lebens ȤȤ Instrumentalisierung von Tieren im Rahmen der Ausbildung einer eigenen Identität« (ebd., 160)

Zum einen fungierten Tiere für Kinder als Projektionsfläche für eigene Bedürfnisse, Gedanken und Gefühle, zum anderen erkannten Kinder die Verletzbarkeit von Tieren, was Mitgefühl und Mitleid bei ihnen auslöste, wobei die Intensität der Beziehung und die Perspektive auf das Tier je nach Nähe und Distanz unterschiedlich ausgeprägt war. »In jedem Fall aber stellen vertraute wie weniger vertraute Tiere für die Kinder Modelle dar, an denen sie sich in zwischenmenschliche Beziehungsformen (z. B. Bekanntschaft vs. Freundschaft oder das Lehrer-Schüler-Verhältnis) einüben können […]« (ebd. 162). Darüber hinaus lassen die Ergebnisse der Untersuchung darauf schließen, dass Tierkontakte dazu führen, dass Kinder sich mit existentiellen Themen, z. B. Partnerschaft, Sexualität, Geburt, Trennung, Sterben, auseinandersetzen. In allen Gruppen zeigte sich, dass die Erfahrung des Todes eines Tieres zu grundlegenden Verunsicherungen und Auseinandersetzungen mit der Endlichkeit allen Lebens führten. »In ihrer Diskussion offenbart sich die Unsicherheit der Kinder über einen angemessenen Umgang mit dem Tod und die ›richtige‹ Art zu trauern […] In jedem Fall wird hier sehr deutlich, wie in allen anderen Erzählungen zum Tod von Tieren auch, dass die Kinder die betreffenden Tiere als Individuen empfinden, deren Verlust in ihnen eine Leere zurücklässt, die sich nicht einfach durch ein anderes Tier der gleichen Rasse füllen lässt« (ebd., 164 f.). Interessant ist auch der Befund der Identitätsförderung durch den Kontakt mit Tieren, allerdings kommt die Untersuchung zu dem Ergebnis: »Dies funktioniert nicht, wie man mit Blick auf die Anthropologie annehmen könnte, über eine dezentrierte Wahrnehmung der Andersartigkeit des Tieres zum Menschen, sondern über die Zuneigung zu einer Tierart in Abgrenzung zu Erwachsenen oder Gleichaltrigen. […] Insbesondere sensationelle Tierbegegnungen sowie die Vorliebe für spezielle Tierarten werden von Kindern häufig zur Aufwertung der eigenen Person in der Gruppe genutzt« (ebd., 166 f.), wobei geschlechts­typische Unter-

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Forschungen in der Frühpädagogik

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schiede deutlich wurden. Während die Mädchen die Niedlichkeit bestimmter Tiere betonten, stellten die Jungen ihre Stärke, Größe oder andere »mächtige« Eigenschaften heraus. Resümierend kommt die Untersuchung zum Erleben von Tieren durch Kinder zu dem Ergebnis: »Es lässt sich feststellen, dass über die verschiedenen Themen hinweg eine egozentrische Beurteilung von Tieren bei den befragten Kindern klar im Vordergrund steht. Auch wenn sie Unterschiede zwischen Mensch und Tier durchaus wahrnehmen, beurteilen sie das Tier mehrheitlich nicht als das ›andere‹ Wesen – der akzeptierte Unterschied von Mensch und Tier ist für ihr Verhalten gegenüber Tieren also nicht handlungsleitend. Im Gegenteil: Es finden sich an zahlreichen Stellen Anthropomorphisierungen und selbst dort, wo Tiere aufgrund ihrer tierischen Eigenschaften und Instinkte als bedrohlich wahrgenommen werden, bleibt die eigene Gefühlslage der Horizont, an dem das Verhalten der Tiere gemessen wird« (ebd., 168 f.). Hinsichtlich der Aussagen der Versuchs- und der Kontrollgruppe kann festgestellt werden, dass die Kinder mit intensivem Tierkontakt erwartungsgemäß eine positivere Einstellung gegenüber Tieren zeigten als die Kinder der Kontrollgruppe. Alle drei Forschungsprojekte können im Bereich der Kindheitsforschung verortet werden. Im Mittelpunkt dieser noch jungen wissenschaftlichen Disziplin stehen zum einen Erfahrungen, Verständnisse, Handlungsstrategien von Kindern, die in einem möglichst authentischen Setting erhoben werden, und zum anderen Rahmenbedingungen von Kindheit mit dem Ziel, Kinder besser verstehen zu lernen und ihnen möglichst entwicklungsförderliche Bildungsbedingungen schaffen zu können. Im Folgenden sollen die zentralen im 2. Kapitel dieses Buches vorgestellten Impulse für den elementarpädagogischen Bereich im Hinblick auf relevante Forschungsfragen im Bereich der Kindheitsforschung betrachtet werden. Lebenswelt von Kindern

