Reformation und Moderne: Pluralität – Subjektivität – Kritik. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle (Saale), März 2017 9783110569520, 9783110567663

The volume presents the records of the 2017 Schleiermacher Society on the theme “Reformation and Modernity.” They presen

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Reformation und Moderne: Pluralität – Subjektivität – Kritik. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle (Saale), März 2017
 9783110569520, 9783110567663

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Reformation und Moderne: Pluralität – Subjektivität – Kritik
Die Ausdifferenzierung von Politik und Religion seit dem Zeitalter der Reformation
Pluralität
Schleiermacher als Denker von Pluralität
Toleranz, Intoleranz und Reformgedanken in der arabischen Moderne
Gerettetes Vergehen
Religion und Religionen
Schleiermacher’s Method of Comparison
Personalismus und Pantheismus in Diltheys Religionshermeneutik
Gedanken und Wege der All-Einheit
Alttestamentlicher Monotheismus als Religion der Erhabenheit
Marheineke, Schleiermacher und das Reformationsjubiläum von 1817
Die Reformation der Revolution
Pluralität in sozialen Formen
Staat und Religion
Predigten zwischen Zweckfreiheit und edukativem Anspruch
Subjektivität
Subjekt oder Sub-jekt nach Schleiermacher
Subjektivität als Paradigma modernen (Religions‐)Denkens
Varianten protestantischen Subjektivitätsdenkens
Schleiermacher and the Luther Renaissance
Reformation als „Wiederentdeckung der Religion“
„motus in voluntate“ – Melanchthon, Schleiermacher und die Frage nach dem subjektiven Glaubensvollzug
Religion – nur emotions- oder auch kognitionsbestimmt?
Das Gefühl im Offenbarungsverhältnis
Kunst und Religion bei Schleiermacher und den Frühromantikern
Zur ethischen Relevanz der Kunstproduktion nach Schleiermacher
Ethik, Religion und Geselligkeit
The Great Rule of the Christian Life
Ethisches Prisma Familie
Schleiermachers Verständnis des Geschlechterverhältnisses im zeitgenössischen Kontext
Der Individualisierungsprozess der Moderne und der Protestantismus
Realisierung des eigenen Selbst
Das Paradigma des Physisch-Organischen bei Friedrich Schleiermacher
Kritik
Kritik als Projekt der Moderne?
Die Vernunft der Kritik
Kritik und Gestaltung
Der ewige Kampf der vielen Götter
How Critical is Schleiermacher’s Revisionist Dogmatics?
Der Begriff der Kritik bei Johann Salomo Semler
Schleiermachers Reden über die Religion (1799) und die Ästhetik (1819/25) in Beziehung zum Neuplatonismus bei Plotin (204–270)
Schleiermacher’s Modern Platonism
(Re‐)Konstruktion von Antike als (Neu‐)Konstruktion von Moderne
Schleiermacher und die Frage nach dem Original
Praktiken der Kritik bei Jacobi und Schleiermacher
Vom Pseudo-Paulus über den Sammler Lukas zum johanneischen Erlöser
Kritik und Verstehen
Kritik und Hermeneutik in der Kurzen Darstellung
Schleiermacher und die italienische Religionsphilosophie des 20. Jahrhunderts

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Reformation und Moderne

Schleiermacher-Archiv

Herausgegeben von Notger Slenczka und Andreas Arndt, Jörg Dierken, Lutz Käppel, Günter Meckenstock

Band 27

Reformation und Moderne Pluralität – Subjektivität – Kritik Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2017 Herausgegeben von Jörg Dierken, Arnulf von Scheliha und Sarah Schmidt

ISBN 978-3-11-056766-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-056952-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-056853-0 ISSN 1861-6038 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Names: Schleiermacher-Gesellschaft. Internationaler Kongress (2017 : Halle an der Saale, Germany), author. | Dierken, Jorg, editor. | Scheliha, Arnulf von, editor. | Schmidt, Sarah, 1971- editor. Title: Reformation und Moderne : Pluralitat, Subjektivitat, Kritik : Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle (Saale), Marz 2017 / edited by/herausgegeben von Jorg Dierken, Arnulf von Scheliha, Sarah Schmidt. Description: Boston : De Gruyter, 2018. | Series: Schleiermacher-Archiv, ISSN 1861-6038 ; Band/volume 27 Identifiers: LCCN 2018022109| ISBN 9783110567663 (print) | ISBN 9783110569520 (e-book (pdf)) | ISBN 9783110568530 (e-book (epub) Subjects: LCSH: Schleiermacher, Friedrich, 1768-1834--Congresses. | Reformation--Congresses. | Civilization, Modern--Congresses. Classification: LCC B3097 .S33 2017 | DDC 193--dc23 LC record available at https://lccn.loc. gov/2018022109 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Vorwort

XI

Jörg Dierken / Halle (Saale) Reformation und Moderne: Pluralität – Subjektivität – Kritik

1

Udo Di Fabio / Bonn Die Ausdifferenzierung von Politik und Religion seit dem Zeitalter der 5 Reformation

Pluralität Arnulf von Scheliha / Münster Schleiermacher als Denker von Pluralität

25

Sarhan Dhouib / Kassel Toleranz, Intoleranz und Reformgedanken in der arabischen Moderne. Eine 45 Annäherung Björn Pecina / Halle (Saale) Gerettetes Vergehen. Ethos und Kontext zweier Platonübersetzungen

59

Malte Dominik Krüger / Marburg Religion und Religionen. Bildtheoretischer Zugang und Schleiermachers 87 Erbe Eunyoung Hwang / Chicago (IL, USA) Schleiermacher’s Method of Comparison. Morphology, Typology and Evolutionary Theory 103 Constantin Plaul / Halle (Saale) Personalismus und Pantheismus in Diltheys Religionshermeneutik

129

Christian Polke / Göttingen Gedanken und Wege der All-Einheit. Schleiermachers „Gott“ zwischen Ost und 139 West

VI

Inhalt

Friedemann Barniske / Neuendettelsau Alttestamentlicher Monotheismus als Religion der Erhabenheit. Überlegungen zu Hegels Sicht der Religionsgeschichte 157 Simon Gerber / Berlin Marheineke, Schleiermacher und das Reformationsjubiläum von 1817

169

Andreas Arndt / Berlin Die Reformation der Revolution. Schleiermachers Umdeutung der Französischen 183 Revolution Bernd Harbeck-Pingel / Freiburg i.Br. Pluralität in sozialen Formen 195 Rochus Leonhardt / Leipzig Staat und Religion. Zur theologie- und zeitgeschichtlichen Einordnung sowie zur 209 Gegenwartsrelevanz der Position Schleiermachers Viktoria Gräbe / Berlin Predigten zwischen Zweckfreiheit und edukativem Anspruch. Eine bildungshistorische Untersuchung der frühen Predigten Schleiermachers an der 237 Berliner Charité (1796 – 1802)

Subjektivität Jochen Hörisch / Mannheim Subjekt oder Sub-jekt nach Schleiermacher. Wie selbstbewusst können und dürfen Menschen sein? 253 Jörg Dierken / Halle (Saale) Subjektivität als Paradigma modernen (Religions‐)Denkens

263

Martin Ohst / Wuppertal Varianten protestantischen Subjektivitätsdenkens. Zum Glaubensbegriff bei Luther und Schleiermacher 279 Christine Helmer / Evanston (IL, USA) Schleiermacher and the Luther Renaissance

309

Peter Schüz / München Reformation als „Wiederentdeckung der Religion“

323

Inhalt

VII

Sabine Schmidtke / Heidelberg „motus in voluntate“ – Melanchthon, Schleiermacher und die Frage nach dem subjektiven Glaubensvollzug 343 Henryk Machoń / Oppeln (Polen) Religion – nur emotions- oder auch kognitionsbestimmt? Die Auffassungen von Schleiermacher, James und Otto 361 Manke Jiang / Berlin Das Gefühl im Offenbarungsverhältnis. Eine kommunikationstheoretische und sozialphilosophische Dimension des Gefühlsbegriffs in der Philosophischen Ethik 369 Schleiermachers Jan Rohls / München Kunst und Religion bei Schleiermacher und den Frühromantikern Holden Kelm / Berlin Zur ethischen Relevanz der Kunstproduktion nach Schleiermacher

383

409

Emanuela Giacca / Rom (Italien) Ethik, Religion und Geselligkeit. Subjektivität im Blick auf die Entwicklung von 419 Schleiermachers ethischem Denken Matthew Ryan Robinson / Bonn The Great Rule of the Christian Life. Schleiermacher’s Redemption of Hospitality 431 Christian Rebert / Halle (Saale) Ethisches Prisma Familie. Von der Vielfalt der Orientierungsleistungen einer 447 Sozialform Elisabeth Hartlieb / Marburg Schleiermachers Verständnis des Geschlechterverhältnisses im zeitgenössischen Kontext 461 Folkart Wittekind / Essen Der Individualisierungsprozess der Moderne und der Protestantismus. Theologie479 und kulturgeschichtliche Überlegungen Martin Fritz / Gießen Realisierung des eigenen Selbst. Schleiermachers Ethik der Individualität und ihre 505 Rezeption bei Lotze, Dilthey und Herrmann

VIII

Inhalt

Anne-Maren Richter / Hamburg Das Paradigma des Physisch-Organischen bei Friedrich Schleiermacher. Stichproben vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Ausdifferenzierung im Begriff organisierter Wesen der Natur und Kultur auf der Basis einer „Technick der Urteilskraft“ 529

Kritik Sarah Schmidt / Berlin Kritik als Projekt der Moderne? Zur Reichweite und Aktualität der Schleiermacherschen Kritikkonzeption mit einem Blick auf Michel Foucault

551

Georg Neugebauer / Leipzig Die Vernunft der Kritik. Anmerkungen zur Transformation kritischen Denkens um 1900 575 Christian Danz / Wien (Österreich) Kritik und Gestaltung. Das Protestantismusverständnis von Schleiermacher und 589 Tillich Michael Murrmann-Kahl / Wien (Österreich) Der ewige Kampf der vielen Götter. Erwägungen zur historistischen 605 Verunsicherung von Absolutheitsansprüchen Walt Wyman / Walla Walla (WA, USA) How Critical is Schleiermacher’s Revisionist Dogmatics? Eschatology as Test Case 627 Marianne Schröter / Halle/ Lutherstadt Wittenberg Der Begriff der Kritik bei Johann Salomo Semler

645

Melanie Obraz / Osnabrück Schleiermachers Reden über die Religion (1799) und die Ästhetik (1819/25) in 653 Beziehung zum Neuplatonismus bei Plotin (204 – 270) Julia A. Lamm / Washington (DC, USA) Schleiermacher’s Modern Platonism

675

Lutz Käppel / Kiel (Re‐)Konstruktion von Antike als (Neu‐)Konstruktion von Moderne. 699 Schleiermachers Auseinandersetzung mit Platon und Heraklit

Inhalt

Piotr de Bończa Bukowski / Krakau (Polen) Schleiermacher und die Frage nach dem Original. Zu einem philologischen und übersetzungswissenschaftlichen Problem 719 Cornelia Ortlieb / Erlangen Praktiken der Kritik bei Jacobi und Schleiermacher

733

Hermann Patsch / München Vom Pseudo-Paulus über den Sammler Lukas zum johanneischen Erlöser. Zur 749 Philologie und theologischen Exegese bei Schleiermacher André Munzinger / Kiel Kritik und Verstehen. Schleiermachers Hermeneutik im Lichte seiner Paulus771 Rezeption Florian Priesemuth / Halle (Saale) Kritik und Hermeneutik in der Kurzen Darstellung

781

Omar Brino / Chieti (Italien) Schleiermacher und die italienische Religionsphilosophie des 20. Jahrhunderts 787

IX

Vorwort Der vorliegende Band präsentiert die Akten des siebten Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft, der vom 5.–8. März 2017 in Halle (Saale) zum Thema „Reformation und Moderne. Pluralität – Subjektivität – Kritik“ stattgefunden hat. Im Jahr des 500. Jubiläums der Reformation ging es nicht nur um Schleiermacher als Denker der Transformation des reformatorischen Erbes in die Moderne mitsamt ihren vielfältigen Fortwirkungen im Gebiet des Religiösen, sondern auch um Wechselbezüge weiterer Bereiche des sozio-kulturellen Lebens zwischen Geselligkeitsformen, Politik, Kunst und Philosophie. Dies wurde bei dem Kongress unter den drei Leitbegriffen diskutiert, die als Schlüsselkonzepte der Moderne die Kongresstage strukturiert haben. Die Kongressbeiträge bleiben auch in diesem Band den thematischen Leitbegriffen zugeordnet. Den Beiträgerinnen und Beiträgern sei herzlich dafür gedankt, dass sie ihre Texte für die Publikation zur Verfügung gestellt und finalisiert haben. Drei Kongressbeiträge haben zu unserem großen Bedauern den Weg zum Abdruck nicht gefunden. Die Beiträge wurden für die Publikation redaktionell bearbeitet, spezifische Eigenarten im Blick auf Zitation und Nachweise wurden jedoch unter Berücksichtigung von unterschiedlichen fach- und wissenschaftskulturellen Gewohnheiten beibehalten. Solch ein Kongress ist nicht durchführbar ohne vielfältige Unterstützung und Kooperation. Dafür möchten wir herzlich danken. Die Franckeschen Stiftungen seien dafür bedankt, dass sie ihre Räume für den Kongress zur Verfügung gestellt haben. Weitere Unterstützung für den Kongress erfolgte dankenswerterweise durch die Reformationsgeschichtliche Sozietät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Der Fritz Thyssen Stiftung danken wir vielmals, dass sie auch diesen Kongress der Schleiermacher-Gesellschaft durch einen namhaften Betrag unterstützt hat. Bei der Vorbereitung und Durchführung des Kongresses haben die Theologische Fakultät und insbesondere das Team des Lehrstuhls für Systematische Theologie/Ethik großes Engagement gezeigt, wofür allen herzlich gedankt sei. Für die Unterstützung der Drucklegung dieses Bandes gebührt cand. theol. Karl Tetzlaff unser Dank. Die MartinLuther-Universität sei für einen Druckkostenzuschuss bedankt. Schließlich bedanken sich die Herausgeber bei den Verantwortlichen des Schleiermacher Archivs: Den Herausgebern für die Aufnahme dieses Kongressbandes in die Reihe und dem Verlag de Gruyter für die Betreuung dieser Publikation. Halle, Münster und Berlin im März 2018 Jörg Dierken / Arnulf von Scheliha / Sarah Schmidt

https://doi.org/10.1515/9783110569520-001

Jörg Dierken / Halle (Saale)

Reformation und Moderne: Pluralität – Subjektivität – Kritik Eröffnung Das Thema unseres Kongresses steht in Verbindung mit dem Reformationsjubiläum. Schleiermachers Bedeutung für die Transformation des reformatorischen Erbes in die Moderne ist kaum zu unterschätzen. Er ist eine Orientierungsgestalt ersten Ranges. Daher konnte er als „Kant der Theologie“¹, wenn nicht gar „Kirchenvater“² der theologischen Moderne bezeichnet werden. Er wusste sich einerseits in der Traditionslinie des Protestantismus verankert und hatte ein klares Bewusstsein von deren Anfängen in der Reformation. Andererseits sah er das Erfordernis einer grundlegenden Umgestaltung des protestantischen Denkens und Lebens in der Moderne. Dabei sind die gravierenden Um- und Aufbrüche mit zu bedenken, die sich im Gefolge von konfessioneller Pluralisierung, der Etablierung einer tendenziell säkularen politischen Ordnung diesseits kirchlicher Legitimierung und den vielfältigen Impulsen des aufklärerischen Denkens ergaben. Das Gewicht der damit verbundenen Umformungen des reformatorischen Erbes wird etwa in Ernst Troeltschs Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus erahnbar. Die Kulturgeschichte der Moderne ist – auch weltweit – auf vielfältige Weise von dem aus der Reformation hervorgegangenen Protestantismus mitgeprägt. „Protestantismus“ meint dabei weit mehr als die Bezeichnung einer einzelnen, über die „Protestation“ definierten religiösen Konfession. Er geht nicht darin auf, seine eigene Identität aus der Abgrenzung zu gewinnen und sich im Gegenüber zu der mit ihm entstehenden katholischen Konfession zu bestimmen. Vielmehr beschreibt der Reflexionsbegriff des Protestantismus eine neue Form des Christlichen, die neben anderen steht. Schleiermacher erachtete sie als eigene und legitime Gestalt im sich tendenziell pluralisierenden christlichen Spektrum. Damit unterlief er die Alternative, die Reformation bloß als ursprungsbezogenes Korrektiv gegenüber kirchlichen Missständen oder ganz als häretische Spaltung der Kirche zu verstehen. „Protestantismus“ ist einerseits ein Modus des Christentums, der Glauben, Herz und Gewissen der Einzelnen fokussiert, andererseits steht „Protestantismus“ für ein Konzept religiös orientierter Kultur, nach dem sich der Glaube als Verantwortung in den Sozialverhältnissen der Welt, insbesondere in Familie,Wirtschaft und Politik, bewähren soll. Damit wird deren Eigendynamik gegenüber der Religion gewürdigt – und zwar durch die Religion selbst. Exemplarisch verdichtet sich eine solche Anerkennung der Eigendy Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers, Bd. II, hg.v. Martin Redeker, Berlin 1966, 535.  Christian Lülmann, Schleiermacher, der Kirchenvater des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1907. https://doi.org/10.1515/9783110569520-002

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Jörg Dierken / Halle (Saale)

namik des weltlichen sozialen Lebens in der Grundunterscheidung von Religion und Politik. Obwohl sie mit der biblischen Unterscheidung von Gott und Kaiser christliches Gemeingut ist, gilt ihr mit der reformatorischen Zwei-Reiche-Lehre ein besonderer Akzent. In der Moderne stellt sich die Aufgabe, vom alten Obrigkeitskonzept des Gottesgnadentums auf Volkssouveränität, Gewaltenteilung und Legitimierung von unten umzustellen – mitsamt der Berücksichtigung der gesellschaftlichen Pluralität. Die Pluralisierung des Christlichen ging zunächst mit erbitterten, blutigen Kämpfen zwischen den Konfessionen einher. Erst durch konfliktreiche Transformationen und gedankliche Paradigmenwechsel wurde ein tolerantes, für die Vielfalt des Anderen offenes Verhältnis ermöglicht. Und der innerchristliche Umgang mit Pluralität stellt immer noch eine ökumenische Herausforderung dar. Gegenwärtig ergeben sich darüber hinaus besondere Konsequenzen im Blick auf die Pluralität verschiedener Religionen. Sie lassen sich christlicherseits nicht mehr einfach als religiones falsae auf Distanz bringen oder in eine im Christentum gipfelnde Religionsgeschichte des Fortschritts eingliedern, sondern müssen in ihrem religiösen Eigensinn gerade auch von christlich-religiöser Seite aus anerkannt werden. Dazu ist ein gedanklich überzeugendes Verständnis von Pluralität erforderlich, das der Differenz von Religionen und ihren Kulturen ebenso wie deren inneren Profilen Rechnung trägt. Es ist einerseits im Rückblick auf die Pluralisierungsschübe im Gefolge der Reformation, andererseits im Ausblick auf die Gestaltungsaufgaben der Gegenwart mit ihrem enormen Zuwachs an religiös-kultureller Vielfalt zu erörtern. Gegenläufige Erwartungen nach einer Vereindeutigung und Vereinfachung der unübersichtlichen Welt sowie deren fundamentalistische Hintergründe müssen in diesen – durchaus streitbaren – Religionsdiskurs einbezogen werden. Dabei erwächst solchen Konzepten, die aus und mit Religion die innerweltliche Lebensführung und das Verständnis der gesellschaftlichen Regeln und Institutionen über Weltanschauungs- und Religionsgrenzen hinweg gestalten wollen, besonderes Gewicht. In diesem Zusammenhang kommt der Thematik des Subjektiven eine entscheidende Bedeutung zu. Reformatorisch ist sie mit dem Autoritätskonflikt zwischen dem eher institutionell wirksamen Papsttum und dem eher individuell im Glauben anzueignenden Gotteswort qua Schrift und Predigt exponiert worden. In der Sattelzeit der Moderne wurde Subjektivität sodann auf prinzipielle Weise durchdacht. Schleiermacher knüpfte an den reformatorischen Fokus auf Glauben, Herz und Gewissen an und schlug zugleich einen Bogen zum Subjektivitätsdenken der klassischen Moderne. Er kann als eigenständiger Vertreter der an Kant anschließenden „Wende zum Subjekt“ gelten. Danach bildet das Selbstverhältnis zum einen die Bedingung allen Wissens und Handelns, zum anderen steht es aber niemals für sich, sondern befindet sich immer schon in kommunikativer Interaktion mit Gesellschaft und Kirche, Wissenschaft und Kultur. Dabei geht Subjektivität nicht in fraglosem Einverständnis auf, wie bereits der reformatorische Widerspruch zeigt. Es gilt, verschiedene Erwartungen und Ansprüche zu unterscheiden und im Blick auf mögliche Geltung zu prüfen. Ein Grundzug des Protestantischen ist daher, in Aufnahme reformatorischer Grundimpulse das Individuum zu Urteilsfähigkeit und begründeter Kritik zu befähigen. Deren

Reformation und Moderne: Pluralität – Subjektivität – Kritik

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Ort ist nicht nur auf die Institutionen religiöser Kommunikation in den Medien von Wort und Glaube bezogen, sondern erstreckt sich auch auf gesellschaftliche Ordnungsmuster, kulturelle Werte und geistige Positionen. Deren Interferenzen erfordern die Fähigkeit zur Reflexivität und kritischen Urteilskraft: damit Selbst- und Sozialverhältnisse in produktive Wechselwirkung gelangen, damit Innerlichkeit und Ausdruckshandeln einander befruchten und damit kulturelle Symbole und gesellschaftliche Institutionen durch konstruktive Reibungen neue Entwicklungen ermöglichen. Das ist unter den Bedingungen der Moderne keineswegs selbstverständlich. Zunehmend ausdifferenzierte soziale Systeme können sich im Befolgen bloß interner Rationalität erschöpfen, das Subjekt kann im Gegeneinander von an es herandrängenden Kräften, die ihm fremd bleiben, zerrieben werden und sich gar mit seinem kulturellen „Ende“ als Resultat gesellschaftlich-geschichtlicher Evolution konfrontiert sehen. Die Umstellung auf das Prinzip Subjektivität erlaubte es Schleiermacher, die Überlieferungsbestände der christlichen Dogmatik und Ethik in Verbindung mit prinzipientheoretischen und sozialphilosophischen Fragen zu reformulieren. Sie machen auch vor der Autorität von Überlieferungen nicht Halt. Das maßgebliche, an die Aufklärung anknüpfende Stichwort in diesem Zusammenhang lautet Kritik. Sie betrifft Urteils- und Unterscheidungsvermögen gegenüber Geltungsansprüchen und Normen, insbesondere wenn sie sich nicht mit subjektiver Freiheit und Autonomie zusammenbringen lassen. Methodisch ist in diesem Zusammenhang das Verfahren der Historisierung zentral. Hierzu gehört insbesondere die gerade in der Aufklärungstheologie entwickelte und erprobte Methode der historischen Kritik. Sie erlaubt Distanzierung gegenüber vernunftfernen Ansprüchen und Forderungen, eröffnet aber auch einen auf verstehende Aneignung in neuen Kontexten zielenden Zugang zu kulturellen Überlieferungen und Narrativen, der zugleich deren Genese Rechnung trägt. Ein besonderes Aufgabenfeld in diesem Zusammenhang ist die Philologie. Schleiermacher hat ihr hohe Aufmerksamkeit gewidmet – und zwar sowohl im Blick auf die biblische Überlieferung als auch hinsichtlich der maßgeblichen Traditionsbestände der paganen Antike. Kritik ist aber kein Selbstzweck: Gerade die auf die Genese der kulturellen Überlieferung abstellende Historisierung zeigt, dass die Aufgabe der Gestaltung von Gegenwart und Zukunft damit noch nicht erledigt ist. Eine Transformation des reformatorischen Erbes in die Moderne kommt um Geltungsfragen nicht herum. Damit rücken vom Stichwort „Kritik“ her die beiden vorgenannten „Pluralität“ und „Subjektivität“ wieder in den Fokus. Die drei Leitbegriffe „Pluralität – Subjektivität – Kritik“, die die folgenden Kongresstage strukturieren, bilden mithin Wechselzusammenhänge. Sie betreffen ebenso die jeweiligen thematischen Felder wie auch die disziplinären Zugriffe. Ein Kongress wie dieser bietet die Chance, solche Wechselzusammenhänge diskursiv zu erkunden.

Udo Di Fabio / Bonn

Die Ausdifferenzierung von Politik und Religion seit dem Zeitalter der Reformation¹ 1 Baustein der Neuzeit: Reformation als Ausdifferenzierung der Religion Das Reich Gottes ist kein politischer Begriff und daher auch kein politischer Maßstab, von dem her unmittelbar politische Praxis aufgebaut werden kann und Kritik an politischer Verwirklichung zu üben ist. Die Herbeiführung des Reiches Gottes ist kein politischer Prozess, und wo sie dennoch als solcher gefasst wird, wird beides verfälscht: die Politik und die Theologie. Dann entstehen falsche Messianismen, die ihrem Wesen nach und vom inneren Anspruch des Messianischen her, der hier auf die falsche Ebene tritt, zu Totalitarismen werden.²

Hätte zu Beginn der Neuzeit ein Papst wie dieser im Sprachschatz der Zeit formuliert³, hätte Luther gewiss einen Gesprächspartner für die Reformation der alten Kirche gefunden. Doch die Päpste der Renaissance wollten alles, das Alte und das Neue und sie hatten bei aller „Modernität“ in Machtfragen und Gelddingen die Zeichen der Zeit nicht verstanden. Die Reformation reagiert auf die humanistische Herausforderung, die alte Autoritäten nutzt, um zu einem neuen Zeitalter zu gelangen⁴; sie reagiert ebenso auf die sich durchsetzende Ausdifferenzierung der großen Funktionssysteme von Wirtschaft, Politik, Recht, Kunst und Wissenschaft. Mit der Ausdifferenzierung der Religion seit Luther erhält die Neuzeit angesichts der längst brüchigen Einheitsprätention der Kirche aber ihre letzte Beglaubigung. Die Reformation steht nach der lange gärenden, städtischen oberitalienischen und flandrischen Handels- und Bürgerkultur des Renaissance-Humanismus und der Entwicklung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern⁵, der Erschließung des überseeischen Fernhandels⁶ für eine Veränderung des

 Überarbeitete Fassung des Beitrags: Udo Di Fabio, „Die Dialektik der Neuzeit im Geist der Reformation“, in: Die Weltwirkung der Reformation. Wie der Protestantismus unsere Welt verändert hat, hg.v. Udo Di Fabio / Johannes Schilling, München 2017, 146 – 169.  Joseph Ratzinger, Eschatologie – Tod und ewiges Leben, Regensburg 61990, 58.  Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, Berlin 1838, 34.  Die Humanisten brachten ihr aevum novum mit dem Glanz der alten Quellen als Renaissance gegen das Mittelalter in Stellung (Vgl. Luise Schorn-Schütte, Geschichte Europas in der Frühen Neuzeit. Studienhandbuch 1500 – 1789, Paderborn 22013, 15).  1454 druckt Johannes Gutenberg eine 42-zeilige Bibel im Hochdruckverfahren mit beweglichen Metalllettern. Es gab bis 1500 in Europa bereits 250 Druckorte mit 30.000 verschiedenen Wiegendrucken und einer Gesamtauflage von neun Millionen (!) Exemplaren (Vgl. Thomas Maissen, Geschichte der Frühen Neuzeit, München 2013, 22). https://doi.org/10.1515/9783110569520-003

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Udo Di Fabio / Bonn

gesellschaftlichen Weltbildes, der Selbstwahrnehmung⁷, der Bildungsmöglichkeiten und der Kommunikationsformen.⁸ „Für die europäische Geschichte schon des Mittelalters war die Entfaltung eines städtischen Bürgertums, das sich in Ratsverfassung und städtischem Rechtsbezirk kommunale Freiheiten erkämpft hatte, wie es sie außerhalb Europas nicht gab, charakteristisch.“⁹ In der italienischen Pentarchie des 15. Jahrhunderts mit maßgeblicher Dynamik der oberitalienischen Handelsstädte wie Florenz oder Genua entsteht bei Machiavelli mit dem Begriff stato auch eine institutionelle Vorstellung politischer Herrschaft, die Territorium, Bevölkerung und Herrschaft konzeptionell zusammendenkt. Gleichzeitig entstehen aus dem Konflikt- und Bündnissystem der wichtigen Städte und Territorien einschließlich des Kirchenstaates mit ihren Kriegen und Verhandlungen eine Erfahrung und Praxis der Gleichgewichtspolitik. Die Neuzeit beendet das Mittelalter, indem sie auf den Schultern der Scholastik und, obzwar noch lange im ständischen System verhaftet, im Sog der marktwirtschaftlichen geldbasierten Entwicklung und des Renaissancehumanismus an die philosophischen Klassiker des Altertums und die Schätze des Römischen Rechts anknüpft.¹⁰ Das Mittelalter verstand sich als eine universale christliche Ordnung. Die alte Ordnung der Hierarchien und Stände war gewiss niemals perfekt, keine einheitliche societas perfecta. Sie war auch nicht als Menschenwerk geplant und gestaltet, sondern im heilsgeschichtlich gedeuteten Prozess als göttlicher Wille erkannt und vorgefunden.¹¹ Das Mittelalter war im Dualismus von Papst und Kaiser mit von den  Die systematische Erforschung von Seewegen nach Indien, die durch die Ausbreitung der Osmanen im östlichen Mittelmeer blockiert wurde, begann ab 1418, als die Portugiesen es unternahmen, längs der afrikanischen Westküste sich nach Süden vorzuarbeiteten, wobei sie 1488 das Kap der Guten Hoffnung umrundeten und 1497 mit Vasco da Gama tatsächlich Indien erreichten (Vgl. Maissen 2013, 17 [Anm. 5]).  Brunelleschis Entdeckung der Zentralperspektive um 1420 und die Verabschiedung der mittelalterlichen Proportionierung dürfte künstlerisch ein wesentlicher Ausdruck des Epochenumbruchs sein, siehe dazu: Joscijka Gabriele Abels, Erkenntnis der Bilder. Die Perspektive in der Kunst der Renaissance, Frankfurt / New York 1985; Hubert Damisch, Der Ursprung der Perspektive, Zürich 2010; Davor Löffler [2007], „Über die Auswirkungen der Entdeckung der Zentralperspektive“, http://userpage.fu-berlin.de/ ~miles/zp.htm, zuletzt aufgerufen am 20.02.17; Mareike Schuppe, Die Entdeckung der Perspektive in der Renaissance und die Auswirkungen auf Kunst und Architektur, München 2007.  Bemerkenswert die wiedergefundene Analyse von Ferdinand Tönnies, Geist der Neuzeit, Teil II, III und IV, Gesamtausgabe (TG), Bd. 22, hg.v. Bärbel Carstens / Uwe Carstens, Berlin / Boston 2016, 3 – 206.  Schorn-Schütte 2013, 68 (Anm. 4).  Wobei die frühe Neuzeit und im Grunde genommen noch bis zur französischen Revolution von dem ständischen Gedanken des Mittelalters weiter beherrscht wurde, diese Struktur aber durch die zunehmende Individualisierung und Rationalisierung der Gesellschaft sowie entscheidend durch die zunehmende Ausdifferenzierung sozialer Funktionssysteme von innen her zerstört wurde.  An diesem Punkt verteidigt Luther auch die mittelalterliche Ordnung gegen die humanistische Vernunft, jedenfalls wenn sie nicht bereit ist, sich Gottes willen zu unterstellen: „Dann was weltlich Ordnung und Vornunft weiset, ist gar weit unter dem gottlichen Gesetz. Ja, die Schrift vorbeut, man soll nit folgen der Vornunft, (5. Mos. 12,8): Du sollt nicht thun, was dich recht dunk; dann die Vornunft allzeit wider Gottis Gesetze strebet, wie (1. Mos. 6,5): Alle Gedanken und Sinn des menschlichen Herzen

Die Ausdifferenzierung von Politik und Religion seit dem Zeitalter der Reformation

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Päpsten beanspruchten zwei vollkommenen Gemeinschaften (Kirche und Imperium) und in der Hartnäckigkeit territorialer Fürstengewalt oder im Eigensinn der Handelsstädte mehr Idee denn Wirklichkeit. Im Reich der politisch durchaus wirksamen Ideen sah sich der Papst als Haupt von Kirche und Welt, als Universalherrscher. Er bestand darauf, Quelle aller legitimen Ordnung zu sein. Martin Luther brach damit. In seinem Traktat Von dem Papsttum zu Rom (1520) verstärkte er seine früheren Thesen zum Ablasshandel seit 1517 und bestritt die Herrschaft des Papstes über die Kirche und die Welt, indem er die Unterscheidung des Reiches Christi und der Herrschaft Gottes in der diesseitigen Welt formulierte. Es ist prima vista eine religiöse Zweitcodierung des vorangehenden Programms der Renaissance: Aus dem „Zurück zu den unverfälschten antiken Quellen“ wird ein „Zurück zum Ursprung der Evangelien“.¹² Die Reformation ist ein Epiphänomen des Renaissancehumanismus, nicht unähnlich der Entwicklung der (vor allem französischen) Juristen, die durch den mos italicus hindurch zu den unverfälschten Quellen der Digesten vorstoßen wollten.¹³ Aber die Reformation des Glaubens ist nicht nur Folge eines kulturellen und wirtschaftlich-politischen Umbruchs, sondern sie revolutioniert sogleich die neuzeitliche Revolution, selbst dort wo sie zurück will zu mittelalterlichen Gewissheiten.

2 Amivalenzen der Neuzeit: Offenheit und Begrenzung, Partikularität und Universalität Betrachtet man das Geschehen des europäischen 16. und 17. Jahrhunderts, so sieht man auch eine neue Zeit der gewalttätigen Umbrüche, tiefster Unsicherheit und der Glaubenskriege. Die neue Epoche ist in sich zerrissen, gefährlich, selbst dort, wo sie als Rationalismus und dann später mit der Aufklärung den Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit führen will. Die Neuzeit kann nur angemessen verstehen, wer sie nicht eindimensional, nicht linear erzählt, sondern sie als einen Prozess konstruktiver Ambivalenzen und Widersprüche, kurz als dialektisch versteht.

stehn zu dem ärgisten allezeit. Darumb mit Vornunft sich unterstehen Gottis Ordnung zu grunden oder schutzen, sie sei dann mit Glauben vorhin gegrundet und erleuchtet, so ists, als wenn ich die helle Sonne mit einer finstern Lantern wollt erleuchten, und einen Fels auf ein Rohr grunden.“ (Martin Luther [1520], Von dem Papsthum zu Rom, wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig, WA 6, Weimar 1888, 285 – 324, hier 291, 3 – 11).  Über die umstrittenen Ursprünge dieser reformatorischen Wendung: Heinz Schilling, Martin Luther. Rebell einer Zeit des Umbruchs, München 32014, 147– 148.  Friedrich Ebel / Georg Thielmann, Rechtsgeschichte. Von der römischen Antike bis zur Neuzeit, Heidelberg 32003, 189.

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Die offene Welt entstand mit der Wiederentdeckung der großen geistigen Quellen der Antike¹⁴, einem weltumspannenden Fernhandel, der kopernikanischen Astronomie, einem universell angelegten Menschenbild und mit einem Glauben, der Schöpfungsgeschichte, Sinnbestimmung und Transzendenz mit einer egalitären Liebesbotschaft verband. Zugleich aber kann die neue Welt nur entstehen, wenn sie alte Ordnungen verwandelt und sich mit neuen Ordnungen von der Umwelt abgrenzt. Schon die Genealogie der Neuzeit beginnt in den befestigten Städten, die der feudalen Landherrschaft entgehen, ihr zum Teil sogar Bedingungen diktieren konnten: Stadtluft macht frei, war ein Rechtssatz des Mittelalters, der hinter den Stadtmauern die Freiheit gewährleistete. Ohne die territoriale Partikularisierung der Fürstenherrschaft im Heiligen Römischen Reich – also einen Vorgang innerhalb der segmentären Ausdifferenzierung politischer Herrschaft – hätte Luther seine Rebellion gegen den Papst wohl schwerlich überlebt. Es waren die neuen Landesgrenzen, die ihm Schutz auf der Wartburg gewährten. Auch geistesgeschichtlich steht die Reformation für die Dialektik der Neuzeit.¹⁵ Aus einer universell begründeten Einsicht in die Freiheit des Glaubens und des Gewissens und dem im Ansatz egalitären Kampf gegen die organisierte klerikale Herrschaft der alten Kirche entsteht nicht nur die Möglichkeit,Wege zu Gott und sich selbst zu finden, sondern es bricht auch eine neue ungeahnte Kontingenz auf. Es beginnt ein Kampf auf Leben und Tod um die richtige Deutung der Schrift, es entstehen neue Lebenswelten, die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Alltag mit einer bestimmten Glaubenslehre verbinden, es entstehen aber auch aus neuem Gemeinschaftserlebnis heraus scharfe Grenzziehungen, Ausgrenzungen, Intoleranz, Inquisition und Gewalt. Die in Europa sich verbreitende Revolution der Reformation prägt verschiedene nationalkulturelle Formen. Auch hier bei Luther: Universalität der christlichen Botschaft und Schöpfer einer Nationalkultur. Das reformatorische Bekenntnis strahlt aus über den Atlantik nach Nordamerika und setzt eine weltweite Dynamik in Gang, ohne die die Werteordnung unserer Verfassung schlechterdings nicht zu verstehen wäre. Die mittelalterliche Fiktion einer universellen christlichen Glaubensgemeinschaft dagegen formulierte ein harmonisch integratives Weltbild, mit einem Deutungsmonopol der Römischen Kirche, obwohl die Wirklichkeit häufig anders aussah. Die Neuzeit dagegen startet unter Berufung auf universelle Werte, seien es die des Eras-

 Renaissance als epochales Geschehen der erwachenden Neuzeit gedacht seit Petrarca, siehe Peter Burke, Die europäische Renaissance. Zentren und Peripherien, München 1998, 35 – 69.  Begriff und Denkmethode der Dialektik sind zwar mit dem historischen Materialismus des 19. Jahrhunderts und mit seinen Gesetzmäßigkeitsannahmen und seiner Geschichtsteleologie politisch erheblich verformt (siehe etwa Wolfgang Janke, Historische Dialektik. Destruktion dialektischer Grundformen von Kant bis Marx, Berlin / New York 1977, 11.22– 23), aber in der ursprünglichen hegelschen Weise ist sie gleichwohl ein wertvoller methodischer Erinnerungsposten gegen allzu einfache, kausal-evolutionäre Linearitätsmodelle.

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mus von Rotterdam oder die von Martin Luther, in eine Phase der harten Abgrenzung und des Zerfalls von Einheit und lässt doch neue partikulare Ordnungen entstehen.

3 Gemeinsame Ausdifferenzierung: Die Ko-Evolution von Religion und Politik Der Renaissancehumanismus des 15. Jahrhunderts ist insofern nicht zufällig die ideengeschichtlich markante Geburtsstunde der Neuzeit, denn er verschiebt die Gewichte (wieder) hin zum einzelnen Menschen, zur Rechtspersönlichkeit, zur Entfaltungsfreiheit, zur dignitas humana. ¹⁶ Wer hier wiederum nach Ursprüngen oder Kräften der Koevolution von Welt und Geist sucht, wird sie reichlich in der zunächst noch dominanten Sphäre der Religion finden. Das hohe und späte Mittelalter war bereits voll von solchen Suchbewegungen, wie etwa in jenem großen Aufbruch des 12. Jahrhunderts¹⁷, in dem ein Flügel der franziskanischen Bewegung gegen die hierarchische Anstaltskirche mit ihrer Macht und Pracht predigte und ein nach mönchischem Ideal verfasstes Reich der Armut und Demut verlangte.¹⁸ Folgt man der beeindruckenden Hypothese von Harold J. Berman über die päpstliche Revolution und den Einfluss der Bewegung von Cluny¹⁹, dann hat gerade die Amtskirche für die Entwicklung moderner Staatlichkeit Pate gestanden, also einem rational auftretenden Herrschaftsverständnis. Diese Amtskirche hatte ihrerseits die spätrömischen Staatsstrukturen nicht vergessen, war sie doch einmal Staatskirche gewesen, wie sie es in der östlichen Reichshälfte bis an die Tore der Neuzeit blieb. Die römische Amtskirche wollte gerade mit ihren aus der Spätantike stammenden Strukturen universell sein, geriet aber in Konflikt mit einem neuen universellen Individualismus, der den Partikularismus der neuen Staatsbildungen förderte.²⁰ Im römisch-christlichen Europa war es immer wieder die Nähe zum Diesseits und zur Sphäre der Macht, die innerchristliche Opposition praktisch das gesamte Mittelalter hindurch hervorbrachte und einen ständigen Kampf gegen Ketzer und Häretiker auf die Tagesordnung setzte. Die aufblühenden Städte, allen voran in Flandern Gent und Brügge, in Oberitalien Florenz, Venedig oder Genua – sie entwickelten wirt-

 Zur entsprechenden Programmschrift Pico della Mirandolas: Udo Di Fabio, Schwankender Westen. Wie sich ein Gesellschaftsmodell neu erfinden muss, München 2015, 75 – 78.  Es handelte sich auch um eine erste Renaissance, also um eine Vorrenaissance, Hans Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, Heidelberg 42004, 268 – 275.  Hattenhauer 2004, 342 (Anm. 17).  Harold J. Berman, Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt a.M. 1995.  Territoriale und partikulare Persistenz standen nicht nur dem Papst, sondern auch seinem verbündeten kaiserlichen Gegenspieler im Wege, der gegen Ende des 15. Jahrhunderts seine neuzeitlichen Ideen eines steuerbasierten Reichsregiments nicht durchsetzen konnte, Ebel / Thielmann, 2003, 210 (Anm. 13).

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schaftlichen und bürgerschaftlichen Eigensinn, neue Perspektiven und Rechtsverständnisse, Vertrags- und Kaufmannsrecht. Ihre Verkehrsbedürfnisse in Handel, Produktion und Distribution verdrängten allmählich das alte, formgebundene Gewohnheitsrecht als Landrecht, während das städtische Recht kaufmännisches Standes- und Verkehrsrecht wurde.²¹ Im 12. Jahrhundert entstand in Oberitalien der verkehrsfähige Wechsel²² und darf als Beleg für die beginnende Ausdifferenzierung des Finanzsystems gelten. Ein Jahrhundert später drängen die Fürsten auf einen von ihnen garantierten Landfrieden (Friedrich II., 1235) und mit der Vorstellung von legitimer Territorialherrschaft auf vorneuzeitliche Staatsbildung. Die Personalität der Herrschafts- und Lehensbeziehungen wurde durch die allmählich hervortretende Vorstellung von der Rechtspersönlichkeit des die natürlichen Personen überdauernden Staates abgelöst. Das christliche Mittelalter sah im ius divinum, im Gottesrecht, einen Maßstab für das weltliche Recht, so wie wir heute die Verfassung an das einfache Gesetz anlegen. Mit dem bei Thomas von Aquin entfalteten Gedanken des Naturrechts als ein in der Schöpfung geoffenbartes Recht entstand Raum auch für weltliche Adaption und Maßstabsbildung. Die Reformation ereignete sich nach einer im 14. Jahrhundert einsetzenden längeren Etappe der Verwirrung, der Katastrophen, Kriege, Verwahrlosungen und Hysterien. Die Kirche als Einheitsgarant und transzendente Identitätsfolie des Mittelalters stand im Mittelpunkt von Konzilen, politischen Pressionen vor allem der aufstrebenden französischen Könige und sittlichen Entgleisungen der Amtskirche unter den Renaissancepäpsten. Die Einheit schwand. Das von den Päpsten beanspruchte Rechtsetzungsmonopol wurde sowohl innerkirchlich als auch von den aufstrebenden Fürsten bestritten.²³ Martin Luther ging es 1517 mit seinen Thesen vor allem um ein theologisches Ärgernis, den Ablasshandel, der aus Sicht der römischen Kirche ihr gutes Recht war. Die Ablassfrage entwickelte sich aber rasch zu der Grundsatzfrage nach dem Verhältnis von Kirche und Staat: Der Reformator, der ohne den frühneuzeitlichen Staat und die Gunst einiger Fürsten im Reich keine Chance gegen die kirchliche Zentralmacht gehabt hätte, musste eine Antwort auf die Stellung der Obrigkeit und der von ihr repräsentierten Rechtsordnung geben, also zum Verhältnis zweier Funktionssphären (Religion und Politik) Stellung nehmen. Man kann gewiss Martin Luther als eine geschichtliche Gestalt zwischen den Zeitaltern betrachten, waren seine Reformation und Restaurationsideen und sein Blick auf die Kirche in vielerlei Hinsicht mittelalterlich geprägt. Aber seine zentrale Lehre von den zwei Regimenten lässt aus

 Hattenhauer 2004, 245 – 250 (Anm. 17).  Hattenhauer 2004, 246 (Anm. 17).  Mit der Entdeckung Amerikas 1492 entbrannte bald ein symptomatischer Streit über die Frage ob Indianer Menschen, freie Menschen oder Sklaven seien, es ging um die Rechtsfähigkeit und um die Eigenschaft, Eigentümer zu sein. (Vgl. Hattenhauer 2004, 355 [Anm. 17]).

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der Vorstellungswelt des mittelalterlichen Investiturstreits die neuzeitliche Trennung von Staat und Kirche werden. Luther wollte gerade keinen Beitrag zur weltlichen Rechtsentwicklung leisten und hat es objektiv dennoch getan. In Gottes Reich sollten Gnade und Barmherzigkeit herrschen, während im weltlichen Reich Strafe und Ernst regieren. Der Papst sollte sich demgemäß aus seinem Weltherrschaftsanspruch verabschieden. Das war für die frühneuzeitlichen Fürsten, die nach Souveränität strebten, ein Vorschlag, den sie gerne aufgegriffen, der aber letztlich zu einer neuen territorialen Fusion von Staat und Kirche tendierte und damit die neuzeitliche Staatenwelt besiegelte. Dass Luther den Respekt vor der Obrigkeit predigte, während er den Ungehorsam gegenüber Rom erklärte, ist nur aus diesem Ansatz seiner „Zwei-Reiche-Lehre“ zu erklären. Hier beförderte jemand aus theologischer Inbrunst die Ausdifferenzierung von Religion und Staat ebenso wie ihre neuzeitliche strukturelle Kopplung, die seitdem in erhöhtem Maße eben nur als Koevolution zu verstehen ist. Zugleich wird das weltliche Recht der Obrigkeit überantwortet und damit staatliche Rechtspositivierung gefördert. Die Selbstbeschränkung auf Religion und das Insistieren auf Gewissensfreiheit hat eine weltlich-rechtliche Konsequenz: Es macht Schule für die Entstehung individueller Gewissens- und Glaubensfreiheit, die als Menschenrecht auch der Obrigkeit entgegengehalten werden kann, nachdem dies Luther gegenüber dem Papst vorgeführt hat. Es ist Ausdruck der bei aller Kraft zur Differenz auch typisch neuzeitlichdialektischen Verschleifung ostentativer Trennungsgebote: Die Trennung von diesseitiger Welt und jenseitiger Glaubenssphäre in den landesherrlich geprägten (der Fürst als „Notbischof“) evangelischen Kirchen, die den Lebensalltag nicht nur rechtlich, sondern auch religiös in die Verfügungsmacht bekamen. Gleichzeitig hatten die neuen Territorialherren sich aber nicht nur mit den Unwägbarkeiten der Eigendynamik des Glaubens hin zur Glaubensfreiheit, sondern auch mit einer neuartigen Organisationsform von Kirche zu arrangieren. Denn der als Reformator auftretende Kulturrevolutionär Luther hatte der christlich überlieferten, mit dem Römischen Recht der Gleichheit der Freien korrespondierenden Gleichheitsprämisse im Kampf gegen das magische Priestertum der alten Kirche eine theologisch dramatische Wendung gegeben, wenn er das „Allgemeine Priestertum des Glaubens“ betonte.²⁴ Doch die egalitäre Konsequenz reichte noch nicht bis zu einer Toleranz gegenüber den Ungläubigen und Andersgläubigen. Seine späte, für unsere Augen unsagbare Judenschrift wird auch von einem Reformator verfasst, der seine Lehre vielleicht schon altersängstlich gegen die Gefahr von Identitätsverlusten verteidigt wissen wollte. Die Toleranz entsteht erst aus der Erfahrung der Zerstörung. Und sie bleibt immer fragil. Denn die Dialektik von abgrenzbarer Identitätsbildung einer Glaubensgemeinschaft und der Achtung eines jeden Anderen als Geschöpf Gottes mit der exakt selben dignitas treibt die Entwicklung, droht aber auch immer wieder die gesamte Neuzeit zu zerreißen, wenn man den überhitzten Nationalismus des 19. und

 Thomas Kaufmann, „Europa und die Reformation“, FAZ 248 (26. Oktober 2015), 6.

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20. Jahrhunderts als kultur- und demokratiebildendes Gemeinschaftsprinzip einerseits und als Motor der Zivilisationszerstörung andererseits betrachtet.

4 Mittelalterliche Universalität und partikulare Modernität Luther zielte auf keine neue Gesellschaftsordnung. Es ging ihm allein um den Glauben. Gerade diese Selbstbezüglichkeit markiert die Ausdifferenzierung der Religion in der Architektur der neuzeitlichen Gesellschaft. Er wollte aus unverfälschten Quellen den wahren Glauben wieder frei legen. Der erklärte Reformator wurde, meist wider Willen, dann doch zum Exponenten der neuen Zeit. Denn mit seiner Theologie des unmittelbar zugänglichen Ursprungs in den Evangelien wurde nicht nur an den spätantiken Kirchenvater Augustinus wieder angeschlossen, sondern dadurch auch eine typisch moderne Trennung von sozialen Ordnungswelten gefördert. Die Religion sollte aus der engen Gemengelage einer weithin als korrupt empfundenen Papstkirche – gekennzeichnet durch die Verquickung mit politischer Herrschaft und der Verflechtung mit der Wirtschaft (Kirche als Grundherrschaft/Ablasshandel) – gelöst und zudem prinzipiell als Glaubensereignis und Wahrheitsweg in die Hand eines jeden einzelnen Gläubigen gelegt werden. Der Skandal der Kirchenfürsten in Rom, die Geld für ihre Renaissancepracht einnehmen wollten und politische Macht erstrebten, lag eben auch in der Übernahme der Rezepte eines Machiavelli. Mit Fähigkeit zur dialektischen Ironie könnte man so formulieren: Die Päpste verteidigten ihre mittelalterliche Universalposition und waren zugleich viel zu „modern“, das musste Kritik provozieren. Luther wollte alte universelle Glaubensgewissheit und mehr Glaubensinbrunst, aber zugleich beschleunigte das Modernisierungsprozesse, Partikularisierung und auf längere Sicht auch den Vorgang der Säkularisierung. Die Sphäre politischer Herrschaft wurde in der Entstehung des neuzeitlichen Staates von derartigen Spannungslagen auf der Zeitachse deutlich befreit. Der neue Staat war, anders als die imperial-universalistische Idee des römischen Kaisertums, ein neuzeitliches Produkt und er wies auch konzeptionell klar „nach vorn“ hin zur operativen Selbstbezüglichkeit.²⁵ Machiavelli hatte den Fürsten moralische und sittliche Indifferenz nahegelegt, gesunde Rücksichtslosigkeit auf dem Weg zur Macht. Der frühneuzeitliche Politiker sollte nicht zu fromm sein und nicht zu häufig in Fürstenspiegel schauen, sondern zweckrational Macht erwerben und sichern: also Fesseln abstreifen, Politik als besondere Sphäre der Rationalität selbständig werden lassen. Die Renaissance-Päpste dagegen wollten alles, sie wollten die mittelalterliche Uni-

 Luhmann spricht vom „Weltparadox der Gleichzeitigkeit von Stabilität und Wandel“. Mit dem „Status“-Versprechen des Staates wird ein beispielloser Wandlungsprozess befördert. (Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000, 199).

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versalität der Christenheit und sie wollten das neuzeitliche Leben in seiner neuen Expressivität, in einem Ambiente der Entgrenzung von Erwerbs- und Machtstreben. Hinter dem Konflikt im Umbruch erscheint das Organisationsmodell der modernen Gesellschaft, dessen Durchsetzung Luther indirekt, nicht intentional, enorm gefördert hat, dessen Produkt er aber auch bereits war. Denn wäre das allmählich in die alte Ordnung einsickernde Modell der Individualisierung, Kommerzialisierung und dem wachsenden Selbstbewusstsein politischer Fürstenherrschaft zuvor nicht stärker auf den Plan getreten, so hätte Luther vermutlich ein ähnliches Schicksal gedroht wie Jan Hus. Der endete 1415 in Konstanz auf dem Scheiterhaufen und hatte in der Sache ganz ähnliche Beweggründe und zog auch entsprechende Konsequenzen wie ein Jahrhundert später Martin Luther. Der europäische Umbruch vor einem halben Jahrtausend fand seinen Ausgangspunkt seit dem Renaissancehumanismus im neuen Bild des Menschen, der sich über Kunst und Wissenschaft unterrichtet, sich bildet, seinen eigenen Zugang zur Erkenntnis der Welt findet und einem Bildhauer gleich sich und die Welt entwirft. Dieser von der Last der Erbsünde befreite Mensch steht in einer Weltordnung, die plastisch ist. Die Wirklichkeit einer starren ständischen Ordnung vergeht noch lange nicht, hält sich bis ins 20. Jahrhundert. Aber der kalt kalkulierende, der unternehmerische Gedanke, nach eigenen Plänen sich einen Teil der Welt zu verschaffen und ihn zu eigenem Nutzen zu gestalten, ist etwas ganz anderes als die Demut, sich in eine göttlich bestimmte Sozialordnung einzufügen. Der neuzeitliche Mensch handelt schöpferisch innerhalb von Teilordnungen, wie Wirtschaft, Religion, Politik, die zur Form zwingen, die aber Inhalte offen lassen. Der Einzelne als Rechtsperson muss zwar im Recht oder der Wirtschaft bestimmten Bedingungen gehorchen, aber sie beherrschen ihn nicht unmittelbar durch enge soziale Einbindung, sondern erlauben prinzipiell eine selbstbestimmte Lebensführung: materielle Freiheit durch kluge Anpassung an die Formensprache von Recht, Wirtschaft, Politik und Kunst. Die Neuzeit beginnt mit einem Prozess der Verselbständigung von sozialen Handlungsräumen, die heute als Funktionssysteme²⁶ bezeichnet werden. Die augustinische „Zwei-Reiche-Lehre“ (mit der Unterscheidung von civitas terrena und civitas Dei), wurde von Luther wirkmächtig wiederbelebt. Er befördert durch seine Auflehnung gegen die beanspruchte Zentralität Roms und sein evangelisches Wirken die Unterscheidung von Politik und Religion als eigenständige Sphären – ungeachtet der rasch erkennbaren Tatsache eines landesherrlichen Kirchenregiments evangelischer Fürsten, das eigentlich erst 1918 endet. Die neue evangelische Religion und der neue selbstbewusste Territorialstaat: Sie sind gewiss nicht unverbunden, aber doch in wesentlicher Hinsicht getrennt. Diese Trennung ist grundlegend für ein westliches Gesellschaftsmodell, das heute weltweit ungebrochen Menschen fasziniert; andere aber auch zur Rebellion bringt, die nach

 Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984, 30 – 91.

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einer religiös und politisch zugleich verbürgten Einheit streben, was das westliche Denken letztlich als totalitär begreifen muss.

5 Schlüssel der Neuzeit: Freiheit durch Selbstbegrenzung Man kann das Neue an der Neuzeit und die grundlegenden Werte der gleichzugänglichen Freiheit nur verstehen, wenn man den evolutionären „Trick“, die scheinbare Paradoxie hinreichend würdigt, mit deren Hilfe Freiheit im modernen Sinne überhaupt möglich wird.²⁷ Zur Freiheit gelangt alles nur durch mehr Bindung. Die Biologie weiß: Ohne Fähigkeit zur Restriktion keine Evolution und keine Extension. Mit guten Gründen darf man die mit der Reformation eingeleitete Revolte gegen die Verweltlichung Roms und den Ruf nach einer Reform im Sinne kirchlicher Erneuerung auch als Protest gegen die Entgrenzung der Kirchenfürsten verstehen. „In einem Kernpunkt waren sich alle einig: Reform bedeutet die verbindliche Normierung von sozialem Verhalten, die Festschreibung einer vertieften Bildung und eines sittlich einwandfreien Auftretens in der Öffentlichkeit.“²⁸ Die Neuzeit verlangte klare Restriktionen, damit der Mensch mit mehr Bildung, mehr autonomer Sittlichkeit und der Ausprägung des Gewissens die Voraussetzungen gewinnt, um eine Gesellschaft – auf individueller Freiheit gegründet – möglich zu machen. In der Sprache der Systemtheorie Niklas Luhmanns könnte man sagen, dass die Neuzeit zu einer „Trennung von Religion, Recht und Politik und der Auflösung des klassischen Naturrechts im Gefolge der Reformation“²⁹ führt. Es gibt keine gemeinsame zentrale Legitimation für alles, sondern jedes funktionelle System legitimiert sich letztlich selbst. Derartige Selbstreferenz kann Willkür nicht ausschließen, also die Kompatibilität der Funktionssysteme mit elementaren Interessen einer Gesellschaft und ihrer Mitglieder. Deshalb bedarf es der Bindungen beispielsweise der Politik an das Recht im Verfassungsstaat.³⁰ Bei genauerer Betrachtung ist das aber nur

 Zur Denkweise der funktionalistischen Entwicklungstheorie Niklas Luhmanns vgl. sein posthum erschienenes Werk Politische Soziologie, Frankfurt a.M. 2010, hg.v. André Kieserling, 52– 80.  Volker Reinhardt, Luther der Ketzer. Rom und die Reformation, München 2016, 52.  Vgl. Gerd Roellecke, „Beobachtung der Verfassungstheorie“, in: Verfassungstheorie, hg.v. Otto Depenheuer / Christoph Grabenwarter, Tübingen 2010, 63.  Vgl. Roellecke 2010, 57 (Anm. 29). Für Niklas Luhmann ist die Bindung an das Recht bereits an die Geburt des neuzeitlichen Territorialstaates gebunden, der (hier ganz im Sinne Bermanns) auf Rechtsformen des kanonischen Rechts und des römischen Rechts zurückgreifen konnte: „Aber das gab ihm zugleich eine Rechtsform, die ihn, wie man heute sagen würde, als politischen Text dekonstruiert. Denn Herrschaft konnte sich auch in der Form des Staates nur als rechtmäßige Herrschaft zur Geltung bringen, der Fürst musste rex, nicht tyrannus sein. Die Staatsformel hieß folglich pax et iustitia. Die erforderliche Eigenmacht der Politik musste in eine vorhandene Rechtsordnung hinein gearbeitet werden […].“ (Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000, 199 – 200).

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eine der vielen Bindungskonstellationen eines Funktionssystems. In Wirklichkeit binden sich die Funktionssysteme wechselseitig untereinander, das heißt Politik bindet sich nicht nur an das Recht, sondern auch an die Wirtschaft, an die Summe individueller Willensäußerungen in Wahlen und Abstimmungen, an die öffentliche Meinung oder an moralische Zumutungen. Jedes Funktionssystem der neuzeitlichwestlichen Gesellschaft muss in seiner Selbstbezüglichkeit das jeweils andere System als eine spezifische Umwelt berücksichtigen, ohne sich ihr zu unterwerfen oder durch seine Dominanzansprüche deren Autonomie zu zerstören. Eine Verfassung, die einerseits den Vorrang des staatlichen Gesetzes und seine Verbindlichkeit der außerstaatlichen Gesellschaft zumutet, macht mit Grundrechten andererseits, die die Wissenschaftsfreiheit, die Religionsfreiheit, das Privateigentum oder die Gewerbe- und Berufsfreiheit garantieren, den funktionalen Zusammenhang des gegenseitigen Respekts autonomer Sphären auch rechtlich sichtbar. Denn auch umgekehrt gilt: Die Bindung an politische Entscheidungen ist eine Zumutung für andere Systeme, allein wenn man daran denkt, was Richtern zugemutet wird durch neue, komplizierte Gesetze, die keine Rücksicht nehmen auf bereits vorhandene dogmatische Systeme und akkumulierte Fallerfahrung. Außerhalb von unerträglichen Zuständen der gesellschaftlichen Anomie, der eklatanten Verzerrung sozialer Ordnungen und Gewalt helfen politische Entscheidungen selten, und wenn, dann als Erleichterungen zuvor beschlossener Belastungen. Für einen Handwerksmeister bedeutet der politische Betrieb vor allem bürokratische Lasten wie Brandschutzvorschriften, Regeln der Arbeitsverhältnisse, Sozialversicherungsrecht, Gleichheitssicherungen, Gesetze zur ökologischen Gebäudesanierung, öffentliche Ausschreibungsbedingungen. Auch die ausdifferenzierte, also zur Freiheit gelangte Religion steht täglich vor politischen „Zumutungen“ bis hinein in ihre innere Organisation. Die (politische) öffentliche Meinung lastet mit ihrer Erwartung, Kirchen seien irgendwie politisch-moralische Anstalten, auf der Chance zur Frömmigkeit oder die Speicher der kulturellen Identität einer politischen Gemeinschaft.³¹ Dass dann umgekehrt politisch anverwandelte Kirchen die Politik mit säkular übersetzter Moral in Schwierigkeiten bringen können, macht nur die Wechselbezüglichkeit struktureller Systembindungen bei hoher Selbstbezüglichkeit deutlich.

6 Reformation und die Selbstbegrenzung als Bedingung der Freiheit Die Fähigkeit zur Selbstbegrenzung, zur Achtung des Anderen, zum Erkennen der Pflicht, das Gewissen, die begrenzten und begrenzenden Institutionen: All das ist

 „Die Identifikation von christlichen Abendland und Grundgesetz droht, aus dem Christentum eine mausgraue Zivilreligion zu machen.“ (Christoph Möllers, „Religiöse Freiheit als Gefahr?“, VVDStRL 68 (2009), 47.

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Bedingung der (individuellen) Freiheit und so kann Luther in seiner konkreten Widersprüchlichkeit widerspruchsfrei verstanden werden. Mit der engen, aus dem Evangelium schöpfenden Bindung an das Gotteswort erhält die neue (und etwas später auch die alte) Kirche die praktische Möglichkeit, sich abzuschirmen von fremden Befehlen (aus Rom, aber auch von Fürsten stammend). Am Anfang war das Wort und die Bindung an das Wort macht frei. „Der Vorrang der Heiligen Schrift und des evangelisch bestimmten göttlichen Rechts vor allem nichtigen menschlichen Handeln ließ für sie das entgegenstehende ius humanum der römischen Kirchengewalt in sich zusammenfallen […].“³² Mit dem Leitspruch „sola scriptura“ kämpft Luther aber nicht nur mit der „einen unanfechtbaren Autorität“ gegen die vielen Autoritäten³³, er verlangt auch eine enge Bindung an die autoritative Quelle, damit Religion frei und wahrhaftig in der Suche nach dem wahren Glauben sein kann. Diese typisch neuzeitliche Dialektik, durch selbstbestimmte Begrenzung (Selbstbindung) sich aus alten Bindungen zu lösen, wirkt überall, nicht nur auf der personalen Ebene, sondern auch im gesellschaftlichen Institutionensystem, das auf die Bedürfnisse operationell geschlossener Ausdifferenzierung funktionell zugeschnitten wird.Wissenschaftler erlangen neue Freiheit, wenn sie sich stärker methodisch und im Experiment empirisch binden. Wenn nur das intersubjektiv empirisch Überprüfbare als wahrheitsfähig gilt, bedeutet das eine enorme Verengung der Möglichkeit wissenschaftlicher Wahrheitsdiskurse und zugleich eine strukturelle Kopplung an technische und wirtschaftliche Verwertung von Wissen, weil eine solche Naturwissenschaft auf praktische Fähigkeiten angewiesen ist und diese Fähigkeiten durch Einsichten in Naturgesetze wiederum entscheidend verbessert. Mit der Selbstdisziplinierung der Wissenschaft versetzt Francis Bacon³⁴ im Jahrhundert nach Luther der mittelalterlichen Scholastik den Todesstoß. Das Recht gewinnt völlig neue Spielräume durch methodenstrenge Bindung, erst an die Digesten, dann an das staatliche Gesetz. Die Wirtschaft befreit sich, wenn sie sich offen auf die kühle Rendite konzentriert und sich an die harten Gesetze des Wettbewerbs bindet. Ein Unternehmer, der mit Hilfe der politisch Mächtigen den Wettbewerb ausschaltet, setzt seine Freiheit aufs Spiel. Systemtheoretisch betrachtet, ist die Restriktion eine Voraussetzung für die operative Schließung und dann für Wachstum als abgrenzbare eigendynamische Ordnung. Durch die Bindung an eine autoritative Quelle wird deutlich, was das christliche Glaubensverständnis ist und dieses damit vor glaubensfremden Irritationen aus der politischen, ökonomischen, wissenschaftlichen oder alltagskulturellen Sphäre abgeschirmt. Es ist gerade im Blick auf das religiöse System zugleich ein Grund für eine Radikalisierung wie Dezentralisierung des Glaubens und damit eine Ge-

 Martin Heckel, Martin Luthers Reformation und das Recht, Tübingen 2016, 141.  Volker Leppin, Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln, München 2016, 94– 95.  Die von Bacon vertretene „new scientific method“ gründet auf Beobachtung und Experiment als Bedingung für induktiv gewonnene wahrheitsfähige Aussagen: der Mensch als Werkzeug und Interpret einer objektiv gegebenen Natur (vgl. Francis Bacon, The New Organon, ed. by Lisa Jardine / Michael Silverthorne, Cambridge a.o. 2000, 33).

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fährdung der alten Stabilität der Gesellschaft. Der reformatorische Ansatz befindet sich mit seinem partikularisierten, letztlich individualisierten Wahrheits- und Totalitätsanspruch in einer paradoxen Ausgangs- und Wirkungssituation im Hinblick auf kirchliche und gesellschaftliche Ordnung, eine Spannung, die mit der neuen Nähe zur neuzeitlich-staatlichen Herrschaftsordnung ausgeglichen werden soll. Allerdings darf die neuzeitliche Gesellschaft nicht als bloßes Zusammenspiel von sich verselbstständigenden Funktionssystemen verstanden werden. Der handelnde Mensch benötigt Ordnungen mittlerer Reichweite, die ihm selbst und seinen Handlungsoperationen Sinn und auch emotionale Geborgenheit verleihen. Rein funktionell sollen solche Ordnungen und Institutionen die sozialen Interaktionen vereinfachen und sie zugleich erwartungsstabil an die selbstbezüglich agierenden, ausdifferenzierten sozialen Funktionssysteme koppeln. Auch Gemeinschaften, wie Familie, Nachbarschaft, lokale Kirchengemeinde, politischer Verein oder die Nation sind Brückenorganisationen, die dem einzelnen emotionale Identität und zugleich rationale Sinnstiftung vermitteln. Das alles ruht auf der Ausbildung eines hochkulturellen wie alltagskulturellen Menschenbildes und es geht um Institutionen als konkrete, wandelbare Ordnungen³⁵, die persönliche Freiheitsentfaltung und funktionale Ausdifferenzierung zugleich ermöglichen.

7 Selbstgefährdung durch Entgrenzung und institutionelle Sorglosigkeit Im Mittelpunkt des normativen Entwurfs steht der Mensch, für den das gleiche Restriktions-Extensions-Prinzip gilt wie für die neu sich herausschälende gesellschaftliche Ordnung. Der Mensch ist „das sich selbst Gesetze gebende Bewusstsein“.³⁶ Auch ihm, dem Menschen, wird abverlangt, sich selbst zu disziplinieren, sich zu zivilisieren, zu bilden und zu binden, damit er aus dem engen Korsett der von kollektiven Ordnungen fremd bestimmten Rollenfixierungen entkommen kann. Der Mensch der Renaissance soll nach den humanistischen und ästhetischen Wegweisungen durch stete Erziehung, Bildung, Ausbildung, privates und öffentliches Handeln, als Bildhauer des eigenen Werks zu eigner Urteilskraft wachsen und tätig über sich hinauswachsen. Dieses Programm der Selbstexpansion kann nur schaffen, wer sich diszipliniert, arbeitet und bindet, wer bereit ist, sich auf andere und auf institutionelle Formalitäten einzustellen.  Der sozialwissenschaftliche Hinweis auf normative Ordnungen, die in der gesellschaftlichen Wirklichkeit verankert sind, hat nichts zu tun mit dem von Carl Schmitt propagierten „konkreten Ordnungsdenken“ der Rechtswissenschaft, das letztlich die Autonomie des Rechts infrage stellt. Siehe Carl Schmitt, Über drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Berlin 21993. Hier geht es umgekehrt um eine Reflexionsebene, die das postmodern werdende Recht vor Autonomieverlusten bewahren soll.  Luhmann 1984, 349 (Anm. 26).

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Es liegt auf der Hand, dass dies soziologisch gesehen, eine außerordentlich voraussetzungsvolle Leistung ist und dass sie den Einstellungen der Beteiligten sowie dem täglichen Verhalten eine beträchtliche Disziplin abverlangt. Eine solche Ordnung versteht sich in keinem Sinne von selbst. Sie ist so anforderungsreich, dass sie auch für die Beteiligten kaum jene Selbstverständlichkeit wird gewinnen können, die ältere, einfachere politische Institutionen hierarchischer Art besaßen.³⁷

Könnte es sein, dass unsere Zeit diese entscheidende Wechselbeziehung von Freiheit und Bindung sowie die Angewiesenheit des Einzelnen auf eine freiheitsgerechte Ordnung droht zu vergessen? Wäre dem so, wo gefährdete sich das westliche Gesellschaftmodell samt seinem humanistisch-rationalen Wertefundament? Wer die sozialevolutionäre Sonde in das Zeitalter der Reformation zurückreichen lässt, stößt jedenfalls auf die Wirren einer schweren Geburt und einer turbulenten Kindheit. Doch das Prinzip personaler Freiheit bleibt auch im Erwachsenenalter ein schwieriger Charakter. Es ist gerade der scheinbar selbsttragende Erfolg funktionaler Ausdifferenzierung und personaler Versachlichung, der zu Problemen führt. Die Funktionssysteme müssen immer von kräftigen Institutionen und mentalen Motivationen getragen werden. Alle sozialen Artefakte sind in the long run auf selbstgesteuerte Personen angewiesen. Die soziokulturellen Grundlagen der freien Gesellschaft sind außerordentlich voraussetzungsreich, weil sie das Ineinandergreifen dreier verschiedener sozialer Ebenen verlangen. Funktionssysteme müssen als das abstrakteste Formprinzip sich selbstreferentiell entfalten können, auf der mittleren Ebene müssen normativ abgesicherte Institutionen eine Brücke schlagen zwischen Funktionssystemen und individuellem Verhalten, so dass Leistungsfähigkeit und Stabilität der sozialen Welt gewährleistet sind. Am Beispiel von Failed States ³⁸ und der schwierigen Aufgabe der Rekonstruktion verloren gegangener Staatlichkeit können wir das Ausmaß des Problems ermessen. Wenn Menschen sich nicht in hinreichend großer Zahl aus ihren dominanten Kollektiven wie Großfamilie oder Clan herauslösen, wenn ein hohes Maß an Irrationalismus herrscht und kein Vertrauen in eine korruptionsfreie Rechtsordnung, wenn politische Herrschaft ohne hinreichende Trennung von Wirtschaft besteht, werden Wahlentscheidungen und öffentliche Meinungsbildung niemals das erforderliche Niveau einer demokratischen Gesellschaft erlangen. In Failed States  Luhmann 2010, 147 (Anm. 27).  Diese Begriffsbildung hat sich (neben solchen Formulierungen wie zerfallende oder fragile Staaten) eingebürgert für einen nominell noch existierenden Staatsverband, der keine vollständige Kontrolle mehr über sein Staatsgebiet oder seine Bevölkerung ausüben kann oder dessen Regierung das Gewaltmonopol nicht mehr in Händen hält, bzw. die Möglichkeit einheitlicher politischer Willensbildung verliert. Funktionell betrachtet, ist ein Staat grundlegend bedroht, wenn es ihm nicht mehr gelingt, die Sicherheit der Bürger zu garantieren und eine Friedensordnung zu gewährleisten. Siehe näher: Robin Geiß, „Failed States“. Die normative Erfassung gescheiterter Staaten, Berlin 2005; Hinrich Schröder, Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit im Zusammenhang mit failed und failing States, BadenBaend 2007; Martin Leschke, Ökonomik der Entwicklung. Eine Einführung aus institutionenökonomischer Sicht, Bayreuth 2015.

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kann politische Macht nicht funktional ausdifferenziert existieren, weil bestimmte Institutionen wie Privatautonomie und Rechtsstaat ebenso notleidend sind wie Bildungsstandard oder Motivationslage, Orientierung und Weltbild der Bürger. Dann aber entdifferenziert, entgrenzt sich politische Macht, wird eins mit Familien- und Clanstrukturen, verliert das Gewaltmonopol, muss oligarchisch zum Wirtschafts- und Sozialakteur werden. Es lohnt sich die Frage zu stellen, ob das, was wir in Ländern wie Somalia oder Simbabwe erleben, nicht eine institutionelle Krankheit ist, die sich über Venezuela, Russland bis hinein in westliche Kernstaaten ausbreitet. Ist die Entgrenzung der Geldpolitik in Japan oder der EU nicht ein erstes Krisensymptom? Finden wir nicht heute viele Beispiele, dass der Sinn für notwendige Grenzen, keineswegs nur für Staatsgrenzen, von den großen Institutionen bis hinein in das Selbstverständnis der Menschen notleidend wird? Geht womöglich der Sinn für die Dialektik von Weltoffenheit und Universalität auf der einen Seite und Verwurzelung und Partikularität auf der anderen Seite verloren?

8 Die Politik der Neuzeit: zwischen Rationalität und Leidenschaft Gesellschaft, Religion und Politik machten sich vor einem halben Jahrtausend auf einen schwierigen, auf einen dornigen Weg. Das politische Herrschaftssystem damals wurde allmählich frei, indem es sich beschränkte, auf das förmliche Amt, auf den neuen rationalen Staat, auf die Förmlichkeit des Rechts. Die Politik seit Machiavelli löst sich schrittweise von alten Familienbindungen, auch von Leidenschaften und religiöser Glut. Wo das nicht gelingt, kommt es wie in religiösen Bürgerkriegen zur Verstärkung der Erschütterungen. Politische Bindung liegt in der Selbstbegrenzung, indem der Herrscher Freiheiten gewährt und Toleranz übt. Fürsten, die sich nicht mehr in engere Kirchenangelegenheiten als Grundfragen des Glaubens einmischen, die nicht selbst als Unternehmer auftreten, werden stärker und nicht schwächer. Die Idee der Bindung politischer Herrschaft an naturrechtlich abgeleitete Menschenrechte und die staatlichen Grundrechte, schließlich dann auch die Bindung an demokratische Wahlen: Das alles mag alte Ordnungen erschüttert haben, aber es hat politische Herrschaft insgesamt stärker, wirksamer gemacht. Die Begrenzung der Politik durch das Recht oder durch die öffentliche Meinung kann als Bedingung gelesen werden, damit Politik umso „ungestörter“ ihr Mandat zur Gesetzgebung und Machtausübung wahrnehmen kann. Wenn sich heute in Athen Politiker treffen, die die Grenzen des Rechts im Austausch gegen mehr Wachstum lockern wollen, nehmen sie für die nach ihnen Kommenden die Schwächung politischer Gestaltungskraft in Kauf. Jede fähige Politikerin, jeder gestaltungswillige Politiker wird hin und wieder leise stöhnen über die Fallstricke der Gewaltenteilung, des Föderalismus, der Europäischen Integration, ächzen unter Gesetzesbindung und dem Richterrecht. Aber die neuen Autokraten Europas machen heute schon die unaus-

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Udo Di Fabio / Bonn

weichliche Erfahrung, dass die Konzentration der Macht und die Ausschaltung von Opposition, freier Meinung und unabhängigen Gerichten sie nicht wirklich mächtiger werden lassen. Bald schon holen sie Wirtschaftsprobleme, internationale Konflikte, heimliche Proteste, verborgener Hass, Störungen im Getriebe des Zweckrationalen, die Konsequenzen von Fehlentscheidungen ein. Der Diktator schläft schlecht, weil er nicht seine Abwahl, sondern den Anschlag und den Aufstand zu fürchten hat. Führt die Marktwirtschaft sich im globalen Turbo- und Finanzkapitalismus selbst ins Absurde? Die vormoderne Sehnsucht nach warmherziger Gemeinschaft gegen die kalte Rechenhaftigkeit des Geldes³⁹, die auch bei Luther zu finden ist, lässt heute ein weiteres Mal nach irgendwie korporativen Formen des Wirtschaftens suchen oder zieht den Staat in ein Geschäft, das nicht seines ist. Der Zustand der Demokratien sieht noch beunruhigender aus als der der Wirtschaft. Die vernetzte Politik der Eliten auch in Europa verliert den Konsens über die institutionellen Grundlagen der modernen Gesellschaft.

9 Religion und Politik als Orte gesellschaftlicher Einheitssehnsucht Die mit der Reformation beförderte Ausdifferenzierung von Religion als selbstständiges Funktionssystem der neuzeitlichen Gesellschaft gelingt nicht nur über den Beschränkungsmechanismus eines sola scriptura, sondern auch im Ringen um die Spannung zwischen öffentlichen Bekenntnis und privater Glaubensfreiheit. Dabei zeigt schon die Biografie Luthers die unauflösbare, im Kern paradoxe, Spannungslage, zwischen Glaubensgewissheit und Bekehrungseifer auf der einen Seite und der Beteuerung für ein individuelles, von persönlicher Glaubensüberzeugung und dem eigenen Gewissen getragenes Religionsverständnis zu stehen. Beide Sphären, die Politik ebenso wie die Religion, streben auf ihre Weise nach Einheit der Gesellschaft, die unter neuzeitlichen Bedingungen aus konstruktiven Gründen nicht erreichbar ist. In diesem Streben geraten sie immer wieder in Konflikt, halten sich aber auch wechselseitig in Schach, zugunsten individueller Freiheit und der Autonomie anderer Funktionssysteme. Die Neutralität des Staates in religiösen Angelegenheiten und der Rechtsgehorsam von Religionsgemeinschaften bedingen einander und dürfen so als ein konstruktives Spannungsverhältnis verstanden werden. Die Einheitssehnsucht der funktional differenzierten Gesellschaft – gleich von welchem System aus sie bedient wird – bleibt eine Konstante, sorgt für Unruhe und für

 Von entwickelter Geldwirtschaft kann man sprechen, wenn jedenfalls im dominierenden Handelsverkehr Banken,Wechsel und Giroverkehr wie in Oberitalien ab dem 12. Jahrhundert entstehen und der Wirtschaftsverkehr bis in den Lebensalltag hinein von Subsistenz und direktem Gütertausch auf Geldverkehr umgestellt wird. Zur Entwicklung gerade durch die mittelalterliche Stadtbildung in ganz Europa: Matthias Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft, Tübingen 22016, 21– 22.

Die Ausdifferenzierung von Politik und Religion seit dem Zeitalter der Reformation

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eine stete Selbstgefährdung des westlichen Gesellschaftsmodells. Die Religion ist hier dauerhaft mit der Gefahr konfrontiert, in den öffentlichen Meinungsraum des politischen Systems hinein mit Glaubensgewissheiten Positionen politischer Moral einzunehmen und damit ein Stück des Herrschaftssystems zu werden, während umgekehrt der politische Diskurs immer wieder in der Beteuerung von Wertegrundlagen, Geschichtspolitik, Leitkultur, Diversität oder Solidarität auch religiöse Konnotationen wie Transzendenz, Erlösung, Reue und Buße, Nächstenliebe oder Glaubensgemeinschaft entweder zulässt oder sucht. In der Gegenwart sorgt Populismus von rechts und links für Unruhe und antiwestliche Tendenzen werden gerade auch in der Suche nach Einheit in einer als zerklüftet wahrgenommenen Gesellschaft wieder stärker. Die Grenzen zwischen Funktionssystemen werden überschritten. Politik tritt unvermittelt mit unverrückbaren Bekenntnissen auf die Bühne, für manche Gläubige sehen sich umgekehrt Kirchen allzu stark als politische Akteure. Wissenschaftler wollen politisch oder wirtschaftlich gefällig sein, dem Recht wird Anpassungsfähigkeit an Ausnahmelagen zugemutet oder schlichtes Schweigen verordnet. Es ist insofern der richtige Zeitpunkt das Jahr 1517 zum Anlass zu nehmen über „uns“ nachzudenken. Mit Luthers Thesen wurde eine alte, längst strauchelnde Welt erschüttert, aber noch nicht Freiheit, Gleichheit und Demokratie auf ein schnurgerades Gleis von Modernisierung und Aufklärung gesetzt. Der Umbruch war gewaltig und gewalttätig, auf eigentlich allen Seiten. Die Einheit von Vernunft und Glauben, die von politischer Herrschaft und rechtsstaatlicher Demokratie sind das Ergebnis eines langen und schmerzhaften Weges. Luther und Machiavelli stehen für die immer prekäre Ko-Evolution von politischer Herrschaft und religiösem Glauben. Getrennt und doch zusammengehörig in einem festen Gefüge von staatlich garantierter Toleranz und einer Bürgerfreiheit, die ihre Grenzen und Bedingungen kennt.

Pluralität

Arnulf von Scheliha / Münster

Schleiermacher als Denker von Pluralität „so habe ich überall die Vielheit der Religionen und ihre bestimmteste Verschiedenheit als etwas nothwendiges und unvermeidliches vorausgesezt“

Wenn das Werk Friedrich Schleiermachers in die Perspektive des fünfhundertsten Reformationsjubiläums gerückt wird, dann geschieht das, weil der Hallenser und Berliner Theologe wesentliche Grundeinsichten der Reformation aufgegriffen und in ein modernes Verständnis der christlichen Religion überführt hat. Hauptanknüpfungspunkt ist die radikale Subjektivierung des Glaubensverständnisses, die es ermöglicht, die christliche Grundidee kulturunabhängig zu interpretieren und vom Paradigma des christlichen Mittelalters abzulösen. So versteht Schleiermacher das Christentum nicht nur als eine modernitätskompatible Religion, sondern zugleich als Motor der Moderne und als kritische Instanz von Entwicklungen, die die Moderne ebenfalls auszeichnen.¹ Diese Trias von Subjektivität, Geschichte und Kritik tritt beim Thema Pluralität besonders hervor, weil Schleiermacher sowohl die konfessionelle Vielgestaltigkeit des Christentums als auch die Vielfalt der Religionen „im Wesen der Religion“² gegründet sieht. Pluralität ist kein über die Religion verhängtes Schicksal, auf das man sich nachträglich einzustellen hätte, sondern wohnt ihr von Haus aus inne. Sie wird durch die Reformation geschichtlich manifest und gehört zur Signatur des Christentums in einer Gesellschaft, zu deren Indizes Individualität und Freiheit gehören. Religiöse Pluralität ist Ausdruck der Kultur des Christentums. Bereits 1799 lässt Schleiermacher den Redner in seiner fünften Rede Über die Religion ausführen, dass er „die Vielheit der Religionen und ihre bestimmteste Verschiedenheit als etwas nothwendiges und unvermeidliches vorausgesezt“³ hat. Er  Vgl. dazu bereits Hans-Joachim Birkner, Schleiermachers christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, Berlin 1964, 132– 133.  Friedrich Schleiermacher [1799], Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, KGA I/2, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 189 – 326, hier 240.  Schleiermacher 1984, 238 (Anm. 2). Ab der zweiten Auflage heißt es „Vielheit der Religion“ (vgl. Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. (2.–) 4. Auflage, KGA I/12, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1995, 1– 322, 252 Z. 12.). Die veränderte Formulierung dürfte daraufhin deuten, dass Schleiermacher den in der ersten Auflage konstatierten Sachverhalt ab der zweiten Auflage als Prinzip auffasst. Das vollständige Zitat lautet in der ersten Auflage: „Wenn Ihr einen Blik auf den gegenwärtigen Zustand der Dinge werft, wo Kirchen und Religionen in ihrer Vielheit fast überall zusammentreffen, und in ihrer Absonderung unzertrennlich verbunden zu sein scheinen, wo es soviel Lehrgebäude und Glaubensbekenntniße giebt als Kirchen und religiöse Gemeinschaften: so könntet Ihr leicht verleitet werden zu glauben, daß in meinem Urtheil über die Vielheit der Kirchen zugleich auch das über die Vielheit der Religionen ausgesprochen sei; Ihr würdet aber darin meine Meinung gänzlich mißverstehen. Ich habe die Vielheit der Kirchen verdammt: aber eben indem ich aus der Natur der Sache gezeigt habe, daß hier alle Umriße sich verlieren, alle bestimmte Abtheilungen verschwinden und Alles nicht nur dem Geist und der Theilnahme, sondern auch dem wirklichen Zusammenhange nach Ein ungetheiltes Ganzes sein soll, so habe ich überall die https://doi.org/10.1515/9783110569520-004

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verabschiedet damit nicht nur das polemische Verhältnis zwischen den Konfessionskirchen, die mit Ausschließlichkeitsanspruch die doctrina sacra jeweils für sich beanspruchen, sondern auch die dogmatische Unterscheidung von religio vera und religio falsa, mit denen die nicht-christlichen Religionen abgewehrt⁴ und – was ihren Wahrheitsanspruch angeht – als Heiden, im besseren Fall als Ketzer (zwischen diesen Alternativen schwankt die christliche Deutung der Religion des Islams) eingestuft wurden. Die These von der notwendigen Vielheit der Religionen hält sich auch beim reifen Schleiermacher durch. In den späteren Auflagen hat er die entsprechenden Passagen der Reden zwar überarbeitet, aber in der Sache nicht verändert. Auch die Ausführungen in der Einleitung zu seinem dogmatischen Hauptwerk Der christliche Glaube ermäßigen diese Einsicht nicht. Es verändern sich allerdings das gedankliche Arrangement und die Kontexte, in denen Schleiermacher die Pluralität der Religionen denkt. Durch die neue Perspektivierung ergeben sich andere Akzentzuspitzungen, wie hier gezeigt werden wird. Nach dieser Einleitung wird im zweiten Teil dieses Beitrages der Beitrag der bereits häufig thematisierten Religionstheorie der Reden ⁵ zu einer Theorie der Pluralität der Religionen zusammengefasst. Im dritten Teil wird der inhaltliche Zugewinn aus der Glaubenslehre präsentiert. Im Rekurs auf die Vorlesungen zur Staatslehre soll im vierten Teil danach gefragt werden, wie Schleiermacher das Verhältnis des Staates zu einer pluralen Religionskultur denkt. Es wird geschlossen

Vielheit der Religionen und ihre bestimmteste Verschiedenheit als etwas nothwendiges und unvermeidliches vorausgesezt. Denn warum sollte die innere, wahre Kirche Eins sein? Damit Jeder anschauen und sich mittheilen laßen könnte die Religion des Andern, die er nicht als seine eigene anschauen kann, und die also gänzlich von ihr verschieden gedacht wurde.Warum sollte auch die äußere und uneigentlich sogenannte Kirche Eins sein? Damit jeder die Religion in der Gestalt aufsuchen könnte, die dem schlummernden Keim der in ihm liegt homogen ist, und dieser mußte also von einer bestimmten Art sein, weil er nur durch dieselbe bestimmte Art befruchtet und erwekt werden kann. Und mit diesen Erscheinungen der Religion konnten nicht etwa nur Ergänzungsstüke gemeint sein, die bloß numerisch und der Größe nach verschieden, wenn man sie zusammenbrächte ein gleichförmiges und dann erst vollendetes Ganze ausgemacht hätten; denn alsdann würde Jeder in seiner natürlichen Fortschreitung von selbst zu demjenigen gelangen, was des anderen ist; die Religion, die er sich mittheilen läßt würde sich in die seinige verwandeln und mit ihr Eins werden, und die Kirche, diese zu Folge der gegebnen Ansicht jedem religiösen Menschen als unentbehrlich sich darstellende Gemeinschaft mit allen Gläubigen, wäre nur eine interimistische und sich selbst durch ihre eigne Wirkung nur um so schneller wieder aufhebende Anstalt, wie ich sie doch keinesweges habe denken oder darstellen wollen. So habe ich die Mehrheit der Religionen vorausgesezt, und eben so finde ich sie im Wesen der Religion gegründet.“ (Schleiermacher 1984, 238 – 240 [Anm. 2]). Der Text der zweiten Auflage weist einige Veränderungen auf, die den gedanklichen Duktus verklaren.  Vgl. Friedrich Schleiermacher [1821/22], Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, KGA I/7,1, hg.v. Hermann Peiter, Berlin / New York 1994, §14.3., 48, Z. 20 – 24.  Vgl. jüngst Christian König, Unendlich gebildet. Schleiermachers kritischer Religionsbegriff und seine inklusivistische Religionstheologie anhand der Erstauflage der Reden, Tübingen 2016.

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mit einigen Erwägungen zur Gegenwartsbedeutung von Schleiermachers Pluralitätstheorie.

I Bekanntlich hat Schleiermacher die Religionstheorie der Reden so angelegt, dass im Allgemeinbegriff der Religion die je individuelle Religiosität bereits mitgesetzt wird. Das religiöse Gefühl entzündet sich an einer Anschauung des Universums, die ein spezifisches Verhältnis von Endlichem und Unendlichem setzt. Das in der religiösen Anschauung Gegebene ist eine bestimmte Auffassung des Universums. Am Endlichen und Individuellen erschließt sich dem religiösen Subjekt die Dimension des Unendlichen. Da sich das Universum nur in dieser Dialektik erschließt, kann, wie Markus Schröder treffend zusammenfasst, „von einer den Sinnhorizont des einzelnen Subjektes übergreifenden, objektiven Geltung des religiös Erfahrenen zumindest auf der Ebene der Religion nicht mehr sinnvoll gesprochen werden. […] Religion als Anschauung und Gefühl ist immer nur je individuell wahr oder eigentlich nicht falsch.“⁶ Religion gibt es daher nur in Vielheit und bestimmtester Verschiedenheit. Die heute noch provozierende Zuspitzung des Redners lautet: „im Unendlichen aber steht alles Endliche ungestört neben einander, alles ist Eins und alles ist wahr.“⁷ Schleiermacher gewinnt einen scharfen Begriff von religiöser Pluralität, weil in ihm die Einheit der Religion und die Differenz der Religionen mitgesetzt sind. Dabei sind die Religionen „nicht etwa nur Ergänzungsstüke“ oder „bloß numerisch und der Größe nach verschieden“⁸, sondern für sich sui-suffizient und autark. Die individuelle Anschauung des Universums hat alles, was sie braucht. Die Vielheit der religiösen Anschauungen bilden eher ein „unendliches Chaos“⁹ als eine Torte, deren Stücke teleologisch geordnet wären. Allerdings denkt Schleiermacher die Individualität der religiösen Subjekte so, dass sie miteinander in einer kommunikativen Verbindung stehen, wie er in der dritten und vierten Rede darlegt. Für das Verständnis der Religionsgeschichte ist entscheidend, dass der Drang zur Mitteilung dessen, was das Gefühl angeregt hat, dazu führt, dass sich Menschen um die von einem Religionsstifter profilierte Grundanschauung sammeln. Eine positive Religion liegt genau dann vor, wenn mehrere Individuen eine solche religiöse Grundidee zum Mittelpunkt ihrer Anschauung des Universums ma-

 Markus Schröder, „Das ‚unendliche Chaos‘ der Religion. Die Pluralität der Religionen in Schleiermachers ‚Reden‘“, in: 200 Jahre ‚Reden über die Religion‘. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft, hg. v. Ulrich Barth / Claus-Dieter Osthövener, Berlin / New York 2000, 585 – 608, hier 594.  Schleiermacher 1984, 64 (Anm. 2).  Schleiermacher 1984, 239 (Anm. 2).  Vgl. Schleiermacher 1984, 60 (Anm. 2).