Unter der Lebenswelt von Kindern wird hier die Gesamtheit der Bedingungen verstanden, unter denen Kinder aufwachsen. Maßgeblich bestimmt ist die Lebenswelt der Kinder durch ihre Familien, institutionelle Bildungseinrichtungen, Peers und Medien. In allen diesen Bereichen gibt es interessante Fragestellungen für Forschungsprojekte im frühpädagogischen Bereich, z. B. –– Gestaltet sich die Eingewöhnung in Kindertagesstätten bei Kindern mit Geschwistern anders als bei Einzelkindern? –– Wie können getrennt lebende Eltern die Erziehung ihres Kindes möglichst entwicklungsförderlich gestalten?

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–– Wie können Eltern in die Arbeit der Kindertagesstätte so einbezogen werden, dass diese Einrichtungen zu Familienbildungsstätten werden können? –– Wie nehmen Kinder ihre Lebenswelt wahr und was wird von ihnen als besonders bedeutsam empfunden? –– Welche Rolle spielen Peers in der frühen Kindheit? –– Wie entwickeln sich Vorstellungen von Freundschaft? –– Welche Bedeutung haben Pflanzen und Tiere für die Entwicklung von Kindern? –– Welche Medien nutzen Kinder im vorschulischen Alter und welche Auswirkungen hat diese Mediennutzung? Die Lernvoraussetzungen von Kindern

Der Begriff der Lernvoraussetzungen bezieht sich auf sämtliche Erfahrungen, Kenntnisse, Einstellungen und Motive, Interessen und Verhaltensstrategien, körperliche und seelische Bedingungen, die das Kind mitbringt oder bereits erworben hat und die Einfluss auf die weitere Entwicklung des Kindes haben können. Lernvoraussetzungen sind individuell unterschiedlich und können daher nur bei einer ausreichend großen Stichprobe zu verallgemeinerbaren Aussagen führen, die vor dem Hintergrund der je individuellen Dispositionen zu überprüfen sind. Erkenntnisse über die Lernvoraussetzungen von Kindern sind bedeutsam, um Bildungsprozesse besser begleiten und Kinder in ihrer Entwicklung unterstützen zu können. Dabei kann sich das Forschungsinteresse z. B. auf folgende Fragen beziehen: –– Welche Fragen stellen Kinder im vorschulischen Alter im philosophischen, naturwissenschaftlichen, technischen oder sozialwissenschaftlichen Bereich? –– Was wissen Kinder bereits in diesen Bereichen? –– Welche Motive bestimmen das Verhalten der Kinder in der Kindertagesstätte? –– Wie können stille oder schüchterne Kinder in der Kindertagesstätte gezielt gefördert werden? –– Wie beeinflussen körperliche oder geistige Beeinträchtigungen die Entwicklung der Kinder? –– Wie kann Inklusion in der Kindertagesstätte umgesetzt werden? Das Lernen von Kindern

Lernen ist ein aktiver Konstruktionsprozess, der schon vor der Geburt beginnt. In der Kindheit entwickeln sich Lernprozesse besonders rasant und können von außen besonders gut beobachtet werden. Lernen als situativer und beiläufiger Prozess wirkt spielerisch und birgt ein hohes Potenzial an Entwicklungsmöglichkeiten. Je mehr Pädagoginnen und Pädagogen über diese Prozesse wissen,

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Forschungen in der Frühpädagogik

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desto besser können sie Kinder verstehen und in ihrer Entwicklung unterstützen. Fragen, denen nachgegangen werden könnte, sind z. B. –– Wie nehmen kleine Kinder ihre Umgebung wahr und wie entwickelt sich die Wahrnehmung bis zum Schuleintritt? –– Welche Strategien entwickeln Kinder beim Lernen? –– Wie reflektieren Kinder ihre Lernprozesse? –– Welche Bedingungen können Lernen unterstützen? –– Wie entwickeln sich ethisch-moralische Vorstellungen bei Kindern? –– Wie lernen Kinder von Kindern? –– Wie kann Lernen beobachtet und dokumentiert werden? Die Bedeutung des Spiels

Unbestritten ist das Spielen die zentrale Tätigkeit in der frühen Kindheit. Spiele ermöglichen Lernen in vielen Kompetenzbereichen und fördern die kindliche Entwicklung ganzheitlich, wie keine andere methodische Form. Sie ermöglichen einen entspannten Umgang mit den eigenen Gedanken und Gefühlen, mit anderen Kindern und können auch dazu beitragen, mit emotionalen Problemen und Konflikten entwicklungsförderlich umzugehen. Genauere Vorstellungen vom Spielverhalten jüngerer Kinder können die Gestaltung des Tagesablaufes für die Kinder, die Raumgestaltung, die Bereitstellung von Materialien wie nahezu alle Handlungsvollzüge in der Kindertagesstätte sinnvoll begleiten helfen. Dabei kann es z. B. um folgende Fragen gehen: –– Welche Spiele bevorzugen Kinder in einem bestimmten Alter? –– Spielen Mädchen anders als Jungen? –– Wie nehmen Kinder das eigene Spielen wahr? –– Unterscheiden Kinder zwischen »Spielen« und »Lernen«? –– Welche sozialen Praktiken sind beim Spielen von Kindern zu beobachten? –– Welche Qualitäten sollten Spielmaterialien aufweisen? –– Welches Spielzeug bevorzugen Kinder? –– Wie vollziehen sich Rollenübernahme und Perspektivenwechsel im Spiel? Organisationsformen des Lernens

In den meisten Kindertagesstätten wird durch Werkstätte, Projekte oder verschiedene Formen der Freiarbeit und weitere konzeptionelle Überlegungen ein Rahmen für die Aktivitäten der Kinder gesetzt. Interessant wäre es, genaueren Aufschluss über die Wirkungen solcher Formen zu erhalten. Dabei könnte es z. B. um folgende Fragen gehen: –– Welchen Beitrag können Exkursionen für die Bildung und Erziehung in der Kindertagesstätte leisten?

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Professionalisierung in der Elementarpädagogik

–– Welche Auswirkungen haben konzeptionelle Entscheidungen der pädagogischen Einrichtungen, z. B. Jahrgangsmischung oder die Arbeit nach einem bestimmten konzeptionellen Ansatz, auf die Entwicklung der Kinder? –– In welchem Zusammenhang stehen Organisation des Alltags und Partizipation der Kinder? –– Welche Organisationsformen bevorzugen Kinder? –– Wie können die Kinder in die Gestaltung des Alltags in der Kindertagesstätte einbezogen werden? –– Woran lassen sich Aspekte eines entwicklungsförderlichen Raumkonzepts von Kindertagesstätten festmachen? Die Bedeutung von handlungsorientiertem Lernen

Handlungsorientiertes Lernen kann zum einen als praktisches Handeln verstanden werden, das auf ein materiell-gegenständliches Handlungsergebnis ausgerichtet ist, und zum anderen als elementare menschliche Tätigkeit der Auseinandersetzung mit der Welt. Insofern ist Handlungsorientierung ein grundlegendes Phänomen, das bei näherer Betrachtung eine Vielzahl an Aspekten und Fragen offenbart. Forschungsaktivitäten könnten z. B. auf folgende Fragen ausgerichtet sein: –– Kann handlungsintensives Lernen zum Aufbau von Selbstvertrauen beitragen? –– Welche Handlungsplanung ist im Handeln von Kindern unterschiedlichen Alters erkennbar? –– Bevorzugen Kinder eines bestimmten Alters spezifische Handlungsformen oder Handlungsmuster? –– Wie erfolgt das Handeln? –– Wie entwickeln sich Handlungsstrategien? –– Wie erfolgt die Handlungskontrolle? –– Wie beeinflusst das Handeln der pädagogischen Fachkräfte das Handeln der Kinder? Die Bedeutung von ästhetischem Lernen