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chen und sich als „eigne Schule und Jüngerschaft“¹⁰ organisieren. Aber das historische Faktum der Stiftung einer Religion ist nicht mit deren Zentralanschauung zu verwechseln.¹¹ Der Ursprung einer Religion ist nicht identisch mit ihrem Geltungskern. Vielmehr legt Schleiermacher großen Wert darauf, dass innerhalb einer geschichtlichen Religion Spielraum für die individuelle Akzentuierung der gemeinsamen Zentralanschauung bleibt. Religiöse Produktivität impliziert Binnenpluralität. In den Worten des Redners: „Ein unendliches Feld ist eröfnet in jeder dieser Religionen, worin Tausende sich zerstreuen mögen; unbebaute Gegenden genug werden sich dem Auge eines Jeden darstellen, der etwas eigenes zu schaffen und hervorzubringen fähig ist, und heilige Blumen duften und prangen in allen Gegenden wohin noch keiner gedrungen ist um sie zu betrachten und zu genießen.“¹² Die Zentralanschauung schält sich nicht nur erst in der Religionsgeschichte heraus, sondern ist unterschiedlicher Perspektivierung fähig. In jeder Religion gibt es terrae incognitae, die im Laufe der Geschichte erschlossen und kultiviert werden. Die aufklärungstheologische These von der Perfektibilität des Christentums wird hier von Schleiermacher variiert, indem er sie auf die innere Pluralität der Religionen bezieht.¹³ Schleiermacher reduziert die theoretisch unbegrenzte Vielfalt der Religionen auf zweifache Weise, nämlich einmal durch ein religionswissenschaftliches Schema und sodann durch die Präsentation von zwei historischen Religionen, bekanntlich Judentum und Christentum. Zunächst zum Schema, das Schleiermacher in der zweiten und fünften Rede sehr knapp skizziert.¹⁴ Hier unterscheidet Schleiermacher die Stufen und „Arten das Universum anzuschauen als Chaos, als System und in seiner elementarischen Vielheit“¹⁵. Jeder Stufe wird eine personalistische und pantheistische Art zugeordnet,¹⁶ so dass sich ein Sechser-Schema ergibt. Die erste Stufe repräsentiert die „verwirrte Idee vom Ganzen und Unendlichen“, auf der sich das Universum entweder als „blindes Geschik“ oder als „Wesen ohne bestimmte Eigenschaften“, mithin als „Göze“ oder „Fetisch“ erschließt. Die zweite Stufe bildet die „Vielheit ohne Einheit“. Das Universum erschließt sich hier einerseits als „motivirte Nothwendigkeit“, andererseits in

 Schleiermacher 1984, 261 (Anm. 2).  Vgl. Schleiermacher 1984, 289 – 290 (Anm. 2).  Schleiermacher 1984, 264 (Anm. 2).  Vgl. Hans-Walter Schütte, „Perfektibilität des Christentums im Denken der Aufklärung“, in: Beiträge zur Theorie des neuzeitlichen Christentums, hg.v. Hans-Joachim Birkner / Dietrich Rössler, Berlin 1968, 113 – 126. Vgl. dazu in gegenwartsorientierter Perspektive: Jörg Dierken, Fortschritte in der Geschichte der Religion? Aneignung einer Denkfigur der Aufklärung, Leipzig 2012.  Vgl. Klaus Eberhard Welker, Die grundsätzliche Beurteilung der Religionsgeschichte durch Schleiermacher, Leiden/Köln 1965, 100 – 110 und neuerdings die differenzierte Erörterung bei König 2016, 388 – 394 (Anm. 5).  Schleiermacher 1984, 255 (Anm. 2).  „Diese Vorstellungsarten gehen ja durch alle drei Arten der Religion hindurch“ (Schleiermacher 1984, 257 [Anm. 2]).

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„Götter[n] [] in unendlicher Anzahl“¹⁷. Als Beispiel verweist Schleiermacher in den Erläuterungen zur fünften Rede auf den griechischen Polytheismus, der „die meisten dieser göttlichen Einzelwesen“ aufweist, während „[i]n den Egyptischen […] und Indischen Systemen“ eine bloß symbolische Darstellung von Göttern stattfindet, so dass sie als „wahrhaft pantheistisch“ anzusehen sind.¹⁸ Die dritte und höchste Stufe ist die systematische Anschauung des Universums, das entweder als „Eins und Alles“¹⁹ oder als Gott angeschaut wird. Auf dieser Stufe stehen das Judentum und das Christentum. Mit Blick auf aktuelle Diskurse ist eine kurze Nebenbemerkung in der vierte Rede interessant, in der Schleiermacher darauf verweist, dass die Monotheismen wegen ihres ‚Systemzwangs‘ zur Intoleranz neigen, während man „in der alten Vielgötterei […] weit gelinder und humaner war“²⁰. Schleiermacher gibt zu erkennen, dass er das Judentum wegen seines dialogischen Charakters als personalistische Religion versteht, während er die christliche Religion in einer nachtheistischen Weise interpretiert,²¹ was es in seinen Augen pluralitätstauglich macht. Das religionswissenschaftliche Schema der Reden

Von den geschichtlichen Religionen behandelt der Redner lediglich das Christentum und das Judentum, das letztere auch nur exkursorisch. Er bezeichnet es als „todte Religion“²² und diese Einschätzung ist oftmals mit Recht kritisch kommentiert wor-

 Alle Wendungen in: Schleiermacher 1984, 126 – 127 (Anm. 2).  Alle Zitate in: Schleiermacher 1995, 300, Z. 33 – 301, Z. 13 (Anm. 3).  Schleiermacher 1984, 128 (Anm. 2).  Schleiermacher 1984, 202 (Anm. 2).  Vgl. Ulrich Barth, „Die Religionstheorie der ‚Reden‘. Schleiermachers theologisches Modernisierungsprogramm“, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 259 – 289, hier 279.  „[…] denn der Judaismus ist schon lange eine todte Religion, und diejenigen, welche jezt noch seine Farbe tragen, sizen eigentlich klagend bei der unverweslichen Mumie, und weinen über sein Hinscheiden und seine traurige Verlaßenschaft“ (Schleiermacher 1984, 286 [Anm. 2]). Vgl. Arnulf von Scheliha, „Schleiermachers Deutung von Judentum und Christentum in der fünften Rede „Über die Religion“ und ihre Rezeption bei Abraham Geiger“, in: Schleiermacher und das Judentum. Akten des

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den. Bei der Bewertung ist freilich in Rechnung zu stellen, dass Kritik einen wesentlichen Grundzug der Reden ausmacht: Die „Usurpationen der Metaphysik über die Religion“²³, die unselige Vermischung von Moral und Religion, die Instrumentalisierung der Kirchen für die Zwecke des Staates, die Regulierung der religiösen Kommunikation durch die Amtskirche: Bei allen diesen Punkten, die die Religion verderben, hat Schleiermacher Christentum und Theologie seiner Zeit vor Augen. Die Kritik am Judentum ist hart, aber keineswegs exklusiv. Schleiermachers Apologie der Religion ist zugleich ihre Kritik – ein Zug übrigens, der der pluralistischen Religionstheologie der Gegenwart weitgehend fehlt.²⁴ Im Folgenden wird nur die positive Rekonstruktion der Zentralanschauung des Judentums aufgegriffen, die Schleiermacher über eine Abgrenzung gewinnt. Er will nämlich das Judentum nicht als „Vorläufer des Christenthums“²⁵ verstehen, denn ein solches Verständnis ginge an der religionshermeneutischen Theorie der Zentralanschauung vorbei. Jede Deutung des Judentums als einer inferioren Religion wird eine scharfe Absage erteilt, denn „ihre Nothwendigkeit ist eine weit höhere und ewige“²⁶. Ihre Grundanschauung ist keine andere, als die von einer allgemeinen unmittelbaren Vergeltung, von einer eigenen Reaction des Unendlichen gegen Jedes einzelne Endliche, das aus der Willkühr hervorgeht, durch ein anderes Endliches, das nicht als aus der Willkühr hervorgehend angesehen wird. So wird alles betrachtet, Entstehen und Vergehen, Glük und Unglük, selbst nur innerhalb der menschlichen Seele wechselt immer eine Äußerung der Freiheit und Willkühr und eine unmittelbare Einwirkung der Gottheit; alle andere Eigenschaften Gottes, welche auch angeschaut werden, äußern sich nach dieser Regel, und werden immer in der Beziehung auf diese gesehen; belohnend, strafend, züchtigend das Einzelne im Einzelnen, so wird die Gottheit durchaus vorgestellt.²⁷

Zentral ist also die Idee der unmittelbaren Vergeltung. Nach ihr ruft jeder menschliche Freiheitsakt eine direkte göttliche Reaktion hervor. Seit dem 20. Jahrhundert spricht man in der alttestamentlichen Forschung nicht mehr von Vergeltung, sondern von „schicksalwirkender Tatsphäre“²⁸ oder „Tun-Ergehen-Zusammenhang“²⁹.

Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Halle 2009, hg. v. Ulrich Barth u. a., Berlin / New York 2012, 210 – 224.  Schleiermacher 1984, 146 (Anm. 2).  Diese Religionskritik ist eingebunden in eine umfassende und kritische Analyse der mentalen Auswirkungen von aufgeklärter Rationalität und frühkapitalistischer Ökonomie, die den religiösen Sinn verschließen. Vgl. dazu Barth 2004, 268 – 287 (Anm. 21).  Schleiermacher 1984, 287 (Anm. 2).  Schleiermacher 1984, 287 (Anm. 2).  Schleiermacher 1984, 287– 288 (Anm. 2).  Vgl. Klaus Koch, „Gibt es ein Vergeltungsdogma im Alten Testament?“, in: ders., Spuren des hebräischen Denkens. Beiträge zur alttestamentlichen Theologie, Gesammelte Aufsätze Bd. 1, hg. v. Bernd Janowski / Martin Krause, Neukirchen-Vluyn 1991, 107– 127.  Vgl. Bernd Janowski, „Die Tat kehrt zum Täter zurück. Offene Fragen im Umkreis des ‚Tun-ErgehenZusammenhangs‘“, in: ZThK 91 (1994), 247– 271.

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In der näheren Beschreibung des Judentums hebt Schleiermacher die Merkmale Subjektivität und Geschichtlichkeit hervor. Der vitale Kern des Judentums besteht nämlich im „Gespräch zwischen Gott und den Menschen in Wort und That“³⁰, d. h. in seiner dialogischen Struktur, in der die Geschichte des jüdischen Volkes reflektiert wird. Hier allerdings sieht Schleiermacher auch den Keim für die innerjüdischen Transformationen. Denn der „fortdauernde[] Wechsel zwischen […] Reiz und […] Gegenwirkung“ hält komplexen gesellschaftlichen Bedingungen nicht stand. Daher wird in der prophetischen Tradition die untermittelbare historische Erfahrung transzendiert. Der spätere „Glaube an den Meßias“³¹ hofft auf eine apokalyptische Restauration der religiösen Grundidee. Prophetie und Messiasglaube sind religiöse Produktivkräfte, letzterer allerdings neigt zur theokratischen Vermischung von Religion und Politik, die Schleiermacher kritisiert. Aber durchgesetzt, so die Sicht Schleiermachers, hat sich die textorientierte Richtung. Die Kanonisierung der Heiligen Schriften und die Konzentration auf die buchstäbliche Tradition erklärten „das Gespräch des Jehova mit seinem Volk als beendigt“³². An diesem Befund ist festzuhalten: Die Formierung als Buchreligion ist es, die Schleiermacher für den religionsgeschichtlichen Tod des Judentums verantwortlich macht: „Sie starb, als ihre heiligen Bücher geschloßen wurden“³³, weil dadurch – das ist entscheidend – die personale Vermittlung der Zentralanschauung und deren innovative Interpretation ausgeschlossen werden.³⁴

 Schleiermacher 1984, 288 (Anm. 2).  Schleiermacher 1984, 290 (Anm. 2): Ein „neuer Herrscher sollte kommen um das Zion wo die Stimme des Herrn verstummet war in seiner Herrlichkeit wieder herzustellen, und durch die Unterwerfung der Völker unter das alte Gesez sollte jener einfache Gang wieder allgemein werden in den Begebenheiten der Welt, der durch ihre unfriedliche Gemeinschaft, durch das Gegeneinandergerichtetsein ihrer Kräfte und durch die Verschiedenheit ihrer Sitten unterbrochen war.“  Schleiermacher 1984, 290 (Anm. 2).  Schleiermacher 1984, 290 (Anm. 2).  Gegen König 2016, 39 – 40.410 – 411 (Anm. 5). Im Christentum ist die von Schleiermacher grundsätzlich wertgeschätzte Heilige Schrift gebunden daran, dass die „Erstarrung in die tote Hülle des Buchstabens“ (Schleiermacher 1984, 307 [Anm. 2]) überwunden wird, die Schrift also nicht für einen buchstäblichen, sondern für „einen logischen Mittler“ gehalten wird, zu der „der heilige Geist“ hinzutritt, „um sich [der Gottheit] praktisch anzunähern“ (Schleiermacher 1984, 306 [Anm. 2]). Schleiermacher reproduziert im Verhältnis von jüdischem und christlichem Schriftumgang im Grunde genommen die reformatorische Unterscheidung von Buchstabe und Geist, die freilich – wenn man die allgemeinen Äußerungen zur Heiligen Schrift („Mausoleum“) hinzuzieht – zu einer Entgrenzung des Kanonverständnisses führt. Die These Königs, nach der das Judentum an der Partikularität der religiösen Zentralanschauung scheitert (vgl. König 2016, 409 – 415 [Anm. 5]), ist einerseits zutreffend, weil jede religiöse Zentralanschauung partikular ist. Richtig ist auch, dass der Erfahrungszusammenhang des göttlichen Vergeltungshandelns innergeschichtlich zunächst als zu eng empfunden wurde. Prophetie und Messianismus sind aber Weiterentwicklungen dieser partikularen Grundannahme. Zu solchen Weiterentwicklungen sind religiöse Zentralanschauungen auch fähig, man erinnere sich an die oben wiedergegebene Wendung vom unendlichen Feld auf dem Gebiete jeder Religion. Daher ist, mit Blick auf die – ohnehin unzutreffende – Diagnose vom Judentum als „todter Religion“ an der Kanonisierungsthese, zugespitzt zu Buchstabentreue und Gesetzesloyalität, festzuhalten.

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Bei dieser Einschätzung ist zweierlei in Rechnung zu stellen. Einmal ist daran zu erinnern, dass für Schleiermacher die „Grundanschauung jeder positiven Religion an sich […] ewig [ist], weil sie ein ergänzender Theil des unendlichen Ganzen ist, in dem Alles ewig sein muß“³⁵. Nach diesem Zitat ist eine Revitalisierung des Judentums auch unter Schleiermachers Denkprämissen denkbar. Sodann verbindet sich für Schleiermacher mit dem Thema Buchreligion eine düstere Prognose von allgemeiner Bedeutung. So heißt es in der zweiten Rede: „Jede heilige Schrift ist nur ein Mausoleum der Religion ein Denkmal, daß ein großer Geist da war, der nicht mehr da ist; denn wenn er noch lebte und wirkte, wie würde er einen so großen Werth auf den todten Buchstaben legen […]?“³⁶ Alle sog. Buchreligionen sterben oder erstarren, wenn die Schriftgläubigkeit Oberhand gewinnt. Diese Kritik schließt auch die reformatorische sola scriptura ein, von der Schleiermacher sich abwendet und stattdessen Subjektivität und Pluralität des Schriftumganges radikal zuspitzt: „Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern der welcher keiner bedarf, und wohl selbst eine machen könnte.“³⁷ Das Christentum versteht Schleiermacher daher ohne exklusiven Bibelrekurs.³⁸ Die Bibel, aber auch ein anderes Buch, „was mit gleicher Kraft geschrieben wäre“³⁹, ist eine unter vielen Möglichkeiten zur Freisetzung der christlichen „Haupt-Idee […] von göttlichen vermittelnden Kräften“⁴⁰. Wichtiger ist: Im Christentum werden die Bedingungen für die Anschauung des Universums thematisch, nämlich das grundlegende Widerstreben des Endlichen gegen das Unendliche. Dieser natürliche Antagonismus von Endlichem und Unendlichem wird im Christentum versöhnt durch „die Idee daß Alles Endliche höherer Vermittlungen bedarf um mit der Gottheit zusammenzuhängen“⁴¹. Insofern verarbeitet das Christentum „die Religion selbst als Stoff für die Religion“⁴² und vermittelt zwischen den göttlichen und menschlichen Kräften. Dieses Prinzip der Vermittlung wird im Katholizismus weit und im Protestantismus christologisch eng bestimmt.⁴³ Entscheidend ist, dass das Vermittlungsprinzip nicht positiviert wird, sondern dass „der lebendige Geist“ immer wieder „erwacht […] und seine Säfte in Bewegung sezt“⁴⁴. Nur in diesem Fall werden kritische Reflexion und kreative Interpretationen entbunden. Daher prognostiziert der Redner, dass das Christentum, „noch eine lange Geschichte haben wird trotz Allem was man

 Schleiermacher 1984, 307 (Anm. 2).  Schleiermacher 1984, 121– 122 (Anm. 2).  Schleiermacher 1984, 122 (Anm. 2).  „Die heiligen Schriften sind Bibel geworden sind aus eigener Kraft, aber sie verbieten keinem andern Buche auch Bibel zu sein oder zu werden“ (Schleiermacher 1984, 305 [Anm. 2]).  Schleiermacher 1984, 305 (Anm. 2).  Schleiermacher 1984, 305 (Anm. 2).  Schleiermacher 1984, 301 (Anm. 2).  Schleiermacher 1984, 293 (Anm. 2).  Vgl. Schleiermacher 1984, 306 (Anm. 2).  Schleiermacher 1984, 307 (Anm. 2).

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sagt von seinem baldigen […] Untergange.“⁴⁵ Die Untergangsresistenz des Christentums hängt nicht am biblischen Kanon, sondern an dem kreativen – deutungsfreudigen – Umgang mit ihm.⁴⁶ Innerhalb des theoretischen Rahmens der Reden ist damit das letzte Wort nicht gesprochen. Der Begriff des Universums schließt aus, dass sein Inhalt durch die Zentralanschauung des Christentums allein erschlossen werden könnte. Das Christentum bedeutet nicht das Ende der Religionsgeschichte, vielmehr ist „neue Schöpfung“⁴⁷ weiterer Grundanschauungen denkbar. Die pluralistische Religionstheorie der Reden ist geschichtlich offen und fordert Toleranz gegenüber allen Religionen, die stets ein komplementäres Anderes zur eigenen Anschauung des Universums bilden. Zwei Aspekte fehlen bei der Religionstheorie der Reden: Es fehlt zum einen die wissenschaftliche Fundierung des epistemischen Standpunktes, von dem aus die Theorie entfaltet und die Zentralanschauungen identifiziert und beurteilt werden. Er wird durch die Stilisierung des Redners, der sich in der ersten Rede als „Mitglied dieses Ordens“⁴⁸ zu erkennen, aber „als Mensch“ redet, bewusst in der Schwebe gehalten. Zweitens erlaubt es der in den Reden aufgebotene Theorierahmen nicht, religionsgeschichtliche Interdependenzen zwischen den Religionen zu begreifen. Bei beiden Punkten hat Schleiermacher in der Glaubenslehre nachgebessert. Darauf wird nun einzugehen sein.

II In der ersten Auflage der Glaubenslehre von 1821/22, die zunächst herangezogen wird, setzt Schleiermacher in §5 zeit- und christentumstheoretisch ein. Nach seiner Diagnose kann wegen der konfessionellen Pluralität nicht mehr als bekannt vorausgesetzt werden, „was in den frommen Erregungen der Christenheit das wesentliche sei oder nicht“.⁴⁹ Daher tritt er in einen einleitenden Selbstverständigungsdiskurs über das Wesen des Christentums ein,⁵⁰ und zu diesem Zweck bezieht er in §6 einen „Standpunkt über demselben […], um es mit andern Glaubensarten zu vergleichen.“⁵¹ Dieser außenperspektivisch angelegte Gedankengang enthält a) eine allgemeine Religionstheorie, b) den Religionsvergleich sowie c) die bekannten Formeln für das

 Schleiermacher 1984, 307 (Anm. 2).  Gegen Christian König, Unendlich gebildet, 40 mit Verweis auf Schleiermacher 1984, 306 (Anm. 2), wo auf die Stellung der Heiligen Schrift als „logischem Mittler“ und auf das Hinzutreten des „heiligen Geistes“ verwiesen wird.  Schleiermacher 1984, 311 (Anm. 2).  Schleiermacher 1984, 4– 5 (Anm. 2).  Schleiermacher 1994, §5, 18 (Anm. 4).  Vgl. zur Durchführung: Markus Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion, Tübingen 1996.  Schleiermacher 1994, §6, 20 (Anm. 4).

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Wesen des Christentums und für das Verhältnis zwischen Katholizismus und Protestantismus. Methodisch wichtig daran ist erstens, dass damit die wissenschaftliche Verortung „in dem Gesammtgebiet der Religionsgemeinschaften“⁵² zum konstitutiven Bestandteil einer zeitgemäßen dogmatischen Selbstbeschreibung der christlichen Religion wird. Der zweite Ertrag der wissenschaftlichen Außenperspektive besteht darin, dass die Religionen als historische Phänomene aufgefasst werden. Dadurch wird das Christentum mit den anderen Religionen vergleichbar.⁵³ Freilich ist die Reichweite der Außenperspektive begrenzt, denn der Vergleich hat nur das Ziel, die christliche Wesensbestimmung vorzubereiten. An Vollständigkeit ist Schleiermacher nicht interessiert.⁵⁴ Weil er sich, wie er schreibt, auf eine anderwärts ausgearbeitete Religionsphilosophie nicht beziehen kann, begnügt er sich, wie er anmerkt, mit einem abgekürzten Verfahren.⁵⁵ Diese „Restriction der Aufgabe“⁵⁶ ist bei der Beurteilung der inhaltlichen Urteile, die Schleiermacher trifft, zu berücksichtigen. Trotz dieser Einschränkung verleiht sein wissenschaftlicher Status dem Vergleich einen die dogmatischen Zwecke übersteigenden Mehrwert, der ihn mit einem gewissen Allgemeinheitsanspruch versieht. Denn kategorial bezieht sich Schleiermacher auf seine als kulturtheoretische Kategorienlehre angelegte Philosophische Ethik, empirisch werden Einsichten fruchtbar gemacht, die allgemein zugänglich sind. Im Folgenden werden nacheinander die vier kategorialen Grundeinsichten aufgerufen, die für Schleiermachers Theorie der Pluralität der Religionen von Bedeutung sind. Die erste Kategorie kann man soziologisch nennen. Sie besagt, dass eine Religion erst dann relevant ist, wenn sie in einer Gesellschaft sichtbar wird. Die organisierte Überschreitung des „isolirten Hausgottesdienst[es]“⁵⁷, die Tatsache also, „wenn das […] religiöse Leben ein öffentliches wird; und etwas für Anderes und Andere“⁵⁸ ist, bildet die Minimalbedingung für eine geschichtsmächtige Religion. Dieser Eintritt in

 Friedrich Schleiermacher [1829], Über die Glaubenslehre. Zwei Sendschreiben an Lücke, KGA I/10, hg.v. Hans-Friedrich Traulsen, Berlin / New York 1990, 307– 394, hier 373.  Die Einleitung der zweiten Auflage der Glaubenslehre setzt dagegen mit der Erläuterung des Dogmatikprogramms ein. Der Charakter der Dogmatik als theologischer Subdisziplin führt zu einer breiten Entfaltung ihrer kirchlichen Funktion. Daher werden der Begriff der Kirche und das ihm zugrundeliegende Wesen der Frömmigkeit expliziert. Zu diesem Zweck werden die Lehnsätze aus der Ethik importiert und damit wird der Schritt aus der Theologie heraus getan.Von der spekulativen Höhe kehrt der Gedanke dann über den religionsphilosophischen Vergleich zur theologischen Erörterung des Wesens der christlichen Frömmigkeit zurück. Der religionsphilosophische Vergleich ist in der Zweitauflage schwerpunktmäßig durch die Architektur des Wissenschaftsprogramms motiviert.  Es kommt „uns lediglich darauf an […] zu untersuchen, wie sich das Christenthum […] zu anderen frommen Gemeinschaften und Glaubensweisen verhält.“ (Friedrich Schleiermacher [1830/31], Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Teilband 1, KGA I/13,1, hg.v. Rolf Schäfer, Berlin / New York 2003, §7, 63; vgl. §16).  Vgl. Schleiermacher 1984, §7.3, 24 (Anm. 4).  Friedrich Schleiermacher, Marginalie Nr. 253 zu §17 der Glaubenslehre (1821 – 1822), KGA I/7,3, hg. v. Ulrich Barth, Berlin / New York 1994, 54.  Schleiermacher 2003, §7.1, 61. (Anm. 54).  So die Formulierung in der Nachschrift Wichern: Schleiermacher 2003, 60, Anm. zu Z. 8. (Anm. 54).

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die Sphäre historischer Relevanz wird in Analogie zum Staat gedacht, wobei Schleiermacher wie bei der Staatswerdung eine allmähliche Entwicklung annimmt. Eine Religionsgemeinschaft oder „Kirche“ in diesem „bürgerliche[n] Zustand“⁵⁹ ist eine „relativ abgeschlossene fromme Gemeinschaft“⁶⁰, in dem religiöse Gefühle und Inhalte anerkannt sind, geordnet kommuniziert und tradiert werden. Solche Religionsgemeinschaften denkt Schleiermacher zweitens in Kontinuität zur Religionstheorie der Reden als historische Individuen.⁶¹ Ihre Individualität kommt zu Stande zunächst durch die historische Tatsache ihrer Stiftung und ist sodann das Ergebnis der spezifischen Weise ihrer Selbstorganisation, die die religiöse Vorstellungswelt, die Sittenlehre und ihre soziale Gestalt betreffen. Der geschichtliche Anfangspunkt einer Religion, d. h. das Setzen einer äußeren Einheit, und die eigentümliche Lebensmitte, d. h. ihre innere Einheit, bedingen sich wechselseitig und machen sie von anderen Religionen unterscheidbar. Die positiven Religionen sind also individuell bestimmte und unterschiedlich strukturierte Sozialgestalten von Frömmigkeit. Zu Schleiermachers Verständnis von Geschichte gehört drittens, dass er ihr einen Richtungssinn unterlegt, deren Endpunkt er als „Gesammtentwiklung der geistigen Kräfte“⁶² bestimmt. In diese Entwicklung werden die Religionen eingeordnet. Dies geschieht mit Hilfe einer Theorie der Stufen, von denen Schleiermacher drei ausweist, nämlich eine niedrige, eine mittlere und eine höchste. Diese Stufen leitet Schleiermacher aus seiner Theorie des Selbstbewusstseins ab. Die niedrige Stufe entspricht dem „thierartig verworrene[n]“⁶³ Selbstbewusstsein, die mittlere dem sinnlichen Selbstbewusstsein, das sich durch eine Wechselwirkung von Freiheit und Abhängigkeit auszeichnet und dem höheren Selbstbewusstsein entspricht die höchste Stufe der Religionsgeschichte. Quer dazu steht die Einteilung von mehreren Religionen auf einer Entwicklungsstufe, die als „Gattungen oder Arten“ voneinander unterschieden werden. Schleiermacher arbeitet also mit einer doppelten Differenzsetzung. Religionen unterscheiden sich voneinander durch den Ort in der Religionsgeschichte und von denen, mit denen man gemeinsam auf einer Entwicklungsstufe steht. Nun trifft Schleiermacher eine bedeutsame Vorentscheidung. Er geht davon aus, dass die monotheistischen Religionen mit der vollendeten Ausfaltung des höheren Selbstbewusstseins zusammenfallen, also die höchste Entwicklungsstufe einnehmen,

 Schleiermacher 2003, §7.1, 61 (Anm. 54).  Schleiermacher 2003, §6.4, 58 (Anm. 54).  „Jede einzelne Gestaltung gemeinschaftlicher Frömmigkeit ist Eine theils äußerlich als ein von einem bestimmten Anfang ausgehendes geschichtlichtätiges, theils innerlich als eigenthümliche Abänderung alles dessen, was in jeder ausgebildeten Glaubensweise derselben Art und Abstuffung auch vorkommt, und aus beidem zusammengenommen ist das eigenthümliche Wesen einer jeden zu ersehen.“ (Schleiermacher 2003, §10, 80 – 81 [Anm. 54]).  Schleiermacher 2003, §7.1, 61 (Anm. 54).  Schleiermacher 2003, §5.1, 43 (Anm. 54).

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zu der der Mensch „bestimmt ist […] überzugehen“⁶⁴. Mit dieser Formulierung verbindet sich ein Problem. Dem nahe liegenden Einwand, dass er die Religionsgeschichte naturalisieren und damit sein Programm der Historisierung der Religionen unterlaufen würde, tritt Schleiermacher selbst entgegen. Die Möglichkeit der Bestimmung eines allgemeinen Anfangspunktes der Religionsgeschichte wird verworfen.⁶⁵ Keineswegs seien die Religionen dazu bestimmt, in ihrer Geschichte alle Stufen zu durchlaufen. Es gäbe auch Religionen, die sich von einem diffusen zu einem klaren Monotheismus entwickeln würden. Ebenso wird zugestanden, dass eine religiöse Gemeinschaft „unbeschadet ihres Gattungscharakters sich könnte über ihre ursprüngliche Stufe hinaus entwikkeln“⁶⁶. Schleiermacher lässt also einerseits Raum für historische Kontingenz.⁶⁷ Andererseits ist die Gerichtetheit der Religionsgeschichte in dem Moment unübersehbar, in dem, wie Schleiermacher sagt, der Monotheismus einmal „wirklich“ geworden ist, wodurch er normative Bedeutung für die Beurteilung der Religionsgeschichte gewinnt.⁶⁸ Dadurch ergibt sich jene „Bestimmung zum Übergang in das höhere Selbstbewusstsein“, das religionsgeschichtlich durch den Monotheismus repräsentiert wird. Dieser historische Richtungssinn verdankt sich also einem Qualitätsurteil, dessen Quelle im Wesentlichen das christliche Geschichtsbild sein dürfte. Der „Monotheismus“ verkörpert also den höchsten, weil vollkommenen geistigen Typ von Religion. Von hier aus erfolgt – gewissermaßen rückwärts – die Typisierung der Religionen auf den Stufen unterhalb des Monotheismus. Auf der mittleren Stufe siedelt Schleiermacher den Typus „Polytheismus“ an.⁶⁹ Auf der niedrigen Stufe identifiziert Schleiermacher den „Fetischkult“ bzw. den „eigentlichen Götzendienst“.⁷⁰ Die ohnehin knappen Ausführungen Schleiermachers dazu werden hier nicht berücksichtigt.

 Schleiermacher 1994, §15.3, 51 (Anm. 4); vgl. Schleiermacher 2003, §8, 65 (Anm. 54).  Vgl. Schleiermacher 1994, §15.3 (Anm. 4); vgl. Schleiermacher 2003, §8.3 (Anm. 54).  Schleiermacher 2003, §7.2, 62 (Anm. 54).  Überdies hat Wilhelm Gräb in seinen Untersuchungen zum Geschichtsbegriff im Spätwerk Schleiermachers überzeugend gezeigt, dass der Übergang auch nicht in dem Sinne zu verstehen ist, „als sei das die höchste Stufe ausfüllende Selbstbewußtsein zugleich auch das Subjekt der Konstruktion einer auf es zulaufenden Stufenfolge von Bewußtseinsgestalten.“ (Wilhelm Gräb, Humanität und Christentumsgeschichte. Eine Untersuchung zum Geschichtsbegriff im Spätwerk Schleiermachers, Göttingen 1980, 91).  Vgl. Schleiermacher 1994, §15 Leitsatz Anm. b (Anm. 4): „Wirklich aber tritt dieses als allgemeine Norm nur auf in denjenigen Gestaltungen der Frömmigkeit, die wir die monotheistische Religionen zu nennen pflegen, welche also hier als die höchste Entwiklungsstuffe sollen aufgestellt werden.“  Er „bezeugt […] indem die fromme Erregbarkeit sich mit verschiedenen Affectionen des sinnlichen Selbstbewußtseins einigt, ein solches Vorherrschen dieser Verschiedenheit der Zustände, daß das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit noch nicht in seiner vollen Einheit und Indifferenz gegen alles im sinnlichen Selbstbewußtsein sezbare auftreten kann, sondern eine Mehrheit gesezt wird, von der es ausgehe.“ (Schleiermacher 2003, §8.2, 67 [Anm. 54]).  Der Götzendienst geht zurück auf die „Verworrenheit des Selbstbewußtseins indem das Höhere und Niedere so wenig unterschieden werden, daß auch das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit als

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Der vierte kategoriale Aspekt ist die Unterscheidung von „Periode“ und „Epoche“, die Schleiermacher in der Kurzen Darstellung des theologischen Studiums trifft. Er geht davon aus, dass sich ein historisches Gebilde mal kontinuierlich, mal eruptiv vollzieht. Während in der historischen Langzeitperspektive, die Schleiermacher als „Periode“ bezeichnet, „das ruhige Fortbilden überwiegt“, also autopoietisch prozediert wird, zeichnet sich die „Epoche“ durch „das plötzliche Entstehen“, durch „Wechsel oder Umkehrung der Verhältnisse“⁷¹ aus. Aus der Wechselwirkung in epochalen Ereignissen entsteht historisch Neues, auch religionsgeschichtliche Innovationen, in denen die religiösen Traditionen aufeinander Einfluss nehmen. Hier findet sich ein wesentlicher Theoriefortschritt im Verhältnis zu den Reden. Dies wird nun bei der empirischen Füllung des Schemas relevant, denn keine Religion kommt exakt auf einer Stufe zu stehen. Vielmehr sind es vor allem die „Übergangslagen“, die Schleiermacher fokussiert. Das hängt schon damit zusammen, dass Schleiermacher eine direkte Abhängigkeit der religiösen Entwicklung vom kulturellen Standard vereint. Zwar gibt es eine gewisse Korrelation, aber grundsätzlich ist die Annahme möglich, dass es in hochentwickelten Kulturen vergleichsweise primitive Religionen gibt, wie umgekehrt, dass die Vorstellungswelt einer Religion gewissermaßen die Avantgarde für die allererst zu entwickelnden geistigen Kapazitäten einer Kultur darstellt. Vor allem diese Option dürfte es sein, die es Schleiermacher zu erklären ermöglicht, dass die religiösen Monotheismen des Judentums und des Islams sich in vergleichsweise primitiven kulturellen Gefügen entwickeln und sich insgesamt kulturproduktiv zur Geltung bringen konnten. Umgekehrt kann Schleiermacher die hellenistische Religion als primitiv ablehnen, die griechische Kultur (und Philosophie) hoch schätzen und auf die Geschichte des Christentums beziehen. Daher wird der Begriff des Überganges zu einer wesentlichen Kategorie zur empirischen Erfassung von Interdependenzen zwischen den Religionen. Dies soll hier im Rückgriff auf Schleiermachers Deutung von Judentum und Islam erläutert werden. Das Judentum wird von Schleiermacher als eine monotheistische Religion charakterisiert, die noch eine gewisse Hinneigung zum „Fetischismus“⁷² aufweist. Schleiermacher führt dafür zwei Gründe an. Der erste Grund betrifft die religionsgeschichtliche Genese. Der Monotheismus habe sich erst sukzessive „durch manche Schwankungen auf die Seite des Götzendienstes und der Vielgötterei“⁷³ entwickelt. Der zweite Grund ist der fehlende Universalismus, den Schleiermacher an der Beschränkung der „Liebe des Jehovah auf den Abrahamitischen Stamm“⁷⁴ festmacht und der die vollständige Entfaltung des Monotheismus verhindere.

von einem einzelnen sinnlich aufzufassenden Gegenstand herrührend reflectirt wird.“ (Schleiermacher 2003, §8.2, 67 [Anm. 54]).  Friedrich Schleiermacher [1830], Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, KGA I/6, hg.v. Dirk Schmid, 243 – 315, hier §7, 266.  Schleiermacher 1994, §15.4., 52 (Anm. 4); vgl. Schleiermacher 2003, §8.4, 70 (Anm. 54).  Schleiermacher 1994, §15.4., 52 (Anm. 4); vgl. Schleiermacher 2003, §8.4, 70 (Anm. 54).  Schleiermacher 1994, §15.4., 52 (Anm. 4); vgl. Schleiermacher 2003, §8.4, 70 (Anm. 54).

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Überraschend ist, wie Schleiermacher den Islam charakterisiert. Er repräsentiert natürlich einen Monotheismus, aber mit der Einschränkung, dass er „den Menschen auf der Stuffe der Vielgötterei zurükhält“. Die Gründe, die dafür angegeben werden, wirken sehr konstruiert. Knapp und ohne Nachweise wird auf den „sinnlichen Gehalt ihrer Vorstellungen“ und den „leidenschaftlichen Charakter“ des Glaubens verwiesen.⁷⁵ Weitere Beobachtungen zum Islam teilt Schleiermacher hier nicht mit. In seinen Vorlesungen zur Kirchengeschichte trifft er drei positive Einschätzungen zum Islam, die seine Kulturproduktivität beschreiben. Er betont den kulturellen Austausch zwischen christlicher und islamischer Welt im Mittelalter⁷⁶, die Ausbildung des wissenschaftlichen Geistes in dieser Zeit, die parallel zum Judentum verläuft und die von ihm praktizierte „Duldsamkeit“, die es ihm ermöglicht habe, auch Juden und Christen in seinen Dienst zu stellen.⁷⁷ In einer Vorlesung zur Staatslehre deutet Schleiermacher an, dass für ihn der „Islamismus“ und das Christentum diejenigen Weltreligionen sind, die ein kosmopolitisches Bewusstsein von der Zusammengehörigkeit und Gleichheit aller Menschen hervorgebracht haben.⁷⁸ Das Christentum ist für Schleiermacher eine universale, weil auf die ganze Menschheit bezogene Religion, die von jeden götzendienerischen oder polytheistischen Einmischungen frei ist und „uns den reinsten Monotheismus darstellt“. Einzelne Rückfälle werden als „krankhafte Ausnahme“ charakterisiert. Daher kommt Schleiermacher im Vergleich zu dem Ergebnis, dass „das Christenthum […] als die vollkommenste unter den gleich entwikkelten Formen“⁷⁹ erscheint. In systematischer Hinsicht wird die Differenz zwischen den drei monotheistischen Religionen durch die Unterscheidung von teleologischer und ästhetischer Frömmigkeit eingeführt. Eine teleologische bzw. ethische Religion zeichnet sich nach Schleiermacher dadurch aus, „daß die vorherrschende Beziehung auf die sittliche Aufgabe den Grundtypus der frommen Gemüthszustände bildet.“⁸⁰ In der ethischen Religion wird also jeder Zustand zum Anlass einer Selbstbestimmung zum Handeln, das auf sittliche Verbesserung der Lebensverhältnisse zielt. Dagegen zeichnet sich der Typus des „monotheistische[n] Islamismus“ dadurch aus, dass „diese Gestaltung der Frömmigkeit […] in dem Bewußtsein unabänderlicher göttlicher Schikkungen zur gänzlichen Ruhe“⁸¹ kommt. Das Sittliche ist dem Fatalismus ungeordnet. Dagegen

 Schleiermacher 1994, §15.4., 52 (Anm. 4); vgl. Schleiermacher 2003, §8.4, 70 (Anm. 54).  Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen über die Kirchengeschichte, in: KGA II/6, hg.v. Simon Gerber, Berlin / New York 2006, 608, Z. 26 – 29.  Anderenfalls wären die Religionswechsel im Frühchristentum nicht verständlich. Vgl. Schleiermacher 2006, 547, Z. 27– 29 (Anm. 76). Ein äquivalenter Hinweis findet sich auch im Manuskript der Vorlesung über die kirchliche Geographie und Statistik (vgl. Schleiermacher 2006, 60 Z. 5 [Anm. 76]).  Vgl. Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen über die Lehre vom Staat, KGA II/8, hg.v. Walter Jaeschke, Berlin / New York 1998, 266 (Nachschrift Varnhagen) sowie Arnulf von Scheliha, „Die Beziehungen der Völker nach Schleiermachers Staatslehre“, ZNThG / JHMTh 12 (2005), 1– 15.  Schleiermacher 1994, §15.4., 52 (Anm. 4); vgl. Schleiermacher 2003, §8.4, 70 – 71 (Anm. 54).  Schleiermacher 2003, 71 §9.1, 77 (Anm. 54).  Schleiermacher 1994, §9.1, 77– 78 (Anm. 4).

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gelten Judentum und Christentum als ethische Religionen, wobei der Unterschied zwischen ihnen darin besteht, dass die ethische Zielbestimmung im Judentum „mehr in der Form von göttlichen Strafen und Belohnungen […] als unter der von Aufforderungen und Bildungsmitteln“⁸² vorgestellt wird, während es im Christentum das Reich Gottes das Ziel ist, auf das die sittliche Tätigkeit ausgerichtet ist. Das religionswissenschaftliche Schema der Glaubenslehre

Schleiermacher bewährt seine These von der Individualität der Religionen am religionsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen Judentum und Christentum durch eine komplexe historiographische Konstruktion. Seine Hauptthese ist eindeutig: „Das Christenthum ist ohnerachtet seines geschichtlichen Zusammenhanges mit dem Judenthum doch nicht als eine Fortsezung oder Erneuerung desselben anzusehen; vielmehr steht es […] mit dem Judenthum in keinem anderen Verhältniß als mit dem Heidenthum.“⁸³ Der unmittelbare religionsgeschichtliche Zusammenhang zwischen dem Auftreten Jesu und dem Judentum bildet zwar den Ausgangspunkt. Jesus ist Jude, aber er vertieft den vorgefundenen Monotheismus durch seine Erlösungstätigkeit. Er wendet die polemische Auseinandersetzung des jüdischen Monotheismus mit den externen Polytheismen gewissermaßen nach innen, indem er die inneren Widerstände gegen das höhere Selbstbewusstsein überwindet. Darin besteht seine erlösende Tätigkeit. Zuspitzend könnte formuliert werden: Während Judentum (und Islam) die religionsgeschichtlichen Übergänge in den Monotheismus repräsentieren, hat das Christentum  Schleiermacher 2003, §9, 79 (Anm. 54).  Schleiermacher 1994, §22, 88 Leitsatz (Anm. 4).

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den Übergang in die Religion selbst internalisiert und reflektiert die zu diesem Übergang gehörenden Pole im Antagonismus von Sünde und Gnade. Der Begriff der Erlösung wird förmlich definiert als „Uebergang aus einem schlechten Zustande, der als Gebundensein vorgestellt wird, in einen bessern“⁸⁴. Auch die ethische Seite des Christentums wird in der zweiten Auflage der Glaubenslehre als Übergang beschrieben: Danach geht die fromme Erregung, „von einem leidentlichen Zustande aus[]“ und endet im „Bewußtsein eines Ueberganges zur Thätigkeit“⁸⁵. Das Christentum, so könnte man sagen, hat damit denjenigen Übergangscharakter, der von Schleiermacher für die empirische Beschreibung der Religionen veranschlagt wird, strukturell internalisiert und als religiös-sittliches Bewusstsein kultiviert. Christliches Erlösungsbewusstsein ist verstetigte Übergangsreflexion. Hier schimmert die These aus der fünften Rede Über die Religion durch, nach der das Christentum „die Religion der Religionen“⁸⁶ ist. Die historische Verbindung zwischen Jesus und dem Judentum aber wird von Schleiermacher in doppelter Weise wieder aufgelockert. Zunächst deutet Schleiermacher das zeitgenössische Judentum Jesu als ein vielspältiges Phänomen. Diese Binnenpluralität ist für ihn Folge des Eindringens des Hellenismus nach dem babylonischen Exil. Umgekehrt sieht Schleiermacher den griechischen Hellenismus in urchristlicher Zeit philosophisch im Übergang zum Monotheismus begriffen⁸⁷, so dass er seine These von der Äquidistanz gewissermaßen über Kreuz abstützt. Den Monotheismus findet das Christentum direkt im Judentum und indirekt im Hellenismus. Der direkte Übergang des Christentums in die griechisch-römische Welt ist durch den hellenistischen Einfluss im Judentum indirekt vorbereitet. Der empirische Übergangscharakter der beiden religionsgeschichtlichen Vorgänger ist die historiographische Voraussetzung für Schleiermachers These von Äquidistanz des Christentums zu Judentum und Heidentum:⁸⁸ Die kurze Zusammenfassung dieses Abschnittes nimmt zunächst den Einwand vorweg, dass der größte Mangel von Schleiermachers Theorie der religiösen Pluralität im Grad ihrer empirischen Sättigung besteht. Für das Judentum fehlte Schleiermacher das Interesse, vom Islam hatte er keine eigene Anschauung. Gleichwohl gelingt es ihm mit seinem Raster, den individuellen Eigenstand der Religionen und damit die basale Differenz zwischen den Religionen zu denken und zugleich evidente Gemeinsamkeiten zu identifizieren, die sodann wieder in Differenzen zerlegt werden. Zugleich ist sein Schema offen für historische Interdependenzen zwischen den Religionen und für eine Autopoiesis der Religionen unter dem Einfluss veränderter kultureller Rahmen-

 Schleiermacher 2003, §11.2, 95 – 96 (Anm. 54).  Schleiermacher 2003, §9.1, 79 (Anm. 54).  Schleiermacher 1984, 310 (Anm. 2).  „Eben so war auf der andern Seite das Heidenthum auf mannigfaltige Weise monotheistisch vorbereitet, und durch die vielen vergeblichen Versuche in demselben auf eine neue Gestaltung der gottesdienstlichen Dinge auf das äußerste gespannt“ (Schleiermacher 1994, §22.1, 88 [Anm. 4]).  Vgl. Schleiermacher 2003, §8.4, §12.2, 103 – 104 (Anm. 54).

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bedingungen. Das Übergangstheorem öffnet das Schema zugunsten empirischer Konstellationen und Veränderungen.

III Eine Gesellschaft mit einer pluralen Religionskultur heutigen Zuschnitts konnte sich Schleiermacher nicht vorstellen. Gleichwohl geht er in seiner Staatslehre nicht mehr von einer Einheit von Staat, Volk und Religion aus. In Fortschreibung der reformatorischen Lehre von den zwei Regierweisen Gottes spricht er davon, dass es im Staat „eine Tendenz […] zur völligen GlaubensFreiheit“⁸⁹ geben muss. Er konzediert zwar, „daß unchristliche Religion und unchristliches Wissen keine dem Staat günstige und wünschenswerthe Gesinnung zulasse“⁹⁰. Aber ihm ist klar, „daß man die religiöse Uniformität jetzt in keinem Staat von größerem Umfang erhalten kann“⁹¹. Insofern geht er von einer gewissen Pluralität der Religionskultur aus. Schon aus den frühen Briefen bei Gelegenheit […] des Sendschreibens jüdischer Hausväter (1799) wird deutlich, dass Schleiermacher religiöse Pluralität lieber ist als ein durch politischen Druck zur Konversion erzwungener religiöser Synkretismus.⁹² Relativ breit allerdings erörtert Schleiermacher die politischen Kautelen, die bei der Einhegung von religiöser Pluralität gelten sollen. Interessant ist dabei die von ihm verwendete Grundkategorie des Vertrauens, das der Staat in die sozialen Humanressourcen und umgekehrt die Religionen in den Staat und die bürgerliche Freiheit, die er gewährt, haben müssen. Misstrauen indes entsteht zum Beispiel, wenn religiöse Differenzen in das Verhältnis von Regierung und Volk hineingespielt werden⁹³, wenn eine Religion einer auswärtigen Regierung gegenüber verpflichtet ist⁹⁴ oder wenn die bestehende Staatsform aus religiösen Gründen abgelehnt wird⁹⁵. Dann wären die Grenzen der Glaubensfreiheit erreicht. Freilich diskutiert Schleiermacher diese Kautelen ausführlich und zwar so, dass ihre Anwendung stets nur nach Abwägung aller Umstände erfolgt und dass – wie er mit Blick auf die Katholiken einräumt – auch Revisionen möglich sind. Entscheidend ist die Einsicht, dass „die höchste Gewalt […]

 Schleiermacher 1998, 104, Z. 32– 33 (Anm. 78).  Schleiermacher 1998, 107, Z. 23 – 24 (Anm. 78).  Schleiermacher 1998, 107, Z. 30 – 32 (Anm. 78).  Vgl. Richard Crouter / Julie Klassen (Hg.), A Debate on Jewish Emancipation and Christian Theology in Old Berlin. David Friedländer, Friedrich Schleiermacher, Wilhelm Abraham Teller, Indianapolis, 2004.  Vgl. Schleiermacher 1998, 614, Z. 1– 8 (Anm. 78).  Vgl. Schleiermacher 1998, 619, Z. 24– 30 (Nachschriften Hess und Willich) (Anm. 78). Dass dieses Argument nicht ganz absurd ist, zeigen die aktuellen Diskurse um die in Deutschland tätige TürkischIslamische Union der Anstalt für Religion e.V. (DITIB), die wegen ihrer engen Verbindung mit dem Präsidium für religiöse Angelegenheiten der Türkei von den staatlichen Ebenen in Deutschland derzeit nicht als eine den christlichen Kirchen vergleichbare Religionsgemeinschaft, sondern als Repräsentantin der türkischen Regierung angesehen wird.  Vgl. Schleiermacher 1998, 619, Z. 6 – 24 (Nachschriften Hess und Willich) (Anm. 78).

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gebunden ist an ein solches Bekenntniß aus welchem keine Intoleranz hervorgehen kann.“⁹⁶ Dieses Toleranzgebot hat Schleiermacher in einigen politischen Predigten ausgeführt, Toleranz dabei als eine sittliche Tugend ausgewiesen und damit der Möglichkeit eines gesellschaftlichen Pluralismus den gedanklichen Weg geebnet.⁹⁷ Sehr strikt wird dem Einfluss des Staates auf die religiöse Gesinnung eine klare Grenze gezogen. Dabei argumentiert Schleiermacher nicht menschenrechtlich, sondern güterethisch.⁹⁸

IV Angesichts seiner konkreten und eher abwertenden Aussagen über Judentum und Islam ist es umso erstaunlicher, „daß Schleiermacher überhaupt und mit welcher Konsequenz er die religiöse Pluralität in die Grundlegung seiner Religionsphilosophie eingestellt hat“⁹⁹. Durch Kombination von zeitdiagnostischen, religionstheoretischen, geschichtsphilosophischen und dogmatischen Argumenten gelangt er in den Vorhof einer religionswissenschaftlichen Theorie der Religionen, deren methodische Grundeinsichten noch gegenwärtig von Bedeutung sind und die auch den gegenwärtigen Religionstheologien wichtige Einsichten zu vermitteln vermögen. So wird Schleiermachers These von der historischen Individualität aller Religionen auch dann noch zu verteidigen sein, wenn wir heute in der Religionsgeschichte mehr Gegenläufiges, mehr Synkretismus und mehr Hybride veranschlagen. Bleibende Bedeutung hat die Einsicht, der eigenen religiösen Partikularität eingedenk zu sein und daraus die hermeneutische Maxime abzuleiten, das Verständnis des Eigenen am Ort des Anderen durch das Verstehen der Religionen zu vertiefen. Schleiermachers Religionsbegriff enthält eine Anleitung zur vertieften Differenzhermeneutik. Aus diesem Grunde ist es abwegig, Schleiermachers Religionstheorie als „inklusivistische Religionstheologie“¹⁰⁰ zu charakterisieren. Die These, dass „das Christentum das Selbstbewusstsein der Religion“¹⁰¹ darstellt, verdient volle Zustimmung. Aber das begründet keineswegs „die religionstheologische Höchstgeltung des Christentums“¹⁰² oder gar die Auffassung, dass das Christentum diejenige Religion ist, die „die anderen  Schleiermacher 1998, 621, Z. 21– 22 (Nachschriften Hess und Willich) (Anm. 78).  Vgl. Arnulf von Scheliha, Protestantische Ethik des Politischen, Tübingen 2013, 113 – 118.  Diese Güterethik versteht er als eine Transformation der reformatorischen Lehre von den zwei Regierweisen Gottes. Vgl. Arnulf von Scheliha, „Friedrich Schleiermacher als politischer Prediger“, in: Geist und Buchstabe. Interpretations- und Transformationsprozesse innerhalb des Christentums, hg. v. Michael Pietsch / Dirk Schmid, Berlin / Boston 2013, 155 – 175, bes. 172– 175.  Schröder 2000, 608 (Anm. 6).  Vgl. König 2016, 450 (Anm. 5).  König 2016, 461 (Anm. 5).  König 2016, 461 (Anm. 5). Auf 462 spricht Christian König vom Christentum „als die höchstmögliche Religion überhaupt“.

Schleiermacher als Denker von Pluralität

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Religionen […] in modifizierter Gestalt in sich zu integrieren“¹⁰³ sich anschickt.¹⁰⁴ Um es kurz zu sagen: Der Reflexionsmehrwert, den Schleiermacher dem Christentum zumisst, begründet keine höher geltende Wahrheit. Vielmehr zeichnet sich Schleiermachers Religionstheorie dadurch aus, dass er die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit beziehungsweise Irrtum von ihr fern hält und trotz der unbestreitbaren, aber ganz im Idealen gehaltenen Affirmation des Christentums die differenzierte Heterogenität der religiösen Vielfalt und den Selbststand noch so partikularer Anschauungen des Universums betont. Es ist Schleiermachers begrenztem Erkenntnisinteresse zuzurechnen, dass er wenig Mühe darauf verwendet hat, Judentum und Islam dieses vertiefte Interesse entgegenzubringen. Aber möglicherweise haben sich in beiden Religionen entscheidende Entwicklungen erst im späteren 19. Jahrhundert vollzogen. Noch bei Abraham Geiger, also eine gute Generation nach Schleiermacher, bleibt die ethische Seite des Judentums unbetont. Das Programm „Das Judentum als ethische Religion“ findet sich profiliert erst bei Hermann Cohen.¹⁰⁵ Von der inneren Pluralisierung des Judentums, die sich im 19. Jahrhundert vollzog, konnte Schleiermacher nichts wissen. Eine solche Entwicklung könnte auch für den Islam gelten, dem wäre historisch nachzugehen. Schleiermacher ist dafür kritisiert worden, dass die „Zuordnung des Islam zu Sinnlichkeit, Fatalismus und Passivität“ nur ein Klischee wiedergibt.¹⁰⁶ Das mag stimmen. Aber man sollte weder die oben genannten positiven Einschätzungen, die Schleiermacher hinsichtlich der Kulturleistungen des Islam gibt, übersehen noch die Tatsache, dass es im gegenwärtigen Islam selbstkritische Diskurse über die sinnliche Gegenständlichkeit bestimmter religiöser Vorstellungen gibt, in denen auf die ethische Ausrichtung der Religion abgestellt wird.¹⁰⁷ Daher könnte man Schleiermachers Ein-

 König 2016, 463 (Anm. 5).  Die Belege, die Christian König dafür anführt, vermögen diese Interpretation nicht zu stützen und die gegenläufigen Stellen, insbesondere diejenigen, die auf die Offenheit der Religionsgeschichte verweisen, werden von ihm unterdrückt (vgl. König 2016, 463 [Anm. 5]). Seine Höchstgeltungsthese gewinnt Christian König durch die Anwendung von dogmatischen Kategorien, wenn er etwa beim Widerstreben des Endlichen gegen das Unendliche vom „notwendigen Verblendungszusammenhang“ (460) oder von „natürliche[r][…] Täuschung“ (460) spricht, den Gottesgedanken theistisch zuspitzt („Gottes universal-versöhnendes Erlösungshandeln“ [460]) und den Begriff der Wahrheit, den Schleiermacher kategorial fern hält, in dessen Theorie hineinliest (vgl. 463 – 464).  Vgl. Arnulf von Scheliha, „Kants Deutung von Judentum und Islam – Kant in der Deutung von Judentum und Islam“, in: Bibelhermeneutik und dogmatische Theologie nach Kant, hg.v. Harald Matern u. a., Tübingen 2016, 153 – 171.  Vgl. Bertold Klappert, „Friedrich Schleiermachers Verständnis von Islam, Judentum und Christentum“, in: Reden über die Religion. 200 Jahre nach Schleiermacher. Eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Schleiermachers Religionskritik, hg.v. Friedrich Huber, Neukirchen-Vluyn 2000, 116 – 163, hier 144.  Vgl. exemplarisch Mouhanad Khorchide, Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion, Freiburg i.B. 2012; Hamideh Mohagheghi / Klaus von Stosch (Hg.), Moderne Zugänge zum Islam. Plädoyer für eine dialogische Theologie, Paderborn 2010; Tariq Ramadan, Radikale Reform. Die Botschaft des Islam für die moderne Gesellschaft, München 2009.

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sichten nicht in der Sache, aber methodisch so aufgreifen, dass man – wie am Beispiel der jüdischen Haskala deutlich wird – mit wechselseitigen Einflussnahmen der Religionen und Kulturen aufeinander rechnet, und dies nicht nur in der Formierungsphase einer Religion. Daher wäre die Religionskritik, die Schleiermacher an Judentum und Islam anbringt, nicht unmittelbar als apologetisch abzutun, sondern als Einstieg in eine vertiefte Beschäftigung mit diesen Religionen, deren Ergebnis darin bestehen könnte, dass sich die von Schleiermacher inkriminierten Aspekte als Gegenstand kritischer Diskurse in diesen Religionen selbst identifizieren lassen. Schließlich: Bei allem Respekt vor den anderen Religionen wird man auch in einer befriedeten Religionskultur nicht auf die klassischen Topoi der Religionspolemik und Religionskritik verzichten wollen. Für die Religionspolemik gibt es im Judentum und Islam ein bewährtes Arsenal, wenn man an die kritische Auseinandersetzung mit Christologie und Trinitätslehre denkt. Im Rahmen einer aufgeklärten Religionskultur scheint es wichtig zu sein, dass alle Religionen lernen, sich nicht nur mit religiöser Pluralität zu arrangieren, sondern auch mit der säkularen Außenperspektive auf sich. Diese wird nicht nur durch die wissenschaftliche Vernunft, sondern auch durch die öffentliche Meinung oder die Kunst repräsentiert. Nicht so sehr am Umgang mit der Religionspolemik, sondern am Umgang mit Religionskritik zeigen sich Liberalität und Pluralismusfähigkeit einer Religion.

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Toleranz, Intoleranz und Reformgedanken in der arabischen Moderne Eine Annäherung

1 Zur Einleitung Im Rahmen einer jährlich stattfindenden Kulturwoche, die das Institut für Philosophie und Soziologie zu Beginn der 1990er Jahre an der Universität Damaskus veranstaltete, stellte und diskutierte der kürzlich verstorbene syrische Philosoph Ṣādiq Ǧalāl alʿAẓm (1934– 2016) die virulente Frage, ob der Islam säkularisierbar sei. Seine Frage entwickelte sich vor dem Hintergrund seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Orientalismus, mit den islamistischen Bewegungen und mit den autoritären Regimen in der arabischen Region.¹ Seine Argumentationslinie wurde in seiner Tübinger Rede von 2004 Islam und säkularer Humanismus ² weiter reflektiert und vertieft. Dabei entwarf er zwei gegensätzliche Antworten, die hier kurz skizziert werden sollen: die Vereinbarkeits- und die Unvereinbarkeitsthese. Die Unvereinbarkeitsthese leugnet in radikaler Weise die Säkularisierungsmöglichkeit des Islams beziehungsweise der arabischen und muslimischen Gesellschaften. Diese These, wie sie zum Beispiel von Ernest Gellner vertreten wird, behauptet, dass der Islam von „Innen“ her nicht säkularisierbar sei.³ Für al-ʿAẓm operiert eine derartige Behauptung zugleich mit einem essentialistischen Verständnis des Islams sowie mit einer kulturalistischen Vorstellung des Eigenen – eine Vorstellung, die die „Besonderheit“ einer Kultur in den Vordergrund stellt. Diese These werde paradoxerweise sowohl von den islamischen Fundamentalisten als auch von einigen Orientalisten vertreten.⁴ Al-ʿAẓm bezeichnet die Unvereinbarkeitsthese als „eine Gegenreaktion in Gestalt einer Gegen-Reformation“⁵ und sieht in der Muslimbruderschaft in Ägypten in den 1920ern den Beginn einer solchen Gegen-Reformation. Die Vereinbarkeitsthese stützt sich auf die grundsätzliche Prozesshaftigkeit des Sozialen und die geschichtliche Dynamik der arabischen Gesellschaften. Sie hebt hervor, dass eine Universalisierbarkeit der Werte nur in historischer Perspektive zu verankern sei. Das Streben nach einer Vereinbarkeit von Islam und Laizität ist mit der  Vgl. Ṣādiq Ǧalāl al-ʿAẓm, al-ʿAlmāniyya wa-l-muǧtamaʿ al-madanī, Beirut 1998, 4– 5, 19 – 22.  Sadik Jalal al-Azm, Islam und säkularer Humanismus, übers. v. Alexandra Riebe, Tübingen 2005. Zu dieser Debatte siehe auch: Sadik Jalal al-Azm, „Is Islam secularizable?“, Jahrbuch für Philosophie des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover VII (1996), 15 – 24.  Vgl. al-Azm 2005, 32 (Anm. 2).  Vgl. al-Azm 2005, 27 (Anm. 2).  al-Azm 2005, 24 (Anm. 2). https://doi.org/10.1515/9783110569520-005

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arabischen Renaissance (nahḍa) im 19. Jahrhundert in Gang gesetzt worden; Armut, Analphabetismus, wirtschaftliche Rückständigkeit und koloniale Herrschaft seien in diesem Streben wie soziale „Krankheiten“, die man jedoch behandeln könne.⁶ AlʿAẓm bringt seine These wie folgt zum Ausdruck: Die Araber fragen sich seit mindestens 150 Jahren, auf verschiedene Arten und Weisen, was die Implikationen und praktischen Folgen diese [sic!] Frage [nach der Vereinbarkeit] für sie und für ihr Verhältnis zum Rest der Welt sein könnten. So ist zum Beispiel allgemein bekannt, daß im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts eine starke liberale Reform im arabischen Leben und Denken einsetzte. Für diese Bewegung gibt es in der arabischen Welt wie unter westlichen Gelehrten eine Reihe von Bezeichnungen: Erwachen, Renaissance, religiöse Reformation, das liberale Experiment, muslimischer Modernismus, das liberale Zeitalter des neuzeitlichen muslimischen Denkens und andere mehr. Und in der Tat ist diese Bewegung vieles in einem: Theologisch-juristische Reformation, literarisch-intellektuelle Renaissance, rational-wissenschaftliche Aufklärung und politische-ideologisches aggiornamento. Wer sich heute von dieser großen Reformbewegung inspirieren lässt, wer sich selbst in ihrer Nachfolge stehend sieht und sich als Erbe ihrer intellektuellen, gesellschaftlichen und religiösen Errungenschaften begreift, wird kein Problem damit haben, Fragen wie die folgenden zu beantworten: Sind Islam und säkularer Humanismus kompatibel? Sind Islam und Moderne kompatibel? Die Antwort wäre in den beiden Fällen ein kategorisches und fragloses Ja.⁷

Das Anliegen ist im Folgenden nicht die Thesen von al-ʿAẓm zu diskutieren, sondern es gilt hier lediglich das Motiv der Reform beziehungsweise der Reformation herauszugreifen. Al-ʿAẓm selber versteht sich als Philosoph, der einerseits in der Tradition der europäischen Reformation und Aufklärung steht; und andererseits liegen seine denkerischen Wurzeln in der arabischen Renaissance und Aufklärungsbewegung im 19. Jahrhundert. Daran anknüpfend wird die arabische Moderne zunächst als Modernisierungsprozess in wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bereichen bezeichnet, der nicht zuletzt auch die Modernisierung der arabischen Sprache beinhaltet. Die Bezeichnung „Gegenreformation“, für die die Muslimbruderschaft und ähnliche Bewegungen als treibender Motor islamistischen Gedankenguts gelten, wurde von al-ʿAẓm eingeführt. Betrachtet man nun die reformistischen Diskurse um die Wende zum 20. Jahrhundert, stellt man fest, dass sowohl die religiöse als auch die säkulare Reformbewegung als reformistisch bezeichnet wurden. Das Narrativ der Reform wurde bereits um die Wende zum 20. Jahrhundert von ihren Protagonisten selbst verwendet, die sowohl der theologisch-islamischen wie der säkularen Reformbewegung angehörten. Und es lässt sich sogar eine Art Konkurrenz um die Idee der Reform dieser beiden Richtungen beobachten, die an zwei Beispielen einer kleinen Luther-Rezeption deutlich werden.⁸ Denn die Idee der Reform war

 Vgl. al-Azm 2005, 26 (Anm. 2).  al-Azm 2005, 23 – 25 (Anm. 2).  Neben der Luther-Rezeption im arabischen Kontext wird auch die Frage behandelt, ob der moderne Islam eine Reform bzw. einen „Luther“ benötigt. Zu dieser Diskussion siehe z. B. Eugene R. Sensening,

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durchaus auch im arabischen Kulturkontext eng mit den reformatorischen Ereignissen in Europa verbunden. Das eine Beispiel findet sich bei al-Afġānī, einem – gemessen an der damaligen theologischen Situation – muslimischen Reformisten: Wenn wir nach dem Grund fragen, warum es Europa möglich wurde, von der Barbarei zur Zivilisation überzugehen, dann müssen wir an Luthers Reformationsbewegung denken. Dieser große Mann hat gesehen, dass die Völker Europas irre Wege gegangen sind, weil sie so lange unter der Herrschaft der Kleriker standen und unter Sitten, die mit der Vernunft nichts zu tun haben, litten. Und durch die Konkurrenz zwischen den beiden Bewegungen [gemeint sind Katholiken und Protestanten] ist die moderne Zivilisation entstanden, die wir [als Muslime] sehen und bewundern.⁹

Šiblī Šumayīl, ein ägyptischer Arzt und Darwin-Übersetzer, seines Zeichens Atheist, sieht sogar eine befreiende Wirkung von der Reformation hin zur französischen Revolution: Ohne die religiöse Revolution, die von Luthers Lehre ausging, würden wir meiner Meinung nach nicht wissen, in welchem Ausmaß der Mensch in Europa degradiert worden ist. Im Vergleich zu anderen theologischen Lehren, schränkt Luthers Lehre die Vernunft am wenigsten ein. Und wenn wir nach den Ursachen der französischen Revolution suchen, die der Welt den Weg zum Fortschritt bereitet hat, müssen wir erkennen, dass Luthers Revolution dieser Revolution den Weg geebnet hat.¹⁰

Im Kontext dieser arabischen Reformbewegung, die, wie vorher angedeutet, auch in Zusammenhang mit der europäischen Reformation und Aufklärung steht, findet seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als eines ihrer Teilgebiete, eine Debatte um Toleranz und Intoleranz statt. Interessant ist in diesem Kontext, dass die Debatte um Toleranz und Intoleranz in der arabischen Moderne bereits eine globale Dimension hatte: sie findet in Nord- und Lateinamerika (libanesische und syrische Diaspora), im Pariser Exil und in islamisch geprägten Regionen wie Ägypten, Syrien, Tunesien, dem Libanon und Indien statt. Sie ist öffentlich und wird von unterschiedlichen Autoren (Philosophen, Essayisten, Reformisten, Literaten, Journalisten) polemisch geführt. Ist diese globale Dimension freilich eine innerhalb arabischsprachiger Autoren, so sind diese Texte insbesondere deswegen so spannend und aufschlussreich, weil sie in Konfrontation und Auseinandersetzung mit der europäischen Moderne entstehen und

„A Turk by Any Other Name: Michael Sattler, Martin Luther, the Radical Reformation, and the Middle East“, The Near East School of Theology. Theological Review 37, 1&2 (2016), 51– 68; Tarif Khalidi, „Does Islam Need a Martin Luther?“, The Near East School of Theology. Theological Review 38,1 (2017), 65 – 74 sowie Hāšim Ṣāliḥ, Maḫāḍāt al-ḥadāṯa al-tanwīriyya, Beirut 2008, 253 – 258.  So Ğamāl ad-Dīn al-Afġānī, zitiert im Vortrag von Muḥammad Ḥaddād zum Thema Luther und der islamischen Reformation im Rahmen der Veranstaltung Fünf Jahrhunderte nach Luthers Tod am 30.11. 2016 in Tunis, online unter: www.mominoun.com, zuletzt aufgerufen am 07.03.18. Soweit nicht anders vermerkt, stammen alle Übersetzungen vom Verfasser (S.D.) selber.  So Šiblī Šumayīl, zitiert bei Ḥaddād 2016 (Anm. 9).

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in Form von Übersetzungen und Begriffsschöpfungen einen Wissenstransfer vornehmen, der über den arabischen Raum hinausweist. Diese Debatte hat bis heute an ihrer Aktualität nichts verloren. Der Ausgangspunkt hier ist zunächst ein historisch-philologischer: Wie werden die Begriffe „Toleranz“ und „Intoleranz“ Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhundert verwendet? Aus der Fülle von Texten wird sich hier vor allem auf die Überlegungen von Adīb Isḥāq, Ğamāl ad-Dīn al-Afġānī, Muḥammad ʿAbduh sowie Amīn ar-Rīḥānī gestützt und andere Autoren mit kurzen Seitenblicken in die Analyse miteinbezogen. Historisch betrachtet gibt es eine semantische Verschiebung: Was wir heutzutage im Arabischen Toleranz (tasāmuḥ) und Intoleranz (lā-tasāmuḥ und taʿaṣṣub) nennen, entspricht eigentlich nicht dem, was die Autoren vor circa eineinhalb Jahrhunderten unter den jeweiligen Begriffen verstanden haben. Im ersten Teil und zweiten Teil wird eine historisch-philologische und begriffliche Rekonstruktion der Verwendungsweisen von Toleranz und Intoleranz vorgenommen. Der dritte Teil wendet sich en detail der agnostischen Auffassung der Toleranz des libanesischen Autor ar-Rīḥānī zu. Dabei wird auf seine Kritik der religiösen Intoleranz eingegangen und gezeigt, inwiefern Toleranz und Skeptizismus zusammenhängen. Somit wird deutlich, in welchem Sinne ar-Rīḥānīs Skeptizismus die Pluralität von Meinungen nicht nur vorrausetzt, sondern auch möglich macht.

2 Zur Begriffsklärung von „Toleranz“ in der arabischen Moderne 2.1 Toleranz als tasāhul Obwohl es ein Phänomen wie Toleranz oder die Forderung nach etwas wie Toleranz in unterschiedlichen Kulturen und Sprachen gibt, so sind die Sprachen und kulturellen Kontexte so verschieden, dass eine Entsprechung, Übertragung und Übersetzung nicht selbstverständlich ist, das heißt es geht nicht nur um Worte, sondern um die Beleuchtung der unterschiedlichen Schattierungen der Konzepte und Erfahrungszusammenhänge, die sich hinter den Wörtern verbergen.¹¹ Bezogen auf die Kultur des Islams kann man von einer vorherrschenden Konzeption der Toleranz sprechen, die vor allem in einer theologisch-juristischen Perspektive – das heißt vor dem Hintergrund der islamischen Jurisprudenz (fiqh) und der islamischen Geschichtsschreibung – verständlich wird. Sie orientiert sich hauptsächlich an der Frage nach dem Status der Andersglaubenden beziehungsweise der Nicht-Muslime (ḏimmī) – innerhalb einer

 Zum Toleranz-Begriff, seiner Geschichte und seinen Erscheinungsformen in interkultureller Perspektive vgl. Hamid Reza Yousefi / Harald Seubert (Hg.), Toleranz im Weltkontext. Geschichten – Erscheinungsformen – Neue Entwicklungen, Wiesbaden 2013.

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islamischen Gesellschaft.¹² Unter den verschiedenen theologisch-juristischen Positionen bietet sich beispielsweise das Millet-System im osmanischen Reich an, um eine reformierte Konzeption einer islamischen Toleranzkonzeption im 19. Jahrhundert zu behandeln.¹³ Dieser Beitrag nähert sich jedoch solchen Diskursen über Toleranz an, die, wenngleich sie in islamisch geprägten Gesellschaften entstanden sind, dieses Paradigma überschreiten. Diese Überschreitung geschieht dabei in Form eines Transferprozesses zwischen „Europa“ und der „arabischen Welt“. Der europäische Begriff der „Toleranz“ wird auf unterschiedliche Art und Weise in der arabischen Moderne interpretiert und angeeignet. Man kann zwei wichtige Phasen im Prozess der Aneignung unterscheiden, die anhand einer sehr knappen historisch-philologischen Rekonstruktion der Auseinandersetzung mit der Übersetzung von tolérance gezeigt werden sollen. Bei den zwei Phasen handelt es sich um zwei Lesarten beziehungsweise zwei unterschiedliche Übersetzungen, wobei sich die erste Lesart nur tentativ, die zweite flächendeckend durchgesetzt hat. Zur ersten Phase und Lesart: Die bisherigen Recherchen zeigen, dass Adīb Isḥāq einer der ersten arabisch-sprachigen Autoren ist, der versucht hat, das französische Wort tolérance mit tasāhul zu übersetzen¹⁴. In seiner entscheidenden Rede, die er 1874 vor der Zahrat al-adāb Gesellschaft (Gesellschaft „Blume der Literaturen“) in Beirut gehalten hat, reflektiert Adīb Isḥāq über den Zusammenhang von taʿaṣṣub (Intoleranz) und tasāhul (Toleranz). Er schreibt: Das Wort taʿaṣṣub (Intoleranz) wird im arabischen Sprachgebrauch für einen Exzess im Glauben und im Meinen verwendet bis hin zur parteiischen Ablehnung derjenigen, die eines anderen Glaubens und einer anderen Meinung sind. Hingegen verwende ich das Wort tasāhul (Toleranz) im Sinne der gemäßigten Haltung (iʿtidāl) in der Lehre und im Glauben und folge dabei den Europäern (ifranğ) in ihrer Verwendung des Wortes Toleranz (tolérance).¹⁵

Drei kurze Anmerkungen seien hier eingefügt, die die Problematik der Übersetzung unterstreichen sollen: ‒ Erstens muss hier festgehalten werden, dass Adīb Isḥāq die beiden Wörter in einen Gegensatz stellt, also die in der Gegenüberstellung von Toleranz und Into-

 Vgl. Adel Theodor Khoury, Toleranz im Islam, München 1980, 96 – 102.138 – 149; Gudrun Krämer, Demokratie im Islam: Der Kampf für Toleranz und Freiheit in der islamischen Welt, München 2011, 125 – 141; Hassan el-Zein, Les conditions juridiques des Juifs et des Chrétiens en pays d’Islam jusqu’à la Conquête Ottomane, Beirut 2017, 35 – 100; sowie Stephan Kokew, Annäherung an Toleranz. Ausgangspunkte, Kontexte und zeitgenössische Interpretationen des Toleranzbegriffs aus dem schiitischen Islam, Würzburg 2014, 21– 34.  Vgl. Michael Walzer, On Toleration, Yale 1997, 17– 18.40 – 43.114– 115 sowie Muṣbāḥ, „Mina at-tasāhul ilā al-ḫuṣūṣiyya at-taqāfiyya“, in: at-Tanwīr wa-at-tasāmuḥ wa-tağdīd al-fikr al-ʿarabī, hg.v. Beit al-Hikma, Tunis 2007, 319 – 390.  Vgl. Muṣbāḥ 2007, 345 (Anm. 13).  Adīb Isḥāq, „at-Taʿaṣṣub wa-t-tasāhul“, in: al-Kitābāt as-siyāsiyya wa-l-iǧtimāʿiyya, Beirut 1982, 378 – 384, hier 378 – 379.

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leranz enthaltene Opposition als binäres System übernimmt, wobei im Arabischen die Negation nicht unbedingt enthalten ist. Das Wort taʿaṣṣub (Intoleranz) verfügt über ein eigenes semantisches Feld und ist im Arabischen ursprünglich nicht allein eine Negation und auch nicht zwangsläufig negativ konnotiert. Der arabische Ausdruck taʿaṣṣaba li-l-ḥaq in dem das Wort taʿaṣṣub in Form von einem Verb in der dritten Person verwendet wird, ist positiv besetzt und meint: für die Wahrheit/das Recht/das Wahre mit Eifer/Engagement/Leidenschaft Partei zu ergreifen. Zweitens ist Adīb Isḥāq sich bewusst, dass er mit der Transkription des französischen Wortes tolérance ins Arabische nicht nur eine Übersetzung schafft, sondern eine neue Verwendung des Begriffs einführt. Damit verlässt er das islamischtheologisch vorherrschende Paradigma, in dem die Toleranz häufig als Duldung der Nicht-Muslime verstanden wird. Tasāhul (Toleranz) impliziert im Allgemeinen ein flexibles Handeln im Umgang miteinander, das auf interpersonalen Beziehungen beruht. Die Rezeption der französischen Déclaration universelle des droits de l′homme et du citoyen steht im Hintergrund dieses Paradigmenwechsels, denn mit tasāhul wird eine Reziprozität vorausgesetzt, die davon ausgeht, dass alle Menschen gleich sind, wobei das Machtverhältnis zwischen denjenigen, die tolerieren und denjenigen, die toleriert werden, häufig asymetrisch bleibt. Drittens darf das Wort „Europäer“ im Zitat von Isḥāq nicht mit der heutigen Verwendung dieses Wortes verwechselt werden. Im Arabischen steht „ifranğī“ und nicht „ūrūbī“, was historisch in erster Linie die Franzosen und die Engländer meint und damit sind paradoxerweise sowohl die Kolonialherren als auch die „europäischen“ Christen gemeint.¹⁶

Adīb Isḥāq ist dabei keine Ausnahme. Die Terminologie at-tasāhul (als mehr oder weniger Synonym für das französische Wort tolérance) wird in unterschiedlichen Texten von arabischen Autoren Ende des 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhundert verwendet. Als Beispiele dient die Rede von Amīn ar-Rīḥānī über die „religiöse Toleranz“ (at-tasāhul ad-dīnī) in New York im Jahre 1900¹⁷ sowie die Auseinandersetzung zwischen Muḥammad ʿAbduh und Faraḥ Antūn zu Beginn des 20. Jahrhunderts¹⁸.

 Zur Bedeutung der Terminus „ifranğī“, was eigentlich eine arabische Transkription von dem Wort „Franken“ ist, siehe Ami Ayalon, Language and Change in the Arab Middle East. The Evolution of Modern Arabic Political Discourse, Oxford 1987, 16 – 19.24– 27.  Vgl. Amīn ar-Rīḥānī, „at-tasāhul ad-dīnī“, in: al-aʿmāl al-ʿarabiyya al-kāmīla. Ar-Rīḥānīyāt, Bd. 7, Beirut 1982, 44– 63.  Die Auseinandersetzung zwischen Faraḥ Anṭūn und Muḥammad ʿAbduh fand um 1900 in den Zeitschriften al-Manār und al- Ğāmiʿa statt. Aspekte dieser Auseinandersetzung wurden im Buch von Faraḥ Anṭūn, Ibn Rušd wa-falsafatuhu 1903 publiziert. Vgl. Faraḥ Anṭūn, Ibn Rušd wa-falsafatuhu, mit einer Einleitung von Ṭayyib Tīzīnī, Beirut 2007, 225 – 231.

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2.2 Toleranz als tasāmuḥ Zur zweiten Phase und deren Lesart: Innerhalb dieser zweiten Phase wird Toleranz durchgängig mit dem Wort tasāmuḥ erfasst. Diese Terminologie wurde bereits in den früheren Texten arabischer – sowohl christlicher als auch muslimischer – Autoren verwendet. Sie wurden jedoch nicht als Hauptbegriffe verstanden, sondern bildeten einen semantischen Zusatz. Eine explizite Begründung für die Verwendung von tasāmuḥ im Sinne von Toleranz wird erst 1936 von dem tunesischen Theologen Muḥammad aṭ-Ṭāhir Ben ʿĀšūr in seinem Beitrag at-tasāmuḥ in der ägyptischen Zeitschrift al-Hidāya dargestellt.¹⁹ In diesem Zusammenhang wird Toleranz als tasāmuḥ verstanden und entschieden, es als bessere Alternative für tasāhul zu benutzen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Legitimationsstrategie von Ben ʿAšūr, worauf hier kurz eingegangen werden soll. Der Autor betont, dass die Aneignung des Wortes tasāmuḥ für den islamischen Kontext besser funktioniere als bei dem Wort tasāhul. Denn mit dem Wort tasāhul wird der theologische Gehalt der Toleranz aus islamischer Perspektive neutralisiert. Obwohl der Autor die beiden Worte als Synonyme versteht, lehnt er tasāhul ab, weil die Religion als Grund der Differenz keine Beachtung findet und so tasāhul auch als „Laxismus“ verstanden werden kann. Somit sei tasāhul nicht in der Lage, die moralische Bedeutung von samāḥa im Sinne von Großzügigkeit und Gütigkeit des Islam gegenüber anderen Gläubigen wahrzunehmen.²⁰ Bei dem Wort tasāmuḥ handelt es sich um eine erweiterte Wortvariante der Grundform samuḥa, die im klassischen Arabisch im Sinne von „großzügig“, „freigiebig“, „gütig“, „offen- und weitherzig“ auftaucht.²¹ Es hat sich im modernen (heutigen) Arabisch im Sinne von „Toleranz“ durchgesetzt. In einer ideengeschichtlichen Perspektive verfügen wir über einen anderen früheren Text zum Thema Toleranz. Der Text wurde vermutlich 1919 von dem tunesischen Reformer ʿAbd al-ʿAzīz aṯ-Ṯaʿālubī verfasst und bildet ein Kapitel in seinem Buch La Tunisie Martyre. Es ist nicht mehr möglich, die Terminologie von Toleranz und Intoleranz im arabischen Original nachzuprüfen, da die französische Kolonialmacht das arabische Buch konfisziert und vernichtet hat.²² Es liegen für die Forschung eine französische Übersetzung²³ und darauf basierend eine arabische Rückübersetzung²⁴

 Der Beitrag ist auf Anfrage von Muḥammad al-Ḫiḍr Ḥussayn geschrieben worden und 1977 wieder als letztes Kapitel in: Muḥammad aṭ-Ṭāhir Ben ʿĀšūr, Uṣūl an-niḍām al-iǧtīmaʿī fī-l-islām, Tunis 1985, 226 – 235 aufgenommen worden.  Vgl. Ben ʿAšūr 1985, 226 – 227 (Anm. 19).  Vgl. Kokew 2014, 40 – 42 (Anm. 12).  Vgl. Aḥmad Ḫalīd, Dirāsa wa-muḫtārāt min al-aʿmāl al-kāmīla, Bd. 1, Tunis 2012, 233 – 234.  Vgl. Abdelaziz Thâalbi, La Tunisie Martyre , ses revendications, Paris 1920, 17– 18. Das Kapitel La tolérance et l’hospitalité tunisiennes wurde 1965 wieder publiziert.Vgl. Anouar Abdel-Malek, Anthologie de la littérature arabe contemporaine. Les essais, Paris 1965, 72– 75.  Vgl. ʿAbd al-ʿAzīz aṯ-Ṯaʿālubī, Tūnis aš-šahīda, Beirut 1988, 273 – 277.

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vor. Die französischen Wörter tolérance und intolérance werden jeweils mit at-tasāmuḥ und at-taʿaṣṣub rückübersetzt und in einer antikolonialen beziehungsweise nationalistischen Perspektive verwendet. In diesem Text wird tolérance nicht unbedingt auf einen religiösen Sinn beschränkt. Vielmehr wird sie in Zusammenhang mit Gastfreundschaft (hospitalité) gebracht und somit als Zeichen der Zivilität des tunesischen kolonialisierten Volkes verstanden. At-Taʿālubī unterstreicht in einem polemischen Ton, dass Tunesien ein Land des friedlichen Zusammenlebens von unterschiedlichen Religionen sei und dass es dort keine Religionskriege seit 1300 Jahren gegeben habe und dass alle Menschen gleich seien.

3 Zur Begriffsklärung von „Intoleranz“ in der arabischen Moderne 3.1 Positive Verwendung des Begriffes der Intoleranz: Taʿaṣṣub als „Gruppensolidarität“ Noch ein kurzer Blick auf die Konzeption von „Intoleranz“: Das arabische Wort taʿaṣṣub ist, wie bereits zuvor erwähnt, nicht unbedingt eine Negation der Toleranz (im Sinne von Intoleranz), sondern verfügt über seine eigene Semantik. Mit at-taʿaṣṣub werden zunächst Formen von Fanatismus beschrieben, die unter dem Begriff Intoleranz subsumiert werden. Allerdings wird at-taʿaṣṣub von al- Afġānī und ʿAbduh in der von ihnen in ihrem Pariser Exil herausgegebenen Zeitschrift al-ʿUrwā al-wuṭqā (1884) umgedeutet und im positiven Sinne verwendet. So wird zum Beispiel in ihrem Beitrag Über Intoleranz (1884) der Begriff taʿaṣṣub dem europäischen Begriff von Toleranz bewusst entgegengestellt und im Sinne einer Gruppensolidarität umgedeutet. Die beiden Autoren plädieren sogar für eine legitime Form von Intoleranz, verstanden als eine Form von Einheit beziehungsweise als einen Prozess der Vereinheitlichung. Taʿaṣṣub wird hier von ʿusba (Bund) abgeleitet und im Sinne von ʿaṣabiyya das heißt Zusammenhalt, Zusammengehörigkeitsgefühl und „Gruppensolidarität“ im Anschluss an den Gesellschaftstheoretiker Ibn Ḫaldūn (1332– 1406) interpretiert.²⁵ Die Bindung oder die Verbindung von Menschen wird dabei entweder durch Abstammungsverhältnisse (nasab) oder Nationalverhältnisse (rabiṭa ğinsiyya) legitimiert, wobei die beiden Autoren den Akzent auf die religiöse Einheit setzen, die sie als islamische Bindung (rabiṭa islāmiyya) verstehen. Diese Umdeutung des Begriffes von taʿaṣṣub kann exemplarisch am folgenden Zitat gezeigt werden: At-Taʿaṣṣub ist leidenschaftlich Partei zu ergreifen (al-ʿaṣabiyya). Die leidenschaftliche Parteinahme zählt zu den Substantiven adjektivischen Ursprunges, [und] bezieht sich auf [das Wort]

 Vgl. Ibn Khaldun, Die Muqaddima. Betrachtungen zur Weltgeschichte, übers. v. Alma Giese unter Mitwirkung von Wolfhart Heinrichs, München 2011, 143 – 150.

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Bund, das heißt die Stammesgenossenschaft (qawm) eines Menschen, welche ihn stärker macht und Unrecht und Feindseligkeit von ihm fernhält. At-taʿaṣṣub ist also ein Merkmal der menschlichen Seele, von welchem ein Sich-Erheben zum Schutze dessen, der mit ihr [das heißt mit der Seele; S.D.] verbunden ist, ausgeht, und ebenso das Verteidigen seines Rechtes, wobei die Ausprägungen [dieser] Bindung den Urteilen und den Kenntnissen der Seele folgen.²⁶

In diesem Zusammenhang kommt dem Intoleranzbegriff bei Al-Afġānī und ʿAbduh zwei Funktionen zu: Eine intrinsische und eine extrinsische. Innerhalb der ersten Funktion wird die Vereinheitlichung der Gesellschaft betont. Innerhalb der zweiten Funktion wird die Idee der Einheit einer Nation als Bedingung für den Widerstand gegen die Aggressionen kolonialer Mächte genannt – hier sind vor allem die Engländer gemeint. Neben dieser eher positiv konnotierten Bedeutung gibt es auch eine negative Bedeutung von taʿaṣṣub, die dann dem europäischen Intoleranzbegriff entspricht; sie wird häufig als Exzess und fanatische Haltung verstanden und bei Adīb Isḥāq und ar-Rīḥānī im religiösen, politischen und nationalen Sinne gedeutet.

3.2 Negative Verwendung des Begriffes der Intoleranz: Taʿaṣṣub als Intoleranz Es scheint, dass Adīb Isḥāq dem Begriff der Intoleranz im Arabischen wiederum eine neue Bedeutung zuschreibt, die den negativen Charakter dieses Begriffes in den Vordergrund stellt und sich somit von dem positiven Sprachgebrauch bei Ğamāl adDīn al-Afġānī und Muḥammad ʿAbduh distanziert. Dieses negative Verständnis von attaʿaṣṣub ist für die Auseinandersetzung mit der heutigen Kritik der Intoleranz unausweichlich. Bei Adīb Isḥāq wird der Akzent jedoch auf die individuelle Intoleranz gelegt; sie betrifft das Individuum sowohl in seinem privaten Leben als auch in seinem Verhältnis zu den anderen Menschen.²⁷ Die individuelle Intoleranz bezieht sich lediglich auf die Meinung eines Individuums zu bestimmten Themen.²⁸ Sie kann religiös, politisch oder national ausgerichtet sein. Er schreibt: Die Definition der Intoleranz in der zeitgenössischen Philosophie bezeichnet den Exzess in dem, was jemand für wahr hält; in seiner Übertreibung geht er sogar bis zu dem Punkt einer radikalen Ablehnung, er zwingt Menschen dazu, seine Meinung zu teilen und hindert sie daran, ihren Glauben zu zeigen; somit folgt er dem Drang, seine eigene Vollkommenheit zu behaupten und mithin die Unvollkommenheit Anderer zu zeigen.²⁹

 Muḥammad ʿAbduh / Ğamāl ad-Dīn al-Afġānī, „at-Taʿaṣṣub“, in: maǧmūʾat muʾallifīn, Aḍwāʾ ʿalā at-taʿaṣṣub, Beirut 1993, 23 – 40, hier 28.  Vgl. Nāṣīf Naṣṣār, „Fī naqd at-taʿaṣṣub“ in: Maǧmūʾat muʾallifīn 1993, 183 – 214, hier: 198 (Anm. 26). Der Artikel von Naṣṣār wurde zuerst 1988 in der Pariser Zeitschrift al-Minbar veröffentlicht.  Vgl. Naṣṣār 1993, 198 (Anm. 27).  Isḥāq 1982, 379 (Anm. 15).

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Hingegen wird bei ar-Rīḥānī das Thema der kollektiven Intoleranz stärker berücksichtigt. Dabei werden drei Dimensionen charakterisiert: eine religiöse, eine nationale und eine internationale Intoleranz (zum Beispiel koloniale Verhältnisse, Missionierung).³⁰ Das folgende Kapitel widmet sich dem libanesischen Autor ar-Riḥānī, der die Debatte um Toleranz und Intoleranz um 1900 maßgeblich geprägt hat.