Ästhetisches Lernen ist Lernen mit allen Sinnen. Wenn davon ausgegangen wird, dass dieser Form des Lernens bei jüngeren Kindern eine besondere Bedeutung zukommt, kann es für die Gestaltung pädagogischer Prozesse hilfreich sein, eine möglichst differenzierte Vorstellung von Formen, Bedeutungen und Wirkungen ästhetischer Aneignungsprozesse von Kindern zu haben. Dabei kann es z. B. um folgende Aspekte gehen: –– Wie wirken Töne, Farben, Zeichen, Bewegungen etc. auf kleine Kinder? –– Wie nehmen Kinder ausgewählte musikalische oder bildnerische Werke wahr?

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Professionalisierung durch Akademisierung

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–– Welche Auswirkungen haben vielfältige Naturerfahrungen auf die Entwicklung von Kindern? –– Welche Phantasien und Assoziationen haben Kinder zu den unterschiedlichsten Themen? –– Welche Träume und Zukunftsvisionen haben Kinder? –– Welche Auswirkungen haben vielfältige sinnliche Beschäftigungen auf die Handlungs- und Urteilsfähigkeit von Kindern? Die skizzierten Fragen und Herausforderungen an frühpädagogische Forschung machen deutlich, dass sich das inhaltliche Spektrum sowohl auf Denkwege und Lernvoraussetzungen von Kindern sowie Rahmenbedingungen von Bildung erstreckt als auch auf Evaluationen, bei denen die Wirkung und die Effekte von Maßnahmen oder Konzepten im Mittelpunkt stehen. Da es sich in jedem Falle um komplexe Sachverhalte handelt, die sich in ihrer Vollständigkeit wahrscheinlich nicht abbilden lassen, müssen klare Regeln festgelegt werden, welche Ausschnitte der Realität auf welche Weise untersucht werden sollen und wie eine möglichst große Verlässlichkeit und Situationsunabhängigkeit abgesichert werden kann. »Ein anderer Weg der ›zuverlässigen‹ Erfassung von komplexer sozialer Realität wäre derjenige, der eher ›offenen‹, qualitativen oder rekonstruktiven Verfahren. Hier entscheidet nicht der/die ForscherIn vorab, welche Variablen vernachlässigt werden können, sondern die Akteure im Feld ›entscheiden‹, was in Bezug auf eine Fragestellung ›relevant‹ ist, erzählt und gezeigt werden soll« (Fröhlich-Gildhoff/Netwig-Gesemann/Haderlein 2008, 23). In diesem Zusammenhang sei auf die von Fröhlich-Gildhoff/Netwig-Gesemann/Haderlein entwickelten Qualitätskriterien und Standards (2008, 25 ff.) verwiesen, an denen sich Forschungsvorhaben in den Sozialwissenschaften und speziell in der Frühpädagogik zu orientieren haben.

3.3 Professionalisierung durch Akademisierung Im Jahr 2010 bestand mit 71,7 Prozent der größte Teil des pädagogischen Fachpersonals in Kindergärten in Deutschland aus Erzieherinnen und Erziehern, die an Fachschulen oder Fachakademien für Sozialpädagogik ausgebildet wurden. 14,4 Prozent des Personals stellten an Berufsfachschulen ausgebildete Sozialassistentinnen/Sozialassistenten und Kinderpflegerinnen dar, während nur 3,5 Prozent eine akademische Ausbildung auf Hochschulniveau absolviert hatte (vgl. Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V., 2012, 27).

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Professionalisierung in der Elementarpädagogik

Da es zum Zusammenhang von Qualität der Kindertagesbetreuung und Qualifikation des pädagogischen Personals im deutschsprachigen Raum bislang keine aussagefähigen Ergebnisse gibt, verweist das Gutachten des Aktionsrats Bildung der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft auf Untersuchungen aus anderen Staaten. So kommt z. B. das »Effective Provision of Pre-School Education (EPPE) Project« in England, eine groß angelegte Längsschnittuntersuchung, zu dem Ergebnis: »Je höher die Qualität des Personals, insbesondere der Einrichtungsleitung, ist, desto höher ist die beobachtete Förderqualität in den Einrichtungen und desto größere Entwicklungsfortschritte machen die Kinder […] Aus dem EPPE- Projekt geht weiterhin hervor, dass Fachkräfte mit einem Universitätsabschluss Kinder eher zu nachhaltigem Denken und zu kognitiv anspruchsvollen Aktivitäten anregen als weniger qualifiziertes Personal. Besonders bedeutsam ist ein Effekt der Teamzusammensetzung: Geringer qualifizierte Betreuungskräfte profitieren in Bezug auf ihre pädagogische Arbeit, wenn sie mit qualifizierteren Kolleginnen und Kollegen zusammenarbeiten« (ebd., 28).

Vor diesem Hintergrund und darüber hinaus im Hinblick auf die Realisierbarkeit des Vorhabens kommen verschiedene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (vgl. von Ballusek 2008, Thole/Cloos 2006) zu dem Ergebnis, dass nicht für alle Fachkräfte im frühkindlichen Bereich eine hochschulische Ausbildung erforderlich ist. Die Ergebnisse des EPPE-Projekts verweisen auf fünf Bereiche, die für die entwicklungsförderliche pädagogische Arbeit im frühpädagogischen Bereich besonders bedeutsam sind: »die Qualität der verbalen Erwachsenen-Kind-Interaktion, das didaktische bzw. curriculare Fachwissen der Erzieherinnen und Erzieher, das Fachwissen über kindliche Lernprozesse, die Fähigkeit der Erwachsenen, Kinder bei Konfliktlösungen zu unterstützen, sowie Hilfen für Eltern, um die kognitive Entwicklung von Kindern zu Hause zu fördern« (Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V., 2012, 30).

Kompetenzen in diesen Bereichen werden durch wissenschaftlich fundiertes theoretisches Wissen und reflektierte Praxis unterstützt – Grundlagen, die in einem Studium wahrscheinlich gründlicher und reflektierter als in einer fachschulischen Ausbildung anzueignen sind, wenn auf eine Praxis als Übungs- und Reflexionsfeld zurückgegriffen werden kann.

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Professionalisierung durch Akademisierung

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»Damit wird die Kluft zwischen AkademikerInnen und Nicht-AkademikerInnen zwar nicht eingeebnet, aber relativiert. Dadurch, dass die Erfahrungen der PraktikerInnen und die praktischen Erfahrungen der Studierenden einem intensiven Reflexionsprozess unterworfen und immer wieder – schon im Laufe der Ausbildung – einer Konfrontation mit wissenschaftlichen Erkenntnissen (oder auch umgekehrt) ausgesetzt werden, wird eine Identitätsentwicklung zur/zum Professionellen angestoßen, die früher erst im Laufe des Berufslebens begann. Und dadurch, dass PraktikerInnen an diesen Reflexionsprozessen über den intensiven Austausch mit der Ausbildungsinstanz teilhaben können, bzw. diese Reflexionsprozesse auf der Folie der praktischen Erfahrungen von Auszubildenden/ Studierenden und Fachkräften in der Praxis geteilt und erneut der Reflexion unterzogen werden, können Prozesse der beruflichen Qualifikation stattfinden, die auch dem Anspruch an Professionalität genügen« (von Balluseck 2008, 26 f.).