4 Zur Auffassung der Toleranz bei ar-Rīḥānī Zunächst zum historischen Kontext. Es handelt sich um die erste Rede von ar-Rīḥānī auf Arabisch, die er dem Thema der „religiösen Toleranz“ (at-tasāhul ad-dīnī) widmete. Die Rede wurde am 9. Februar 1900 in New York auf Einladung der Gesellschaft der Jungen Maroniten (Ğamʿiyat aš-šubān al-mārūniyīn) gehalten und löste innerhalb kürzester Zeit heftige Debatten sowohl in der Diaspora als auch in Syrien und im Libanon, aber auch in Ägypten aus.³¹ Die Rede wurde 1910 in ar-Rīḥānīs wichtiger Artikelsammlung ar-Rīḥānīyāt aufgenommen und seitdem mehrmals publiziert.³² Obwohl ar-Rīḥānī ein Mitglied der Gesellschaft der Jungen Maroniten ist, spricht er als kritischer Geist und geht von einem philosophischen Standpunkt aus. Dabei geht es vor allem um eine philosophische Religionskritik, die sich zunächst mit der „religiösen Intoleranz“ (at-taʿaṣṣub ad-dīnī) auseinandersetzt, da die „Vertreter der Religionen“ (ruʿasāʿ al-adyān) nicht in der Lage seien, öffentlich mit dem Volk kritisch über die „Korruption“ der Religion, die im Lauf der Zeit entstanden ist, zu debattieren. Sie seien ebenfalls unfähig, über eine Reform der Religion zu sprechen, auch wenn sie die Reform untereinander als notwendig betrachten. Weiterhin betont ar-Rīḥānī, dass eine „öffentliche Reform der Religion“ (islāḥ ğahārī fī-d-dīn) ihre Interessen gefährden, ihre Macht schwächen und ihre Herrschaft ablehnen wird.³³

 ar-Rīḥānī 1982, 49 – 50 (Anm. 17).  Vgl. die Besprechungen von Rašīd Riḍā in: al-Manār 3 (1900), 33 – 38 sowie Faraḥ Anṭūn in: alĞāmiʿa 1 (1900), 733 – 734. Für Riḍā steht ar-Rīḥānī im Paradigma der europäischen Reformidee bzw. des französischen Fortschrittsgedankens. Ar-Rīḥānī leiste mit seiner Kritik der religiösen Intoleranz einen Widerstand gegen die Intoleranz des orientalischen Klerus – der genau wie der europäische katholische Klerus korrupt sei. Daraus resultiere ar-Rīḥānīs Plädoyer für eine Reform der Religion/en. Allerdings ist wichtig hervorzuheben, dass Reform (islāḥ) ein protestantisches Vorhaben ist. Denn Riḍā nennt die Protestanten Anhänger der Partei der Reform (Ḥizb al-iṣlāḥ). Anṭūns Standpunkt ist sowohl Lob als auch Kritik. Er stimmt mit ar-Rīḥānī überein, dass Toleranz eine Tugend sei und dass sie das einzige Prinzip sei, das es Menschen unterschiedlicher Religionen ermögliche, in Friede und Liebe zusammen zu leben. Dem Lob folgt die Kritik, die an drei Stellen angesetzt wird: am Prinzip der Toleranz, an ar-Rīḥānīs Definitionen von Toleranz und an den Gründen der Intoleranz im Orient.  Vgl. die Einleitung von Albert ar-Rīḥānī in: al-Aʿmāl al-ʿarabiyya al-kāmīla. Ar-Rīḥānīyāt, Bd. 7, Beirut 1982, 11– 13.  Vgl ar-Rīḥānī 1982, 45 (Anm. 17).

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Für die Legitimation seines philosophischen Standpunktes übernimmt ar-Rīḥānī die aufklärerische Argumentation von Jean-Jacques Rousseau im Gesellschaftsvertrag ³⁴. Denn für Rousseau müsse man nicht Politiker sein, um eine Abhandlung über Politik zu schreiben. Strukturell gelte dasselbe bezüglich der „religiösen Toleranz“ beziehungsweise „Intoleranz“. Für ar-Rīḥānī müsse man kein „Theologe“ sein, um das Thema der „religiösen Toleranz“ zu behandeln. Ar-Rīḥānī kritisiert die vorherrschende Intoleranz sowohl in seinem Heimatland beziehungsweise im Orient als auch innerhalb der internationalen Beziehungen, und zwar vor allem zwischen den europäischen Staaten und den „unzivilisierten“ sowie den „schwachen und kleinen Völkern“³⁵. Die erste Kritik, die hier als Selbstkritik zu erfassen ist, hebt die Relevanz einer kritischen Auseinandersetzung mit der „religiösen Intoleranz“ im Orient hervor. Die zweite Kritik, die im Zusammenhang der ständigen europäischen Missionierung und ihrer kolonialen Politik zu verorten ist, betrachtet ar-Rīḥānī als „internationale“ und „politische Intoleranz“³⁶. Ar-Rīḥānī unterscheidet zwischen drei Definitionen der Toleranz (verstanden als tasāhul). Die erste Definition ist allgemein gehalten und meint mit „Tasāhul, das Tolerieren von Jemandem, der mit mir im Konflikt steht“³⁷. Wichtig dabei ist das Motiv des „Konfliktes“ zwischen Menschen, das für eine Konzeption der Toleranz grundlegend und konstitutiv ist. Im arabischen Sprachgebrauch wird „Konflikt“ (ḫilāf), der auch „Streit“, „Verschiedenheit“, „Abweichung“, „Kontrast“, „Gegensatz“ und „Widerspruch“ bedeuten kann, von derselben Wurzel (ḫalafa) abgleitet wie das Wort „Differenz“ (iḫtilāf). Der Konflikt kann Überzeugungen, Verhalten und Einstellung der Menschen betreffen.Wenn diese Definition in der Sprache der Menschenrechte, die arRīḥānī bekannt war, zum Ausdruck gebracht wird, kann das Recht der Anderen, religiös, politisch, kulturell anders zu sein, in den Vordergrund gestellt werden. Dabei spielt vor allem die Meinungs- und Religionsfreiheit eine wichtige Rolle. Die zweite Definition ist spezifisch und benennt weniger ein eigenes Konzept der Toleranz als einen Extremfall ihrer Anwendung. Toleranz bedeutet in diesem Zusammenhang, „das Zulassen von Glaubensformen und religiösen Ritualen, die in Konflikt zu dem gewöhnlichen Glauben und Ritualen stehen“³⁸. Der Akzent liegt auf dem Wort „gewöhnlich“; es geht also um Fälle, in denen der Einzelne mit etwas konfrontiert wird, was seinen bisherigen Erfahrungsschatz überschreitet. Hier handelt es sich um eine höhere beziehungsweise extremere Stufe des Konfliktes, die mit esoterischen religiösen Vorstellungen oder Praktiken oder auch mit ungewöhnlichem Verhalten und moralischen sowie politischen Einstellungen zu tun hat. Toleranz ge-

 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, übers. v. Hans Brockard, Stuttgart 2010, 9 und ar-Rīḥānī 1982, 44 (Anm. 17).  ar-Rīḥānī 1982, 49 (Anm. 17).  ar-Rīḥānī 1982, 49 (Anm. 17).  ar-Rīḥānī 1982, 47 (Anm. 17). Zur Rolle des Konfliktes in der Toleranz siehe: Rainer Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt a.M. 2008, 12– 28.  ar-Rīḥānī 1982, 47 (Anm. 17).

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genüber einer ungewöhnlichen religiösen Andersheit wird von ar-Rīḥānī nicht ausgeschlossen, sondern lediglich als irrelevant für seine weiteren Überlegungen bei Seite gestellt.³⁹ Allerdings lässt sich vermuten, dass die Toleranz für ar-Rīḥānī dann aufhört, wenn der Konflikt zu Gewalt und Krieg eskaliert. In der dritten Definition erfährt die erste Definition keine situative Zuspitzung wie in der zweiten, sondern eine moralische Wendung, insofern die Begriffe „Achtung“ (iʿtibār) und „Pflicht“ (wāğib) eingeführt werden: Religiöse Toleranz sei hier als „Respekt“ (iḥtirām) und „Achtung (iʿtibār) verstanden, zu der wir gegenüber den Menschen anderer Glaubenslehren verpflichtet sind, wenngleich diese Glaubenslehren im Widerspruch zu den unsrigen stehen“⁴⁰. Auch hier wird die religiöse Toleranz um eine „internationale“ und „politische Toleranz“ erweitert. Der Mensch als rationales Wesen ist verpflichtet alle Menschen in ihren religiösen Differenzen zu achten. Ar-Rīḥānī bedient sich einer universalistischen Sprache, die einerseits das Recht der Anderen anders zu sein und andererseits unsere Pflicht, diese Differenz zu achten, betont. Ar-Rīḥānīs normative Forderung nach der Toleranz steht – historisch gesehen – im Gegensatz zur vorherrschenden Intoleranz auf lokaler und globaler Ebene.⁴¹ Konstitutiv für diese dritte Definition der Toleranz, ist zum einem das Recht der Anderen anders zu sein (Meinungs- und Religionsfreiheit) und zum anderen unsere moralische Pflicht, diese Andersheit zu respektieren. Grundsätzlich ist der unhintergehbare Konflikt unter Menschen für das Verständnis von Toleranz grundlegend. Er entsteht im Streit über das, was wir für richtig halten und betrifft somit das Wissen schlechthin. Der Mensch ist nach ar-Rīḥānī nicht in der Lage, vieles, was Religion betrifft, mit seinem Verstand zu erkennen. Daher ist es geboten, unterschiedliche Lesarten des Religiösen zuzulassen. Denn warum müssen wir intolerant sein, wenn wir doch schon von vornherein wissen, dass der Mensch ein „schwaches“ Wesen ist und mit seinem Verstand viele „religiöse Angelegenheiten“ nicht begreifen kann. Ar-Rīḥānī schreibt in diesem Zusammenhang: Ich habe gesagt, dass die Toleranz auf Konflikt gründet. Ein solcher Konflikt hat die Skeptiker zum Zweifel in allen Bereichen geführt. Daher haben sie bezüglich aller Dinge ‚wir wissen es nicht’ gesagt. Und diese Skeptiker werden Agnostiker genannt. Ihre Aussage ‚wir wissen es nicht’ muss als eine Antwort auf eine Frage verstanden werden, die ihre Wahrnehmung überschreitet, da sie von göttlichen Dingen handelt, die der menschliche Verstand nicht bestimmen kann.⁴²

Ar-Rīḥānī positioniert sich dabei klar auf der Seite dieses „Agnostizismus“ (lāadriyya), wenn er schreibt: „Wer die Antwort ‚ich weiß es nicht’ (lāadrī) als Antwort auf eine Frage gibt, die er nicht beantworten kann, der hat auf seinen gesunden Menschen-

   

Vgl. ar-Rīḥānī 1982, 47 (Anm. 17). ar-Rīḥānī 1982, 48 (Anm. 17). Vgl. ar-Rīḥānī 1982, 48 – 49 (Anm. 17). ar-Rīḥānī 1982, 54 (Anm. 17).

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verstand, seine gute Meinung, tiefe Weisheit, scharfe Intelligenz und seinen gesunden Geschmack hingewiesen.“⁴³ Die agnostische Position betrifft nicht alle Bereiche des Wissens, sondern nur die Angelegenheiten, die wir nicht wissen können, aber woran wir glauben. Eine Lesart wird im Rückgriff auf folgendes Gleichnis angeboten, dass ar-Rīḥānī in seiner Rede zur Sprache gebracht hat und die mit seiner Pointe in die Nähe der Lessing’schen Ringparabel rückt. Zunächst kommt der Text von ar-Rīḥānī: Bitte schenken Sie mir Ihre Aufmerksamkeit: Ich werde Ihnen einen Traum erzählen, der mir in einer Nacht gekommen ist. Bevor ich ins Bett ging, war ich dabei, die Sterne und die Planeten zu betrachten und das Aufgehen des Vollmondes zu beobachten. Dies geschah mir als ich auf meinem lieben Gebirge im Libanon war, ein Ort an dem sich unter seinen einfachen Bewohnern der Aberglaube und die Konfessionen und Religionen vermehrt haben. An diesem Abend war ich dabei, die Planeten, den Vollmond, die Plejaden und die Milchstraße – die auch Galaxis genannt wird – zu betrachten. Ich habe die Milchstraße mit der Straße der Toleranz auf Erden verglichen, weil sie reines Weiß ist, in dessen Inneren sich die Sterne bewegen ohne zusammen zu prallen. Denn sie sind in Verbindung und zugleich getrennt […]. Aufgrund meiner intensiven Betrachtung des Schöpfers an diesem schönen Abend habe ich davon geträumt, dass ich in den Himmel – lebendig in einem Wagen aus Feuer – gefahren bin. Als ich in das göttliche Paradies, das mit der Rhetorik der Menschen nicht beschreibbar ist, eingetreten bin, habe ich einen hochgestellten und großartigen Thron gesehen, der aufgrund seiner intensiven Strahlung und Beleuchtung die Augen blendete.Vor ihm standen vier Männer, die böse und eifersüchtig einander anblickten. Ich habe dann einen von den Engeln nach diesen Männern gefragt. Er antwortete daraufhin: Es sind die Vertreter der Weltreligionen im Himmel: dies ist der Botschafter des Christentums und der andere der des Islam, dies ist der Botschafter des Buddhismus und der andere der des Judentums. Ich habe gesagt: Was wollen sie denn? Er sagte mir: Sie haben mit ihren permanenten Streiten und Konflikten die Ruhe der Engel und die Bewohner dieser Häuser gestört und nun kommen sie zum Gott des Himmels und der Erde und bitten um Hilfe! Der große Gott hat sie mit Mitleid und Liebe angeschaut und gesagt: Ihr habt alle Recht, meine Söhne, ihr habt alle Recht.⁴⁴

Ein systematischer Vergleich mit Lessings Ringparabel bietet sich in diesem Zusammenhang an, auch wenn historisch nicht bewiesen ist, ob ar-Rīḥānī mit Lessing vertraut war. Hier wird lediglich auf einige Punkte aufmerksam gemacht: ‒ Der Umstand, dass ar-Rīḥānī für seine Argumentationsstrategie erzählerisch die Form des Traumes wählt, lässt sich als subversive Strategie bezeichnen, das theologische Dogma in Frage zu stellen. Denn der Traum bietet ihm eine Möglichkeit, sich von der vorherrschenden theologischen Sprache zu befreien und bestimmte Grenzen zu überschreiten. So zum Beispiel die Darstellung der „Propheten“ als normale Menschen, die sich mit einander streiten und aufeinander neidisch sind. Interessant ist, dass der Buddhismus neben den monotheistischen Religionen in das Streitgespräch mit einsteigt.

 ar-Rīḥānī 1982, 54 (Anm. 17).  ar-Rīḥānī 1982, 56 – 57 (Anm. 17).

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Sarhan Dhouib / Kassel

Die Argumentation von ar-Rīḥānī greift auf das monotheistische Motiv der Himmelsreise (Elias in der Bibel und Mohammed im Koran) zurück, um letztendlich eine philosophische Idee zu veranschaulichen. Dies Motiv findet man sowohl in der arabischen als auch in der europäischen Literaturtradition.⁴⁵ Die philosophische Pointe dieser Erzählung kann als agnostisches Prinzip bezeichnet werden, denn für den Streit zwischen den Vertretern der Weltreligionen gibt es im Gleichnis eine Lösung ohne Schlichtung. Gott selbst privilegiert keine Religion und weißt so die Menschen auf ihr prinzipielles unhintergehbares NichtWissen hin. Die einzige Lösung für den Streit, die es nun gibt, geht von diesem Nicht-Wissen aus und heißt Toleranz.

5 Fazit Kennzeichnend für ar-Rīḥānīs agnostische Auffassung der Toleranz ist, dass Toleranz auf dem Konflikt beruht, aus dem Konflikt entstehend gedacht werden muss. Die Lösung des Konfliktes ist jedoch nicht seine Schlichtung, kein Konsens, keine eine Wahrheit, die sich durchsetzt. Sondern die Lösung ist Toleranz, die das Nebeneinander von Differenzen auf der Basis des Agnostizismus aushalten kann. Somit wird die Pluralität von Meinungen nicht nur vorausgesetzt, sondern auch gerechtfertigt. Agnostizismus drückt keine Indifferenz, vielmehr die Bescheidenheit des menschlichen Verstandes aus und weist auf die „Zerbrechlichkeit“ des Menschen hin. Voraussetzung für ein tolerantes Miteinander in der Differenz ist die Anerkennung der Gleichheit der Streitenden. Nicht als Glaubende, wohl aber in ihrem Status als Menschen mit dem gleichen Recht, das zu glauben, was sie für richtig halten. Mit dieser Konzeption einer agnostischen Toleranz ist zugleich eine Religionskritik verbunden, insofern sie den Absolutheitsanspruch einer Religion in die Schranken weist und somit die Pluralität von Glauben zulässt.

 Der Dichter Abū al-ʿAlāʾ al-Maʿarrī (973 – 1057), genannt „Dichter der Philosophen und Philosoph der Dichter“, steht u. a. für ar-Rīḥānī im Hintergrund seiner Argumentation für eine agnostische Begründung der Toleranz.

Björn Pecina / Halle (Saale)

Gerettetes Vergehen Ethos und Kontext zweier Platonübersetzungen

Das Ethos der Aneignung gehört in einen Raum, der sich nicht verschließt, sondern öffnet gegenüber Vergangenem. Von dieser Vergangenheit wird mit den Worten Faulkners gedacht, dass sie weder tot noch vergangen sei. Denn ist sie tot – was wäre sie überhaupt noch, wenn an die Stelle der Vergangenheit ein Nichts gesetzt ward. Und ist sie vergangen – was anderes als eine Tautologie hätten wir formuliert? Vergangenheit bestreitet das Daseinsrecht der Gegenwart, lässt sie immer sofort schon vergangen sein. Das geschieht mit der Notwendigkeit alles Zeitlichen. Die Übersetzung stellt sich dem Griff der Vergangenheit nach der Gegenwart in den Weg, indem sie den Spieß umdreht, um der Vergangenheit den Garaus zu machen – und sei es für die wenigen Augenblicke einer gelungenen Lektüreerfahrung. Darum folgen Übersetzungen der Ethik einer geschuldeten Fortsetzung von Übergängen.¹ Die ethische Stimme der Übersetzung wird deutlich vernommen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Übersetzen die Übergriffigkeit mit sich führt, für den anderen zu sprechen. In den folgenden Zeilen wenden wir uns zwei prominenten Beispielen einer Platonübersetzung zu und gehen dabei zugleich auf deren Vorgeschichte ein. Mendelssohn hat eine Platonadaption vorgelegt, die seine Zeitgenossen zu begeistern vermochte, später aber auf abfällige Kritik stieß. Schleiermachers Platonübersetzung war ebenfalls ein großer Publikumserfolg, aber sie konnte sich, anders als Mendelssohns Phaidon, bis heute behaupten.

A Der Weg zu Mendelssohns Platon 1. Übersetzungskontexte: Im 17. Jahrhundert ist Übersetzen Nachahmen. Der Text sei so wiederzugeben, dass sich die mit dem zu übersetzenden Text einhergehenden Affekte emotional nachvollziehen lassen. Man erwäge das anhand der Tatsache, dass Georg Philipp Harsdörffer seine Übersetzungstheorie unter den Titel Von der Nach-

 Vgl. Alfred Hirsch, „Die geschuldete Übersetzung. Von der ethischen Grundlosigkeit des Übersetzens“, in: Übersetzung und Dekonstruktion, hg.v. Alfred Hirsch, Frankfurt a.M. 1997, 396 – 428; Hans Julius Schneider, „Fortsetzung statt Übersetzung! Das Problem des Kulturverstehens aus der Sicht einer pragmatischen Bedeutungstheorie“, in: Übersetzung als Medium des Kulturverstehens und sozialer Integration, hg.v. Joachim Renn u. a., Frankfurt a.M. / New York 2002, 39 – 61; Georg Stenger, „Übersetzen übersetzen. Zur Phänomenologie des Übersetzens“, in: Übersetzung als Medium des Kulturverstehens und sozialer Integration, hg.v. Joachim Renn u. a., Frankfurt a.M. / New York 2002, 93 – 124; Gabriele Cappai, „Übersetzung in der Situation gesellschaftlicher Fragmentierung“, in: Übersetzung als Medium des Kulturverstehens und sozialer Integration, hg.v. Joachim Renn u. a., Frankfurt a. M. / New York 2002, 215 – 236. https://doi.org/10.1515/9783110569520-006

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Björn Pecina / Halle (Saale)

ahmung (de Imitatione) bringt.² Harsdörffer formuliert hier, was heute vielfach als die Beschreibung der „Aufgabe des Übersetzers“, wie Walter Benjamin sie formuliert hat, wiedergegeben wird.³ Der Übersetzung komme nämlich nach Benjamin die Aufgabe zu, sich als ein neues Original zu empfehlen, indem sie nicht einfach mehr oder weniger gelungene Mitteilung, sondern das Originale an des Originales statt sei.⁴ Die Übersetzung ahmt das Original nach, indem sie als eine gelungene Übertragung den Nachweis führt, dass das Original übersetzbar gewesen ist. Und diese Übersetzbarkeit schlechthin ist ein Ausdruck dessen, dass der zu übersetzende Text „der wahren Sprache, der Wahrheit“ angehört.⁵ Dies macht aus der Übersetzung eine Wiederholung als Sinn-Fortschreibung starke Texte hervorbringender Sprache. Genau diesen Gedanken Benjamins äußert schon Harsdörffer, wenn er die Übersetzung als eine Probe auf den Dienst des Originals an der Sprache nimmt. Die Übersetzung könne darum einem Gemälde verglichen werden, in dem sich das Original noch einmal mit anderen Farben findet und auf diese Weise den Beweis erbringt, dass es sich bei dem Original tatsächlich um ein Kunstwerk handelt. Weil das neue Gemälde diesen Nachweis an ihm selbst erbringt, kann es nicht als ein Raub am Original verstanden werden, sondern es hat den Vergleich mit dem Original sogar überflüssig gemacht.⁶ Für das 18. Jahrhundert hat der im Gottsched-Kreis beheimatete Georg Venzky diese Einsicht treffsicher ausgesprochen, wenn er davon spricht, dass die Übersetzer nicht etwa ein neues Werk schaffen, sondern vielmehr das Original „in andere Sprachen einkleiden“.⁷ Mit dieser Metaphorik ist eine Sprachsubstanz in das Bild gebracht, die ihre Bedeutung ebenfalls daraus bezieht, übersetzbar zu sein. Anders nämlich könnte die Übersetzung sie nicht gewanden. Und zugleich zeigt sich hier, dass die Übersetzung weit entfernt ist davon, eine eigene Substanz zu installieren. Johann Jakob Breitinger bietet einen Abschluss der ihm vorauflaufenden Übersetzungstheorie. Die Überlegung, dass es sich bei einer gelungenen Übersetzung um den Nachweis der Sprachfähigkeit des Originals handelt, führt Breitinger zusammen mit den subjektivitätsvalenten Momenten dieser Überlegung. Nicht nur die Texte von

 Georg Philipp Harsdörffer, Prob und Lob der Teutschen Wolredenheit. Das ist: deß Poetischen Trichters Dritter Theil, Nürnberg 1653, 35 – 54.  Walter Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers, Gesammelte Schriften, Bd. IV/1, hg.v. Tillman Rexroth, Frankfurt a.M. 1972, 9 – 21.  „Wann ein Franzos oder ein Italiener ein teutsches Kleid anziehet, sol es ihm so gerecht seyn, daß man ihn für keinen Fremden, sondern für einen gebornen Teutschen halten kann. Ich will sagen, daß die beste Dolmetschung ist, welche man für keine Dolmetschung hält.“ (Harsdörffer 1653, 39 [Anm. 2]).  Benjamin 1972, 21 (Anm. 3).  „Wann ich aber eines andern Meinung ganz behalte und nur mit andern Worten ausrede, ist solches gleich dem Gemähl, welches mit andern Farben dem ersten von guter Hand gemahlten Stücke nachgemahlet wird. Dieses ist so zulässig, als bey den Lacedämoniern das listige Stehlen, welches, wann es nicht erfahren worden, unbestrafft geblieben. Die Exempel beyzusetzen ist unvonnöthen.“ (Harsdörffer 1653, 41 [Anm. 2]).  Georg Venzky, „Das Bild des geschickten Übersetzers“, Beiträge 3/9 (1734), 59 – 114, hier 63.

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Original und Übersetzung, sondern auch jene Subjekte, die beides zur Kenntnis nehmen, treten in eine sinnstiftende Verbindung ein, indem die Impulswirkung des Originals sich im Leser der Übersetzung affektiv fortträgt und somit eine Sukzessionskontinuität stiftet.⁸ 2. Platonrezeption: Das bekannte Fresko Raffaels in der päpstlichen Stanza della Segnatura des Vatikan zeigt, wie die Renaissance Platon gesehen hat – als führende Philosophengestalt, die neben Aristoteles aus dem Bildzentrum hervorschreitet und dabei mit Aufmerksamkeit heischender Geste den rechten Zeigefinger emporhebt.⁹ Platons Lehre von Tod, Eros und Schönem, wie sie sich besonders anschaulich im Symposion und Phaidon ausgedrückt findet, kam nicht nur dem Zeitgeschmack entgegen, sondern erlaubte auch Duette zwischen antiker Philosophie und Christentum. 1463 beauftragte Cosimo il Vecchio Marsilio Ficino damit, Platons Dialoge zu übersetzen. Ficino macht sich auch sofort in Careggi, seinem Refugium, ans Werk. 20 Jahre später erscheint die Übersetzung in einer Auflage von 1025 Exemplaren. In seinem legendär gewordenen Brief an Paul von Middelburg und in den Sixtus-Briefen hat Ficino die Platonrenaissance in einen engen Zusammenhang mit der Tendenz seiner Epoche, Anbruch eines Goldenen Zeitalters zu sein, gebracht.¹⁰ Mit den Übersetzungen des Ficino war Platon der schwer einsehbaren Geheimlehre, die sich allein schon aus der Disparatheit der Überlieferung ergab, entrissen und in einem zusammenhängenden Werk dem Publikum vorgestellt. Doch Ficino ist nicht nur für seine Übersetzung berühmt geworden. Auch hinsichtlich der Platonforschung können wir bei ihm schon das lesen, was auch im 20. Jahrhundert noch debattiert wurde. Das durch die Tübinger Schule wieder schwungvoll ins Bewusstsein gebrachte Problem der ungeschriebenen Lehre Platons kommentierte Ficino auch in seinem Phaidros-Kommentar. Hier hat er den heute noch gebräuchlichen Vorschlag gemacht, die Schriftkritik Platons nicht in einer prinzipiellen Lesart zu verstehen,  Johann Jacob Breitinger, Fortsetzung der critischen Dichtkunst, Zürich/Leipzig 1740, 139: „Von einem Uebersetzer wird erfordert, daß er eben dieselben Begriffe und Gedancken, die er in einem trefflichen Muster vor sich findet, in eben solcher Ordnung, Verbindung, Zusammenhange, und mit gleich so starckem Nachdrucke, mit andern gleichgültigen bey einem Volck angenommenen, gebräuchlichen und bekannten Zeichen ausdrücke, so daß die Vorstellung der Gedancken unter beyderley Zeichen einen gleichen Eindruck auf das Gemüthe des Lesers mache. Die Uebersetzung ist ein Conterfey, das desto mehr Lob verdienet, je ähnlicher es ist“. Ein Übersetzer muß „bevor er an die Arbeit gehet, sich in demjenigen Zustande befinden, in welchem der ursprüngliche Verfasser gewesen war“ (142).  So will es zumindest die bekannteste Lesart des Bildes. Die Zuordnung der Figuren beruht darauf, dass die links schreitende Figur ein Buch mit der Aufschrift Timeo und die rechte Person ein Buch, das Ethica betitelt ist, im Arm hält. Es ist aber nicht auszuschließen, dass diese lateinischen Bezeichnungen erst nach dem Sacco di Roma (1527), bei dem auch die Vatikanischen Stanzen Schaden nahmen, hinzugefügt wurden. Vgl. hierzu Lutz Geldsetzer, „Die Schule von Athen des Raffael in den Stanzen des Vatikan. Wer ist Wer?“, auf: http://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/philo/geldsetzer/ Raffaels_Schule_von_Athen.pdf, zuletzt abgerufen am 21.02.17, 6 – 7.  Die berühmte Passage an Paul von Middelburg lautet: „Hoc enim seculum tamquam aureum liberales disciplinas ferme iam extinctas reduxit in lucem, grammaticam, poesiam, oratoriam, picturam, sculpturam, architecturam, musicam“ (Opera omnia I, Basel 1576, 944).

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sondern sie vielmehr moderat zu interpretieren. Es sei Platons leicht nachvollziehbares Anliegen, vor einem exzessiven Vertrauen in die Schriftlichkeit warnen zu wollen.¹¹ Aber auch eine andere Haltung in dieser Frage ist aus der Renaissance vertraut. So räumt Torquato Tasso der Schrift den Vorrang ein.¹² Wir schildern Tasso hier ein wenig ausführlicher, weil seine Überlegungen sich nur wenig abgewandelt bei Schleiermacher wiederfinden. Es ist dabei bemerkenswert, dass Tasso nicht etwa den platten Einwand, das gegen die Schrift geschriebene Argument fixierte einen performativen Selbstwiderspruch, ausspricht. Vielmehr geht er davon aus, dass der Mensch immer ein Bedürfnis nach der Schrift haben wird – und dies auch gerade dann, wenn zuvor eine mündliche Belehrung ergangen. Die Stimme in ihrer Flüchtigkeit beschleunige nämlich die Vergänglichkeit des mitgeteilten Sinnes, der hingegen durch die Schrift eine Stabilität erhalten würde, die es erlaubt, diesen Sinn dauerhaft vernehmen zu können (la voce e mobile immagine del concetto; le lettere sono quasi statue e simulacri saldissimi). Tasso beschwört den Unterschied von Stimme und Schrift, wobei der Stimme die Metaphern des Windhaften, schnell Vergänglichen und spurlos Verschwindenden und der Schrift die des Festen und Unverrückbaren zufallen. Hinzu tritt die Affektbetroffenheit aller Rede. Mündlichkeit kann sich niemals zu einer Eindeutigkeit hin entfalten, da die den Vortrag begleitenden Affekttönungen in das Sinngeflecht der Rede schon mit eingegangen sind. Das führt am Ort der Rede nicht nur zu einer Veruneindeutigung, sondern die Rede tritt sich selbst auch nur in entfremdeter Weise gegenüber. Anders die Schrift. Sie ist von Affektivität unbetroffen (con animo quieto e vacuo dalle perturbazioni) und eignet sich darum vorzüglich zum Abbilden der Wahrheit. Schrift ist nämlich mit sich selbst in Übereinstimmung, ohne von Anderem im Vollzug ihrer selbst bestimmt zu werden (sempre sono conformi a se medesime). Schleiermacher wird über diese Verteidigung der Schriftlichkeit cum grano salis nicht hinausgehen. Wenn wir uns nun einigen Problemen der Platon-Deutung am Abend vor der Mendelssohnschen Phaidon-Übertragung zuwenden, dann ist zuerst Johann Jacob Brucker zu nennen. Seine Philosophiegeschichte (Historia critica philosophiae, Leipzig 1742 ff) war nach der Mitte des 18. Jahrhunderts wichtig nicht nur in Deutschland. Das mag man daran ermessen, dass die philosophiehistorischen Artikel der Encyclopédie des Diderot immer wieder auf Bruckers Darstellung zurückgriffen.¹³ Aber auch die

 „Sermonem vivum a docente discentis animo impressum multis rationibus anteponit scriptis. Scribere quidem non vetat, sed confidentiam damnat in scriptis“ (Marsilio Ficino, Commentaries on Plato. Phaedrus and Ion, ed. by Michael J. B. Allen, Cambridge / London 2008, 190).  Vgl. zu den in den Text gesetzten Zitaten Torquato Tasso, „Il Cataneo overo de le conclusioni“, in: ders.: Dialoghi. Tomo III, Milano 1825, 85 – 86.  Rainer Jehl, „Jacob Brucker und die Encyclopédie“, in: Jacob Brucker (1696 – 1770). Philosoph und Historiker der europäischen Aufklärung, hg.v. Wilhelm Schmidt-Biggemann / Theo Stammen, Berlin 1998, 238 – 258.

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großen Philosophiehistoriker Dieterich Tiedemann und Wilhelm Gottlieb Tennemann sind noch von Brucker abhängig. Brucker hat ausführlich hingewiesen auf die Unterscheidung zwischen der Platonischen Lehre und dem, was der Neuplatonismus daraus gemacht hat, wobei der Neuplatonismus unter dem Titel eines jüngeren oder neueren Eklektizismus vorkommt. Platons Philosophie sei geprägt von einem Dualismus göttlicher Sphäre und der durch den Demiurgen geschaffenen Welt. Die neuplatonischen Systeme hingegen würden diesen Dualismus verlassen haben zugunsten eines Emanationssystems, das mit dem henologischen Prinzip auszukommen vermag.¹⁴ Wie Tennemann und Schleiermacher nach ihm spricht Brucker schon aus, dass die schriftlich in den Dialogen niedergelegte Geisteswelt des Plato zum Gegenstand einer Erforschung dieses Philosophen gemacht werden müsse, wenn man sich einen Eindruck von seinem System verschaffen wolle, der Rücksicht nimmt auf historische und logische Glaubwürdigkeit.¹⁵ Aber natürlich ist Brucker sich dessen bewusst, die schriftlichen Zeugnisse des Platon nicht unkritisch rezipieren zu dürfen, sondern sie vielmehr einer Ordnung zuführen zu müssen, wenn sich nicht hermeneutische Probleme einstellen sollen. Darum greift er auch auf weitere Quellen zurück, von denen er glaubt, dass sie einen erschließenden Wert für die Dialoge des Platon haben. Von diesen Werken kommt neben Apuleius und Cicero als dem Verfasser des eingängigsten Kompendiums der in der Akademie gelehrten Sätze dem Didaskalikos des Alcinous eine besondere Bedeutung zu. Alle diese Werke seien frei von der Infektion durch den Synkretismus der Plotinischen Schule.¹⁶ Bei dem mittelplatonischen Didaskalikos handelt es sich um die einzige Platonische Schrift vor Plotin, die vollständig erhalten ist. Insofern stellt der Didaskalikos nicht nur einen Systematisierungsversuch der Platonischen Philosophie dar, der wertvoll ist für die Erforschung des Platon, sondern uns liegt hier auch eine Quelle vor, die trotz ihrer Färbung durch stoische und peripatetische Traditionselemente eine

 „Nam Platonem rerum omnium opificem a summo Deo non discreuisse […] Recentiores autem Platonici ex Aegyptiaca et Orientali philosophia tenuerunt, primum Deum in abysso aeternae deitatis latentem manere, et emanationi alicui magnae, siue principio cuidam hypostatico formandi mundi negotium fuisse permissum“ (Jacob Brucker, Historia critica philosophiae, Tomvs secvndvs, Leipzig 1742, 410).  „Ad ipsum Platonem ejusque dialogos respiciemus, & quantum licet, ejus verba & ratiocinia ita expendemus, ut nexum potissimum systematis secundum fidei historiae & artis rationalis leges eruamus“ (Jacob Brucker, Historia critica philosophiae, Tomvs primvs, Leipzig 1742, 669).  „Respiciemus tamen ad eos quoque ex veteribus, qui detestabili syncretismi peste non tantopere, ut Plotini schola, infecti, aliquando purius Platonis dogmata enarravisse censendi sunt. Inter quos sine controversia Ciceroni primus locus debetur, qui in Academicis quæstionibus eleganti compendio Platonis decreta, qualia in Academia docebantur, purissimo sermonis genere enarravit. Huic merito adimus Apvleivm atque Alcinvm, qui, ut omnium optime ad ordinem nexumque philosophiæ Platonicæ attendit, ita dux erit nobis in itinere, quo ipsius Platonis, nullum philosophiæ suæ ordinem, systema nullum in scriptis suis sequentis, sed cuncta in dialogis dispersa ratione enarrantis, doctrinas ex ejus colloquiis eruemus“ (Brucker 1742, Tomvs primvs, 669 [Anm.15]).

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erstaunlich exakte Genese des antiken Platonismus zu rekonstruieren erlaubt. Indem Brucker dieses Lehrbuch zum Leitfaden seiner Platondarstellung bestimmt, geht er allerdings einen Bund mit dem Mittelplatonismus ein, der sein Platonbild nicht unwesentlich beeinflussen wird. Wir sehen hier aber, wie stark Brucker, wenn er auf die Erforschung der Dialoge nach den wesentlichen Zusammenhängen des Systems gemäß den Gesetzen historischer Plausibilität den Finger legt, Schleiermacher vorgearbeitet hat, für den die natürliche Reihung der Platonischen Dialoge in einer wechselseitigen Erhellung von Teil und Ganzem ebenfalls wichtig werden wird. Brechen wir nun die Darstellung des Kontextes von Mendelssohns Phaidon ab, um uns Mendelssohn selbst zuzuwenden. Es hat sich gezeigt, dass grundsätzliche Entscheidungen schon lange vor jener Platon-Renaissance gefallen waren, für die man gelegentlich das frühromantische Denken verantwortlich gemacht hat. So sehr aber zwischen der Platonforschung des 18. Jahrhunderts und der Frühromantik eine Kontinuität besteht – jetzt ist zu untersuchen, ob Mendelssohns Phaidon ebenfalls als ein Ausdruck dieser Kontinuität wird angesprochen werden können.

B Mendelssohns Phaidon Zwischen den Platoninterpretationen nimmt in der Mitte des 18. Jahrhunderts Mendelssohns Phaidon eine besondere Stellung ein. Einmal wurde das Buch zu einem sensationellen Publikumserfolg und traf den Nerv einer Zeit, die sich der gedankenvollen Betrachtung des Glücks in einer besonderen Weise annahm. Nach vier Monaten war die erste Auflage schon vergriffen.¹⁷ Was den Späteren nur noch als eine grillenhafte Plattheit erschien, die sich mit den groben Werkzeugen Wolffischer Philosophie bewaffnet hatte, um nun beckmesserisch den Dichterphilosophen Platon zu verbessern,¹⁸ ist ein metaphysisches Glanzstück, das dem Kantischen Kritizismus den Garaus zu machen das Potential hatte. Mendelssohn verstand sein Werk als eine Zwischenlösung. Einmal übersetzte er weite Teile des Dialogs ins Deutsche, so dass sein Phaidon partiell als eine Übersetzungsleistung zu würdigen ist. Belangvoller allerdings ist seine Umarbeitung, die er dem Platon hat angedeihen lassen. Platons Beweise nämlich von einem Überleben der Seele nach dem Tod schienen Mendelssohn nicht mehr auf der Höhe einer Zeit zu sein, die mit den Ableitungen der Leibniz und Wolff vertraut ist.

 Dominique Bourel, „Nachwort zur Entstehung des Phädon“, in: Moses Mendelssohn, Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele, hg.v. Dominique Bourel, Hamburg 1979, 161– 173, hier 170.  Vgl. nur Fritz Mauthner, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande, Bd. III, Heppenheim 2010, 485; Kuno Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, Bd. II, Heidelberg 21867, 779 f; Josef Pieper, „Tod und Unsterblichkeit“, in: ders., Religionsphilosophische Schriften, hg.v. Berthold Wald, Hamburg 2000, 314– 329, hier 318; Werner Schneiders, „Aufklärung als memento mori?“, Das achtzehnte Jahrhundert 25/1 (2001), 83 – 96, hier 89.

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Um einzuschätzen, welche Veränderungen Mendelssohn in den Platonischen Phaidon eingetragen hat, vergegenwärtigen wir in schnellen Strichen den Verlauf des Originals, um dann auf Mendelssohn einzugehen. Der wegen Religionsfrevels und Verführung der Jugend seinen Tod erwartende Sokrates plaudert noch einmal mit seinen Vertrauten Simmias und Cebes, zwei Pythagoreern. An hebt das Gespräch mit Überlegungen zur Rechtmäßigkeit des Selbstmordes. Die beiden Pythagoreer sind eigentlich Spezialisten für dieses Problem, da sie durch Philolaos, den Anführer der Bruderschaft des Pythagoras in Theben, sich über das Selbstmordverbot gründlich zu informieren vermochten. Dabei ist wichtig: Simmias und Cebes, die mit strengen Gründen gegen den Freitod zu debattieren verstehen sollten, haben versäumt, sich mit der religiösen Bedeutung des Todes vertraut zu machen. Insofern verschließt sich ihrem Verständnis auch, dass es sich bei jedem Memento mori um eine Selbsterkenntnis handelt. Und genau darauf werden sie von Sokrates hingewiesen, der damit beginnt, Beweise für die Unsterblichkeit der Seele zusammenzutragen. Man ist nicht recht überzeugt von diesen Beweisen, traut sich dies aber nicht mitzuteilen, da Sokrates damit vielleicht sein letzter Trost vor dem nahenden Tode genommen wäre. Sokrates ist aber um den Trost ganz unbesorgt, da ihm das nahe Sterben nur ein willkommener Anlass ist, den Singschwänen des Apoll gleich sein schönstes Lied anzustimmen – einen finalen Beweis nämlich für die Unsterblichkeit der Seele, aus dem er folgern lässt, dass die Seelsorge hienieden zu den vornehmen Aufgaben der Sterblichen gehöre. Mit einem Totengerichtsmythos schließt Platons Dialog. Mendelssohn übernimmt etwa ein Drittel des Platonischen Textes in wörtlicher Übersetzung. Den Totengerichtsmythos und alle beweistragenden Elemente der Erinnerungslehre eliminiert er. Zudem greift er stark in die Unsterblichkeitsbeweise ein. Dabei läßt die Mendelssohnsche Version das Dialogische in den Hintergrund treten, um stattdessen intensiver auf die Schlusskraft der verbesserten Beweise sich zu verlassen. Besonders faszinierend ist es aber zu sehen, wie Mendelssohn noch ganz unabhängig von den Beweisen mit kleinen, fast unscheinbaren, Eingriffen in das Original seine Position offenbart. Wenden wir uns also diesem Mendelssohnschen Verfahren zu. Ein dunkles gegenüber dem Phaidon geäußertes Diktum des Sokrates lautet, dass man sich davor in acht zu nehmen hätte, ein Redenhasser zu werden (μὴ γενώμεθα, ἦ δ᾽ ὅς, μισόλογοι, ὥσπερ οἱ μισάνθρωποι γιγνόμενοι, 89d). Was könnte gemeint sein? Wenige Zeilen zuvor war es zu einem peinlichen Zwischenstopp der Memento-mori-Meditation des Sokrates gekommen. Alle Jünglinge, die sich zur Sterbebegleitung herbeigefunden hatten, waren noch versunken in den Redefluss des Sokrates, der soeben überzeugend dargelegt hatte, dass die Seele beim Tod des Leibes nicht mitstürbe, da verderben Simmias und Cebes die Situation. Mit einer Mischung aus Spitzfindigkeit und Richtigkeiten widersprechen sie dem Sokrates. Es folgt große Betretenheit, denn alle, die sich schon in die Ewigkeit eingefühlt hatten, sehen sich jetzt wieder in Zweifel gestürzt und müssen erneut mit der Begriffsarbeit beginnen. Dies genau ist der Ort, an dem

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Sokrates die Ermahnung ausspricht, dass man darüber nicht etwa zu einem Redenhasser werden möge. Im weiteren Gesprächsverlauf legt es Sokrates darauf an, die Logoi vor Angriffen in Schutz zu nehmen, eine Verteidigung, die darauf hinausgehen wird, überzogene Ansprüche des Zweifelns gar nicht erst aufkommen zu lassen. So laß uns denn […] dem in unserer Seele keinen Eingang verstatten, als ob an allen Reden […] nichts tüchtiges wäre; sondern […] daß wir nur noch nicht recht tüchtig sind, aber […] trachten müssen tüchtig zu werden, du und die übrigen des ganzen künftigen Lebens wegen, ich aber eben des Todes wegen. So daß ich vielleicht […] jezt nicht sonderlich philosophisch mich in dieser Sache verhalte (ὡς κινδυνεύω ἔγωγε ἐν τῷ παρόντι περὶ αὐτοῦ τούτου οὐ φιλοσόφως ἔχειν), sondern wie die ungebildeten rechthaberisch […]. Ich berechne nemlich, […] du siehst wie eigennüzig, daß wenn das wahr ist, was ich behaupte, es doch vortrefflich ist, davon überzeugt zu sein (90eff).¹⁹

Die zitierte Passage ist von zwei Gedankengängen bestimmt, deren erster eine angemessene Haltung in der Logos-Frage installiert. Sokrates stellt hier fest, dass von den „Logoi als solchen“ keine ungünstige Wirkung auf das menschliche Seelen- und Intellektionsleben auszugehen vermag. Darauf hinzuweisen ist ihm wichtig, weil anders kein gesichertes Wissen erlangt werden kann, und sei es ein Wissen darum, wie man die Logoi in einem konkreten Fall zu kritisieren hätte. Eine Kritik an den Logoi darf also, soll sie nicht selbstwidersprüchlich sein, immer nur einzelne Momente an einem der wahren Rede fähigen Logos betreffen. Wenn nämlich eine Seelsorge, die im konkreten Zusammenhang mit dem Thema des Dialogs die Widerstandskraft des Seelischen auf den Tod reflexiv einstimmt, zum Erfolg führen soll, muss sichergestellt sein, dass die Logoi, derer sie sich bedient, bestimmende Kraft haben. Das Resultat dieser seelsorgerlichen Eigeninitiative wäre dann ein Wissen um den Tod, das den Wissenden friedlich und ohne Angst zurücklässt. Es gehört zu den Anliegen des Platonischen Phaidon, den Menschen in eine solche Selbsterkenntnis hineinzuführen. Die Freunde also sollen diese Einsicht in ihr Leben nehmen, und er, Sokrates, kann mit diesem Wissen gut sterben. Doch ist dieses Wissen ein Trost im Angesicht der Todesstunde, und wäre es ein Trost, was würde das für den sterbenden Philosophen bedeuten? Mit diesen Fragen sind wir beim zweiten Gedankengang der zitierten Passage angelangt.Wenn es ein Trost wäre, dass Sokrates im Angesicht seines Sterbens von der Unsterblichkeit seiner Seele zu reden weiß, dann würde er sich wenig anders verhalten als alle, die zu einer Einsicht nur um ihrer trostbringenden Wirkung willen gekommen sind. Von einer solchen Einsicht kann dann nicht mehr als sichergestellt gelten, dass sie den Kriterien philosophischer Selbstbetrachtung entspricht. Anders: Platon lässt seinen Sokrates genau in dem Augenblick an sich zweifeln, als die Überlegung Raum zu gewinnen beginnt, dass in der Unsterblichkeitsreflexion ein Trost liegt; denn es stünde einem Dialektiker nicht gut an, die bestimmungslogische Schlagkraft der Logoi  Platon, Phaidon, Platons Werke, Bd. II/3, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Berlin 1809, 78. Wenn nicht anders angegeben, ist diese Übersetzung zitiert.

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zu verteidigen, dabei aber in Wahrheit nur ein effektives Selbstmanagement im Auge zu haben. Und genau hier setzt Mendelssohn ein und interpoliert gänzlich unplatonisch: Ich ergetze mich […] an dem Gedanken, daß alles, was dem […] menschlichen Geschlechte wahren Trost und Vorteil bringen würde, wenn es wahr wäre, schon deswegen viel Wahrscheinlichkeit […] habe […]. Wenn die Zweifelsüchtigen wider die Lehre von Gott und der Tugend vorwenden, sie sei eine bloße politische Erfindung […] so möchte ich ihnen […] zurufen: […] [E]rdenket einen Lehrbegriff, welcher der menschlichen Gesellschaft so unentbehrlich ist, und ich wette, daß er wahr sei.²⁰

Dieser Gedanke ist dem Platonischen Sokrates unmittelbar entgegengesetzt, da er alle Momente, die Platon ausgeschlossen wissen will, zur Basis der Unsterblichkeitsidee kürt. Die Wahrheit einer Einsicht wird nicht durch die In-sich-selbst-Stimmigkeit dieser Einsicht gesichert, sondern es sind gerade Unentbehrlichkeit, Nützlichkeit und Vorteil, die das Unsterblichkeitsvertrauen zu wecken versprechen. Der Trost im Antlitz des Todes – dies war die Gefahr, vor der Sokrates seine Hörer warnen musste, weil er ausschließen wollte, dass die Wahrheit geopfert würde, um eine Hoffnung aufzurichten. Der Trost im Antlitz des Todes – für Mendelssohn besteht darin gerade eine Pointe des Phaidon, die sich als das Versprechen unzerstörbarer Glückseligkeit gestaltet. Von dieser Pointe glaubt Mendelssohn, dass sie alle dialektisch-dialogischen Ableitungen Platons überwiegen würde. Wie ernst es Mendelssohn mit dieser dem Sokrates in den Mund gelegten Aussage ist, bestätigt Mendelssohn in einem Brief an Thomas Abbt. Hier steigert er anlässlich des frühen Todes seiner Tochter den Trost zu einem Lebensprinzip, das auch dann noch beibehalten wird, wenn es in eine verdächtige Nähe zu unverhohlener Naivität und Schwäche zu geraten droht: „Sie werden über meine Einfalt lachen, und in diesem Räsonnement die Schwachheit eines Menschen erkennen, der Trost sucht, und ihn nirgend findet als in seiner Einbildung. Es kann seyn ! Ich besitze Eigenliebe genug, eine jede Lehre zu adoptiren, die meine Gemüthsruhe befördert.“²¹ Ein stärkerer Gegensatz zum Platonischen Sokrates ist nicht denkbar, wenn das Trostbefördernde an den Ort der Wahrheit treten darf, um nicht nur deren Platzhalter zu sein, sondern mit ihr identifiziert zu werden. Es zeichnet die religiöse Dimension menschlichen Selbstverständnisses aus, mit einer sehr eigenen Epistemologie zu operieren. Die Lehre von Gott soll „nicht nur überzeugen, sondern auch […] das Gemüt bewegen“,²² und diese Gemütsbewegung ist im Bereich der Unsterblichkeitslehre von so hoher Bedeutung, weil diese Lehre in der angster-

 Moses Mendelssohn, „Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele in drei Gesprächen“, in: ders., Schriften über Religion und Aufklärung, hg.v. Martina Thom, Berlin 1989, 250 (Hervorhebungen B.P.).  Moses Mendelssohn, Mendelssohn an Abt, 1. Mai 1764, Gesammelte Schriften, Bd. V, hg.v. Georg Benjamin Mendelssohn, Leipzig 1844, 315 – 317, hier 315.  Moses Mendelssohn, „Abhandlung über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften“, in: ders., Schriften über Religion und Aufklärung, hg.v. Martina Thom, Berlin 1989, 107– 170, hier 150.

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füllten Gegenwart des Todes sich behaupten können muss. Dieser Überlegung ist zugleich eingezeichnet, dass Mendelssohn die Angst vor dem Tod in ein Zentrum seiner Rekonstruktion des Unsterblichkeitsgedankens stellt, wohingegen Platons Sokrates auf eine solche Angst nur hypothetisch eingeht – gleichsam um der Versicherung willen, dass diese Angst keine andere Herkunft hat als die Unaufgeklärtheit über das Nicht-enden-Können von Identitätsvollzügen. Für Mendelssohn hängt diese Fokussierung auf eine Hoffnung, die in der Unsterblichkeitsvorstellung liegt, eng mit dem Glücksstreben des Menschen zusammen, an dem die Todesfurcht nicht den Verdacht aufkommen lassen darf, in eine nicht mehr erlebbare Leere auszulaufen. Hier ist eine Position erreicht, in der Hoffnung und Glückseligkeit die an den Logoi orientierten Platonischen Operatoren verlassen haben. Hat sich Mendelssohn damit auch verabschiedet vom Dialog als der die Platonische Philosophie steuernden Ausdrucksgestalt? Keineswegs, aber er transformiert das dialogische Formprinzip, indem nun die Geselligkeit an die Position eines lebendigen Dialoggeschehens tritt. Darum wird das individuelle Glücksstreben des Menschen nur durch dessen Einstimmung in gesellige Strukturen, die in negierter Einsamkeit das Leiden am Individuellen enden lassen, zum Ziel kommen können.²³ Es gehört zu den Kniffen Mendelssohns, hier nicht nur eine These aus dem Reservoir der Popularphilosophie aufzustellen, sondern diesen Gedanken unmittelbar seiner Phaidonübertragung einzuschmelzen. Dies geschieht, indem er das durch den Sokrates verkörperte Expertentum zugunsten geselliger Gesprächskultur herunterstimmt, auf dass diese Gesprächskultur an die Stelle des Platonischen Dialoggeschehens treten kann.²⁴ Abschließend kommen wir zu einem der besonders prominenten Topoi Platonischer Philosophie, der zweitbesten Seefahrt nämlich (δεύτερος πλοῦς). Dabei handelt es sich um eine Metapher aus der Schiffahrt (99dff). Bei Windstille greift man zu den Rudern und tritt die Fahrt auf eine zweitbeste Weise an, indem man sich einer Anstrengung unterziehen muss, um das Schiff voran zu bringen. Von der ersten Fahrt weiß Sokrates zu berichten, dass er sie in der Hoffnung auf den Erfolg naturphilosophischer Ursachensuche angetreten hatte, dann aber enttäuscht wieder davon ab-

 „Das menschliche Geschlecht ist zur Geselligkeit, so wie jedes Glied zur Glückseligkeit, berufen. Alles, was […] zu diesem Endzwecke führen kann, ist […] von dem weisesten Urheber als ein Mittel gewählt […]. Diese […] Vorstellungen haben […] viel Tröstliches und zeigen uns das Verhältnis zwischen dem Schöpfer und dem Menschen […]: daher ich […] wünsche, […] mich von der Wahrheit derselben zu überzeugen“ (Mendelssohn 1989, Abhandlung, 150 [Anm. 22]).  Mendelssohn erzeugt die Transformation durch einen Effekt: Er legt Argumente des Platonischen Sokrates den Gesprächsteilnehmern in den Mund. So trägt Simmias gegenüber Sokrates die These vor, dass sich der Mensch für seine böse Tat nicht angemessen zu verantworten hätte, wenn mit seinem Ende auch der Fluch seiner bösen Tat endete. (Der Mensch wäre dann „wie das Vieh, hieher gesetzt worden, Futter zu suchen und zu sterben“ und es „hat der verworfenste Sterbliche sogar die Macht, sich der Herrschaft Gottes zu entziehen, und ein Dolch kann das Band auflösen, welches den Menschen mit Gott verbindet“ (Mendelssohn 1989, Phädon, 241 [Anm. 20]). Damit findet sich eine zentrale Sokratische These (Phd 107c) gegen diesen selbst vorgetragen.

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gewichen sei, „aufgegeben“ habe, „das Seiende zu erschauen“ (ἀπειρήκη τὰ ὄντα σκοπῶν; 99d),²⁵ um sich nunmehr der Begriffsarbeit zu widmen und jetzt über den Umweg einer zweitbesten Epistemologie auf die Suche nach der Wahrheit zu gehen (εἰς τοὺς λόγους καταφυγόντα ἐν ἐκείνοις σκοπεῖν τῶν ὄντων τὴν ἀλήθειαν; 99e). Die Begriffsarbeit aber impliziert nach Platon nicht nur eine erhöhte Anstrengung gegenüber der ersten Fahrt, sondern im Hintergrund dieser Anstrengung steht eine Epistemologie, die sehr klar auszudrücken vermag, worin jener Vorzug der Logoi liegt, von denen Sokrates nicht will, dass man sie hasse oder auch nur missachte, weil dies dazu führen würde, der Begriffsarbeit zu entsagen und sie für alle denkbaren Reflexionspannen verantwortlich zu machen. Der Logos hat seine Bedeutung darin, Bestimmtheiten dem Denken zu implantieren, die auch dann noch in Kraft sein müssen, wenn dieses Denken seine Richtung ändert. Beim Logos handelt es sich um eine veränderungsresistente Bestimmtheit, die den Ist-Sinn eines durch diesen Logos bezeichneten Sachverhalts festschreibt. Dieser Ist-Sinn sei das prinzipiell Nicht-Dialektische, von dem her Dialektik ihr Existenzrecht erbt (ὡς δ᾽ αὕτως καὶ τὸ σμικρὸν τὸ ἐν ἡμῖν οὐκ ἐθέλει ποτὲ μέγα γίγνεσθαι οὐδὲ εἶναι, οὐδ᾽ ἄλλο οὐδὲν τῶν ἐναντίων, ἔτι ὂν ὅπερ ἦν, ἅμα τοὐναντίον γίγνεσθαί τε καὶ εἶναι, ἀλλ᾽ ἤτοι ἀπέρχεται ἢ ἀπόλλυται ἐν τούτῳ τῷ παθήματι, 102ef). Mendelssohn verlässt diese Bestimmtheits-Position, über die Platon den Indikativ-Sinn sichergestellt hatte, zugunsten einer unbestimmten Abkünftigkeit vom Absoluten. Damit wird aus der Bestimmtheit nur ein Durchgang zu der „Urquelle des Denkenden und Gedenkbaren, zu jenem alles begreifenden, aber allen unbegreiflichen Wesen“.²⁶ Wenn aber die Urquelle von Bestimmen Unbestimmtheit sei, ist Bestimmen damit in einen Grund eingekehrt, den es selbst nicht zu begründen vermag. Und so kommt diesem Wesen die Funktion zu, „daß alles, was in der Körperwelt und in der Geisterwelt gut, schön und vollkommen ist, von ihm seine Wirklichkeit hat“.²⁷ Bonität, Schönheit und Vollkommenheit sind Kategorien, an denen in der Welt des Platonischen Phaidon allererst sichergestellt sein müsste, dass sie Bestimmtheit in sich tragen und insofern bestimmen können. Doch dieses Interesse an Bestimmtheit ist bei Mendelssohn der Einsicht gewichen, dass jedes Bestimmtheits-Wissen als nur vorläufiges Wissen anzusprechen sei, weil Wissen sich allererst aus der Bezogenheit auf das Absolute heraus bestimmen kann. Mit den folgenden Worten präzisiert Mendelssohn seine Position: Ich fühle […], daß ich der Lehre von der Unsterblichkeit […] nicht widersprechen kann […]. Ist unsere Seele sterblich, so ist unsere Vernunft ein Traum, den uns Jupiter geschickt hat, uns Elende zu hintergehen; so fehlet der Tugend aller Glanz, die sie in unsern Augen göttlich macht; so ist das Schöne und Erhabene, das Sittliche […] kein Abdruck göttlicher Vollkommenheiten. ²⁸

   

Platon 1809, 92 (Anm. 19). Mendelssohn 1989, Phädon, 263 (Anm. 20). Mendelssohn 1989, Phädon, 263 (Anm. 20). Mendelssohn 1989, Phädon, 241 (Anm. 20).

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Waren es zuvor Bonität, Schönheit und Vollkommenheit, die eine kategoriale Weihe allererst von ihrem Sein-im-Absoluten erhielten, so treten hier noch Erhabenheit und Sittlichkeit hinzu. Die Abhängigkeit dieser zentralen Kategorien vom Absoluten ist auf die Unsterblichkeit der Seele bezogen. Mendelssohn opfert Bestimmtheit, um zum Ausdruck zu bringen, dass das ‚Nicht-enden-Können der Seele’ nur dann für die Vernunft ein nachvollziehbarer Gedanke sein kann, wenn dieser Gedanke in Wahrheit nichts anderes ist als das ‚Immer-schon-Inbegriffen-Sein der angesprochenen Kategorien’ im Absoluten. Schönheit, Erhabenheit und Sittlichkeit tragen nicht nur die Spuren des Absoluten, sondern in ihnen formt sich das Absolute durch „Abdrücke“ aus, auf dass die Spurenlese im Endlichen nur dann diese Abdrücke als Abdrücke des Absoluten bewahren kann, wenn Endliches als Endliches nicht endet. Dessen ist sich eine Vernunft gewiss, die nicht träumt, sondern bestimmt. Nota bene: Die Vernunft weiß sich auf Endliches als bestimmtes Endliches verwiesen, und in dieser Verwiesenheit kommt sie nicht an ein Ende. Endliches bleibt Endliches, ohne dass ihm ein Weg zum Absoluten offenstünde, aber gerade hinsichtlich dieses Sachverhaltes ist es unendlich. Davon weiß die Vernunft, die um willen dieser Einsicht die Unsterblichkeitsidee nicht daranzugeben vermag. Es gehört aber zu den epistemologischen Eigenheiten dieser Zusammenhänge, dass die Vernunft sie nicht begreifen, sondern nur kommentieren kann. Die Vernunft leistet hier einen Kommentar am Ort jenes Selbst, mit dem sie identisch geworden ist; und dieses Selbst fühlt einen solchen Kommentar als final identifizierende Wirklichkeit, der gegenüber ein Widerspruch nur in einem Begreifen möglich wäre, das Unbegreifliches eben nur als unbegriffen begreifen kann. Damit kommt die Mendelssohnsche Adaption des Phaidon zu einer Pointe, die – noch vor seiner Darstellung der Beweise für die Unsterblichkeit – das Bestimmtheitsplateau des Platonischen Sokrates verlässt, um fortan in den Untiefen des ‚Sichselbst-Fühlens im Ewigen’ fortzuwandeln.²⁹

C Der Weg zu Schleiermachers Platon 1. Übersetzungskontexte: Übersetzungen und Übersetzungslehren säumen den Weg in die frühe Romantik. Nahezu zeitgleich mit Schleiermachers Platon brachte August Wilhelm Schlegel seine Blumensträusse italienischer, spanischer und portugiesischer Poesie (1804) auf den Markt, in denen sich Übertragungen von Camões, Cervantes, Tasso, Ariosto, Boccaccio, Dante und Petrarca versammelten. Tieck, der Vermittler altdeutscher, altenglischer und spanischer Literatur und der vielleicht vielfältigste Übersetzer seiner Epoche, übertrug den Don Quixote (1799 – 1804). In Dresden nahm er  „Wenn das, was [uns] nach dem Tode widerfährt, uns angehen und schon hienieden Furcht oder Hoffnung in uns erregen soll: so müssen wir selbst, die wir uns allhier unser bewußt sind, noch in jenem Leben dieses Selbstgefühl behalten und uns des Gegenwärtigen erinnern können. Wir müssen das, was wir sein werden, mit dem, was wir jetzt sind, vergleichen und darüber urteilen können“ (Mendelssohn 1989, Phädon, 245 [Anm. 20], Hervorhebung B.P.).

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an zwei Übersetzungsprojekten teil. Er gehörte zum inneren Kreis der Accademia Dantesca Prinz Johanns und leitete die sogenannte Schlegel-Tiecksche ShakespeareÜbersetzung, bei der Wolf von Baudissin und Tiecks Tochter Dorothea eine zentrale Rolle spielten. August Wilhelm Schlegel, „Chorführer“ der Romantik,³⁰ hat nicht nur als Übersetzer eine Wirkung – auch über den deutschen Sprachraum hinaus – zu entfalten vermocht. In Polen etwa, das Schlegel in den Berliner Vorlesungen über die Enzyklopädie der Wissenschaften (1803) keineswegs mit Hochachtung behandelte, wurden dessen Rezensionen, Übersetzungen und Vorlesungen begeistert aufgenommen. Polnische Studenten und Emigranten beförderten den Rezeptionsprozess, und Schlegels in Wien gehaltene Vorlesungen Über dramatische Kunst und Literatur (1809 – 1811) hatten es den Polen besonders angetan.Wurden sie weitgehend über eine 1814 in Paris veröffentlichte Übersetzung (Cours de littérature dramatique) gelesen, so kannten Literaturkritiker wie Franciszek Wężyk, Ludwik Osiński und Kazimierz Brodziński diese Vorlesungen sogar im Original.³¹ Aber nicht nur in Polen, sondern auch in Tschechien (Jeřábek) und Russland (Puschkin) stießen die Wiener Vorlesungen auf Interesse. Als wichtiger noch empfinden wir heute die oben schon angeführte ShakespeareÜbersetzung. Kurz nach der Mitte des 18. Jahrhunderts hatte Wieland seine Übersetzung des noch von Gottsched so sehr verfluchten Dichters vorgelegt (1762– 1766).³² Einen weiteren Schritt auf dem Weg Shakespeares zu einem in Deutschland allüberall bekannten Genie machten Goethe, Jakob Michael Reinhold Lenz und Friedrich Ludwig Schröder – Lenz mit seinen Anmerkungen übers Theater (1774), Schröder mit seiner Hamburger Inszenierung des Hamlet (1776) und endlich Goethe mit seiner Rede Zum Shäkespears Tag (1771), dem Götz von Berlichingen (1773), in dem Goethe durch starke Anleihen bei Shakespeare sich selbst und den englischen Dichter berühmt machte, und den Shakespeare studierenden und inszenierenden Wilhelm Meister. Das Schlegel-Tiecksche Projekt bildet einen Abschluss dieser Bemühungen und vermochte sich bis in die Gegenwart auf dem Buchmarkt zu behaupten. Zugleich hatte sich mit Winckelmann eine Griechenlandbegeisterung durchgesetzt, die auch auf die Übersetzungsgewohnheiten ausstrahlte. Man mag das ermessen an einem Vergleich von Übersetzungen griechischer und lateinischer Klassiker. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gehen die Ovidübersetzungen stark zurück, wohin-

 Heinrich Heine, Die Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland, Paris / Leipzig 1833, 31.  Clémence Couturier-Heinrich, „August Wilhelm Schlegel und Polen. Gegenseitige Rezeption“, in: Der Europäer A. W. Schlegel. Romantischer Kulturtransfer – Romantische Wissenswelten, hg.v. YorkGothart Mix / Jochen Strobel, Berlin / New York 2010, 199 – 214, hier 207.  Gottsched nahm Shakespeare das Nichtbeachten des Regelkanons übel: „Die Unordnung und Unwahrscheinlichkeit, welche aus dieser Hintansetzung der Regeln entspringen, die sind […] bei […] Shakespear so […] ekelhaft, daß wohl niemand […] daran sein Belieben tragen wird“, zit. nach: Rudolf Genée, Geschichte der Shakespeareschen Dramen in Deutschland, Leipzig 1870, 70.

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gegen die Übertragungen des Sophokles in die Höhe schnellen. Für die Zeit zwischen 1700 und 1800 finden sich im Katalog der Berliner Staatsbibliothek zehn Übersetzungen der Aeneis des Vergil, doch ab 1800 sinkt diese Zahl, so dass in den folgenden 50 Jahren nur noch drei Verdeutschungen zu verzeichnen sind. Für dieselben Zeiträume besitzt man zwölf Übertragungen der Metamorphosen Ovids vor 1800 und nach 1800 nur noch eine, die Voßsche Übersetzung (1824). Das Genie des Johann Heinrich Voß stellt sich gegen den Trend: Sein Homer war so erfolgreich, dass sich nach 1800 kein Anstieg der Übersetzungen findet. Die Sophokles-Verdeutschungen hingegen beschreiben die typische Tendenz der Zeit: In den 50 Jahren vor 1800 gab es neun Übertragungen, wohingegen sich diese Verdolmetschungen in dem halben Jahrhundert danach nahezu verdreifacht haben.³³ Das eindrücklichste Ereignis stellt die Homer-Übertragung durch Johann Heinrich Voß dar. Zwar hatten sich die Hainbündler Gottfried August Bürger und Friedrich Graf zu Stolberg in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts ebenfalls am Homer versucht, doch konnten beide nicht die Wirkung eines Voß erzielen. Wenige Jahre vor dem Jahrhundertwechsel lagen die Ilias und die Odyssee aus dessen Hand vor. Karl Wilhelm Ferdinand Solger kommentiert mit anerkennenden Worten: „Jetzt erst können wir sagen, daß wir einen vollkommen deutschen Homer haben“.³⁴ Und tatsächlich blieb diese in das Original eingelebte Übersetzung mit ihrer Übertragung von Positionslänge und Hiatverkürzung des homerischen Verses in flüchtige und schwebende Mittelzeiten,³⁵ wodurch es Voß gelang, den deutschen Akzent um eine Musikalität von Tonhöhe und Rhythmus zu ergänzen, bis weit in das 19. Jahrhundert hinein prägend. Voß verstand es so, den antiken mit dem modernen Vers zu verbinden. Schleiermacher hat den Voßschen Homer in Gebrauch genommen, wann immer es darum ging, ein Homer-Zitat des Platon zu übersetzen. Seine Treue ging so weit, dass er selbst dann, wenn er eine andere Übersetzung für angemessener hielt, keine Veranlassung gesehen hat, von Voß abzuweichen.³⁶ Dass Voß mit seiner Übersetzung zugleich eine kulturpädagogische Absicht verfolgt, zeigt die Auseinandersetzung um den Lehrplan für die kurpfalz-bayerischen Mittelschulen. Der Schul- und Kirchenrat Joseph Wismayr setzte einen Plan durch, der sich an der aufgeklärten Sachschule orientierte und einen Rückgriff auf die Schulordnung von 1774 darstellte. Dieser Lehrplan befürwortet eine Wissensbildung, die pragmatisch auf technisch-mathematische Fähigkeiten ausgerichtet ist, neuere Sprachen und Realien mit einbezieht und sich besonders für bürgerliche Berufe eig-

 Vgl. hierzu Josefine Kitzbichler, „Von 1800 bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts“, in: Theorie der Übersetzung antiker Literatur in Deutschland seit 1800, hg.v. Josefine Kitzbichler u. a., Berlin 2009, 13 – 112, hier 19, bes. 19, Fn. 17.  Karl Wilhelm Ferdinand Solger [1803], „Kleine Aufsätze“, in: ders.: Nachgelassene Schriften und Briefwechsel, Bd. 1, hg.v. Ludwig Tieck / Friedrich von Raumer, Leipzig 1826, 97.  Vgl. Johann Heinrich Voß, Zeitmessung der deutschen Sprache, Königsberg 21831, 65 – 83.  Vgl. Hermann Patsch, Alle Menschen sind Künstler. Schleiermachers poetische Versuche, Berlin / New York 1986, 68 – 77.

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nen sollte.³⁷ Dagegen bringt Voß das Ideal humanistischer Bildung in Stellung, ein Ideal, dem auch seine Übersetzung dienen soll. Und es ist interessant zu sehen, dass dem an der griechischen Antike geschulten Geist eine erhöhte Aufnahmefähigkeit auch für die anderen Fächergruppen zugetraut wird.³⁸ Voß’ Übersetzungen stehen also im Dienst einer Bildung, die Schönheitssinn und Wahrheitsinteresse erwecken und damit zugleich eine mühelose Einarbeitung in den Kanon bürgerlichen Gebrauchswissens ermöglichen sollen. Übersetzungen arbeiten daran, den „verständigen Menschen“ Wirklichkeit werden zu lassen, und insofern übersetzen Übersetzungen den Menschen auch immer seinerseits in eine neue Etappe seiner geistigen Entwicklung. Das Voßsche Projekt demonstriert in seiner bildungspraktischen Konnotation ein Urvertrauen in die Möglichkeit des Gelingens einer Übertragung ohne Bedeutungsverluste. In dem Augenblick, wo dieses Vertrauen einer zunehmenden Problematisierung zu weichen beginnt, ist der Schritt in die Romantik getan. Herder war ihn schon vorher gegangen. 1770 hatte er auf eine von der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin gestellte Preisfrage nach dem Ursprung der Sprache geantwortet und mit seiner Antwort den ersten Preis gewonnen. Herder stellt hier den Sprachursprung als eine humane Antwort auf jenen Instinktmangel dar, der die Menschenkinder vom Tier unterscheidet. Was auf den ersten Blick beim Eintritt in die Natur sich als eine vitale Einschränkung kundgibt, manifestiert die finale Überlegenheit des Menschen, dessen Abstraktionsfindigkeit ihn dazu in die Lage versetzt, durch Merkmalsdifferenzierung und die Wiederholung dieser Merkmale sprachliche Einheiten zu stiften. Das Faszinierende an diesen sprachlichen Einheiten ist nun, dass sie zwar dem Verständnis zu dienen vermögen, aber nicht daran gebunden sind, in Verständigung expressiv zu werden. Allein das Inwendig-Werden der Seele, worin der Mensch sich zeichen-erinnernd an sich selbst wendet, bildet den Ursprungsakt der Sprachwerdung. Aus dieser Mechanik sprachbildender Prozesse erklärt es sich auch, dass Sprachen durch hohe Individualität geprägt sind. So wenig als es zween Menschen ganz von einerlei Gestalt und Gesichtszügen: so wenig kann es zwo Sprachen, auch nur der Aussprache nach, im Munde zweener Menschen geben, die doch nur eine Sprache wären. Jedes Geschlecht wird in seine Sprache Haus und Familienton bringen […]. Clima, Luft und Wasser, Speise und Trank, werden […] auf die Sprache einfließen […]. Das war nur Aussprache. Aber Worte selbst, Sinn, Seele der Sprache – welch ein unendliches Feld von Verschiedenheiten.³⁹

Pünktlich ist also auf die Entstehungsgestalten des Sprachlichen acht zu geben, weil Sprache nicht nur durch unhintergehbare Individualität geprägt ist, sondern sich

 Vgl. Stefanie Seidel-Vollmann, Die romanische Philologie an der Universität München (1826 – 1913). Zur Geschichte einer Disziplin in ihrer Aufbauzeit, Berlin 1977, 81– 93.  Johann Heinrich Voß [1805], „Über den Lehrplan für die kurpfalz-bayerschen Mittelschulen“, in: ders., Kritische Blätter nebst geografischen Abhandlungen, Bd. 2, Stuttgart 1828, 13 – 18.23 – 24.  Johann Gottfried von Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, welche den von der Königl. Academie der Wissenschaften für das Jahr 1770 gesezten Preis erhalten hat, Berlin 1772, 188 – 189.

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unterschiedlichen Einflussfaktoren ausgesetzt sieht, von denen kein Faktor so unerheblich wäre, dass er nicht Einfluss auf die Sprachformen nehmen würde. Sprache hat nicht nur eine Sozial-, sondern auch eine Naturgeschichte. Somit ist der zu übersetzende Text geprägt durch eine auch mit größtem Übersetzungsgeschick nicht kompensierbare Fremdheit, so dass eine Verdolmetschung vor der prinzipiellen Unmöglichkeit steht, das Ausdrucksgewebe des Originals hinüberzutragen in die Zielsprache. Jede Übersetzung stellt ein kalkuliertes Opfer dar, bei der „[t]ausend Schönheiten verduften; und oft ein Theil vom Geiste selbst“.⁴⁰ Und so ist an den Übersetzer die gewaltige Forderung zu richten, dass er sich in die Genesis des Originals einfühle, als würde dieses Original seiner Hand entsprungen sein. Die Übersetzung trüge den Charakter eines schöpferischen Ursprungswerks an sich, wie es nur durch eine geniale Initiative hervorgebracht werden kann.⁴¹ Die Romantiker fühlten sich hier besonders auf den Plan gerufen, da es zur Attitüde der Frühromantik gehörte, Ursprungsgeschichte zu schreiben. Friedrich Schlegel notiert am Abend des Jahrhunderts (1797): „Wir wissen eigentlich noch gar nicht was eine Uebersetzung sey […]. Ich gehöre zu den interpretirenden Philologen, Voß zu den grammatischen“.⁴² Was hier gegenüber Voß eine ganz neue Philologie darstellen sollte, war die Verabschiedung eines Vertrauens in die Abbildungsbeziehung zwischen Übersetzung und Original zugunsten einer Interpretation des Originals nach seinen eine Nachkonstruktion von Ganzheiten anregenden Sinnmomenten.⁴³ Mit diesem Gedanken hat Schlegel auf Schleiermacher gewirkt, der ihm diese Anregung nicht nur nicht vergessen, sondern auch seine Platonübersetzung als einen Abkömmling dieser Schlegelschen Denkfigur verstanden hat.⁴⁴ 2. Platonrezeption: Wir gehen nun auf die Platonrezeption ein, wie sie sich den Zeitgenossen zwischen dem Mendelssohnschen Phaidon und der Übersetzung des Platon durch Schleiermacher dargeboten hat. Zu den herausragenden Gelehrten der Platonexegese gehört Friedrich Victor Leberecht Plessing. Plessing ist der Nachwelt besonders durch zwei biographische Details bekannt geworden. Als sehr junger Mann

 Johann Gottfried von Herder [1768], „Ueber Thomas Abbts Schriften. Zweites Stück. Aus der Handschrift“, Sämmtliche Werke, Bd. 2, hg.v. Bernhard Suphan, Berlin 1877, 295 – 363, hier 360.  „Der Uebersetzer muß selbst ein schöpferisches Genie seyn, wenn er […] seinem Original und seiner Sprache ein Genüge thun will“ (Johann Gottfried von Herder, Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Erste Sammlung von Fragmenten. Eine Beilage zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend, Riga 1767, 73).  Friedrich Schlegel [1797], „Zur Philologie. I“, in: Ders., Kritische Schriften und Fragmente, Bd. V, hg.v. Ernst. Behler / Hans Eichner, Paderborn u. a. 1988, 174– 176, hier 176.  „[Man] kann […] sagen, daß man ein Werk, einen Geist verstehe, wenn man den Gang und Gliederbau nachkonstruieren kann“ (Friedrich Schlegel, Vom Wesen der Kritik, KFSA III, hg.v. Ernst Behler, Paderborn u. a. 1975, 60).  So schreibt Schleiermacher in einem Brief an Brinkmann (14. Dez. 1803): „Meine Ideen würden wol nicht so viel umfassend sein als die seinigen [sc. F. Schlegels] […]. [I]ch werde mich […] nie an etwas Großes wagen können, wie […] Schlegel […], sondern nur an solche Einzelheiten, wie den Platon.“ (Wilhelm Dilthey (Hg.), Aus Schleiermachers Leben. In Briefen, Bd. 4, Berlin 1863, 90).

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hatte er den Werther Goethes gelesen, um den Dichter daraufhin mit zahlreichen emotional aufgeladenen Briefen zu bestürmen. Und: Später war er dann Doktorand bei Immanuel Kant, der ihm ein Darlehen vermittelte, um seinem Schüler aus der Misere einer Alimentationsklage zu helfen. Zugleich aber kennt man ihn als fleißigen und produktiven Forscher. Plessings Platon ist angehaucht von der Ägyptomanie des 18. Jahrhunderts, an deren Ende die Ägyptenexpedition Napoleons mit einer mehr als 150 Mann zählenden Expertentruppe steht. Die Hieroglyphen waren noch nicht entziffert und für die Nachrichten über Ägypten war man angewiesen auf griechische, lateinische oder biblische Autoren – ein Nährboden für Phantasiegänge.⁴⁵ Einige Ausflüsse dieser Ägyptenbegeisterung wie Mozarts Zauberflöte und die Freimaurergärten sind heute noch gegenwärtig. In wuchtigen Buchwerken wie der siebenbändigen Altertümersammlung Recueil d’antiquités (1752– 67) des Comte de Caylus oder den drei Bänden De l’origine des loix, des arts, et des sciences; et de leurs progrès chez les anciens peuples (1758) des Antoine-Yves Goguet wird Ägypten verherrlicht. Der Comte de Caylus erblickt in den ägyptischen Bauten eine Inszenierung von Unsterblichkeit, und bei Pierre Adam d’Origny wurden die ägyptischen Könige zu Aufklärern ersten Ranges, die in enger Bezugnahme auf die öffentliche Meinung regiert und Ägypten zur strahlenden Nation des Erdenrunds gemacht hätten, die erst unter dem Einfluss von Persern und Muslimen untergegangen wäre (L’Egypte ancienne, ou memoires historiques et critiques sur les objets les plus importans de l’histoire du grand empire des Egyptiens, 1762). Zugleich gründete Giuseppe Balsamo aus Palermo alias Comte de Cagliostro mehrere ägyptische Logen.⁴⁶ Plessing steht in dieser Begeisterung unmittelbar darin, und so widmet er nahezu einen ganzen Band seines Memnoniums dem Nachweis, dass in Ägypten der Ursprung aller Kunst, Kultur, Wissenschaft, Politik und Philosophie zu finden sei.⁴⁷ Platon und Ägypten bezieht Plessing so aufeinander, dass Platons Ideenlehre einen ägyptischen Metaphysik-Import darstellt.⁴⁸ Ob Plessing gleich nicht nur Kants Schüler, sondern dem Königsberger Philosophen auch privat zu Dank verpflichtet war, pflegte er in seinen historischen Äusserungen zur Platonischen Philosophie keineswegs einen unterwürfigen Kantianismus, sondern urteilte sehr eigenständig.⁴⁹ Es gibt starke Aussagen Plessings, die nahelegen,

 Für eine Kritik an dergleichen Spekulationen vgl. etwa Johann Gottlieb Gerhard Buhle, Ueber den Ursprung und die vornehmsten Schicksale der Orden der Rosenkreuzer und Freymaurer, Göttingen 1804, 81– 85.  Vgl. Dirk Syndram, Ägypten-Faszinationen. Untersuchungen zum Ägyptenbild im europäischen Klassizismus bis 1800, Frankfurt a.M. u. a. 1990.  Vgl. nur Friedrich Victor Leberecht Plessing, Memnonium oder Beschluß der Versuche zur Enthüllung der Geheimnisse des Althertums, Bd. 1, Leipzig 1787, 113 – 120.206 – 210.304– 310.  Vgl. Friedrich Victor Leberecht Plessing, Versuche zur Aufklärung der Philosophie des ältesten Alterthums, 1. Buch, Leipzig 1788, 138 – 150.  Vgl. nur zur Abgrenzung von der Transzendentalphilosophie Friedrich Victor Leberecht Plessing, „Ueber den Aristoteles“, in: Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt, Bd. 3, hg.v. Karl Adolf Cäsar, Leipzig 1786, 1– 109, hier 50 Anm. 1.

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dass er der These zuneigte, die Ideen des Platon seien als Substanzen zu interpretieren, deren Intellektion nur in mimetischer Initiative gelingen könne.⁵⁰ Es ist aber seine entscheidende Einsicht, dass sich Substantialität und Begrifflichkeit gegenseitig bedingen.⁵¹ Hier ist darauf zu sehen, was Plessing unter den Ideen als „Vorstellungen“, „die sich auf die[] immateriellen Substanzen beziehn“, versteht.⁵² Dergleichen Vorstellungen bezeichnet er näher als solche, die dem Verstand unmittelbar durch Anschauung gegeben sind.⁵³ An diesen Vorstellungen ist basal, dass der Verstand sie durch „unmittelbare Anschauung“ erlangt hat.⁵⁴ Vorstellungen nämlich stellen vor und setzen somit in sich selbst Fremdheit, die sie in der reinen Vorstellungsrelation nicht mehr einzuholen vermögen. Sollen Vorstellungen sich also auf Substanzen beziehen, so dürfen diese Substanzen nicht als ein dieser Vorstellung Fremdes gesetzt werden; und darum kann nur eine unmittelbare Anschauung, die kein DifferenzMoment als Ausdruck einer Vermittlung von Angeschautem und Anschauung in sich trägt, gewährleisten, dass die Vorstellungen tatsächlich Vorstellungen von Substanzen sind. Gleichwohl darf der Anschauungsbegriff nicht den Vorstellungsbegriff ersetzen, weil erst durch die Vorstellung Differenz am Ort des Absoluten gesetzt wird, eine Differenz, ohne die das Absolute gleichsam unansprechbar bliebe. Nur wenn diese Beziehung zwischen Substanz und Idee fixiert ist, dürfen die „Ideen als die Quelle aller wahren Erkenntniß und als die Prinzipien dessen, was Wissenschaft heiße“, betrachtet werden.⁵⁵ Denn das Sein der Einheit von Idee und Substanz existiert in einer Erkenntnis, die in die Erkenntnis von Erkennbarem nur vorausliegend eingeht – als das „vorher Erkannte, die vorher existirende Erkenntniß“.⁵⁶ Damit kann die Ideenlehre ein Gewissheits-Wissen im „beständigen Fluss[]“ von „Wandelbarkeit und Veränderlichkeit“ installieren.⁵⁷ Bei Johann Jakob Engel findet sich die weitere Variante einer Platondeutung, wenn hier konsequent der Gedanke einer Pädagogik durchgeführt ist, die sich nicht so sehr auf die prinzipientheoretische Frage fokussiert, sondern vielmehr dem die Erkenntnis formenden Geschehen der Platonischen Dialoge nachgeht. Die Dialogform

 Friedrich Victor Leberecht Plessing, Memnonium oder Beschluß der Versuche zur Enthüllung der Geheimnisse des Althertums, Bd. 2, Leipzig 1787, 196.  „Ich sagte […], daß die Ideen aus einem zwiefachen Gesichtspunkt betrachtet werden müßten, einmal als immaterielle Substanzen, und dann wieder als Begriffe“ (Friedrich Victor Leberecht Plessing, „Untersuchungen über die Platonischen Ideen, in wie fern sie sowohl immaterielle Substanzen als auch reine Verstandesbegriffe vorstellten“, in: Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt, Bd. 3, hg.v. Karl Adolf Cäsar, Leipzig 1786, 110 – 190, hier 176).  Plessing 1786, Untersuchungen, 177 (Anm. 51).  Plessing variiert hier cum grano salis die Kantische Wechselbedingtheit von Anschauung und Begriff, die Kant gegen Blindheit und Leere fixiert hatte.  Plessing 1786, Untersuchungen, 177 (Anm. 51).  Plessing 1786, Untersuchungen, 184 (Anm. 51).  Plessing 1786, Untersuchungen, 177 (Anm. 51), (Hervorhebungen. B.P.).  Plessing 1786, Untersuchungen, 185 (Anm. 51).

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ist dabei keine schmückende Form jenes Gedankens, der sich ohne diesen Schmuck nur sehr schwer einprägte.Vielmehr ist diese Form jener zu lehrende Gedanke selbst in seiner Neuerschaffung durch die Lernenden. Die alte Frage, ob es sich bei Platons Ideen um Substanzen im weitesten Sinne oder um Termini handelt, wird hier transformiert in eine Selbsterzeugungsgewohnheit von gesichertem Wissen, das seine Sicherung daraus erfährt, am Ort des denkenden Subjekts geschaffen worden zu sein. Dieses Wissen vermag Stabilität dadurch zu erlangen, dass begreifendes Denken sich des Gedankens vom Denken versichert.⁵⁸ Nur ein mäeutisches Verfahren, dem das Dialogische nicht äußerlich ist, kann das gewährleisten.⁵⁹ Anton Friedrich Büsching ist wie schon Brucker der Überzeugung, dass es sich bei den Platonischen Ideen, die abzugrenzen seien von den gleichnamigen Vorstellungen innerhalb der stoischen Erkenntnislehre, um Substanzen handele, die ihr Charakteristikum darin hätten, „unkörperliche Substanz, […] welche durch sich selbst bestehet“, zu sein. Die Substanzvorstellung verbindet Büsching mit der Überzeugung des Pseudo-Plutarch, dass dieses Für-sich-Sein nur dann angemessen zu verstehen sei, wenn es eine unvordenkliche Existenz „in dem Verstande Gottes“ fristen würde.⁶⁰ Abschließend sei noch auf die Quellen-Debatte eingegangen, wie sie sich Schleiermacher kurz vor der Markteinführung seiner Übersetzung dargeboten hat. Dieterich Tiedemann widmet dem mit „Dichter-Genie und Philosophen-Geist“ gleichermaßen gesegneten Platon ein gründliches Kapitel im Geist der spekulativen Philosophie (1791)⁶¹ und unterscheidet hier „nicht mehr vorhandene[] Werke“⁶² von „mehrere[n] aus Platos Munde geschöpfte[n], nicht öffentlich bekannt gemachte[n] Lehren“,⁶³ die noch neben den Dialogen existierten. Zugleich verzichtet Tiedemann nicht darauf, eine Deutung dieser unterschiedlichen Quellen zu bieten, die darauf hinauslaufen sollte, direkte und indirekte Überlieferung als einander vertiefende Stadien eines Programms zu betrachten, in dem alle Realität auf Prinzipien zurückgeführt werden können, so dass sich dann eine „objektive Kenntniß“ ergebe.⁶⁴ Tiedemann verzahnt hier den transzendentalen Ansatz mit den ontologischen Grundlagen eines jeden Transzendentalismus, wenn er davon spricht, „daß Platon eine allgemeine Theorie von den Principien aller Dinge entworfen hatte“, die als eine „Art allgemeiner […] Ontologie“ zu verstehen sei.⁶⁵ Mit dieser Verzahnung von Transzendentalismus und Ontologie versucht Tiedemann den Aporien sowohl einer Sub „Vor allen Dingen müssen wir nun wissen: was ist ein Begrif? […] wir müssen uns zuerst um den Begrif des Begriffs bemühen“ (Johann Jakob Engel, Versuch einer Methode die Vernunftlehre aus Platonischen Dialogen zu entwickeln, Berlin 1780, 35).  Vgl. Engel 1780, 153 (Anm. 58).  Anton Friedrich Büsching, Vergleichung der griechischen Philosophie mit der neuern. Ein Versuch und eine Probe, Berlin 1785, 45.  Dietrich Tiedemann, Geist der spekulativen Philosophie, Bd. 2, Marburg 1791, 63.  Tiedemann 1791, 81 (Anm. 61).  Tiedemann 1791, 192 (Anm. 61).  Tiedemann 1791, 195 (Anm. 61).  Tiedemann 1791, 192 (Anm. 61).

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stanzontologie als auch der transzendentalphilosophischen Wende unmittelbar vor dem Jahrhundertwechsel auszuweichen.⁶⁶

D Schleiermachers Platon Schleiermachers Platonübersetzung lag in der Luft und war ein Normalfall der Zeittendenz. Schnell können wir an den immer wieder berichteten Ereignissen, die Schleiermacher veranlassten, eine Übersetzung des Platon zu unternehmen, vorbeigehen, dass nämlich Friedrich Schlegel sich Schleiermacher als Adlatus einer Platonübersetzung auserkoren hatte, dann aber seinerseits weder die versprochenen Übersetzungen des Parmenides und Phaidon noch auch die in Aussicht gestellte Einleitung in Platons Philosophie ablieferte und dann endlich das Projekt liegen ließ. Am 5. Mai 1803 gibt Schlegel in Paris folgende Zeilen auf die Post: „Das Übersetzen ist […] nicht meine Stärke. Ich habe keine rechte Neigung dazu.“⁶⁷ Knappe drei Monate später (29. Juli 1803) lässt sich Schleiermacher im Intelligenzblatt der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung mit einer Anzeige die Uebersetzung des Platon betreffend wie folgt vernehmen: [V]on dem Verbündeten verlassen, vermag ich dennoch nicht das Werk zu verlassen […]. Vorzüglich darauf ist der Wunsch gerichtet, die Worte des Platon […] in ihrem Zusammenhange verständlich zu machen, dann auch die Verbindung möglichst zu erhalten und ins Licht zu setzen zwischen dem Zweck und Geist eines jeden und der Ausführung […]. Eine allgemeine Einleitung soll […] die Leser mit dem Standpunkte des Uebersetzers […] bekannt machen […]. [J]edem Gespräch [wird] eine Einleitung vorangehn.⁶⁸

Ein editorisches Unternehmen der Superlative! Man bedenke nur, wo sich die Platonphilologie befand: Die Dialoge mussten nach ihrer Echtheit geordnet und in eine chronologische Reihenfolge gebracht werden. Dabei war auch zu klären, wie sich mündliche und schriftliche Tradition zueinander verhielten. Schleiermacher ist hier nicht auf sich allein gestellt. Besonders Ludwig Friedrich Heindorf,⁶⁹ ein Schüler Friedrich August Wolfs und Herausgeber einer vierbändigen Edition Platonischer

 Es kann niemandem entgehen, dass wir in unserer Kontextualisierung der Schleiermacherschen Einleitung Tennemanns nicht Erwähnung getan haben. Dies holen wir im folgenden Kapitel nach, da sich Tennemann gut dafür eignet, unmittelbar dort als Gesprächspartner aufzutreten, wo Schleiermacher sich dezidiert von seinen Vorläufern absetzt.  Wilhelm Dilthey (Hg.), Aus Schleiermachers Leben. In Briefen, Bd. 3, Berlin 1861, 341.  Friedrich Schleiermacher, „Anzeige die Übersetzung des Platon betreffend“, Intelligenzblatt der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung. Erster Jahrgang (1804), 13 – 14.  Schleiermacher erwähnt Heindorf auch in seiner Anzeige.

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Dialoge,⁷⁰ stand Schleiermacher mit Rat und Tat zur Seite und war stets ein sicherer Hafen, wenn es galt, philologische Detailprobleme zu lösen.⁷¹ Es fällt auf, dass Schleiermacher nicht das Bedürfnis verspürt, die Interpretationsversuche seiner Vorläufer fortzusetzen. In seiner Einleitung (1804) zur Platonausgabe verzichtet er gänzlich auf eine Darstellung der Platonischen Philosophie und begründet dies betulich damit, dass eine solche Darlegung der gedanklichen Eigenbewegung im Weg stehen würde, die Platon durch seine Dialoge in Gang setze, und von der Schleiermacher angibt, sie seinen Zeitgenossen wieder zumuten zu wollen.⁷² Schleiermacher hebt also gleich zu Beginn der Einleitung den Vorzug seiner neuen Übersetzung hervor, die zu lesen ein weitaus lohnenderes Unternehmen sei als sich mit den philologisch-philosophischen Folianten der Platonexegese zu beschäftigen. Mehr noch: Etwas überzogen darf man sagen, dass Schleiermacher seine Übersetzung als alternativlos präsentieren will. Schauen wir ein wenig dabei zu, wie er sich seinen Vorgängern annimmt. Der Platonforschung wird vorgeworfen, sie würde vehement an der Einschätzung festhalten, daß es vergeblich sei, in seinen [sc. Platons] Schriften irgend etwas Ganzes, ja auch nur die ersten Grundzüge einer sich selbst gleichen und durch alles hindurchgehenden philosophischen Denkart und Lehre aufzusuchen, […] kaum irgend etwas stehe in fester Beziehung mit dem übrigen; ja häufig widerstreite eines dem andern, weil er nämlich mehr ein übermüthiger Dialektiker sei als ein folgerechter Philosoph, mehr begierig Andre zu widerlegen als fähig oder gesonnen ein eignes […] Lehrgebäude aufzuführen […]. Ein solches Urtheil nun ist nichts anderes, als ein verkleidetes Geständniß des gänzlichen Nichtverstehens der platonischen Werke.⁷³

Nun – Schleiermachers Formulierungen sind offenkundig gegen eine Tradition der zeitgenössischen Platonforschung gerichtet, die den Platon auf eine unangemessene Weise interpretiert. Worin aber besteht diese Interpretation, eine Frage, die unbeschadet ihrer Schlichtheit gar nicht unmittelbar zu beantworten ist aus der zitierten Passage, da auch jene Zuschreibungen einen polemischen Ton tragen, die Platon treffend kennzeichnen. Denn dass etwa „eines dem andern widerstreite“ gehört zur Expressivität des dialogischen Philosophierens, dass Platon ein „übermüthiger Dialektiker“ sei, stimmt ebenfalls, wenngleich man sich über seine Übermütigkeit streiten mag, dass Platon „mehr ein übermüthiger Dialektiker sei als ein folgerechter Philo-

 Platonis Dialogi selecti, Bd. I, Berlin 1802; Bd. II, Berlin 1805; Bd. III, Berlin 1806; Bd. IV/1, Berlin 1809; Bd. IV/2, Berlin 1810. Diese Edition findet sich auch im Rauchschen Auktionskatalog aufgeführt (vgl. Tabulae Librorum e Bibliotheca defuncti Schleiermacher, Berlin 1835, 71).  „Ich lese jezt alle Woche zwei Abende Platon mit Heindorf, wobei die pünktlichste Kritik sehr heilig getrieben wird“ (Friedrich Schleiermacher, „An Friedrich Schlegel, Berlin, den 24. Januar 1801“, in: Aus Schleiermachers Leben. In Briefen, Bd. 3, hg.v. Wilhelm Dilthey, Berlin 1861, 257).  Friedrich Schleiermacher, An H. Herz (25.2.1799), KGA IV/3, hg.v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin / New York 1992, 17– 20, hier 18 – 19.  Friedrich Schleiermacher, An H. Herz (27.2.1799), KGA IV/3, hg.v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin / New York 1992, 21– 22, hier 22.

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soph“, ist keine belastbare Entgegensetzung, und endlich, dass Platon mehr Interesse daran zeigt, dialektisch zu widerlegen, als mit einem eigenen „Lehrgebäude“ in das Rennen zu gehen, ist ebenfalls ein Gegensatz, der nichts Zwingendes an sich trägt. Die angeführten Kennzeichnungen sind also nichts weiter als entdifferenzierende Beschreibungen der Platonischen Philosophie, die sich gar nicht als eine Polemik gegen Platon anbieten und schon gar nicht ein „Ausdruck des gänzlichen Missverstehens“ dieser Philosophie sind. Wollen wir dennoch ein Bestreitungspotential gegenüber der Platonforschung in den Ausführungen Schleiermachers erkennen, so könnte dies allein in der Aussage gelegen sein, dass diese Forschung einen Ganzheitssinn bestritte, der zu den TeilMomenten in einer Beziehung steht. Es handelt sich um eine Relation, die Schleiermacher wenige Jahre zuvor zur Grundlage seiner Reden an die Gebildeten (1799) unter den Verächtern der Religion gemacht hatte. Werfen wir mit diesem Vorwurf Schleiermachers im Ohr einen Blick in die Forschungsliteratur am Jahrhundertende! Hier bietet sich das System der Platonischen Philosophie (1792 ff) des Wilhelm Gottlieb Tennemann an. Und bei Tennemann liest man die Zeilen, dass „alles […] Philosophieren des Platon [aus]ging […] von einem Punkte […] und [ab]zielte auf einen Punkt […]. Er [sc. Platon] suchte die praktischen Erkenntnisse in ein ganzes systematisch geordnetes Ganze zu bringen, oder der praktischen Philosophie systematische Form zu geben, und der mannichfaltigen Verbindung wegen, auch der theoretischen Philosophie eben diesen Dienst zu erzeigen“.⁷⁴ Mehr als zehn Jahre vor Schleiermachers Einleitung wurde zumindest bei Tennemann das von Schleiermacher angesprochene „unrichtige Urteil“ über die Platonische Philosophie schon zugunsten der Schleiermacherschen Position zurückgewiesen. War Tennemann eine Ausnahme? Keineswegs! Nehmen wir uns noch ein weiteres Standardwerk vor, die Philosophiegeschichte von Johann Gottlieb Buhle. Buhle war Philosophieprofessor in Moskau und Bibliothekar der Privatbibliothek Katharina Pawlownas, der Großfürstin von Russland, auf die Napoleon ein begehrliches Auge geworfen. Im zweiten Teil seines Lehrbuchs der Geschichte der Philosophie (1796 ff) kommt Buhle auf Platon zu sprechen und lässt dem Dichterphilosophen eine ausführliche Beurteilung angedeihen. Hier findet sich dann auch die Schleiermachers Intention entsprechende Aussage, dass bei Platon eine „Hauptidee vorhanden ist, welcher die sämtlichen Theile untergeordnet sind“. Aber noch mehr: Wenn man diese Teil-Momente einer Ordnung zuführen wollte, dann würde diese „Hauptidee“ sich als ebenfalls systematisierbar herausstellen und „wie ein Ganzes erscheinen“.⁷⁵ Mit Buhle haben wir also einen weiteren Forscher, der genau das sagt, was Schleiermacher in der Platonforschung zu vermissen meint.

 Wilhelm Gottlieb Tennemann, System der Platonischen Philosophie, Bd. 1, Leipzig 1792, 214.  Johann Gottlieb Buhle, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie und einer kritischen Literatur derselben. Zweyter Theil, Göttingen 1797, 47.

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Schauen wir weiter, wie Schleiermacher die Kritik gegenüber seinen Vorgängern inszeniert, so finden sich die prägnantesten Formulierungen dort, wo er gegen Tennemanns System der Platonischen Philosophie antritt. Hier bietet er das Bild auf, dass Tennemann einem Pathologen gleich „die einzelnen Gefäße oder Knochen“ eines Platonischen Dialogs „zum Behuf der Vergleichung mit ähnlichen […] eben so zerstükkelten“ Dialogen auf dem Obduktionstisch seines Platonbuches präsentiert. Und der bei einer solchen Autopsie frei werdende Leichengeruch stehe im Kontrast zu Schleiermachers Übersetzungswerk, das allüberall die Lebendigkeit atmungsaktiver Philosophie spürbar werden macht. Die Platonübersetzung sei ein „nothwendiges Ergänzungsstük“ der Tennemannschen Platondarstellung allein deshalb, weil Schleiermacher die Dialoge „ohne Zerstükelung“ darbiete.⁷⁶ Diese Stereotypisierungen der Unverzichtbarkeit seines Übersetzungsunternehmens wollen natürlich den finanziellen Erfolg des Projekts sicherstellen, was auch gelang.⁷⁷ Darüber hinaus aber stellen solche Zuschreibungen eine grobe Verzeichnung Tennemanns dar. Tennemann weist nämlich schon seinerseits auf die vitalen Vorzüge der dialogischen Kunst Platonischen Philosophierens hin;⁷⁸ er hat einen viel zu komplexen FormBegriff, als dass der platte Hinweis Schleiermachers, bei Platon lassen sich Form und Inhalt nicht trennen, einschlägig wäre;⁷⁹ und die Notwendigkeit zu einem lebendigen Philosophieren als eines Beitrages zur „Kultur und Bildung des menschlichen Geistes“ betont Tennemann nicht anders als Schleiermacher.⁸⁰ Kommen wir nun zu einem letzten entscheidenden Vorwurf, den Schleiermacher gegenüber der Platonforschung erhebt, dass diese nämlich zwischen einem esoterischen und exoterischen Platon unterscheiden würde, so „als sei in den Schriften […] seine eigentliche Weisheit gar nicht oder nur in geheimen schwer aufzufindenden Andeutungen enthalten“.⁸¹ Und siehe – auch hier war Tennemann ebenfalls schon angelangt, wenn er schreibt: „Ich wähle […] den Plato selbst zu meinem Führer, und seine Schriften zur Quelle seiner Philosophie“.⁸² Wir können den Vergleich zwischen Schleiermacher und Tennemann hier abbrechen. Schleiermachers Kampf gegen den Philosophiehistoriker wirkt dann, wenn man diesen selbst zu Worte kommen lässt, wie das Rennen zwischen Hase und Igel. Nehmen wir noch hinzu, dass Schleiermacher mit seiner Frühdatierung des Phaidros und damit der Absicht, die natürliche Reihenfolge der Platonischen Dialoge herzu-

 Friedrich Schleiermacher, „Einleitung“, in: ders., Platons Werke. Erster Teil, erster Band, KGA IV/3, hg.v. Lutz Käppel / Johanna Loehr, Berlin / Boston 2016, 28.  Kurt Nowak, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001, 136 – 137.  Tennemann 1792, 126 (Anm. 74).  Vgl. nur Tennemann 1792, 39.46.58.83 – 84.110.125 – 126.149.163 – 164.168 – 169.212– 220.223 – 230 (Anm. 74).  Tennemann 1792, 213 (Anm. 74).  Schleiermacher 2016, 24 (Anm. 76).  Tennemann 1792, XXIV (Anm. 74).

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stellen, gescheitert ist,⁸³ so fragt sich, ob seine Übersetzungstheorie – Schleiermachers Rang als Übersetzer ist unbestritten – überhaupt einen Gedanken von bleibendem Wert enthält. Und diese Frage stellt sich umso dringender, als wir ein Dokument aus der Hand Schleiermachers besitzen, in dem er sich wenig schmeichelhaft zur Qualität seiner eigenen Übersetzungsreflexionen äußert. Am gleichen Abend noch, da er seine Abhandlung Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813) in der Preußischen Akademie der Wissenschaften vorgetragen hatte, schreibt Schleiermacher an seine Frau, dass es sich bei diesen Ausführungen „um ziemlich triviales Zeug“ gehandelt hätte.⁸⁴ Weniger trivial sind drei Denkfiguren, in denen wir das Zentrum der Schleiermacherschen Übersetzungstheorie erblicken. 1) Schleiermacher anerkennt nicht nur die Esoterik, sondern er hat ihr auch einen originellen Gedanken gewidmet, den er unter Bezugnahme auf die Schriftkritik des Phaidros vorträgt. Hier hatte Theut dem ägyptischen Herrscher Thamus seine Erfindungen stolz präsentiert, unter denen sich neben Würfelspiel und Zahlen auch die Schrift fand, die dem König als eine mnemotechnische Revolution angepriesen wird. Thamus jedoch ist skeptisch und befürchtet sehr viel mehr, dass eine Bindung an die Zeichen der Schrift zu einem kollektiven Gedächtnisverlust führen würde. Auf diese Schriftkritik bei Platon geht Schleiermacher ein und macht sich daran, den „Vorzug des mündlichen Unterrichts“ zu beschreiben. Er meint, ihn darin erkennen zu dürfen, dass zu „jede[m] Augenblik“ der Lehrer über den Erkenntnisfortschritt des Schülers unterrichtet ist.⁸⁵ Die Lebendigkeit der pädagogischen Wechselwirkungsmöglichkeiten schreibt somit den Vorzug der mündlichen Lehre fest. Da wir aber aus Platons Hand trotz seiner Schriftkritik Schriften besitzen, formuliert Schleiermacher:

 Vgl. hier nur Joseph Socher, Ueber Platons Schriften, München 1820, 120.309 – 315; Godofredus Stallbaum (Hg.), Platonis dialogos selectos, IV/1, Gotha / Erfurt 1832, III–XXVI; Karl Friedrich Hermann, Geschichte und System der platonischen Philosophie, Heidelberg 1839; Constantin Ritter, Platon. Sein Leben, Seine Schriften, Seine Lehre, Bd. 1, München 1910; Wincenty Lutoslawski, The Origin and Growth of Plato’s Logic, London 1897.  Wilhelm Dilthey (Hg.), Aus Schleiermachers Leben. In Briefen, Bd. 2, Berlin 21860, 300. Schleiermachers Urteil ist unmittelbar nachvollziehbar. Der zentrale Satz der Abhandlung lautet: „Entweder der Uebersetzer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe, und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen […]. Im ersten Falle nämlich ist der Uebersetzer bemüht, durch seine Arbeit dem Leser das Verstehen der Ursprache, das ihm fehlt, zu ersetzen. Das nämliche Bild, den nämlichen Eindruck, welchen er selbst durch die Kenntniß der Ursprache von dem Werke, wie es ist, gewonnen, sucht er den Lesern mitzutheilen, und sie also an seine ihnen eigentlich fremde Stelle hinzubewegen.“ (Friedrich Schleichermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens, KGA I/11, hg.v. Martin Rössler, Berlin / New York 2002, 65 – 94.74– 75). Diese Auffassung war schon, wie Schleiermacher zweifellos wusste, am Ende des 18. Jahrhunderts so bekannt, dass man sie tatsächlich als „triviales Zeug“ bezeichnen konnte. Das zeigt sich allein darin, dass Herder in einer Rezension zu den 1798 durch Karl Ludwig von Knebel besorgten Übersetzung der Elegien des Properz den entsprechenden Gedanken als lange vertraute Selbstverständlichkeit notiert (Johann Gottfried von Herder, Nachlese zur schönen Literatur und Kunst, hg.v. Johann v. Müller, Carlsruhe 1821, 400).  Schleiermacher 2016, 29 (Anm. 76).

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Er [sc. Platon] muß gesucht haben, auch die schriftliche Belehrung jener besseren […] ähnlich zu machen […] und es muß ihm […] auch gelungen sein. Denn wenn wir […] denken, daß die Schrift für ihn […] Erinnerung sein solle […]: so betrachtet Platon alles Denken so sehr als Selbstthätigkeit, daß […] eine Erinnerung an das Erworbene […] auch nothwendig eine sein muß an die […] ursprüngliche Art des Erwerbes. Daher […] die dialogische Form, als nothwendig zur Nachahmung jenes ursprünglichen gegenseitigen Mittheilens, auch seinen Schriften […] so unentbehrlich […] wurde, als seinem mündlichen Unterrichte.⁸⁶

Damit ist die These aufgestellt, dass die Unterscheidung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit gar nicht sticht, sondern transformiert werden muss. Denn es ist eine durchaus naheliegende Annahme – auch wenn es sich dabei um ein argumentum e silentio handelt –, dass Platon in dem Wissen darum, wie sehr die mündliche Rede der Schriftform überlegen sei, die Vorzüge gegenseitiger Pädagogik auch hat einfließen lassen in seine Schriftwerke, indem er versuchte, diese Schriftwerke der Gegenseitigkeit eines Gespräches zu gleichen. Doch bei diesem Argument belässt es Schleiermacher nicht. In einem weiteren Überlegungsgang verzahnt er die Wiedererinnerungslehre mit jener Erinnerung, die durch die Schrift auf den Weg gebracht werden soll. Die Schrift, so hatte es Theut ja verheißen, sei Erinnerung an Gedachtes. Doch wenn sie Erinnerung an Gedachtes ist, dann ist sie zugleich eine Erinnerung an die Genesis eines solchen Gedachten. Dies hängt unmittelbar damit zusammen, dass das Denken sich durch Selbstanfänglichkeit auszeichnet. Und so fängt es bei sich selbst an auch insofern, als es in den Vollzug seiner selbst die Initiative seines Anfangens mit einbezieht. In dieser Mit-Einbeziehung des Ursprungs spiegelt das Schrift gewordene Denken die an die Ideenlehre gebundene Platonische Wiedererinnerungslehre. Und zugleich ist dieses Erinnern an „Gedachtes im Ursprung dieses Gedachten“ das Gedächtnis jener Dialogik, durch die der Ursprungsgedanke sich formte. Damit ist eine Position erreicht, innerhalb derer der Unterschied zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit nicht mehr durchschlägt. Die esoterischen Elemente des Platon stellen sich keineswegs gegen eine schriftliche Erinnerungskultur. 2) Ein biographisches Detail führt auf die zweite Denkfigur. Der Herzenszustand unseres Übersetzers war desolat – seiner Übersetzung kam dies zugute. In Liebe zu Eleonore Grunow entbrannt, der Frau des Berliner lutherischen Predigers August Christian Wilhelm Grunow, saß Schleiermacher wehmütig auf einer Hofpredigerstelle in Hinterpommern. Er hoffte durch seine räumliche Entfernung von der Liebsten deren Sehnsucht so zu verstärken, dass diese ihrem Ehemann den Laufpass geben möge. Doch das Gegenteil trat ein: Im März 1803 fasste Eleonore den für Schleiermacher schweren Entschluss, wieder bei ihrem Mann einzuziehen. Schleiermacher schrieb an Henriette Herz: „Ich kann nicht mehr […]. O weh und es ist erst Morgen“.⁸⁷

 Schleiermacher 2016, 30 (Anm. 76).  Friedrich Schleiermacher, Brief vom 10. Juni 1803, in: Wilhelm Dilthey (Hg.), Aus Schleiermachers Leben. In Briefen, Bd. 1, Berlin 21860, 368.

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Hier ging zu Ende, was noch im Jahre zuvor eine intime Theorie der Esoterik aufglühen ließ. Schleiermacher schreibt hier an Eleonore, dass seine Briefe das Ergebnis einer schlichten Askesetechnik sind. Bevor er mit dem Liebesschreiben beginnt, setzt er sich ein „Arbeitspensum“⁸⁸ und dieses Pensum besteht in der „Uebersetzung eines Platonischen Dialogs“.⁸⁹ Der Platonische Dialog steht also an der Stelle des ungeduldigen Sehnens nach der Schrift, die Liebe ist. Mehr noch: Der Dialog als dialektisches Sprachgeschehen entfesselt eine Sehnsucht, bleiben zu wollen. So webt sich der Dialog hinein in die Schrift. Und in dieser durch die Schrift gewirkten Zeitdehnung längen sich Phantasie und Sehnsucht nach dem Anderen. Allein diese Längung vermag Vermittlungen wirklich werden zu machen. Demgegenüber verflüchtigen sich im Gespräch die Vermittlungen und klingen in Unmittelbarkeit aus.⁹⁰ 3) So wenig originell Schleiermachers Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens nach der hermeneutischen Pointe gewesen ist – die Bedeutung dieses Akademievortrags liegt im Politischen. Das Jahr 1813, in dem Schleiermacher seine Akademierede gehalten, begann mit einer allgemeinen Aufrüstung Preußens gegen Frankreich.⁹¹ Friedrich Wilhelm schloss ein Bündnis mit Russland und richtete sich am 17. März mit den folgenden Worten an sein Volk: „Welche Opfer auch von Einzelnen gefordert werden mögen, sie wiegen die heiligen Güter nicht auf, für die wir sie hingeben, für die wir streiten und siegen müssen, wenn wir nicht aufhören wollen, Preußen und Deutsche zu seyn“.⁹² Generalleutnant Yorck, Vater der Konvention von Tauroggen, ritt gleichen Tags mit seinem Korps in Berlin ein. Schwarze TotenkopfHusaren eröffneten den Zug, gefolgt von litauischen, westpreußischen und brandenburgischen Dragoner-Schwadronen. Das akklamierende Volk geleitete den Zug über den Alexanderplatz bis zum Schloss, und am Abend, als York sich zu einem Empfang im Opernhaus einstellte, wurde unter den Lebehochrufen der Opernbesucher ein Spruchband mit den Worten „Heil dem Erretter des Vaterlandes“ entrollt.⁹³ Es konnte keinen Zweifel leiden, dass hier der Beginn des Befreiungskrieges inszeniert  Friedrich Schleiermacher, An E. Grunow (19.7. 1802), KGA V/6, hg.v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin 2005, 47– 50, hier 50.  Schleiermacher 2005, 48 (Anm. 88).  Schlagend beschreibt dies Schleiermacher, indem er Eleonore den Unterschied zwischen einem Brief und der mündlichen Rede ausbreitet: „Wie oft bin ich unmittelbar […] nach […] Unterhaltungen […] sogleich zur Arbeit gegangen […]. Bei einem Briefe […] brauchen Phantasie und Sehnsucht mehr Zeit.“ (Schleiermacher 2005, 48 [Anm. 88]).  Vgl. Friedrich Adami, Schicksalswende. Preußen 1812/1813. Nach Aufzeichnungen von Augenzeugen, Berlin 1924 [Nachdruck Paderborn 2015], 183 – 190; Karl Friedrich Friccius, Geschichte des Krieges in den Jahren 1813 und 1814. Mit besonderer Rücksicht auf Ostpreußen und das Königsbergsche Landwehrbataillon, 1. Theil, Altenburg 1843, 1– 10.  „An mein Volk, Breslau 1813“, in: Corpus Juris Confoederationis Germanicae oder Staatsacten für Geschichte und öffentliches Recht des Deutschen Bundes, hg.v. Philipp Anton Guido von Meyer, 1. Theil, Frankfurt a.M. 31858, 147– 149.148 – 149. Vgl. Jörn Leonhard, Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750 – 1914, München 2008, 249 – 251.  Vgl. Friedrich Christoph Förster, Geschichte der Befreiungs-Kriege. 1813. 1814. 1815, Bd. 1, Berlin 7 1864, 142– 148.

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wurde. Unter der jubelnden Menge war auch Schleiermacher, der siegesgewiss eine Befreiung Deutschlands und die Wiederherstellung der preußischen Provinzen im territorialen Zustand von 1806 erwartete.Wenige Tage später schreibt er an den Grafen Alexander zu Dohna: „Man [müßte] […] in Freude und Wonne vergehn über die so herrlich sich entwickelnde Zeit, die auch Menschen, welche schon ganz hoffnungslos waren, einen neuen Geist einhaucht“.⁹⁴ An dieser „herrlich sich entwickelnden Zeit“ möchte Schleiermacher mitwirken, und er tut dies, indem er plädiert für eine nationalsprachliche Emanzipation, deren Eigentlichkeit in der respektvollen Anerkennung von Fremdheit sich bildet. In dieser Einsicht besteht die Bedeutung des Akademievortrages von 1813, mit dem Schleiermacher seiner Platonübersetzung die Färbung einer patriotischen Willensbekundung gibt. Mit seinen den Satzfluss unterbrechenden Parenthesen, den Ellipsen, dem Vorziehen des Prädikats und den syntaktischen Nachstellungen seiner Übersetzung entstehen Sätze, die sich vorschnellem Verstehen entziehen und damit dem Fremden in der deutschen Sprache einen Ort geben. Durch diese nationalsprachliche Anverwandlung möchte Schleiermacher mitwirken an der „Fortdauer und Erneuerung natürlicher Völkervereine“,⁹⁵ unter denen Deutschland sich frei erhebt als eine führende europäische Kulturnation.⁹⁶ Fragen wir abschließend, in welcher Beziehung Schleiermachers Übersetzungstheorie zur Ethik sich befindet, so ist auszugehen von Schleiermachers Bestimmung der Ethik als einer Vernunfthistorie der Natur, innerhalb derer sich die Relation zwischen Natur und Vernunft zunehmend rationalisiert.⁹⁷ Dergleichen Rationalisierung des Natürlichen realisiert sich in konkreten Individuen, die dem Trieb, in wachsenden Gemeinschaften sich einzurichten, folgen;⁹⁸ denn das Vernünftige ist nicht das Einsame, sondern das in Geselligkeit gelebte Allgemeine. Und weil die Vernunft nicht „eingeschlossen“ bleiben darf in die „Getheiltheit des Seins […], [müssen] die Sprachen […] in Gemeinschaft treten“.⁹⁹ So nimmt Schleiermacher eine Intuition Mendelssohns wieder auf, wenn er das Übersetzen als Sprach-Geselligkeit konstruiert. Geselligkeit aber, auf die das Individuelle hintreibt, kann gründend nur sein, wenn sie

 Dilthey 1860, 266 (Anm. 84).  Friedrich Schleiermacher [1813], Beiträge aus „Der Preußische Correspondent“, KGA I/14, hg.v. Matthias Wolfes / Michael Pietsch, Berlin 2003, 395 – 500, hier 462.  „Auch dieses letzte was immer noch fehlte, wird mit der Hülfe Gottes hinzukommen, auch die deutschen Völker werden ihre Selbstständigkeit wieder gewinnen und ihr fester und dauerhafter Verein wird die Rahe von Europa und den Fortgang unserer Kultur völlig begründen“ (Schleiermacher 2003, 462 [Anm. 95]).  „Die Vernunft soll die ganze Natur in ihre Gewalt bringen“ (Friedrich Schleiermacher, Brouillon zur Ethik (1805/06), hg.v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1981, 29.  „Man sieht, die Frage, wie der Mensch überhaupt dazu komme andere Wesen als Menschen zu behandeln, kann vom Standpunkt der Sittlichkeit nicht aufgeworfen werden. Wer Sittlichkeit sezt, sezt einen Trieb Andere zu suchen und anzuerkennen“ (Schleiermacher 1981, 35 [Anm. 97]).  Friedrich Schleiermacher, Entwurf eines Systems der Sittenlehre, Sämmtliche Werke III/5, hg.v. Alexander Schweizer, Berlin 1835, 295.

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durch ein Ethos vor der Selbstauslöschung bewahrt wird, so dass eine Gemeinschaft gebildet sein muss, in die hinein sich Individualität als das Sprachengemälde des Anderen übersetzt hat.

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Religion und Religionen

Bildtheoretischer Zugang und Schleiermachers Erbe Im „Summer of Love“ des Jahres 1967 veröffentlichte Richard Rorty, Dozent für Philosophie an der Princeton University, einen Sammelband im Hippie-Design. Er trug den Titel The Linguistic turn. Schon zwei Jahre vor dem Happening in Woodstock rief darin Rorty eine „Revolution“ aus.¹ Seine umstürzende Diagnose lautete: Von der Antike bis zur Barockzeit meinte man, die Welt in ihrem Sein zu erkennen. Das änderte sich mit Immanuel Kants Einsicht: Alles, was wir erkennen, nehmen wir durch unser Bewusstsein wahr. Und im 20. Jahrhundert, so Rorty, verstehen wir: Letzter Anker unserer Wirklichkeit ist die menschliche Sprache, die Kommunikation. Nicht das Sein an sich oder ein transzendentales Bewusstsein kann für uns ein unerschütterliches Fundament sein. Vielmehr sind uns diese vermeintlichen Fundamente durch unsere Sprache erschlossen, die öffentlich zugänglich und unumgänglich ist. Insofern löst die Sprache das Sein und das Bewusstsein ab, so Rorty. Doch es bleiben in dem neuen Paradigma die alten Fragen in gewisser Weise erhalten. Noch in der analytischen Sprachphilosophie schlummern mithin das Erbe und auch die Probleme der vorkritischen Ontologie und der traditionalen Transzendentalphilosophie.² Angesichts dieser Selbstrelativierung auch des sprachphilosophischen Paradigmas überrascht dessen Fortschreibung nicht wirklich. Denn: Existiert letztlich alles sprachlich? Oder gibt es nicht auch etwas jenseits des Sagbaren, auch wenn es in der Sprache indirekt ausgedrückt werden kann? Ist Sprache als Bedingung, etwas (verbal) zu kommunizieren, zugleich auch immer der Grund, warum etwas erscheint? Die Folge dieser Fragen ist offenbar: In einer Zeit knapper werdender Ressourcen von Finanzen und Aufmerksamkeit kann man die Ausrufung scheinbar unzähliger turns beobachten, deren Plausibilität sich selbst zu dementieren scheint.³ Doch es gibt aus der Logik der turns kein Entkommen, wenn selbst ein entschleunigender Ausstieg als

 Vgl. dazu auch: Karlheinz Lüdeking, „Was unterscheidet den pictorial turn vom linguistic turn?“, in: Bildwissenschaft zwischen Reflexion und Anwendung, hg.v. Klaus Sachs-Hombach, Köln 2005, 122 – 131. Vgl. zu diesem Vorspann und den ersten beiden Teilen dieses dreiteiligen Beitrags – teilweise auch wörtlich – meine Habilitationsschrift: Das andere Bild Christi. Spätmoderner Protestantismus als kritische Bildreligion, Tübingen 2017, 56 – 84.151– 328.471– 562. Grundsätzlich gilt für diesen Beitrag: Ist eine Aussage oder ein Beleg nicht unmittelbar am Ende durch eine Fußnote nachgewiesen, ist die Angabe der im Text nachfolgenden Fußnote darauf zu beziehen. Vgl. zu diesem Vorspann auch wörtlich: Malte Dominik Krüger, „Musikalisch religiös. Der Hymnus als komplexe Verkörperung des Bildvermögens“, in: Öffentliche Theologie zwischen Klang und Sprache. Hymnen als Verkörperungsform von Religion, hg. v. Thomas Wabel u.a., Leipzig 2017, 66–87, hier 74–75.  Vgl. Richard Rorty, „Introduction: Metaphilosophical Difficulties of Linguistic Philosophy“, in: The Linguistic Turn. Essays in Philosophical Method, hg.v. Richard Rorty, Chicago 1967, 1– 39.  Vgl. Krüger 2017, 244– 298 (Anm. 2). https://doi.org/10.1515/9783110569520-007

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Malte Dominik Krüger / Marburg

U-Turn erscheint. Die Gießener Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick hat die Abfolge der turns in ihrer Studie Cultural turns aus dem Jahr 2006, inzwischen selbst fast ein mehrfach aufgelegter Klassiker, eingehend untersucht. Ihr Ergebnis lautet: Es gibt nur eine bestimmte Anzahl von turns, die sich durchsetzen. Der letzte turn ist der von dem Baseler Kunsthistoriker und Philosophen Gottfried Boehm in dem ebenfalls inzwischen mehrfach aufgelegten Sammelband Was ist ein Bild? aus dem Jahr 1994 ausgerufene iconic turn, der selbstverständlich – wie alle turns – nicht das Ende der menschlichen Theoriegeschichte darstellt. Doch gegenwärtig leben wir, so jedenfalls der Deutungsvorschlag, in einem Zeitalter der „Bilderflut“, der Inszenierung und des Spektakels, der Überwachung und Medialität. Zwar gab es in den frühesten Zeiten der Menschheit schon Bilder. Doch heute sind alle Bereiche des Lebens von Bildern geprägt. Das sind Bilder im Kopf und außerhalb des Kopfes: Virtualität und Einbildungskraft drängen in einem bisher unbekanntem Maß nach vorn; und der sich wie eine zweite Membran um den Erdball legende Datenstrom der digitalen Medien hält ständig Bilder bereit. Argumente werden durch Bilder ersetzt, Informationen visualisiert und vielfach dirigieren Bildschirme, die nicht zufällig so heißen, den öffentlichen und privaten Raum.⁴ Daran anschließend möchte ich unter dem Titel Religion und Religionen. Ein bildtheoretischer Zugang und Schleiermachers Erbe – über die einleitend skizzierte Zeitdiagnostik hinaus – fragen: Was macht erstens einen bildtheoretischen Zugang aus? Wie kann man bildtheoretisch zweitens Religion und Religionen begreifen? Und drittens: Ergibt sich daraus wiederum eine neue Sicht auf Schleiermacher?

1 Was macht einen bildtheoretischen Zugang aus? Was man als Bildtheorie bezeichnen kann, ist eine Disziplin, die sich im Raum der deutschsprachigen Kulturwissenschaften zu etablieren beginnt, nachdem sie das im angelsächsischen und frankophonen Bereich schon getan hat. Das Feld ist einigermaßen weit und teilweise auch recht unübersichtlich. Doch Wegmarken, Bereiche und Perspektiven lassen sich auch ausmachen.⁵ Neben der schon angeschnittenen gegenwartsdiagnostischen Eigenart sind es m. E. drei Dimensionen, nämlich eine mediengeschichtliche, eine kulturanthropologische und eine begriffstheoretische. 1.1 Zur mediengeschichtlichen Dimension: Wenn man exemplarisch die medientheoretischen Klassiker Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit aus dem Jahr 1939 des deutschen Philosophen Walter Benjamin, die 1962 erschienene Gutenberg Galaxy des kanadischen Kulturtheoretikers Marshall McLuhan  Vgl. Doris Bachmann-Medick, Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 42010, 7– 58. 329 – 380; Gottfried Boehm, „Die Wiederkehr der Bilder“, in: Was ist ein Bild?, hg.v. Gottfried Boehm, München 42006, 11– 38, bes. 13. Vgl. für die bzw. zu den Details: Krüger 2017, 244– 256 (Anm. 2).  Vgl. Krüger 2017, 94– 98 (Anm. 2).

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und die Studie Bild und Kult aus dem Jahr 1990 des deutschen Kunstwissenschaftlers Hans Belting heranzieht⁶, dann kann man m. E. sagen: Der Bildgebrauch ist in eine Genealogie von Medienumbrüchen einzuzeichnen, welche die menschliche Kultur formieren. So folgt auf den ersten Übergang vom Gedächtnis des Körpers zu dem der Schrift und auf den zweiten Übergang von der Kultur der Handschriften zur Kultur der Druckschriften der dritte Übergang vom Buchdruck zum Bildschirm. Und diese medialen Umformungen sind immer auch religiös prägend und geprägt.Wichtig ist dabei die Einsicht: Die Rede von der Wende zum Bild darf – gegen bestimmte Tendenzen bei manchem ihrer Vertreter – nicht im Sinn einer schlichten Ablösung begriffen werden, wonach das Bild die Sprache als kulturelle Leitvorstellung ersetzen würde. Denn die Relativierung der Sprache auf das Bild ist auch eine Relativierung des Bildes auf die Sprache. Das Bild liegt dabei der Sprache zugrunde, die als Erkenntnismittel komplexer und universaler als das Bild ist.⁷ 1.2 Zur kulturanthropologischen Dimension: Sie kann unmittelbar an das soeben Gesagte anknüpfen und sich insbesondere auf Michael Tomasello berufen, den (Ko‐) Direktor des Max-Planck-Instituts in Leipzig für evolutionäre Anthropologie, und seine Studie Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation aus dem Jahr 2009.⁸ Kein Geringerer als Jürgen Habermas hat sie in einer zustimmenden Rezension auf die Überschrift gebracht Es beginnt mit dem Zeigefinger. ⁹ Der Sache nach hat das der Marburger Philosoph Reinhard Brandt in seiner Studie aus dem Jahr 2009 aufgenommen, die den Titel trägt Können Tiere denken?. ¹⁰ Insgesamt kann man dann zu folgender Einschätzung kommen: Unsere ganze menschliche Kultur beginnt mit dem Zeigefinger, also dem sichtbaren, öffentlichen Zeigen, das von sich selbst auf etwas Anderes verweist. Das Besondere der menschlichen Kommunikation liegt darin, auf etwas Abwesendes zu verweisen und es darin – gleichsam im Negativ – festzuhalten. Und dies ist in einem besonderen Umgang von Menschen mit Sichtbarkeit, Gesten und Symbolen vorgeprägt. Der Clou ist: Es ist die ins Lautsprachliche übertragene und konstruktive Kraft der Negation der ikonischen Geste, etwas zeitlich und räumlich Abwesendes anwesend zu machen, welche die menschliche Sprache und das menschliche Ich- und Wir-Bewusstsein hervorbringt. Diese menschheitsspezifische Fähigkeit, etwas verneinen und darin festhalten zu können, wird im Bildvermögen des Menschen anschaulich, und so zur Grundlage des menschlichen Aussagesatzes, der die raumzeitliche Situation des Hier und Jetzt überschreitet und im Wechselspiel mit intersubjektiven Rückfragen zur Ausbildung bewusster Subjektivität führt. Anders

 Vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und weitere Dokumente. Kommentar von Detlev Schöttker, Frankfurt a.M. 2007; Marshall McLuhan, Die GutenbergGalaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Bonn u. a. 1995; Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 62004.  Vgl. Krüger 2017, 195 – 243 (Anm. 2).  Vgl. Michael Tomasello, Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt a.M. 2009.  Vgl. Jürgen Habermas, „Es beginnt mit dem Zeigefinger“, Die Zeit 51 (2009), 45.  Vgl. Reinhard Brandt, Können Tiere denken? Ein Beitrag zur Tierphilosophie, Frankfurt a.M. 2009.

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gesagt: Die hochkomplexen Fähigkeiten, dass wir sprechen, lesen und denken können, bleiben auf unser Bildvermögen angewiesen. In der Sprache merkt man das an ihrer Bildlichkeit. Schon bei F.W.J. Schelling findet man die Einsicht angedeutet: Unsere ganze Sprache ist grundsätzlich verblasste Bildsprache, also Metaphorik. Über Martin Heidegger, Hans Blumenberg und andere ist, wie m. E. die philosophische Studie von Dirk Mende Metapher – Zwischen Metaphysik und Archäologie aus dem Jahr 2013 zeigt¹¹, diese Einsicht gängig geworden. Und auch in der Vernunft scheint das Bildvermögen durch. So sprechen wir etwa von „Weltbildern“ oder „Weltanschauungen“, die sich nicht allein vernünftig erklären lassen.¹² 1.3 Zur begriffstheoretischen Dimension: Der Begriff „Bild“ lässt sich – als das, was sich der diskursiven Begrifflichkeit entzieht – nur bedingt in einer Begriffsbestimmung erfassen. Dennoch kann man versuchen, ihn möglichst präzise in einer begrifflichen Annäherung zu beschreiben, die gerade diese Einschränkung berücksichtigt. Darum ringen typologisiert vier Richtungen, nämlich die sprachanalytische, die phänomenologische, die imaginationstheoretische und die negations- bzw. transzendentalphilosophische Richtung. Die sprachanalytische Richtung beschreibt das Bild in der Regel als besonderes Zeichen, die phänomenologische als spezielle Sichtbarkeitserfahrung, die imaginationstheoretische als sinnesaffine Einbildung und die negationstheoretische als konkrete Negation. Ich meine, man kann zeigen, ohne dass ich dies hier vorführen kann, dass man diesen Streit im Sinn einer aufstufenden Sequenzierung relativ schlichten kann, so dass ein Bild ein wahrnehmungsnahes Zeichen ist, das auf eine sich selbst einklammernde Einbildungskraft angewiesen ist.¹³ Das trifft sich z. B. mit dem Bildverständnis des Berliner Philosophen Christoph Asmuth in dessen Studie Bilder über Bilder, Bilder ohne Bilder aus dem Jahr 2011, die programmatisch auch an Johann Gottlieb Fichtes Spätphilosophie und die Bildtheorie Platons anknüpfen kann.¹⁴

2 Wie kann man bildtheoretisch die Religion und Religionen begreifen? Der Selbstverständlichkeitsverlust der Religion in der Moderne führt religionstheoretisch und fundamentaltheologisch häufig dazu, im Anschluss an Immanuel Kants theoretische Philosophie zu sagen: Der Mensch kann nur gewaltsam sein Bedürfnis abbrechen, immer weiter fragen und verstehen zu wollen. Und das ist dann der Anker  Vgl. Dirk Mende, Metapher. Zwischen Metaphysik und Archäologie. Schelling, Heidegger, Derrida, Blumenberg, München 2013.  Vgl. ausführlich dazu mit weitreichenden Kontextualisierungen: Krüger 2017, 151– 194 (Anm. 2).  Vgl. dazu und zu dem Vorhergehenden ausführlich mit weitreichenden Kontextualisierungen: Krüger 2017, 313 – 468 (Anm. 2).  Vgl. Christoph Asmuth, Bilder über Bilder, Bilder ohne Bilder. Eine neue Theorie der Bildlichkeit, Darmstadt 2011.

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für die Frage nach Gott. Kant selbst hat das unter dem Stichwort „transzendentales Ideal“ abgehandelt und dann in seiner praktischen Philosophie mit dem Gedanken annäherungsweise gelingender Kontrafaktizität verbunden.¹⁵ Ich meine, die philosophische Bildtheorie erlaubt es, diesen Ansatz wahrnehmungstheoretisch noch weiter zu erden. Religion ist danach, so meine These, das Bildvermögen im Horizont des Unbedingten.¹⁶ M. E. kann man hierbei an die Studien Organismus und Freiheit aus dem Jahr 1973 des jüdischen Philosophen Hans Jonas, Philosophy in a New Key aus dem Jahr 1942 der US-amerikanischen Philosophin Susanne K. Langer und Vom Heiligen in der Kunst, im Original im Jahr 1932 erschienen, des niederländischen Religionswissenschaftlers Gerardus van der Leeuw anknüpfen.¹⁷ Der Sache nach ergibt sich dann das Folgende: In der Distanzierung der im Gefühl erschlossenen Wirklichkeit durch das Bildvermögen stellt sich ein Überschritt ein, der über das Reiz-Reaktions-Schema hinausführt und Freiheit eröffnet. Dieses Vermögen wird in der Religion entschränkt, nämlich in den Horizont des Unbedingten gestellt. Religion ist demnach nicht, so mein Vorschlag, exklusiv auf die hochstufige Erfahrung der Vernunft angewiesen, dass der Mensch nur gewaltsam sein Bedürfnis abbrechen kann, immer weiter fragen und kontrafaktisch verstehen zu wollen. Religion ist vielmehr eine Projektion des Menschen, die nicht nur aufgrund ihrer Fundierung im Bildvermögen erklärbar, sondern aufgrund der internen Struktur des Bildvermögens nachvollziehbar ist. Anders gesagt: Der Mensch als das Tier, das Bilder macht, symbolisiert auch Grund und Grenze seines freiheitseröffnenden Lebens in Gottesbildern, und zwar gleichgültig, ob diese nun direkt einen Gott darstellen oder das Unbedingte in politischen, ökonomischen oder anderen Mustern symbolisieren. Wird diese Struktur ausdrücklich religiös praktiziert und nicht mit etwas Endlichem identifiziert, dann wird sich der Mensch des ungegenständlichen Fluchtpunktes, auf den er in seinem Leben bezogen ist, so inne, dass er keinem falschen Bewusstsein aufsitzt. Insofern scheitert der Projektionsverdacht der Religionskritik an seiner eigenen Berechtigung.¹⁸ Was Religion allgemein ausmacht, wird im Christentum besonders wirklich, wenn Jesus von Nazareth in der Sprache des Glaubens als Bild Gottes erscheint. Im Christentum wird die Religion so in gewisser Weise an und in ihr selbst ansichtig. In dem

 Vgl. zu Kants Gottesbegriff exemplarisch: Ottfried Höffe, Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie, München 2003, 256 – 267.  Vgl. Krüger 2017, 471– 488 (Anm. 2).  Vgl. Hans Jonas, Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Frankfurt a.M / Leipzig 1994 (Titel bei Neuauflage geändert); Susanne K. Langer, Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt a.M. 1965; Gerard van der Leeuw, Vom Heiligen in der Kunst, Gütersloh 1957. Die Nennung der Titel im obigen Text erfolgt nicht chronologisch, sondern nach sachlicher Nähe zum Dargestellten.  Vgl. wörtlich und ausführlich dazu mit weitreichenden Kontextualisierungen: Krüger 2017, 471– 488 (Anm. 2).

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Nazarener wird das Unbedingte verbildlicht, und zwar grundsätzlich untrennbar von seinem sprachlichen Ausdruck. Dies geschieht nicht zufällig, sondern ist in hermeneutischer und sachlicher Hinsicht motiviert. Die hermeneutische Hinsicht besteht darin, dass sich das Christentum mit dem Bezug auf Jesus von Nazareth auf eine historische Person richtet. Geschichtsdarstellungen sind nur dann dasjenige, was sie versprechen zu sein, wenn sie ein einigermaßen kohärentes Gesamtbild dessen entwerfen, wovon sie berichten. Da dies sich nicht vollständig aus den Quellen erheben lässt, ist historische Arbeit auch kreative Rekonstruktion im Sinn einer historisch an die Wahrscheinlichkeit grenzenden Imagination, welche die Bruchstücke der Vergangenheit zu einer sinnvollen Erzählung zusammenführt. Insbesondere tritt diese Bedeutung der Einbildungskraft im Blick auf Personen der Vergangenheit hervor, deren biographischen Züge erfasst werden sollen. Hier muss die historische Arbeit imaginativ werden, um sich das Gesamtbild eines Individuums machen zu können, das nicht in seinen – dann nochmals durch die Zufälle der Überlieferung reduzierten – Objektivationen aufgeht. Diese bildtheoretische Pointe in hermeneutischer Hinsicht ist freilich nicht spezifisch religiös. Das ändert sich erst mit dem, was man als sachliche Hinsicht für eine bildtheoretische Auslegung des Christentums bezeichnen kann, und zwar in einer dreifachen Hinsicht. So hat der Nazarener erstens in den sprachlichen Bildern seiner Gleichnisse so überzeugend von der Gottesherrschaft gesprochen und sich selbst entsprechend in kontrastiver Anschaulichkeit verhalten, dass Menschen ihr Leben änderten. Zweitens erlosch nach dem irdischen Tod Jesu seine Wirkkraft nicht, sondern seinen Anhängern wurde er in den auch sogenannten Ostererscheinungen bildlich vorstellig, so dass davon ausgehend eine der wirkmächtigsten Religionen der Welt entstand. Diese christliche Religion gab drittens ihr Bild von Jesus von Nazareth zwar schriftlich weiter („Neues Testament“), aber die weitergegebenen Erinnerungen an den Ursprungsimpuls der eigenen Religion kann man als sprachliche Wiedergabe szenischer, bildlicher Erinnerungen verstehen, die im Gottesdienst am Feiertag nach einer Inszenierung verlangen, die im Gottesdienst im Alltag freiheitstheoretisch wirken sollen. So kommt die im Bildvermögen fundierte Freiheitserfahrung religiös an ihr Ziel.¹⁹ Dies hat Folgen für das interreligiöse Selbstverständnis eines sich bildtheoretisch begreifenden Christentums. Es vermag auf diese Weise interreligiös selbst ein doppeltes Verständnis zu entwickeln. Einerseits hat das Christentum mit anderen Religionen wie dem Judentum, Buddhismus oder Islam den Bezug auf eine geschichtliche Stiftergestalt gemeinsam. Das Christentum unterscheidet sich allerdings von den genannten Religionen dadurch, dass die Stiftergestalt Jesus anders als Mose, Buddha oder Mohammed als Gottes Bild zum unmittelbaren Bezugspunkt der religiösen Ausrichtung bzw. Anschauung wird. Andererseits teilt das Christentum wieder mit anderen Religionen wie ägyptischen, hinduistischen oder germanischen Religions-

 Vgl. wörtlich und ausführlich dazu mit weitreichenden Kontextualisierungen: Krüger 2017, 489 – 522 (Anm. 2).

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formen den Bezug auf anschauliche Gottesbilder, unterscheidet sich jedoch von ihnen dadurch, dass Jesus ein Gottes-Bild darstellt, das auf einer nachweisbar historischen Person beruht und daher auch notwendig anthropomorph ist, was etwa in der ägyptischen Religion auch anders sein kann. Daher kann man m. E. sagen: Aus der eigenen Perspektive ist das Christentum die Religion der Religionen, weil sie mit der materialen Vorstellung von Jesus als dem Bild Gottes die formale Eigenart von Religion als Selbstdeutung des Bildvermögens im Horizont des Unbedingten realisiert. Aus einer fremden Perspektive ist das Christentum bildtheoretisch genau auch deswegen eine Religion der Religionen. Dies muss nicht ausschließen, dass sich andere Religionen ihrerseits in ihrer Binnenperspektive als Religion der Religionen betrachten können.²⁰

3 Begreift Schleiermacher die Religion und Religionen bildtheoretisch? Die bisherige Bildtheorie – auch im theologischen Horizont – hat mit Schleiermacher wenig zu tun.²¹ Warum sollte man dies ändern wollen? M. E. es gibt nur zwei gute Motivationen an diesem Punkt. Die erste Motivation – vom Standpunkt der Gegenwart aus betrachtet – wäre gegeben, wenn die Beschäftigung mit Schleiermacher bestimmte Einseitigkeiten der theologischen Rezeption der zeitgenössischen Bildtheorie korrigieren helfen würde. Und die zweite Motivation wäre gegeben, wenn die Beschäftigung mit der aktuellen Bildtheorie sich aus den internen Einsichten der Schleiermacher-Forschung gleichsam von selbst aufdrängen würde. Beides ist m. E. – im Sinn des relativen Rechtes der Einseitigkeit – der Fall. 3.1 Zur ersten Motivation aus der Diskussion der Bildtheorie: Angesichts der Tendenz, dass mancherorts die Bildtheorie als postmoderner Freischein für vorkritische Theologiekonzepte missverstanden wird, wonach es plausibel sein soll, den Menschen passivitätstheoretisch den autoritativen Vorgaben der Religion unterzuordnen, wird – übrigens: auch innerhalb der christlichen Bildtheologie selbst – vor einem Missbrauch des Bildes bzw. Bildvermögens gewarnt.²² Der hier bisher fehlende Bezug auf Schleiermacher könnte für eine theologische Bildtheorie hilfreich sein, auch wenn dieser Bezug vermutlich nicht unersetzlich ist. Schließlich hat nicht nur

 Vgl. wörtlich und ausführlich dazu mit weitreichenden Kontextualisierungen: Krüger 2017, 510 – 514 (Anm. 2).  Vgl. zu bildtheoretischen Entwürfen im Horizont der (Systematischen) Theologie: Krüger 2017, 85 – 141 (Anm. 2).  Vgl. Dirk van de Loo, „‚Sie grüssen sich von Ferne…‘. Bildtheologie, Poetische Dogmatik und eine Philosophie der Frömmigkeit“, in: Icon + Ikone. Wege zu Theorie und Theologie des Bildes, hg.v. Peter Hofmann / Andreas Matena, Paderborn u. a. 2010, 31– 45, bes. 32– 34; Daniel Hornuff, Bildwissenschaft im Widerstreit. Belting, Boehm, Bredekamp, Burda, München 2012, 9 – 16.111– 124.

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Schleiermacher eine moderne Religionskonzeption vorgelegt.²³ Doch der „Kirchenvater der Moderne“²⁴ steht besonders prominent für ein theologisch reflektiertes Religionsverständnis, dass den Glaubenden zwar im Blick auf das zentrale Glaubenssymbol „Gott“ sich selbst entzogen weiß, dies aber unumgänglich an den Selbstvollzug des Menschen bindet.²⁵ Damit wandelt Schleiermacher nicht nur auf den Spuren von Luthers Zusammenschau von Glaubensvollzug und Gottesbild²⁶, sondern verhindert auch eine einseitige Vergegenständlichung Gottes, die letztlich nicht zu dessen subjektunabhängiger Existenz, sondern zu seinem Verlust als Glaubensgegenstand führt. Denn wenn Gott religiös bzw. religionstheoretisch so vom Menschen getrennt wird, dass er im strikten Sinn unabhängig vom Menschen existieren soll, ist das in zweierlei Hinsichten problematisch. Erstens ist die Behauptung, dass Gott unabhängig vom Menschen existieren soll, auf der formalen Ebene lediglich eine Aussage von endlichen Menschen, so dass sofort der Verdacht des performativen Selbstwiderspruches (zwischen dem Inhalt der Aussage und ihrer vollzogenen Form) im Raum steht. Darauf kann man freilich mit der Unterscheidung von Seinsordnung (ratio essendi) und Erkenntnisordnung (ratio cognoscendi) reagieren und darauf beharren, dass die menschliche Endlichkeit sehr wohl das Medium wahrer Unendlichkeit sein kann. Das erscheint durchaus nachvollziehbar. Damit ist man jedoch bei der zweiten Hinsicht der materialen Ebene angelangt, die zur Einsicht führt: Gerade die inhaltliche Behauptung, dass es Gott strikt unabhängig vom Menschen gibt, führt – zwar ungewollt, aber unausweichlich – zu dessen Verlust als Glaubensgegenstand. Denn wenn man zwischen Gott und Mensch eine derartige Grenze errichtet, dann muss selbst der – dogmatisch gern als (Selbst‐) Offenbarung bestimmte – Bezug von Gott auf den Menschen für letzteren ungewiss bleiben: Wenn Gott vollständig unabhängig vom Menschen ist, dann kann auch die beste Offenbarung falsch sein. Der vermeintliche Gewinn, die Gottheit im Jenseits eines An-sich-seins gesichert zu haben, läuft auf deren faktischen Verlust hinaus. Weder religiös noch religionstheoretisch ist dieser Verlust ein Gewinn.²⁷

 Vgl. nur die ebenfalls maßgeblichen Entwürfe von G.W.F. Hegel und F.W.J. Schelling: Jörg Dierken, Glaube und Lehre im modernen Protestantismus. Studien zum Verhältnis von religiösem Vollzug und theologischer Bestimmtheit bei Barth und Bultmann sowie Schleiermacher und Hegel, Tübingen 1996, 203 – 307; Malte Dominik Krüger, Göttliche Freiheit. Die Trinitätslehre in Schellings Spätphilosophie, Tübingen 2008.  Vgl. dazu mit weiterführenden Literaturhinweisen: Dierken, 1996, 309 (Anm. 23).  Vgl. dazu die folgende Schleiermacher-Deutung.  Vgl. Martin Luther, „Großer Katechismus“, in: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 31956, 560, 21– 24: „Die zwei gehören zuhaufe, Glaube und Gott. Worauf Du nu (sage ich) Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott“.  Das alles ist nicht neu, sondern aus der Realismus-Antirealismus-Debatte der Gegenwart und insbesondere des Deutschen Idealismus bekannt, da hier ein sog. „metaphysischer Realismus“ scheitert (vgl. Malte Dominik Krüger, Göttliche Freiheit. Die Trinitätslehre in Schellings Spätphilosophie, Tübingen 2008, 296 – 299). Der Springpunkt an unserer Stelle ist: Ein solcher metaphysischer Realis-

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3.2 Zur zweiten Motivation aus der Schleiermacher-Forschung: Eine Reihe jüngerer Beiträge und Qualifikationsarbeiten verraten eine bildtheoretische Stoßrichtung, die meines Wissens in dieser Weise in der Schleiermacher-Forschung zuvor noch nicht hervorgetreten ist.²⁸ So ist systematisch-theologisch in einer Arbeit davon die Rede, dass der frühe Schleiermacher explizit mit dem Anschauungsbegriff auf ein

mus ist weder die Position Schleiermachers noch ist er sachlich überzeugend. Entsprechend kann ich die Kritik an meinem Entwurf einer theologischen Bildhermeneutik (vgl. Krüger 2017 [Anm. 2]), ich hätte die bei Schleiermacher angeblich vorrangige Passivität von Religion verfehlt (vgl. Horst Schwebel, „Ein anderes Bild Christi. Eine Rezension“, in: tà katoptrizómena 10 (2017), online unter: https:// www.theomag.de/109/hs23.htm, zuletzt aufgerufen am 14.11.17), sowohl doxographisch (im Blick auf Schleiermacher) als auch systematisch (im Blick auf die Sache) leider nicht nachvollziehen. Dasselbe gilt im Blick auf den Vorschlag, wieder zu der Rede von einer (starken) externen Realität (Gottes) zurückzukehren, die zudem ein zu optimistisches Menschenbild zu korrigieren helfe (vgl. Petr Gallus, Rezension von „Das andere Bild Christi“, Communio Viatorum 59 (2017), 120 – 123). Diese Sichtweise ist zeichentheoretisch nicht gedeckt (vgl. gegen: a.a.O.), denn sprachanalytischer Konstruktivismus und offenbarungstheologisch gewendeter metaphysischer Realismus passen – spätestens in der Gottesfrage – nicht zusammen. Außerdem entkommt man theologisch dem neuzeitlichen Projektionsverdacht nicht, wenn man ihn zu ignorieren sucht. Der Projektionsverdacht wird dann nicht mehr an seiner Berechtigung scheitern können (vgl. so: Krüger, 2017, 483 – 488 [Anm. 2]), sondern vielmehr durch seine Tabuisierung zum (un‐) heimlichen Dauerthema einer dadurch fixierten Theologie. In der Tat ist m. E. – in gut lutherischer Tradition – Gott nicht ohne den Glauben und damit dessen Imagination zu haben (vgl. gegen die Identifikation, eine solche Position sei lediglich Sigmund Freud verpflichtet Gallus 2017 [Anm. 27]). Das bedeutet wiederum nicht, dass in Zeiten von Fakenews alle (religiösen) Projektionen beliebig werden müssen (vgl. so: Schwebel 2017 [Anm. 27]).Vielmehr greifen hier die aus dem Bildvermögen und ihrem Umgang mit der Geschichte folgenden Kriterien von Referenz (relativer Einspruch der Quellen), Kommunikation (mögliche Weitergabe der Sachverhalte) und Normativität (Anerkennung der Gesprächspartner bzw. -quellen). Dies führt nicht zur Beliebigkeit, sondern macht über den Bezug der Einbildungskraft auf die Person und das Geschick Jesu von Nazareth den spätmodernen Protestantismus als kritische Bildreligion plausibel (vgl. dazu auch: Krüger 2017, 471– 537 [Anm. 2]; Malte D. Krüger, „Pannenberg als Gedächtnistheoretiker. Ein Interpretationsvorschlag (auch) zu seiner Ekklesiologie“, in: Kirche und Reich Gottes. Zur Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs, hg.v. Gunther Wenz, Göttingen 2017, 181– 202, bes. 189 – 189). Genau diese Bestimmung bringt mit ihrem negationstheoretischen Bewusstsein das alte Erbe des Sündenbewusstseins neu zur Geltung (vgl. so gegen: Gallus 2017 [Anm. 27]). Die Frage, ob und warum man das Absolute bzw. Unbedingte (in der Tradition des Deutschen Idealismus) als – kategorial mit Ganzheit und Kontrafaktizität verbundener – Horizont der Einbildungskraft bzw. des inneren Bildvermögens überhaupt als Gott bezeichnet werden könne (vgl. Schwebel 2017 [Anm. 27]; etwas abgeschwächt: Gallus 2017 [Anm. 27]), kann m. E. letztlich nur mit einer Gegenfrage beantwortet werden: Was bzw. wer sollte denn göttlich sein, wenn nicht eine für den Menschen unhintergehbare Struktur, deren Ganzheit und Kontrafaktizität in allen anderen Akten von Menschen vorausgesetzt wird und dieselben bestimmt?  Allerdings ist auf zwei grundlegende Studien an dieser Stelle zu verweisen, die schon zuvor die basale Bedeutung des Bildbegriffs für Schleiermachers Gesamttheorie hervorgehoben haben und dies insbesondere bildungstheoretisch gewendet haben: Ursula Frost, Einigung des geistigen Lebens. Zur Theorie religiöser und allgemeiner Bildung bei Friedrich Schleiermacher, Paderborn u. a. 1991, bes. 161– 251; Joachim Kunstmann, Religion und Bildung. Zur ästhetischen Signatur religiöser Bildungsprozesse, Gütersloh 2002, bes. 178 – 198.229 – 344.

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„deutungsoffenes Bildbewusstsein“²⁹ und einen religionstheologischen Inklusivismus abstelle.³⁰ Der frühe Schleiermacher biete mithin eine bildtheoretische Subjektivitätsthese im Horizont des Religiösen.³¹ In einer anderen Studie wird Schleiermachers Bildverständnis – eingebettet in seinen Bezug auf Vernunft und Phantasie sowie Anschauung und Darstellung – offenkundig als ein Schlüsselbegriff des Gesamtwerkes erwogen.³² Und in einer wiederum eher doxographisch orientierten Arbeit wird – vor dem Hintergrund älterer, verzweigter Diskussionen – dafür plädiert, Schleiermachers Anschauungsbegriff an Spinozas scientia intuitiva heranzurücken. So sei die religiöse Anschauung bei Schleiermacher eine sinnlich vermittelte Vorstellung und darin die Darstellung des Universums; die Pointe liege in der auf die sinnliche Passivität bezogenen Deutungsaktivität des Menschen, welche die Passivität realisiere.³³ Immerhin kann auch in einer arrivierten Lesart der Bildbegriff im Gesamtwerk Schleiermachers in den Blick rücken. Dabei wird freilich auch betont, dass Schleiermachers recht weiter und auf die menschliche Einbildungskraft bezogener Begriff der Anschauung im Laufe der Zeit immer stärker in den Hintergrund trete. Die Ästhetik und das Konzept der „Kunstreligion“ würden gewissermaßen distanziert. Schließlich sei am Ende der Islam – und nicht das Christentum – die ästhetische und darin auch defizitäre Religion. Dies bedeute aber nicht, dass kunstgerechte Darstellung und evangelische Religion einander ausschließen würden.³⁴ Was an diesem Befund auffällt, ist die Tatsache, dass die aktuelle Bildtheorie in der Schleiermacher-Forschung kaum eine Rolle spielt.³⁵ Dagegen hat man etwa in der Fichte-Forschung keine Probleme, den Streit zwischen Fichte und Jacobi um Gott und Einbildungskraft im Horizont des iconic turn zu deuten.³⁶ Als Clou kann sich hier ergeben, dass ein folgerichtig durchdachter iconic turn zu den Einsichten und Problemen von Fichtes Spätphilosophie führen müsste.³⁷ 3.3 Lassen wir das Letztere hier einmal auf sich beruhen³⁸, so ergibt sich doch mit diesen beiden Motivationen ein Anlass, im Horizont der aktuellen Bildtheorie einen

 Christian König, Unendlich gebildet. Schleiermachers kritischer Religionsbegriff und seine inklusivistische Religionstheologie anhand der Erstauflage der Reden, Tübingen 2016, 254.  Vgl. König 2016, 119 – 253.327– 465 (Anm. 29).  Vgl. König 2016, 296 (Anm. 29).  Vgl. Markus Firchow, Das freie Spiel der Bilder. Vernunft und Fantasie in Schleiermachers Konzeption lebendiger Anschauung und Darstellung (bisher noch nicht erschienene Dissertation).  Vgl. Christof Ellsiepen, Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva. Die spinozistischen Grundlagen von Schleiermachers früher Religionstheorie, Berlin/New York 2006, 375 – 376.  Vgl. Gunter Scholtz, „Das Bild im Denken Schleiermachers“, in: Handbuch der Bildtheologie I. BildKonflikte, hg.v. Reinhard Hoeps, Paderborn u. a. 2007, 286 – 299.  Über die bisher unveröffentlichte Arbeit von Firchow lässt sich noch nichts sagen.  Vgl. Birgit Sandkaulen, „‚Bilder sind‘. Zur Ontologie des Bildes im Diskurs um 1800“, in: Denken mit dem Bild, hg.v. Johannes Grave/Arno Schubbach, München 2010, 131– 151.  Vgl. Sandkaulen 2010, 148 f (Anm. 36).  Vgl. zu einer Positionierung: Krüger 2017 (Anm. 2).

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ersten Blick auf Schleiermachers Denkfiguren zu werfen.³⁹ Meines Erachtens sind es drei kategorial entscheidende Einsichten, die Schleiermacher und die Bildtheorie verbinden können, wenn man sich nicht auf einen Abgleich des Wortes „Bild“ bei Schleiermacher und in der aktuellen Debatte konzentrieren möchte⁴⁰, sondern gewissermaßen systemarchitektonisch die Situation zu betrachten versucht.⁴¹ Daran anschließend ergibt sich auch eine kritische Rückfrage an Schleiermacher. 3.3.1 Die erste Einsicht – Kulturelle Anschlussfähigkeit von Religion: Wenn es eine Pointe des bildtheoretischen und darin sprach- wie vernunftfundierenden Zugangs zur Religion ist, deren Geltung genetisch im Ensemble menschlicher Kulturkräfte zu plausibilisieren, so lässt sich dies auch bei Schleiermacher aufweisen. Auch er ist religionstheoretisch und religiös an dem interessiert, was man – eher umgangssprachlich formuliert – als den blinden Fleck menschlicher Diskursivität bezeichnen könnte.⁴² Zwar vermag man Schleiermacher auch prinzipiell als einen Denker für das Konzept des Absoluten und die Notwendigkeit von Religion anzuführen. Doch zweifelsohne ist bei ihm mindestens genauso stark die Tendenz greifbar, Religion als Faktor der Selbstverständigung einer humanen Kultur herauszustreichen. Genauer gesagt: Beide Momente – absolutheitstheoretisches Konzept und kulturtheoretische Plausibilisierung – gehören bei Schleiermacher zusammen, wenn die Geltung positiver Religion als vermögenstheoretische Genese – gleichsam im positiv-geschichtlichen Nachweis auch: performativ – dargetan wird. Bei dieser Genese von Geltung ist schon immer eine intersubjektive und geschichtliche Dynamik berücksichtigt.

 Das Folgende schließt eine werkgenetische, detaillierte Erarbeitung von Schleiermachers Gesamtwerk im Horizont der aktuellen Bildtheorie (und selbstverständlich umgekehrt) nicht aus, sondern ist als erster Fingerzeig zu einem solchen Unternehmen zu verstehen.  Auch dies wäre vielleicht gewinnbringend, wenn man sich Schleiermachers Urbild-Christologie und seinen ausdrucksorientierten, bildtheologisch affinen Neuansatz in der Schriftlehre vor Augen führt (vgl. Jörg Lauster, Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart, Tübingen 2004, 49 – 65), der dann bei Richard Rothe – Schlagwort: Bibel als Bild Jesu – explizit bildtheologisch wird (vgl. 149 – 163). Ebenso ist der Bildbegriff in Schleiermachers Dialektik-Konzeption wesentlich, wenn er das Bild die Wahrnehmung und Begriffsbildung vermittelt (vgl.Wolfgang H. Pleger, Schleiermachers Philosophie, Berlin/ New York 1988, 163 – 167). Ebenso gilt es zu beachten, dass der Begriff der Einbildung und der Begriff der Divination mitunter zusammenfallen (vgl. so: Andreas Arndt, „Hermeneutik und Einbildungskraft“, in: Friedrich Schleiermachers Hermeneutik, hg.v. Andreas Arndt / Jörg Dierken, Berlin / Boston, 2016, 119 – 128, hier 119).  Die folgende Bezugnahme weiß sich im Einklang mit der Schleiermacher-Deutung, wie sie sich maßgeblich bei Jörg Dierken, Jan Rohls und Arnulf von Scheliha findet (vgl. Dierken 1996, 308 – 416 [Anm. 23]; Jan Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit I. Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert, Tübingen 1997, 327– 337.394– 409; Arnulf von Scheliha, „Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt“, in: Kanon der Theologie. 45 Schlüsseltexte im Porträt, hg.v. Christian Danz, Darmstadt 2009, 245 – 254).  Vgl. dazu und zum Folgenden (der ersten Einsicht) mit einschlägigen Belegen und weiterführenden Literaturhinweisen: Dierken 1996, 308 – 370 (Anm. 23); Rohls 1997, 327– 328.394– 397 (Anm. 41); von Scheliha 2009, 245 – 254 (Anm. 41).

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Was ist gemeint? Wenn Schleiermacher die Religion ebenso von der Metaphysik und der Moral abgrenzt, wie er Religion von der theologischen Lehrbildungen und deren Begründungen distanziert, dann kann dies prima facie als religionskultureller Relativismus erscheinen. Denn weder offenbarungsmäßige Selbstbeteuerungen noch intellektuelle Begründungen noch moralische Appelle erreichen dasjenige, womit es Religion letztlich zu tun hat. Doch dieser Verdacht des Relativismus wäre – trotz des Wahrheitsmomentes der bei Schleiermacher nie aus dem Auge verlorenen Endlichkeitsbindung des Menschen – zu kurz gegriffen, und zwar gerade wegen dieser Endlichkeitsbindung. Sie zeigt sich in Schleiermachers subjektivitätstheoretischer Fokussierung der Religion im Begriff des schlechthinnigen Gefühls der Abhängigkeit, wie es für seine späte Konzeption charakteristisch ist. Damit nimmt Schleiermacher produktiv das Problem der Selbstvoraussetzung der Subjektivität auf, indem er mit dem Gefühlsbegriff die faktische Einsetzung der Subjektivität in ihren Deutungsvollzug namhaft macht.⁴³ So steht dieses Gefühl für den subjektiven und ungegenständlichen Fluchtpunkt des menschlichen Lebens im Sinn des unmittelbaren Selbstbewusstseins, in dessen Vollzug (und: nicht Reflexion!) die basale Einheit aufscheint. Letztere ist in dieser nicht-diskursiven Ungreifbarkeit die Weise, in der das Absolute als Koinzidenz von Realem und Idealem, Sein und Denken, Natur und Geist erscheint. Diskursiv kann man sich dann über diese nicht-diskursive Erscheinungsform des Absoluten im Gefühl verständigen, freilich nur indirekt bzw. abgeleitet. Dem entspricht der Aufbau eines christlichen Geltungsanspruches über die Genese desselben, die wiederum von der in Jesus von Nazareth vollbrachten Erlösung ausgeht. Mit dieser Fokussierung des Gefühlsbegriffs geht insofern eine Selbstkorrektur einher, als Schleiermacher – anders als in seiner romantischen Frühzeit – den Gefühls- vom Anschauungsbegriff ablöst. Damit vermeidet der nachromantische Schleiermacher das Problem, dass die Partikularität der einzelnen Anschauung als Manifestation von Ganzheit letztlich erst im Gefühl realisiert wird – und dies nicht zur religiösen Anschauung als Darstellung von Ganzheit („Universum“) passt. Der Gefühlsbegriff wird so beim späten Schleiermacher komplex angereichert. Denn das Gefühl meint nicht nur ein menschliches Vermögen (im Zusammenhang mit den anderen Vermögen von Wissen und Tun), sondern steht auch explizit und eigenständig für die Ganzheit (des Menschen mit diesen Vermögen) ein. Das Gefühl bezeichnet – vergleichbar dem Geistbegriff in Hegels Trinitätslehre – ein Moment des Ganzen und die Ganzheit des Ganzen. Anders gesagt: Schleiermachers gefühlstheoretischer Zugang zur Religion

 Das Problem der Selbstvoraussetzung von Subjektivität besteht darin, dass Subjektivität, um sich als solche zu identifizieren, schon immer mit sich vertraut sein muss, also gleichsam im Vollzug schon immer am Werk ist. Insofern kann sie sich nur unter Rückgriff auf sich selbst erklären. Sie ist schon immer da. Gerade diese Faktizität, dieses Eingesetztsein in den eigenen Vollzug, wird als Passivität, die nur in der Aktivität erschlossen ist, von Schleiermachers Gefühlsbegriff berücksichtigt. Darum verfehlen auch Ansichten, Schleiermachers Gefühlsbegriff würde die in der religiösen Tradition altbekannte Passivität – ggf. auch noch im Sinn eines vorauszusetzenden transzendenten Objekts – ontologisch fassen, die Matrix von Schleiermachers Denken.

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beruht auf der Analyse der sich selbst voraussetzenden und insofern entzogenen Subjektivität des Menschen in seiner kulturellen Verfasstheit.⁴⁴ 3.3.2 Die zweite Einsicht – Vermögenstheoretische Binnenverfassung von Religion: Wenn es eine Pointe eines bildtheoretischen Religionsverständnisses ist, das Bildvermögen als sich selbst einklammernde Einbildungskraft in ihrem sinnesaffinen Vermögen zu fokussieren und entsprechend konstruktiv mit dem Projektionsverdacht neuzeitlicher Religionskritik umzugehen, dann ist Schleiermacher dem programmatisch zuvorgekommen.⁴⁵ So betont der romantische Schleiermacher die Rolle der Phantasie für die in Anschauung und Gefühl verankerte Religion, wenn „Gott“ nur eine mögliche Projektion derselben ist – und die konkrete Ausgestaltung seines Bildes an der Frage einer natürlichen oder geschichtlichen Einbettung der religiösen Anlage hängt. Genauer gesagt: Die Personalität des Gottesbildes hängt bei Schleiermacher davon ab, ob die unpersönlich fassbare Natur oder die persönlich fassbare Menschheitsgeschichte den Ausgangspunkt religiöser Erfahrung bilden. Insofern ist die religiöse Phantasie jedoch auch nicht beliebig. Der nachromantische Schleiermacher wird in seinem Verständnis des Gottesbildes zwar nachhaltiger, redet aber weiterhin keiner Verdopplung religiöser Erfahrungen in einer jenseitigen Hintergrundwelt das Wort: Das Gottesbild hängt vom Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit ab und verkörpert es. Diese Verkörperung im Gottesbild ist die religiöse Selbstdeutung der menschlichen Subjektivität, die freilich in dieser Verkörperung bzw. Projektion nicht nur ihrer religiösen Anlage gerecht wird. Vielmehr begegnet die Subjektivität einer Plastizität ihres Gottesbewusstseins, das weder in einer rein funktionalen Gottesvorstellung noch einem supranaturalen An-sich-sein Gottes aufgeht. Die Subjektivität in ihrem Gottesbewusstsein wird so gleichsam in der Schwebe gehalten. Das mag man einerseits kritisieren, weil man so Schleiermacher vorwerfen kann, den christlichen Glauben dem religionskritischen Projektionsverdacht praktisch

 Der Unterschied zu dem skizzierten bildtheoretischen Zugang besteht darin, dass letzterer noch stärker (als Schleiermachers Betonung der nicht-diskursiven Voraussetzung der Subjektivität mit ihren diskursiven Kompetenzen) wahrnehmungstheoretisch ansetzt, nämlich durch die Verankerung im Bildvermögen. Diese „Erdung“ im Vergleich zur klassischen Subjektivitätstheorie ist jedoch vielleicht mit Schleiermacher auch noch vermittelbar, wenn bei ihm das Bild im Prozess von der organischen Affektion zum Begriff eine Vermittlerstellung einnimmt (vgl. Pleger 1988, 163 – 167 [Anm. 40]). Gleichwohl ist als Differenz zu notieren: Bildtheoretisch ist die Religion nicht (wie bei Schleiermachers Fokussierung des Gefühlsbegriffs) im genuinen Sinn eigenständig, sondern verdankt sich dem Bildvermögen. Ob Schleiermacher diese Eigenständigkeit des religiösen Gefühls nur behauptet oder auch tatsächlich plausibel machen kann, sei hier noch offen gelassen. Doch mindestens die Möglichkeit der Vermittlung des Anderen seiner selbst müsste vermögenstheoretisch im Gefühl angelegt sein, wenn es die Funktion wahrnehmen soll, die Schleiermacher ihm zuschreibt. Dass dies wiederum nicht zur Behauptung ihrer spezifischen Eigenständigkeit passt, zeigt die Problematik der Denkfigur an, die Moment und Ganzheit zugleich zu sein beansprucht.  Vgl. dazu und zum Folgenden (der zweiten Einsicht) mit einschlägigen Belegen und weiterführenden Literaturhinweisen: Dierken 1996, 357– 378 (Anm. 23); Rohls 1997, 327– 328.394– 402 (Anm. 41); von Scheliha 2009, 245 – 254 (Anm. 41).

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preisgegeben zu haben.⁴⁶ Andererseits kann man den Sachverhalt in sachlicher Übereinstimmung mit dieser Kritik und in gänzlich umgekehrter Bewertung m. E. auch ganz anders fassen: Nur ein Gottesbild, das sich gleichsam in der Selbstdurchstreichung dem fixierenden Zugriff des Menschen entzieht, kann seine Funktion wahrnehmen, etwas menschlich Grundlegendes darzustellen, das wiederum nicht unter der Hand zum an-sich-seienden Doppelgänger des Menschen wird. Insofern scheint im religionskritischen Projektionsverdacht wider Willen diejenige Einsicht durch, die man mitunter gern mit den Worten Dietrich Bonhoeffers „Einen Gott, den ,es gibtʻ, gibt es nicht“⁴⁷ weitergibt: Nur ein Gott, dessen Dasein nicht präzise fixiert werden kann, kann überhaupt als Gott da sein.⁴⁸ Der Springpunkt mit Schleiermacher ist: Die religiöse Symbolisierung bleibt in ihrem Hang zur Vergegenständlichung an einen ungegenständlichen Fluchtpunkt gebunden, nämlich das im Gefühl sich selbst zugängliche Bewusstsein. Die aktuelle theologische Bildhermeneutik würde diese Verankerung gar nicht leugnen, aber betonen, dass es die Fähigkeit zum Symbolisieren ist, also das Bildvermögen, in dem sich der Mensch seine transanimalische Emotivität spezifisch human erschließt. Außerdem wäre über Schleiermacher hinaus darauf zu insistieren, dass das Gottesbild nicht nur eine einfache Struktur (nämlich des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls), sondern eine komplexe Struktur (nämlich des negationstheoretischen Bildvermögens) darstellt.⁴⁹ 3.3.3 Die dritte Einsicht – Interreligiöse Verwandtschaft von Religion: Wenn bildtheoretisch der Mensch als animal symbolicum und homo pictor das Lebewesen ist, das Religion praktiziert und das Christentum (in seiner Selbstwahrnehmung) wiederum nur insofern besonders ist, als es die allgemeine religiöse Anlage in und an sich im Christusbild symbolisiert weiß, so hat auch diese Denkfigur eine hohe Affinität

 Vgl. etwa die wichtige Kritik in Falk Wagners Schleiermacher-Studien: Vgl. Falk Wagner, Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986, 59 – 73.153 – 163; Was ist Theologie? Studien zu ihrem Begriff und Thema in der Neuzeit, Gütersloh 1989, 8 – 28.47– 125; „Subjektivität und Religion“, in: Jugend in der Kirche zur Sprache bringen. Anstöße zur Theorie und Praxis kirchlicher Jugendarbeit, hg.v. R. Hanusch/G. Lämmermann, München 1987, 323 – 334; „Funktionalität der Theologie und Positivität der Frömmigkeit“, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1991, 291– 309; Schleiermachers Dialektik. Eine kritische Interpretation, Gütersloh 1974, 137– 214.  Dietrich Bonhoeffer, Akt und Sein, Transzendentalphilosophie und Ontologie in der systematischen Theologie, München 1956, 94.  Ob dies im Sinn Bonhoeffers ist und Bonhoeffer selbst seine Aussage im Rahmen einer rechenschaftsfähigen Theologie mit systematischen Profil einholen kann, sei an dieser Stelle offengelassen.  Dass diese Verbildlichung des Gottesbildes wiederum nur relativ auf das Bildvermögen zurückgeführt werden kann, auch wenn sich das Gottesbild dem Bildvermögen verdankt, wäre ggf. noch mit Schleiermachers Gottesvorstellung vereinbar, die zwischen reiner Funktion und gegenständlicher Deutungskraft schwankt. Was bei dem Gottesbild der theologischen Bildhermeneutik allerdings schon immer im Spiel ist, und das ist ein Unterschied zur Gegenüberstellung von Gott (als der Sphäre der reinen Indifferenz) und Welt (als der Sphäre der relativen Gegensätzlichkeit) bei Schleiermacher, ist das Weltverhältnis.

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zu Schleiermacher.⁵⁰ So bestimmt Schleiermacher sowohl in seiner romantischen Frühzeit als auch in seiner nachromantischen Spätzeit das Christentum als besondere Vertiefung einer allgemeinen Religiosität. Wenn die Religion als die Vermittlung des Unendlichen mit dem Endlichen, und zwar in der geschichtlichen Positivität der christlichen Religion an sich realisiert sein soll, dann ist die skizzierte Einsicht zur Geltung gekommen. Dies wird von Schleiermacher allerdings in einer religionstheologisch differenzierten Kontextualisierung mit Stufungsmodell eingeholt, deren Leitvorstellung bis in seine romantische Frühphase zurückreicht. Demnach kann die religiös erfahrbare Ganzheit („Universum“) in verworrener Einheit, sodann in bestimmter Vielheit und schließlich in strukturierter Allheit angeschaut werden. In der nachromantischen Spätphase unterscheidet Schleiermacher, ob sich das Abhängigkeitsgefühl an sinnliche Einzelobjekte („Fetischismus“) haftet, schon einen Hang zur Einheit kennt („Polytheismus“) oder sich schließlich zur Einsicht in die Unterschiedenheit von Endlichem und Unendlichem aufschwingt („Monotheismus“). Dass Schleiermacher innerhalb der höchsten Religionsform das Christentum von anderen Religionen wie dem Judentum und Islam – auf eine interreligiös heute teilweise unannehmbare Weise – absetzt, ist ein bekannter Kritikpunkt. In der Tat wird man sich in der Spätmoderne m. E. anders positionieren müssen. Ob dies freilich ohne einen Begriff von Religion geht, dem immer etwas Normatives eignet, wird man bezweifeln dürfen. Denn ohne einen allgemein zumutbaren Begriff von Religion könnte man deren Gestalten nicht aufeinander beziehen und so auch in ihrer jeweiligen Eigenheit wahrnehmen. Anstelle eines wohlverstandenen Pluralismus wäre daher ein grober Partikularismus die Folge des Verzichts auf einen normativ gefärbten Religionsbegriffs. Dies muss nicht zu einer andere Religionen abwertenden Hierarchisierung führen. Doch die eigene Religion als Realisierung von Religion wahrzunehmen, sollte möglich sein, so dass in der Selbstwahrnehmung die eigene Religion die Realisierung von Religion und in der Fremdwahrnehmung eine Realisierung von Religion ist. Die theologische Bildhermeneutik versucht genau dem gerecht zu werden. 3.3.4 Eine kritische und in sich differenzierte Rückfrage an Schleiermacher: Wenn die theologische Bildhermeneutik sowohl den negationstheoretischen als auch medialen Charakter von Bildlichkeit herausarbeitet, wird dies dann bei Schleiermachers Einsicht in das menschlichen Symbolisieren und Darstellen in religiöser Hinsicht deutlich genug herausgestrichen? Anders gefragt: Kommt bei Schleiermacher erstens die dialektische Selbstbezüglichkeit des Negationsoperators zum Zug, wie es bildtheoretisch insbesondere in der Spätphilosophie Fichte erscheint?⁵¹ Oder kommt bei Schleiermacher mit dem, was wir als Selbstdurchstreichung des Gottesbildes be Vgl. dazu und zum Folgenden (der dritten Einsicht) mit einschlägigen Belegen und weiterführenden Literaturhinweisen: Dierken 1996, 357– 416 (Anm. 23); Rohls 1997, 330 – 331.398 – 401 (Anm. 41); von Scheliha 2009, 245 – 254 (Anm. 41).  Vgl. dazu auch in reflexionstheoretischer Lesart im Blick auf das Absolute auch: Dierken 1996, 413 – 416 (Anm. 23).

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schrieben haben, vielleicht etwas zur Geltung, das er im Kern seines Denkens nicht mehr ausweist? Und wird zweitens von Schleiermacher – nicht immer ganz frei vom Bann des Pathos religiöser Unmittelbarkeit – nicht die Dimension der medialen Vermittlung von Religion unterschätzt, die in unserer Zeit noch mehr in den Vordergrund getreten ist? Oder sollte man hier Schleiermacher wohlwollender und nachsichtiger gegenüber treten? Schließlich könnte man entschärfend auf die von Schleiermacher – vielleicht oder vermutlich gekannte – Bildkunst von Caspar David Friedrich verweisen.⁵² Denn Friedrich hat, so legt es m. E. die Studie des Kunsthistorikers Johannes Grave Caspar David Friedrich. Glaubensbild und Bildkritik (2011) nahe, bildintern die protestantische Bildkritik aufgenommen, wenn der Betrachter von Friedrich-Bildern sich seiner kontrafaktischen Einbildungskraft gewahr wird.⁵³ Dann wäre das Gegenbild zum anfänglich mit dem Woodstock-Happening vor Augen gestellten linguistic turn für einen im Licht des iconic turn verstandenen Schleiermacher vielleicht das bekannte Friedrich-Bild vom Wanderer über dem Nebelmeer (1818). Es zeigt schließlich offenbar die sich ihrer selbst in einem sinnlich-ungegenständlichen Horizont gewahr werdende Individualität, wie sie in Wahrheit den jeweiligen Betrachter auszeichnet, der sich so selbst anschaulich wird.

 Vgl. zu einer aktuellen Bestandsaufnahme der Forschung an diesem strittigen Punkt: Christian Neddens, „Ästhetik des Kreuzes. Zur Theologie des Bildes bei Caspar David Friedrich – auch im Blick auf Schleiermachers Reden“, in: Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik, hg.v. Arnulf v. Scheliha / Jörg Dierken, Berlin / Boston 2017, 673 – 703, bes. 702– 703.  Vgl. Johannes Grave, Caspar David Friedrich. Glaubensbild und Bildkritik, Zürich 2011.

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Schleiermacher’s Method of Comparison Morphology, Typology and Evolutionary Theory

Introduction Comparison is a pursuit of knowledge, given that a thing to be known is to be identified in relation to other things perceived in an existing system of knowledge, as it comes to reveal some similarities to objects already known and then differences, so as to be classified in a given system. The rise of religious studies as a system of knowledge in pursuit of understanding other religions in the non-West in the 19th century entailed the comparative project of tracing different historical manifestations of the shared essence.¹ The early phase of comparative religion has been critically reassessed by some theorists of religion. Such an attempt has been criticized for having categorized different forms of religion according to its implicit ideological/theological conviction, which defined uncritically what is religion without self-reflectively reexamining the constructed character of those essentializing terms such as “religion/religions/religious.”² Jonathan Z. Smith, while tracing various shortcomings of past comparative inquiries, searches for a more solid way of grounding the methodological foundation for comparative studies of religion. He traces how diverse approaches of comparison reveal limitations, as can be seen from ethnography, encyclopedia, morphology, and evolutionary theory.³ For Smith, comparison needs to develop a morphological-typological approach that considers how individual cases of comparanda embody some complex, systematic principles and different types of reenacting those principles

 Above all, it was Max Müller who initiated the modern sense of religious studies, located the question of religion in the “a mental faculty or disposition” enabling men “to apprehend the infinite under different names, and under varying disguises”, which are essentially coupled with differences in languages (Friedrich Max Müller, Introduction to the Science of Religion, London 1882, 13). The following passage from his Selected Essays on Language, Mythology and Religion shows how his work, closely linked with a comparative theology, calls for the necessity of comparison for understanding the onemany dynamics of religious essence and its correlation with language. “But in the history of the world, our religion, like our own language, is but one out of many; and in order to understand fully the position of Christianity in the history of the world, and its true place among the religions of mankind, we must compare it, not with Judaism only, but the religious aspirations of the whole world.” (Friedrich Max Müller, Selected essays on language, mythology and religion, London 1881, 20).  Jonathan Z. Smith, Relating Religion. Essays in the Study of Religion, Chicago 2004, 179 – 196.  Jonathan Z. Smith, “In Comparison A Magic Dwells”, in: Comparative Religion in the Postmodern Age, ed. by Kimberley C. Patton und Benjamin C. Ray, Berkeley 2000, 23 – 44; Jonathan Z. Smith, Map is Not Territory. Studies in the History of Religions, Chicago 1993, 241– 244. https://doi.org/10.1515/9783110569520-008

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within them, which are to be complemented by the historical-critical method of inquiry.⁴ First of all, a proper method of comparison needs to evade methodological limitations such as factual descriptions of trivialities superficially observed (ethnographic) and mere topical arrangements mired in comprehensive but unsystematic ways of organizing data (encyclopedic).⁵ Then, the evolutionary method of comparison that focuses on a very specific instance of functional adaptation and development in a very specific historical context is to be toned down. This evolutionary frame, when combined with the morphological approach only to forge “unnatural” hybrid forms, is said to have imposed a hierarchical framework on other cultural phenomena, or only to have limited the scope of comparison to a very specific historical context of adaptations and modifications.⁶ For Smith, the morphological approach without an evolutionary framework is preferable as a proper way of comparison. This method takes individual phenomena as reflecting a universal structure of organizing particulars with its dialectical concern for the part-and-whole relation without a false claim of superiority. Is the combination of morphology and evolutionary theory in the 19th century comparison merely an unnatural hybridity, just as Smith suggested? Is not it the case that morphology in its definition cannot but bear some claim of development inherently in its analysis, of which validity cannot but rest on one’s own normative position? It is not an overstatement to say that the general atmosphere in the 19th century Romantic project of universal science tries to combine “ideal morphology” and historical variations leading to “metamorphosis” in a developmental plane.⁷ Goethe’s idea of morphology, which supposes the expression of abiding structural relations appearing differently in natural living organisms, is also coupled with Herder’s historicistic view of diverse human historical, cultural instances as embodying different divine plans for the ideal of humanity.⁸ Various romantic and idealist thinkers such as Schlegel, Hegel, Schopenhauer, and Müller developed their own philosophical frames of interpreting comparatively diverse cultural data as manifesting

 Smith 2000, 30 (n. 3).  Smith 1993, 244– 253 (n. 3).  Smith 1993, 259 – 261 (n. 3).  Ernst Cassirer maps out how Goethe developed his own morphological/typological approach, which impacted also on the development of biology, on the basis of his platonic idealism. And He also noted how Goethe enthusiastically welcomed Herder’s reconfiguration of types to be actualized in human cultural phenomena in history. “The first person who thoroughly understood and appreciated his deserts was Goethe, who was far more remote from the historical world than he was from the world of nature. […] For Goethe, who until then had so often seen history as ‘only a rubbish heap and a lumber room, or at best the activities of a ruler or a state’, it was vivified in a flash through the magic of Herder’s presentation; it ceased to be a mere chain of events and became a great inward drama of mankind itself.” (Ernst Cassirer, The Problem of Knowledge: Philosophy, Science, and History since Hegel, trans. by William H. Woglom, New Haven 1950, 218 – 219).  Cassirer 1950, 218 – 219 (n. 7).

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the whole human spirit differently in different developmental planes.⁹ Especially, as historians of linguistics usually attribute morphology and typology to Schlegel, Schlegel notes how the inner grammatical structure of connecting words for meaning would ground two different kinds of language. Focusing on “agreement in what is essential and whole (Übereinstimmungen im Wesentlichen und Ganzen) and remarkable difference in what is individual and accidental (Verschiedenheit im Einzelnen und mehr Zufälligen)”, Schlegel builds up a typology of setting up “two major kinds of language (Hauptgattungen der Sprachen)”, consisting of the inflected version (durch Flexion) and the agglutinized (hinzugefügtes) version, which are evaluated in terms of development.¹⁰ When it comes to the question of the nascent scientific inquiry into religion, Schlegel also adopts a similar framework. He showed how there is “an inner structure” or “a foundational texture (Grundgewebe)”, of “which similarities refer to the close origin among all other external differences of development (dessen Ähnlichkeiten bei aller sostigen äußern Verschiedenheiten der Entwicklung doch noch auf einen verwandten Ursprung hindeutet)”.¹¹ The question of the relation between morphology-typology and historical development touches on Schleiermacher’s method of comparative religion. He grapples with how the scientific project of describing historical religions through morphology and its typological comparison entails a developmental plane of religions, which all serve the apologetic project of defending the superiority of Christianity. Schleiermacher develops a model of comparison grounded on a morphology-typology and couples it with the evolutionary thesis of different developmental stages among religions. As we will see, a morphological analysis delves into the structural dynamism of reproducing essence and diverse manifestations in each individual case. A typological analysis focuses more on classifying diverse historical individuals into some types according to morphological patterns of structural dynamism, which would imply the developmental plane of evolution. As for the question of comparison and positive religions, some commentators of Schleiermacher in the late 19th century paid more attention to the interplay between the essence of religion and individual manifestations of positive religions in On Religion, than his more systematic accounts of morphological typology and evolutionary apologetics in his Christian Faith. Ritschl was aware that defining the common essence of religion by focusing on positive religions is deeply related with defining the universal of religion as a whole and using “concepts of species and stages (Begriffe von der Arten und von der Stufen).” ¹² Nevertheless, he ends up with stating that Schleiermacher did not explicitly clarify the relation between species and devel-

 Vittorio Hoesle, “The Search for the Orient in German Idealism”, ZDMG 163,2 (2013), 431– 454. And also Refer to the following work. Todd Curtis Kontje, German Orientalisms, Michigan, 2004, 61– 132.  Friedrich Schlegel, Über die Sprache und Weisheit der Indier, Heidelberg 1808, 38.45.  Schlegel 1808, 92 (n. 10).  Albrecht Ritschl, Schleiermachers Reden Über die Religion und ihre Nachwirkungen auf die evangelische Kirche Deutschlands, Bonn 1874, 6 – 7.