Neben der Qualitätssteigerung der unmittelbaren pädagogischen Arbeit gibt Pasternack (2008, 41 f.) sechs weitere Gründe der flächendeckenden Verankerung des frühpädagogischen Studiums an Hochschulen an. Verwiesen wird auf die nur rudimentär vorhandene Forschung im Bereich der frühen Bildung und auf die Aufgabe der Hochschulen, in diesem Bereich, auch durch den Ausbau personeller Ressourcen, Aktivitäten zu etablieren, bzw. zu intensivieren. Eine hochschulische Ausbildung dürfte für aufstiegsorientierte junge Menschen attraktiver sein, während die fachschulische Ausbildung kaum Aufstiegschancen ermöglicht. Eine Akademisierung des frühpädagogischen Personals würde ein erhöhtes Ansehen der Berufsgruppe nach sich ziehen und könnte dazu beitragen, auch Männer für den Beruf zu gewinnen. Eine höhere Qualifizierung könnte den Anspruch auf eine bessere Bezahlung begründen. Da die Fluktuation im Bereich pädagogischer Berufe hoch ist, könnte die Akademisierung den Berufsverbleib erhöhen, weil die beruflich Tätigen berufliche Entwicklungschancen für wahrscheinlich halten. Die Akademisierung würde die Lücke zwischen den erheblichen Bemühungen im frühpädagogischen Bereich und der derzeitigen Ausbildungssituation des pädagogischen Fachpersonals schließen helfen. Trotz dieser unstrittigen Begründungszusammenhänge mahnt Pasternack an, die Aufmerksamkeit nicht allein den Studiengangsentwicklungen an den Hochschulen zu widmen, sondern die Professionalisierung der frühpädagogischen Ausbildung als Mehr-Ebenen-Herausforderung anzunehmen. »Wird

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Professionalisierung in der Elementarpädagogik

der Betrachtungshorizont auf alle Ausbildungssegmente geweitet, dann kann und muss über die künftigen Entwicklungen des Ausbildungsfeldes insgesamt nachgedacht werden: Berufsausbildung, Fachschule, Berufsakademie, Fachhochschule, PH und Universität sowie Weiterbildung inklusive berufsbegleitender Studiengänge. Das entspricht dem vorrangigen Anliegen aller Reformanliegen: Im Mittelpunkt steht die qualitativ hochwertige Versorgung des frühpädagogischen Berufsfeldes mit Fachpersonal« (ebd., 46).

3.4 Fazit Der Anspruch der Professionalisierung im frühpädagogischen Bereich erstreckt sich im aktuellen Diskurs sowohl auf die Ebene der unmittelbaren pädagogischen Arbeit in frühpädagogischen Einrichtungen als auch auf Fragen der Ausund Weiterbildung sowie der Forschung. Hinsichtlich der Kompetenzen, die für professionelles pädagogisches Handeln grundlegend sind, werden Professionswissen, pädagogische Orientierungen und Einstellungen, motivationale und emotionale Aspekte sowie selbstregulatorische Fähigkeiten unterschieden. Einer wissenschaftlich basierten Handlungs-, Urteils- und Reflexionskompetenz wird in diesem Zusammenhang ein besonderer Stellenwert zugewiesen. Begründet werden solche Ansprüche vor allem damit, dass die pädagogischen Akteure in der Lage sein müssen, nicht standardisierbare Situationen zu bewältigen, d. h. dass sie in konkreten situativen Kontexten über breites, reflektiertes Wissen und differenzierte Handlungsstrategien verfügen müssen, die es ihnen ermöglichen, situations- und zielgruppensicher zu agieren. Vieles spricht dafür, dass so verstandene Professionalität am besten im Zusammenspiel von Theorie und Praxis und auf unterschiedlichen Aus-, Fortund Weiterbildungsebenen erworben wird. In diesem Zusammenhang wird im wissenschaftlichen Diskurs eher nicht von einer Ablösung der traditionellen Fachschulausbildung zugunsten eines ausschließlichen fachhochschulischen oder universitären Studiums ausgegangen. Vielmehr scheint sich im Bereich der frühkindlichen Bildung ein mehrstufiges Qualifizierungssystem zu etablieren. In zahlreichen Studien und Berichten wird auf die katastrophale Forschungslage im Bereich der frühen Bildung hingewiesen. Das trifft sowohl für Forschungen zu Denkwegen und Lernvoraussetzungen von Kindern und Rahmenbedingungen kindlicher Entwicklung als auch zu Auswirkungen von Maßnahmen und Konzepten im elementarpädagogischen Bereich zu. Empirisch angelegte Skizzen,

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Fazit

Projekte und Forschungsarbeiten auf Fach- und Hochschulebene können dazu beitragen, zukünftige und bereits praktizierende pädagogische Fachkräfte für die vielfältigen Entwicklungsaufgaben in der frühen Kindheit zu sensibilisieren, Theorie und Praxis zusammenzuführen und neue Erkenntnisse im Bereich der frühen Kindheit und Bildung zu generieren.