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opmental stages.¹³ Wilhelm Bender, though aware of the kind-species (GattungArten) dynamic in Schleiermacher’s account of religions, argues that morphological dynamism is less prominent, emphasizing that differences of religious experience actualize themselves specifically (Arten) through the direct relation to the influence of the Universe.¹⁴ It is Ernst Vorwinckel who sets forth the importance of morphological typology conjoined with evolutionary developmental stages in the inquiry into Schleiermacher’s view of the relation between religion and religions. He pays attention to “the kind-concept and its subordinate species (die [Frage] nach dem Gattungsbegriff und den sich unterordnenden Arten)” and “the presentation of standard (Darstellung des Massstabs) according to which different stages (Stufen) are distinguished.”¹⁵ In spite of recent concerns for Schleiermacher’s implication to the rise of modern religious studies as well as the implication of his method of comparison to the field of comparative theology, the dynamism of morphology, typology and evolution theory has not received enough attention. On the one hand, those scholars who examine Schleiermacher’s impact on the rise of comparative religion do not take the question of typology-morphology and its relation to evolutionary development as important or crucial.¹⁶ On the other hand, other scholars reconsidering the relevance of Schleiermacher’s methodology in comparative theology only emphasize the normative commitment to Christianity as shaping a universal horizon of evaluating other religions comparatively without noticing his morphological typology and its evolutionary theory.¹⁷ No matter whether it is concerned with Schleiermacher’s implication to comparative religion or to comparative theology, the question of morphology and typology has not received due attention. I will argue that his morphological-typological-evolutionary analysis of religion grounds and conditions his apologetic project of shaping the universal horizon of understanding other religions in light of its norma Ritschl 1874, 6 – 7 (n. 12).  Wilhelm Bender, Schleiermachers Theologie mit ihren philosophischen Grundlagen, Nordlingen 1876, 272.  Ernst Vowinckel, Religion und Religionen bei Schleiermacher und Hegel, Erlangen 1896, 3.  Even though Volkhard Krech gives a short remark on some possible link between Schleiermacher’s typology and Herbert Spencer’s frame of evolution and Thile’s typological categorizations, his rendering takes up a small portion in article along with his inquiry into Schleiermacher’s influence on the psychology of religion and some strands of sociology of religion. Volkhard Krech, “Schleiermacher’s Contested Place in Religious Studies Today”, in: Schleiermacher, the Study of Religion and the Future of Theology. A Transatlantic Dialogue, ed. by Brent W. Sockness / Wilhelm Gräb. Berlin 2010, 69 – 80. In spite of Jürgen Mohn’s examination of Schleiermacher’s influence on the rise of comparative religion in setting forth historical manifestations of the same religious essential and different developmental phases, the question of typology is not emphasized enough. (See Jürgen Mohn, “Die Impulse der Religionstheologie Schleiermachers”, in: Universität – Theologie – Kirche. Deutungsangebote zum Verhältnis von Kultur und Religion im Gespräch mit Schleiermacher, ed. by Wilhelm Gräb / Notger Slenczka, Leipzig 2011, 87– 127).  Thomas Reynolds, “Reconsidering Schleiermacher and the Problem of Religious Diversity: Toward a Dialectical Pluralism”, Journal of the American Academy of Religion 73,1 (2005), 151– 181.

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tive commitment, not vice versa. Throughout the paper, I will demonstrate that Schleiermacher’s emphasis on morphology and typology is inherently coupled with his evolutionary thesis of the developmental plane of positive religions, which finally merges into his apologetic project. In that respect, it is worthwhile to revisit the old, but forgotten question of typology-morphology and evolution theory in Schleiermacher’s comparative method. It would not only historicize Schleiermacher’s method of comparison but also find a proper way to contextualize it in relation to the method of comparative religion and comparative theology. Schleiermacher’s method of comparison lies in 1) his own version of morphology identifying structural patterns of reproducing some religious essence and historically diverse accidental manifestations, 2) the typology classifying diverse species in a kind in history according to some structural patterns of morphology, and 3) the evolutionary developmental plane opening up the leeway for a normative commitment for a universal ideal providing the intelligible order of understanding other religions. Different positive religions as parts of the whole manifest some stable-yet-fluid structural patterns manifesting the shared common essence and generating culture-specific variable characteristics in individual instances, while allowing the room for developmental comparison in the shared plane of human history as the common genus.

1 Comparison as an Academic Theological Project and Its Three-fold Structure It is worthwhile to point out how Schleiermacher took different approaches in his earlier work Reden and his dogmatic work of Der christliche Glaube. On the one hand, his earlier work Reden über die Religion begins with the discussion on the essence of religion and ends with the importance of positive religions and some comparative analysis. On the other hand, Der christliche Glaube begins with the discussion on the comparative analysis of the uniqueness of the Christian religious community in relation with others before setting forth his theological doctrines. As is well known, the aim of Reden über die Religion consists in demarcating the essence of religion from metaphysics and morality and emphasizing the importance of positive religions over against natural religion as the only way for an individual to fulfill one’s own genuine religious individuality. A comparative dimension of the chapter on positive religions in Reden is concerned not so much with making a genuine comparison as with advocating for the ideal of “religion of religions”, which produces infinite different ways of manifestation.¹⁸ In contrast, Schleiermacher in Der christli-

 Friedrich Schleiermacher, On Religion. Speeches to its Cultured Despisers, trans. by Richard Crouter, Cambridge 1988, 122– 124; Friedrich Schleiermacher [1799], Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, KGA I/2, ed. by Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 185 – 326, here 325 – 326.

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che Glaube demonstrates a solid method of comparison. He tries to demonstrate the uniqueness of Christianity among other positive religions while meeting the academic standard of dogmatic theology as a descriptive discipline of accounting for the Christian piety and its way of sociality.¹⁹ It implies a comparatively descriptive work not only on Christianity but also on other forms of religion. The whole project hinges on showing the uniqueness of one religion, Christianity, out of many while revealing the shared essence out of diversity. Schleiermacher sets forth a method of comparison that reveals a structural dynamics in generating some affinities and differences between the Christian piety and various historical forms of piety in other religions. Schleiermacher’s theological project of comparative studies on Christianity in relation to other forms of piety aims at trying to reach the status of a scientific discipline by incorporating the academic theological project of morphology and typology in light of apologetic concern. Christianity as a social phenomenon shaped around its way of piety shared among its members is to be demonstrated as unique. In order to show this uniqueness, Schleiermacher demonstrates how the uniqueness of the Christian community must be perceived as “individual shapes” to be discovered “historically.”²⁰ For Schleiermacher, the construction of a historically individual fellowship involves “distinguishing what is essential and what remains the same (das Wesentliche und sich gleich Bleibende) from what is changeable and accidental (von dem Veränderlichen und Zufälligen).”²¹ Any historical phenomenon with its peculiar characteristics, which actualizes itself in relation to the whole humanity, reveals its unique individuality in relation to the whole and manifests some structural patterns of generating its unchangeable essence in the midst of diverse historical accidents. While “pure scientific methods” cannot reach “what is individual”, but remain at the level of “what is general”, “pure empirical methods” address “neither standard nor formula” for distinguishing essence from historical variations.²² Schleiermacher’s method of comparison overcomes these methodological limitations by trying to address the uniqueness of a certain historical individual and capturing its structural principles of actualizing its own permanent essence and contingent, historical variables. This methodological concern generates the interdisciplinary overlapping among ethics, philosophy of religion, and apologetics. First, in order to discover the structural dynamics generating invariable essence and variables, Schleiermacher under-

 Christian Albrecht, Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit. Ihr Wissenschaftlicher Ort und ihr systematischer Gehalt in den Reden in der Glaubenslehre und in der Dialektik, Berlin 1994, 195 – 198.  Friedrich Schleiermacher, The Christian Faith, trans. by. H.R. Mackintosh / J.S. Stewart, Edinburgh 1999, 4; Friedrich Schleiermacher [1830/31], Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Teilband 1, KGA 13/1,1, ed. by Rolf Schäfer, Berlin / New York 2003, 17.  Schleiermacher 1999, 4 (n. 20); Schleiermacher 2003, 17 (n. 20).  Schleiermacher 1999, 4 (n. 20); Schleiermacher 2003, 17 (n. 20).

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scores the importance of ethical analysis on human ethos and its social dimension. For Schleiermacher, ethics is basically “the speculative presentation of Reason, in the whole range of its activity”²³. In a certain sense, it is a philosophical analysis of the communal self-consciousness and its symbolic-cultural activities in relation to its given nature. In that respect, ethics posits “the concept of the church” as an individual form of pious sociality emerging from its own natural expression of conscious activity.²⁴ This ethical inquiry into the church as an expression of self-conscious activity and interpersonal sociality distinguishes “the permanently identical from the changeable elements”, and “determines the places at which the individual forms could be placed” for historical appearances.²⁵ As I will elaborate later, it is morphological in the sense that it traces an inner dynamism of generating a social form of piety which operates through the interplay between the invariable essence and variable historical accidents among individual historical appearances. However, it is impossible to trace this unique form of communal piety in Christianity and its interplay of invariable essence and variable historical accidents, if one does not consider diverse historical forms of other pious fellowships having different forms of “basis”.²⁶ Such a task is to be taken over by philosophy of religion, which is “a critical presentation of the different existing forms of religious communion, as constituting, when taken collectively”.²⁷In this respect, “a special branch of historical science”, that is “philosophy of religion”, takes over the task of making “the totality of all those churches to be distinguished from each other by peculiar differences of basis” “according to their affinities and gradations (nach ihren Verwandtschaften und Abstufungen).”²⁸ The philosophy of religion, which examines the totality of diverse historical ways of communal piety, sets up a certain system of distinction and category primarily according to different forms of actualizing a given ethos in one’s community. Then, it also classifies the totality of diverse communal pieties according to presumable criteria of affinity and the degree of development by using the typology of classifying different ways of historical manifestation. The aforementioned dimension of morphology, which is more or less the speculative analysis of the invariable essences of communal piety and variable ones, is applied concretely in the comparative religious-philosophical analysis of typology classifying diverse historical ways of communal pieties according to affinity and gradation. At this point, it is important to note that Schleiermacher is perceptively aware that this morphological comparison conjoined with the historical-philosophical typology is not robust enough to ground a scientific validity and thus vulnerable to mere speculation. As he avows, “these attempts do not rest upon a sufficiently uni-

     

Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher

1999, 5 (n. 1999, 4 (n. 1999, 4 (n. 1999, 4 (n. 1999, 5 (n. 1999, 4 (n.

20); Schleiermacher 2003, 17– 18 (n. 20). 20); Schleiermacher 2003, 17 (n. 20). 20); Schleiermacher 2003, 17 (n. 20). 20); Schleiermacher 2003, 17 (n. 20). 20); Schleiermacher 2003, 17– 18 (n. 20). 20); Schleiermacher 2003, 17 (n. 20).

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versal scientific method, nor they sufficiently maintain the balance between the historical and the speculative”²⁹. Forging a morphological and typological analysis leads either to a too far-fetched speculation with a less historical analysis or to a historical description with a less philosophical analysis. A proper way of comparison can be neither sufficiently scientific, nor fully balanced between the historical and the speculative, always vulnerable to criticism from the standard of a scientific method and wavering between history and philosophical speculation. However, for Schleiermacher, the inherent instability of morphology and typology embedded in ethics and the philosophy of religion rather has a sufficient degree of plausibility, only if it is used for the normative project of apologetics as a theological discipline. This method is plausible enough “for us to be able to apply to them [methodological attempts] in our theological studies as admittedly satisfactory”.³⁰ As this approach tries to find some structural dynamics of generating variables/invariables in unrepeatable, irreplaceable, unique individuals in history, it cannot resort to a rigorous, universalizable scientific method entirely but only wavers between a speculative impulse and a descriptive impulse. Those academic outcomes of ethics and the philosophy of religion, though inherently not fully scientific and vulnerable to speculation, “would have to be accepted by apologetics”, in such a way that these outcomes lay foundation for a further apologetic attempt to define the essences of Christianity in relation to other forms of communal piety.³¹ In this section, I have noted how Schleiermacher defines ethics, philosophy of religion, and apologetics as three aspects of his method of comparison. He defines ethics as the psychological analysis of religious experience and its sociality, the philosophy of religion as the empirical-critical reflection on diverse historical types of religious experience, and apologetics as the confessional-normative commitment with a teleological, evolutionary perspective. He traces the structural psychological dynamics of actualizing the essence and historical accidents of the Christian way of communal piety, of which distinctive essences and differences are to be classified according to stages and species in the same kind by a religious-philosophical analysis of historical forms. I will show how this morphological-typological analysis serves a normative concern for identifying the unique essence of Christianity in comparison with other forms of piety, which is attributed to its originator, the person of Jesus Christ. However, even though his general account of the interdisciplinary project of academic theology would give some hint at Schleiermacher’s employment of morphology, typology, and evolutionary-developmental perspective, his detailed accounts ensues in his rendering of each section on ethics, philosophy of religion, and apologetics.

 Schleiermacher 1999, 4 (n. 20); Schleiermacher 2003, 17 (n. 20).  Schleiermacher 1999, 4 (n. 20); Schleiermacher 2003, 17 (n. 20).  Schleiermacher 1999, 4 (n. 20); Schleiermacher 2003, 18 (n. 20).

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2 The Ethical Analysis as a Morphology of Human Psyche In his account of human psyche, Schleiermacher’s morphological method focuses on how some psychological dynamics ground structural patterns of revealing the invariable essence of religion and concrete variations. A specific shape (Gestaltung) or morphe of one’s religious experience is determined through the multiple morphological-analytic factors of psychic dynamism: 1) the self-conscious feeling of absolute dependence transcendentally functioning as the source of self-identical unity, 2) the sensible self-consciousness wavering between self-effective freedom and receptive dependence and 3) the kind-consciousness driving one’s desire for fellowship according to mental affinity and its familial, linguistic, conventional, ethnic manifestations. As I will demonstrate in this section, a specific shape of religious experience is determined by the first layer of defining human experience, which consists of the variation of the sensible self-consciousness in relation to the feeling of absolute dependence. Then, this specific shape is also determined by the second layer of sociality, which is made up of the formal principle of free sociality definable by one’s psychic composition of the dependence-freedom interplay and the historical contingent factors such as language, ethnicity, and family. For Schleiermacher, a methodological analysis of the collective piety grounding a fellowship lies in “speculative representation of reason in its total effective reality (die speculative Darstellung der Vernunft in ihrer Gesammtwirksamkeit)” “that runs parallel to natural science”.³² Even though he does not elaborate its meaning in Der christliche Glaube, his philosophical ethics sheds light on our understanding of this issue. The human spirit interacts with nature by actualizing the unity between the ideal of its intellect and the real of nature, as this interaction entails the interplay between the spontaneous self-positing that attracts the world to its self-consciousness and the receptive self-surrendering that situates one’s self-consciousness in one’s communal life of the kind.³³ A particular human individual engages with

 Schleiermacher 1999, 5 (n. 20); Schleiermacher 2003, 19 (n. 20). Even though the question of nature and reason is not a central theme in Der Christliche Glaube, the cited passage definitely reflects Schleiermacher’s main idea of nature and reason. As Sorrentino notes, a human individual participates in the history of making nature to be an organ of reason. An individual, who comes to interact with other individuals in a historical communal life, constitutes its own individuality by participating into ideal universality, in order that it actualizes the ideal as the principle of one’s life in the whole process of interaction between particulars and the whole world. (See Sergio Sorrentino, “Natur und Vernunftkausalität Schleiermachers Ethik als Thematisierung der Humanität”, in: Schleiermacher und die Wissenschaftliche Kultur des Christentums, ed. by Günter Meckenstock / Joachim Ringleben, Berlin 1991, 493 – 508, here 497– 498).  Friedrich Schleiermacher, Lectures on Philosophical Ethics, ed. by Robert B. Louden and trans. by. Luise Adey Huish, Cambridge 2002, 14.19.; Friedrich Schleiermacher, Ethik 1812/13, ed. by Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1981.

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any cultural activity through the interplay between the ideal and the natural, the symbolic of reason and the organizational of nature.³⁴ A person enters into the process of actualizing one’s own individuality through the two-fold interaction with the ever-enfolding universal dimension of the communal life of culture and formation. How does this ontological aspect of ethical analysis relate to a question of the comparative methodology? We can discover the criteria for a morphological analysis from his fundamental insight that defines human psyche as interplaying between active self-positing and receptive positedness throughout the ongoing pursuit of reaching to the absolute unity between reason and nature throughout its communal life. As I will show, even at this level of the ethical analysis of self-consciousness and its communal life, we can detect a morphological analysis of piety that accompanies a developmental frame. In this ethical analysis, Schleiermacher, first of all, sets forth the first morphological layer of psychological dynamics determining different species and degrees of piety, and then also the second morphological layer of sociality and its diverse historical-communal factors encompassing socio-cultural, ethnic, linguistic variations.

2.1 The First Layer of Morphology First, Schleiermacher sets up some conceptual schemes of analyzing human consciousness in order to define the essence of piety and its different manifestations. The conscious life of human person consists in the interaction between the pole of “remaining in oneself” and the pole of “stepping out” of oneself toward the world (ein Wechsel von Insichbleiben und Aussichheraustreten) whereby one engages with the world through one’s action (Thun), knowing (Wissen), and feeling (Gefühl).³⁵ While feeling is an immediate but abiding consciousness of oneself as having been/being determined by the world, thus receptively remaining in oneself, thinking actively transcends from itself in the midst of its receptive state of having known in itself, which in turn incurs an outward action.³⁶ Piety, which is the lynchpin of his theories of religion, is a kind of feeling, but has its uniqueness distinct from other

 Wilhelm Bender views that there is an underlying metaphysical dimension of this thought that Schleiermacher’s analysis of human psyche leads to his unique thought on individuality as an actualization of the kind-consciousness. (See Bender 1876, 48 (n. 14).  Schleiermacher 1999, 8 (n. 20); Schleiermacher 2003, 25 (n. 20).  Schleiermacher 1999, 8 (n. 20); Schleiermacher 2003, 25 (n. 20). Lange states that feeling is an immediate self-consciousness, which pertains to the higher sense of intelligible unity and the lower sense of interacting with the world through interrelated interplay between relative freedom and relative dependence. (See Dietz Lange, “Das fromme Selbstbewuβtsein als Subjekt teleologischer Religion bei Schleiermacher”, in: Schleiermacher und die Wissenschaftliche Kultur des Christentums, ed. by Günter Meckenstock / Joachim Ringleben, Berlin 1991, 187– 205, 188 – 189).

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kinds of feeling.³⁷ There is some “common element out of all different expressions of piety”: the essence of piety (Wesen der Frömmigkeit), which is the immediate selfconsciousness of oneself as “absolutely dependent on (schlechthin abhängig)” or concerned with God (in Beziehumg mit Gott bewußt).³⁸ Piety as the foundational concernedness to God underlies the ordinary oscillation of self-conscious feeling between the active, effective feeling of being for oneself and the passive, receptive feeling of being co-determined with other beings.³⁹ As Schleiermacher summarizes, any state of self-consciousness, which is primarily feeling in general but conduces to knowing and action, consists not only in the self-consciousness of oneself as receptively/actively engaging with the world but also in the pious self-consciousness of oneself as absolute dependent.⁴⁰ While feeling’s abiding awareness of self’s situatedness influences active/passive interactions in thinking and action, piety as the feeling of the self as absolutely dependent points to the ultimate dimension of feeling

 According to Lange, the feeling of absolute dependence, which is distinct from ordinary feeling related to world-experience, is the most immediate relation to the self-consciousness. It is more or less the transcendental condition of feeling given world-experience. (See Lange 1991, 192– 193 [n. 36]). The implication of Schleiermacher’s theory of feeling to the Kantian Transcendental philosophy is an important issue for interpreting Schleiermacher’s theory. According to Eckert, Schleiermacher emphasizes the condition of possibility of knowing as the unity between being and knowing, which is different from Kant’s emphasis on the reflective unity of the transcendental apperception. According to him, Schleiermacher’s position is “an ontological extension of the Kantian transcendental subject.” (See Michael Eckert, “Gott Welt und Mensch in Schleiermachers Philosophischer Theologie”, in: Internationaler Schleiermacher Kongreß Berlin 1984, Bd. 1, ed. by Kurt-Victor Selge, Berlin 1985, 281– 296, 284– 288. Sergio Sorrentino also underscores that feeling as the immediate self-consciousness is a kind of substance of one’s experience, or “the transcendental condition of possibility” of experience, which encompasses diverse moments of experience with unity. (See Sergio Sorrentino, “Der Glaube als geschichtsbildendes Subjekt und sein transzendentaler Raum in Schleiermachers Glaubenslehre”, in: Internationaler Schleiermacher Kongreß Berlin 1984, Bd. 1, ed. by Kurt-Victor Selge, Berlin 1985, 333 – 364, here 340). Jörg Dierken underscores that Schleiermacher’s theory of subjectivity cannot be understood apart from the context of Kantian framework, implying that the Kantian concern for “the synthetic unity of apperception” as a spontaneous positing of category on diverse moments of experience takes a different form in Schleiermacher’s idea of the feeling as the interactive unity between reception and activity in forging the unity out of plural moments of experience. (See Jörg Dierken, “Transcendental Theories of Religion. Then and Now”, in: Schleiermacher, the Study of Religion and the Future of Theology. A Transatlantic Dialogue, ed. by Brent W. Sockness / Wilhelm Gräb, Berlin 2010, 151– 164, here 152– 157).  Schleiermacher 1999, 12 (n. 20); Schleiermacher 2003, 32 (n. 20).  The whole self-consciousness (Gesammtselbstbewußtsein) and its integrity enters the interaction between “one’s self-positing (Sichselbstsetzen)” and “one’s non-self-positing (Sichselbstnichtsogesetzthaben)”, between “the being-for-itself in one’s subjectivity (das Sein des Subjektes für sich)” and “the being-together-with other things (Zusammensein mit andern)”, between the “self-effectivity (Selbsttätigkeit)” of freedom-feeling and receptivity (Empfänglichkeit) of dependence-feeling. (See Schleiermacher 1999, 13 – 14 [n. 20]; Schleiermacher 2003, 34– 35 [n. 20]).  Schleiermacher 1999, 18 (n. 20); Schleiermacher 2003, 41 (n. 20).

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that remains in oneself but also is open to transcendence, thus finally affecting one’s thinking and action.⁴¹ Turning back to Schleiermacher’s analysis of the invariable essence of piety to be appropriated for a term of the comparative method, we can focus on psychological factors of his morphology that determine different species and degrees of manifesting the invariable essence of piety and its variable religious emotions. The self-consciousness at the level of “the sensible self-consciousness (das sinnliches Selbstbewußtsein)” engages with the immediate surrounding world through the interplay between relative freedom and relative dependence, self-positing and being-positedby-others, thus feeling “antithesis (Gegensatz).”⁴² Beyond this level, the self-consciousness at the level of “the feeling of absolute dependence” finds the sense of self-identical unity, dissolving any antithesis.⁴³ Both are inseparable in the sense that the former’s antithesis always longs for reconciliation and the latter by itself is never realized in our diverse temporal experiences. This inseparability between the sensible self-consciousness’ interplay of receptivity/self-effectivity and the selfconscious feeling of absolute dependence rather determines the characteristics of pious feeling or piety. “The more the subject, in each moment of sensible self-consciousness, with his partial freedom and partial dependence, takes at the same time the attitude of absolute dependence, the more religious is he.”⁴⁴ Schleiermacher supposes that the highly developed degree of union between the sensible self-consciousness, and the higher self-consciousness or the feeling of absolute dependence is the most desirable mode of experience. “This relatedness of the sensibly determined to the higher self-consciousness in the unity of the moment is the consummating point of the self-consciousness.”⁴⁵ This inseparable interaction between them is the crux of Schleiermacher’s morphology. The interaction between the sensible interplay of relative freedom/dependence and the underlying feeling of absolute dependence grounds different ways in which piety or pious consciousness actualizes itself into variable particular ones while revealing its essences. On the one hand, “the pious consciousness (frommes Bewußtsein)” emerges as “a particular pious emotion (eine besondere fromme Erregung)” at the time of interacting with “a certain given moment of self-consciousness’ partial freedom and partial dependence (auf ein als Moment gegebenes von theilweisigem Freiheits- und theilweisigem Abhängigkeitsgefühl)”, which shows a different way of arousal “relating to another mo-

 Knowing and action belongs to piety, though not grounding its essence, in such a way as one’s feeling comes to rest “in a thinking which fixes it” and this informed feeling and this knowledge laden with feeling “discharges itself in an action which expresses this feeling.” (See Schleiermacher 1999, 11 [n. 20]; Schleiermacher 2003, 29 [n. 20]).  Schleiermacher 1999, 19 (n. 20); Schleiermacher 2003, 43 (n. 20).  Schleiermacher 1999, 19 (n. 20); Schleiermacher 2003, 43 (n. 20).  Schleiermacher 1999, 22 (n. 20); Schleiermacher 2003, 47 (n. 20).  Schleiermacher 1999, 21 (n. 20); Schleiermacher 2003, 47 (n. 20).

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ment given in a different way.”⁴⁶ Pious consciousness cannot but manifest itself in various particular forms of pious emotion according to different constellations of self-conscious receptivity and effectivity changing moment-by-moment. On the other hand, in the midst of these particular manifestations, there has always been “the essential element” which is “the feeling of absolute dependence.”⁴⁷ For Schleiermacher, this essential element of the feeling of absolute dependence is “a moment of the highest power (ein Moment der höchsten Potenz)” that incurs “an enhancement of life”, “an unchanging identity of life” excluding any chaos or any contradiction.⁴⁸ It is distinct from “a series of moments of the lower power (eine Reihe von Momenten der niederen Potenz)”, which is nothing but the ongoing series of limited, fragmented identities dispersed in different moments of dependence/freedom. There can be either “the progress of the higher life” caused by the higher self-consciousness’s subsumption of the lower determination or “the inhibition of the higher life”.⁴⁹ This shows the gist of Schleiermacher’s morphological account of pious consciousness, which cannot but lead to a certain development framework. While the essence of pious feeling lies in the feeling of absolute dependence that provides a higher sense of force and identity, it manifests itself differently according to different ways of religious emotion interacting with the interplay of the sensibly self-conscious effectivity and receptivity. A specific way in which the feeling of absolute dependence “unites with a sensibly determined self-consciousness as [religious] emotion” depends on the “strength (die Stärke)” or “the power” of one’s higher sense of piety.⁵⁰ In a certain sense, contingent variables of pious emotion that vary in different sets of freedom/dependence in each moment are also determined to the degree of force or strength in the manifestation of the essence of piety. Different ways of variable combination in the emergence of pious emotion would imply different levels of manifesting the invariable essence, which is the higher form of self-consciousness. Schleiermacher goes far to say that the question of different forms (Gestaltungen) hinges on the prominence of the essence as the highest principle of actualization. “Different formations (verschiedene Gestaltungen) of the sensible self-consciousness in the highly manifold mixtures of freedom-feeling and dependence-feeling (in den mannigfaltigsten Mischungen von Freiheitsgefühl und Abhängigkeitsgefühl) are disparate according as they elicit or encourage the intrusion of the higher self-consciousness (das Hinzutreten des höheren Selbstbewußtseins).”⁵¹

     

Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher

1999, 1999, 1999, 1999, 1999, 1999,

22 (n. 20); Schleiermacher 2003, 47 (n. 20). 23 (n. 20); Schleiermacher 2003, 48 (n. 20). 23 (n. 20); Schleiermacher 2003, 48 (n. 20). 24 (n. 20); Schleiermacher 2003, 49 (n. 20). 25 (n. 20); Schleiermacher 2003, 51 (n. 20). 25 (n. 20); Schleiermacher 2003, 51 (n. 20).

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2.2 The Second Layer of Morphology The first aspect of his morphological method in the analysis of piety primarily focuses on the psychic-dynamism of generating differences and essences, which is to be traced back to the interplay between the force of the feeling of absolute dependence and the wavering between self-effective freedom and receptive dependence. In addition, Schleiermacher introduces the second aspect of morphological analysis, which is the analysis of piety according to the communal interaction of individuals determined through the kind-consciousness and its socio-cultural linguistic variations. Following his emphasis on the interplay between the receptive self-remaining and the active self-transcendence, he also views that the formation of an individual’s religious fellowship is determined by the way in which one engages with the interplay between one’s personal uniqueness (Persönlichkeit) and one’s kind-consciousness (Gattungsbewußtsein).⁵² While an individual has one’s religious feeling “as a self-contained determination (ein in sich abgeschlossenes Bestimmtsein des Gemüths)”, one’s own “consciousness of kind” drives one to have social “fellowship (Gemeinschaft)” by “stepping beyond the limit of his own personality (Heraustreten aus den Schranken der eigenen Persönlichkeit)” and “taking up the facts of other personalities into his own (Aufnehmen der Thatsachen anderer Persönlichkeiten in die eigene)”⁵³. This kind-consciousness enables each individual to enter diverse ways of “living imitation (lebendige Nachbildung)”, whereby each individual stands to each as both “the expressing and the perceiving” to each other, thus opening up “multifarious communion of feeling (mannigfaltigen Gemeinschaften).”⁵⁴ Different individuals having different degrees of the strength of the higher self-consciousness and different sets of the sensible self-consciousness relate to other individuals by expressing one’s personality and taking over others’ through one’s kind-consciousness, only to forge their own fellowship based on one’s sense of affinity (Verwandtschaft).⁵⁵

 For Schleiermacher, each individual has to have a certain orienting value of life so that one can pursue one’ own humanity and contribute it to the whole humanity by interacting with other individuals in one’s historically open-ended community. (See Ursula Frost, “Das Bildungsverständnis Schleiermachers und Humboldts im Kontext der Frühromantik”, in: 200 Jahre Reden Über die Religion. Akten des 1. Internationalen Kongress der Schleiermacher Gesellschaft, ed. by Ulrich Barth / Claus-Dieter Osthövener, Berlin 2000, 859 – 877, here 870 – 874). According to Lange, this Romantic idea of Bildung and the kind-consciousness entails each individual’s co-positedness in their shared personality, which is the kind-consciousness, while maintaining their own differences. Conversely, the kind-consciousness also reflects the interconnectedness of all different individuals. This emphasis leads to Schleiermacher’s soteriological position that the personality of Christ as the effective urtype for believers incites the productive power of God-consciousness and makes one’s individual life to be receptive to Christ’s fellowship, which comes to be shared by each individual’s interactive relations. (See Lange 1991, 198 – 202. [n. 36]).  Schleiermacher 1999, 27 (n. 20); Schleiermacher 2003, 55 (n. 20).  Schleiermacher 1999, 27 (n. 20); Schleiermacher 2003, 55 (n. 20).  Schleiermacher 1999, 28 (n. 20); Schleiermacher 2003, 56 (n. 20).

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Schleiermacher is aware that such a principle of religious fellowship, which is explainable through the affinity shapeable by free-floating individuals’ interactions, opens up the radical sense of fluidity and variation. One’s own kind-conscious religious affinity to each other makes one’s fellowship vulnerable to instability or fluidity, as each individual’s mode of piety, the sensible self-consciousness, and the kindconsciousness always fluctuates. After giving a formal account of fellowship in terms of the individual psychic interplay of the kind-consciousness and personal piety in his psychological analysis of ethos, the communal aspect of piety is examined from actual, institutional factors such as one’s family, language, customs, and ethnic origins.⁵⁶ Turning to actual historical conditions, some familial ties and other conditioning factors such as “common language (gemeinsame Sprache)”, “ethos (Sitten)”, and “common ethnic origin (gemeinsame Herkunft)” provide each individual with “certain definite limits” for their religious fellowship.⁵⁷ Schleiermacher thinks that these factors would provide “abiding relationships in this fluid and […] uncircumscribed fellowship (feststehende Verhältnisse in dieser fließenden und […] unbegrenzten Gemeinschaft)”.⁵⁸ For Schleiermacher, a religious fellowship relatively confined by those factors sets “a determined limit” on “the recurrent circulation of pious self-consciousness” as well as a “well-ordered and structured reproduction of pious emotions.”⁵⁹ A specific fellowship determined in terms of family, language, custom, and ethnic origin not only determines the caliber of each individual’s self-conscious feeling of concernedness to God and the structured pattern of reproducing a certain  Schleiermacher 1999, 29 (n. 20); Schleiermacher 2003, 57 (n. 20).  Schleiermacher 1999, 29 (n. 20); Schleiermacher 2003, 57 (n. 20). At this point, the recent debate on the socio-linguistic particularity of the feeling of absolute dependence in Anglo-phone Schleiermacher studies needs to reconsider the status of the question. Even though Vial argues that language is crucial for religious experience, the feeling of absolute dependence, and the sensible world-experience, there is no clear evidence that Schleiermacher grounds his discussion of the feeling of absolute dependence on the issue of language. (See Theodore Vial, “Anschauung and Intuitionm, Again (Or, ‘We Remain Bound to the Earth’”, in: Schleiermacher, the Study of Religion and the Future of Theology. A Transatlantic Dialogue, ed. by Brent W. Sockness / Wilhelm Gräb, Berlin 2010, 39 – 50, here 45 – 49). Concerning this, Proudfood refutes this position by saying that Schleiermacher takes this feeling of absolute dependence as self-identical, thus distinct from other variations. (See Wayne Proudfood, “Immediacy and Intentionalit in the Feeling of Absolute Dependence”, “, in: Schleiermacher, the Study of Religion and the Future of Theology: A Transatlantic Dialogue, ed. by Brent W. Sockness / Wilhelm Gräb, Berlin 2010, 27– 38). Instead, in the section of introduction, Schleiermacher discusses the particularity of language, ethnicity, culture in the context of the historically specific kind-consciousness that gives a specific term for one’s interactive relation with others in taking up and expressing one’s own religious experience for shaping one’s individuality. Moreover, Schleiermacher’s discussion of language in the pious feeling of Christians and its communicability leads to the question of how individuals share the fellowship with Christ in and through the specific form of the kind-consciousness originating from Christ. Even though he emphasizes that the language of the Christian doctrine communicated in the church is important in shaping one’s pious self-consciousness, piety is distinct from communication in spite of its inseparability.  Schleiermacher 1999, 29 (n. 20); Schleiermacher 2003, 57 (n. 20).  Schleiermacher 1999, 29 (n. 20); Schleiermacher 2003, 58 (n. 20).

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characteristic of piety interplaying between freedom and dependence. Formalistically speaking, the essence of religious fellowship would be a free interaction of each individual reciprocating one’s personality with each other according to one’s own affinity and the kind-consciousness. Nevertheless, in our actual historical reality, this essence cannot but actualize itself in a very concrete historical fellowship within familial, cultural, linguistic, ethnic ties, which all shape each historical individual. As we noted, a specific shape of one’s religious experience is determined through the two morphological layers of psychic dynamism. The first layer of morphology examines the relation between the self-consciousness of absolute dependence and the sensible self-consciousness of relative freedom/dependence. The second layer of morphology covers the kind-consciousness driving one’s desire for fellowship according to personal affinity and its familial, linguistic, conventional, ethnic factors. Any instance of religious experience involving these layers reveals the invariable essence of piety in the midst of its particular manifestations, which are to be explained through the above-mentioned factors of psychic dynamism.

3 The Religious-Philosophical Analysis as a typological Classification of historical Manifestations 3.1 Species, Developmental Stage, and Typology Schleiermacher’s speculative analysis on the dynamics of human psyche and fellowship is supplemented by his religious-philosophical accounts on the typology of historical manifestations. In a historical examination that employs the method of philosophy of religion, he explains how a morphological account of species and its dynamics of essence/particular manifestations, which is aligned with a developmental frame, pave the way for typifying different historical religions. The existence of different historical religions having their definite ways of determinate piety and fellowship are explainable by two terms, which are “different stages of development (verschiedene Entwicklungsstufen)” and “different species (verschiedene Arten)”.⁶⁰ It should be noted that Schleiermacher does not make a clear-cut distinction between species and developmental stages. Developmental phases and different species in the same kind are two different ways of framing interrelations of various historical forms of individual religious fellowships. Instead of reproducing “unchangeable forms”, a religious fellowship is “capable of a greater or lesser development within the character of its kind (einer größeren oder geringeren Entwiklung

 Schleiermacher 1999, 31 (n. 20); Schleiermacher 2003, 60 (n. 20).

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innerhalb ihres Gattungscharakters fähig)”.⁶¹ At this point, Schleiermacher admits that the highest development phase of a certain species is continuous to the lowest phase of another species, thus erasing a clear-cut demarcation between one species and another. In addition, the higher one’s religious fellowship comes to be, the more it loses its generic character. Just as we say an individual becomes in a certain sense a new man by passing to a higher form of religion, so the generic character of a communion must be lost when it rises to a higher level. Then, even on any one level, if the inner development is to go on, the generic character would become uncertain and altogether unstable.⁶²

The developmental framework of historical religions is intricately correlated with the kind framework. The ultimate goal of this correlation is directed to the maximal development of the strength of each individual’s unique piety and religious emotions and a genuine fellowship motivated by one’s unique sense of affinity to each other, which would dissolve a generic, classifiable framework. Nevertheless, between the highest development of historical religions and the lowest one, any historical religion can be set in comparison with others in terms of “this two-fold way”: one is posited as “coordinate (beigeordnet) with some” according to the frame of species while being set as “subordinate or superordinate (über oder untergeordnet) to others” according to the frame of development.⁶³

3.2 The First Layer of Typology: Super-Ordination and Sub-Ordination Schleiermacher applies three analytical terms of comparison which he explicated in the section of the ethical analysis of piety: 1) The strength of the self-conscious feeling of absolute dependence, 2) its effect on the sensible self-consciousness wavering between relative freedom and dependence, 3) the free, genuine fellowship motivated by one’s the kind-consciousness and affinity. By using these three criteria, Schleiermacher engages with two different strata of typology: first, the typology covering idolatry, fetishism, polytheism, and monotheism with emphasis on super-ordination/sub-ordination, and second, the typology covering variations of monotheism with emphasis on co-ordination. Schleiermacher brings two analytical terms as criteria for setting comparatively diverse historical religions in a classificatory framework, which consist of “the extensiveness of self-consciousness (die Ausdehnbarkeit des Selbstbewußtseins)”, and “the clarity of distinction of the higher self-consciousness from the lower one (Klarheit der

 Schleiermacher 1999, 32 (n. 20); Schleiermacher 2003, 62 (n. 20).  Schleiermacher 1999, 32 (n. 20); Schleiermacher 2003, 62 (n. 20).  Schleiermacher 1999, 32 (n. 20); Schleiermacher 2003, 63 (n. 20).

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Eunyoung Hwang / Chicago (IL, USA)

Unterscheidung des höheren Selbstbewußtseins vom niederem)”.⁶⁴ The clarity of the higher self-consciousness distinct from the lower one rather points to one’s ideal of setting up the absolute unity projected from one’s potency of the higher self-consciousness or the feeling of absolute dependence that transcends any contradiction felt in one’s sensible existence of freedom/dependence. While relating to this clarity of the absolute unity projected from one’s pious self-consciousness, the sensible selfconsciousness in the interplay of freedom and dependence comes to transcend its own limited world-experience to extend to the absolute unity of all reality. In that respect, idol-worship, in other words, fetishism, and polytheism are relegated to “the subordinate stages (untergeordnete Stufen)” in comparison with the plane of monotheisms, given that these different species of religion are mired in the insufficient awareness of the feeling of absolute consciousness as well as the hampered condition of the sensible self-consciousness.⁶⁵ Schleiermacher describes idolatry (Gözendienst) as ascribing some limited powers in a given local context to some plural idols, while depicting polytheism (Vielgötterei) as a more-advanced stage on account of its relative unifying tendency to integrate different local gods and local references into “a certain organized and coherent plurality (eine gegliederte zusammengehörige Vielheit).”⁶⁶ While the former even lacks a proper idea of totality mired in its myopic, chaotic concern for local gods and their references, the latter even has a more comprehensive, organized view of these plural references, which would morph into a certain sense of totality.⁶⁷ In this respect, Schleiermacher gives rationales for relegating idolatry and polytheism into subordinate stages, by analyzing these two according to the clarity of the higher self-consciousness and the comprehensiveness of the sensible self-consciousness. At the stage of idolatry, one’s sensible self-consciousness is too confused and limited, taking one’s given objects of one’s relative freedom and dependence as scattered sites of reflecting one’s feeling of absolute dependence.⁶⁸ Likewise, at the stage of polytheism, as one’s sensible self-consciousness is not integrated enough, but only makes fragmented unities throughout its experience and also incoherent diverse emotions, the higher self-consciousness “cannot appear in its complete unity (noch nicht in seiner vollen Einheit […] auftreten).”⁶⁹ For Schleiermacher, the above-mentioned stage of polytheism has its inherent structural impulse for evolving into monotheism, given that one’s sense of limitation as a part of sensible consciousness of being posited leads to the universal consciousness of finitude (zum allgemeinen Endlichkeitsbewußtsein), and thus the discovery of

     

Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher

1999, 1999, 1999, 1999, 1999, 1999,

35 – 36 (n. 20); Schleiermacher 2003, 67– 68 (n. 20). 34 (n. 20); Schleiermacher 2003, 65 (n. 20). 34 (n. 20); Schleiermacher 2003, 66 (n. 20). 34 (n. 20); Schleiermacher 2003, 65 (n. 20). 35 (n. 20); Schleiermacher 2003, 67 (n. 20). 35 (n. 20); Schleiermacher 2003, 67 (n. 20).

Schleiermacher’s Method of Comparison

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feeling of absolute dependence (als schlechthin abhängig bewußt sein).⁷⁰ At this point, this impulse of development for monotheism leads to a certain transformative effect on the sensible self-consciousness. As an individual fellowship in history comes to be self-consciously aware of the absolute dependence and its universal implication, it finally finds out a higher sense of reality and its power, in light of which one “takes up the whole world […] into the unity of our self-consciousness”.⁷¹

3.3 The Second Layer of Typology: Coordination After setting up a comparative framework on idolatry, polytheism, and monotheism, which is grounded preponderantly on developmental stages, the superordinate and the subordinate, than on different species, Schleiermacher also engages with an intra-mural comparison of monotheistic religions, Judaism, Islam, and Christianity which are coordinate (beigeordnet) to each other. When it comes to the comparative framework of classifying monotheistic religions, Schleiermacher also employs three analytical terms, the higher self-consciousness, the sensible self-consciousness, and the kind-consciousness. At first, when framing a comparison of monotheistic religions in terms of the interplay between the higher self-consciousness and the sensible one, Schleiermacher focuses more on the interplay of self-effectivity and receptivity or freedom and dependence in relation to the higher self-consciousness. At this point, the strength of the higher self-consciousness and its extensiveness are not important criteria for comparing those monotheistic religions. Monotheistic religions can be classified either into the preponderance of self-effectivity over receptivity in relation to the feeling of absolute dependence, the so-called teleological piety (teleologische Frömmigkeit) or into the preponderance of receptivity over effectivity, the aesthetic piety (aesthetische Frömmigkeit).⁷² Preponderance of self-effectivity over receptivity is a more or less a state in which one’s higher self-consciousness manifests itself by subordinating one’s receptivity to one’s self-effectivity and action. Preponderance of receptivity over self-effectivity is also a state in which one’s higher self-consciousness reveals itself by subordinating one’s self-effectivity to one’s receptivity. These two different kinds of monotheistic religion overcome unavoidable experiences of contradiction or antithesis coming from the sensible self-conscious wavering between freedom and dependence in different ways. On the one hand, the teleological piety overcomes antithetic experiences in the sensible by “evoking the totality of one’s activity” and making “the antithesis” “retire into background”, which leads to “a predominating reference to the moral task” oriented to “the advancement of the Kingdom of God”.⁷³ On the other hand, the aesthetic piety over   

Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher

1999, 35 (n. 20); Schleiermacher 2003, 67 (n. 20). 1999, 35 (n. 20); Schleiermacher 2003, 67 (n. 20). 1999, 41– 42 (n. 20); Schleiermacher 2003, 76 – 78 (n. 20). 1999, 41– 42 (n. 20); Schleiermacher 2003, 76 – 78 (n. 20).

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comes antithetic experiences by having a state of activity “to be referred to the passive side of the subject” and making antithetic experiences to be an issue of harmony and discord, which leads to “the aesthetic outlook” and “a peculiar form of inward beauty”.⁷⁴ Employing these two types to his comparative examination of Judaism, Christianity, and Islam, Schleiermacher puts that Christianity and Judaism represent the teleological type perfectly or imperfectly for their emphasis on the commanding will, while Islam represents the aesthetic type for its fatalism.⁷⁵ Then, does not Schleiermacher introduce a developmental framework in his comparison of monotheistic religions, while focusing on morphological analysis? Even though he only asserts Christianity to be “standing upon the highest level” among monotheistic religions, he did not ground the superiority of Christianity on his morphological analysis of the interplay between the higher consciousness and the sensible one. Only by addressing how an individual attains a religious fellowship through its historicized kind-consciousness, the third analytical term for morphological comparison of monotheistic religions, Schleiermacher addresses the superiority of Christianity over other monotheistic competitors, Islam and Judaism, in a typological way. How does the question of the kind-consciousness matter in the intra-mural comparison of teleological monotheism and aesthetic monotheism? For Schleiermacher, “an individual formation of communal piety” is determined externally by “what is historically effective that emerges from a specific beginning (ein von einem bestimmten Anfang ausgehendes geschichtlichstätiges)” and internally by “peculiar variation of the general character common to all developed faith of the same kind and level (eigentümliche Abänderung alles dessen was in jeder ausgebildeten Glaubensweise)”.⁷⁶ A character of communal piety depends on some historically formative effects of a kind-consciousness traceable to the originator of that religion and peculiar variations of shared faith taking place in specific individuals.⁷⁷ “The peculiar essence of everyone” as an individual person is not only the outcome of a certain historical community and its originary kind-consciousness but also of each individual’s unique, particular formation.⁷⁸ This is the point where Schleiermacher brings a developmental framework to his morphology of the kind-consciousness when comparing monotheistic religions. For Schleiermacher, there is a strong correlation between the development of the kind and the complexity and definiteness of its various species. Referring to the tendency of proportionality in the natural realm between the degree of definiteness in the life of individual species and the degree of development in the kind, Schleiermacher thinks that such a correlation also takes place in the realm of humanity, thus natu    

Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher

1999, 43 (n. 20); Schleiermacher 2003, 79 (n. 20). 1999, 44 (n. 20); Schleiermacher 2003, 79 – 80 (n. 20). 1999, 44 (n. 20); Schleiermacher 2003, 80 (n. 20). 1999, 44 (n. 20); Schleiermacher 2003, 80 (n. 20). 1999, 44 (n. 20); Schleiermacher 2003, 80 (n. 20).

Schleiermacher’s Method of Comparison

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rally encompassing religious life and its way of fellowship. “In the realm of religion is also reserved the uniform consummation of the outward and the inward unity (eine gleichmäßige Vollendung der äußern und innern Einheit) for higher development (der höheren Entwicklung).”⁷⁹ At the highest degree of development, the unity of a certain historically specific community maintaining its own distinct identity traceable to its originator is deeply interrelated with each individual’s own formation of identity as a unique instance of variation of one’s shared faith handed down in that community. The highest degree of attaining religious fellowship and its kindconsciousness is correlated with the highest degree of actualizing each individual’s uniqueness. “In the most consummate form, which we describe as Christianity, the inner uniqueness must be united with something through that the outer unity is grounded historically.”⁸⁰ The highest development of fellowship hinges on how each individual’s unique variation of the shared faith comes to structure the religious kind-conscious fellowship within its history of tradition.⁸¹ Schleiermacher sets forth a coordinate typology of monotheism, a teleological type and an aesthetic type, which finally leads to a developmental frame. He suggests the superiority of the teleological over the aesthetic hinges on the morphological factors of the kind-consciousness, which consist of the historical, communal identity of the kind-consciousness traceable to its originator and each individual’s variation of own unique identity. In summary, the two strata of typological comparison, which consist of 1) idolatry/polytheism/monotheism, and 2) teleological monotheism and aesthetic monotheism, involve three interrelated morphologically analytic terms that consist of 1) the higher self-consciousness, 2) the sensible self-consciousness and 3) the kind-consciousness. When trying to bring some developmental frameworks to these two strata of the kind (fetishism/polytheism/monotheism, and teleological/aesthetic monotheism), Schleiermacher has different emphases on different aspects of these three morphologically analytical terms. In the first strata of subordinate-superordinate typological comparison on idolatry/polytheism/monotheism, Schleiermacher suggests the more advanced status of monotheism in the developmental plane by revisiting the issue of strength of the higher self-consciousness and the extensiveness of the sensible one. In the second strata of coordinate typological comparison on different monotheisms, Schleiermacher underscores the higher developmental status of Christianity over other monotheisms by addressing the correlation of individual uniqueness and the historical fellowship grounded on its kind-consciousness.

 Schleiermacher 1999, 45 (n. 20); Schleiermacher 2003, 81 (n. 20).  Schleiermacher 1999, 45 (n. 20); Schleiermacher 2003, 81– 82 (n. 20).  Hermann points out that the construction of the fellowship in Christianity is not about creating and constructing individuals but about individuals’ creating and supporting the fellowship. (See Rudolf Hermann, Die Bedeutung der Kirche bei Schleiermacher: Rede zum Gedanken an Schleiermachers 100 Todestag, Greifswald 1934, 9 – 10).

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4 The Apologetical Analysis as a Claim of Uniqueness in the Morphological-TypologicalEvolutionary Plane Schleiermacher’s apologetic appropriation of comparison reshapes the abovementioned morphological-typological framework and the evolutionary plane in light of one’s soteriological conviction. The lynchpin of apologetics lies in “presenting Christianity according to its own unique essence (seinem eigentümlichen Wesen nach)”.⁸² The above-mentioned ethical, historical-philosophical analysis reveals comparatively the invariable essence of religion and its historical variations in all different historical religions as different species under one kind. In contrast, the apologetic analysis rather focuses on the unique essence of Christianity as a unique species in relation to other species. For Schleiermacher, demonstrating the unique essence of Christianity lies in tracing “the element which remains constant through diverse pious emotions within this same communion (was in den verschiedensten frommen Gemüthszuständen innerhalb derselben Gemeinschaft dasselbige ist) while absent from analogous emotions within other communions (während es in den analogen Zuständen innerhalb anderer Gemeinschaften fehlt)”.⁸³ The task of apologetics, which identifies some shared essence of Christianity incommensurable to other religions, appropriates the aforementioned frame of morphological analysis of the kind/ species and the typological frame of developmental ranks. While morphology explains constant factors structurally determining the unique essence of Christianity absent in other historical religions, typology set forth in the developmental frame explains the superiority of this uniqueness of Christianity by situating it in relation to other essences of various religions. However, for Schleiermacher, a morphological analysis entailing a developmental framework does not reveal the uniqueness of Christianity per se. As he notes, “Christianity […] is distinguished from other such faiths by the fact that in it everything is related to the redemption accomplished by Jesus of Nazareth (die durch Jesum von Nazareth vollbrachte Erlösung)”.⁸⁴ The personal conviction of the redemption accomplished and shared in the fellowship of Christ sets up and appropriates the framework of morphological, typological comparison, while this frame serves to justify this conviction in turn. The apologetic project demonstrates the unique essence of Christianity, which is grounded on two theological convictions. The first conviction is that redemption is “a passage from an evil condition, a state of captivity, into a better condition (Übergang aus einem schlechten Zustande […] in einen bes-

 Schleiermacher 1999, 52 (n. 20); Schleiermacher 2003, 93 (n. 20).  Schleiermacher 1999, 52 (n. 20); Schleiermacher 2003, 94 (n. 20).  Schleiermacher 1999, 52 (n. 20); Schleiermacher 2003, 93 (n. 20).

Schleiermacher’s Method of Comparison

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sern)”.⁸⁵ The second conviction is that this redemption takes place passively by “the help given by another person in that process (die dazu von einem Andern geleistete Hülfe)”.⁸⁶ The question of redemption as the foundation of an apologetic process hinges on the active effect of Christ’s work as the originator of the fellowship and the passive receptivity incurring the transition from an evil state to a good one. In light of this idea of redemption emerging from Christ, Schleiermacher reconfigures the abovementioned three analytic terms of comparison, the higher self-consciousness, the sensible consciousness, and the fellowship through the kind-consciousness, into some doctrinal, theological terms revealing the essence of Christianity. First of all, the apologetic analysis turns its attention to how the fellowship with Christ raises individuals from the state of “arrest of the vitality of the higher consciousness” to the state of “rekindling the God-consciousness”.⁸⁷ Second, this apologetic analysis focuses on how the fellowship with Christ influences individual’s interplay between “the activity of the sensible self-consciousness (eine Activität des sinnlichen Selbstbewußtseins)” and “the activity of the higher self-consciousness (eine Activität des höheren Selbstbewußtseins)” that opens up the unquenchable, abiding “orientation to God-consciousness (Richtung aufs Gottesbewußtsein).”⁸⁸ The first two analytical terms of apologetics, the higher self-consciousness and the sensible self-consciousness, refer to a transfer from the undesirable state of existence to the desirable one. The third term, which is the fellowship grounded on the kindconsciousness, points to the effect of Christ on those who receive redemption through the fellowship. In that respect, the apologetic analysis also underscores the importance of the kind-consciousness in every individual member’s sharing of redemption through the fellowship with Christ. Every individual receives redemption by taking up the Christ’s originary redemptive consciousness in a fellowship with other individuals. The relation to redemption is in every Christian pious consciousness (in jedem christlichen frommen Bewußtsein) simply because the originator of the Christian fellowship is the Redeemer. Jesus is the Founder of a religious fellowship (Stifter einer frommen Gemeinschaft) simply in the sense that its members (die Glieder derselben) become conscious of redemption through him (sich der Erlösung durch ihn bewußt sind).⁸⁹

    

Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher

1999, 1999, 1999, 1999, 1999,

54 (n. 20); Schleiermacher 2003, 96 (n. 20). 54 (n. 20); Schleiermacher 2003, 96 (n. 20). 54 (n. 20); Schleiermacher 2003, 96 (n. 20). 55 (n. 20); Schleiermacher 2003, 97 (n. 20). 56 (n. 20); Schleiermacher 2003, 98 (n. 20).

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Conclusion In this paper, I tried to reconstruct how Schleiermacher pursues his academic theological project of arguing the uniqueness of Christian piety in comparison with other forms by incorporating morphology, typology, and evolutionary perspective into his apologetic move. After forging morphological terms that determine the shape of religious experience as an outcome of combining the abiding essence of religion and historical variables, Schleiermacher builds up a multi-layered typology that classifies different religions according to superior-subordinate development and different species. Morphological factors, which consist of the higher self-consciousness, the sensible self-consciousness, and the kind-consciousness, are employed in constructing a typology that classifies different manifestations of religion. The first layer of typology classifies different religions into fetishism, polytheism, and monotheism according to the morphological analysis of psychological dynamism in an evolutionary frame. The second layer of typology classifies different monotheisms into the aesthetic and the teleological and opens up the superiority of Christianity by addressing the morphological analysis of the relation of an individual and the kind-consciousness. Finally, the apologetic project not only takes up the typological insight of the superiority of Christianity but also appropriates the morphological factors into the claim of the uniqueness of Christianity as the historically unique kind-consciousness only traceable to the person of Christ. It is my contention that rethinking Schleiermacher’s employment of morphology, typology, and evolutionary perspective for his comparative method as an academic theological project would shed a new light on the recent scholarly interest in Schleiermacher as a reference point for the recent reemergence of comparative theology. In this respect, Reynolds’ reading of Schleiermacher for a method of comparative theology, which he terms “the double vision” of comparison, needs to be qualified and revised in light of the ignored aspect of Schleiermacher’s religiousphilosophical morphology, typology, and its complicate relation to apologetics. In general, we can agree with Reynolds’ point of double vision as a dialectical vision encompassing the openness to locate Christianity in relation to other historical religions and his confessional commitment.⁹⁰ However, there can be a point of disagreement concerning how this double vision is conceived by Schleiermacher himself. Reynold’s argues that “a historical, language-bound relation to Christ”, “the particular Christian experience of redemption” is “the starting point for any and all inquiries into other religions.”⁹¹ This statement does not capture Schleiermacher’s ambiguous position toward the irresolvable limitation of historical morphology and its promise for theological appropriation. To reframe Schleiermacher’s position in terms of Reynold’s term, Schleiermacher does not go far to say that the apologetic  Reynolds 2005, 171– 172 (n. 5).  Reynolds 2005, 168 (n. 5).

Schleiermacher’s Method of Comparison

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is the beginning point of the ethical, religious-philosophical morphological analysis. In fact, Schleiermacher’s position is much more cautious than what Reynolds depicts. Even though Schleiermacher admits that the apologetic concern takes its own liberty to focus on what is relevant to its take of defining the essence of Christianity in its tradition, he nevertheless argues that the apologetic task is to take a description given from the historical, philosophy of religion as foundational. To begin with, apologetics would have to connect itself to the outcomes of the philosophy of religion, in order to take as a basis the description of peculiar essence of Christianity and its relation to other churches (um daraus die Beschreibung von dem eigentümlichen Wesen des Christentums und von seinem Verhältniß zu anderen Kirchen zum Grunde zu legen).⁹²

Evidences from a certain ethical and religious-philosophical analysis should be taken as constituting a valid basis for further normative works of apologetics, thus waiting for being utilized as “borrowed propositions (Lehnsätze)”.⁹³ An academically solid analysis of the structural dynamics of communal, pious ethos and its diverse historical models is considered as providing a foundation for an apologetics as an academic, dogmatic theology.

 Schleiermacher 1999, 4 (n. 20); Schleiermacher 2003, 17 (n. 20).  Schleiermacher 1999, 4 (n. 20); Schleiermacher 2003, 17 (n. 20).

Constantin Plaul / Halle (Saale)

Personalismus und Pantheismus in Diltheys Religionshermeneutik 1 Einleitung Die religionsphilosophische Debattenlage in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war bekanntlich durch den Aufschwung des Spinozismus geprägt. Im Unterschied zu früheren Auseinandersetzungen mit dessen All-Einheitslehre, war die Beschäftigung nun weniger durch Kritik und Distanz als vielmehr durch ein weithin positives Interesse gekennzeichnet. Das äußere Initial dieses kulturgeschichtlichen Vorgangs stellte die Veröffentlichung eines von Lessing in privater Unterredung getroffenen Bekenntnisses zum spinozistischen Hen-kai-Pan-Gedanken durch Jacobi dar. Anders als von diesem erhofft führte die daran anschließende Diskussion aber keineswegs zu einer Beerdigung des Spinozismus, sondern ließ ihn für weite Kreise als eine attraktive Option erscheinen. Schleiermachers Reden – in denen eine geradezu pantheistische All-Einheits-Lehre vertreten wird –¹ legen davon ein wirkmächtiges Zeugnis ab. Wilhelm Dilthey kann als einer der ersten gelten, der diesen geistesgeschichtlichen Vorgang historisch-systematisch aufzuarbeiten begann. Dazu war er nicht zuletzt durch seine Arbeit an der Biographie Schleiermachers angestoßen wurden, für die er sich zunächst ganz auf die erste Hälfte von dessen Leben konzentrierte. Das Pantheismus-Thema ließ ihn dann nicht mehr los. Bis an sein Lebensende hat er sich intensiv mit ihm auseinandergesetzt. Dieses thematische Engagement für die pantheistische Bewegung wurde und wird in der Forschung vielfach als Indiz dafür gelesen, dass Diltheys eigener Standpunkt letztlich auf eine solche Option hinauslaufe.² Und in der Tat gibt es sowohl in kategorialer als auch in historischer Hinsicht eine ganze Reihe von Äußerungen, die eine solche Positionierung nahezulegen scheinen. Darüber hinaus ist nicht zu bestreiten, dass er der pantheistisch-panentheistischen Auffassung große Sympathien entgegengebracht und sie stets als berechtigte Möglichkeit religiöser Wirklichkeitsauffas-

 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, KGA I/2, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 185 – 326, hier 51.53 (Originalpaginierung). Vgl. dazu auch: Conrad Kramer, „‚Anschauung des Universums‘. Schleiermacher und Spinoza“, in: 200 Jahre ‚Reden über die Religion‘. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft, Halle, 14.–17. Marz 1999, hg.v. Claus-Dieter Osthövener / Conrad Kramer, Berlin / New York 2000, 118 – 141.  Vgl. Eduard Spranger, Weltfrömmigkeit, Leipzig 1941, 14– 15; Otto F. Bollnow, Dilthey. Eine Einführung, Schaffhausen 41980, 16 – 17; Ulrich Herrmann, „Art. Dilthey,Wilhelm“, in: TRE 8, Berlin/New York 1981, 752– 763, hier 753. https://doi.org/10.1515/9783110569520-009

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Constantin Plaul / Halle (Saale)

sung herauszustellen gesucht hat. Gleichwohl stellt eine einfache Identifizierung seiner Position als „Pantheismus“ eine unangemessene Verkürzung dar. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, geht Dilthey nämlich mitnichten davon aus, dass All-Einheit die einzig angemessene Weise wäre, das Religiöse zu konzeptualisieren. Er rechnet vielmehr mit einer grundlegenden Spannung, innerhalb derer die pantheistische Gestalt nur die eine der beiden Seiten darstellt. Daneben stellt er zugleich eine entgegengesetzte Religionsform in Rechnung, die sich als mindestens ebenso wesentlich erweist. Dieser Überzeugung korrespondiert die Aufstellung einer entsprechenden Typologie, mit deren Hilfe sich Dilthey zufolge die europäische Religionsgeschichte im Ganzen perspektivieren lasse. Da sein religionstypologisches Unternehmen methodisch wie inhaltlich eng mit seinem Projekt einer Weltanschauungstypologie zusammenhängt, steige ich mit einigen Beobachtungen zu letzterer ein, um von ihr aus auf die Religionsproblematik zurück zu lenken.

2 Diltheys Weltanschauungstypologie In der Spätphase seines Werkes hat Dilthey die Ergebnisse seiner philosophiegeschichtlichen Studien mithilfe eines typologischen Ordnungssystems zu strukturieren gesucht. Dies erfolgt nicht nur aus einem historischen Sortierungsinteresse heraus, sondern zugleich als Antwortversuch auf ein Problem, das Dilthey durch seine Diagnose der zeitgenössischen Situation der Philosophie aufgegeben ist. Worin besteht dieses Problem? Dem Kultursystem „Philosophie“ weist Dilthey allgemein die Aufgabe zu, dem individuellen und sozialen Leben durch Besinnungsarbeit zu einem höheren Grad an Bewusstheit zu verhelfen. Dadurch soll die vormethodische Lebenserfahrung in eine begründete Form von Wissen überführt werden, die dann auch eine mit Geltungsansprüchen versehene Orientierungsfunktion für die Lebensführungspraxis besitzt.³ Angesichts dessen ergebe sich in der Moderne aber eine doppelte Schwierigkeit. Zum einen zeige sich nämlich, dass kein Standpunkt eingenommen werden kann, dem nicht ein anderer entgegensteht, was das Bewusstsein einer „Anarchie dieser Systeme“⁴ zur Folge habe. Zum anderen wisse die moderne Philosophie nicht nur die Entwürfe der vergangenen Denker, sondern auch das eigene Tun unhintergehbar unter den Vorbehalt der Geschichtlichkeit gestellt. Der damit gegebene „Widerspruch zwischen schaffenden Geistern und dem geschichtlichen Bewußtsein“ sowie die da-

 Vgl. Wilhelm Dilthey [1907], Das Wesen der Philosophie, Gesammelte Schriften, Bd. V, hg.v. Georg Misch, Göttingen 81990, 339 – 412, hier 374– 375. Zu Diltheys Philosophieauffassung vgl. Günter Scholtz, „Diltheys Philosophiebegriff“, in: Dilthey und die hermeneutische Wende in der Philosophie. Wirkungsgeschichtliche Aspekte seines Werkes, hg.v. Gudrun Kühne-Bertram/Frithjof Rodi, Göttingen 2008, 17– 37.  Wilhelm Dilthey [1911], Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen, Gesammelte Werke, Bd. VIII, Göttingen 61991, hg.v. Bernhard Groethuysen, 75 – 118, hier 78.

Personalismus und Pantheismus in Diltheys Religionshermeneutik

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mit verbundene Einsicht in die prinzipielle „Relativität und Vergänglichkeit“ stellt Dilthey zufolge „das eigenste still getragene Leiden der gegenwärtigen Philosophie“ dar.⁵ Wie sieht Diltheys Lösungsvorschlag aus? Auf methodischer Ebene plädiert er für die Verschränkung zweier Verfahren, die er in einem späten Text auf die Formel einer „psychologische[n] und geschichtssystematische[n] Auslegung des Historischen“⁶ gebracht hat. Letztgenanntes Moment steht für die Anwendung „historische[r] Vergleichung“⁷, die es ermöglichen soll, unterschiedliche Positionen zu relativ einheitlichen Gruppen zusammenzustellen.⁸ Dieses geschichtssystematische Vorgehen wird von Dilthey mit einem psychologischen überkreuzt, das die unterschiedlichen quasi idealtypischen Gebilde auf die psychische Struktur des humanen Bewusstseinslebens abbildet und ihnen insofern eine Art psychologische Ableitung zuteilwerden lässt. Dabei geht Dilthey davon aus, dass die psychische Struktur mit ihrer Dreigliedrigkeit – von Kognition, Emotion und Volition – im realen Leben eine Akzentuierung nach einer der drei Seiten aufweist. Dieser Umstand teile sich dann dem jeweils individuellen Aufbau einer philosophischen Weltanschauung mit. Dahinter steht Diltheys Annahme, dass integrale philosophische Wirklichkeitsauffassungen niemals aus dem bloßen Denken resultieren, sondern aus der gesamten Lebenseinheit einer Person entspringen. Was das für jene Ableitung unterschiedlicher Weltanschauungstypen bedeutet, hat Dilthey besonders klar in der Wesensschrift ausgesprochen:⁹ Demnach kann die Konstitution einer systematischen Ansicht der Wirklichkeit vornehmlich bestimmt sein entweder durch kognitive Wirklichkeitsverarbeitung und die damit verbundene Auffindung einer entsprechenden kausal-nomologischen Ordnung oder sie kann bestimmt sein durch das Trieb- und Gefühlsleben und die damit verbundene Auffassung der Wirklichkeit als eines wert- und bedeutungshaften Zusammenhangs

 Dilthey 1990, Wesen, 364 (Anm. 3). Mit Sorge betrachtet er dabei zeitgenössische Tendenzen, sich der „schweren Last von Vergangenheit“ entledigen zu wollen und „einmal gründlich aufzuräumen mit derselben und das Gepäck zu erleichtern“ (Wilhelm Dilthey [1898], Die drei Grundformen der Systeme in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Gesammelte Schriften, Bd. IV, hg.v. Herman Nohl, Göttingen 6 1990, 528 – 554, hier 528). Ein solches Vorgehen entrate nämlich nicht nur aller Orientierungsgewinne, die die philosophiehistorische Arbeit ermögliche, sondern bedeute zudem einen „Rückzug von der Erkenntnis auf geniale, fragmentarisch sich äußernde Subjektivität“ (529). Als abschreckendes Beispiel einer solchen historisch unreflektierten Position nennt Dilthey Nietzsche. Aufgrund des Desiderats einer geschichtlichen Selbstbesinnung seines eigenen Standpunktes bemerke dieser nicht, dass sein als übergeschichtliche Struktur behaupteter Typus des Machtmenschen lediglich Ausdruck der seit der Renaissance stattfindenden sozialen Transformationsprozesse darstelle. Zum Verhältnis Dilthey-Nietzsche vgl. Wolfgang Stegmüller, Philosophie der Fluktuanz. Dilthey und Nietzsche, Göttingen 1992.  Dilthey 1991, Weltanschauung, 86 (Anm. 4).  Dilthey 1990, Grundformen, 544 (Anm. 5).  Die Vergleichung erfolgt nach einem doppelten Kriterium: Die entsprechenden „Merkmale, … sind, von innen angesehen, ein Bewußtsein von Solidarität zwischen den ihr angehörigen Denkern, objektiv betrachtet, die ihnen gemeinsame Struktur“ (Dilthey 1990, Grundformen, 544 [Anm. 5]).  Vgl. Dilthey 1990, Wesen, 403 (Anm. 3).

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oder aber die Weltanschauungskonstitution kann bestimmt sein durch das Willensverhalten und dem mit ihm verbundenen Bewussstsein der Freiheit und Unabhängigkeit des Geistes von der Natur. Auf dieser methodischen Basis ergibt sich für Dilthey die Möglichkeit, die vielfachen Phänomene der Philosophiegeschichte zu drei inhaltlich bestimmten Typen zusammenzufassen. Die philosophische Weltanschauung unter dem Vorherrschen der kognitiv-erkennenden Einstellung bezeichnet er als „Naturalismus“; diejenige aus der Perspektive des emotiven Lebens als „objektiven Idealismus“; den dritten Typ bezeichnet er als „Idealismus der Freiheit“. Näherhin steht der Naturalismus für eine solche Konzeption, in der alle geistigen Erscheinungen als bloßer Ausdruck physikalisch-chemischer Prozesse angesehen werden – wobei die kritischen Naturwissenschaften diese Auffassungsweise lediglich im Sinne eines methodischen Reduktionismus vertreten.¹⁰ Der objektive Idealismus bezeichnet all diejenigen Modelle, nach denen die Wirklichkeit insgesamt als durch einen einzigen geistig-vernünftigen Zusammenhang strukturiert gedacht wird. Der Idealismus der Freiheit schließlich rechnet mit einer prinzipiellen Überlegenheit des Geistigen über die Natur.¹¹ Die damit gegebene Sortierungsmöglichkeit des philosophiegeschichtlichen Feldes stellt Diltheys metaphilosophische Antwort auf die Orientierungskrise der Philosophie dar. Denn auf diesem Weg lasse sich zeigen, dass die Philosophiegeschichte nur „scheinbar“¹² in eine unbestimmte Vielheit zerfließt. Tatsächlich sei, so Dilthey, eine Art Gesetzmäßigkeit festzustellen, nach der sich die Erscheinungen strukturell gliedern und innerhalb der jeweiligen Teilzusammenhänge dann auch in Form fortschreitender Entwicklungsverläufe begreifen lassen.¹³ In methodischer Hinsicht drängt sich freilich der Eindruck auf, dass die „historische Vergleichung“ durch die psychologische Grundlegung dominiert wird und sich ihre Ergebnisse letzterer un-

 Zu einer Weltanschauung im eigentlichen Sinne des Wortes wird diese Einstellung erst, wenn der methodische in einen inhaltlichen Reduktionismus überführt wird.  Dilthey verweist diesbezüglich etwa auf Anaxagoras, Sokrates, Platon, Aristoteles, Cicero, die christlichen Apologeten, die schottische Schule, Kant, Jacobi, Maine de Biran, Bergson, vgl. Dilthey 1991, Weltanschauung, 107 (Anm. 4).  Dilthey 1990, Grundformen, 530 (Anm. 5).  Daraus ergibt sich dann eine doppelte Antwort im Blick auf die Anarchie und Geschichtlichkeit der philosophischen Systeme: Zum einen „wird dieselbe Ausbildung des geschichtlichen Bewußtseins, welche ein so zerstörendes Werk an den großen Systemen getan hat, uns hilfreich sein müssen, den harten Widerspruch zwischen dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit in jedem philosophischen System und der historischen Anarchie dieser Systeme aufzuheben“ (Dilthey 1991, Weltanschauung, 78 [Anm. 4]). Zum anderen kommt es zu einer „Auflösung dieses Widerspruchs“, da sich der Philosoph in seinem Schaffen wissen kann „als ein Glied in dem historischen Zusammenhang, in welchem er mit Bewußtsein ein Bedingtes erwirkt“ (Dilthey 1990, Wesen, 364 [Anm. 3]). Denn er kann darauf vertrauen, in seiner geschichtlich bedingten Arbeit an der übergreifenden Entwicklung des in sich gegliederten Strukturzusammenhangs „Philosophie“ mitzuwirken. Diese Auflösung des Widerspruchs ist freilich nur zum Preis der Aufgabe des Anspruches auf strenge Allgemeingültigkeit möglich. In Diltheys Augen braucht dieser Anspruch aber gar nicht aufrechterhalten zu werden, um eine hinreichende Orientierung über die grundsätzlichen Fragen und Probleme des Lebens erbringen zu können.

Personalismus und Pantheismus in Diltheys Religionshermeneutik

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terordnen. Es gilt aber zugleich darauf hinzuweisen, dass Dilthey nicht beansprucht, auf diesem Wege letzte Eindeutigkeit erzielen zu können. Er verweist stattdessen ausdrücklich auf den subjektiv-konstruktiven Charakter seines Vorgehens sowie der entsprechenden Resultate und hebt deren vornehmlich heuristischen Wert ausdrücklich hervor.¹⁴ Zudem sollen damit keine starren Abgrenzungslinien gezogen werden, sondern „diese großen philosophischen Richtungen [sind] durch Zwischenglieder miteinander verbunden“.¹⁵ Den damit verbundenen schwierigen Problemen soll hier nicht weiter nachgegangen werden,¹⁶ sondern stattdessen danach gefragt werden, was das eben Gesagte für Diltheys basale Typologisierung der Religionsgeschichte bedeutet.

3 Die religionstheoretische Typologisierung Diesbezüglich ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die beiden idealistischen Typen ihre genetische Grundlage für Dilthey in bestimmten Weltbildern haben, wie sie im Zusammenhang der Entstehung von Hochreligionen ausgebildet wurden.¹⁷ Der naturalistische Typ hingegen entstamme der „weltlichen Lebensauffassung“, die „vom ersten Ansatz ab […] im Streit“¹⁸ mit der Religion gelegen habe. Für die Frage nach einer typologischen Sortierung der Phänomene auf dem Feld der Religion bedeutet das, dass Dilthey auch im Blick auf sie mit einer zweifachen Typologie rechnen müsste. Und dies ist in der Tat der Fall: So kommt er etwa auch in der Wesensschrift auf zwei grundlegende „Typen der religiösen Weltanschauung“¹⁹ zu sprechen, auf deren

 So heißt es in der Studie Die Typen der Weltanschauungen und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen (1911) in Bezug auf das Ergebnis des typenbildenden Verfahrens: „Die Forschung muß hierbei gegenüber ihren Ergebnissen jede Möglichkeit einer Fortbildung sich fortdauernd offen halten. Jede Aufstellung ist nur vorläufig. Sie ist und bleibt nur ein Hilfsmittel, historisch tiefer zu sehen […]. Auch diese psychologische und geschichtssystematische Auslegung des Historischen ist den Fehlern des konstruktiven Denkens ausgesetzt“ (Dilthey 1991, Weltanschauung, 86 [Anm. 4]). So „hat das, was ich hier vorlege, einen ganz provisorischen Charakter … Schon die Fassung derselben in eine geschichtliche Formel kann nur subjektiven Charakter haben.“ (99 – 100).  Dilthey 1990, Grundformen, 548 Anm. 4. Ein Beispiel dafür wäre Aristoteles, den Dilthey einmal, wie gesehen, dem „Idealismus der Freiheit“ zuordnet, ihn in Die drei Grundformen der Systeme aber auch dem objektiven Idealismus zuschlagen kann (vgl. 543).  Vgl dazu Odo Marquardt: „Weltanschauungstypologie. Bemerkungen zu einer anthropologischen Denkform des neunzehnten Jahrhunderts“, in: ders., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a.M. 1982, 107– 121; Matthias Jung, Dilthey zur Einführung, Hamburg 1996, 180 – 193.  Dilthey markiert in der Wesensschrift eine von zwei genetischen Grunddifferenzen religiöser Entwicklung zwischen einer archaischen und einer höheren Stufe, auf der es zur Entstehung von Hochreligionen gekommen ist. Erst auf dieser Stufe ist ihm zufolge – im Übergang von Monolatrie zu Monotheismus – die Ausbildung einer religiösen Weltanschauung erfolgt, vgl. Dilthey 1990, Wesen, 384 (Anm. 3).  Dilthey 1991, Weltanschauung, 90 (Anm. 4).  Dilthey 1990, Wesen, 391 (Anm. 3).

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einen Seite er etwa die „Zarathustrareligiosität“ sowie „die jüdische und christliche Religiosität“ verbucht, und deren anderer Seite er Phänomene wie die emanatistischen Lehren „bei den Babyloniern und den Griechen“ oder auch die „chinesische Lehre von dem geistigen Zusammenhang in der natürlichen Ordnung und die indische von dem Schein und Leiden der sinnlichen Mannigfaltigkeit und der Wahrheit und Seligkeit der Einheit“²⁰ zurechnet. Der Grundunterscheidung zweier idealistischer Philosophietypen korrespondiert also die basale Differenz zweier religiöser Grundoptionen. Im einige Jahre zuvor geschriebenen Aufsatz Der entwicklungsgeschichtliche Pantheismus hatte er diesbezüglich eine eigene Bezeichnung angeboten. So konstatiert Dilthey einen „unaufhebbaren Gegensatz in der Religiosität Europas“²¹, den er auf die begriffliche Differenz von „pantheistische[m] […] Element“ und „Standpunkt der Personalität“²² bringt. „In der religiösen Entwicklung der europäischen Menschheit waren stets gleichzeitig die beiden Ausgangspunkte alles Glaubens wirksam: Abhängigkeit und Verwandtschaft im Verhältnis zu dem Universum und seinem Grunde, und Verantwortlichkeit der Person.“²³ Wie bereits erwähnt, entwickelt Dilthey seine polare Typologie nicht nur anhand einer vergleichenden Betrachtung des geschichtlichen Stoffes, sondern sucht sie darüber hinaus auch auf die Strukturen des bewussten Lebens abzubilden. Um dies deutlich machen zu können, seien kurz einige Erläuterungen zu Diltheys Theorie des religiösen Bewusstseins angestellt. Dieses stellt ihm zufolge ein komplexes Gebilde dar, das sich aus unterschiedlichen mentalen Vollzügen aufbaut. Seinen Ursprung hat es in einem primordialen Erleben, das über eine Reihe unterschiedlicher Leistungen zu immer bewussterer Artikulation geführt wird. Nicht zuletzt aufgrund dieses Sachverhalts bezeichnet Dilthey konkrete Religion dann auch als eine Wirklichkeitsinterpretation. Diesen Deutungscharakter bringt Dilthey auf der Theorieebene nochmals dadurch zum Ausdruck, dass er den Aufbau des religiösen Bewusstseins kategorientheoretisch beschreibt. Dadurch unterstreicht er, dass religiöse Erfahrung keineswegs auf rein unmittelbare Weise zustande kommen, sondern immer schon durch ein konstruktives Moment gekennzeichnet sind. Die religiösen Kategorien sind dabei keine rationalen Begriffe, sondern vorreflexiv im Erleben gegebene Schemata, mithilfe derer ein Subjekt seine Lebenswirklichkeit zu entsprechender Auffassung bringt. Der für unsere Fragestellung entscheidende Punkt liegt nun darin, dass sich Dilthey zufolge im religiösen Leben schon auf vorreflexiver Ebene ganz unterschied-

 Dilthey 1990, Wesen, 391 (Anm. 3). Über diese grobe Zweiteilung hinaus kann er an selber Stelle dann auch noch kleinerschrittige und geistesgeschichtlich später erfolgende Bedingungsverhältnisse nennen.  Wilhelm Dilthey [1900], Der entwicklungsgeschichtliche Pantheismus nach seinem geschichtlichen Zusammenhang mit den älteren pantheistischen Systemen, Gesammelte Schriften, Bd. II, hg.v. Georg Misch, Göttingen 111991, 312– 359, 340.  Dilthey 1991, Pantheismus, 339 (Anm. 21).  Dilthey 1991, Pantheismus, 339 (Anm. 21).

Personalismus und Pantheismus in Diltheys Religionshermeneutik

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liche Auffassungsweisen aufweisen lassen, die dann die gesamte religiöse Grundhaltung bestimmen. Andeutungsweise kommt Dilthey hierauf schon in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften zu sprechen. Explizit herausgearbeitet hat er diese religionsphilosophische Sicht in der bereits herangezogenen Studie Der entwicklungsgeschichtliche Pantheismus. Im direkten Kontext der vorhin zitierten Stelle zum „unaufhebbaren Gegensatz in der Religiosität Europas“ wird dieser Gegensatz von Dilthey hier im Sinne jener kategorientheoretischen Beschreibung des religiösen Bewusstseins expliziert. So heißt es da: Gehen wir von dem Universum aus, so finden wir an der Abhängigkeit von seiner Gesetzmäßigkeit, in dem religiösen Bewußtsein, daß auch wir ein Ausdruck seines göttlichen Wesens sind, in Hingabe und Resignation die Kategorien unseres religiösen Verhältnisses zu demselben. Geht aber die Person von dem Bewußtsein ihres unendlichen Wertes, ihrer moralischen Würde aus: dann entstehen die Kategorien der Personalität, der Freiheit und einer moralischen Teleologie im Universum. Dann schwindet das Gefühl unserer unbedeutenden Existenz auf einem kleinen Planeten innerhalb eines Sonnensystems, welches selbst nur eine unter zahllosen Systemen ist […] Im Gefühl der moralischen Würde findet die Person sich erhaben über die physischen Massen der erscheinenden Welt.²⁴

Dilthey zufolge kann sich der Bezug auf das Göttliche für ein Subjekt also auf unterschiedliche Weise ergeben. Im einen Fall kommt es zum Aufbau einer Frömmigkeitshaltung, innerhalb derer sich der Einzelne als unselbständiger Ausdruck einer unendlichen Ordnung empfinde. Im anderen Fall hingegen liegt der Akzent auf dem sittlich-religiösen Bewusstsein, innerhalb dessen dem Mensch seine eigene Unbedingtheit der Naturordnung gegenüber präsent wird. „Pantheismus“ bzw. „Panentheismus“ steht für die erstgenannte Variante, „Personalismus“ bzw. „Religion der Freiheit“ für die zweitgenannte. Dilthey hat dieser Differenz auch nochmals vermögenspsychologisch zu konturieren gesucht, indem er ihren beiden Gliedern bestimmte Seiten des Bewusstseinslebens zugewiesen hat. So korrespondiere der pantheistischen Religionsgestalt ein Vorherrschen des Gefühlslebens,²⁵ während die personalistische Religionsform unter der Dominanz des Willenslebens stehe.²⁶ Dilthey

 Dilthey 1991, Pantheismus, 339 – 340 (Anm. 21).  Wenn „die Weltanschauung … von der Verhaltungsweise des Gefühlslebens bestimmt“ ist, dann entstehen „objektiver Idealismus, Panentheismus oder Pantheismus“ (Dilthey 1990, Wesen, 403 [Anm. 3]), vgl. auch Wilhelm Dilthey, [1883] Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Gesammelte Schriften, Bd. I, hg.v. Bernhard Groethuysen, Göttingen 102008, 364.  „Wenn aber das Willensverhalten die Weltauffassung bestimmt, dann entspringt das Schema der Unabhängigkeit des Geistes von der Natur oder seiner Transzendenz: in der Projektion auf das Universum bilden sich die Begriffe der göttlichen Personalität, der Schöpfung, der Souveränität der Persönlichkeit dem Weltlauf gegenüber“ (Dilthey 1990, Wesen, 403 [Anm. 3]), vgl. auch Dilthey 2008, 384– 385 (Anm. 25).

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amalgamiert hier sozusagen religionsphilosophische Einsichten aus Schleiermachers Reden mit geistphilosophischen Theoriemomenten Lotzes und Ritschls. Eine schwierige Frage besteht angesichts dessen darin, wie Dilthey sich das Verhältnis jener beiden Religionsformen denkt. Gibt es für sie nochmals einen übergeordneten Einheitspunkt oder ist die von Dilthey bereits in der Einleitung festgestellte „Antinomie des religiösen Bewußtseins“²⁷ das letzte Wort? Auf den ersten Blick scheint die einzig mögliche Antwort zu sein, dass Dilthey dieses Problem auf sich beruhen lässt, wenn er angesichts des „unaufhebbaren Gegensatzes in der Religiosität Europas“²⁸ festhält: „Nie werden wir diese beiden Betrachtungsweisen in der Einheit eines systematischen Gesichtspunktes zusammen zu denken imstande sein“²⁹. Vielleicht kann man diese Feststellung aber auch nochmals anders zu begreifen versuchen, und zwar im Sinne einer negativtheologischen Einsicht in die unhintergehbare Verborgenheit des absoluten Einheitsgrundes beider Seiten. Eine solche Sicht würde sich dann ergeben, wenn man die beiden von Dilthey herausgearbeiteten Religionsformen nicht in das Verhältnis eines absoluten, sondern eines vermittelten Gegensatzes stellt. Das würde bedeuten, dass jede Seite auf die jeweils andere verweist und diese somit – wenn auch in untergeordneter Weise – mitführt. So gesehen wäre ein gemeinsamer Bezugspunkt vorausgesetzt, ohne dass dieser sich eigens explizieren ließe. Als Voraussetzung bleibt er sozusagen abgeschattet in der realiter unübersteigbaren Differenz beider religiöser Sichtweisen. Das wäre dann der Grund dafür, warum wir „nie diese beiden Betrachtungsweisen in der Einheit eines systematischen Gesichtspunktes zusammen zu denken imstande sein“ werden. Aber diese Überlegungen haben angesichts von Diltheys eigenen Ausführungen zugegebenermaßen tentativen Charakter.

4 Schluss Abschließend seien drei kurzen Überlegungen angestellt. Erstens, ich hatte eingangs hervorgehoben, dass Diltheys religionsphilosophische Position in der Forschung häufig als pantheistisch identifiziert wird. Angesichts der von ihm nachdrücklich hervorgehobenen Polarität individueller Religiosität und kultureller Religion erweist sich diese Einschätzung in meinen Augen nicht als haltbar. So sehr es ihm auch darum zu tun ist, pantheistische bzw. panentheistische Wirklichkeitsauffassungen gegenüber vielfach geübter Kritik als prinzipiell berechtigte Optionen zu erweisen, so wenig ist es ihm darum zu tun, Religion ihrem Wesen nach hierauf zu reduzieren. Einem auf Freiheit und Überweltlichkeit abstellenden religiösen Standpunkt weist er daneben ebenso eine grundlegende Bedeutung zu.

 Dilthey 2008, 279 (Anm. 25).  Dilthey 1991, Pantheismus, 340 (Anm. 21).  Dilthey 1991, Pantheismus, 340 (Anm. 21).

Personalismus und Pantheismus in Diltheys Religionshermeneutik

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Diese religionstheoretische Differenz kann Dilthey, zweitens, dann auch als heuristisches Hilfsmittel für die Strukturierung und Perspektivierung des religionsgeschichtlichen Materials heranziehen, und zwar nicht nur in diachroner, sondern auch in synchroner Perspektive. Man kann fragen, ob eine solche Zweiteilung genügt oder ob man den Kategorienapparat nicht eventuell differenzierter aufbauen müsste, um der Vielfalt der Phänomene gerecht werden zu können. Dilthey selbst hat sich diese Option ausdrücklich offengehalten.³⁰ Immerhin kann darauf hingewiesen werden, dass ähnliche Perspektivierungen auch in jüngerer und jüngster Zeit zur grundlegenden Strukturierung des religiösen Lebens in Geschichte und Gegenwart vorgeschlagen worden sind.³¹ In der Annahme einer grundlegenden Differenz des religiösen Lebens scheint mir, drittens schließlich, eine zutiefst moderne Einsicht enthalten zu sein. Diltheys Religionsphilosophie ist von keinem Überbietungsanspruch getragen, sondern bleibt bewusst bei der Feststellung einer Mehrzahl prinzipiell gleichberechtigter Optionen stehen. Sein Religionsdenken lässt sich dergestalt geradezu als Plädoyer für einen religiösen Pluralismus lesen. Will die Theologie hiervon etwas lernen, so muss sie darum nicht gleich all ihre Geltungsansprüche beiseiteschieben. Sie kann sich aber dafür sensibilisieren lassen, in der Artikulation ihrer eigenen religiösen Position unhintergehbar auf andere Positionen verwiesen zu bleiben. Eine nicht-fundamentalistische Form von Religion und Theologie wird ihre eigene Identität nur in differenzhermeneutischer Perspektive entwerfen können.

 So heißt es innerhalb der bereits zitierten methodischen Reflexion: „Ob man dann anders logisch arrangiert […] stelle ich jedem frei. Diese Typenunterscheidung soll ja nur dienen, tiefer in die Geschichte zu sehen, und zwar vom Leben aus“ (Dilthey 1991, Weltanschauung, 100 [Anm. 4]).  Diesbezüglich kann etwa verwiesen werden auf Paul Tillichs Unterscheidung von „mystischer“ und „ethischer“ Religion (vgl. dazu: Christian Danz, Einführung in die Theologie der Religionen, Wien 2005, 134– 141), an Dieter Henrichs Differenzierung von „Monismus“ und „Theismus“ (vgl. Dieter Henrich, „Das Selbstbewustsein und seine Selbstdeutungen. Über Wurzeln der Religionen im bewusten Leben“, in: ders., Fluchtlinien. Philosophische Essays, Frankfurt a.M. 1982, 99 – 124, hier 118) sowie Jörg Dierkens Auseinanderhaltung von „Sinnabblendung durch mystische Teilhabe am Ganzen“ und „ethischer Lebensdeutung“ (vgl. Jörg Dierken, Fortschritte in der Geschichte der Religion? Aneignung einer Denkfigur der Aufklärung, Leipzig 2012, 146 – 220).

Christian Polke / Göttingen

Gedanken und Wege der All-Einheit

Schleiermachers „Gott“ zwischen Ost und West

I Der Alleinheitsgedanke zwischen existentieller Lebensdeutung und metaphysischer Spekulation „All-Einheit“ – mit dieser Wortkombination lässt sich auf programmatische Weise das religionsphilosophische Denken in der Sattelzeit der Moderne um 1800, in Gefolge der Wiederentdeckung von Spinozas Philosophie und in Weiterführung der kritizistischen Wende Kants, bündeln. „All-Einheit“ – das steht bei Denkern, wie Hegel, Schelling, Hölderlin und eben ganz besonders auch Schleiermacher, nicht nur für ein metaphysisches Theorem, sondern zugleich für eine existentielle Lebensdeutung, deren Emphase durch eine entsprechende Lebensführung kultiviert werden möchte. Dies gilt selbst dann, wenn alle genannten Denker durchaus sehr Divergierendes im Umgang mit der Figur des Hen Kai Pan (Ἓν καὶ Πᾶν) zu bestimmen vermochten.¹ Gleichwohl, was sie eint, hat der Philosoph Dieter Henrich, der sich wie kein anderer in unserer Zeit um eine Vergegenwärtigung der Ansätze der klassischen deutschen Philosophie bemüht hat, im Motiv der Lebensdeutung gesehen. Diese lässt sich im letzten und umfassenden Sinne als „Aufweisen“ und „Reflektieren“ des „Sinn-Zusammenhang[s] des menschlichen Lebens“² begreifen, zu dem eine Gestalt von Weisheit gehört, die als „Form eines Lebens, das diese Form ganz aus der Einsicht in die Wahrheit dieser Lebensdeutung gewonnen hat“³, und die selbst diejenigen unter uns, die noch weit von diesem Zustand entfernt zu sein scheinen, von Belang ist, insofern für „Menschen, die nicht weise sind, […] eine Lebensdeutung dennoch der letzte Horizont für ihr Verstehen und die letzte Orientierung für ihr Vorziehen sein“⁴ kann. „All-Einheit“ fungiert sodann, wie schon Henrich bemerkt hat, als philosophische Figur der Verständigung und Kommunikation über diese existentiellen wie metaphysischen Orientierungsfragen, die zum Symbol eines wechselseitigen Ideentransfers zwischen „Ost“ und „West“ wird.⁵ „All-Einheit“ – das mag schließlich, folgt man Jacobis Prämissen, für den fatalen Irrweg in den Pantheismus verantwortlich  Siehe dazu die instruktive Darstellung von: Konrad Cramer, „Schleiermacher, Jacobi, Goethe und Spinoza“, in: Affektenlehre und amor Dei intellectualis. Die Rezeption Spinozas im Deutschen Idealismus in der Frühromantik und in der Gegenwart, hg. von Violetta A. Waibel, Hamburg 2013, 33 – 45.  Dieter Henrich, „Lebensdeutungen der Zukunft“, in: ders., Fluchtlinien. Philosophische Essays, Frankfurt a.M. 1982, 11– 42, 13.  Henrich 1982, 13 (Anm. 2).  Henrich 1982, 13 (Anm. 2).  Vgl. Dieter Henrich (Hg.), All-Einheit. Wege eines Gedankens in Ost und West, Stuttgart 1985. https://doi.org/10.1515/9783110569520-010

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Christian Polke / Göttingen

sein, in dessen Folge man sich darüber hinwegtäuscht, dass damit doch nur für Atheismus, Fatalismus und Materialismus die Bahn freigemacht wird.⁶ Und dennoch müssen selbst hartnäckige Kritiker des Alleinheitsdenkens eingestehen, dass allein die Wortkombination „all-ein“ eine Faszination und Suggestivkraft entfaltet, die ihresgleichen sucht. Zur Recht ist deswegen behauptet worden: „Dieses schöne deutsche Wort hat eine nicht-alltägliche Bedeutung und gehört damit zur religionsphilosophischen Bildungssprache. Mit seiner Zwischenstellung zwischen Philosophie und Theologie gehört“ das All-Eine „zum Reservoir der Kulturreligion. Mit seiner Bildersprache bedient e[s] aber auch Bedürfnisse der Poesie und der einfachen Volksfrömmigkeit.“⁷ All dies hätte gewiss die Zustimmung Friedrich Schleiermachers gefunden. Gibt es doch kaum ein anderes Werk, das sich unter dem Figurativ des „All-Einen“ in seinen vielseitigen Facetten, philosophisch wie theologisch, von seinen Anfängen – in der Religionsschrift – bis in das reife Wirken deuten und in seinen Nuancierungen verstehen lässt. Genau diesem Anliegen will ich mich im Folgenden widmen. Gleichwohl ist damit weder ein Anspruch auf umfassende Behandlung des infrage kommenden Stoffes noch gar einer auf Originalität in der Interpretation verbunden. Stattdessen konzentriere ich mich auf seinen thematischen Gehalt – nämlich den Gottesgedanken oder die Gottesidee – und werfe von hier aus Blicke auf zentrale Passagen im Werk Schleiermachers. Dass ich vom Gottesgedanken rede, ist dabei mit Bedacht formuliert. Denn obgleich ich mich wesentlich mit dem Theologen Schleiermacher auseinandersetzen werde, so muss dabei doch im Auge behalten werden, was gerade in letzter Zeit von namhaften Schleiermacher-Interpreten in den Vordergrund gerückt wurde: Entgegen anderslautenden Intentionen des Autors lassen sich nämlich hier keineswegs philosophische und theologische Gedankengänge derart schiedlich-friedlich voneinander unterscheiden, wie es ihm selbst vorschwebte. Anders gewendet: Noch das Gottesbewusstsein, das der Ort für eine sachhaltige Rede von Gott in Frömmigkeit und Dogmatik (das heißt Glaubenslehre bzw. Theologie) darstellt, operiert zwangsläufig, um nicht zu sagen: notwendigerweise mit philosophischen Theoriefiguren. Gewiss, so formuliert, würde dem Schleiermacher nicht widersprechen. Gleichwohl wirkt sich die Behauptung, wonach die spekulative Gottesidee gegenüber der Frömmigkeit als nachrangig, also sekundär zu betrachten ist, folgenreicher aus als oftmals vermutet. In meinen Augen deutet sich hier bereits an, dass es Schleiermacher trotz aller Bemühungen nicht gelungen ist, das Moment der Reflexion als ein zwingend Nachrangiges für das Verständnis von Frömmigkeit als „Bestimmtheit des frommen“,

 Das ist die generelle Stoßrichtung von: Friedrich Heinrich Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Auf der Grundlage der Ausgabe von Klaus Hammacher und Irmgard-Maria Piske bearbeitet von Marion Lauschke, Hamburg 2000. Aufschlussreich hierfür auch Jacobis Auseinandersetzung mit Herder in der Beilage V (242– 251).  Jean-Claude Wolf, Pantheismus nach der Aufklärung. Religion zwischen Häresie und Poesie, Freiburg i.Br. 2013, 62.

Gedanken und Wege der All-Einheit

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nämlich „unmittelbaren Selbstbewusstseins“ fern- bzw. es von ihm freizuhalten.⁸ Schleiermachers „Gott“ ist zwar nie nur ein Philosophengott, aber noch als Artikulationsgestalt des christlich-frommen Selbstbewusstseins bleibt er ein Produkt religiöser und darin eo ipso metaphysischer Reflexion und mitunter auch Spekulation. Wenigstens in dieser Hinsicht muss Widerspruch angemeldet werden gegen die Maxime des Hermeneutikers Schleiermacher, man solle hinsichtlich der Werkinterpretation vornehmlich darum bemüht sein, den Autor möglichst dahingehend zu begreifen, wie er sich selbst verstanden habe. Dies vorweggenommen sei nun das Figurativ der „All-Einheit“ in Anwendung gebracht, um den Gedanken und Wegen seiner Formierung in religionstheoretischer, metaphysischer und christentumstheoretischer Hinsicht bei Schleiermacher nachzugehen. Damit ist zugleich benannt, auf welche Schriften ich mich im Folgenden konzentrieren werde: den Reden über die Religion, vor allem in der Erstauflage von 1799 (II.), den Vorlesungen zur Dialektik, vornehmlich in der Fassung von 1822 (III.), und schließlich den beiden Auflagen der Glaubenslehre von 1821/22 bzw. 1830/31 (IV.). Die abschließenden Bemerkungen dienen der Einordnung in das Kongressthema sowie dem Ausblick auf ein unbewältigtes Theorie- und Lebensproblem (V.).

II „Hen Kai Pan“ – Schleiermachers religiöser Spinozismus Dass die mit dem Namen Spinoza verbundene Wendung „Hen Kai Pan“ als rhetorische Stilfigur die Religionsschrift durchzieht, ist bekannt, die einschlägigen Zitate somit hinfällig und der zeithistorische Kontext als gegeben vorausgesetzt. Gleichwohl ist interessant, wie das, was den All-Einheits-Gedanken als Figurativ auszeichnet, in den Reden in Anschlag gebracht wird. Das „All-Eine“ dient nämlich nicht einfach als Übersetzung für – sagen wir – das „Universum“, um dessen „Anschauung“ und „Gefühl“ es Schleiermacher bekanntlich zur Profilierung der Eigenständigkeit der  Dem scheinen nur auf dem ersten Blick die Ausführungen in der ersten (vgl. CG1 § 31.4) und zweiten Auflage (vgl. CG2 §§ 16 [Zusatz] und 28) der Glaubenslehre zu widersprechen, da Schleiermacher ja konzediert, dass philosophische Begriffssprache und dogmatische Lehrsprache stets miteinander verwoben sind. Aber es ist eben nicht einfach ein relativ äußeres Verhältnis, welches mit dem Wechsel der philosophischen Systeme eben zum Pluralismus am Ort der dogmatischen Darstellung führt. Vielmehr prägen philosophische Grundbegrifflichkeiten deutlich – wie man schön an der metaphysisch über den Kausalitätsbegriff zugespitzten Schöpfungslehre demonstrieren könnte – den Bedeutungsgehalt christlicher Symbole. Genau damit aber ist der Versuch, Primäres („Religiöses“) von Sekundärem („Metaphysischem“) auf dem Gebiet dogmatischer Glaubensexplikation abzuheben, zum Scheitern verurteilt. Vgl. Friedrich Schleiermacher [1821/22], Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, KGA I/7,1, hg.v. Hermann Peiter, Berlin / New York 1980, 110,20 – 112,14, sowie: Friedrich Schleiermacher [1830/31], Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage, Erster Teilband, KGA I/13,1, hg.v. Rolf Schäfer, Berlin / New York 2003, 133,16 – 136,2.182– 190.

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Religion gegenüber Metaphysik und Moral geht. Denn Schleiermachers Kategorie des „Universums“ – das in der Tat in der Religionsschrift mitunter durch entsprechende Ausdrücke wie des „Einen und Allen⁹“ (eben: Hen Kai Pan), durch „das Unendliche“¹⁰, „Weltgeist“¹¹, manchmal sogar durch „Gott“¹² ersetzt wird, darf nur insofern mit der Alleinheitsidee gleichgesetzt werden, als seine prozedurale Bestimmung strukturell alle Momente des Alleinheitsgedankens in sich fasst. Mit anderen Worten: Nicht das Universum ist das All-Eine, sondern das, was das „Universum“ als eine Totalitätsidee des religiösen Subjekts vermeint, lässt sich nur durch seine Konstellierung unter dem Figurativ der All-Einheit näher hin fassen. Wenn es beispielsweise heißt: „Die Religion lebt ihr ganzes Leben auch in der Natur, aber in der unendlichen Natur des Ganzen, des Einen und Allen; was in dieser alles Einzelne und so auch der Mensch gilt, und wo alles und auch er treiben und bleiben mag in dieser ewigen Gährung einzelner Formen und Wesen, das will sie in stiller Ergebenheit im Einzelnen anschauen und ahnden“¹³, dann wird damit im Grunde angezeigt, was mit der wenig später auftretenden Formel vom „Anschauen des Universums“ als „der Angel meiner ganzen Rede“¹⁴ gemeint ist. In ihr zeigt sich die doppelt relationale Struktur, mit Hilfe derer Religion als solche verstanden wird:¹⁵ Zum einen geht es in dieser Deutungsperspektive um das Verhältnis von Einzelnem (als Teilen) zum Ganzen bzw. zur Totalität. Zum anderen schiebt sich darin ein, was man – in Fortbestimmung von Gedanken Spinozas, etwa bei Herder¹⁶ – als das aktivische Darstellungsverhältnis in der religiösen Deutung bezeichnen kann: Denn alles Einzelne wird nunmehr als Resultat, als Wirkungen oder – in metaphorischer Sprache – als „Handlungen“¹⁷ des diese nicht nur umgreifenden, sondern in sich fassenden „Universums“ aufgefasst. Beide Momente sind nicht deckungsgleich, sondern konturieren das, was als das „All-Eine“ in der Religion zur Anschauung, aber gleichwohl nur mit Hilfen der – in diesem Falle: spinozistischen – Metaphysik (Philosophie) zum Verständnis gebracht wird. Das AllEine, als welches das „Universum“ hier begriffen wird, fungiert nicht nur als eine

 Friedrich Schleiermacher [1799], Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, KGA I/2, hg. von Günther Meckenstock, Berlin / New York 1984, 212,7.246,36 passim.  Vgl. Schleiermacher 1984, Religion, 214,14– 15.215,16.247,10 passim (Anm. 9).  Vgl. Schleiermacher 1984, Religion, 213,54.224,16 passim (Anm. 9).  Vgl. Schleiermacher 1984, Religion, 214,37.243,10.244,15.246,38 passim (Anm. 9). Mitunter spricht Schleiermacher auch von „Gottheit“. Zum Gottesgedanken als Deutungsgestalt des „Universums“ in den Reden, siehe: Peter Grove, Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, Berlin / New York 2004, 349 – 370.  Schleiermacher 1984, Religion, 212,5 – 10 (Anm. 9).  Schleiermacher 1984, Religion, 213,35 (Anm. 9).  Vgl. Ulrich Barth, „Was heißt ‚Anschauung des Universums‘? Spinozanische Hintergründe von Schleiermachers Jugendschrift“, in: ders., Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 222– 244.  Vgl. Johann Gottfried Herder [1788], Gott. Einige Gespräche. Zweite Auflage, Gesammelte Werke, Bd. XVI, hg.v. Bernhard Stuphan, Hildesheim / Zürich/New York 1994 [3., unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1887], 401– 480.  Schleiermacher 1984, Religion, 244,13.18 (Anm. 9).

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Totalitätsfigur, als Unendliches gegenüber dem Endlichen und als dieses Einbegreifendes, sondern es ist selbst ein das Endliche aus sich als dessen Darstellung Herauslassendes, Hervorbringendes zu denken. In diesem Sinne ist es das „Ab-solute“ oder eben auch das eigentlich „Göttliche“, wie es die Reden konzipieren. Diese Doppelbewegung hat nun freilich Folgen. Denn liest man die Reden bis zu ihrem Ende, dann zeigt sich, wie auch die geltungstheoretische Auszeichnung des Christentums als Religion gleichsam höherer Potenz, da es „die Religion selbst als Stoff für die Religion verarbeitet“¹⁸, daran hängt. Man kann davon sprechen, dass das All-Einheitsfigurativ als normatives Kriterium für die Angemessenheit des Selbstverstehens von Religion fungiert. Zur Untermauerung dieser Beobachtung muss man lediglich kurz auf den zeitgenössisch naheliegenden Vorwurf des Pantheismus – und somit der Verabschiedung der Personalität Gottes – gegen Schleiermacher eingehen. Zwar beharrt er zum einen (in der zweiten Rede) darauf, dass sich auch die Vorstellung einer personalen Gottheit durchaus im Sinne einer ursprünglichen Imagination aus der religiösen Grundsituation, nämlich mit Blick auf die Freiheit, verstehen ließe¹⁹ und als solche durchaus ihren symbolischen Wert behalte. Gleichwohl werden zum anderen, genauer in der fünften Rede, sowohl Personalismus als auch Pantheismus (und Deismus) als philosophische Theoreme ausgewiesen, die der Religion genuin fremd sind.²⁰ Wenig später wird dann aber auf reichlich merkwürdige Weise das Judentum vom Christentum in seiner religiösen Eigenleistung abgesetzt, weil dieses – natürlich im Modus der Vergeltung – „von einer eigenen Reaction des Unendlichen gegen Jedes einzelne Endliche“²¹ ausgehe, wohingegen das Christentum „den Geist der systematischen Religion“ repräsentiere, dessen ursprüngliche Anschauung […] keine andere [ist], als die des allgemeinen Entgegenstrebens alles Endlichen gegen die Einheit des Ganzen, und der Art, wie die Gottheit dieses Entgegenstreben

 Schleiermacher 1984, Religion, 317,35 (Anm. 9).  Vgl. Schleiermacher 1984, Religion, 245,17– 22: „In der Religion wird das Universum angeschaut, es wird gesezt als ursprünglich handelnd auf den Menschen. Hängt nun Eure Fantasie an dem Bewußtsein Eurer Freiheit so daß sie es nicht überwinden kann dasjenige was sie als ursprünglich wirkend denken soll anders als in der Form eines freien Wesens zu denken; wohl so wird sie den Geist des Universums personifizieren und Ihr werdet einen Gott haben.“  So in: Schleiermacher 1984, Religion, 302 (Anm. 9), und nochmals zuspitzend, Schleiermacher, 1984, 309,35 – 37 (Anm. 9): „Der Glaube an einen persönlichen Gott […] ist nicht das Resultat einer bestimmten einzelnen Anschauung des Universums im Endlichen“.  Schleiermacher 1984, Religion, 315,11– 12 (Anm. 9). Der Satz geht weiter: „das aus der Willkühr hervorgeht, durch ein anderes Endliches, das nicht als aus der Willkühr hervorgehend angesehen wird.“ (Schleiermacher 1984, Religion, 12– 14 [Anm. 9]) Schleiermacher sieht hier zu Recht, dass Kontingenz das Basismotiv des Personalismus ist, und dass man in der Tat von einem personalen Universum nur so reden kann, dass in distinkter Weise Gott als „endlich“ gedacht werden muss; freilich auf andere Art als in Opposition zum Unendlichen. Darauf hat in der Religionstheorie des 20. Jahrhunderts niemand besser aufmerksam gemacht als William James. Vgl. William James, Das pluralistische Universum. Vorlesungen über die gegenwärtige Lage der Philosophie., übers. v. Julius Goldstein, hg.v. Klaus Schubert / Uwe Wilkesmann, Darmstadt 1994, v. a. 195 – 215.

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behandelt, wie sie die Feindschaft gegen sich vermittelt, und der größer werdenden Entfernung Grenzen sezt durch einzelne Punkte, über das Ganze ausgestreut, welche zugleich Endliches und Unendliches, zugleich Menschliches und Göttliches sind.²²

Zieht man schließlich noch eine interessante Überlegung aus den Erläuterungen der dritten Auflage der Religionsschrift (zur zweiten Rede) hinzu, in denen Schleiermacher die Unterscheidung zwischen „persönlichem“ und „lebendigem Gott“ einführt,²³ so zeigt sich, dass auch sie genau auf jener argumentativen Fluchtlinie liegt, die jegliche Wechselwirkung zwischen Gott und Mensch, oder Universum und Subjekt ausschließen möchte,²⁴ und zwar mit der zusätzlichen Unterfütterung, die Personalität Gottes sei ohnehin nichts anderes als ein Resultat des Einfalls metaphysischer Begrifflichkeiten auf das Gebiet der Frömmigkeit. Wir müssen es bei diesen Andeutungen belassen, allerdings nicht ohne doch wenigstens zu erwähnen, dass Schleiermacher offenkundig nicht gesehen hat, dass hier eine eigentümliche Pass(un)genauigkeit zum Tragen kommt, die sich aus der Spannung zwischen der Abwehr metaphysischer Theoreme, zu denen ja auch der Pantheismus zählt, und dem Ansinnen, die religiöse Symbolproduktivität in ihrem Anlass bezogenen Eigenrecht zu wahren, ergibt. So entfaltet schleichend die All-Einheitsfigur in den Reden ihre Wirkung. Sie ist es, die mit Blick auf das Verstehen des „Universums“ und das heißt letztlich: in absolutheitstheoretischer Hinsicht, zum Korrelat des Religionsbegriffs wird, und zwar nicht nur in abstrakter Weise, sondern in ebenso sehr soteriologischer Perspektive. Denn man sollte nicht unterschlagen, dass die fünfte Rede nichts anderes als eine Theorie des Christentums in nuce bereithält. Darauf werden wir bei der Interpretation zentraler Passagen in den beiden Auflagen der Glaubenslehre (vgl. IV.) zurückkommen müssen.

 Schleiermacher 1984, Religion, 316,27– 34 (Anm. 9).  Die Passage lautet: „so würde sich zeigen, daß man alles zusammen genommen eben so wol sagen könnte, sie [hier: die Kirchenlehrer; C.P.] sprächen Gott die Persönlichkeit ab, als sie legten sie ihm bei; und daß, da es so schwer sei eine Persönlichkeit wahrhaft unendlich und leidensunfähig zu denken, man einen großen Unterschied machen sollte zwischen einem persönlichen Gott und einem lebendigen. Das letztere allein ist eigentlich der vom materialistischen Pantheismus und von der atheistischen blinden Notwendigkeit scheidende Begriff.“ (Friedrich Schleiermacher, Über die Religion (2.–) 4. Auflage, KGA I/12, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1995, 146,19 – 25.)  Streng genommen ist auch das Gefühl als Resultat des Anschauens des Universums – nach der ersten Auflage der Religionsschrift – nicht als eine Wechselwirkung auf das Universum zu verstehen, sondern als die in der Innenseite des Subjekts sich vollziehende Wirkungsentfaltung, die ebenfalls in die Deutung des religiösen Subjekts eingeht. Zur Rolle des Gefühls in den Reden, siehe: Grove 2004, 306 – 315 (Anm. 12).

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III Philosophischer und dogmatischer Gottesgedanke: das All-Einheits-Figurativ in der Dialektik Für eine eingehendere Betrachtung unserer Thematik verdienen zweifelsohne Schleiermachers Ausführungen in seinen Vorlesungen zur Dialektik besondere Aufmerksamkeit. Es ist jedenfalls als gravierendes Manko festzuhalten, wenn Schleiermacher-Interpretationen diesbezüglich die Meinung vertreten, man könne wenigstens mit Blick auf Schleiermachers christliche Rede von Gott auf die Einbeziehung dieser Texte verzichten.²⁵ Wenngleich Schleiermacher selbst vornehmlich in der ersten, dann aber nicht minder in der zweiten Auflage der Glaubenslehre scharf auf der Trennung zwischen (erster) Philosophie in Gestalt von Metaphysik und christlicher Glaubenslehre in Form der Dogmatik beharrt,²⁶ so darf man das nicht in diesem Sinne exkludierend verstehen. Denn einerseits darf mit Fug und Recht behauptet werden, Schleiermacher binde die Übernahme von philosophischen Konstellationen und Theoreme – als deren Exempel wir hier das Figurativ der All-Einheit verstehen – an ihre Kohärenz mit bestimmten dogmatischen Lehrgehalten, also zum Beispiel die Differenz zwischen Gott und Welt, von Geist und Fleisch oder auch „gut“ und „böse“.²⁷

 Das betrifft natürlich zuvorderst die Darstellung bei: Friedrich Beißer, Schleiermachers Lehre von Gott dargestellt nach seinen Reden und seiner Glaubenslehre, Göttingen 1970, auch wenn er selbst auf die Notwendigkeit der Einbeziehung der Dialektik verweist und von daher seine eigene Arbeit als „Fragment“ bezeichnet (9 – 10). Aber auch die sonst sehr verdienstvolle Arbeit von Julia A. Lamm trägt Spuren dieses Mankos, die sich umso mehr bemerkbar machen, weil sie für die Frühzeit sehr wohl die philosophischen Spinoza-Arbeiten Schleiermachers ihrer Darstellung zugrunde legt. Vgl. Julia A. Lamm, The Living God: Schleiermacher′s Theological Appropriation of Spinoza, University Park (PA) 1996. – Lamms doppeltes Argument für die Vernachlässigung der Dialektik, wonach die Methode bereits früher im Werk Schleiermachers angelegt sei und man zudem nicht von einer einseitigen Beeinflussung eines der beiden Werke (Glaubenslehre und Dialektik) auf das andere ausgehen dürfe, kann im Grunde nicht überzeugen. (Vgl. 124– 126).  Dazu s. Anm. 6.  So heißt es bekanntlich in der Glaubenslehre, dass ein philosophisches System nur dann für die Darlegung der christlichen Glaubensbestände adäquat sein kann, „welches die Ideen Gott und Welt irgendwie auseinanderhält, und welches einen Gegensatz zwischen gut und böse bestehen läßt. Mit jedem solchen aber verträgt sich das Christentum.“ (Schleiermacher 1980, 112,1– 3 [Anm. 8]). – Bei genauerer Sichtung der Ausführungen in der Glaubenslehre wird man allerdings Zweifel hegen dürfen, ob die zweite Unterscheidung wirklich noch in dem Maße als Kriterium in Anschlag gebracht worden ist. Dies gilt nicht nur hinsichtlich der Absage Schleiermachers an jede Form von „göttlicher Absicht“ sowie an den Ausschluss von Negativitätsmomenten in der Konzeption des Göttlichen. Für beides bedarf es schon jenes konstitutiven Unterschiedes von „gut“ und „böse“. Mehr noch bleibt bei der Fassung der christlichen Frömmigkeit als „teleologischer“ und somit hinsichtlich der soteriologischen Konzeption von Welt als „Reich Gottes im Werden“ unklar, worin die spezifische Leistung der Differenz zwischen „gut“ und „böse“ besteht. Hier wie auch andernorts absorbiert das philosophische Theorem der Alleinheit im Verbund mit der Idee der Differenzlosigkeit Gottes, wie im obigen Textverlauf gleich

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Doch selbst diese von ihm vorgenommenen Kriterien gelten hinsichtlich ihrer Reichweite nur in äußerst bescheidenem Rahmen. Andererseits lässt sich zugleich behaupten, dass vornehmlich das All-Einheitsmotiv als Brückenfigur zwischen Metaphysik und Dogmatik fungiert und als solches beträchtlichen Einfluss auf die dogmatische Explikation gewinnt, insofern mit ihm auf beiden Gebieten von Metaphysik und Dogmatik sowohl der Gefahr des Supranaturalismus gewehrt als auch an der basalen Differenz von „Gott“ und „Welt“ festgehalten wird. Dies lässt sich meines Erachtens nur so verstehen, dass hierbei philosophische und dogmatischen Überlegungen ineinander gehen und sich überlappen, wobei es kaum übertrieben zu sein scheint, den metaphysischen Überlegungen – wie sie zwischen 1811 und 1822 in mehrfacher Form sich in den Vorlesungen zur Dialektik niederschlugen – dabei die Führungsrolle zuzugestehen. So gilt hier einmal mehr die Beobachtung Ulrich Barths: „Ohne die Dialektik würde die Begrifflichkeit der Glaubenslehre kollabieren.“²⁸ Als ein weiterer Beleg dafür kann auch gelten, wie Gottesund Weltbegriff in der Dialektik einander zugeordnet und konstelliert werden. In der spezifischen Art und Weise dieser Konstellation zeigt sich Schleiermachers Form der All-Einheitsidee. Bekanntlich haben wir es bei Gott oder dem Absoluten nicht – wie bei Kant – mit einer regulativen Idee der (reinen) Vernunft zu tun, sondern mit einer als „transzendente[m] Grund“ gedachten, für den Wissensbegriff und seine Implikationen (Voraussetzungen) konstitutiven Idee. Selbiges gilt in spezifischer, aber eben doch differenter Weise für den Weltbegriff. Da man sich gleichwohl von diesen konstitutiven Ideen bzw. Begriffen keine Vorstellung im Sinne ihrer positiven Bestimmbarkeit machen kann, eignet ihnen ein spezifischer Transzendenzcharakter und zwar in ihrer Funktion als Totalitätsideen. Die Formeln sind hinlänglich bekannt: „Wie die Idee der Gottheit der transcendentale terminus a quo ist, und das Princip der Möglichkeit des Wissens an sich: so ist die Idee der Welt der transcendentale terminus ad quem und das Princip der Wirklichkeit des Wissens in seinem Werden.“²⁹ Interessant ist hieran die Art und Weise, wie das All-Eine konfiguriert und konstelliert wird: Denn der Zugang wird dadurch bestimmt, dass vom „Einen“ zu „Allem“ zu schreiten ist, will man den realen Wissensprozess betrachten. Dies aber so, dass man darum weiß, dass die Allheit des Wissens als unendlich progressives Ideal – im heutigen Verständnis des Wortes – stets von der Voraussetzung abhängt, ohne die es die Einheit der

dargelegt, alle gegensätzlichen traditionellen Verhandlungen einschlägiger dogmatischer, vor allem soteriologischer Themenbestände, wie Freiheit, Sünde und Gnade. Das aber bedeutet, dass für die Präfiguration eines adäquaten Verständnisses der Bestimmtheit des christlich-frommen Selbstbewusstseins viel eher das philosophische Alleinheitstheorem in Frage kommt, als dass es umgekehrt durch christlich-theologische Einsichten maßgeblich umgeformt wird.  Ulrich Barth, „Subjektphilosophie, Kulturtheorie und Religionswissenschaft. Kritische Anfragen an Schleiermachers Theologieprogramm“, in: ders., Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 293 – 320, hier 306.  Friedrich Schleiermacher [1814/15], Ausarbeitung zur Dialektik, KGA II/10,1, hg.v. Andreas Arndt, Berlin / New York 2002, 149,17– 20.

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Übereinstimmung von Denken und Sein, Idealem und Realem, gar nicht geben kann, und die wiederum nicht auf der Basis einer etwaigen anderen Differenz entfaltet werden kann, sondern differenzlos vorauszusetzen ist. Dabei bleibt zu beachten, dass die „Welt“ als Allheit selbst eine Einheit darstellt, der wiederum eine andere Form der Einheit korreliert, die strictissime als absolute und somit differenzlose Einheit zu denken ist und für die „Gott“ steht: „Welt ist aber Einheit des Seins mit Einschluß aller Gegensätze, Gott ist Einheit des Seins mit Ausschluß aller Gegensätze. “³⁰ Diese Korrelation ist streng, insofern die Einheit der Welt nur durch die Einheit Gottes gedacht werden, umgekehrt diese aber nur durch das Abschreiten (der Wege) der in ersterer einbegriffenen Allheit als Einheit zur Darstellung gebracht werden kann.³¹ All-Einheit ist somit das Resultat einer sich an die Entfaltung von Wissensprozessen anschließenden Grundlagen- im Sinne von Transzendentalreflexion, aber so, dass sie letztlich die Struktur dieser Reflexion – im Sinne der notwendigen Gegebenheit von Differenzen und Spannungen – überschreiten muss, will sie ihre beiden Grundideen positiv bestimmen oder auch nur die Eigenart ihrer (begrifflichen) Identität genauer aufklären.³² Wie aber lässt sich von diesem Punkt aus eine Brücke zur Religion bzw. zur Welt der Frömmigkeit schlagen? Der Weg, den Schleiermacher einschlägt, mag zwar bekannt sein, aber er ist damit noch nicht unbedingt einsichtig. Im Grunde genommen wird uns eine Analogisierung von zwei Grundkonstellationen vorgeschlagen, die es ermöglichen soll, funktionale Elemente übertragbar zu machen. Und wiederum sind beide Konstellationen figuriert durch das Motiv der All-Einheit. Hier wäre der Ort einer detaillierten Exegese der Ausführungen zum „unmittelbaren Selbstbewußtsein“, das als Gefühl „die Abspiegelung des Seins, inwiefern die Gegensätze von Denken und

 Friedrich Schleiermacher 2002, Ausarbeitung, 584,36 – 38 (Anm. 29). (Sperrung im Original).  Dies gilt nicht nur für die Ebene metaphysischer Theoriebildung, sondern ebenso mit Blick auf die lebensweltlichen Deutungsvollzüge, wie sie etwa auf den Gebieten der Religion, aber auch der „Weltweisheit“ und „Theosophie“ stattfinden. Deswegen kann Schleiermacher schon in der Dialektik von 1811 die Aussage treffen: „In dem Maaß als die Weltanschauung mangelhaft ist bleibt die Idee der Gottheit mythisch. Oder wenn sie doch abgesondert von jener unter die strenge Form des Denkens gebracht werden soll, wird sie unhaltbar. (Wahren Atheismus giebt es nur in Verbindung mit positivem Skepticismus. Jeder andere ist nur gegen das unhaltbare und mythische gerichtet.)“ (Schleiermacher 2002, Ausarbeitung, 38,4– 9 [Anm.29]). Und ähnlich heißt es in den Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie von 1812, nicht zufällig in der Darstellung des Spinoza: „Gott als Einheit rein für sich behandelt wird mythisch, die Welt als Totalität rein für sich behandelt zerfließt in die unendliche Mannigfaltigkeit und wird skeptisch. Die vereinigte Betrachtung lässt immer etwas zu wünschen übrig, also ist Neigung zu einem überall.“ (Friedrich Schleiermacher, Geschichte der alten Philosophie. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse, SW III/4,1, hg.v. Heinrich Ritter, Berlin 1839, 277– 278).  Deswegen betont Schleiermacher mehrfach in seinen Ausführungen zur korrelativen Konstellation von Gottes- und Weltidee sowie zur Differenz von Philosophie und Dogmatik in der Dialektik-Vorlesung von 1822, dass es sich bei „Gott“ (terminus a quo) und „Welt“ (terminus ad quem) um strikt logische bzw. strukturelle Begriffsdefinitionen (für den Wissensprozess) handelt. Vgl. Friedrich Schleiermacher [1822], Vorlesungen über die Dialektik, KGA II/10,2, hg.v. Andreas Arndt, Berlin / New York 2002, 575 – 585.

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Wollen darin aufgehoben sind“³³, darstellt und an dem der dabei in Anschlag zu bringende „transzendente Grund“ zu verorten ist. Das unmittelbare Selbstbewusstsein wird so zum zeitlosen Identitätsgaranten im zeitlichen Wandel des reflektierten Selbstbewusstseins, des empirischen Ichs, der als gesetzt gegeben sein muss, obgleich man seiner nie ansichtig werden kann.³⁴ Analog wird erneut die Identität als Einheitsleistung in der Vielfalt der reflektierenden Bewusstseinsleistungen (Summierungen) als konstitutive Idee in Anschlag gebracht. Der transzendente Grund spiegelt sich – so heißt es metaphorisch – am Ort des „unmittelbaren Selbstbewusstseins“ ab. Im religiösen Gefühl kommt diese Verschränkung zum Vorschein, indem es sie repräsentiert und sie somit zur Auslegung provoziert. Als Verschränkung selbst kann sie aber nicht gedacht werden, sondern ist als vorausgesetzt und daher dem empirischen Selbstbewusstsein stets mitgegeben zu reflektieren.³⁵ Allerdings eben so, das religiöse Gefühl, denn keiner wird einen Moment des Bewußtseins fixieren, wo die Beziehung des unmittelbaren Selbstbewußtseins auf den transcendentalen Grund des Seins ganz rein wäre […] so müssen wir sagen, wir haben hier auch eine solche Vielheit, weil wir die religiöse Seite des Gefühls nicht sondern können von der nach außen gekehrten; diese ist eine mannichfache, also auch jene.³⁶

Was zuvor mit Blick auf die Totalitätsbegriffe von Gott und Welt hinsichtlich der Wissensprozesse entfaltet wurde, das kehrt an dieser Stelle wieder. Denn der absoluten Identität – Gottes – entspricht die These: „Die Rückkehr von diesen [mannigfaltigen Momenten; C.P.] zur Einheit und Wechsellosigkeit ist der eigentliche Ausdruck der zeitlosen Begleitung des transcendentalen Grundes in unserem Sein. Beides wird nun combiniert.“³⁷ Religiöses Bewusstsein ist dadurch weltdurchtränktes Bewusstsein, dass es die Welt in ihrer Mannigfaltigkeit und Gegensätzlichkeit aufnimmt und sie auf ihren absoluten Identitätspunkt bezieht. Es ist All-Einheitsbewusstsein, das sich als das vollzieht, was es seiner Struktur (und zwar nicht nur als religiöses Bewusstsein) nach selbst ist: es ist der Einheitspunkt, von dem aus der Ausgriff auf die Allheit unternommen wird und der dieser zugleich ihre Einheit aufdrückt, und zwar durch Rückbezug auf den einheitlichen Fluchtpunkt – das Gefühl oder unmittelbare Selbstbewusstsein, das seine Einheit selbst wiederum nicht begründen kann. So wird der Rekurs auf das unmittelbare Selbstbewusstsein selbst dort noch benötigt, wo es um einen einheitlichen Begriff von Welt geht. Ob dies jedoch mehr als eine argumentative, gleichwohl suggestive Beschwörung scheinbar zwingender Prämissen ei-

 Schleiermacher 2002, Vorlesungen, 572,1– 2 (Anm. 32).  Vgl. Schleiermacher 2002, Vorlesungen, 565,1– 571,10 (Anm. 32).  Vgl. Schleiermacher 2002, Vorlesungen, 569 – 571 (Anm. 32); Hier und an anderen Stellen verwendet Schleiermacher selbst die Redeweise von der „Analogie“.  Schleiermacher 2002, Vorlesungen, 570,4– 6.16 – 19 (Anm. 32).  Schleiermacher 2002, Vorlesungen, 570,19 – 22 (Anm. 32).

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ner Identitätsphilosophie darstellt – um einen Kritikpunkt von Andreas Arndt zuzuspitzen³⁸ – darf immerhin gefragt werden.

IV Christliche All-Einheitslehre: Schleiermachers „Gott“ in der Glaubenslehre Nur noch in wenigen Strichen kann an dieser Stelle auf die christentumstheoretische Fassung des Alleinheitsfigurativs bei Schleiermacher eingegangen werden. Mit Ulrich Barth teile ich die Ansicht, dass die Glaubenslehre letztlich der Schärfung und Klärung des „Wesens des Christentums“ dient, sie ist daher Christentumstheorie.³⁹ Eine genauere Analyse müsste mit Blick auf unser Thema zunächst auf die Differenzen zwischen der ersten und der zweiten Auflage eingehen. So ließe sich hinsichtlich der Funktion des Gefühls für die erste Auflage festhalten, dass jenes stärker als in der Fassung von 1830/1 als Einheits- und folgerichtig identitätsstiftender Brücken- bzw. Nullpunkt von Denken und Wollen expliziert wird. Darin folgt die Erstauflage ganz dem Gedankengang in der Dialektik. Der Durchgang durch die materialen Aspekte der Glaubenslehre wird zudem deutlicher als Aufweis der in der Rekonstruktion ansichtig werdenden Ordnungsleistung des Gefühls vorgenommen. Dessen ungeachtet aber bestehen große Kontinuitäten zwischen den beiden Auflagen, was den Aspekt der Alleinheitsfigur – nunmehr in ihrer christlich-dogmatischen Fassung – anbelangt. Folgendes setze ich dabei als bekannt voraus: Erstens: Schleiermacher bringt seine Frömmigkeitstheorie in materialer Hinsicht erst am Beginn seiner Schöpfungslehre zum Abschluss, indem er sie so zuspitzt, dass im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl „unser Selbstbewußtsein die Endlichkeit des Seins im allgemeinen“⁴⁰ vertritt. Religion als Frömmigkeit spricht sich demnach als umfassendes Weltbewusstsein im Zeichen seiner ihm entzogenen Einheit und absoluten Totalität (Ganzheit) aus. Zweitens: Schleiermacher hat stets betont, dass die göttliche „schlechthinnige Ursächlichkeit, auf welche das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl zurückweist, […] nur so beschrieben werden [kann], daß sie auf der einen Seite von der innerhalb des Naturzusammenhanges enthaltenen unterschieden, ihr also entgegengesetzt, auf der anderen Seite aber dem Umfange nach gleichgesetzt wird.“⁴¹ Auch dogmatisch gilt

 Vgl. Andreas Arndt, Schleiermacher als Philosoph, Berlin / Boston 2013, 93.  Vgl. Ulrich Barth, „Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834)“, in: Klassiker der Theologie, Bd. 2: Von Richard Simon bis Karl Rahner, hg.v. Friedrich Wilhelm Graf, München 2005, 58 – 88, vor allem 78 – 80.  Schleiermacher 2003, Teilband 1, 205,14– 15 (Anm. 8) (CG2 §33, Leitsatz).  Schleiermacher 2003, Teilband 1, 308,33 – 309,2 (Anm. 8) (CG2 §51, Leitsatz).

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somit ein Zugleich von Identität und Differenz zwischen (religiöser, konkret: christlicher) Gottes- und Weltidee. Drittens: Schleiermacher betont, zur Eigenheit des sich als Gottesbewusstsein klärenden christlich-frommen Selbstbewusstseins gehört, dass es hinsichtlich seiner Konkretion in Gestalt der Lehre von den Eigenschaften Gottes keinerlei Anstalten machen darf, zu behaupten, diese Attribute würden eine Differenz im oder eine positive Bestimmung des göttlichen Wesens „an und für sich“⁴² bezeichnen. Letzteres würde gerade jener Funktion der All-Einheit widersprechen, die als absolute Einheit die Einheit des frommen Ichs mit samt der Welt garantiert und beides verbürgt. Vor diesem Hintergrund kehre ich nun noch einmal auf die zuvor schon in der Behandlung der Reden erwähnte soteriologische Grundierung der Religionstheorie und Theologie Schleiermachers zurück. Es ist bekannt, dass er eine Zeit lang damit liebäugelte, seine Glaubenslehre mit den Ausführungen zur „Entwicklung des Bewußtseins der Gnade“ beginnen zu lassen. Begründet sah er dies in der sachlichen Überzeugung, dass jene schließlich den Nukleus der christlichen Frömmigkeit bilden.⁴³ Entsprechend ist in der darstellungstechnisch konventionelleren Machart der beiden Auflagen der Glaubenslehre an zentralen Stellen jeweils angemerkt, dass eine vollständige sachliche Darstellung des zu traktierenden Themas erst in der Verhandlung des Gnadenbewusstseins ihren Abschluss und damit Höhepunkt findet. Dies berücksichtigend lässt sich nunmehr fragen, inwiefern noch unter soteriologischem Vorzeichen das Alleinheitsfigurativ in Schleiermachers Dogmatik prägend wurde. Man könnte an verschiedenen Stellen ansetzen. Am deutlichsten aber scheint mir dies bei der Explikation der beiden göttlichen Eigenschaften von Liebe und Weisheit am Beschluss der Glaubenslehre gegeben zu sein. Dies nicht deswegen, weil ich etwa, wie Gerhard Ebeling gemeint hat,⁴⁴ hier den dogmatischen Nukleus sehen würde. Sondern deswegen, weil mit Hilfe des – beide göttliche Eigenschaften in sich fassenden – Begriffs der „göttlichen Weltregierung“⁴⁵ Schleiermachers christliches All-Einheitsmotiv besonders prägnant fassbar wird. Dieses wird nunmehr auf das Werk der Erlösung in seiner gemeinschaftlichen Vollendung und Vollendetheit am Ort der „Kirche“ bezogen. Von hier aus wären dann auch die zuvor als Bestimmtheiten des  Vgl. Schleiermacher 2003, Teilband 1, 300 – 308 (Anm. 8) (CG2 §50).  So bekanntlich gleich zu Beginn seines Zweiten Sendschreibens an Lücke. Dabei erscheint es mir nicht zufällig, dass ihn in diesem Zusammenhang erneut das Problem des Pantheismus-Vorwurfes, nunmehr genau hinsichtlich seines Verständnisses der beiden göttlichen Eigenschaften von Liebe und Weisheit, umtrieb. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre, an Dr. Lücke (1828), KGA I/10, hg.v. Hans-Friedrich Traulsen, Berlin / New York 1990, 337– 394, v. a. 337– 345.  Vgl. Gerhard Ebeling, „Schleiermachers Lehre von den göttlichen Eigenschaften“, in: ders., Wort und Glaube Bd. II: Beiträge zur Fundamentaltheologie und zur Lehre von Gott, Tübingen 1969, 305 – 342.  Friedrich Schleiermacher [1830/31], Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage, Teilband 2, KGA I/13,2, hg.v. Rolf Schäfer, Berlin / New York 2003, 498 – 500 (CG2 §165).

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frommen Selbstbewusstseins in allgemeiner Hinsicht und im Zustand der Sünde dargelegten und explizierten dogmatischen Bestände genau zu beleuchten. Das aber bedeutet, die „göttliche Ursächlichkeit“ wird unter der Figur der „göttlichen Weltregierung“ auf das eine Richtungsziel, das „Reich Gottes“ hin ausgelegt.⁴⁶ Was sodann unter „göttlicher Weltregierung“ genauer zu verstehen sei, wird in der Auslegung der göttlichen Eigenschaften der „Liebe“ und der „Weisheit“ entfaltet.⁴⁷ Dabei ist es interessant zu beobachten, wie Schleiermacher diese beiden Eigenschaften als die dem christlich-frommen Selbstbewusstsein am angemessensten aufeinander zu beziehen vermag. Unter Rekurs auf die Momente von Wille (Wollen) und Verstand (Denken) beziehen sich in analogischer Struktur göttliche Liebe und Gesinnung (inneres Verhältnis) aufeinander, wohingegen sich die göttliche Weisheit auf die umfassende Realisierung dieser Liebe in der Welt (äußeres Verhältnis) bezieht. In eigentümlicher Weise spiegelt sich hier erneut in der Zuordnung von Liebe und Weisheit als höchste Auslegungsgestalten des christlich-frommen Selbstbewusstseins das Figurativ der Alleinheit ab. Denn: Wenn nun also Liebe und Weisheit allein den Anspruch behalten, zugleich Ausdrücke für das Wesen Gottes selbst zu sein, wir aber doch nicht ebenso sagen, Gott ist die Weisheit wie Gott ist die Liebe: so lässt sich hierüber, auch schon ehe der Begriff der Weisheit ausgeführt ist, folgende Auskunft geben. Wenn wir auf die Art sehen, wie wir beiderlei Bewußtsein haben, so haben wir das der göttlichen Liebe unmittelbar in dem Bewußtsein der Erlösung, und indem dieses der Grund ist, auf den wir alles andere Gottesbewußtsein auftragen, repräsentiert es uns natürlich das Wesen Gottes. Die göttliche Weisheit aber kommt uns nicht auf eine so unmittelbare Weise ins Bewußtsein, sondern nur, wenn wir unser Selbstbewußtsein, schon das persönliche, noch mehr aber das Gattungsbewußtein, zur Beziehung aller Momente aufeinander erweitern.⁴⁸

Repräsentiert die Liebe, weil auf die Bestimmtheit des frommen Selbstbewusstseins unmittelbar rekurrierend, das Motiv der Einheit, so zielt sie als Gottesbewusstsein gleichsam im holistischen Ausgriff darauf, die Darstellung Gottes in allen Bewusstseinsmomenten, eben der Welt als „gut“ und „vollkommen“, eben „weise“ zu erachten.Weisheit steht dann für das Element der Allheit, indem sich die göttliche Liebe selbst mitteilt und zur Darstellung bringt. Der Darstellungsbegriff ist hier nahe dem der Erstauflage der Reden und somit ein anderer als der sonst von Schleiermacher in seinen kulturphilosophischen Schriften (etwa denen zur Ethik) zum Einsatz gebrachte.

 Vgl. Friedrich Schleiermacher 2003, Teilband 2, 496,21– 498,16 (Anm. 45) (CG2 §164.3).  Unerörtert muss an dieser Stelle das Kardinalproblem bleiben, dass streng genommen auch Liebe und Weisheit für Schleiermacher keine internen Bestimmungen des göttlichen Wesens ausmachen können. Sein Versuch, diesem Ansatz weiterhin genüge zu leisten und gleichwohl Liebe und Weisheit mit Blick auf größere Nähen dieser beiden Attribute zur Binnenstruktur christlich-frommer Subjektivität (sowie den Rekurs auf biblische Zeugnisse) auszuzeichnen, kann jedenfalls nicht restlos überzeugen.  Schleiermacher 2003, Teilband 2, 506,1– 14 (Anm. 45) (CG2 §167.2).

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Es ist dieser Zusammenhang, der es nunmehr in einem letzten Deutungsschritt erlaubt, die Welt als Gesamtheit des endlichen Seins, inbegriffen die ihrer und ihrer selbst bewussten Subjekte, als vollkommen gut, als „Kunstwerk“ Gottes darzustellen, Gott mithin auch – wie in Schriften zur Ästhetik⁴⁹ – als „Künstler“⁵⁰ zu begreifen. Darin wird der Versuch unternommen, die soteriologische Ausrichtung mittels ästhetischer Kategorien zu spezifizieren, um einerseits die Teleologie zu retten und andererseits der Gefahr einer Übertragung von Zweck-Mittel-Relationen und damit von göttlichen Absichten zu bannen.⁵¹ Die Teleologie bezieht sich stets auf das Ganze und kann für das Einzelne nur durch seine Einfügung in das Ganze unter der Perspektive des Einen geltend gemacht werden. Darin bleibt der Schleiermacher der Glaubenslehre dem Schleiermacher der Reden treu. Denn wenn es dort heißen kann, „[m]itten in der Endlichkeit Eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick“⁵², so wird dies späterhin in christentumstheoretischer Hinsicht weiter entfaltet als die Aufgehobenheit der Einzelnen in dem Gesamtleben des christlichen Gemeingeistes der Kirche bzw. in der Absicht, „die Welt als gute immer mehr zur Anerkennung zu bringen, und der ursprünglich der Weltordnung zum Grunde liegenden göttlichen Idee gemäß alles dem göttlichen Geist als Organ anzubilden“⁵³. Man sollte nur nicht verschweigen, welche Probleme daraus resultieren. Allen voran steht dabei die Bewahrung von Einzelnem, Einzelnen und Individuellem im All-Einen unter eschatologischer Perspektive auf dem Spiel.⁵⁴ So lässt sich abschließend festhalten: Die beiden figurativen Züge des All-Einen, wie sie von Schleiermacher einerseits in den Reden und andererseits in der Dialektik entfaltet wurden, kehren in der Glaubenslehre gebündelt wieder. Sie werden in eine

 Nur als Beispiele: Friedrich Schleiermacher, „Ästhetik. Einleitung“, in: ders., Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/32), hg.v. Thomas Lehnerer, Hamburg 1984, wo von „Schöpfung“ und „Kunst“ als „Correlata“ die Rede ist und „Gott“ demgemäß „in der Schöpfung künstlerisch“ tätig sei (Schleiermacher 1984, Ästhetik, 7 [Anm. 49]), sowie in der Akademieabhandlung „Über den Begriff der Kunst“, wo es heißt: „Denn erst in dem Maaß wir erkennen, wie Gott in der Schöpfung Künstler sei, können auch wir in der Kunst schöpferisch werden.“ (Schleiermacher 1984, Ästhetik, 159 [Anm. 49]).  Vgl. Schleiermacher 2003, Teilband 1, 345,9 – 14 (Anm. 8) (CG2 §55.2). Dort im Zusammenhang der Ausführungen zur Allwissenheit als göttlicher Eigenschaft und unter Wahrung der Kritik an jeglichem Anthropomorphismus. Zu dieser Figur als Metapher interpretiert siehe auch: Michael Moxter, „Gott als Künstler. Anmerkungen zu einer Metapher Schleiermachers“, in: Denkwürdiges Geheimnis. Beiträge zur Gotteslehre. Festschrift für Eberhard Jüngel zum 70. Geburtstag, hg.v. Ingolf U. Dalferth u. a., Tübingen 2004, 387– 404.  In diesem Zusammenhang wäre es lohnend, Schleiermachers kritische Erörterung des Vorsehungsgedankens in der Glaubenslehre samt seinem Vorschlag, diesen durch den Begriff der „Vorversehung“ (vgl. Schleiermacher 2003, Teilband 2, 498,3 [Anm. 45] [CG2 §164.3]) zu ersetzen, einmal mit den entsprechenden Kommentierungen zur Idee der Vorsehung in der Dialektik (vgl. Schleiermacher 2002, Vorlesung, 260 – 263 [Anm. 29]) zu vergleichen.  Schleiermacher 1984, Religion, 247,9 – 11 (Anm. 9).  Schleiermacher 2003, Teilband 2, 513,3 – 6 (Anm. 45) (CG2, §169.2).  Vgl. dazu mein noch unveröffentlichter Habilitationsvortrag: Christian Polke, Von letzten Dingen. Zum Status eschatologischer Aussagen (Manuskript 2015).

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Konstellation zusammengefügt, die die Darstellung des christlich-frommen Gottesbewusstseins zum Abschluss und zur letzten Zuspitzung bringt: einmal in der soteriologisch-ästhetischen Würdigung einer durch „göttliche Weisheit“ geordneten Welt als Darstellung des göttlich Einen in Allem; und dann in der Fundierung dieser Welt-, Lebens- und Glaubensansicht durch das im Zustand der Erlösung seiner selbst bewusste christlich-fromme Abhängigkeitsgefühl im Zeichen der einen, alles fundierenden und inkludierenden „göttlichen Liebe“.

V Schlussbemerkungen: All-Einheit zwischen Ost und West und das Problem der Individualität Schleiermacher, das wollten die vorangegangenen Ausführungen unterstreichen, kann als ein genuiner Denker des All-Einheitsgedankens verstanden werden. Dabei stand im Vordergrund, den All-Einheitsgedanken als ein Figurativ für die religionstheoretische, metaphysische und christentumstheoretische Fassung des Göttlichen als Absoluten zu begreifen. Figurativ nenne ich dies deswegen, weil es den mehr oder weniger implizit oder explizit gemachten Rahmen (framework) meint, und in diesem Sinne in methodischer Hinsicht dem entspricht, was sachlogisch eben dem Absoluten oder Göttlichen in traditioneller Terminologie zukommt. In diesem Sinne war im Vorangegangenen immer auch von Schleiermachers „Gott“ die Rede. Dieser Gott ist freilich mehr als ein Abstraktionsprodukt spekulativen Denkens, sondern er fußt, worauf bereits in den Reden hingewiesen wurde, auf einer notwendigen Reflexion auf das, was Religion genannt zu werden verdient. In diesem und nur in diesem Sinne kann zwar eine „Religion ohne“ (traditionellen) „Gott eine bessere sein“⁵⁵, aber eben nicht als Religion ohne den „Gott der All-Einheit“, weil er doch in ihr, ist sie recht erfasst und kultiviert, zur Darstellung kommt. Das ist Schleiermachers christliche Gestalt eines „Leben in und aus Ideen“⁵⁶ – um es noch einmal mit Dieter Henrich zu sagen. Dabei mögen sich die Gedanken und Wege zur All-Einheit bei Schleiermacher je nach Argumentationsziel und wissenschaftstheoretischem Kontext unterscheiden, aber auch hier gilt: „Meine Philosophie und also Dogmatik sind fest entschlossen, sich nicht zu wiedersprechen“⁵⁷. Schleiermachers „Gott“ steht jenseits oder auch diesseits

 Schleiermacher 1984, Religion, 244,15 – 17 (Anm. 9).  Dieter Henrich, „Das Selbstbewußtsein und seine Selbstdeutungen. Über Wurzeln der Religionen im bewußten Leben“, in: ders., Fluchtlinien. Philosophische Essays, Frankfurt a.M. 1982, 99 – 124, 121.  Friedrich Schleiermacher, „Brief an Jacobi vom 30. März 1818“, in: Schleiermacher-Auswahl. Nachwort von Karl Barth, hg.v. Heinz Bolli, Berlin / München 1968, 116 – 119,118. – Schon zuvor bemerkt er im Brief: „Mein Satz dagegen ist also der: ich bin mit dem Verstande ein Philosoph; denn das ist die ursprüngliche und unabhängige Tätigkeit des Verstandes und mit dem Gefühle bin ich ganz ein Frommer, und zwar als solcher ein Christ und habe das Heidentum ganz ausgezogen oder vielmehr nie in mir gehabt.“ (Schleiermacher 1968, 117 [Anm. 57]) – Jacobi hat bekanntlich damit gerungen, dass er „ein Heide dem Verstande nach“ und „dem ganzen Gemüthe zufolge ein Christ“ sei (so in einem,

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von klassischem Theismus und strikt monistischem Pantheismus; wer dabei lieber religionsgeographische Typologien bevorzugt: sein „Gott“ liegt zwischen Ost und West. Daraus resultieren seine Sympathien mit dem All-Einheits-Gedanken, und dies nicht nur in explikativer, theoretischer oder metaphysischer Hinsicht. Nicht minder sind seine Überlegungen zum Wesen der Frömmigkeit davon geprägt. So kann er in der Erstauflage seiner Glaubenslehre die „Andacht“⁵⁸ gleichsam als innere Handlung, als Gefühl kennzeichnen, zu dem im Übrigen gehört, dass es eine Beziehung „auf die Allheit des Handelns und auf dessen Einheit“⁵⁹ begleitet und sich darin dem Menschen „als Handelnden“ seine Beziehung „auf jene allgemeine Ordnung und Zusammenstimmung ausdrückt.“⁶⁰ Mit anderen Worten: Alleinheit ist das Motiv von Frömmigkeit selbst. All-Einheit steht somit für beides: dem spekulativen Ausgriff zur Verständigung über die Verfasstheit des eigenen Lebens in der Welt und einer existentiellen Lebensbewegung, die sich immer wieder von neuem vollziehen lassen muss, um über die Stiftung von Kontinuitätsbewusstsein (identitäts‐)prägend werden zu können. Gleichwohl zeigt sich im Anschluss an und Ausgang von Schleiermacher eine eigentümliche Spannung: Zielt der Alleinheitsgedanke, so sehr er vom einzelnen religiösen Subjekt ausgeht, auf die Inklusion und Integration des letzteren in eine umfassende, alles in sich greifende Einheit, so gilt doch umgekehrt: dass dieser Gedanke nur vom individuellen Subjekt je selbst vollzogen werden beziehungsweise aus ihm heraus zu sich selbst kommen kann. Das hat zum einen den Vorteil, Schleiermachers Denken nicht vorschnell als ein pantheistisches zu kennzeichnen; es bringt aber den Nachteil mit sich, dass – wie auch die Schleiermacher-Rezeption deutlich belegt – einer der beiden Pole nachrangig zu werden droht. Vom existentiellen Selbstverständigungsvollzug her gesehen jedenfalls kann Individualität und Subjektivität nicht wirklich das Ziel religiöser Sinnvollzüge sein, sondern muss sich in einem Ganzen einfügen wollen, letztlich an ihm sich brechen lassen. Die Einzelheit im Sinne einer Einzigartigkeit kann und will sich Schleiermacher nicht zu Eigen machen. An ihr würde Differenzsetzung nicht mehr ohne weiteres als eine lediglich relative aufgefasst werden können. Schon in den Reden ist es deshalb aufschlussreich, wie Schleiermacher seine eigene Vorstellung von Unsterblichkeit derjenigen entgegensetzt die auf die Rettung der Persönlichkeit und somit auf irreduzible Individualität der Subjekte bedacht ist: Was aber die Unsterblichkeit betrifft, so kann ich nicht bergen, die Art, wie die meisten Menschen sie nehmen und ihre Sehnsucht darnach ist ganz irreligiös, dem Geist der Religion zuwider […]

Schleiermacher zugänglich gemachten, Brief an K.I. Reinhold vom 8.10.1817, zitiert nach: Friedrich Heinrich Jacobi′s auserlesener Briefwechsel in zwei Bänden, Band 2, Bern 1970 [Nachdruck der Ausgabe von Leipzig 1825 – 27], 478.).  Schleiermacher, 1980, 29 (Anm. 8) (CG1 § 8.2).  Schleiermacher, 1980, 29,39 – 40 (Anm. 8) (CG1 § 8.3).  Schleiermacher, 1980, 30,1– 2 (Anm. 8).

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Erinnert Euch wie in ihr alles darauf hinstrebt, daß die scharf abgeschnittnen Umrisse unserer Persönlichkeit sich erweitern und sich allmählich verlieren sollen ins Unendliche, daß wir durch das Anschauen des Universums so viel als möglich eins werden sollen mit ihm; sie aber sträuben sich gegen das Unendliche, sie wollen nicht hinaus, sie wollen nichts sein als sie selbst, und sind ängstlich besorgt um ihre Individualität […] Strebt darnach schon hier Eure Individualität zu vernichten, und im Einen und Allen zu leben, strebt darnach mehr zu sein als Ihr selbst, damit Ihr wenig verliert, wenn Ihr Euch verliert⁶¹.

Es sind solche – nicht nur im Frühwerk auffindbare – Bemerkungen, die trotz aller Anerkennung und Wertschätzung der Individualität bei Schleiermacher Stimmen, wie die von Jacobi zumindest dahingehend Recht behalten lassen, dass von Individualität – bei ihm bekanntlich das „Fundamentalgefühl“⁶² von Menschen als Personen – als irreduzibler Größe nicht mehr die Rede sein kann. An dieser Stelle tut sich nun unweigerlich eine neue Differenz auf, wie sie in religionstypologischer Hinsicht die alten Frontstellungen von „Ost“ und „West“, von europäischem Personalismus und östlichem Monismus markierte oder wie sie sich in struktureller Perspektive aus einer Zuspitzung der Subjektivitätstheorie und ihrer Fluchtlinien ergibt:⁶³ Sie betrifft dann nicht nur die irreduzible Individualität von Personen als (fromme Subjekte), sondern mehr noch die mögliche Individualität des Göttlichen. Unter veränderten Vorzeichen meldet sich hier erneut ein klassisches Motiv theistischer Provenienz und drängt auf Geltung, das auch in scheinbar nachtheistischen Zeiten nichts von seiner existentiellen wie metaphysischen Bedeutung verloren hat: das Moment der Einzigartigkeit in der Spannung zwischen Einheit und Allheit, mit Blick auf das Göttliche und das Humane. Dieses Einzigartige gehört genau betrachtet schon zum Innovationspotential reformatorischer Theologie. Denn so, wie

 Schleiermacher, 1984, Religion, 246,9 – 18.35 – 37 (Anm. 9). Damit bestätigt sich einmal mehr, dass die von Kant so eindrücklich in Erinnerung gerufene wechselseitige Kohärenz der Ideen der (praktischen) Vernunft über die jeweiligen Konsequenzen und die Stringenz von Theorieansätzen Auskunft geben kann. Am Unsterblichkeitsgedanken bzw. am Ort philosophischer Eschatologie zeigt sich konkret, was freiheits- oder absolutheitstheoretisch vorgedacht ist.  „Individualität ist“ – so heißt es in einem Brief an Jean Paul vom 16. März 1800 – „ein Fundamentalgefühl; Individualität ist die Wurzel der Intelligenz und aller Erkenntnis; ohne Individualität keine Substantialität; ohne Substantialität überall nichts.“ (Rudolph Zoeppritz (Hg.), Aus Friedrich Heinrich Jacobi‘s Nachlaß. Ungedruckte Briefe von und an Jacobi und Andere, Bd. 1, Leipzig 1869, 238.) – Man muss dabei beachten, dass es Jacobi hier nicht um eine Repristination der traditionellen Substanzontologie, sondern um die Fassung und Auszeichnung einer wesentlichen Struktur unserer Wirklichkeitserfassung geht: „In so weit freilich wohl, da Sie [sc. der Anhänger des Spinozismus; C.P.] der Unendlichkeit die wahre Individualität absprechen, kann ihr auch kein Wille, keine Freiheit zukommen; denn diese setzen wirkliche einzelne Substantialität voraus.“ (Jacobi 2000, 184 [Anm. 6]).  Zu letzterem siehe: Henrich 1982, 99 – 124 (Anm. 56), vor allem 117: „Zwei Selbstdeutungen des Selbstbewußtseins lassen sich mit gleichem Recht aus dem Grundverhältnis herleiten. Sie unterscheiden sich dadurch voneinander, daß sie in Kenntnis des unausdenkbaren Ursprungs entweder die Einzelheit der Person oder die Reinheit des bewußten Lebens als letzte Orientierung für den Menschen aufrichten.“ Dieses Entweder/Oder ist als exklusive und vollständige Alternative zu verstehen.

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der Glaube die Person („fides autem facit personam“⁶⁴) macht, so gilt auch die lebenslange Buße als Lebensform des Christenmenschen – im Sinne der ersten der 95 Thesen Luthers – dem je einzigartigen Sünder als Gerechtfertigtem. Subjektivität, Kritik und Pluralität lassen sich vor diesem Hintergrund dann noch einmal anders lesen: Sie sind stärker auf Differenz aus – trotz aller Suche nach Einheit; sie betonen mehr die Momente des Kontrafaktischen⁶⁵ – trotz allem Festhalten an Ganzheit und Einheit; und sie rücken dabei die Einzigartigkeit beider stärker in den Mittelpunkt, Gottes und die der Menschen, als Schleiermacher dies je getan hat. Doch lebt auch diese Alternative stets von solchen Geistesgrößen, die wiederum auf deren eigene blinde Flecken aufmerksam macht. So gesehen kommt man an Schleiermacher und seinem „Gott“ nicht vorbei.

 Martin Luther [1537], Die Zirkulardisputation de veste nuptiali, WA 39/I, Weimar 1926, 282, 16.  Vgl. Jörg Dierken, Ganzheit und Kontrafaktizität. Religion in der Sphäre des Sozialen, Tübingen 2014.

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Alttestamentlicher Monotheismus als Religion der Erhabenheit Überlegungen zu Hegels Sicht der Religionsgeschichte

I Einleitung Für die Charakterisierung des Verhältnisses von Hegel zu Schleiermacher wird gemeinhin auf die Vorlesungen über die Philosophie der Religion vom Sommersemester 1821 sowie die berühmt-berüchtigte Vorrede zu Hinrichs Religionsphilosophie von 1822 verwiesen. Bei der Analyse dieser gezielten Abrechnung mit Schleiermachers Bestimmung der Religion als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit ¹ hat Walter Jaeschke in seinen paralipomena hegeliana auf die spezifische Verortung des Begriffs Abhängigkeit in Hegels Religionsphilosophie aufmerksam gemacht.² So fällt eben nicht nur ins Auge, dass Hegel im Sommersemester 1821 plötzlich erstmals eine als solche ausgewiesene religionsphilosophische Vorlesung hält. Zudem wird der Terminus Abhängigkeit für die römische Religion als „Religion der Zweckmäßigkeit“³ sowie die monotheistische Religion des Alten Testaments – die „Religion der Erhabenheit“⁴ – namhaft gemacht.⁵ Doch gerade der ästhetische Begriff der Erhabenheit ist es, welcher über die polemische Dimension der Hegelschen Erörterung des alttestamentlichen Monotheismus und die Auseinandersetzung des Sommersemesters 1821 hinaus- oder vielmehr zurückverweist. Im unmittelbar vorangegangenen Wintersemester 1820/21 liest Hegel in Berlin nämlich zunächst über die Ästhetik.⁶ In diesen Vorlesungen über die Ästhetik kommt der alttestamentliche Monotheismus als besondere Entwicklungsstufe des

 Vgl. Friedrich Schleiermacher [1821/22], Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Teilband 1, KGA I/7,1, hg. v. Hermann Peiter, Berlin / New York 1980, 33-37 (§ 9).  Walter Jaeschke, „Paralipomena Hegeliana zur Wirkungsgeschichte Schleiermachers“, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984. Teilband 2, hg.v. Kurt-Victor Selge, Berlin / New York 1985, 1157– 1169.  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 2. Die bestimmte Religion, hg.v. Walter Jaeschke, Hamburg 1994, 95.96.397.579.  Hegel 1994, 29.40.58.323.561 (Anm. 3).  Vgl. Jaeschke 1985, 1158 (Anm. 2).  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, Gesammelte Werke, Bd. 28/1, Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1820/21 und 1823, hg.v. Niklas Hebing, Hamburg 2015, 1– 214. https://doi.org/10.1515/9783110569520-011

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ästhetischen Bewusstseins zu stehen, ohne bereits als Munition für die Auseinandersetzung mit Schleiermacher herhalten zu müssen. Insofern sollen die folgenden Ausführungen einerseits Hegels Deutung der alttestamentlichen Religion in unverstellter Weise in den Blick nehmen, um andererseits gleichsam den kunstphilosophischen Vorkriegszustand der religionstheoretischen Kontroverse in Erinnerung zu rufen. Zu diesem Zwecke ist zunächst das Verhältnis von Kunst und Religion bei Hegel zu skizzieren (II). Anschließend soll vor dem Hintergrund seines Symbolbegriffs die ästhetische Bestimmung der hebräischen Religiosität unter dem Signum der Erhabenheit rekonstruiert werden (III). Ein Blick auf Verbindungen vom Erhabenen zur Gottesvorstellung Luthers schließt die Erörterung (IV).

II Das Verhältnis von Kunst und Religion bei Hegel Um die Frage nach der systematischen Möglichkeit einer Apostrophierung einzelner Stufen der Entfaltung des religiösen Bewusstseins mit Hilfe ästhetischer Kategorien angemessen einschätzen zu können, bedarf es eines Blickes auf Hegels Verhältnisbestimmung von Kunst und Religion überhaupt. Der absolute Geist fächert sich Hegel bekanntermaßen in drei Explikationsstufen auf, deren Gehalt jeweils das Unbedingte selbst darstellt, ohne dass die jeweilige besondere Ausformung dieser gemeinsamen Substanz mit den anderen Sphären übereinkäme. Die erste Stufe bildet die Kunst, die zweite die Religion im engeren Sinne und die dritte schließlich die Philosophie.⁷ Für die Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Religion sind näherhin die drei Modi der Selbstvergegenwärtigung des Geistes in seiner Absolutheit von maßgeblichem Interesse. Auf der Stufe der Kunst wird sich der Geist in der Weise des sinnlichen Scheinens selbst präsent. Demgegenüber macht Hegel für die Religion im engeren Sinne die Vorstellung als Medium des seiner selbst bewussten Geistes namhaft. Schließlich weiß sich der absolute Geist in seiner vollendeten Gestalt als Philosophie im Modus des begrifflichen Denkens. Während nun in der Forschung vornehmlich der Übergang zwischen Religion im engeren Sinne und Philosophie als der höchsten Stufe der Selbstexplikation des absoluten Geistes unter dem Stichwort der „Flucht in den Begriff“⁸ problematisiert wurde, ist für unseren Zusammenhang der vermeintliche Unterschied der jeweiligen Modi der Selbstthematisierung des Geistes in Kunst und Religion von entscheidender Bedeutung. Schließlich dürfte das Verhältnis von Kunst und Religion nur insoweit

 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, Werke 10, hg.v. Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1970, 366 – 394 (§§ 553 – 577).  Vgl. Friedrich Wilhelm Graf / Falk Wagner (Hg.), Die Flucht in den Begriff. Materialien zu Hegels Religionsphilosophie, Stuttgart 1982.

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zutreffend zu bestimmen sein, als sich auch die beiden jeweils zu Grunde liegenden Bestimmungen erkenntnistheoretischer Provenienz durchsichtig machen lassen. Blickt man nun in die einschlägigen Passagen der Nürnberger Propädeutik, so werden sinnliche Anschauung und Vorstellung oder Bild gleichermaßen im Kontext der Psychologie bzw. Lehre vom subjektiven Geist unter der übergeordneten Rubrik der „Vorstellung“⁹ verhandelt. In diesem Zusammenhang kommt die sinnliche Anschauung auf der unteren Stufe der basalen Verknüpfung sinnlicher Eindrücke des Gemüts zur Vorstellung eines unmittelbar gegenwärtigen Objekts der Wahrnehmung zu stehen. „Die Anschauung ist die unmittelbare Vorstellung, worin die Gefühlsbestimmungen zu einem vom Subjekte abgetrennten Gegenstande gemacht sind, welcher frei von dem einzelnen Subjekte und zugleich für dasselbe ist.“¹⁰ Demnach stellt die sinnliche Anschauung diejenige Explikationsstufe der Vorstellung überhaupt dar, auf welcher dem vorstellenden Subjekt der Gegenstand seiner verknüpfenden Tätigkeit in der sinnlichen Wahrnehmung unmittelbar gegeben ist. Die Sinneseindrücke, aus deren Verknüpftsein im Bewusstsein das Objekt der sinnlichen Vorstellung generiert wird, sind der synthetisierenden Instanz im Raume gegenwärtig. Gegenüber dieser unmittelbaren Gegenwart sinnlicher Eindrücke des Gemüts und ihrer Verknüpfung zum Objekt der Wahrnehmung tritt auf der Stufe der Vorstellung im engeren Sinne ein spezifischer Überschritt ein. Denn sofern die subjektive Seite der Genese des Wahrnehmungsgegenstandes bedacht wird, haben wir es nicht mehr zwingend mit der unmittelbaren Präsenz sinnlicher Eindrücke zu tun. Vielmehr tritt der Objektivität des sinnlichen Gegenstandes die Innerlichkeit der Wahrnehmung zur Seite. „Die Anschauung ist […] als Objekt zugleich für das Subjekt.“¹¹ – wie Hegel sagt. Diese Aneignung der Mannigfaltigkeit von Sinneseindrücken im Modus ihrer Verknüpfung zum wahrgenommenen Gegenstand zeitigt eine Umformung desselben. Das sinnliche Objekt der Anschauung wird gleichsam zum inneren Besitz der vorstellenden Instanz gewandelt. Dabei findet eine Transformation der unmittelbaren Anschauung des Gegenstandes durch seine Verknüpfung im Subjekte statt. „Dies letztere […] scheidet sich von der Objektivität, indem es die Anschauung zum Bilde macht.“¹² Damit wird zugleich das Objekt als Produkt der synthetisierenden Operation des Bewusstseins von der Notwendigkeit der unmittelbaren raum-zeitlichen Gegenwart sinnlicher Eindrücke abgelöst. „Die Anschauung ist als Vorstellung die eigene Zeit und der eigene Raum des Subjekts, in die Zeit und den Raum als allgemeine Formen versetzt.“¹³ Demnach ergibt sich auf der Ebene der sinnlichen Vorstellung im weiteren Sinne eine Binnendifferenzierung, welche wesentlich an der raum-zeitlichen Gegen-

 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophische Enzyklopädie für die Oberklasse, Werke 4, hg.v. Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1970, 9 – 69, hier 43.  Hegel 1970, Enzyklopädie für die Oberklasse, 44, § 135 (Anm. 9).  Hegel 1970, Enzyklopädie für die Oberklasse, 45, § 139 (Anm. 9).  Hegel 1970, Enzyklopädie für die Oberklasse, 45, § 139 (Anm. 9).  Hegel 1970, Enzyklopädie für die Oberklasse, 45, § 141 (Anm. 9).

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wart sinnlicher Eindrücke hängt. Sofern dem vorstellenden Subjekt der Gegenstand seiner Wahrnehmung in Form sinnlicher Perzeptionen gegeben ist, haben wir es mit dem Vorstellungsmodus der unmittelbaren sinnlichen Anschauung zu tun. Sofern das Subjekt hingegen die sinnliche Vorstellung bereits gehabt hat, ist dieselbe zum inneren Bilde transformiert und von der Notwendigkeit unmittelbarer Sinneseindrücke befreit. Folglich ist innerhalb des Begriffs der (sinnlichen) Vorstellung im weiteren Sinne zwischen der unmittelbaren Anschauung und dem inneren Bilde bzw. der sinnlichen Vorstellung im engeren Sinne zu unterscheiden. Dem Begriff der Vorstellung gehört freilich neben sinnlicher Anschauung und innerem Bild noch eine dritte Gestalt an. Selbige findet sich nicht mehr im Kontext der Thematisierung sinnlicher Gegenständlichkeit, sondern auf der Ebene „theoretischer Mitteilung“¹⁴ mit Hilfe der Sprache. Das entscheidende Merkmal der Sprache ist für Hegel nämlich, „daß durch die Artikulation der Töne nicht nur Bilder in ihren Bestimmungen, sondern auch abstrakte Vorstellungen bezeichnet werden. – Die konkrete Vorstellung wird überhaupt durch das Wortzeichen zu etwas Bildlosem gemacht, das sich mit dem Zeichen identifiziert.“¹⁵ Jenes Bildlose macht demnach als abstractum die höchste Stufe der Vorstellung aus. Die Sprache verbleibt als Medium der theoretischen Mitteilung eben nicht auf der Ebene der sinnlichen Vorstellung als unmittelbarer Anschauung oder innerem Bilde. Vielmehr markiert es im Modus der lautlichen Artikulation die Sphäre des abstrakt Allgemeinen. „Der Ton ist die flüchtige Erscheinung einer Innerlichkeit, die in dieser Äußerung nicht ein Äußerliches bleibt, sondern sich als ein Subjektives, Innerliches kundgibt, das wesentlich etwas bedeutet.“¹⁶ Der Begriff der Vorstellung differenziert sich bei Hegel folglich in 1) sinnliche Vorstellung und 2) abstrakte Vorstellung oder Bedeutung, wobei sich die sinnliche Vorstellung wiederum in a) sinnliche Anschauung und b) inneres Bild oder Vorstellung aufgliedert. Daraus resultiert nun freilich für die drei Modi der Selbstvergegenwärtigung des Absoluten im Geiste, dass sich Kunst und Religion insofern wesentlich näherstehen denn Religion und Philosophie, als der qualitative Sprung auf der Ebene ihrer Repräsentationsmedien ebenso sehr zwischen religiösem Bild und abstraktem Begriff anzusiedeln ist. Die Differenz von Religion im engeren Sinne und Philosophie korrespondiert derjenigen von sinnlicher und abstrakter Vorstellung, wohingegen zwischen Kunst und Religion eine innere Affinität auszumachen ist allein schon aufgrund ihres Rückgriffs auf das gemeinsame Medium der sinnlichen Vorstellung anstelle der abstrakten Allgemeinheit des Gedankens. In diesem Zusammenhang stellt der Unterschied zwischen sinnlicher Anschauung und innerem Bilde lediglich eine Binnendifferenzierung innerhalb der sinnlichen Vorstellung dar. Die Zeus-Statue der alten Griechen bedient sich ebenso der sinnlichen Vorstellung wie die Heilsgeschichte

 Hegel 1970, Enzyklopädie für die Oberklasse, 52, § 157 (Anm. 9).  Hegel 1970, Enzyklopädie für die Oberklasse, 52, § 157 (Anm. 9).  Hegel 1970, Enzyklopädie für die Oberklasse, 52, § 157 (Anm. 9). (Hervorhebung F.B.).

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von der Inkarnation des Gottessohnes. Lediglich bezüglich des Aspekts der raumzeitlichen Präsenz des jeweiligen Inhalts der sinnlichen Vorstellung ist ein qualitativer Unterschied zu konstatieren, sofern es sich beim Götterbild um eine unmittelbar gegenwärtige Gestalt sinnlicher Vorstellung handelt, während auf der Stufe der Religion im eigentlichen Verstande bei Hegel die Innerlichkeit der (sinnlichen) Vorstellung maßgeblich zu sein scheint. Diese Gemeinsamkeit von Kunst und Religion hinsichtlich der Sinnlichkeit ihres subjektiven Vorstellens im Gegenüber zur Abstraktheit der Vorstellung auf dem Felde der Philosophie als spekulativer Vollendungsgestalt des absoluten Geistes plausibilisiert darüber hinaus ein religionsgeschichtliches Phänomen, welches sich nicht zuletzt bei der Kategorisierung der Gestalten des religiösen wie ästhetischen Bewusstseins in Hegels Philosophie niederschlägt. Der Umstand, dass sich Hegel offenkundig ästhetischer Kategorien zur analytischen Beschreibung von Gestalten des religiösen Bewusstseins bedient, ist ja seinerseits nicht nur der Ausdruck einer systemtheoretisch bedingten Koinzidenz beim Rückgriff auf den Begriff der Vorstellung. Vielmehr spiegelt sich darin die religionsgeschichtliche Erscheinung einer grundlegend künstlerischen Gestalt von Religiosität. Namentlich ist für die Betrachtungen Hegels auf seine Bestimmung der Religion der alten Griechen zu verweisen, welche unter dem Signum der „Religion der Schönheit“¹⁷ zu stehen kommt. Für Hegel hat sich im antiken Hellas die Religiosität im Modus der Kunst ausgebildet. Dies wird an der klassischen griechischen Statue festgemacht, deren Plastizität doch zugleich in jeder Einzelheit die Gottheit als solche zum Ausdruck bringt. Ebenso kann Hegel die dionysisch-trunkene Versammlung des Volkes bei den Spielen als sinnliche Verkörperung der hellenischen Vorstellung vom Göttlichen verstehen. Das Religiöse drückt sich demnach im antiken Griechenland am Orte der Kunst aus. Die Idee der Religion verwirklicht sich in der ästhetischen Produktion der Griechen, sodass sich das religiöse Bewusstsein als ein ästhetisches Phänomen kundgibt. Mithin kommt es im Falle der alten Griechen zu einer veritablen Substitution der Kulturfelder. Die Religion erscheint als Kunst. Sie wird gleichsam durch die Ästhetik ersetzt, wie dies anhand der Plastiken des Phidias exemplifiziert sei. Das „Leben in der Religion“¹⁸ – wie Hegel das Selbstverhältnis des (absoluten) Geistes in den Vorlesungen über die Ästhetik bezeichnen kann – vollzieht sich potentiell eben sowohl im Medium der sinnlichen Anschauung (Kunst) wie des inneren Bildes (Religion) wie auch der abstrakten Vorstellung (Philosophie). Dass sich Hegel demnach neben der Kategorie der Schönheit ebenso derjenigen der Erhabenheit bedienen kann, um eine spezifische Formation der antiken Religionsgeschichte auf den Begriff zu bringen, dürfte kaum mehr verwundern.

 Hegel 1994, 66.353.532.534 (Anm. 3).  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, Werke 13, hg.v. Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1970, 139.

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III Symbol und Erhabenheit Das Erhabene wird von Hegel im weiteren Kontext der symbolischen Kunstform verortet, wobei sich bei der Durchsicht der einzelnen Vorlesungsjahrgänge kleinere Verschiebungen hinsichtlich des genaueren Ortes ergeben, die wir hier auf sich beruhen lassen können. Das Symbol selbst wiederum wird als partielle Koinzidenz der beiden Momente des Ästhetischen – Bedeutung und Ausdruck – gefasst, wobei eine sinnliche Gestalt in ihrer gegebenen Beschaffenheit den ideellen Gehalt, der versinnbildlicht werden soll, bereits enthält. „Der Löwe z. B. ist das Symbol der Stärke, Stärke ist seine allgemeine Vorstellung.“¹⁹ Freilich beinhaltet die sinnliche Erscheinung eines Löwen neben der körperlichen Stärke noch andere Eigenschaften, die im Rahmen der Symbolisierung der Stärke vom Bewusstsein ausgeblendet werden. Zu denken wären an die gelben Zähne oder dergleichen. „Deshalb ist das Symbol auch oft dunkel und zweideutig.“²⁰ Im Symbolischen kommen die abstrakte Vorstellung, welche ins Bild gesetzt werden soll, und die sinnliche Gestalt – wie im Falle der Stärke des Löwen – nur teilweise überein. Der partiellen Angemessenheit des symbolischen Ausdrucks korrespondiert die partielle „Unangemessenheit“²¹ desselben für den avisierten ideellen Gehalt. „Das Symbolische überhaupt enthält eine Bedeutung, allgemeine Vorstellung, Gedanken oder Begriff, der sich in einem Bilde darstellt. […] Bei dem Symbol setzen wir also einen Unterschied zwischen der Bedeutung und dem Ausdruck, Daseyn dieser Bedeutung.“²² Insofern auf der Stufe des Symbolischen jedoch beide Momente des Ästhetischen – abstrakte Vorstellung und sinnliche Gestalt – zu keiner adäquaten Synthesis gebracht sind, kann von einer konstitutiven Inkommensurabilität von Bedeutung und Ausdruck auf dieser Stufe des ästhetischen Bewusstseins gesprochen werden. „Denn bei einem Symbole ist der Zusammenhang des Ausgedrücktseynsollenden und des Ausgedrückten zwar vorhanden, aber nicht vollkommen; das Ausgedrückte enthält zwar die Bestimmungen, die es zu dem machen, was es seyn soll; es treten aber noch andre Bestimmungen, äußerliche gleichgültige Formen zu dem Ausgedrückten hinzu.“²³ Aus dieser grundlegenden Inkommensurabilität von ideellem Gehalt und sinnlicher Erscheinung resultieren verschiedene Möglichkeiten der Relationierung beider Seiten. Einerseits können Bedeutung und Ausdruck in ein positives Verhältnis gesetzt werden, indem das Sinnliche stets als manifeste Gestalt des Verweises auf die Idealität  Hegel 2015, 66 (Anm. 6).  Hegel 2015, 66 (Anm. 6).  Hegel 2015, 18 (Anm. 6).  Hegel 2015, 66 (Anm. 6).  Hegel 2015, 18 (Anm. 6).Vgl. Hegel 1970, 50, § 154 (Anm. 9): „Das Symbolisieren der Einbildungskraft besteht darin, daß sie sinnlichen Erscheinungen oder Bildern Vorstellungen oder Gedanken anderer Art unterlegt, als sie unmittelbar ausdrücken, die jedoch eine analoge Beziehung mit ihnen haben und jene Bilder als den Ausdruck derselben darstellen.“

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der Bedeutung verstanden wird. Diese positive Form der Erhabenheit identifiziert Hegel mit dem Pantheismus der alten Inder, Perser und bestimmter Spielarten christlicher Mystik. Die positive Erhabenheit findet ihren religiösen Niederschlag in der Vorstellung von Gott als dem All-Einen. Andererseits können im Rahmen der Religionsgeschichte und ihrer ästhetischen Gestaltungen die sinnliche Sphäre und der ideelle Gehalt des Bewusstseins einer grundsätzlich negativen Verhältnisbestimmung zugeführt werden. Dabei nimmt das religiöse Subjekt seinen Ausgang bei der abstrakten Vorstellung eines Allgemeinen überhaupt. Die ideelle Bedeutung wird als wesentlicher Gehalt des Bewusstseins erkannt, an dessen unbedingter Dignität der prinzipielle Rang der sinnlichen Erscheinung strandet. Der ideelle Gehalt wird im Modus der Absolutheit gefasst – „der Begriff, das Denken, an sich, als das absolut Bedeutende“²⁴ gewürdigt. In diesem Zusammenhang bleibt das ideelle Moment des Symbolischen für das ästhetische Bewusstsein jedoch nicht auf seine Funktion im Gefüge des Kunstwerks beschränkt. Vielmehr drückt sich die Einsicht in die Absolutheit des Allgemeinen in der Strukturisomorphie des ideellen Gehalts mit dem Vollzug des Subjekts selbst aus. „Die absolute Bedeutung ist […] das Selbstbewußtseyn, das Denken selbst“²⁵. Das Allgemeine der Bedeutung entspricht als absolutes notwendig dem Gefüge des Selbstbewusstseins. Die Bedeutung tritt im Modus ihrer Absolutheit nicht in eine andere Ordnung ein, sondern begreift den Unterschied von Bedeutetem und Bedeutendem in sich. Anders gesagt ist Bedeutung stets „Bedeutung von…“ und birgt demnach in sich bereits eine Mannigfaltigkeit, welche zur Synthesis gebracht wird. Insofern kann Hegel vor dem Hintergrund der Selbstbewusstseins- bzw. Negativitätsstruktur des Ideellen mit Recht von absoluter Bedeutung sprechen. Selbige ist für unseren Zusammenhang nun der entscheidende Ausgangspunkt, da sich dem ästhetischen Bewusstsein im Kontext der religiösen Vorstellungswelt des Alten Testaments jene absolute Bedeutung in der Objektivation des hebräischen Gottesgedankens imprägniert. Auf diese Weise wird die grundlegende Idealität des Allgemeinen dem frommen Subjekt dieser religionsgeschichtlichen Formation als Dreh- und Angelpunkt der eigenen Reflexion eingeschrieben. Die Vorstellung des einen und einzigen Gottes stellt mithin die religiöse Grundlage des ästhetischen Bewusstseins einer unbedingten Geltung des ideellen Gehalts dar. Der hebräische oder alttestamentliche Monotheismus wird als Monotheismus der (absoluten) Bedeutung exponiert. „Bei dieser Vorstellung setzen wir als das absolut Bedeutende den Einen Gott, das absolut Allgemeine, das Eine, gegen welches die Natur und der menschliche Geist das Dienende, seine Verherrlichung, sein Geschenk sind, und wogegen er sich als absolute Macht verhält, mit der wesentlichen Bestimmung, Herr zu sein.“²⁶

 Hegel 2015, 85 (Anm. 6).  Hegel 2015, 84 (Anm. 6).  Hegel 2015, 85 (Anm. 6).

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Demnach geht mit der absoluten Geltung des ideellen Gehalts – Gottes als des Einen und Einzigen – notwendig die Depotenzierung der sinnlichen Phänomene überhaupt einher. Letztere kommen nunmehr lediglich in der Position des Endlichen zu stehen, dessen Mangel an Bedeutung ihnen nur noch die Funktion der Verherrlichung des abstrakten Göttlichen gewährt. Der absoluten Macht des Schöpfergottes korrespondiert die Ohnmacht der Kreatur. Für das ästhetische Bewusstsein bedeutet dies ebenjene Inkommensurabilität von Bedeutung und Ausdruck, welche bereits für das Symbolische überhaupt kennzeichnend war. Jedoch geht die strukturelle Unangemessenheit von ideellem Gehalt und sinnlicher Gestalt auf der Stufe des alttestamentlichen Monotheismus und seiner ästhetischen Ausformung mit einem Wissen um die Inadäquatheit von absolutem Sinn und endlicher Sinnlichkeit einher. Diese „classische Erhabenheit“²⁷ – wie Hegel diese Explikationsstufe des ästhetischen Bewusstseins nennt – stellt sich in charakteristischer Weise als ein Bewusstsein der Inkommensurabilität von Bedeutung und Ausdruck dar. „[I]n ihr liegt die Bestimmung, sich zu erheben zu der Einen reinen Substanz, von der alles ausgeht, und zu der alles zurückkehrt. Sie ist […] nur eine abstrakte Vorstellung, steht aber weit höher als die concrete [sc. sinnliche] ihr gegenüberstehende Vorstellung.“²⁸ Dieses Bewusstsein der Inkommensurabilität von ideellem Gehalt und sinnlicher Gestalt drückt sich für Hegel vornehmlich in den dichterischen Produktionen der Hebräer aus. „Bei aller Härte und Strenge ihres Cultus und ihrer Gesetze, müssen wir doch ihrer classischen Erhabenheit, die sich in ihren Gesängen und Poesien ausspricht, Gerechtigkeit widerfahren lassen. Diese Gesänge, diese Lobreden auf das Absolut-Allgemeine, auf das Eine, sind immer noch herrlich und groß.“²⁹ Das Bewusstsein der Unangemessenheit der eigenen Gestaltungsmittel angesichts der Absolutheit und Selbständigkeit der Bedeutung wird vor allem in den Psalmen in exemplarischer Weise zum Ausdruck gebracht. Hegel macht für dieses Innesein der notwendigen Inadäquatheit von Sinnlichkeit und Idealität Ps 104, Ps 97 und Ps 136 geltend, insofern jeweils die Depotenzierung der sinnlichen Phänomene angesichts der unbedingten Würde des Allgemeinen zum Gegenstand der ästhetischen Gestaltung gemacht wird. „Ihre Hauptseite ist […] diese Erhabenheit, daß das Eine, der Herr es ist, von dem alles herkommt, und an dem alles nur zur Verherrlichung dient.“³⁰ Die unbedingte Bedeutsamkeit der Allgemeinheit überhaupt für das Bewusstsein dieser Stufe artikuliert sich für Hegel in der Vorstellung von der Macht und Herrschaft der Gottheit. Dieser Schlüsselgedanke des ästhetischen Bewusstseins der Erhabenheit kommt in paradigmatischer Weise in der poetischen Rede von der göttlichen Erschaffung der Welt durchs Wort zum Ausdruck. „Ein berühmtes Beispiel der Erhabenheit in den jüdischen Darstellungen ist der Ausdruk im Buche Mosis: ‚Gott sprach:    

Hegel 2015, 85 (Anm. 6). Hegel 2015, 85 (Anm. 6). Hegel 2015, 86 (Anm. 6). Hegel 2015, 85 (Anm. 6).

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es werde Licht, und es ward Licht.‘“³¹ Damit greift Hegel bereits in der Ästhetik-Vorlesung vom Wintersemester 1820/21 auf den klassischen Beleg des Longin bzw. Pseudo-Longin für die Erhabenheit der hebräischen Dichtkunst zurück,³² ohne dessen Namen eigens zu erwähnen. Dies erfolgt dann erst 1824 im Rahmen der Religionsphilosophie. ³³ Mit der Einsicht in die Absolutheit und Selbständigkeit des Allgemeinen in Gestalt des alttestamentlichen Schöpfergottes gehen für Hegel auf Seiten der sinnlichen Phänomene drei Gestalten der Emanzipation einher. Letztere stellen sich als mittelbares Resultat der Potenzierung des ideellen Gehalts zur absoluten Bedeutung dar. Die erste mittelbare Emanzipation im Kontext des Bewusstseins negativer Erhabenheit betrifft die Vorstellung vom Menschen. Dieser wird im Angesicht der Macht des Herrn zum Geschöpf herabgestuft, dem jegliche Bedeutsamkeit abgeht. Freilich geht mit dieser massiven Restriktion auf den Verweischarakter zugunsten des Allgemeinen der Gottheit die Entkoppelung des Humanen von der Sphäre des Göttlichen einher. „In Rücksicht des Menschen muß bemerkt werden, daß das Denken vor dem Herrn ganz verschwindet, und daß andrerseits gerade durch dieses Denken die freie Persönlichkeit des Menschen hervorgeht.“³⁴ Diese Emanzipation des menschlichen Subjekts als Resultat der Einsicht in die absolute Geltung der Bedeutung äußert sich für Hegel – ganz aufklärerisch gedacht – in dem Erwachen zur Sittlichkeit, dem „Abscheiden des Guten vom Bösen. Dadurch tritt überhaupt die Hoheit des Menschen auf, sein Selbstgefühl.“³⁵ Die zweite Form der Emanzipation auf der Stufe des Bewusstseins der Erhabenheit der absoluten Bedeutung betrifft den Weltbegriff. Insofern nämlich Gott und Mensch für sich aufgefasst sind, kommt auch die Relation des humanen Subjekts zur sinnlichen Sphäre erneut aufs Tableau. „Indem nun so das Absolute, Eine, als Macht da steht, und andrerseits die freie Persönlichkeit auch ihr Recht erhält, so geht daraus von selbst hervor, […] daß die Dinge in ihrem wahrhaften Verhältniße zum Menschen erscheinen.“³⁶ Der Bereich der sinnlichen Phänomene präsentiert sich dem Bewusstsein nicht mehr als Kampfplatz des Göttlichen, sondern wird vor dem Hintergrund der Selbständigkeit des erhabenen Schöpfers einer Profanisierung unterzogen. Die Welt ist nunmehr vorrangig die Sphäre des Gegenständlichen für das vorstellende

 Hegel 2015, 85 (Anm. 6).  Longinus, Vom Erhabenen, griech. / dt., hg. u. übers. v. Otto Schönberger, Stuttgart 1988, 25 – 27 (Kap. 9,9): „Ebenso hat auch der Gesetzgeber der Juden, gewiß nicht der erste beste, weil er die Macht des Göttlichen würdig auffaßte, diese auch sprachlich geoffenbart, indem er gleich am Beginn seiner Gesetze schrieb ‚Gott sprach‘ – was? ‚Es werde Licht, und es ward Licht; es werde Land und es ward.‘“ Vgl. Martin Fritz, Vom Erhabenen. Der Traktat ‚Peri Hypsous‘ und seine ästhetisch-religiöse Renaissance im 18. Jahrhundert, Tübingen 2011, 28 – 158.  Vgl. Hegel 1994, 332 (Anm. 3).  Hegel 2015, 86 (Anm. 6).  Hegel 2015, 87 (Anm. 6).  Hegel 2015, 85 (Anm. 6).