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Zusammenfassung

Unbestritten sind die Jahre der frühen Kindheit von herausragender Bedeutung für die Entwicklung des Menschen. Hier werden die Grundlagen gelegt – sowohl im kognitiven als auch in allen anderen Entwicklungsbereichen. Dabei wird eine Vorstellung von Kindheit zugrunde gelegt, die das Kind als aktiven Ko-Konstrukteur seiner Welt, als Forschergeist begreift. Den individuell unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedürfnissen von Kindern gilt es in diesem Zusammenhang Rechnung zu tragen. Einer sensiblen entwicklungsförderlichen Bildungsbegleitung kommt daher eine besondere Bedeutung zu, was erhebliche Anforderungen an das frühpädagogische Personal stellt. Fragen der Aus-, Fort- und Weiterbildung kommt deshalb eine große Bedeutung zu. Aktuell wird davon ausgegangen, dass multiprofessionale Teams auf unterschiedlichen Qualifikationsebenen am ehesten die vielfältigen Aufgaben in Kindertageseinrichtungen bewältigen und im Sinne von lernenden Organisationen pädagogische Professionalität abbilden können. Die Akademisierung der Ausbildung des pädagogischen Fachpersonals durch die Etablierung von frühpädagogischen Studiengängen an Fachhochschulen und Universitäten wird als eine wichtige Möglichkeit angesehen, sowohl die unmittelbare pädagogische Arbeit in den Einrichtungen als auch die Reflexionsqualität des pädagogischen Personals zu verbessern. Vor dem Hintergrund bestehender Forschungsdefizite wird damit auch die Hoffnung verbunden, dass in Deutschland Forschung im elementarpädagogischen Bereich einen erheblich höheren Stellenwert bekommt. Die Forschungsaktivitäten sollten sowohl auf die Lernund Bildungsvoraussetzungen von Kindern und damit einhergehend Rahmenbedingungen kindlicher Entwicklung ausgerichtet sein, als auch pädagogische Konzepte, didaktische Theorien und methodische Arrangements einschließen. Dabei kann ein Blick in angrenzende Disziplinen und verwandte fachwissenschaftliche Bestände hilfreich sein. In diesem Buch wird neben der Zusammenschau bestehender Diskurse der Versuch unternommen, sich dem frühpädagogischen Feld aus historischer Per-

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Zusammenfassung

spektive zu nähern. Vor diesem Hintergrund werden verschiedene Ansätze der reformpädagogischen Tradition auf ihre Relevanz für den frühpädagogischen Bereich befragt. Auch wenn die meisten dieser Ansätze vor dem Hintergrund schulpädagogischer Ansprüche entwickelt wurden, können sie dennoch als Anregungen für den Bereich der frühen Kindheit dienen. Als zentrale Motive werden die Berücksichtigung der Lebenswelten und der Lernvoraussetzungen der Kinder, Verständnisse von Bildung und Lernen, die besondere Bedeutung des Spielens in der frühen Kindheit und der zentrale Stellenwert von Handlungsorientierung und ästhetischer Weltbegegnung herausgearbeitet. Ausgehend von diesen Motiven haben sich Vorstellungen von Pädagogik etabliert, die in unterschiedlichen Konzepten ihren Ausdruck finden und bislang in der frühpädagogischen Praxis mehr oder weniger ihre Umsetzung gefunden haben. Vor diesem Hintergrund werden Forschungsperspektiven vorgeschlagen, die zu einem besseren Verständnis kindlicher Bildungsprozesse und reflektierter Handlungsmuster und -strategien im frühpädagogischen Bereich beitragen können.

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Literatur

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Internetquellen www.Kita-portal-mv.de (22. 09. 2012) www.profis-in-kitas.de (10. 12. 2012) www.montessori-kindergarten-bernau.de (28. 12. 2012) www.waldorfkindergarten-hude.de (30. 12. 2012)

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