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Subjekt. „Dadurch wird die Natur, so zu sagen, ganz entgöttert.“³⁷ Diese Entgötterung der Welt stellt selbige der freien Naturbetrachtung durch den Menschen anheim, der seine profane Umgebung daraufhin zu erfassen sich anschickt. „Mit der Bestimmung, daß die Naturgegenstände in ihrer Bestimmtheit, Begrenzung erkannt werden, damit kann verknüpft werden, daß die lebendigen Gegenstände in ihrer freien Lebendigkeit aufgefaßt werden, aber ohne, daß ihnen mehr zugeschrieben werde, als dieses Lebendige zu seyn.“³⁸ Hegel verweist dafür auf die Naturbetrachtung im Buche Hiob.³⁹ Die dritte Gestalt der Emanzipation erstreckt sich schließlich auf die Sittlichkeit des menschlichen Subjekts. Letztere wird von Hegel im Sinne eines Resultats der Einsicht in die Endlichkeit und Vergänglichkeit des Sinnlichen überhaupt gedeutet. Die Entgötterung der Welt zeitigt für alle Erscheinung – den Menschen als endliches Geschöpf eingeschlossen – Folgen bezüglich ihres Ranges gegenüber der absoluten Bedeutsamkeit des Ideellen. Sie sind samt und sonders durch ein konstitutives Bedeutungsdefizit gekennzeichnet, welches auf der Stufe des Bewusstseins der Erhabenheit freilich in dichterischer Gestalt reflektiert wird. Dieses „Anerkennen der Vergänglichkeit dieser Dinge […] offenbart sich oft sehr groß und erhaben, z. B. im 90. Psalm.“⁴⁰ Jedoch verbleibt das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit nicht auf der Ebene bloßer Selbstbezeichnung. Vielmehr schreitet die subjektive Reflexion zur Deutung des endlichen Charakters ihrer selbst als Ausdruck eines sittlichen Defizits fort. Der Mangel an Bedeutsamkeit wird zur Vorstellung einer Sündhaftigkeit der Kreatur entwickelt. „Das Bewußtseyn dieser Endlichkeit drückt sich […] bestimmter aus in Beziehung auf die Sittlichkeit, und somit tritt der tiefere Begriff der Sünde ein. Sünde ist nicht ein einzelnes Verbrechen […], sondern es ist die Verletzung des Göttlichen, des Absoluten, des allein Mächtigen“⁴¹. Zugleich entspringt aus dem Wissen um die sittliche Unterscheidung von Gut und Böse – ganz im Sinne der aufgeklärten Lektüre von Gen 3 (felix culpa) – die Dignität des Menschen, „[d]ieses Verhältniß also, daß der Mensch gegen das Absolute nur ein Nichtiges, ein Organ ist, und doch in sich ein an und für sich Seyendes“⁴². Somit setzt der alttestamentliche Monotheismus als Religion der Erhabenheit auf der Basis seines Bewusstseins der Inkommensurabilität von absoluter Bedeutung und endlichem Ausdruck ein emanzipatives Potential in Bezug auf Mensch und Welt frei.

 Hegel 2015, 85 (Anm. 6).  Hegel 2015, 85 (Anm. 6).  Vgl. Hegel 2015, 87– 88 (Anm. 6): „So finden wir auch im Hebräischen solche prächtigen Naturbeschreibungen und besonders Beschreibungen des Lebendigen. Zu den berühmtesten dieser Art gehören die im Buche Hiob, von Behemoth und Leviathan. Hier sind die Gestaltungen geehrt, in ihrer freien Kräftigkeit aufgefaßt.“  Hegel 2015, 88 (Anm. 6).  Hegel 2015, 88 (Anm. 6).  Hegel 2015, 89 (Anm. 6).

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IV Schluss Fragt man vor dem Hintergrund des diesjährigen Reformationsjubiläums nun nach Anknüpfungspunkten der Hegelschen Bestimmung des alttestamentlichen Monotheismus mit Hilfe der ästhetischen Kategorie der Erhabenheit, so wird man vor allem Luthers Offenbarungsverständnis in den Blick nehmen dürfen. Letzteres hat er – wie könnte es anders sein – in doppelter Gestalt niedergelegt. Zum einen expliziert Luther in der Heidelberger Disputation (1518) seinen Gedanken einer Offenbarung der Herrlichkeit Gottes im Modus ihrer Verborgenheit unter dem Gegenteil des Kreuzes.⁴³ Der Deus absconditus offenbart sich sub contrario modo. Zum anderen ist das Verhältnis von Deus absconditus und Deus revelatus in De servo arbitrio (1525) noch einmal ganz anders gelagert.⁴⁴ Hier geht der Verborgene nicht vollständig in seiner Offenbarung auf – selbst in der Offenbarung unter dem Gegenteil nicht. Vielmehr wird mit dem Verweis auf den Deus ipse ein offenbarungstheoretisches Defizit markiert, welches für Luther nicht einzuholen ist. Es bleibt – mit Ulrich Barth gesprochen – ein „blinder Fleck“⁴⁵ in der Offenbarungserkenntnis. Das Absolute geht nicht in der Gestalt seiner Offenbarung auf, sondern schießt gleichsam darüber hinaus. Insofern lässt sich hier unschwer die Struktur der Inkommensurabilität von absoluter Bedeutung und bedingtem Ausdruck ausmachen, wie sie für die Erhabenheit kennzeichnend war. Das zu Offenbarende entzieht sich letztlich der vollständigen Offenbarung seiner selbst. Demnach birgt die Luthersche Fassung der Gottesvorstellung ein Gefüge, das demjenigen der Religion der Erhabenheit entspricht. Folglich lassen sich in Hegels Deutung des alttestamentlichen Monotheismus wesentliche Motive für die Explikation des reformatorischen Gottesbildes ausfindig machen, die ebenso dem Verdikt gegenüber Schleiermacher einiges an Schärfe und Plausibilität nehmen dürften.

 Vgl. Ulrich Barth, „Die Dialektik des Offenbarungsgedankens. Luthers Theologia crucis“, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 97– 123.  Vgl. Barth 2004, 115 – 116 (Anm. 43).  Barth 2004, 115 (Anm. 43).

Simon Gerber / Berlin

Marheineke, Schleiermacher und das Reformationsjubiläum von 1817 1 Das Jubiläum von 1817 Marheineke’s Reformationsgeschichte […] gefällt mir beim ordentlichen Lesen weit weniger als beim ersten Blättern. Es ist doch gar zu wenig eigentliche Composition darin, und in den Auszügen wiederum zu viel fremdartiges mit aufgenommen. Das politische und literarische ist fast ganz vernachlässigt; und im Stil ist auch der gute Vorsaz sich dem volksthümlichen anzunähern auf der einen Seite ins abenteuerliche hineingetrieben, auf der andern nichts weniger als treu gehalten.¹

So schrieb Friedrich Schleiermacher am 15. September 1817 an seinen Freund, den Hallenser Philologen und reformierten Prediger Gottfried Ludwig Blanc. Schleiermacher und der zwölf Jahre jüngere Marheineke waren Kollegen an der Berliner theologischen Fakultät, später sollten sie es auch als Pfarrer an der Dreifaltigkeitskirche werden, und beide beteiligten sich am 300jährigen Jubiläum des Lutherschen Thesenanschlags. Schleiermacher sollte bei der akademischen Feier am dritten November die lateinische Festrede halten und hatte zur Vorbereitung darauf Marheinekes schon vorliegenden Hauptbeitrag zum Jubiläum studiert, die Geschichte der teutschen Reformation. Kontakt zwischen beiden hatte nicht erst bestanden, seit Schleiermacher Marheineke Ende 1810 nach Berlin berufen hatte,² sondern schon seit 1806: Marheineke schrieb Schleiermacher, dessen Reden über die Religion hätten in ihm eine wohltätige Veränderung gezeitigt, er hat seinerseits aber mit seinem Konzept einer Universalkirchenhistorie, die die Objektivierung der idealen Religion in der Geschichte beschreibt, wohl auch auf Schleiermacher gewirkt.³ Das Jubiläum wurde in ganz Deutschland im großen Stil begangen, selbst in den katholischen Bundesstaaten. Die letzten Jahre hatten die Befreiung vom Joch Napoleons und eine politische Neuordnung gebracht; das Jubiläum wurde Anlass zur Selbstdeutung, Selbstfindung und Bestandsaufnahme des Protestantismus, die denn auch sehr mannigfaltig geriet. Man feierte den Ausbruch aus Unwissenheit und Unmündigkeit, den Sieg von Vernunft, Toleranz und Selbstbestimmung über die Unterdrückung der Geister und Gewissen, verglich aber auch andererseits die seinerzeitige päpstliche Hegemonie mit dem nicht weniger tyrannischen Rationalismus der Gegenwart. Luthers deutsche Befreiungstat schlug die Brücke zu Marschall Vorwärts und

 Wilhelm Dilthey (Hg.), Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, Bd. 4, Berlin 1863, 222.  Friedrich Schleiermacher, Brief *3480, KGA V/11, hg.v. Simon Gerber / Sarah Schmidt, Berlin / New York 2016, 456.  Vgl. Simon Gerber, Schleiermachers Kirchengeschichte, Tübingen 2015, 91– 95. https://doi.org/10.1515/9783110569520-012

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Simon Gerber / Berlin

anderen Helden des beendeten Krieges, seine Bibelübersetzung mahnte zu neuer Sammlung um das göttliche Wort, sein Bekennermut hielt der schlaffen, glaubensarmen Gegenwart den Spiegel vor.⁴ In gewisser Weise erkennt man darin schon das 500. Jubiläum der Reformation: Laut der Sonderausgabe des evangelischen Magazins chrismon zum 31. Oktober 2016 ist Reformation ein Aufruf zu Engagement und konkretem Handeln, sie bedeutet, für Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit einzutreten, immer auf der Suche zu bleiben, für etwas zu kämpfen, statt sich mit Dingen bloß abzufinden, aber auch, in der Politik sich auf vorletzte Dinge zu beschränken und in Anbetracht der Freiheit eines Christenmenschen nicht dem Perfektionismus und anderen Ideologien zu verfallen.⁵

2 Marheinekes Beiträge zum Jubiläum Marheineke veröffentlichte 1818 eine Sammlung mit u. a. fünf Reformationspredigten, davon zweien vom Jubiläumsjahr 1817. Von diesen zwei hat er offenbar nur eine tatsächlich gehalten, nämlich nach Angabe des Buches am 14. September in Hanau, der Heimat seiner Frau, während die andere Predigt eine reine Lesepredigt war. Die Hanauer Predigt hat die Geschichte von Jesu Sturmstillung zum Text (Mt 8,23 – 28): Zu den Stürmen, die das Schifflein Christi bis heute erschütterten, gehöre die Verpflanzung westeuropäischer Flachheit mit ihrem oberflächlichen Witz und ekelhaften Leichtsinn auf den Boden der deutschen evangelischen Kirche; all das sei nicht den Reformatoren anzulasten, wie denn auch der Sturmwind nicht von Christus oder seinem Schiff herkomme, sondern immer von außen. Wind und Wellen sei es aber zugleich zu verdanken, dass das Schiff stets weiterfahre und sich die Besatzung mit Christi Hilfe im Glauben bewähre, und so sei die Kirche nunmehr auch schon nicht mehr da, wo sie zur Zeit der Reformation gewesen sei.⁶ Die Lesepredigt – sie geht über Jesu Wort von der Wahrheit, die frei macht (Joh 8,31– 32) – sieht das Göttliche der

 Vgl. Theologische Nachrichten 1818, 37– 43. 66 – 87.122 – 165.197– 245.263 – 293.321– 337.367– 393.427– 433 (Berichte über die staatlichen und kirchlichen Bestimmungen und über die Feiern in den deutschen Staaten, Lieder und Texte zum Jubiläum); Lutz Winckler, Martin Luther als Bürger und Patriot, Lübeck / Hamburg 1969; Wichmann von Meding, Kirchenverbesserung, Bielefeld 1986; Dorothea Wendebourg, „Die Reformationsjubiläen des 19. Jahrhunderts“, ZThK 108 (2011), 270 – 335, hier 278 – 279.284– 285.290 – 298.311– 319.  „Was mir Reformation bedeutet“, chrismon spezial, das evangelische Magazin zum Reformationstag 2016, 4– 5. – Vgl. auch Wichmann von Meding, „Die Reformation bejubeln? Ein ungehaltener Vortrag“, DtPfrBl 116 (2016), 492– 496, der einen kritischen Durchgang durch verschiedene Versuche, die Reformation und ihre Gegenwartsbedeutung zu würdigen, macht.  Philipp Marheineke, Fünf Reformations-Predigten nebst mehreren andern Religionsvorträgen, Berlin 1818, 25 – 54, wieder abgedruckt in: Sammlung auserlesener Jubel-Predigten und Gedichte. Zur Erinnerung an das dritte Jubel-Fest der evangelischen Kirche, hg. v. Valentin Carl Veillodter / Christian Schreiber, Allgemeine Chronik der dritten Jubel-Feier der deutschen evangelischen Kirche 2,1, Erfurt und Gotha 1819, 6 – 14.

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Reformation darin, dass Christus sich der ihm entfremdeten Welt aufs Neue geschenkt habe, dass der durch klerikale Übergriffe getrübte christliche Staat wiederhergestellt worden sei und dass die übersinnliche Wahrheit des Glaubens sich nun immer wieder neu in zeitgemäßen Formen des Kultus und der Kirchenverfassung darstellen könne, wozu denn auch die Union der Lutheraner und Reformierten gehöre.⁷ Marheinekes Hauptbeitrag zum Jubiläum ist aber, wie gesagt, seine zweibändige Geschichte der teutschen Reformation. Neuere gelehrte Darstellungen der Reformationsgeschichte gab es damals, etwa im Rahmen der mehrbändigen Kirchengeschichten von Johann Matthias Schröckh und Heinrich Philipp Konrad Henke, genannt seien auch Gottlieb Jacob Plancks kritische Arbeiten zur Entwicklung des lutherischen Lehrbegriffs. Marheinekes Reformationsgeschichte ist streng an den Quellen erarbeitet, an Johann Georg Walchs Lutherausgabe, an Veit Ludwig von Seckendorffs historischem Kommentar, Valentin Ernst Löschers Reformations-Acta und Documenta und anderen, und ebenfalls nicht ungelehrt. Um aber ihre Eigenart deutlich zu machen, seien einige Sätze aus dem ersten Kapitel Von der Beschaffenheit der christlichen Kirche zu Anfang des sechszehnten Jahrhunderts und wie es sich allmählich zu einer Reformation angelassen zitiert: Die Kirche Jesu Christi, von Alters ein reiner Quell der Wahrheit und Seligkeit, in Sonderheit aber in ihrer Jugend blühend in hoher Einfalt des Glaubens und Gottesdienstes, auch mit dem Blute nicht weniger Märtyrer reich geziert, war im Verlauf der Zeiten endlich von ihrer wahren Bestimmung immer weiter abgekommen. […] Der Mittelpunkt alles Elends in der Kirche war dazumal Rom und dessen päpstlicher Stuhl. […] Fürwahr die Schuld lag nicht allein an den Päpsten, sondern auch an dem Papstthum. Dasselbe war endlich, da es sein ganzes Wesen entwickelt hatte, zu Anfang des sechszehnten Jahrhunderts so sehr ein Reich von dieser Welt, eitel und irdisch geworden, dass schon ein weltlicher Fürst, Kaiser Maximilianus I. dasselbe zu übernehmen ernsthaft gesonnen war.⁸

So schrieb damals selbstverständlich kein kritisch-pragmatischer Kirchengeschichtler. Marheineke gebraucht vielmehr einen gemütvollen, altväterlichen Stil, der sich an altprotestantische Darstellungen wie Johann Mathesius’ Predigten über Luthers Leben oder Friedrich Myconius’ Erinnerungen an die Reformation anlehnt. Es kommen auch die Quellen selbst in langen Zitaten und Paraphrasen zur Sprache; so wird Luthers nicht sehr bekannte, aber für die Entwicklung der reformatorischen Ekklesiologie bedeutsame Schrift wider den „hochberühmten Romanisten“ Augustin von Alfeld⁹ über 21 Seiten wiedergegeben.¹⁰ Marheinekes Absicht ist es, nicht aus der kritischen Distanz mehrerer Jahrhunderte über eine große Zeit zu reden, sondern jene Zeit selbst zum Leben zu erwecken und reden zu lassen und seinen eigenen Text soweit möglich deren Stil anzupassen, so dass ein Gesamtbild aus einem Guss entsteht. Er habe,

 Marheineke 1818, 1– 24 (Anm. 6), wieder abgedruckt in: Veillodter / Schreiber 1819, 114– 121 (Anm. 6).  Philipp Marheineke, Geschichte der teutschen Reformation, Bd. 1, Berlin 1816, 3. 12. 14.  WA 6, 285 – 324.  Marheineke 1816, 198 – 219 (Anm. 8).

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schreibt er in der Vorrede, seine Schreibart „der einfachen, ungeschminkten Weise der Alten näher zu bringen gesucht“. Die neueren Werke der pragmatischen Geschichtsschreibung hätten zur Erklärung der Vorgänge sehr scharfsinnig psychologische Motive und politische Interessen bemüht. Ich habe an eine andere Zeit gedacht und mich mit einem geringeren, sehr untergeordneten und beschränkten Verdienst begnügt, mich selber so wenig, als möglich, mit meinem Urtheil eingemischt, vielmehr fast durchgängig meine Urkunden und Actenstücke reden lassen. Dieses ist wirklich das beste und einzige Mittel, die Wahrheit und Lauterkeit der Geschichte zu retten und wieder herzustellen, wenn sie genugsam getrübt ist durch Meinungen und Muthmaaßungen, die sich sonst zuletzt gar als Thatsachen gebehrden.¹¹

Die zeitgenössischen Rezensenten haben diese Schreibart bemerkt und durchaus anerkennend beurteilt. Die Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung bescheinigt eine „feine Schreibart“, die sich „der alterthümlichen genähert hat, ohne doch ins Gezierte oder den Chronikstil zu fallen“, und lobt, dass der Verfasser nicht wie andere protestantische Darsteller seine Unparteilichkeit durch distanzierte oder gar absprechende Urteile über die Reformation habe beweisen wollen.¹² Die Heidelbergischen Jahrbücher der Litteratur schreiben von einem „musivischen Werk“, d. h. einem Mosaik, dessen Teile ohne großen Aufwand zu einem einzigen, schlichten und ansprechenden Ganzen zusammengekittet seien.¹³ Noch der Erlanger lutherische Dogmatiker Franz von Frank in seiner neueren Theologiegeschichte, nicht unbedingt ein Freund von Marheinekes Theologie, lobte doch, dass sich dessen Reformationsgeschichte durch markige Sprache und Objektivität von der Seichtigkeit pragmatischer Darstellungen abhebe.¹⁴ Ansonsten galt das Werk noch lange als volkstümlich im besten Sinne des Wortes.¹⁵ Weniger gelungen fand es, wie zitiert, Schleiermacher, weder die Schreibart noch die Komposition noch auch die Auswahl des Stoffes.  Marheineke 1816, XXVII–XXVIII (Anm. 8). Vgl. zum Stil auch ders., Geschichte der teutschen Reformation2, Bd. 1, Berlin 1831, XXXIII: „Bei jedem andern geschichtlichen Stoff, an welchem die Form nicht so, wie bei diesem, einen besondern Werth für sich hat, würde ich selbst eine solche Darstellungsweise, wie in sich selbst unausführbar, so auch ganz unangemessen finden. Hier hingegen nimmt, nächst dem Inhalt, auch die Alterthümlichkeit teutscher Denkart und Sprache, der einfache, ungeschmückte Ton jener alten Erzählungen unser Interesse in Anspruch. Es ist die fromme, biedere, treuherzige Weise, zu denken und zu empfinden, wie wir sie sonderlich bei den teutschen Fürsten jener Zeit finden, die auch ihrem Ausdruck ein eigenthümliches, ehrwürdiges Gepräge giebt. Es ist insonderheit die originelle Kern- und Kraftsprache Luthers“.  Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 14 (1817), Bd. 3, Nr. 157, 313 – 317. Verfasser ist Johann August Martin Haasenritter, ein fleißiger Rezensent, damals Pfarrer in Burgwerben bei Weißenfels.  Heidelbergische Jahrbücher der Litteratur 10 (1817), Nr. 54, 849 – 864.  Franz von Frank, Geschichte und Kritik der neueren Theologie der neueren Theologie, insbesondere der systematischen, seit Schleiermacher, hg.v. Richard Grützmacher, Leipzig 41908, 173.  Karl von Hase, Kirchengeschichte auf der Grundlage akademischer Vorlesungen, Bd. 1, Leipzig 1885, 46; Gustav Wilhelm Frank, Art. „Marheineke“, in: RE3, Bd. 12, Leipzig 1903, 304– 309, hier 305; Kurt Hünerbein, „Der Berliner Theologe Philipp Konrad Marheineke als Kirchenhistoriker“, JBBKG 54 (1983), 74– 96, hier 83 – 84; Meding 1986, 304 (Anm. 4).

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3 Schleiermachers Beiträge zum Reformationsjubiläum Schleiermachers erwähnte lateinische Festrede hat sich dann offenbar doch bei Marheineke bedient, etwa wenn sie zeigt, dass Luther, wie er selbst später freimütig zugab, zur Zeit des Thesenanschlags noch tief in den päpstlichen Irrtümern und Vorurteilen stak, woraus der Redner folgert, dass der Tag, an dem die Bannandrohungsbulle verbrannt wurde, ein besserer Gedenktag wäre.¹⁶ Als Reformierter erinnert Schleiermacher daran, dass Luthers Maximen auch diejenigen Zwinglis gewesen seien und dass der alte Zwist beider Parteien nunmehr begraben werde.¹⁷ Er ruft die Weisheit, Beständigkeit und Großmut der damaligen sächsischen Kurfürsten und die alte deutsche Freiheit ins Gedächtnis, was Gelegenheit gibt zu einem allzu überschwänglichen Lob Friedrich Wilhelms III., der nun – endlich! – die Einrichtung von Presbyterien und Synoden angeordnet habe.¹⁸ Das reformatorische Prinzip in der Kirche bedeute die immer zunehmende Freiheit in Kirchenordnung und Lehre; auf das akademische Leben angewandt heiße das, dass auch die Praktische Theologie ordentliches Unterrichtsfach sein müsse¹⁹ und dass insgesamt die Lehr- und Studienfreiheit nicht beschränkt werden dürfe. Dank ihr habe die evangelische Kirche auch scholastischen Dogmatismus, wissenschaftsfeindlichen Biblizismus und Pietismus und westeuropäische Frivolität überstanden.²⁰ Außerdem hat Schleiermacher an der Dreifaltigkeitskirche zwei Predigten zum Jubiläum gehalten, eine beim großen Festgottesdienst am Sonnabend, den ersten November, und eine am Sonntag, den zweiten November. Der Festgottesdienst wurde auf königliche Anordnung zusammen mit den Schülern begangen. Der Chor sang Stücke aus dem zweiten Teil des Händelschen Messias über die Boten des Gotteswortes,²¹ und Schleiermacher, der sich als Text Jesu Warnung, einem der Kleinen ein Ärgernis zu geben (Mt 18,5 – 6), ausgesucht hatte, ging in seiner Predigt besonders auf die Schulkinder und ihre Situation ein: Luther und den anderen teuren Rüstzeugen Gottes sei in summa zweierlei zu verdanken, die Bibel in der Volkssprache und die Lehre von der Gerechtigkeit allein aus Glauben ohne äußere Werke. Die Schulkinder

 Friedrich Schleiermacher, „Oratio in solemnibus ecclesiae per Lutherum emendatae saecularibus tertiis in Universitate litterarum Berolinensi die III. Novembris A. MDCCCXVII. Habita“, in: Orationes in solemnibus ecclesiae per Lutherum emendatae saecularibus tertiis in Universitate litterarum Berolinensi d. III. Novembr. A. MDCCCXVII. habitae, Berlin o. J. 1817, 14– 27, hier 15 – 16, abgedruckt in: KGA I/10, hg.v. Hans Friedrich Traulsen, Berlin / New York 1990, 1– 16, hier 4– 5.  Schleiermacher 1817, 14– 15 (Anm. 16), Schleiermacher 1990, 3 – 4 (Anm. 16).  Schleiermacher 1817, 17– 19 (Anm. 16), Schleiermacher 1990, 6 – 8 (Anm. 16).  Schleiermacher 1817, 19 – 20 (Anm. 16), Schleiermacher 1990, 8 – 9 (Anm. 16).  Schleiermacher 1817, 20 – 26 (Anm. 16), Schleiermacher 1990, 9 – 13 (Anm. 16).  Vgl. Bernhard Schmidt, Lied – Kirchenmusik – Predigt im Festgottesdienst Friedrich Schleiermachers, Berlin / New York 2002, 81– 92; Schleiermachers Liedblätter 1817, Berlin / New York 2008, 219 – 236.

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sollten also schon früh in die Lektüre der Heiligen Schrift eingeführt werden, und sie sollten erfahren – was in der Verantwortung der Eltern und Lehrer liege –, dass sie nicht aufgrund von Leistungen und äußerer Folgsamkeit wertgeschätzt und geliebt würden.²² (Schleiermachers Adaption der Lehre von der Glaubensgerechtigkeit hat hier gewisse Ähnlichkeit mit derjenigen des Rationalisten Julius Wegscheider: durch Gesinnung statt durch einzelne äußere Werke.²³) Am Sonntag predigte Schleiermacher über Jesu Lobpreis, dass sein Werk den Weisen verborgen und den Unmündigen offenbar sei und dass die Jünger nun sähen, was Könige und Propheten zu sehen begehrt hätten (Lk 10,21– 24): Der Gang des göttlichen Wortes und Geistes durch die Geschichte sei beständigen Wechseln unterworfen; auch dem aufscheinenden Licht der Reformation seien wieder Trübungen gefolgt. Christi Verheißung aber stehe, dass sein Werk in allen Kämpfen bleiben und sich durchsetzen werde.²⁴ Ein Jahr später, im Herbst 1818, erschien schließlich noch ein durch das Reformationsjubiläum veranlasster Aufsatz Schleiermachers: Der Erfurter Verleger Friedrich Kayser hatte seit Ende 1816 verschiedene Gelehrte um Beiträge zu einem Reformations-Almanach gebeten.²⁵ Schleiermachers Beitrag erörtert bleibende Bedeutung und Grenze der protestantischen Bekenntnisschriften; die bleibende Bedeutung sieht Schleiermacher in der für den Protestantismus konstitutiven Abgrenzung gegenüber dem Katholizismus.²⁶ Die Frage war inzwischen auch zum Gegenstand einer Kontroverse geworden: Claus Harms, Archidiakon und populärer Prediger an St. Nikolai in Kiel, hatte zum Reformationsjubiläum 95 neue Thesen aufgestellt, die den Rationalismus geißelten und nebenbei auch die Union kritisierten. Der Dresdener Hofprediger Christoph Friedrich Ammon, eigentlich als Rationalist bekannt, nannte Harms’ Thesen in seinem Magazin für christliche Prediger eine „bittere Arznei für die Glaubensschwäche der Zeit“ und nahm sie zum Anlass für einen Angriff auf die preußische Union. Schleiermacher beschuldigte Ammon daraufhin in zwei offenen Briefen eines falschen Spiels, während er Harms’ Thesen nur kurz abfertigte, und Harms, der sich jetzt im Kreuzfeuer der Rationalisten wiederfand, war über Schleiermacher, in dem er einen Gleichgesinnten vermutet hatte, ziemlich verbittert.²⁷

 Friedrich Schleiermacher, Am 01. 11. 1817 vorm. (Samstag) Reformationsjubiläum, Mt 18,5 – 6*, KGA III/5, hg.v. Katja Kretschmar, Berlin u. a. 2014, 241– 258.  Julius Wegscheider, Institutiones theologiae Christianae dogmaticae, Halle 71833, 542– 543 (§ 155).  Friedrich Schleiermacher, Am 02. 11. 1817 vorm. (22. SnT) Lk 10,21 – 24*, KGA III/5, hg.v. Katja Kretschmar, Berlin u. a. 2014, 260 – 267; vgl. Schmidt 2008, 241– 244 (Anm. 21).  Vgl. Hans-Friedrich Traulsen, Einleitung des Bandherausgebers, KGA I/10, hg.v. Hans Friedrich Traulsen, Berlin / New York 1990, VII–CXVI, hier XXXVII.  Friedrich Schleiermacher, „Ueber den eigenthümlichen Werth und das bindende Ansehen der symbolischen Bücher“, in: Reformationsalmanach 2, Erfurt 1819, 335 – 380, abgedruckt in: KGA I/10, hg.v. Hans Friedrich Traulsen, Berlin / New York 1990, 117– 144. Vgl. Martin Ohst, Schleiermacher und die Bekenntnisschriften, Tübingen 1989, 153 – 157; Gerber 2015, 378 – 383 (Anm. 3).  Vgl. Hans-Friedrich Traulsen, Schleiermacher und Claus Harms, Berlin-West / New York 1989, 44– 234.

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4 Schleiermachers Deutung In Schleiermachers Theologie hat die Reformation kategoriale Bedeutung. Das liegt daran, dass die Theologie für ihn nicht die Wissenschaft von Gott oder vom Absoluten ist, sondern immer auf eine geschichtlich gegebene Religionsgemeinschaft und deren Bedürfnisse und Interessen bezogen sein muss.²⁸ Die Reformation ist die Epoche der Kirchengeschichte, in der die protestantische Kirche in der Geschichte erschien und ihre Eigenart offenbarte, diejenige Gestalt des Christentums, für die Schleiermacher Theologie treibt.²⁹ Insofern geht Schleiermacher etwa in den Einleitungsparagraphen der Glaubenslehre auf den katholisch-protestantischen Gegensatz ein, zu dem sich jede abendländisch-christliche Dogmatik positionieren müsse,³⁰ und insofern profiliert er etwa in den Vorlesungen zur Praktischen Theologie zu so ziemlich jedem Thema die katholische und die reformatorische Position gegeneinander. Auch wenn Schleiermacher programmatisch sagen kann, dass die Reformation noch fortgehe³¹ – was protestantisch sein will, muss sich auf das Geschehen des 16. Jahrhunderts zurückbeziehen und dort noch mehr auf die Taten und Maximen als auf die Einzellehren der Reformatoren.³² Die Reformation sei für Schleiermacher eine Pluralisierung des Christentums, hat man gesagt, der katholisch-protestantische Unterschied Ausdruck zweier individueller Gestaltungen des Christentums,³³ und das ist auch nicht falsch. Nur: Die sittliche Rechtfertigung der Reformation als reinigendes, kirchenverbesserndes Handeln beruht für ihn gerade darauf, dass die Reformatoren nicht bloß das Christentum um eine

 Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, Berlin 21830, § 1– 8, abgedruckt in: KGA I/6, hg.v. Dirk Schmidt, Berlin / New York 1998, 317– 446, hier 325 – 329.  Vgl. Gerber 2015, 353 – 354 (Anm. 3).  Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Gründsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt2, Bd. 1, Berlin 1830, § 23 – 24, KGA I/13,1, hg.v. Rolf Schäfer, Berlin / New York 2003, 160 – 169.  Friedrich Schleiermacher, Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen über die Schrift: Luther in Bezug auf die neue preußische Agende, Leipzig 1827, 85, abgedruckt in: KGA I/9, hg.v. Günther Meckenstock, Berlin / New York 2000, 381– 472, 471.  Friedrich Schleiermacher, „Die Übergabe des Bekenntnisses als Verantwortung über den Grund der Hoffnung“, in: ders., Predigten. Sechste Sammlung, Berlin 1831, 20 – 24 (abgedruckt in: KGA III/2, hg.v. Günther Meckenstock, Berlin / Boston 2015, 293 – 303, hier 293 – 295); „Das Ziel der Wirksamkeit unserer evangelischen Kirche“, in: ders., Predigten. Sechste Sammlung, Berlin 1831, 192– 193 (abgedruckt in: KGA III/2, hg.v. Günther Meckenstock, Berlin / Boston 2015, 401– 420, hier 401– 402); „An die Herren D.D.D. von Cölln und D. Schulz“, in: ThStKr 4, Hamburg 1831, 3 – 39, hier 7 (abgedruckt in: KGA I/10, hg.v. Hans Friedrich Traulsen, Berlin / New York 1990, 395 – 426, hier 401); „Vorrede“, in: ders., Predigten. Sechste Sammlung, Berlin 1831, III–XXX, hier IV–VIII (abgedruckt in: KGA III/2, hg.v. Günther Meckenstock, Berlin / Boston 2015, 261– 264).  Ulrich Barth, „Sichtbare und unsichtbare Kirche“, in: Christentumstheorie. Trutz Rendtorff zum 24. 01. 2006, hg.v. Klaus Tanner, Leipzig 2008, 179 – 230, hier 223 – 224; Constantin Plaul, „Versöhnte Vielfalt“, in: KuD 61 (2015), 248 – 259, bes. 251– 254.

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neue individuelle Ausprägung bereicherten, sondern dass sie bei ihrem Widerspruch gegenüber der damaligen organisierten Kirche gerade die gemeinsame, unhintergehbare Norm für alles Christliche geltend machten, die kanonische Urkunde des Christentums, das Neue Testament. Erst als die organisierte Kirche sich diesen Impulsen verschloss, die Diskussion abbrach und die andere Seite in den Bann tat, begann bei dieser der Aufbau einer eigenen kirchlichen Organisation, die dann, entsprechend der religiösen Eigenart und auch der nationalen und kulturellen Prägung ihrer Träger, auch einen individuellen Charakter annahm.³⁴ In der erwähnten Festpredigt bringt Schleiermacher das Programm der Reformation auf zwei Punkte: das Schriftprinzip und die Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben. Beides – Schleiermacher stellt es so auch sonst zusammen – gehört aber zusammen und lässt zurückführen auf das eine Prinzip: die unmittelbare Gemeinschaft des einzelnen Gläubigen mit dem Erlöser. Einer Kirche als vermittelnder Instanz bedarf es nicht – weder gibt sie die verbindliche Auslegung der Schrift vor, noch legt sie äußere Werke und Handlungen auf, noch auch vermittelt sie in priesterlicher Funktion den Verkehr mit dem Göttlichen. Und insofern ist die Reformation gegenüber dem Katholizismus nicht nur eine Reinigung kraft des Schriftprinzips und eine eigene individuelle Ausprägung des Christlichen, sondern zugleich auch eine spätere Stufe bei der Durchdringung und Formung der Welt durch das christliche Prinzip: In diesem Stadium werden die Laien aus priesterlicher Vormundschaft in die religiöse Mündigkeit entlassen; Geistliche fungieren im Protestantismus nicht mehr als Priester, sondern eher als Lehrer und als Anleiter des gemeinsamen Gottesdienstes.³⁵ Die Reformation stellt damit auch ein Stück Heilsgeschichte dar, das Schleiermacher in der anderen genannten Predigt dann mit den Geschicken des göttlichen Wortes in biblischer Zeit parallelisieren kann; sie ist eine Etappe auf dem Weg der Fleischwerdung des göttlichen Geistes, und sie wirkt sich damit auch auf die anderen Gebiete der menschlichen Kultur aus.

5 Marheinekes Deutung Marheinekes Dogmatik geht von einer Wissenschaftslehre nach Schelling und dann nach Hegel aus: Wissenschaft ist das freie Leben des Geistes, und die theologische Dogmatik ist ein System von wissenschaftlichen Sätzen und Erkenntnissen, der Begriff dessen, was in der Religion als Leben erscheint.³⁶ Des nach Schleiermacher not-

 Vgl. Gerber 2015, 136 – 138.153 – 157 (Anm. 3)  Vgl. Gerber 2015, 162– 163.375 – 376.383 – 385.392– 393.408 – 410 (Anm. 3)  Philipp Marheineke, Die Grundlehren der christlichen Dogmatik, Berlin 1819, 3 – 6.13 – 14.16 – 17.24– 25.28 – 33 (§ 1– 6.19 – 20.23 – 24.34– 35.40 – 46); ders., Die Grundlehren der christlichen Dogmatik, Berlin 21827, 3 – 5 (§ 1– 5). Vgl. Elise Ihle, Philipp Konrad Marheineke. Der Einfluß der Philosophie auf sein theologisches System, Leipzig 1938, 36 – 50; Eva-Maria Rupprecht, Kritikvergessene Spekulation, Frankfurt am Main 1993, 101– 113.123 – 128.170 – 177; Joachim Ringleben, „Philipp Konrad

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wendigen konfessionellen Standpunkts bedarf Marheinekes Dogmatik nicht. Andererseits ist Marheineke aber auch der Vater der neueren Symbolik und Konfessionskunde,³⁷ und hier macht er die verschiedenen Objektivierungen oder individuellen Spielarten, in und unter denen das Christentum in der Wirklichkeit erscheint, zum Gegenstand. Marheineke wäre sicher noch besser als Schleiermacher zum geistigen Vater einer Ökumenik als versöhnter Vielfalt der Individualitäten³⁸ geeignet. Jede christliche Religionspartei sammle sich um eine religiöse Hauptidee und schaffe sich ein Glaubensbekenntnis oder Symbol, um diese Idee zu formulieren, um sich der eigenen Identität gewiss zu werden und um diese nach außen zu profilieren; so seien also die Symbole die Form, die die ewige christliche Wahrheit in der Zeitlichkeit annehme.³⁹ Bedeutsam ist nun, dass Marheineke die Symbole und die sich in ihnen konzentrierenden Individuationen des Christentums in ein genaues Verhältnis zu Nation und Staat setzt: In den Symbolen spreche sich auch der Nationalcharakter aus, und die Formulierung und Verkündung eines Symbols geschehe unter Approbation des Staates.⁴⁰ In 1814 anonym veröffentlichten Aphorismen zur Erneuerung des kirchlichen Lebens schreibt Marheineke gar, ein Volk habe seine nationale Eigenart, Sitte und Sprache allein in der Religion, und so seien Kämpfe um das Christentum innerhalb eines Volks zugleich Kämpfe um den Nationalcharakter. Dieser äußere und vollende sich im formulierten Symbol. Auch der Staat hänge daran, und somit seien die Symbole immer auch rechtlich verpflichtend.⁴¹ Seine Reformationsgeschichte hat Marheineke bewusst als Geschichte der „teutschen“ Reformation geschrieben. Ihr Held ist weniger Luther als Deutschland; ihr Leitmotiv ist es, dass Deutschland die ihm von Rom auferlegte Gestalt des Christentums überwindet und zu seiner eigenen, modern gesprochen „kontextuellen“ Frömmigkeit und Theologie findet;⁴² damit einher geht der Kampf auch um die politische Freiheit.⁴³ (Völlig fremd sei leider dem jungen Kaiser das deutsche Wesen geblieben, Marheineke (1780 – 1846) – die Zuflucht im Begriff“, in: Stiftsgeschichte(n), hg.v. Bernd Schröder / Heiko Wojtkowiak, Göttingen 2015, 59 – 65.  Vgl. Ferdinand Kattenbusch, Confessionskunde, Bd. 1, Tübingen 1892, 52– 56; Hünerbein 1983, 75 – 78 (Anm. 15); Simon Gerber, „Schleiermacher und die Kirchenkunde des 19. Jahrhunderts“, ZNThG 11 (2004), 183 – 214, hier 201– 203.  Vgl. Plaul 2015, 250 – 251.254– 259 (Anm. 33).  Philipp Marheineke, Christliche Symbolik oder historischkritische und dogmatischkomparative Darstellung des katholischen, lutherischen, reformirten und socinianischen Lehrbegriffs; nebst einem Abriß der Lehre und Verfassung der übrigen occidentalischen Religionspartheyen, wie auch der griechischen Kirche, Bd. 1,1, Heidelberg 1810, 5 – 10.  Marheineke 1810, 15 – 17.29 – 31 (Anm. 39).  [Philipp Marheineke], Aphorismen zur Erneuerung des kirchlichen Lebens im protestantischen Deutschland, Berlin 1814, 9 – 23.32– 36.  Marheineke 1816, 15.27.137– 138.140.154.162.183.353 (Anm. 8); ders., Geschichte der teutschen Reformation, Bd. 2, Berlin 1816, 160 – 161.  Marheineke 1816, 51– 52.83.108.119.151.196 – 198.248 – 250.275 – 276 (Anm. 8). Vgl. Winckler 1969, 56 – 58 (Anm. 4). – Auch in der Reformationspredigt von 1814 (Text: Apg 5,38 – 39) betont Marheineke die nationale Bedeutung der Reformation, vgl. Marheineke 1818, 55 – 76 (Anm. 6).

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ein Grund dafür, dass halb Deutschland katholisch blieb.⁴⁴) Die Reformation ist überhaupt ein Gemälde alter deutscher Freiheit, Sitte und Gesinnung und auch Kunst.⁴⁵ Wie die Reformation zu ihrer Zeit eine wahre Nationalangelegenheit war, für welche sich jeder interessirte, mochte er ihr zugethan seyn oder nicht, so dachte ich mir immer, müßte sich auch ihr Geist und Wesen in der Geschichte auffassen und darstellen lassen: denn wie überhaupt das religiöse Gefühl des Herzens sich nach und nach zur klaren Einsicht und Erkenntniß des Verstandes erhebt, so stieg auch hier, so recht aus dem Herzem des teutschen Volks, dieser sich immer mehr reinigende Glaube und die so rührend fromme Theilnahme daran allmählig bis zu den Häuptern der Nation empor. […] Den Kern der teutschen Geschichte, die Blüthenzeit des christlichen Glaubens teutscher Nation, stellet die Reformation uns dar.⁴⁶

Schleiermacher wie Marheineke sehen in der Reformation sowohl ein individuelles als auch ein für das ganze Christentum Geltung beanspruchendes Moment; aber für Schleiermacher ist der Impuls auf das gesamte Christentum das Ursprüngliche, der auch an mehreren Orten gleichzeitig und unabhängig voneinander ausgeübt worden sei, in Sachsen, der Schweiz und Frankreich.⁴⁷ Für Marheineke ist die Reformation umgekehrt zunächst eine auch kulturell bedingte neue Individuation des Christentums, die sich dann zu allgemeiner Bedeutung aufschwingt. Krönender Abschluss von Marheinekes Werk ist die Verlesung der Augsburger Konfession, durch die das Errungene als öffentliches Symbol und als eigene Gestalt der ewigen, allgemeinen christlichen Wahrheit zur Erscheinung kommt. Es war einer der schönsten Tage der Christenheit. […] Ein neues Gefühl durchlebte und durchdrang sie von diesem großen Augenblick an. Durch das feste Band eines gemeinsamen Glaubens fühlten sie sich jetzt mehr denn je zuvor innig verbunden. […] Vor Kaiser und Reich, ja vor der ganzen christlichen Welt standen sie, mit einem großen Gebet im Herzen, ihre Rechtfertigung darstellend in ihrem Bekenntniß, in vollkommenster Einigkeit mit allen wahrhaft gläubigen und christlichen Gemüthern in der ganzen Welt und auf einer Höhe, von wo sie mit göttlicher Zuversicht auf viele Jahrhunderte hinsehen konnten.⁴⁸

 Marheineke 1816, XII. 272 (Anm. 8).  Marheineke 1816, 83.151.154.254.268 (Anm. 8).  Marheineke 1816, XXIV–XXV (Anm. 8).  Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen über die Kirchengeschichte, Kolleg 1821/22 Nachschrift Klamroth, 92.–93. Stunde, KGA II/6, hg.v. Simon Gerber, Berlin / New York 2006, 629 – 630. – Schleiermacher kann den Protestantismus einmal als die den germanischen Völkern angemessene Form des Christentums den romanischen Katholizismus gegenüberstellen (Christliche Sitte 1822/23, Sämmtliche Werke I/12, Berlin 1843, 139); aber das ist erst eine sekundäre Erscheinung. Die reformatorische Idee kommt aus dem Christentum selbst, nicht aus der individuellen Beschaffenheit ihrer Protagonisten. Vgl. Gerber 2015, 145 – 149.357– 358 (Anm. 3).  Marheineke 1816, 458 – 460 (Anm. 42).

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6 Blick in die Zukunft und Gegenwart Als Schleiermacher kurz nach dem Jubiläum in der Vorlesung über die Praktische Theologie darauf zurückblickte, meinte er, es sei in seiner Feier bestimmter Personen (gemeint wird besonders Luther sein) geradezu katholisch gewesen.⁴⁹ In seiner Festpredigt hat er selbst die „theuren Rüstzeuge des Herrn“ und deren „große kräftige Zeit mit ihren Anstrengungen und Kämpfen“ gepriesen,⁵⁰ will das reformatorische Prinzip aber ansonsten vor allem für Gegenwart und Zukunft geltend machen, auch über das im 16. Jahrhundert Erreichte hinaus. Das bedeute insbesondere die Überwindung des seinerzeit wohl notwendigen, inzwischen aber obsoleten landeskirchlichen Kirchenregiments, aber auch die freisinnige Weiterentwicklung des Lehrbegriffs auf Grundlage des Schriftprinzips.⁵¹ Marheineke schrieb in der Vorrede seiner Reformationsgeschichte, es sei generell schwierig, das bloß Zeitbedingte und Vorübergehende vom Feststehenden und Bleibenden zu unterscheiden.⁵² Trotzdem wagte er eine Prophezeiung: Die vom Westfälischen Frieden festgeschriebene Bikonfessionalität Deutschlands gehe zu Ende, die öffentlichen Verhältnisse der Kirchen lösten sich auf, noch in diesem Jahrhundert werde ein neuer Luther aufstehen, und die vom ersten Luther so nicht beabsichtigte schmerzliche Trennung werde überwunden werden. „Denn was die Menschen trennet, ist allein das Menschliche, das Göttliche vereiniget sie immerdar.“⁵³ Einig waren sich Marheineke und Schleiermacher darin, dass die lutherisch-reformierte Union die Sache der Reformation legitim weiterführe. Am Palmsonntag 1822 führten beide als Pfarrer an ihrer Dreifaltigkeitsgemeinde zusammen die Union ein.⁵⁴ Wenige Jahre später – Marheineke stand inzwischen stärker unter dem Eindruck der Hegelschen Philosophie – stießen dann beider Reformationsdeutungen hart zusammen. Schleiermacher bestritt unter dem Pseudonym „Pacificus Sincerus“ das von Friedrich Wilhelm III. beanspruchte Recht des Landesherrn, seiner Landeskirche als summus episcopus eine Agende zu verordnen: Geltendes Recht, ältere Kirchengeschichte und Reformation kennten keine solche Kompetenz, sondern nur ein obrigkeitliches Aufsichtsrecht circa sacra,⁵⁵ und auch die noch verbreitete Konsistorial-

 Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen zur Praktischen Theologie 1817/18, Nachschrift Jonas, Schleiermacher-Nachlass 550, 54v (erscheint in: KGA II/11).  Schleiermacher 2014, 242 (Anm. 22).  Vgl. Gerber 2015, 374– 378 (Anm. 3).  Marheineke 1816, V–IX (Anm. 8).  Marheineke 1816, XIV–XXIV (Anm. 8).  Vgl. Andreas Reich: Friedrich Schleiermacher als Pfarrer, Berlin / New York 1992, 146 – 170; Schmidt 2002, 286 – 318 (Anm. 21).  Pacificus Sincerus [Friedrich Schleiermacher], Ueber das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten, Göttingen 1824, 3 – 67, abgedruckt in: KGA I/9, hg.v. Günther Meckenstock, Berlin / New York 2000, 213 – 256.

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verfassung müsse im Namen der Reformation überwunden werden.⁵⁶ Marheinekes Gegenschrift beklagte den schmerzlichen Mangel an einem nationalen evangelischen Kirchenrecht, zeitige der doch zu aller Schaden Willkür und Subjektivismus.⁵⁷ Die evangelische Kirche lebe weder als Sekte außer dem Staat noch wie die römisch-katholische Kirche als eigener Staat im Staat, sondern in Harmonie mit ihm und so, dass jede Seite erst durch die jeweils andere das wahrhaft sei, was sie im Geiste des Evangeliums sein solle. Ein evangelischer Staat gestalte sich anders als ein katholischer, und umgekehrt lebe die evangelische Kirche in einem monarchischen evangelischen Staat anders als in einem republikanischen; in jenem repräsentiere eben der Monarch in seiner Person die Einheit von Staat und Kirche. Pacificus Sincerus aber (Marheineke wusste zweifellos, dass sich dahinter Kollege Schleiermacher verbarg) habe für die evangelische Kirche eine ursprüngliche Unabhängigkeit von der Landeshoheit erdichtet, die es so nie gegeben habe; die evangelischen Verfechter einer vom Staat unabhängigen Kirche lebten selbst noch mehr im römischen Katholizismus und hätten das Prinzip der Reformation verkannt.⁵⁸ Mit anderen Worten: Staatskirche und landesherrliches Kirchenregiment waren kein Notbehelf, sondern bleiben ureigenster Ausdruck eines im reformatorischen Sinne organisierten Gemeinwesens. Als 1831 eine zweite Auflage der Reformationsgeschichte erschien, erweitert um zwei weitere Bände über die Zeit von der Übergabe der Augsburger Konfession bis zum Religionsfrieden, schrieb Marheineke zum Geleit – es war das Jahr nach der Julirevolution –, diejenigen Völker, die sich damals dem römischen Stuhl entzogen hätten, hätten mit der gereinigten Lehre auch Mündigkeit des Geistes, Gedanken- und Gewissenfreiheit und eine in diesem Sinne geordnete Staatsverfassung erlangt. Im Besitz dieser kirchlichen und politischen Freiheit, dürfen sie nicht, wie so viele andere Völker, welche jetzt dem römischen Stuhl widerstreben, erst darnach ringen und durch die Schule blutiger Revolutionen und namenloser Leiden gehen, sondern nur treu bewahren und sorgsam pflegen und ausbilden, was sie bereits haben und ihnen durch die treuen Bemühungen ihrer Vorfahren, christlicher Lehrer und Fürsten im schönsten Einklang […] erworben worden ist.⁵⁹

 Pacificus Sincerus [Schleiermacher] 1824, 67– 90 (Anm. 55), Schleiermacher 2000, 256 – 269 (Anm. 55).  Philipp Marheineke, Ueber die wahre Stelle des liturgischen Rechts im evangelischen Kirchenregiment, Berlin 1825, 1– 2.  Marheineke 1825, 3 – 26. 31– 53. 71– 72. 88 (Anm. 57). Vgl. Markeineke 1827, 335 – 336 (§ 525 – 526) (Anm. 36).  Marheineke 1831, XXXIV–XXXV (Anm. 10).

Marheineke, Schleiermacher und das Reformationsjubiläum von 1817

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Zeittafel 

Beginn des Briefkontakts zwischen Philipp Marheineke (Erlangen) und Friedrich Schleiermacher (Halle)  Schließung der Universität Halle durch Napoleon  Marheineke folgt einem Ruf an die Universität Heidelberg.  Schleiermacher wird reformierter Prediger an der Berliner Dreifaltigkeitsgemeinde.  Schleiermacher wird Professor an der neuen Berliner Universität.  –  Marheineke, Christliche Symbolik  Marheineke folgt einem durch Schleiermacher übermittelten Ruf an die Universität Berlin.  [Marheineke,] Aphorismen zur Erneuerung des kirchlichen Lebens im protestantischen Deutschland  Marheineke, Geschichte der teutschen Reformation, Bd.  –   Marheineke, Predigt zum Reformationsjubiläum in Hanau (.., Text: Mt , – ) Aufruf Friedrich Wilhelms III. zur Union (..) Gemeinsame Abendmahlsfeier der lutherischen und reformierten Mitglieder der Berliner Synode (..) Schleiermacher, Festpredigt zum Reformationsjubiläum in der Dreifaltigkeitskirche (.., Text: Mt , – ) Schleiermacher, Predigt zum Reformationsjubiläum in der Dreifaltigkeitskirche (.., Text: Lk , – ) Schleiermacher, Lateinische Festrede zum Reformationsjubiläum an der Berliner Universität (..)  Marheineke, Fünf Reformations-Predigten (darunter eine für  über Joh , – ) Schleiermacher, „Ueber den eigenthümlichen Werth und das bindende Ansehen symbolischer Bücher“  Marheineke erhält die erste (lutherische) Pfarrstelle an der Dreifaltigkeitsgemeinde  Einführung der Union an der Berliner Dreifaltigkeitsgemeinde  Pacificus Sincerus [Schleiermacher], Ueber das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten  Marheineke, Ueber die wahre Stelle des liturgischen Rechts im evangelischen Kirchenregiment  –  Marheineke, Geschichte der teutschen Reformation, Bd.  – 

Andreas Arndt / Berlin

Die Reformation der Revolution Schleiermachers Umdeutung der Französischen Revolution

1 Im Sommer 1799 erschien anonym Schleiermachers Schrift Ueber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, die größtenteils Anfang 1799 verfasst worden war. In der ersten der fiktiven Reden wendet Schleiermacher sich auch an die Engländer und Franzosen, oder vielmehr: er wendet sich, wie es heißt, von ihnen ab, denn nur auf „väterliche[m]“, deutschen Boden könne er Gehör finden für das, was er vortragen wolle: eine neue Sicht der Religion.¹ Die Weisheit der „Insulaner“, also der Engländer, sei „nur auf eine jämmerliche Empirie gerichtet“, und so könne ihnen die Religion „nichts anders sein, als ein todter Buchstabe“.² Auch von den „Franken“ wendet Schleiermacher sich fort, freilich, wie er betont, „aus anderen Ursachen“, denn die Franzosen – „deren Anblik ein Verehrer der Religion kaum erträgt“ – würden „in jeder Handlung, in jedem Worte fast“ die „heiligsten Geseze“ der Religion „mit Füßen treten“.³ Dass Schleiermacher der französischen Aufklärung und insbesondre der in ihr vielfach zutage tretenden Religionskritik nicht wohlgesonnen war, wird kaum überraschen.⁴ Überraschend aber ist die Begründung, die er im Folgenden dafür gibt, dass er den Anblick der „Franken“ kaum zu ertragen vermag: „Die frivole Gleichgültigkeit mit der Millionen des Volks, der witzige Leichtsinn mit dem einzelne glänzende Geister der erhabensten That des Universums zusehen, die nicht nur unter ihren Augen vorgeht, sondern sie alle ergreift und jede Bewegung ihres Lebens bestimmt, beweiset zur Genüge wie wenig sie einer heiligen Scheu und einer wahren Anbetung fähig sind.“⁵ Die „erhabenste Tat des Universums“, das ist – darin ist sich die neuere Forschung weitgehend einig – die Französische Revolution.⁶ Irreligiös ist für Schlei-

 Friedrich Schleiermacher [1799], Ueber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, KGA I/2, Berlin / New York 1984, 195.  Schleiermacher 1984, 196 (Anm. 1).  Schleiermacher 1984, 196 (Anm. 1).  Vgl. den auf Voltaire fokussierten Überblick über die Religionsproblematik in der französischen Aufklärung bei Ulrich Barth, „Religion in der europäischen Aufklärung“, in: Aufgeklärte Religion und ihre Probleme. Schleiermacher – Troeltsch – Tillich, hg.v. Ulrich Barth u. a., Berlin / Boston 2013, 91– 112, hier 97– 105.  Schleiermacher 1984, 196 (Anm. 1).  Vgl. Kurt Nowak, „Die Französische Revolution in Leben und Werk des jungen Schleiermacher. Forschungsgeschichtliche Probleme und Perspektiven“, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg.v. Kurt-Victor Selge, Bd. 1, Berlin / New York 1985, 103 – 125, hier bes. 116 – 117; vgl. auch https://doi.org/10.1515/9783110569520-013

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ermacher, ganz im Gegensatz zur restaurativen Propaganda, wie sie auch von den Kanzeln tönte, nicht die Revolution selbst, sondern deren falsche Betrachtungsart. In einer in jeder Hinsicht – rhetorisch und inhaltlich – gewagten Wendung setzt er seine Rede unmittelbar nach dem zuletzt zitierten Satz wie folgt fort: Und was verabscheut die Religion mehr als den zügellosen Übermuth womit die Herrscher des Volks den ewigen Gesezen der Welt Troz bieten? Was schärft sie mehr ein als die besonnene und demüthige Mäßigung, wovon ihnen auch nicht das leiseste Gefühl etwas zuzurufen scheint? Was ist ihr heiliger als die hohe Nemesis, deren furchtbarste Handlungen sie im Taumel der Verblendung nicht einmal verstehen? Wo die wechselnden Strafgerichte, die sonst nur einzelne Familien treffen durften, um ganze Völker mit Ehrfurcht vor dem himmlischen Wesen zu erfüllen […], wo diese sich tausendfältig vergeblich erneuern, wie würde da eine einsame Stimme [gemeint ist die Stimme des Redners über die Religion; A.] bis zum Lächerlichen ungehört und unbemerkt verhallen?⁷

Zunächst scheint es so, als erkläre Schleiermacher sich pflichtschuldigst gegen das Terrorregime der Jakobiner (das 1799 freilich schon längst überwunden war) und mahne zur Mäßigung.Wäre das Alles, dann wäre aber nicht mehr zu verstehen, warum die Französische Revolution die „erhabenste Tat des Universums“ sein könnte. Tatsächlich ist Schleiermachers Einlassung auch doppelbödig. Das wird spätestens dort deutlich, wo er auf die „hohe Nemesis“ zu sprechen kommt, die der Religion „heilig“ sei. In der griechischen Mythologie⁸ ist Nemesis eine Tochter der Nacht, welche als Göttin austeilende Gerechtigkeit übt, indem sie die Maßlosigkeit (Hybris) und die Verletzung des göttlichen Rechts (Themis) ahndet und so die göttliche Weltordnung in Maß und Gleichgewicht hält. Sehr sorgfältig also hat der klassisch gebildete Schleiermacher als Redner seine Worte gewählt, wenn er davon spricht, dass die „ewigen Gesetze der Welt“ (also Themis) von den Herrschern verletzt worden seien und Maßlosigkeit (Hybris) in den politisch-gesellschaftlichen Geschehnissen des Frankenlandes walte. Der Witz dabei ist nur, dass diese Maßlosigkeit sich auf die Ausübung der Nemesis im Terror der Französischen Revolution bezieht. Anders gesagt: ihrem Wesen nach ist die Französische Revolution als „heilige“, göttliche Nemesis zu rechtfertigen, sofern sie – dies darf man jetzt getrost erschließen – gegenüber dem alten, von der Revolution beseitigten Regime ausgleichende Gerechtigkeit übt. In diesem Sinne ist die Revolution als die erhabenste Tat des Universums anzusehen. Der Fehler der Französischen Revolution liegt darin, dass dabei das Maß der Vergeltung nicht be-

den Überblick zum Thema „Schleiermacher und die Französische Revolution“ bei Matthias Wolfes, Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit, Teil 1, Berlin / New York 2004, 114– 131, hier bes. 124 und: „Welche unendliche Fülle offenbart sich da …“. Die Wirkungsgeschichte von Schleiermachers „Reden über die Religion“, hg.v. Nico Schreurs, Assen 2003, 156 – 157. (Diskussionsprotokoll).  Schleiermacher 1984, 196 (Anm. 1).  Vgl. Benjamin Hederich, Gründliches mythologisches Lexikon, Darmstadt 1996 [Nachdruck Leipzig 1770], 1701– 1707.

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achtet wurde, obwohl doch am Tempel zu Delphi neben dem vielzitierten „Erkenne Dich selbst“ (gnṓthi sautón) auch das „Nichts im Übermaß“ (medèn ágan) mahnte. Diese Devise ruft Schleiermacher auch in der zweiten Rede auf, wenn er sagt: „Spekulazion und Praxis haben zu wollen ohne Religion, ist verwegener Übermuth, es ist freche Feindschaft gegen die Götter, es ist der unheilige Sinn des Prometheus, der feigherzig stahl, was er in ruhiger Sicherheit hätte fordern und erwarten können.“⁹ Prometheus ist derjenige, der sich der Nemesis und damit dem von ihr gehüteten göttlichen Gesetz nicht beugt, wobei Schleiermacher an die Darstellung in Aischylos’ Tragödie Der gefesselte Prometheus (Prometeùs desmótes) gedacht haben mag, wo Prometheus, vom Chorführer (im Schleiermacherschen Sinne) zur Mäßigung ermahnt, trotzig mit dem Hinweis auf den von ihm vorhergesehenen Sturz des Zeus antwortet: „Chorführer: Sich beugen vor des Schicksals Macht, ist weise nur. / Prometheus: Bet an, verehr ihn, schmeichle dem, der jeweils herrscht! Ich aber scher um Zeus mich wenger als ein Nichts. / Schalt er und walt er in dieser kurzen Spanne Zeit, / Wie’s ihm behagt; lang bleibt er nicht der Götter Herr.“¹⁰ Für „Schicksal“ steht hier im Griechischen die Göttin Adrásteia, die gewöhnlich mit der Némesis gleichgesetzt wird.¹¹ Auch in diesem Zusammenhang erscheint die Tat, die Prometheus den Zorn des Zeus eingebracht hat, an sich als gerechtfertigt: Prometheus, so heißt es wenig später, habe die Menschen gelehrt, die Naturmächte gegeneinander auszuspielen, und so stehe „der Mensch als Sieger lächelnd über ihrem allgemeinen Kriege“.¹² Hieraus folgert Schleiermacher, dass man in ruhiger Sicherheit auf die Fortschritte der Menschheit vertrauen könne: „Den Weltgeist zu lieben und freudig seinem Wirken zuzuschauen, das ist das Ziel unserer Religion, und Furcht ist nicht in der Liebe.“¹³ Schleiermacher erweist sich hier, wie auch in seinen späteren Schriften und Vorlesungen, als Vertreter eines ungebrochenen Fortschrittsoptimismus.¹⁴ Solches Zutrauen sei, so Schleiermacher, im „väterlichen Lande“, also in Deutschland, recht heimisch: Hier findet ihr alles zerstreut, was die Menschheit ziert, und alles was gedeiht bildet sich irgendwo, im Einzelnen wenigstens, zu seiner schönsten Gestalt; hier fehlt es weder an weiser Mäßigung nach an stiller Betrachtung. Hier also muß sie eine Freistadt finden vor der plumpen Barbarei [den „Franken“, A.] und dem kalten irdischen Sinne des Zeitalters [den Engländern, A.].¹⁵

 Schleiermacher 1984, 212 (Anm. 1).  Aischylos, „Der gefesselte Prometheus“, in:Tragödien und Fragmente, hg. u. übers. v. Oskar Werner, München 1959, 409 – 477, 466 – 467.  Vgl. Hederich 1996, 71 (Anm. 8).  Schleiermacher 1984, 224 (Anm. 1).  Schleiermacher 1984, 224 (Anm. 1).  Vgl. Andreas Arndt, „Fortschritt und Zukunft in Schleiermachers Philosophie“, in: Schleiermacher – Denker für die Zukunft des Christentums?, hg.v. Andreas Arndt / Kurt-Victor Selge, Berlin und New York 2011, 69 – 82.  Schleiermacher 1984, 196 (Anm. 1).

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Bevor ich auf die Frage eingehe, warum eigentlich das „väterliche Land“ sich solcher Bildung und Mäßigung rühmen darf (3), möchte ich Schleiermachers Stellung zur Französischen Revolution in den Reden kurz in den Kontext seiner sonstigen einschlägigen Äußerungen stellen und dann vor allem danach fragen, wie sich dies zu den Positionen seiner philosophischen Zeitgenossen verhält (2).

2 Von Schleiermacher sind erst relativ spät Äußerungen zu den Ereignissen in Frankreich überliefert; im August 1791 nimmt er Stellung gegen die „despotischen Absichten“ der Reaktion, die Gott verdammen möge.¹⁶ In einem Brief an seinen Vater vom Februar 1793, kurz nach der Hinrichtung Ludwigs XVI. am 21. Januar, schreibt Schleiermacher, er müsse gestehen, daß ich die französische Revolution im Ganzen genommen sehr liebe, freilich, wie Sie es wol ohnehin von mir denken werden, ohne Alles, was menschliche Leidenschaften und überspannte Begriffev dabei gethan haben, und was, wenn es sich auch in der Reihe der Dinge als unvermeidlich darstellen läßt, doch nicht als gut gebilligt werden kann – mit zu loben, und noch viel mehr ohne den unseligen Schwindel einer Nachahmung davon zu wünschen […] – ich habe sie eben ehrlich und unpartheiisch geliebt.¹⁷

Die Hinrichtung des ehemaligen Königs kritisiert Schleiermacher insofern, als ein Nachweis der Schuld nicht geführt worden sei; die Todesstrafe könne aber nicht allein deshalb verwerflich sein, weil sie ein gekröntes Haupt treffe. Mit seiner Haltung stehe er quer zu den verbreiteten Positionierungen, was Schleiermacher dem Vater mit Selbstironie so beschreibt: Ich armer Mensch […] gelte bei den Demokraten nicht selten für einen Vertheidiger des Despotismus und für einen Anhänger des alten Schlendrians, bei den Brauseköpfen für einen Politikus, der den Mantel nach dem Winde hängt, und mit der Sprache nicht heraus will, bei den Royalisten für einen Jakobiner und bei den klugen Leuten für einen leichtsinnigen Menschen, dem die Zunge zu lang ist.¹⁸

Schleiermachers Positionierung in den Reden entspricht weitgehend dieser Selbstcharakterisierung: er sympathisiert grundsätzlich mit der Französischen Revolution, aber nicht bedingungslos, wobei er nicht nur die sogenannten „Auswüchse“ kritisiert, sondern offenbar auch der Meinung ist, dass die Französische Revolution ein Sonderfall und nicht übertragbar sei. An dieser Auffassung hält Schleiermacher auch in  Friedrich Schleiermacher, Brief an Heinrich Catel (29. 8. 1791), KGA V/1, hg.v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin /New York 1985, 229.  Friedrich Schleiermacher, Brief an J.G.A. Schleyermacher (13. 2. 1793), KGA V/1, hg.v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin /New York 1985, 280.  Schleiermacher 1985, 281 (Anm. 17).

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seiner späteren Theorie fest; noch in der Nachschrift zur philosophischen Ethik-Vorlesung von 1832 können wir Folgendes lesen: Das ganze Staatsleben ist […] in bestimmter Bewegung begriffen […]. Wir sprechen hier nur die Duplicität aus, unter der solche Veränderungen entstehen können, entweder als Reformen oder Revolutionen. Unterschied beruht auf dem Gegensatz zwischen den gesetzgebenden & vollziehenden Functionen. Wo dieser Unterschied kein persönlicher da ist keine Revolution möglich, aber darum auch wenig Beständigkeit im Wechsel der einzelnen Acte. In jedem Moment kann sich Gesetzgebung ändern, ja selbst wenn Umkehrung entsteht, wenn aus Demokratie Tyranney wird, ist das keine Revolution denn gegen den Willen der zugleich Gesetzgebenden & Vollziehenden kann es nicht geschehen. Wo der Gegensatz aber ein persönlicher ist, da ist Reform Veränderung vermöge eines zusammenstimmenden gemeinsamen Bewußtseyns.¹⁹

Mit der Französischen Revolution verbindet Schleiermacher Inhalte, die nicht dadurch obsolet geworden sind, dass es im revolutionären Prozess zu Auswüchsen kam und die auch für den Weg der Reform maßgebend sind. Diese Inhalte fassen sich durchaus in dem Schlachtruf der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – zusammen. Nicht zufällig kreisen die ersten Entwürfe Schleiermachers im Anschluss an Kant um das Thema der Freiheit, und so heißt es in der 1790 – 1792 geschriebenen Abhandlung Über die Freiheit, die Bewertung der Sittlichkeit einer Person habe sich von einem „Gefühl allgemeiner Liebe und Gleichheit“²⁰ leiten zu lassen, worin unschwer Gleichheit und Brüderlichkeit wiederzuerkennen sind. Was die Freiheit betrifft, thematisiert Schleiermacher sie zu dieser Zeit im Horizont der Kantischen Autonomie des moralischen Subjekts;²¹ die Bildung zur Sittlichkeit und damit zur Freiheit sei jedoch, so wird in der Abhandlung Über die Freiheit betont, „immer auch in den äußern Verhältnißen gegründet“, die darum „überwiegend vortheilhaft eingerichtet“ werden müssten.²² Die Freiheit der Subjekte als moralischer bekommt damit eine politische Dimension. In diesem Sinne heißt es in der zum Druck bestimmten, aber nicht publizierten Abhandlung Über den Werth des Lebens: „Nein, goldne Freiheit es ist nicht möglich Dich zu geniessen, wenn man es allein thun will; wer andre von Deinem Besiz auszuschließen denkt, muß sich selbst von Dir entfernen; in dem Maaß als der Mensch Sklaven macht und Sklaven hat, wird er selbst Sklave“.²³ Der Dreiklang von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit tritt auch 1800 in den Monologen hervor, wenn Schleiermacher sagt: „So bist du Freiheit mir in allem das ur-

 Nachschrift Schweizer 1832, 120 (unveröffentlicht).  Friedrich Schleiermacher [1790/92], Über die Freiheit, KGA I/1, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1983, 217– 356, hier 271.  Vgl. Günter Meckenstock, Deterministische Ethik und kritische Theologie, Berlin / New York 1988; Peter Grove, Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, Berlin / New York 2004, bes. 34– 51. („Autonomie“); Andreas Arndt, „Freiheit und Determinismus beim jungen Schleiermacher“, in: Freiheit und Determinismus, hg.v. Andreas Arndt / Jure Zovko, Hannover 2012, 111– 125.  Schleiermacher 1983, 276 (Anm. 20).  Friedrich Schleiermacher [1792/93], Über den Werth des Lebens, KGA I/1, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1983, 391– 472, hier 432.

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sprüngliche, das erste und innerste […] es weichet jedes drükende Gefühl der Sklaverei, es wird der Geist sein schöpferisches Wesen inne, das Licht der Gottheit geht mir auf“.²⁴ Kein Zweifel, für Schleiermacher hat die Botschaft der Französischen Revolution im Kern einen göttlichen, religiösen Gehalt – und deshalb ist sie eben auch die „erhabenste Tat des Universums“. Diese Charakteristik verweist wiederum auf Kant, denn Kant hatte nach dem Vorgang Burkes und Holmes’ das Erhabene nicht nur in den ästhetischen, sondern auch in den politischen Diskurs der Klassischen Deutschen Philosophie eingeführt. Erhaben ist nach Kant das, was „schlechthin“, d. h., „was über alle Vergleichung groß ist“ und daher das „Gefühl eines übersinnlichen Vermögens in uns“ weckt, da das Erhabene „jeden Maßstab der Sinne übertrifft“.²⁵ Dieses Gefühl ist, weil es auf das Übersinnliche und damit rein Intelligible gerichtet ist, mit der moralischen Gemütsstimmung verwandt.²⁶ In diesem Sinne hat Kant dann auch die Wirkung der Französischen Revolution auf die Beobachter der Ereignisse in Frankreich als an den Enthusiasmus grenzend bezeichnet, wobei der Enthusiasmus für Kant mit dem Gefühl des Erhabenen verwandt ist.²⁷ Die Revolution habe bei den Beobachtern eine „Theilnehmung dem Wunsche nach“ hervorgerufen, „die nahe an Enthusiasm grenzt“, wobei diese „Teilnehmung am Guten mit Affekt“ ganz „aufs Idealische und zwar rein moralische geht“, nämlich den Rechtsbegriff, der keine Partikularinteressen verfolgt.²⁸ Moralisch sei dieser Enthusiasmus schon dadurch, dass dessen „Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war“.²⁹ Wie Schleiermacher, so sieht auch Kant die Erhabenheit der Französischen Revolution unabhängig davon, ob sie „gelingen oder scheitern“ oder mit „Greuelthaten“ angefüllt sei.³⁰ In seinem Nachruf auf Kant schrieb Schelling 1804: „Es ist nichts weniger als bloß scheinbare Behauptung, daß das große Ereignis der französischen Revolution ihm allein die allgemeine und öffentliche Wirkung verschafft hat“.³¹ Kants Philosophie der  Friedrich Schleiermacher, Monologen. Eine Neujahrsgabe, KGA I/3, 11, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1988, 1– 62, hier 11.  Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, hg.v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt 1974, 169 [B81].172 [B 85].  Kant 1974, 190 [B111– 112] (Anm. 25): „Darum aber, weil das Urteil über das Erhabene der Natur Kultur bedarf (mehr als das über das Schöne), ist es doch dadurch nicht eben von der Kultur zuerst erzeugt, und etwa bloß konventionsmäßig in der Gesellschaft eingeführt; sondern es hat seine Grundlage in der menschlichen Natur, und zwar demjenigen, was man mit dem gesunden Verstande zugleich jedermann ansinnen und von ihm fordern kann, nämlich in der Anlage zum Gefühl für (praktische) Ideen, d.i. zu dem moralischen.“  Christine Pries, Übergänge ohne Brücken. Kants Erhabenes zwischen Kritik und Metaphysik, Berlin 1996, 71– 72 betont diesen Zusammenhang des Erhabenen mit dem Enthusiasmus bei Kant.  Immanuel Kant [1789], Der Streit der Fakultäten, Kants Werke, Bd. 7, Berlin 1968 [Nachdruck der Akademieausgabe Berlin 1902], 1– 116, 85 – 86.  Kant 1968, 85 (Anm. 28).  Kant 1968, 85 (Anm. 28).  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling [1804], Immanuel Kant, Sämtliche Werke I/6, Stuttgart / Augsburg 1860, 1– 10, hier 4.

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Freiheit als Autonomie, d. h. Selbstbestimmung im Sittlichen, begründete diese Wirkung, so dass in der Folge die Entwicklung der nachkantischen Klassischen Deutschen Philosophie nicht nur als Parallele zur Französischen Revolution, sondern geradezu als deren gedankliche Verarbeitung erscheinen konnte. Noch der späte, katholisch und politisch reaktionär gewordene Friedrich Schlegel hat dies 1812 so dargestellt: „Wie in Frankreich die alles beherrschende und alles auflösende […] Vernunft ihre zerstörenden Wirkungen ganz nach außen hin gewandt […], so nahm in Deutschland, dem Charakter der Nation gemäß, bei der äußern Gebundenheit der edelsten Kräfte, die absolute Vernunft ihre Richtung ganz nach Innen, statt der bürgerlichen Revolutionen, in metaphysischem Kampfe Systeme erzeugend und wieder zerstörend“.³² Ganz ähnlich hat Hegel dies in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie gesehen, wenn auch mit einer deutlich positiveren Bewertung der Französischen Revolution: Kantische, Fichtesche und Schellingsche Philosophie. In diesen Philosophien ist die Revolution als in der Form des Gedankens niedergelegt und ausgesprochen, zu welcher der Geist in der letzteren Zeit in Deutschland fortgeschritten ist […]. An dieser großen Epoche in der Weltgeschichte, deren innerstes Wesen begriffen wird in der Weltgeschichte, haben nur diese zwei Völker teilgenommen, das deutsche und das französische Volk, sosehr sie entgegengesetzt sind, oder gerade weil sie entgegengesetzt sind. […] In Deutschland ist dies Prinzip als Gedanke, Geist, Begriff, in Frankreich in die Wirklichkeit hinausgestürmt. Was in Deutschland von Wirklichkeit hervorgetreten, erscheint als eine Gewaltsamkeit äußerer Umstände und Reaktion dagegen.³³

Nach Hegel bleiben also die deutschen Zustände hinter der französischen Wirklichkeit zurück; ironisch merkt er an: „In Deutschland hat dasselbe Prinzip das Interesse des Bewußtseins für sich genommen; aber es ist theoretischerweise ausgebildet worden. Wir haben allerhand Rumor im Kopfe und auf dem Kopfe; dabei läßt der deutsche Kopf eher seine Schlafmütze ganz ruhig sitzen und operiert innerhalb seiner.“³⁴ Das ist auf den ersten Blick etwas Anderes als Schleiermachers Zutrauen zum „väterlichen Lande“, aber es wird sich zeigen, dass Schleiermacher und Hegel dann doch nicht so weit auseinanderliegen.

 Friedrich Schlegel [1812], Geschichte der alten und neuen Literatur, KFSA 6, hg.v. Ernst Behler, Paderborn 1961, 411– 412.  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Werke 20, hg.v. Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1970, 314. – Zur Stellung Hegels zur Französischen Revolution vgl. die epochemachende Arbeit von Joachim Ritter, Hegel und die Französische Revolution, Frankfurt a.M. 1965; Jacques D’Hondt, Verborgene Quellen des Hegelschen Denkens, Berlin 1983; Rebecca Comay, Mourning Sickness. Hegel and the French Revolution, Stanford 2011.  Hegel 1970, 332 (Anm. 33).

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3 In seiner Schrift Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland schreibt Heinrich Heine, ganz in Übereinstimmung mit den soeben zitierten Zeugnissen, mit Kants Kritik der reinen Vernunft beginne eine geistige Revolution in Deutschland, die mit der materiellen Revolution in Frankreich die sonderbarsten Analogien bietet und dem tieferen Denker ebenso wichtig dünken muß wie jene. Sie entwickelt sich mit denselben Phasen, und zwischen beiden herrscht der merkwürdigste Parallelismus. Auf beiden Seiten des Rheines sehen wir denselben Bruch mit der Vergangenheit, der Tradizion wird alle Ehrfurcht aufgekündigt, wie hier in Frankreich jedes Recht, so muß dort in Deutschland jeder Gedanke sich justifiziren, und wie hier das Königthum, der Schlußstein der alten socialen Ordnung, so stürzt dort der Deismus, der Schlußstein des geistigen alten Regimes.³⁵

Heines Charakteristik verschweigt freilich, dass Kant die politische Revolution in Frankreich (und anderswo) ausdrücklich ablehnt. Das Recht der Menschen, so sagt er 1794 im Streit der Fakultäten, sei „immer nur eine Idee, deren Ausführung auf die Bedingung der Zusammenstimmung ihrer Mittel mit der Moralität eingeschränkt ist, welche das Volk nicht überschreiten darf,; welches nicht durch Revolution, die jederzeit ungerecht ist, geschehen darf.“³⁶ Kant unterscheidet hier wie insgesamt in seiner Philosophie streng zwischen der intelligiblen und sinnlichen Welt. In der intelligiblen Welt der reinen praktischen Vernunft, also der Moral, geht es um eine „Revolution in der Gesinnung“ oder eine „Revolution für die Denkungsart“, weil, so heißt es ausdrücklich, der Übergang auf den Standpunkt des Sittengesetzes „nicht durch allmählige Reform“ erreicht werden könne; für die „Sinnesart“ – das meint hier nicht die Gesinnung, sondern die sinnliche Welt – gilt aber, das der Widerstand, den sie der Realisierung der moralischen „Denkungsart“ entgegensetzt, durch „allmählige Reform“ überwunden werden müsse.³⁷ Anders gesagt: Die Revolution vollzieht sich in der Gesinnung, die sich zur „Heiligkeit“ steigern soll; diesen Prozess beschreibt Kant in der Terminologie religiöser Umkehr (Metanoia):³⁸ „neuer Mensch“, „Wiedergeburt“, „neue Schöpfung“, „Änderung des Herzens“ – das ganze Register eines Erweckungserlebnisses. Diese innere Revolution, so muss man Kant verstehen, ist Voraussetzung der äußeren Reform (in der Sinnenwelt) und eine Revolution in der Sinnenwelt – wie die Französische Revolution – beweist nur das Fehlen eines moralischen Fundaments. Positiv an der Französischen Revolution ist also nicht diese selbst und auch nicht die Denkungsart ihrer Akteure, sondern die Denkungsart ihrer  Heinrich Heine [1834], Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, HDA 8/1, hg.v. Manfred Windfuhr, Hamburg 1979, 9 – 120, hier 77.  Kant 1968, 87 (Anm. 28).  Immanuel Kant [1793], Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Kants Werke, Bd. 7, Berlin 1968 [Nachdruck der Akademieausgabe Berlin 1902], 1– 202, hier 47; auch die folgenden Zitate.  Vgl. zu diesem Zusammenhang generell Michel Foucault, Die Regierung der Lebenden, Frankfurt a.M. 2014 sowie Heinz-Dieter Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Darmstadt 1992.

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Zuschauer, in denen sich angesichts dieses Ereignisses so etwas wie eine innere, moralische Revolution abspielt. Schleiermacher ist hier radikaler als Kant, sofern er eine Revolution nicht per se für ungerechtfertigt hält, sondern nur dann, wenn der Weg der Reform seitens der Herrschenden blockiert wird; „jede Revolution“, so heißt es in einer Notiz, die 1801/02 geschrieben sein dürfte, sei „eine Naturbegebenheit für das politische Ganze aber eine sittliche Handlung für die ethischen Individuen.“³⁹ Dies ist in der Konsequenz auch die Position Hegels. Beide gehen dabei davon aus, dass es in Deutschland so etwas wie eine Revolution der Denkart gegeben habe, die als Fundament von Reformen dienen könne. Heine, um ihn noch einmal zu bemühen, beschrieb diesen Prozess so: Ein „methodisches Volk wie wir, mußte mit der Reformation beginnen, konnte erst hierauf sich mit der Philosophie beschäftigen, und durfte nur nach deren Vollendung zur politischen Revolution übergehen.“⁴⁰ Das ist Hegelsch gedacht, denn die Reformation ist für Hegel – neben der Französischen Revolution – das weltgeschichtliche Ereignis der Moderne, zugleich aber auch nicht nur eine religionsgeschichtliche, sondern vor allem auch eine philosophiegeschichtliche Zäsur. Martin Luthers Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen steht am Beginn der Moderne: „Dies“, so heißt es in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, ist also „das große Prinzip, das alle Äußerlichkeit in dem Punkte des absoluten Verhältnisses zu Gott verschwindet. Alle Entfremdung seiner selbst, die Abhängigkeit und Knechtschaft ist dadurch verschwunden.“⁴¹ In philosophischer Hinsicht hat Schleiermacher Luther nicht in Anspruch genommen; nur wenige Andeutungen finden sich dazu, dass die Reformation weit über die Christentumsgeschichte hinaus die Moderne geprägt habe.⁴² Dies liegt grundsätzlich daran, dass Schleiermacher – im Übrigen in einer gewissen Entsprechung zu Luther – Theologie und Philosophie zwar nicht als einander ausschließend entgegensetzen, vor allem aber nicht miteinander vermischen wollte, wie es in den Reden über die Religion zuerst programmatisch verkündet wird.⁴³ Hierin und in der Bedeutung der Innerlichkeit als Gefühl bzw. Gewissen kann Schleiermacher in eine Entsprechung zu Luther gebracht werden.⁴⁴ Aufgabe der religiösen Erziehung ist daher auch die Ausbildung der Innerlichkeit als Gesinnung, eine Erziehung, die an die In-

 Schleiermacher 1988, 310 (Anm. 24). Vgl. zur Datierung die „Historische Einführung“ auf XCV.  Heine 1979, 117 (Anm. 35).  G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Teil 4. Philosophie des Mittelalters und der neueren Zeit, hg.v. Pierre Garniron / Walter Jaeschke, Hamburg 1986, 64.  Vgl. Simon Gerber, Schleiermachers Kirchengeschichte, Tübingen 2015, 376.  Vgl. Schleiermacher 1984, 211 (Anm. 1): „Darum ist es Zeit die Sache einmal beim andern Ende zu ergreifen, und mit dem schneidenden Gegensaz anzuheben, in welchem sich die Religion gegen Moral und Metaphysik befindet.“  Vgl. Gerhard Ebeling, „Luther und Schleiermacher“, in: Internationaler Schleiermacher-Kongress Berlin 1984, hg.v. Kurt-Victor Selge, Bd. 1, Berlin / New York 1985, 21– 38.

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Andreas Arndt / Berlin

nerlichkeit, d. h. an die Gefühlsbestimmtheit der Religion anknüpft.⁴⁵ Dem entspricht nach Auffassung Schleiermachers die Gesinnung als das „für den Menschen organisirende[] Prinzip“⁴⁶, die dann auch als Gemeingeist gefasst wird. Schleiermacher überblendet beides tendenziell, auch wenn er – bereits in den Reden – die Kirche nicht als Instrument zur Erziehung im Sinne einer den Staat stützenden Gesinnung mißbraucht sehen will;⁴⁷ gleichwohl ist die religiöse Gesinnung für ihn nicht an sich mit dem politischen Gemeingeist kompatibel, sondern letztlich nur in ihrer protestantisch-christlichen Gestalt – z. B. unter Ausschluss des Judentums.⁴⁸ Vor diesem Hintergrund hat es ein besonderes Gewicht, wenn Schleiermacher in den Reden, wie eingangs zitiert, die Französische Revolution mit der Frage der religiösen Gesinnung in Verbindung bringt. Dass im deutschen Vaterlande noch Empfänglichkeit für die Religion waltet, bedeutet dann eben auch, dass die unreligiöse Betrachtung der „erhabensten Tat des Universums“ in Frankreich hier keinen Platz hat und, aufgrund der offenkundig eingewurzelten protestantischen Gesinnung, das Vertrauen in den reformatorischen Gang des Weltgeistes noch vorhanden ist – gegen Prometheus und seine modernen Nachfahren, die Jakobiner, aber auch gegen die politische Reaktion. Die Revolution in Frankreich wird somit, in Einklang mit den Positionen der Klassischen Deutschen Philosophie, als Ergebnis verhinderter Reformen verstanden und ihrem Wesen nach durch das Schema der Reformation bestimmt. Die Revolution wird zu einem in ihrem Wesen nur religiös zu verstehenden Ereignis umgedeutet, zur „erhabensten Tat des Universums“, wie Schleiermacher sagt – zur „heiligen Revolution“, wie Friedrich von Hardenberg (Novalis) sie nennt.⁴⁹ Anders als in Frankreich wird die politische Revolution dabei nicht durch einen entchristlichten „neureligiösen Revolutionskult“ überhöht,⁵⁰ sondern die Revolution einem christlichprotestantischen Deutungsschema unterworfen. An diesem Punkt freilich scheiden sich dann die Geister. Heine etwa erklärt, durchaus im Geiste Hegels, Reformation und philosophische Reflexion der Französischen Revolution zur Ausarbeitung des Ge Vgl. Friedrich Schleiermacher, Erziehungslehre, Sämmtliche Werke III/9, hg.v. Carl Platz, Berlin 1849, 166: „Die Kirche neben dem Staat in dem Leben, wie es uns vorliegt, als die religiöse Gemeinschaft fordert überwiegend von jedem einzelnen die religiöse Gesinnung, und zwar die bestimmte Gesinnung der christlichen Frömmigkeit. Da nun jedes Hauswesen ebensogut ein organisches Element des Staates wie der Kirche ist, so muß es auch gleich geschickt sein, die christliche Gesinnung zu entwickeln, wie den Gemeingeist.“  Nachschrift 1805/06, Anonymus Lübeck, 305 (unveröffentlicht).  Vgl. Schleiermacher 1984, 283 (Anm. 1).  Vgl. Matthias Blum, „Ich wäre ein Judenfeind?“. Zum Antijudaismus in Friedrich Schleiermachers Theologie und Pädagogik, Köln u. a. 2010.  Vgl. Hermann Timm, Die heilige Revolution. Schleiermacher – Novalis – Friedrich Schlegel, Frankfurt a.M. 1978; Timm lässt sich allerdings die Pointe entgehen, Schleiermachers Beziehung auf die Französische Revolution in diesem Zusammenhang zum Thema zu machen, obwohl er Schleiermachers Reden eingehend interpretiert.  Vgl. Wolfgang Eßbach, Religionssoziologie 1: Glaubenskrieg und Revolution als Wiege neuer Religionen, Paderborn 2014, 379 – 742, bes. 416; Schleiermachers Reden werden hier in die Folgen der Französischen Revolution eingeordnet; vgl. 432– 444.

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dankens, der auch die politische Tat nach sich ziehen soll: ein „methodisches Volk wie wir [die Deutschen, A.], mußte mit der Reformation beginnen, konnte erst hierauf sich mit der Philosophie beschäftigen, und durfte nur nach deren Vollendung zur politischen Revolution übergehen.“⁵¹ Hier wird, im Unterschied zu Schleiermacher, die Revolution nicht religiös, sondern die Religion politisch angeschaut. Das heißt, wie Hegel sagt, dass das Geistliche die Existenz seines Himmels zum irdischen Diesseits und zur gemeinen Weltlichkeit, in der Wirklichkeit und in der Vorstellung, degradirt, – das Weltliche dagegen sein abstractes Fürsichseyn zum Gedanken und dem Principe vernünftigen Seyns und Wissens, zur Vernünftigkeit des Rechts und Gesetzes hinaufbildet.⁵²

 Heine 1979, 117 (Anm. 35). Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte I, Gesammelte Werke, Bd. 27/1, hg.v. Bernadette Collenberg-Plotnikov, Düsseldorf 2015, 459 – 462, wo der Bogen von der Reformation über die französische Aufklärungsphilosophie bis zur Französischen Revolution gespannt wird.  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Gesammelte Werke, Bd. 14/ 1, hg.v. Klaus Grotsch / Elisabeth Weisser-Lohmann, Düsseldorf 2009, 281, § 360.

Bernd Harbeck-Pingel / Freiburg i.Br.

Pluralität in sozialen Formen Traugott Schächtele gewidmet

1 Formen der Pluralität Meinungen, Überzeugungen, Lebensstile und Kooperationsformen, die Akteurinnen und Akteuren in der Pluralität ihrer Lebensverhältnisse verfügbar sind, werden bezogen auf soziale Formen begrifflich, strukturell oder inhaltlich integriert, beispielsweise als Orientierung am höchsten Gut, an der Menschenwürde oder dem Gemeinwohl. Wenn soziale Formen ihrerseits als kommunikativer oder interaktiver Prozess gelesen werden, die mit unterschiedlich komplexen Arten von Alteritäten umgehen, wiederholen sich die genannten Pluralitäten an den unterschiedlichsten Orten. Am Beispiel von Zielen sei dies verdeutlicht: Ziele lassen sich in sozialen Formen lokalisieren: (1) als Handlungsziele, die sich in den Entscheidungen abbilden, für die Gründe angegeben oder Zwecke ausgemacht werden. Sofern Akteurinnen und Akteure als Entscheidungsträger fungieren, sind diese Entscheidungen über die jeweilige Logik der sozialen Form hinweg mit (2) Basisorientierungen von Personen verknüpft, da sie kommunikativ und interaktiv in bestimmten sozialen Formen ihre eigenen maßgeblichen Ziele realisieren lassen, wie immer begrenzt ihr Mitwirkungsspielraum ist. Diese Ziele sind für sie als störungsresistente Realisierungen von Lebensentwürfen präsent, die sie variierend in sozialen Formen thematisieren. Darüber hinaus sind die (3) Ziele der sozialen Form (Unternehmen, Gruppe, Partnerschaft, Versammlung, Verein, Verfassungsorgan, Bildungseinrichtung usw.) namhaft zu machen, die sich funktionaler Differenzierung, normativen Verfahren und Binnenlogiken des Sozialen (zum Beispiel der Logik des Sprechens) verdanken. Diese drei Orte unterliegen in unterschiedlicher Weise Formen der Persistenz. Sie sind für (4) die Aufmerksamkeit von Handelnden temporär präsent, laufen als (5) implizites Wissen in sozialen Prozessen mit und werden in Verständigungsprozessen aktualisiert, modifiziert und ggf. neu ausgehandelt (6). Als große Formen, mit denen Ziele überhaupt vereinheitlicht werden, begegnet entweder die Rede vom höchsten Gut¹ oder vom Endzweck der Welt.² Das sind erfahrungsgemäß nicht die einzigen Beschreibungsmuster. In der Alltagskommunikation wird beispielsweise darüber hinaus vage auf Begriffe wie „Gott“, „Liebe“, „Werte“ referiert, um religiöse Konzepte zu vereinfachen, ohne dass

 Friedrich Schleiermacher, Über den Begriff des höchsten Gutes. Erste Abhandlung, KGA I/11, hg.v. Martin Rößler, Berlin / New York 2002, 535 – 554; Ders., Über den Begriff des höchsten Gutes. Zweite Abhandlung, KGA I/11, hg.v. Martin Rößler, Berlin / New York 2002, 657– 678.  Immanuel Kant [1790], Kritik der Urteilskraft, Kants Werke, Bd. 5, Berlin 1968 [Nachdruck der Akademieausgabe Berlin 1902], 165 – 486, hier § 84,.434– 436. https://doi.org/10.1515/9783110569520-014

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im einzelnen deutlich wird, welche epistemische oder ethische Integrationsleistung damit erbracht wird. Daher werden im weiteren elaborierte Theorien zur Untersuchung verwendet, die sich als Untersuchungsgegenstand besser eignen, weil sie für eine teleologische Beschreibung von Sozialität zugänglich sind. Beide Semantiken zielen mit Recht auf die Frage ab, inwieweit zustimmungsfähige philosophische Beschreibungen für die praktische Schwelle von Identität und Differenz formuliert werden können. Bevor diese Einrahmungen teleologischer Muster bei Schleiermacher und Hegel verfolgt werden, möchte ich zwei gegenwärtige Forschungskontexte aufrufen, um das Problem der Nichtidentität von Überzeugungen von den trivialen alltäglichen Formen von Meinungsverschiedenheiten abzuheben. Davon ausgehend wird ein Verständnis von Pluralität entwickelt, das die Realisierungen von Zielen als soziales Phänomen mit den Erwartungen an formale, begriffliche und qualitative Bestimmungen abgleicht.

2 Nichtübereinstimmung So sind die Forschungen über deep disagreement ³ darauf gerichtet, substantiellen Dissens bezogen auf ein und dasselbe Thema zu erklären. Während bei Geschmacksfragen, Lebensstilen sowie der Antipathie zwischen Personen gar kein argumentativ zu entfaltender Dissens gegeben ist, hängt die Bezeichenbarkeit eines nicht auflösbaren Dissenses vom mitlaufenden epistemischen Kontext ab. So kann die einfache Kontradiktion (ist der Fall/nicht der Fall) kontextualistisch auf die Äußerungsbedingungen der Sprecher*innen zurückgeführt werden. Wird dagegen die Möglichkeit angenommen, dass mehrere Personen auf gleiche Weise ein und denselben Sachverhalt artikulieren können, sind auch bessere Bedingungen dafür gegeben, einen im Vergleich unüberbrückbaren Dissens zu bezeichnen. A ist überzeugt, dass p. B ist überzeugt, dass nicht p. A: Es gibt einen Klimawandel. B: Es gibt keinen Klimawandel. Im Zusammenhang der Diskussion über deep disagreement sind neben den epistemischen auch die normativen Aspekte von Dissensen bezeichnet worden.⁴ An dieser Stelle gilt es, im Rahmen unserer Diskussion über die Pluralität in sozialen Formen weiter voranzugehen. Am oben angegebenen Beispiel wäre auszudifferenzieren, was  Vgl. Elke Brendel, „Dissens und epistemischer Relativismus“, in: Weiter Denken – Über Philosophie, Wissenschaft Und Religion, hg.v. Anna Wehofsits u. a., Berlin 2015, 153 – 170; Max Kölbel, „Faultless disagreement. Proceedings of the Aristotelian Society“, New Series 104 (2004), 53 – 73.  Vgl. Max Kölbel, „Agreement and Communication“, Erkenntnis 79 (2014), 101– 120.

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die Sprecher über den Klimawandel wissen und ob die Sätze objekt- oder metasprachlich gemeint sind (B*: Es gibt keinen Klimawandel, weil die Phänomene der Klimaveränderungen mit Klimawandel unangemessen bezeichnet sind.). Selbst wenn eine Präzisierung bezüglich der Kontexte des Sprechens erreicht ist, sind die normativen Anschlüsse komplex, wie die folgenden kontrafaktischen Verhältnisse exemplarisch verdeutlichen: K1: Wenn es einen Klimawandel gibt, lässt sich durch Interaktion und Kooperation in ökonomischer, politischer, pädagogischer, wissenschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Hinsicht daran genau so wenig ändern wie in der Geschichte des Klimas auf der Erde zuvor. K2: Wenn der Klimawandel durch das Verhalten von Menschen mit bedingt ist, lässt sich daran auch etwas ändern. K3: Wenn der Klimawandel nicht mehr rückgängig zu machen ist, lassen sich doch durch Intervention die Folgen für nachfolgende Generationen mildern. K4: Wenn der Klimawandel zu beeinflussen ist, sind die Aufwände abzuwägen, die in ökonomischer, politischer, pädagogischer, wissenschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Hinsicht dafür betrieben werden… Die kontrafaktischen Konstellationen reichern den Dissens über die bloße Kontradiktion hinaus erheblich an. Sie sind als plurale Formen, in denen Haltungen zu einem gesellschaftlich gewichtigen Problem zum Ausdruck kommen, bereits für sich besehen von Interesse. Wesentlich deutlicher wird die Nichtübereinkunft aber dann, wenn maßgebliche Ziele für soziale Formen aufgerufen werden. Z1: Jede Gesellschaft hat eine Verantwortung für zukünftige Generationen; deshalb sollten unverzüglich Maßnahmen in ökonomischer, politischer, pädagogischer, wissenschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Hinsicht gegen den Klimawandel ergriffen werden. Z2: Über die eigene Lebenszeit hinaus hat niemand für etwas Verantwortung. Dementsprechend wird die Kontinutiät von Gesellschaften zwar über die Interaktion der Generationen gewährleistet, doch nicht im Sinn eines allen gemeinsamen Ziels, zum Beispiel der Verantwortung für zukünftige Generationen. In der Zuspitzung von Z1 und Z2 sind einige Voraussetzungen eigens zu entfalten: die Adressaten und Kriterien der Verantwortlichkeit, die Bedeutung des Kollektivsubjekts „Gesellschaft“ (soziale Form,Weltgesellschaft usw.), der Umgang mit Zeit (Zukunft der Generationen), Begriff der Interaktion. Auf diese Weise wird Pluralität nicht einfach als semantische Opposition verstanden, aber auch nicht als patchwork von Weltanschauungselementen, sondern als relationales Gefüge aus Zielen, Normen, Argumenten, Haltungen und Überzeugungen. Insofern haben wir es mit einem „deeper disagreement“ zu tun, das aber nicht

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allein in theoretischer Absicht zu notieren ist, sondern das verdeutlicht, welche Schwellen für ein Einvernehmen überschritten werden. A: ist überzeugt, dass der Verbrauch von natürlichen Ressourcen begrenzt werden soll. B: ist überzeugt, dass der Verbrauch von natürlichen Ressourcen nicht begrenzt werden kann. In jedem Fall wird die zu verändernde Welt als mögliche Welt für das praktische Schlussfolgern von konträren Positionen aus aufgerufen. Die Modalität von aktueller mit Bezug auf eine antizipierte mögliche Welt oder mehrere davon unterliegt erneut nicht allein einer Logik der Zeit, welche die Kontinuität und Diskontinuität zwischen den Welten ausweisen muss, sondern mehreren evaluativen Positionen, die durch Informationszuwachs und Überzeugungsveränderungen variabel bleiben.

3 Kooperation Wie diese Positionen nicht nur argumentativ erschlossen, sondern auch in Interaktionen eingebunden werden können, soll unter dem Leitbegriff der „kollektiven Intentionalität“⁵ diskutiert werden. Dabei steht im Fokus, inwieweit geteilte Absichten in gruppenbezogenem Handeln internalistisch als individuelles Wissen von geteilten Absichten präsent ist, ob Absichten von allen Mitgliedern vollständig geteilt und vollzogen werden müssen, ob es sinnvoll ist, von Gruppenabsichten oder gar von einem Gruppenbewusstsein zu sprechen und wie der Übergang von Ich- zu Wir-Absichten zu denken ist. Für die Diskussion über Pluralität ist dabei relevant, wie sich diese artikuliert. Ob für Personen ihre jeweiligen Absichten präsent sind, also ihre Lebensziele gleichsam ausgefaltet vor ihnen liegen, mag dahinstehen. Für das Verständnis von Pluralität in sozialen Formen gilt es zu bedenken, ob diese Lebensziele in kooperativem Verhalten überhaupt zur Geltung kommen oder nicht. Wenn Ziele und Teilzeile mit sich ergänzenden Handlungen verfolgt werden, sind basale Orientierungen nicht einfach da, weder als Bewusstsein für Orientiertsein noch als handlungsprägendes Element. Es wird trotz variabler Intensitäten, in denen basale Orientierungen in Kooperationen präsent werden, anzunehmen sein, dass die beteiligten Personen nicht notwendigerweise dieselben oder ähnliche Vorstellungen von einem glücklichen oder gelingenden Leben haben. Erstens ist also strittig, wie relevant diese Vorstellungen für Kooperationen überhaupt sind. Zweitens dass es sinnvoll ist, mithilfe eines Integrals wie Sprache, Vernunft, „Wert“, Würde oder Ziel ethische Differenzen solange einzukreisen, bis sich ein Modell abzeichnet, unter dem Pluralität besser zu verrechnen ist. Diese Strategie führt vielfach zu dem Ergebnis, dass die

 Ludger Jansen, Gruppen und Institutionen. Eine Ontologie des Sozialen. Wiesbaden 2017, 105 – 143.

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faktische Differenz in sozialen Formen und die daraus resultierenden Formen von Nichtübereinstimmungen, Inkonsequenzen, Scheitern den beteiligten Personen angelastet werden, weil sie vermeintlich nicht die inhärente Normativität einer reduktionistischen Ethik zur Anwendung gebracht hätten. Da Kooperationen Zeit benötigen, sind Orientierungen nicht als Gegenstände, sondern als Aktualisierungen von Haltungen⁶ zu verstehen. Damit sind aber die Verfahren, unter denen sie präsent werden, selbst Objekt des Verstehens. Sind kooperative Verfahren als Realisierung von pluralen Repräsentationen maßgeblicher Ziele dazu geeignet, letztere zu artikulieren, zu vereinfachen und operationsfähig zu machen?

4 Relevante Ziele Nicht allein maßgebliche qualitative Bestimmungen des Menschseins wie die Orientierung am höchsten Gut, an der Menschenwürde, dem Gemeinwohl sind als Ziele zu benennen. [1] Von den Lebenszielen von Personen sind konzeptuell die begrifflichen Gestalten der philosophischen Reflexion als theoretischer und praktischer Vernunft auch deshalb zu unterscheiden, weil von Personen nicht erwartet werden muss, dass sie ihr Leben kohärent oder konsequent gestalten. [2] Ferner sind die Ziele sozialer Formen über Gewohnheit, Vereinbarung, interne und externe Steuerung realisiert. Sie sind für die Interessen von Personen ebenso offen wie für die Semantik maßgeblicher Ziele. [3] Wenn in sozialen Formen für Personen bessere oder schlechtere Handlungen, besseres oder schlechteres Verhalten, bessere oder schlechtere Regeln angegeben werden können, repräsentieren sich dort gleichfalls Ziele, die vom höchsten Gut zu unterscheiden sind. In seinen Akademievorlesungen hat Schleiermacher mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass die Verwendung der Prädikate gut und böse von der Orientierung am höchsten Gut zu unterscheiden ist. „Der Ausdruck höchstes Gut aber ist ebenso überall nicht in dem Sinne comparativ, in welchem ein höchster Grad zwar jeden niederen gewissermaßen in sich schließt, zugleich aber auch so ausschließt, daß doch von ihm für sich nicht weiter die Rede sein kann; sondern in dem Sinne, in welchem jedes Ganze größer ist und vollkommner als seine einzelnen Theile, aber doch nicht erkannt und dargestellt werden kann, als in so fern diesen dasselbe auch widerfährt.“⁷

 Vgl. Philipp Wüschner, Eine aristotelische Theorie der Haltung: Hexis und Euexia in der Antike. Hamburg 2017.  Schleiermacher 2002, Erste Abhandlung, 545 (Anm. 1).

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Die mereologische Figur, die hier Anwendung findet, bedarf jedoch einer eingehenden Betrachtung, weil ein Harmoniekonzept vorausgesetzt wird, das entweder im Bösen eine korrekturfähige Devianz erkennen muss oder jede Variation in irgendeiner Handlung als mögliche Artikulation einer Orientierung am höchsten Gut. Zwar erscheint es einerseits nicht als sinnvoll, für jede Person ein je einzelnes höchstes Gut zu bestimmen,⁸ weil die sozialen Formen, die auf die Teleologie des menschlichen Verhaltens bezogen sind, solche Originalität nicht erkennen lassen. Andererseits führt Schleiermacher eine Nivellierung der jeweiligen Lebensorientierungen und der Heterogenität sozialer Formen durch, indem er den Vernunftbegriff als Integral verwendet. „Wenn also von dem Inbegriff der Güter die Rede sein soll, so kann nur auf die Gesammtwirkung der Vernunft zurückgegangen werden.“⁹ Innerhalb der ethischen Theorie ist das teleologische Modell der Rahmen für Tugend- und Pflichtbegriffe. Auch ist es variabel, was den Vernunftgebrauch von Personen betrifft. Wie aber die Zersplitterung in das persönliche einzelne Leben nur dem Irdischwerden der Vernunft angehört: so gehört es zur Vergeistigung der irdischen Erscheinung, daß die Vernunft die Schranken der Persönlichkeit durchbreche, und daß soviel möglich, es ist aber freilich nur in den mannigfaltigsten Abstufungen möglich, das geistige Leben in jedem Einzelnen zugleich für Alle sei, und doch in jedem ein anderes, je nachdem in einzelnen Äußerungen die Selbigkeit des Einen Princips vorherrscht, oder in den andern die Eigenthümlichkeit der Gestaltung sich geltend macht.¹⁰ Nun ergeben sich sowohl durch die Zuordnung von Element und Rahmen als auch mit einer anthropologischen Voraussetzung Schwierigkeiten. Wenn Nichtübereinstimmungen und Probleme der Kooperationen die Mehrdimensionalität von Person, Gruppe, Institution sowie von Alterität, Verstehen, Sprache, Handlung freilegen, scheint, anders als Schleiermacher meint, kaum eine einfache Subsumtion auszureichen oder eine Identifizierbarkeit anzunehmen zu sein.¹¹ Überhaupt kann bezweifelt werden, dass sich die Zugänglichkeit von maßgeblichen Zielen oder erwünschten Konsensfiguren erhöht, wenn etwas als vernünftig, im Zeichengebrauch verständlich oder kognitiv angemessen erscheint. Wobei allerdings dieses vorausgesetzt wird, daß alle Vernunftthätigkeit, auch die verschiedensten und einander relativ entgegenstehenden nicht ausgeschlossen, unter sich compossibel; jede Thätigkeit aber, welche die Abzweckung hätte, Vernunftthätigkeiten oder deren Wirkungen aufzuheben, keine Vernunftthätigkeit sei. Diese, allerdings die ethische Grundvoraussetzung, ist aber auch nichts anders, als die uns

 Schleiermacher 2002, Erste Abhandlung, 547 (Anm. 1).  Schleiermacher 2002, Erste Abhandlung, 548 (Anm. 1).  Schleiermacher 2002, Erste Abhandlung, 551 (Anm. 1).  Schleiermacher 2002, Erste Abhandlung, 553 (Anm. 1): „Die Frage aber, ob diese und jene Gestaltung der Dinge ein Element des höchsten Gutes sein könne, wird immer leicht zu entscheiden sein, und niemand kann sie abweisen.“

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Allen ursprünglich einwohnende Überzeugung von der Identität der Vernunft in Allen.¹² Diese Voraussetzung ist ethisch höchst belangvoll, weil sie die Zumutung beinhaltet, dass jede und jeder möglicherweise eine Austragung über Dissens und die Organisation von gemeinschaftlichem Wirken leisten könnte, unbesehen zunächst von Talent, Fähigkeit und Fertigkeit. Diese Wendung hin zu der Erwartung, dass soziale Ereignisse auf Sinn und Bedeutung hin beschrieben werden können, setzt aber keineswegs mit deren qualitativer Bestimmung ein und dasselbe höchste Gut voraus. Vielmehr werden mit solcher Methodik Ziel und Verfahren, Gegenstand und Realisierung vermischt. Schleiermacher führt die zwei Ebenen der anthropologischen Bestimmung des zeitlichen Bewusstseins und die gesellschaftliche Transformation in Sprache und Handlung mit der transzendentalen Figur der Einheit der Vernunft gegenüber der Natur zusammen, die jedoch nicht dazu geeignet ist, Differenzen in sozialen Situationen, und damit auch die Uneinigkeit bezüglich maßgeblicher Güter, zu erklären und als solche zu würdigen. Im zeitlichwerdenden unmittelbaren Selbstbewußtsein nämlich setzt das geistige Einzelwesen sich selbst als vereigentümlichend das gemeinsame, oder als verallgemeinernd das besondere, indem es besondere Seele in jedem Moment nur als Vernunft wird, und als in der symbolisirenden Thätigkeit begriffen zugleich die Einheit des Seins und Bewußtseins, oder das absolute schlechthinnige in sich trägt, das heißt, es prägt sich aus als sittliches und frommes Selbstbewußtsein.¹³ Die Uneinigkeit bleibt auch wegen der geschichtsphilosophischen Aussicht der Ausdifferenzierung von Kulturen durch Kommunikation und Interaktion auf sympathische Weise optimistisch, was die Fortentwicklung und das Lernen von Gesellschaften angeht. „Und eben so erklärt sich hieraus das Verlangen, welches von jeher Einzelne mit besonderem geschichtlichen Sinn begabte in die Fremde verlockt hat, nicht um des Gewinns oder Verkehrs willen, sondern um die abweichenden Gestaltungen des menschlichen Lebens kennen zu lernen, und durch diese Kunde das gemeinsame Leben, dem sie angehören, zu bereichern.“¹⁴Aufgrund der Idealisierung dieses Prozesses bleibt bei Schleiermacher, abgesehen von den Figuren von Steigerung und Hemmung, der auf Dauer gestellte Dissens und die Natur von Konflikten im Schatten. Die Kontinuität von Zeichenprozessen in Kommunikation und Handlungen  Schleiermacher 2002, Zweite Abhandlung, 661 (Anm. 1).  Schleiermacher 2002, Zweite Abhandlung, 674 (Anm. 1). Vgl. zum Verhältnis von Sittlichkeit und Religion: Friedrich Schleiermacher, Die christliche Sitte, hg.v. Wolfgang E. Müller, Waltrop 1999 [Nachdruck Berlin 21884], Beilage A, 7, § 19: „Das höhere Gefühl ist nur Eins. Das sittliche und religiöse sind nur zwei verschieden Ansichten eines und desselbigen. Entweder religiös ist die Beziehung auf Gott, und sittlich die Beziehung auf die Welt, oder sittlich ist das Sein der Vernunft in der Sinnlichkeit, religiös das Sein des göttlichen Geistes. ad 1. Die Welt läßt sich nicht volkommen denken (als Totalität und Einheit) außer in und mit Gott, und von Gott giebt es keine andere Offenbarung als die Welt. ad 2. Wenn man die Vernunft ganz anerkennt, als das absolute in uns: so muß sie auch als göttlicher Geist erscheinen.“  Schleiermacher 2002, Zweite Abhandlung, 670 – 671 (Anm. 1).

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wird entfaltet. „Daher ist das Ende dieser Wirksamkeit, mithin die hieher gehörige Seite des höchsten Gutes, nichts anderes, als das möglicheste Organisirtsein der gesammten irdischen Natur für die geistigen Functionen des Menschen.“¹⁵ Dass aber die Steigerung von Kommunikation und Handlungen zielbezogen und vernunftorientiert sein müssen, ist zunächst nicht anzunehmen. Dagegen wäre ausgehend von den Beobachtungen zu Kooperation und Nichtübereinstimmung anzunehmen, dass die begriffliche Reduktion nicht dazu verhilft, die Koexistenz von Gesellschaften, internationale Beziehungen oder die Integration von auf Dauer gestellten Inkohärenzen in sozialen Formen zu verstehen. Schleiermachers Reflexionen über das höchste Gut enthalten auch Beobachtungen zur Vagheit des Geeintseins, wenn er darüber nachdenkt, wie Sprachbarrieren überwunden werden können, etwa in der Konzeption des Völkerrechts als Sprachlehre.¹⁶ Es ist aber letztlich die auf dem Begriff des Gefühls aufruhende Integration von Ethik und Religion, mit der die unvollkommenen Realisierungen der Vernunft in der Differenz von Vereinzelung und Gemeinschaft sowie Kontinuität aufgehoben werden.¹⁷ An dieser Stelle wechselt Schleiermacher abrupt die Diskursart und das Himmelreich wird als Kategorie aufgerufen. Denn das Himmelreich ist nur als Eine, alle Einzelnen gleichsam in einander auflösende Gemeinschaft des tiefsten Selbstbewußtseins mittels geistiger Selbstdarstellung in ernsten Kunstwerken gesetzt; aber die Vollständigkeit und bezugsweise dann auch Unveränderlichkeit des Wissens getrauten wir uns nicht eben als Einheit, sondern nur in der Wechselwirkung einer neben einander fortbestehenden Mehrheit, zu denken.¹⁸ Weder der fortgesetzte Austausch und die Genese von Wissen noch die internationalen Beziehungen sind Schleiermacher zufolge Orte angemessener Realisierungen von Vernunft in der Geschichte.¹⁹ Im Rückgang auf individuelle Mitgestaltung kommunikativer Prozesse kann Schleiermacher sich die Weltgesellschaft denken. Sind also […] Productivität und Gemeinschaft durch einander bedingt, indem nur so die Vernunft sich als Einheit herstellt aus der Zerspaltung in Einzelwesen: so fordern wir auch hier eine über die ganze Erde sich verbreitende Wechselerregung und Mittheilung des Wissens, und eben so eine überall versuchte wechselseitige Offenbarung und Erregung der zeitlichen Selbstbewußtseinszustände, des Gefühls sowol, das heißt der mehr passiven, als auch der freien Verknüpfung, das heißt der mehr activen.²⁰

     

Schleiermacher 2002, Zweite Abhandlung, 665 (Anm. 1). Schleiermacher 2002, Zweite Abhandlung, 675 – 676 (Anm. 1). Schleiermacher 2002, Zweite Abhandlung, 671 (Anm. 1). Schleiermacher 2002, Zweite Abhandlung, 677 (Anm. 1). Schleiermacher 2002, Zweite Abhandlung, 676 – 677 (Anm. 1). Schleiermacher 2002, Zweite Abhandlung, 673 (Anm. 1).

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Nicht nur was die Erreichbarkeit anderer Länder zu seiner Zeit betrifft, sondern vor allem die auf den Problemen sprachlicher Verständigung aufruhenden kulturellen Differenzen thematisiert Schleiermacher ausführlich. Er sieht dabei von der oben zitierten Passage von semantischen Konkretisierungen ab, wie sie durch Religionen tradiert sind, also etwa die Völkerwallfahrt zum Zion, die Vision eines neuen Himmels und einer neuen Erde, die Auferstehung von den Toten, die Vereinigung der Seele mit Gott oder Ankunft und Vollendung des Reiches Gottes. Auf diese Weise entlastet er sich von der Frage nach dem Status fiktionaler Texte für die Aufmerksamkeit auf letzte Ziele. Darüber hinaus ist die Pluralität mit Schleiermacher als Pluralität in sozialen Formen zu präzisieren, nicht aber als Pluralität der Semantik von Religionen, also der Konkurrenz der Semantik verschiedener Religionen oder ihrer Surrogate. Denn die Verschiedenheit der Sprachen, durch welche doch allein das Denken sich mittheilt, hängt ohnstreitig zusammen mit der klimatischen und volksthümlichen Verschiedenheit der Organisation. Und wie der menschliche Geist sich als Bewußtsein nur manifestirt in der Gesammtheit der Sprachen: so ist für die Gesammtheit der Einzelnen diese Manifestation nur vollendet in der Gemeinschaft aller Sprachen. Je vollständiger also jede alles Sein in ihrem Bezeichnungssystem ausdrückt; und je genauer sich alle andern Sprachen in jeder einzelnen abspiegeln: um desto vollkommner ist von dieser Seite die Vernunft in ihrer Einheit hergestellt aus der Geschiedenheit der Vereinzelung.²¹ Die Einzelheit repräsentiert sich gleichwohl auch in dem, was eine Person als maßgebliche Ziele für das eigene Leben und das Leben anderer kennt, anerkennt, missachtet, verachtet, bevorzugt oder ablehnt. Und bezogen auf die begrenzt kooperativen Formen, mit denen Kommunikation und Handlungen organisiert sind, gehört ein gerütteltes Maß an Optimismus hinzu, die Durchsetzungskraft von vernünftigem Denken, verständigungsorientierter Sprache, inkludierenden Handlungsformen in der Einheit Gottes vorauszusetzen oder als das Ziel von Religion vorzustellen.²² In ethischer Hinsicht wäre zu fragen, welches Ziel die Referenz auf das höchste Gut überhaupt hat. Sie vermag soziale und kulturelle Differenz nicht zu integrieren, weil sie Kontradiktionen und Antagonismen verwischt, und die Rekurrenz auf ein begrenztes Begriffsrepertoire mag nicht verdeutlichen, wie Emotion und Kognition in Religion und Religiosität vermittelt sind, welche Relevanz beide für die Präsenz und Realisierung durch Akteure haben, wie Ziele als externe oder interne Regulierung von sozialen Formen gewusst und praktiziert werden. Ein von der faktischen Differenz von religiösen und (nach eigenem Verständnis der Akteure) nicht religiösen Basisorientierungen geleiteter Umgang mit Zielen lässt vielfältige Formen der Einigung und der

 Schleiermacher 2002, Zweite Abhandlung, 673 (Anm. 1).  Schleiermacher, Ethik 1812/13, hg.v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1981, 118: „§193: Aber eben so oft geht ohne bedeutendes Tauschinteresse die Gemeinschaft unmittelbar aus von dem Interesse der freien inneren Geselligkeit, nemlich Eigenthümliches anzuschauen und zur Anschauung zu geben. Diesem entspricht ein gleicher Trieb Religion darzustellen und aufzufassen, wie denn Identität des Gefühls als Grund des Vertrauens auf jeden Fall auch muß ursprünglich vorausgesezt werden.“

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Nichtübereinstimmung zu, weil auch auf den Begriff der Religion bezogen eine einheitliche Bestimmung von Zielen schwer fällt. Das liegt daran, dass die Funktionalität von Religion, etwa als Diakonie, Seelsorge, kulturelles Ereignis, Kompensation von Leid, Schuldbewusstsein oder schlicht Unverständlichem intern mehrere Zielebenen aufwirft, von denen weder eine als dominierend noch integrierend festgelegt werden sollte. Die Differenzen von Religion und Basisorientierungen, die in sozialen Formen zum Austrag kommen, erzeugen Formen der Kontradiktion, dass etwa in ein und derselben Form Inkohärenz ausgehalten wird, ohne dass die Form selbst beeinträchtigt ist. Ein Unternehmen ist nicht notwendigerweise in seinem Bestand gefährdet, wenn die Beschäftigten unterschiedliche Konzepte von work-life-balance haben. In Bürgerinitiativen oder Vereinen kennen wir variable Formen des Engagements. Kirchengemeinden sollten bestenfalls unterschiedliche religiöse Stile integrieren können. Somit wird die Relation von Einzelnem und der Gestaltung von sozialen Formen, wie sie Schleiermacher entwickelt, auch in ihrer Geltung offenkundig; sie ermöglicht die Äußerung von subjektiv präsenten, verständlichen und gültigen Zielen in sozialen Räumen.

5 Geist und Objektivität Weil soziale Formen aber ausgehend von dieser subjektiven Bestimmung fragil erscheinen, gilt es zu erklären, wie die Pluralität, die Identifizierbarkeit und die Reduktion auf wesentliche Ziele funktionieren. Gerade wenn die funktionale Differenzierung Diffusionen erkennen lässt, als avancierte aber unklare Verantwortung des Subjekts, der Übergriff ökonomischer Macht auf im engeren politische, die Etablierung von Leitbildern in Unternehmen oder Freizeitgestaltung als Ersatzreligionen, wäre die Operationalisierbarkeit von lebensweltlich noch zu realisierenden Zielen als Moment der Reduktion zu erheben. Sie wird jedenfalls nicht als unmittelbarer, selbsterklärender Ausdruck zu denken sein. Das Wahre aber gegen dieses in die Subjektivität des Fühlens und Vorstellens sich einhüllende Wahre ist der ungeheure Überschritt des Inneren in das Äußere, die Einbildung der Vernunft in die Realität, woran die ganze Weltgeschichte gearbeitet, und durch welche Arbeit die gebildete Menschheit die Wirklichkeit und das Bewußtsein des vernünftigen Daseins, der Staatseinrichtungen und der Gesetze gewonnen hat. Von denen, die den Herrn suchen und in ihrer ungebildeten Meinung alles unmittelbar zu haben sich versichern, statt sich die Arbeit aufzuerlegen, ihre Subjektivität zur Erkenntnis der Wahrheit und zum Wissen des objektiven Rechts und der Pflicht zu erheben, kann nur Zertrümmerung aller sittlichen Verhältnisse, Albernheit und Abscheulichkeit ausgehen, – notwendige Konsequenzen der auf ihrer Form ausschließend bestehenden und sich so gegen die Wirklichkeit und die in Form des Allgemeinen, der Gesetze, vorhandenen Wahrheit wendenden Gesinnung der Religion.²³

 Georg Wilhelm Friedrich Hegel [1820], Grundlinien der Philosophie des Rechts 1821, hg v. Johannes Hoffmeister. Hamburg 41965, § 270, 223 – 224.

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Die Differenz interner und externer Bestimmungen von Zielen, die uns bereits bei Schleiermacher begegnete, bewahrt Hegel zufolge Akteure davor, sich selbst als Verwirklichende des Endzwecks der Welt zu verstehen.²⁴ „Es entsteht diese Collison überhaupt indem ich handle vertraue ich das Meinige der Äußerlichkeit an. Die anderen können machen daraus was sie wollen – aber ich bin es doch der es gesezt hat.“²⁵ Wie der Begriff des Endzwecks mit dem höchsten Gut insofern kollidiert, als zum einen mehrere Auffassungen davon konkurrieren,²⁶ zum anderen die Reflexion nicht allein auf den Vernunftgebrauch, sondern die Allgemeinheit des Willens gerichtet ist, dient das Motiv der Veräußerung lediglich dazu, die Spannung von Begriff und Realität sowie Artikulation und Verstehen aufrecht zu halten. §69 Das Gute ist die Idee des allgemeinen Willens, in welchem die besondern Zwecke des Wohles, die Subjektivität der Absichten, und die Zufälligkeit des aüßerlichen Daseyns, sowie das rechtliche Daseyn, als für sich selbstständig aufgehoben und darin enthalten sind, so daß sie von der Idee selbst unterschieden, nur als ihr gemäß bestimmt sind; der absolute Endzweck der Welt, der Gedanke des wahrhaften Rechts.²⁷

Wenngleich Hegel mit dem Begriff des Rechts, der Realisierung des Wahren im Modus der Vorstellung sowie der Figuren des absoluten Wissens gesellschaftstheoretische, religionsphilosophische und logische bzw. im engeren Sinn philosophische Abschlussfiguren unterscheidet, sind sie in der Logik des Begriffs²⁸ dahingehend vermittelt, dass sie einen Artikulationsraum für die Geltungsbedingungen maßgeblicher Ziele bestimmen. Dies ist auch methodisch erforderlich, um erklären zu können, warum nicht ein beliebiges, vielfältiges Nebeneinander von Zielen und Zielkonzepten erfreut. Die basale Intuition, das „Vertrauen“, bezieht sich möglicherweise nicht auf geteilte und mitgeteilte Unmittelbarkeit wie Schleiermacher meint, sondern darauf, dass die vorgefundenen sozialen Formen zu etwas gut sind. Für das Verständnis so-

 Georg Wilhelm Friedrich Hegel [1817], Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Gesammelte Werke, Bd. 13, hg v. Wolfgang Bonsiepen / Klaus Grotsch, Hamburg 2000, 461: „Formelle Gute ist Seyn an ihm selbst, d.i. Selbständigkeit – nur an ihm selbst nicht eine von ihm unterschiedene Selbstständigkeit – unendliche Vermittlung mit sich – Gute hat keinen Inhalt – denn Inhalt Identität der Form mit sich – hier Gegensaz des in sich seyenden Willens gegen eine Realität – Rednerey vom Guten – Moralische Mensch meynt, – die Welt habe auf ihn gewartet, daß der absolute Endzwek vollbracht – Erfahrung, daß er vollbracht – daß es im Allgemeinen gut ist, wie es ist – […] Mann reducirt, nur seine Stelle sich darin bestimmen.“  Unter der Rubrik „Moralität“ vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel [1817– 20], Vorlesungen über die Philosophie des Rechts I, Gesammelte Werke, Bd. 26/1, hg.v. Dirk Felgenhauer, Hamburg 2013, 391.  Georg Wilhelm Friedrich Hegel [1821– 23], Vorlesungen über die Philosophie des Rechts II, Gesammelte Werke, Bd. 26/2, hg.v. Klaus Grotsch, Hamburg 2015, 920.  Hegel 2013, 281 (Anm. 25).  Hegel 2015, 891 (Anm. 26): „Das Gute also ist dem Begriff angemessene Wirklichkeit und so das Gute der Endzweck der Welt. Das gute also ist in der Welt wirklich, diesem Begriff angemessen und somit das Gute. (= Realisierung des Rechts).“

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zialer Formen werden Willensbestimmung, Einbildungskraft und Formate des Wissens herangezogen, und diese Komplementarität macht es unter gegenwärtigen Bedingungen nötig, die Pluralität von sozialen Formen und die Pluralität in sozialen Formen weiter zu explizieren. Denn nicht die offenkundige semantische Unvereinbarkeit der Weltreligionen, sondern Pluralität auf dem Hintergrund von Mobilität, Datenaustausch, biographischen Konzepten, Körperwahrnehmungen und sozialer Ausdifferenzierung erzeugt Konflikte. Sie wären als differente Zielorientierungen aufzubewahren, ohne Erweiterungsfiguren von individueller Kognition zu einer Rahmentheorie der Vernunft oder ohne eine schon für Hegel nicht plausible Erweiterung des privaten Wohls um ein vages Allgemeines.

6 Typen von Pluralität Wenn wir uns also dem Vorkommen von Pluralität in sozialen Formen systematisch zuwenden, tritt neben die Erwartung, dass diese sich auf kognitive und volitive Ursachen zurückführen lassen, unter gegenwärtigen Theorienanforderungen, dass soziale Formen gemäß Mehrebenenanalyse für die Erfassung maßgeblicher Ziele, vorrangiger Güter und logischer Bestimmungen des Status von Alterität, Emotion, Kognition, Kommunikation und Handlung zugänglich sind. Unter Fokussierung von Normativität (analog: von Haltungen und Zielen usw.) gilt also demnach: „Um mit Normen umgehen zu können, müssen wir über diese zugleich verfügen und sie unserer Verfügung entziehen können, sie als gemacht und als gefunden behandeln.“²⁹ Die Genese von Pluralität wird also nicht von der Ergebnisseite als sortierfähiges Allerlei dastehen bleiben, sondern es wird auch bei der Begründung und Erläuterung von Pluralität eine Heterogenität zu erwarten sein.³⁰ (1) Da sich Ziele, wie einleitend formuliert, für Personen, Paare, formelle und informelle Gruppen, Organisationen und Institutionen bestimmen lassen, sind sie in den sozialen Formen, in denen die genannten Formationen vorkommen, im Modus von Emotion, Kognition, Kommunikation und Handlungen explizierbar. Als logische Figuren unterliegen sie Alteritäten, die zum Zweck der Operationsfähigkeit von sozialen Formen korrigierbar vereinfacht werden. Dazu ist es nötig, dass unbeschadet der Diversifikation in Zielebenen das Verstehen von Zielen und das Operieren mit Zielen übersetzbar sind. Die Referenz auf einen real oder fiktional zugänglichen letzten Zweck oder ein vorrangig als besser zu wählendes oder die Wahl des Besseren konfigurierendes Gut repräsentieren derartige Übersetzungsfiguren.

 Christoph Möllers, Die Möglichkeit der Normen. Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität, Berlin 2015, 399.  Christoph Möllers 2015, 412 (Anm. 29).

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(2) Als Kriterien der Übersetzung sind gemäß Hans Rott vorauszusetzen:³¹ eine Wahrmacherrelation aufseiten des Interpreten, dass also die Bezugnahme auf etwas Wahres erwartet wird, ferner Kohärenz, semantische Bestimmtheit und Informationsgehalt. Diese Kriterien ermöglichen es auch, Differenzen als solche festzustellen, beizubehalten oder zu modifizieren. Da sich Möglichkeiten und Notwendigkeiten von Übersetzungen auf ein und derselben Zielebene und quer dazu ergeben, wird deutlich, wie sich Basisorientierungen von Personen, Paaren, informellen und formellen Gruppen sowie Zielkonzepte von Institutionen ändern. Sie stellen sich als Alterationen von Wissen dar, als Muster von Relationen, Instantiierungen von partizipativ zugänglichen Ereignissen, Situationen, Erinnerungen und Erwartungen (Hoffnungen, Befürchtungen). Sie sind mit Haltungen, Diskursen und Handlungen konfiguriert, dies aber nicht ohne dass Kriterien benannt werden könnten für die Qualität von Übersetzungen und Kooperationen. (3) Als Bedingungen für das Gelingen von Realisierung, Variationsfähigkeit und Störungstoleranz wäre zuerst zu erheben, wie Pluralität gewusst, begründet und gestaltet wird: Pluralität als artikulierte Differenz, und nicht als bloßes Unterschiedensein. Wenn als Kriterien Wissen, Begründung und Gestaltung benannt sind, sind auch anthropologische Kategorien zu berücksichtigen, die die Anwesenheit von Personen, ihre Verkörperung, die Hybridbildung von An- und Abwesenheiten durch Mediengebrauch einzeichnen. Das Gebilde der sozialen Form ist demnach ein Ort, in dem Normen gefunden und hergestellt werden, und bis auf Widerruf in Geltung sind. Die Haltungen von Personen sind daran angelagert als diejenigen Muster von Emotion, Kognition und Volition, die es ihnen allererst ermöglichen, sich so oder so zu Sozialität zu verhalten. So gesehen gibt es auch keine vorgeschaltete Haltung von Personen zu Pluralität; Pluralität kommt vor. (4) Vorrangige Ziele zu verfolgen, personal oder sozial, unterliegt als Realisierung gesellschaftspolitischer Aufgaben, zum Beispiel in zivilgesellschaftlichem Engagement, gleichwohl elementaren Standards: Identifizierbarkeit, Übersetzbarkeit, Kooperationsfähigkeit. Sie sind auf der Grundlage eines prozeduralen Verständnisses nur auf die Annahme gegründet, dass es jedweder Position in pluralen Verhältnissen zukommt, sich angemessen hinsichtlich Aufwand und Adaptionsmöglichkeit als möglicherweise plausible Position anbieten zu können.³² (5) Über diesen Informationsaustausch hinaus werden maßgebliche und vorrangige Ziele zur Diskussion gestellt, zum Beispiel: die natürlichen Ressourcen schonen; Zugang zu Bildungseinrichtungen eröffnen; Möglichkeiten für sinnvolle Erwerbsarbeit eröffnen; Kommunikationsmedien bereitstellen; das Überleben sichern; zeit- und strukturökonomische Rechtsfindung realisieren; gesunde Lebensmittel verfügbar machen. Sie werden für Detaillösungen als vorrangig und maßgeblich anzugeben  Vgl. Hans Rott, „Disagreement and misunderstanding across cultures“, in: Cultures. Conflict – Analysis – Dialogue, hg.v. Christian Kanzian / Edmund Runggaldier, Heusenstamm 2007, 261– 277.  Vgl. Immanuel Kant [1795], Zum ewigen Frieden, Kants Werke, Bd. 8, Berlin 1968 [Nachdruck der Akademieausgabe Berlin 1902], 342– 386, hier 357– 358.

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sein. Indem darin zum Austrag kommt, warum jemand etwas als vorrangig und maßgeblich ansieht, wird der Streit nicht um höchste Güter oder den Endzweck der Welt ausgetragen, sondern um das, was über die politische Einzelentscheidungen, die Lebenszeit und den Handlungsspielraum der Beteiligten hinausgeht.

Rochus Leonhardt / Leipzig

Staat und Religion

Zur theologie- und zeitgeschichtlichen Einordnung sowie zur Gegenwartsrelevanz der Position Schleiermachers „Konfessionelle Differenz und religiöse Vielfalt“ – unter diesem Motto stand der erste, dem Begriff der Pluralität gewidmete Tag des Internationalen Schleiermacher-Kongresses im März 2017. Vier Vorträge der Sektion I befassten sich mit dem Thema „Religion und soziale Ordnung“. Diesem Kontext entstammen die nachstehenden Ausführungen. Sie nehmen konkret das Verhältnis von Staat und Religion im Denken Schleiermachers in den Blick. Schleiermachers Position wird im ersten der drei Abschnitte grob und lediglich im Blick auf die Reden Über die Religion skizziert. Diese Skizze wird in einem zweiten Abschnitt (unter Berücksichtigung auch anderer Texte Schleiermachers) durch Hinweise auf maßgebliche theologiehistorische Hintergründe und zeitgeschichtliche Kontexte vertieft sowie durch zwei Exkurse angereichert. Der dritte und letzte Abschnitt kommt auf eine gegenwärtig relevante Problemkonstellation zu sprechen und stellt die Frage, was diesbezüglich von Schleiermacher gelernt werden kann.

1 Die politischen Konsequenzen des religiösen Pluralismus nach den Reden Über die Religion Nach Schleiermacher gilt: Religion ist, recht verstanden und im eigentlichen Sinne, ein „Unendliches des Stofs und der Form“ sowie „des Seins, des Sehens und des Wissens darum“¹. Daher kann und muss sie im Kern als ein unhintergehbar plurales Phänomen gelten. Das nachstehend abgedruckte Zitat macht dies in besonderer Klarheit deutlich. Jeder muß sich bewußt sein, daß die seinige [gemeint ist die je eigene Religion; R.L.] nur ein Teil des Ganzen ist, daß es über dieselben Gegenstände, die ihn religiös affizieren, Ansichten gibt, die eben so fromm sind und doch von den seinigen gänzlich verschieden, und daß aus andern Elementen der Religion Anschauungen und Gefühle ausfließen, für die ihm vielleicht gänzlich der Sinn fehlt.²

Diese 1799 in der zweiten Rede formulierte Einsicht hat Schleiermacher bereits in der zweiten Auflage der Reden von 1806 zur expliziten Zurückweisung der Dualität von

 Friedrich Schleiermacher [1799], Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, KGA I/2, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 189 – 326, hier 216,36– 37.  Schleiermacher 1984, Religion, 216,38 – 217,3 (Anm. 1). https://doi.org/10.1515/9783110569520-015

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wahr und falsch im Blick auf die Religion weitergeführt. Dieser Dual gelte „nur da, wo man es mit Begriffen zu thun hat, und wo die negativen Gesetze Eurer Logik etwas ausrichten können, sonst nirgends. Unmittelbar in der Religion ist Alles wahr; […] unmittelbar ist aber nur, was noch nicht durch den Begriff hindurch gegangen ist“³. Seine Ablehnung der Wahr-Falsch-Unterscheidung bezüglich der Religion hat Schleiermacher 1821 in die Glaubenslehre aufgenommen und hier näher profiliert. Dies geschah im Kontext der Einordnung realexistierender Frömmigkeitsgemeinschaften in ein auf zwei Differenzierungen beruhendes Schema. Danach verhalten sich die „in der Geschichte erscheinenden bestimmt begrenzten frommen Gemeinschaften […] gegeneinander theils als verschiedene Entwicklungsstuffen, theils als verschiedene Arten“⁴. Diese Differenzierung könnte nun, so Schleiermacher, eine Absage an die Auffassung implizieren, nach der „sich das Christenthum zu allen oder auch nur einigen Gestaltungen der Frömmigkeit verhalte, wie die wahre zu den falschen“⁵. Schleiermacher vermag eine solche Konsequenz allerdings dadurch zu vermeiden, dass er „diesem ganzen Verfahren die Ansicht zum Grunde [legt], daß der Irrthum nirgend an und für sich ist, sondern nur an der Wahrheit, und daß er nicht eher recht verstanden worden, bis man an ihm die Wahrheit gefunden hat“⁶. An die Stelle der (qualitativen) Differenz zwischen Wahr und Falsch tritt damit der (eher quantitative) Unterschied zwischen höherer Wahrheit und Irrtum. – In den in der 3. Auflage der Reden von 1821 enthaltenen Erläuterungen hat Schleiermacher ausdrücklich auf seine eben referierten Ausführungen aus der Glaubenslehre verwiesen.⁷ Ebenfalls schon 1806 hat er die 1799 noch am Individuum aufgezeigte unhintergehbar plurale Verfasstheit von Religion auf die unterschiedliche Erregbarkeit auch der verschiedenen religiösen Organisationen bezogen. „[D]er ganze Umfang der Religion ist ein Unendliches“ nicht nur deshalb, „weil jede einzelne religiöse Organisation einen beschränkten Gesichtskreis hat“, sondern vor allem, „weil jede [scil. religiöse Organisation; R.L.] eine andere ist, und also auch nur auf eine eigene Weise erregbar, so daß auch innerhalb ihres eigenthümlichen Gebietes für eine andere die Elemente der Religion sich anders würden gestaltet haben“⁸. Damit legt die zweite Auflage schon am Ort der spekulativen Wesensbestimmung der Religion die Frage nahe, wie die unvermeidbare Pluralität unterschiedlicher religiöser Einstellungen inklusive der damit verbundenen Vielfalt religiöser Institutionen mit den der Staatsraison verpflichteten Orientierungen des politischen Ordnungs-

 Friedrich Schleiermacher (1806), Über die Religion (2.‐) 4. Auflage, Kritische Gesamtausgabe I/12, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1995, 1– 321, hier 73,6 – 10.  Friedrich Schleiermacher (1821/22), Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, KGA I/7,1, hg.v. Hermann Peiter, Berlin / New York 1980, 47,1– 3 (§ 14 Leitsatz).  Schleiermacher 1980, 48,22– 24 (§ 14,3) (Anm. 4).  Schleiermacher 1980, 48,31– 34 (§ 14,3) (Anm. 4).  Schleiermacher 1995, 136,11– 137,17 (Anm. 3).  Schleiermacher 1995, 73,13 – 21 (Anm. 3).

Staat und Religion

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rahmens vermittelt werden soll. – Als Ausgangspunkt für Schleiermachers Beantwortung dieser Frage können seine bereits 1799 in der vierten Rede formulierten Überlegungen zum Verhältnis von Staat und Religion gelten.⁹ Schleiermachers diesbezügliche Auffassung ist im Groben gut bekannt. In den Reden hat er das Ideal einer staatsfreien Kirche beschworen; die faktisch gegebene – und aus seiner Sicht staatlicherseits verschuldete – Vermischung von Religion und Politik verhindere nämlich eine angemessene gemeinschaftliche Kultivierung der religiösen Anlagen der Menschen und fördere stattdessen die Entartung der wahren Kirche. Zu jeder religiösen Gemeinschaft gehören von Anfang an religiöse Dilettanten; in Schleiermachers Worten: „um jedes einzelne Bruchstück der wahren Kirche“ bildet sich „eine falsche und ausgeartete Kirche“¹⁰. Normalerweise würden diese depravierten Elemente früher oder später wieder ausgeschieden werden. Allerdings wird dieser natürliche Vorgang stets dadurch verhindert, dass die politischen Herrscher die Religionsgemeinschaft für sich entdecken und mit Privilegien ausstatten. Dies geschieht immer dann, wenn sich die Einmischung falscher Elemente bereits vollzogen hat, „denn ehe war nie eine religiöse Gesellschaft groß genug um die Aufmerksamkeit der Herrscher zu erregen“¹¹. Mit der politischen Privilegierung ist aber „das Verderben dieser Kirche unwiderruflich beschloßen und eingeleitet“¹², denn die bestehende Situation der Mischung wahrer und falscher Elemente wird konserviert und eine Reinigung unmöglich gemacht¹³. Infolge der „Constitutionsakte politischer Existenz“, die wie „das furchtbare Medusenhaupt“ wirkt¹⁴, kommt es vielmehr zur Erstarrung von Lehre und Kultus. Darüber hinaus führt die politisch lancierte Transformation der Kirche in eine weltliche Institution dazu, dass „die Mitglieder der wahren Kirche […] von jedem Antheil an ihrer Regierung so gut als ausgeschlossen“ sind¹⁵, weil sie die nun anstehende Regelung weltlicher Dinge „nicht als eine Sache ihres priesterlichen Amtes behandeln“ können¹⁶. Stattdessen nehmen „unwürdige Menschen den Plaz der Virtuosen der Heiligkeit“ ein.¹⁷ Die Diskrepanz zwischen der wahren Kirche der religiösen Virtuosen und der nun von religiösen Dilettanten dominierten institutionalisierten Kirche wird nach Schlei-

 Vgl. zum Folgenden: Rochus Leonhardt, Religion und Politik im Christentum. Vergangenheit und Gegenwart eines spannungsreichen Verhältnisses, Baden-Baden 2017, 249 – 263.  Schleiermacher 1984, Religion, 280,8.10 (Anm. 1).  Schleiermacher 1984, Religion, 281,30 – 32. (Anm. 1).  Schleiermacher 1984, Religion, 281,33 – 34 (Anm. 1).  „Die größere und unächte Gesellschaft läßt sich nun nicht mehr trennen von der höheren und kleineren […]; sie kann weder ihre Form noch ihre Glaubensartikel mehr ändern; ihre Einsichten, ihre Gebräuche, alles ist verdammt in dem Zustande zu verharren, in dem es sich eben befand“ (Schleiermacher 1984, Religion, 282,1– 6 [Anm. 1]).  Schleiermacher 1984, Religion, 281,34– 35 (Anm. 1).  Schleiermacher 1984, Religion, 282,6 – 8 (Anm. 1).  Schleiermacher 1984, Religion, 282,13 – 14 (Anm. 1).  Schleiermacher 1984, Religion, 282,29 – 30 (Anm. 1).

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ermacher nochmals dadurch vergrößert, dass der Staat, nachdem er „der äußern Religionsgesellschaft […] jene unselige Wohlthat erwiesen“ hatte¹⁸, eine Gegenleistung einforderte. Er beauftragte die Kirche mit der Erziehung der Staatsbürger, deren sittliche Gesinnungen zu einem moralischen Fundament des Rechtsgehorsams ausgebildet werden sollten, wobei es insbesondere um die – in der Eidesleistung greifbare – religiöse Überhöhung von Wahrhaftigkeitsbeteuerungen ging.¹⁹ Die dadurch entstandene Verquickung von religiösen und politischen Belangen führte endgültig zum Verlust der kirchlichen Freiheit. Denn der Staat, der die Kirche als eine verrechtlichte und damit bürokratisch zu verwaltende Größe betrachtet, behandelte sie nun, so Schleiermacher, nur noch „als eine Anstalt die er eingesezt und erfunden hat“²⁰. – Es kam, mit anderen Worten, zum Verlust der kirchlichen Autonomie. An seiner Kritik an der Instrumentalisierung der Kirche zur moralischen Erziehungsanstalt hat Schleiermacher auch später unverkürzt festgehalten. In den Erläuterungen zur 4. Rede in der dritten Auflage von 1821 hat er allerdings den Eindruck korrigiert, er wolle jeden Zusammenhang zwischen religiöser Orientierung und staatsbürgerlicher Gesinnung problematisieren. Es ist, so heißt es nun, durchaus plausibel, dass sich der Staat „auf die Macht der religiösen Gesinnungen und auf das Zusammentreffen seines Interesses mit den natürlichen Wirkungen derselben“ verlässt.²¹ Gerade in diesem Fall aber sind staatliche Eingriffe in innerkirchliche Belange kontraproduktiv. Denn es gilt ja, dass „die Organisation der [scil. religiösen; R.L.] Gesellschaft aus derselben Gesinnung hervorgeht, von welcher er die guten Wirkungen erwartet“²². Damit diese Wirkungen auch wirklich eintreten, muss der Staat also „zugeben, dass die Organisation der Gesellschaft aus ihr selbst hervorgehe ohne von ihm geleitet zu sein“²³. – Die Eigenständigkeit der Kirche, ihre institutionelle Autonomie gegenüber dem Staat, kommt damit gerade als Voraussetzung dafür zu stehen, dass religiöse Gesinnungen das politische Ethos stützen können. Doch auch im entgegengesetzten Fall, also dann, wenn sich „der Staat von der religiösen Gesinnung seiner Glieder keine guten Wirkungen erwartet in Bezug auf irgend etwas, was in sein Gebiet fällt“²⁴, ist eine Einmischung in innerkirchliche Belange nicht sinnvoll, sondern sie ist in diesem Fall schlicht überflüssig. Denn es würde ausreichen, dass der Staat „die Religion als eine ihm gleichgültige Liebhaberei gewähren läßt, und nur wie bei andern Privatverbindungen darauf achtet, daß dem bürgerlichen Gemeinwesen kein Nachtheil daraus erwachse“²⁵. – Eine volkspädagogische Instrumentalisierung der Kirche durch den Staat ist also in keinem Fall volkspädagogisch sinnvoll.

       

Schleiermacher 1984, Religion, 282,34– 35 (Anm. 1). Vgl. Schleiermacher 1984, Religion, 282,37– 283,4. (Anm. 1). Schleiermacher 1984, Religion, 283,7 (Anm. 1). Schleiermacher 1995, 237,14– 15 (Anm. 3). Schleiermacher 1995, 237,27– 28 (Anm. 3). Schleiermacher 1995, 237,32– 33 (Anm. 3). Schleiermacher 1995, 238,5 – 7. (Anm. 3). Schleiermacher 1995, 238,7– 10 (Anm. 3).

Staat und Religion

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Sein pluralistisches Religionsverständnis hat Schleiermacher nicht nur von Anfang an mit religionspolitischen Überlegungen verbunden, sondern hier auch ganz konkrete Konsequenzen formuliert. So hat er programmatisch die Aufhebung jeder Verbindung von Staat und Kirche gefordert.²⁶ Denn nach seiner Auffassung war diese Verbindung verantwortlich für jene Fremdbestimmung durch den Staat, auf die sich die von den Verächtern der Religion mit Recht beklagten Missstände der realexistierenden Kirche zurückführen lassen. Als Alternative schwebt Schleiermacher, wie gleich noch deutlich wird, eine Pluralität gleichermaßen staatlich geduldeter religiöser Gemeinschaften im selben politisch-geographischen Raum vor. In seiner solchen Konstellation, die er in den Vereinigten Staaten von Amerika realisiert findet, sei die für die Kultivierung authentischer Religiosität unverzichtbare Freiheit am ehesten gewahrt (vgl. Abschnitt 2, Exkurs 1). Die von Schleiermacher vorgetragene Forderung nach konsequenter Entflechtung von Politik und Religion steht bereits in einer längeren Tradition, auf die nachstehend exemplarisch zu verweisen ist (vgl. Abschnitt 2.1). Allerdings wird sich auch zeigen, dass Schleiermacher über einen wachen Sinn für die politische Sprengkraft des Religiösen verfügte (vgl. Abschnitte 2.2 und 2.3), ein Scharfblick, den er mit seinem Berliner Antipoden Hegel teilte (vgl. Abschnitt 2, Exkurs 2).

2 Theologiegeschichtliche Hintergründe und Kontexte 2.1 Kritik an der Staatsreligion in Pietismus und Aufklärung²⁷ Die in Abschnitt 1 skizzierten religionspolitischen Konsequenzen der frühromantischen Kirchentheorie Schleiermachers setzen ein schon länger virulentes Unbehagen an der Praxis des landesherrlichen Kirchenregiments voraus, das sich in einer für Schleiermacher prägenden Deutlichkeit zunächst im Pietismus niedergeschlagen hat. Paradigmatisch für diesen Diskurszusammenhang ist die Obrigkeitskritik, die Philipp Jakob Spener in seinen Pia desideria formuliert hat.²⁸ In deren erstem (diagnostischen) Teil wird die Verdorbenheit des kirchlichen Lebens beklagt. Sowohl der weltlichen Obrigkeit als auch den Predigern, also den kirchlichen Amtsträgern, sowie

 „Hinweg also mit jeder solchen Verbindung zwischen Kirche und Staat! – das bleibt mein Catonischer Rathsspruch bis ans Ende, oder bis ich es erlebe sie wirklich zertrümmert zu sehen“ (Schleiermacher 1984, Religion, 287,3 – 5 [Anm. 1]).  Vgl. zum Folgenden: Leonhardt 2017, 221– 244 (Anm. 9).  Vollständiger Titel: Philipp Jakob Spener, Pia Desideria oder Hertzliches Verlangen nach Gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirchen. Bei dieser Schrift handelte es sich ursprünglich um Speners Vorrede zu einer Neuedition der Evangelienpostille von Johann Arndt, die aber wegen der großen Nachfrage zur Frankfurter Herbstmesse 1675 (mit der Jahreszahl 1676) als gesonderte Ausgabe erschien.

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schließlich den Gemeindegliedern selbst wird ein Mangel an lebendigem Glauben vorgeworfen. In seiner hier relevanten Obrigkeitskritik wird die von ihm festgestellte Untauglichkeit des politischen Standes in Sachen Verbesserung der kirchlichen Zustände auf die durch das landesherrliche Kirchenregiment bedingte Fremdbestimmung der Kirche zurückgeführt. Die evangelischen Obrigkeiten, denen ihre Gewalt eigentlich zur Förderung der Kirche gegeben ist, haben, so das Argument, eine unverantwortliche Caesaropapie errichtet, also eine zutiefst unprotestantische weltliche Herrschaft über die Kirche. Daraus ergibt sich für Spener, dass bei der Realisierung der anstehenden Kirchenreform auf die Beteiligung der politischen Obrigkeit verzichtet werden muss. Diese Einsicht ist verbunden mit der Überzeugung, dass eine fremdkonfessionelle Obrigkeit, so problematisch sie für die äußerliche Situation der christlichen Kirche unter Umständen sein mag, im Blick auf kirchliche Reformprozesse eher von Vorteil ist, weil sie naturgemäß keine Caesaropapie anstreben wird und insofern die innerkirchlichen Reformvorhaben auch nicht behindern kann. – In Anlehnung an ein volkskirchenkritisches Schlagwort kann man sagen: In einer vor- oder nach-, jedenfalls in einer nichtkonstantinischen Situation ist die Kirche freier „in der übung dessen / so zu der erbauung dient“²⁹. Der zuletzt referierte Spenersche Gedanke, nach dem es unter einer fremdkonfessionellen Obrigkeit keine Caesaropapie geben könnte und die Kirche deshalb davon in geistlicher Hinsicht profitieren würde, wird auch von Schleiermacher formuliert, namentlich in seiner Schrift zum Agendenstreit (Ueber das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten) von 1824.³⁰ Darin hat Schleiermacher beanstandet, dass der König das Recht zur eigenständigen Festlegung der Gottesdienstordnung (ius liturgicum activum) beanspruchte³¹, weil er darin einen unzulässigen Übergriff der Politik in innerkirchliche Belange erblickte. Diese Bestreitung eines aktiven ius liturgicum des politischen Souveräns hat er zu einer umfassenden Kritik an der mit dem landesherrlichen Kirchenregiment verbundenen Konsistorialverfassung zugespitzt. Diese Verfassung zeige die evangelische Kirche grundsätzlich „in einem provisorischen Zustande“³², weil sie nicht vermeiden kann, „wovor Luther so häufig und angelegentlich warnt, daß nicht beide Regimente das weltliche und das geistliche sich vermischen“³³. Angesichts dieser aufgrund der rechtlichen Strukturen unvermeidlichen Vermischung der Regimente meint Schleiermacher, im Grunde wäre es besser, „wenn der Landesherr wieder katholisch wird“, denn dann sei es „unvermeidlich, daß

 Philipp Jakob Spener, Pia Desideria. Deutsch-Lateinische Studienausgabe, hg.v. Beate Köster, Gießen 2005, 28,10 – 11.  Friedrich Schleiermacher [1824], Ueber das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten. Ein theologisches Bedenken von Pacificus Sincerus, KGA I/9, hg.v. Günter Meckenstock / Hans-Friedrich Traulsen, Berlin / New York 2000, 211– 269.  Vgl. zum Kontext: Albrecht Geck, „Schleiermacher als Kirchenpolitiker“, in: Schleiermacher Handbuch, hg.v. Martin Ohst, Tübingen 2017, 198 – 212.  Schleiermacher 2000, 258,20 – 21 (Anm. 30).  Schleiermacher 2000, 258,28 – 29 (Anm. 30).

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[…] alle Einmischung seiner Person [scil. in innerkirchliche Angelegenheiten; R.L.] aufhört“³⁴. – Schon diese wenigen Bemerkungen lassen es plausibel erscheinen, dass die Forderung nach konsequenter Entmischung von innerkirchlichen und politischen Belangen im Interesse der Frömmigkeitspflege zu Schleiermachers pietistischem Erbe gehört. Allerdings steht Schleiermachers Kritik am landesherrlichen Kirchenregiment auch in der Tradition der theologischen Aufklärung. So hatte, um nur ein Beispiel zu nennen, der 1767 als Oberkonsistorialrat und Propst nach Berlin berufene und 1804 verstorbene Wilhelm Abraham Teller in seiner 1792 publizierten Schrift Die Religion der Vollkommnern eine explizite Kritik am Modell der Staatsreligion formuliert. Eine Staatsreligion nämlich, in der „das Gottesdienstliche und die bürgerliche Gesetzgebung […] mit einander verwebt“ sind und man „beydes, ohne Nachtheil des Ganzen, nicht von einander absondern kann“, ist nach Teller keiner Entwicklung fähig; durch sie wird „ein rohes Volk nicht gebildet, sondern gebändiget, und in ewiger Sclaverey erhalten“, weil jedes Bemühen um eine Veränderung und Weiterentwicklung theologischer Lehren unweigerlich in den Verdacht bürgerlichen Ungehorsams geraten müßte.³⁵ Die Besonderheit des Christentums nämlich (Teller spricht von einem „Vorzug“), die es zugleich in einen Gegensatz zur Staatsreligion bringt, besteht darin, „daß es den Menschen immer weiser, und sodenn auch heiliger und seliger machen soll“³⁶. Dieser dem Christentum eigene pädagogische Impetus, der die – einer Staatsreligion a priori fremde – Veränderbarkeit theologischer Lehren impliziert, wird als Tendenz zur Vervollkommnung beschrieben, als Perfektibilität. Mit diesem Leitbegriff der Aufklärung verbindet sich bei Teller die Vorstellung, dass das Christentum, parallel zur Entwicklung des einzelnen Menschen, drei Etappen durchläuft³⁷: Das (dem Kindesalter entsprechende) Glaubenschristentum wird durch das (dem Erwachsenenalter entsprechende) Vernunftchristentum abgelöst; dem reiferen Alter schließlich entspricht nach Teller das reinere Christentum, eine Stufe, auf der sich der Glaube als ein praktisches Wissen artikuliert, das er auch als ein Merkmal der „Religion der Vollkommnern“ geltend gemacht hat.³⁸ Deshalb ist es auch konsequent, wenn Teller feststellt, dass mit dieser dritten Stufe des reineren Christentums der Übergang zur „Religion der Vollkommnern“ vollzogen wird³⁹, ohne dass es freilich zu einer Identität zwischen beiden Größen kommen könnte. – Die Nähe zu Schleiermacher zeichnet sich auch hier ab: Wenn Teller staatsreligiöse Zustände als Hindernis für die Veränderung und Weiterentwicklung der religiösen Lehren des auf Vervollkommnung angelegten Christentums bezeichnet, dann entspricht dies ersichtlich

 Schleiermacher 2000, 259,3 – 7. (Anm. 30).  Wilhelm Abraham Teller [1792], Die Religion der Vollkommnern. Als Beylage zu desselben Wörterbuch und Beytrag zur reinen Philosophie des Christenthums, hg.v. Dirk Fleischer, Nordhausen 2011, 75.  Teller 2011, 76 (Anm. 35).  Vgl. Teller 2011, 54– 74 (Anm. 35).  Vgl. Teller 2011, 21 (Anm. 35).  Vgl. Teller 2011, 68 (Anm. 35).

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dem, was Schleiermacher 1799 mit der Metapher vom Medusenhaupt zum Ausdruck gebracht hatte.

Exkurs 1: Amerika als Vorbild? In diesem Exkurs soll an eine theologiegeschichtlich interessante Formulierung angeknüpft werden; sie stammt aus den Erläuterungen zur vierten Rede, die Schleiermacher der dritten Auflage von 1821 beigegeben hat. An der hier ins Auge zu fassenden Stelle, auf die Ernst Troeltsch bereits 1910 hingewiesen hat⁴⁰, hat Schleiermacher zunächst eine (der Kritik an staatskirchlichen Verhältnissen entsprechende) „Vorliebe“ für kleinere Gemeinschaften formuliert – wegen des damit verbundenen Pluralismus und des weitgehenden Ausfalls staatlicher Bevormundung. Diese Erklärung hat er dann überführt in eine Sympathiebekundung für die religiöse Situation in den damals noch jungen Vereinigten Staaten von Amerika. Der neue Kontinent wird als ein „merkwürdig bewegter Schauplatz“ charakterisiert, auf dem „mehr als irgend anderswo […] die Freiheit des religiösen Lebens und der religiösen Gemeinschaft gesichert“⁴¹ ist. Von hier aus ließe sich, und das macht die Formulierung interessant, eine theologiegeschichtliche Linie ziehen, in der zahlreiche Vertreter des deutschen Protestantismus im 19. Jahrhundert eine Rolle spielen würden. Amerika, die neue Welt, diente nämlich seit dem späten 18. Jahrhundert immer wieder als Projektionsfläche beziehungsweise empirischer Anknüpfungspunkt religionspolitischer Ideale beziehungsweise Argumente⁴². Zugespitzt formuliert: Maßgebliche Positionen aus der Geschichte der politischen Ethik im deutschen Protestantismus zwischen Schleiermacher und Troeltsch haben sich regelmäßig mit bestimmten Beurteilungen der religionspolitischen Lage in den Vereinigten Staaten verbunden. Dazu nachstehend einige – ergänzungswürdige – Hinweise.

 Vgl. Ernst Troeltsch, „Schleiermacher und die Kirche“, in: Schleiermacher der Philosoph des Glaubens. Sechs Aufsätze […] und ein Vorwort von Friedrich Naumann, Berlin 1910, 9 – 35, hier 20: „Er [scil. Schleiermacher, R.L.] erklärte später [scil. in den Erläuterungen zur vierten Rede in der dritten Auflage von 1821; R.L.], daß ihm die amerikanischen Verhältnisse mit ihrer Zurückhaltung des Staates, dem tiefen Respekt der Gesellschaft vor der Kirche und der Religion, der Freiheit der religiösen Gemeinschaft in ihren eigenen Angelegenheiten als das dem Ideal am nächsten Kommende erschien.“  Schleiermacher 1995, 235,27– 30 (Anm. 3).  In Schleiermachers Zeitgenossenschaft wurde Amerika vielfach idealisiert, insbesondere als möglicher Ort eines vom Ballast der Tradition freien Neuanfangs. Als ein prominentes Beispiel dafür kann Johann Wolfgang Goethes Gedicht „Den Vereinigten Staaten“ (1827) gelten: „Amerika, du hast es besser/Als unser Kontinent, das alte,/Hast keine verfallene Schlösser/Und keine Basalte. – Dich stört nicht im Innern,/Zu lebendiger Zeit,/Unnützes Erinnern/Und vergeblicher Streit. – Benutzt die Gegenwart mit Glück!/Und wenn nun eure Kinder dichten,/Bewahre sie ein gut Geschick/Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.“ (in: Poetische Werke, Bd. 2, hg.v. Siegfried Seidel, Berlin 1960, 384).

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Bei Friedrich Julius Stahl, der etwa eine Generation jünger war als Schleiermacher und sich, im klaren Gegensatz zum Kirchenvater des 19. Jahrhunderts, als Verfechter eines christlichen Staatsideals präsentiert hat⁴³, werden an der „Vergleichung mit nordamerikanischen Zuständen“ gerade die desaströsen Folgen einer Preisgabe staatskirchlicher Verhältnisse offensichtlich: „Wie viel gewinnt die Kirche durch den Schirm des Staates äußerlich an Ausbreitung und innerlich an Maß und Haltung und Sicherung gegen Zerfall in Sekten.“⁴⁴ Im letzten Jahrhundertdrittel lassen sich analoge Frontstellungen identifizieren. So hat 1872 der pietistisch geprägte – und Schleiermacher hierin vergleichbare – Rostocker Theologe Michael Baumgarten die kirchliche Situation der Vereinigten Staaten als „Ausgestaltung der protestantischen Grundgedanken Luthers“ gerühmt. Diese Ausgestaltung „finden wir nicht da, wo die grade Linie auf Wittenberg führt, sondern auf weiten Umwegen jenseits des Oceans […]. Hier auf diesem fernen Gebiete sind die […] dunklen Schatten der deutschen Reformation in Licht verwandelt. Jede Einmischung der Staatsgewalt in das kirchliche Gebiet ist grundsätzlich und thatsächlich beseitigt“.⁴⁵ Im Gegenzug – wenn auch nicht direkt auf Baumgarten reagierend – hat der rechtshegelianische Publizist Constantin Rößler, erklärter Anhänger einer evangelischen Staatskirche im zweiten deutschen Kaiserreich und insofern ein Vertreter der auch durch Stahl repräsentierten Richtung⁴⁶, gemeint, wegen des Ersten Zusatzartikels zur amerikanischen Verfassung⁴⁷ werde „das Staatsgebäude der Vereinigten Staaten“ auf längere Sicht „inneren Erschütterungen, Zerwürfnissen, theilweisen Zerstörungen und vielleicht trennenden Neubildungen nicht entgehen“⁴⁸. „Auf dem Boden der amerikanischen Gesellschaft sehen wir die alte puritanisch rationalistische Grundlage des intellectuellen und moralischen Lebens immermehr überwuchert durch abstoßende und wahrhaft greuliche Formen des Aberglaubens, ferner durch den überhand nehmenden Katholicismus […] und endlich durch die Grundsätze roher Libertinage.“⁴⁹ Der für die Vereinigten Staaten typische und bereits bei Schleiermacher positiv gewürdigte „Zustand des Nebeneinanders“ einer Vielzahl religiöser Vereinigungen sei zwar, so Rößler kritisch, auch „bei uns das Ideal einzelner religiöser Gemüther und auch irreligiöser Gemüther geworden, die den Zustand für den natür-

 Vgl. Leonhardt 2017, , 263 – 275 (Anm. 9).  Friedrich Julius Stahl [1847], „Der christliche Staat und sein Verhältnis zu Deismus und Judenthum. Eine durch die Verhandlungen des Vereinigten Landtags hervorgerufene Abhandlung“, in: ders., Der christliche Staat. Vortrag über Kirchenzucht, Berlin 21858, 1– 88, hier 28.  Michael Baumgarten, Der Protestantismus als politisches Princip im deutschen Reich, Berlin 1872, 51.  Vgl. Vgl. Leonhardt 2017, 292– 300 (Anm. 9).  Der zur United States Bill of Rights vom 4. März 1791 gehörende und aus „Establishment Clause“ sowie „Free Exercise Clause“ bestehende Erste Zusatzartikel zur Verfassung der USA lautet: „Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof.“ (https://www.law.cornell.edu/constitution/first_amendment, zuletzt abgerufen am 14.05.18)  Constantin Rößler, Das deutsche Reich und die kirchliche Frage, Leipzig 1876, 199.  Rößler 1876, 199 (Anm. 48).

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lichen halten […]. Dieser Zustand ist aber ein kläglicher und werthloser; denn der religiöse Trieb verirrt sich in dieser Trennung von den allgemeinen und großen sittlichen Aufgaben [scil. als der Sache des Staates; R.L.] ins Launenhafte und Abgeschmackte“.⁵⁰ – Es wäre reizvoll und zweifellos lehrreich, auf der Grundlage dieser Hinweise dem Zusammenhang zwischen politischer Ethik und Amerika-Rezeption im deutschen Protestantismus seit Schleiermacher genauer nachzugehen. Nachdem in Abschnitt 2.1 die theologiegeschichtlichen Hintergründe und Wurzeln von Schleiermachers Entflechtungsprogramm angesprochen wurden, geht es nun um die Frage, wie er seinen „Catonischen Rathsspruch“⁵¹ in nicht-religionstheoretischen Kontexten zur Geltung gebracht hat. Dabei werden sowohl seine Briefe bei Gelegenheit … aus dem Jahr 1799 (Abschnitt 2.2) als auch seine Vorlesungen über die Lehre vom Staat berücksichtigt, die er während seiner Berliner Lehrtätigkeit mehrfach – insgesamt sechs- und seit Gründung der Universität fünfmal – gehalten hat (Abschnitt 2.3).

2.2 Die Briefe bei Gelegenheit … – Schleiermachers Stellungnahme zur Judenemanzipation Im Jahre 1781 hatte der preußischen Diplomat Christian Konrad Wilhelm (seit 1786 von) Dohm den ersten Teil seiner berühmten Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden publiziert, der zwei Jahre später, zeitgleich mit dem Erscheinen des zweiten Teils, eine veränderte Neuauflage erlebte.⁵² Dohm hatte darin die den Juden gemeinhin unterstellte sittliche Verdorbenheit als eine Folge ihrer gesellschaftlichen Benachteiligung behauptet: „Alles, was man den Juden vorwirft, ist durch die politische Verfassung, in der sie itzt leben, bewirkt.“⁵³ – „Wir sind der Vergehungen schuldig, deren wir ihn [scil. ‚den Juden‘] anklagen.“⁵⁴ Die bürgerliche Gleichberechtigung wurde als Voraussetzung einer durch staatliche Erziehungsmaßnahmen flankierten moralischen Höherentwicklung der Juden betrachtet. Und als Ziel dieser Prozesse galt eine bessere Nutzbarmachung der ökonomischen Kompetenzen der Juden zugunsten der gesamtgesellschaftlichen Prosperität. Zugleich freilich rechnete Dohm auch mit einer religiösen Reform des Judentums in Richtung auf eine natürliche Vernunftreligion, die er als Kern aller positiven Reli-

 Rößler 1876, 346 – 347 (Anm. 48).  Vgl. Anm. 26.  Christian Wilhelm Dohm [1781/1783], Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Kritische und kommentierte Studienausgabe, Ausgewählte Schriften, Bde. I/1+2, hg.v. Wolf Christoph Seifert, Göttingen 2015. Der Text des ersten Teils der Schrift ist abgedruckt in Band I/1, 7– 82; der Text des zweiten Teils der Schrift ist abgedruckt in Band I/1, 126 – 283.  Dohm 2015, Erster Teil, 25,12– 13 (Anm. 52).  Dohm 2015, Erster Teil, 27,6 (Anm. 52).

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gionen betrachtete.⁵⁵ Er vertrat näherhin die Auffassung, dass die von ihm zugestandene „Ausartung ihrer [scil. der Juden] religiösen Gesetze“ in den Gesamtkontext der durch „die unnatürliche Drückung“ bedingten „sittlichen Verderbtheit“ gehörte.⁵⁶ Namentlich die „spätern Rabbinen“ hätten „mit sophistischer Kunst aus den simpeln […] Gesetzen Mosis ganz wider den Geist derselben, ängstliche und einschränkende Vorschriften“ gemacht⁵⁷, so etwa das aus der Sabbatruhe abgeleitete Verbot, „Kriegsdienste zu thun“, was allerdings „mit dem Wohl der Gesellschaft unverträglich“ ist⁵⁸. Diese sich hier manifestierende „Neigung zu spitzfindigen Spekulationen“ war aber nach Dohm primär durch die „Ermangelung besserer Beschäftigung“ bedingt, die ihrerseits in der von der christlichen Mehrheitsgesellschaft verschuldeten Beschränkung der Juden auf „die einzige Beschäftigung des Handels“ wurzelte. Infolge der bürgerlichen Gleichstellung aber würden die Juden dann auch „ihre religiöse Verfassung und Gesetze derselben [scil. der politischen Gesellschaft; R.L.] gemäß umbilden; sie werden auf die freyere und edlere uralte mosaische Verfassung zurückkommen, und diese nach veränderten Zeiten und Umständen anzuwenden und nach diesen zu erklären, auch in ihrem Talmud die Befugnisse finden“.⁵⁹ In die durch Dohms Schrift forcierte Debatte gehören auch Schleiermachers Briefe bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter ⁶⁰. Die Abfassung dieser Briefe hat er vermutlich zwei Tage nach der Fertigstellung seiner Reden begonnen. Seine in den Reden geäußerte Kritik an der politischen Instrumentalisierung der Religion im speziellen und der Verflechtung von Religion und Politik überhaupt hat sich auch in den Briefen niedergeschlagen: „Die Vernunft fordert, daß Alle Bürger sein sollen, aber sie weiß nichts davon, daß Alle Christen sein müßten, und es muß also auf vielerlei Art möglich sein, Bürger und Nichtchrist zu sein.“⁶¹ Religiöse Orientierung und staatsbürgerliche Loyalität werden auch hier als kategorial verschiedene Größen aufgefasst, die deshalb nicht direkt aufeinander bezogen werden können. Zugleich freilich hat derselbe Schleiermacher im selben Text dann doch die Auffassung vertreten, dass es in der jüdischen Religion bestimmte Elemente gibt, die

 „Die Religion der Vernunft ist auch die des Juden. Sie rein und nur aus ihrer eignen Quelle erkennen, und die Zusätze, womit sie bisher für ihn beladen war, von ihr absondern, ist also kein neuer Glaube, kein schwerer Übergang für ihn“ (Dohm 2015, Zweiter Teil, 201,8 – 11 [Anm. 52])  Dohm 2015, Erster Teil, 76,28 – 30 (Anm. 52).  Dohm 2015, Erster Teil, 74,23 – 25 (Anm. 52).  Dohm 2015, Erster Teil, 73,23.30 (Anm. 52).  Dohm 2015, Erster Teil, 77,6 – 9.17– 21 (Anm. 52).  Friedrich Schleiermacher [1799], Briefe bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter. Von einem Prediger außerhalb Berlin, KGA I/2, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 327– 369; vgl. dazu: Matthias Blum, ‚Ich wäre ein Judenfeind?‘ Zum Antijudaismus in Friedrich Schleiermachers Theologie und Pädagogik, Köln 2010, 40 – 76; Hans-Martin Kirn, „Die sechs Briefe bei Gelegenheit“, in: Schleiermacher Handbuch, hg.v. Martin Ohst, Tübingen 2017, 128 – 137.  Schleiermacher 1984, Briefe, 335,27– 29 (Anm. 60).

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politisch nicht tolerabel sind und deren von den Juden selbst zu vollziehende Abweisung als Voraussetzung ihrer bürgerlichen Verbesserung geltend gemacht wird: Ich verlange, daß die Juden, denen es ernst ist, Bürger zu werden, das Ceremonialgesez – nicht durchaus ablegen, sondern nur den Gesezen des Staates unterordnen, so daß sie sich erklären, sie wollten sich keiner bürgerlichen Pflicht unter dem Vorwande entziehen, daß sie dem Ceremonialgesez zuwider laufe, und es sollte von Religions wegen niemanden verboten werden, irgend etwas zu thun oder zu unternehmen, was von Staats wegen erlaubt ist. Ich verlange ferner, daß sie der Hoffnung auf einen Meßias förmlich und öffentlich entsagen.⁶²

Ob Schleiermacher, wie Hans-Martin Kirn meint, mit diesen aus heutiger Sicht in der Tat irritierenden Forderungen wirklich „wieder hinter das bei von Dohm vorgegebene Emanzipationsideal“ zurückfiel⁶³, müsste genauer geprüft werden. Denn auch Dohm selbst hat im zweiten Teil seiner Schrift die oben zitierte Zuversicht aus dem ersten Teil, die Juden würde infolge ihrer bürgerlichen Gleichstellung auf die „edlere uralte mosaische Verfassung“ zurückkommen, mit einer Forderung verbunden: „Die Synagoge wird nach dem Staat sich bequemen müssen, oder sie kömmt in Gefahr von ihren Besuchern verlassen zu werden.“⁶⁴ Diese gegenüber dem ersten Teil seiner Schrift erkennbar verschärfte Tonlage war bereits eine Reaktion Dohms auf die jüdischerseits prominent von Moses Mendelssohn vorgetragene Bekräftigung eines Zusammenhangs zwischen jüdischer Identität und Bindung an das jüdische Gesetz. Nach Moses Mendelssohns Schrift Jerusalem, in der er sein politisch-religiöses Konzept „in abschließender Form vorgelegt hat“⁶⁵, besteht das Judentum insgesamt aus vernünftiger Erkenntnis zugänglichen ewigen Wahrheiten (1), aus im Glauben angenommenen Geschichtswahrheiten (2) sowie aus Gesetzen, Vorschriften und Verordnungen, deren wesentlicher Gehalt durch Worte und Schrift bekannt gemacht wurde und die durch auf Rabbiner und Rechtsgelehrte zurückgehende Erläuterungen und Näherbestimmungen gegenwartskompatibel gehalten werden (3). Dabei handelt es sich um die sog. Halacha beziehungsweise das Zeremonialgesetz. Dieses leite, so Mendelssohn, „den forschenden Verstand auf göttliche Wahrheiten, teils auf ewige, teils auf Geschichtswahrheiten, auf die sich die Religion dieses Volkes gründete“.⁶⁶ Daraus folgt dann, dass eine Verabschiedung des Zeremonialgesetzes nicht möglich ist. Vielmehr muss dessen Beobachtung durch die Juden mit deren Treue gegenüber

 Schleiermacher 1984, Briefe, 352,11– 18 (Anm. 60).  Kirn 2017, 134 (Anm. 60).  Dohm 2015, Zweiter Teil, 201,8 – 11 (Anm. 52).  Cord-Friedrich Berghahn, „Gesetz – Schrift – Ritual. Moses Mendelssohns politisch-religiöses Konzept“, in: Christentum und Judentum. Akten des Internationalen Kongresses der SchleiermacherGesellschaft in Halle, März 2009, hg.v. Roderich Barth u. a., Berlin / Boston 2012, 64– 84, hier 84.  Moses Mendelssohn [1783], „Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum“, in: ders., Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. Mit dem Vorwort zu Menasse ben Israels Rettung der Juden und dem Entwurf zu Jerusalem sowie einer Einleitung, Anmerkungen und Register, hg.v. Michael Albrecht, Hamburg 2005, 31– 142, hier 130.

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der staatlichen Rechtsordnung koexistieren; beides darf nicht gegeneinander ausgespielt werden: „schicket euch in die Sitten und in die Verfassung des Landes, in welches ihr versetzt seid; aber haltet auch standhaft bei der Religion eurer Väter“.⁶⁷ Wird der Versuch dieses Balanceaktes seitens der Mehrheitsgesellschaft nicht akzeptiert, tritt also der Fall ein, dass „die bürgerliche Vereinigung [scil. für Juden; R.L.] unter keiner andern Bedingung zu erhalten [ist], als wenn wir von dem Gesetze abweichen, das wir für uns noch für verbindlich halten […]; so müssen wir lieber auf bürgerlichen Vereinigung Verzicht tun; so mag der Menschenfreund Dohm vergebens geschrieben haben“.⁶⁸ Schleiermachers Bezugspunkt war 1799 allerdings nicht Mendelssohns eben kurz referierte Wesensbestimmung des Judentums von 1783. Vielmehr reagierte er unter anderem auf das anonym verfasste und im Frühjahr 1799 lancierte Sendschreiben an Seine Hochwürden, Herrn Oberkonsistorialrath und Propst Teller zu Berlin von einigen Hausvätern jüdischer Religion. ⁶⁹ Es stammte aus der Feder von David Friedländer, der nach dem Tod von Moses Mendelssohn (1786) zum maßgeblichen Vertreter der jüdischen Aufklärer in Berlin avanciert war. Bemerkenswert an diesem Text ist zum einen, dass darin die durch Mendelssohn noch eingeschärfte Geltung der Halacha nachdrücklich relativiert wird; hier zeigt sich Friedländer als pointierter Vertreter des „Antirabbinismus der jüdischen Aufklärung“⁷⁰. Zum anderen schwebte Friedländer eine „christlich-jüdische Religionsvereinigung unter dem Dach einer formalen Christlichkeit“ vor.⁷¹ Schleiermacher konnte in dieser Idee nur eine neue Variante des aus seiner Sicht prinzipiell untauglichen Ansatzes erblicken, „die christliche Taufe […] als Entreebillet für die bürgerliche Gleichberechtigung“ gelten zu lassen⁷². Diese „Lösung“ des Emanzipationsproblems lehnte er schon deshalb ab, weil dadurch, so seine Befürchtung, die Gefahr eines – wie er sagt – judaisierenden Christentums befördert würde. Um diese Gefährdung der Kirche zu vermeiden, hat Schleiermacher – im vierten der Briefe bei Gelegenheit … – die vom Staat zu vollziehende Gründung einer neuen von den politisch nicht tolerablen Elementen (Zeremonialgesetz und Messi-

 Mendelssohn 2005, 135 (Anm. 66).  Mendelssohn 2005, 175 (Anm. 66).  Friedrich Schleiermacher [1799], Sendschreiben an Seine Hochwürden, Herrn Oberkonsistorialrath und Propst Teller zu Berlin von einigen Hausvätern jüdischer Religion, KGA I/2, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 381– 413.  Hans-Martin Kirn, „Friedrich Schleiermachers Stellungnahme zur Judenemanzipation im ‚Sendschreiben‘ David Friedländers. Die ‚Briefe bei Gelegenheit […]‘ von 1799“, in: Christentum und Judentum. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2009, hg.v. Roderich Barth u. a., Berlin / New York 2012, 193 – 212, hier 207.  Kurt Nowak, Schleiermacher. Leben, Werk, Wirkung, Göttingen 22002, 96; vgl. dazu: Jobst Paul, „Das ‚Konvergenz‘-Projekt – Humanitätsreligion und Judentum im 19. Jahrhundert“, in: Macht – Religion – Politik. Zur Renaissance religiöser Praktiken und Mentalitäten, hg.v. Margarete Jäger / Jürgen Link, Münster 2006, 31– 61.  Nowak 2002, 96 (Anm. 71).

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ashoffnung) gereinigten jüdischen Kirchengesellschaft vorgeschlagen. Die bürgerliche Gleichstellung sollte dann mit der Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft verknüpft werden: „Ich weiß […] kein ander Mittel, als daß die Gemeinheit derer, welche dieß Bekenntnis [scil. zur Absage an Zeremonialgesetz und Messiashoffnung; R.L.] abgelegt haben, eine besondere moralische Person ausmacht, welcher eigentlich die bürgerlichen Vortheile verliehen werden, so daß sie mit dem Eintritt in dieselbe erworben, und mit dem freiwilligen Austritt […] wieder verwirkt werden. Lachen Sie nur, es ist mein voller Ernst mit dieser neuen Sekte.“⁷³ Anmerkung: An den hier von Schleiermacher im Blick auf das Judentum formulierten Vorschlag erinnert – unter den Bedingungen des deutschen Religionsrechts und bezogen auf den Islam – in gewisser Weise das nordrhein-westfälische Gesetz zur Einführung von islamischem Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach (7. Schulrechtsänderungsgesetz) vom 22. Dezember 2011⁷⁴. Beschlossen wurde die Einfügung eines § 132a in das Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15. Februar 2005. Nach der darin enthaltenen „Übergangsvorschrift zur Einführung von islamischem Religionsunterricht“ ist ein vom Bildungsministerium gebildeter Beirat bei der Einführung und der Durchführung des islamischen Religionsunterrichts federführend; von dessen acht Mitgliedern werden vier von den islamischen Organisationen in Nordrhein-Westfalen und vier vom Schulministerium im Einvernehmen mit dem Koordinationsrat der Muslime (KRM) berufen. Diese Regelung gilt angesichts der Tatsache, dass es im Land zwar einen Bedarf an islamischem Religionsunterricht, aber (noch) keine entsprechende Religionsgemeinschaft im Sinne von Art. 7 Abs. 3 Grundgesetz gibt. – Damit ist der Staat faktisch wesentlich an der Gestaltung des Religionsunterrichts beteiligt, abweichend von dem verfassungsrechtlichen Grundsatz, nach dem bekenntnisorientierter Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften zu erteilen ist. Durch die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster vom 9. November 2017 kann sich die nordrhein-westfälische Landesregierung in ihrem Vorgehen bestätigt sehen – ungeachtet der dagegen von verschiedener Seite vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken. In diesem Urteil wurde die vom Zentralrat der Muslime in Deutschland e. V. und vom Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland e. V. beanspruchte Einführung islamischen Religionsunterrichts in exklusiver Regie der genannten Verbände mit dem Argument zurückgewiesen, diese seine keine Religionsgemeinschaften im Sinne des Grundgesetzes. – Die Tatsache, dass hier ein staatlich gebildetes Gremium aus Vertretern von islamischen Verbänden und Mitarbeitern des Bildungsministeriums die Richtlinienkompetenz für die Gestaltung der religiösen Unterweisung im Bereich des Islam innehat, ist nicht ohne Parallele zu Schleiermachers 1799 geäußertem Vorschlag der Einführung einer „neuen Sekte“.

Bisher ist zweierlei deutlich geworden. Zum einen hat Schleiermacher auch in seinem Beitrag zur Judenemanzipation grundsätzlich im Sinne des Entflechtungsprogramms der vierten Rede argumentiert, wonach rechtliche Gleichstellung und Religionszugehörigkeit nicht vermischt werden dürfen. Zum anderen aber hat er im konkreten Blick auf das Judentum, so wie er es sah und beurteilte, mit großem Nachdruck auf „Inte Schleiermacher 1984, Briefe, 354,12– 29. (Anm. 60).  Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), „Gesetz zur Einführung von islamischem Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach (7. Schulrechtsänderungsgesetz)“, Gesetz- und Verordnungsblatt (GV. NRW.) 65, 34 (30.12. 2011), 725 – 732. Die Geltung dieses Gesetzes ist beschränkt auf den Zeitraum 1. August 2012 bis 31. Juli 2019.

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grationsprobleme“ in Gestalt von religiös fundierten Defiziten in Sachen staatsbürgerliche Loyalität hingewiesen. Als Lösung dieser Probleme hat er vom Staat abzufordernde „öffentliche und förmliche Verpflichtungen“ ins Spiel gebracht und damit den „Anspruch auf eine etatistische Modellierung des Judentums auf der Basis von Zensur und Spaltung“⁷⁵ erhoben. – Neben der im religionstheoretischen Kontext noch 1821 erkennbar defensiv formulierten Maßgabe, dass der Staat, wenn er „von der religiösen Gesinnung seiner Glieder keine guten Wirkungen erwartet in Bezug auf irgend etwas, was in sein Gebiet fällt“, lediglich darauf zu achten habe, „daß dem bürgerlichen Gemeinwesen kein Nachtheil daraus erwachse“⁷⁶, steht bereits seit 1799 die im politisch-ethischen Kontext erhobene Forderung eines offensiv-interventorischen Verhaltens des Staates im vermuteten Fall eines religiös begründeten Mangels an politischer Loyalität.

2.3 Die Lehre vom Staat – Schleiermachers Haltung zum römischen Katholizismus Schleiermachers Vorlesungen über die Lehre vom Staat, die, neben einigen Akademieabhandlungen, als Hauptquelle seiner philosophischen Politiktheorie gelten können, sind in den letzten Jahren in der Forschung verstärkt behandelt worden. Dies dürfte auch damit zusammenhängen, dass seit 1998 eine von Walter Jaeschke besorgte, im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe erschienene Neuedition vorliegt.⁷⁷ Grundsätzlich ist es nach Schleiermacher so, dass Religion bzw. Kirche, ebenso wie die Wissenschaft und die Privatsphäre, nichtstaatliche Kulturgebiete bilden, deren Verhältnis zur politischen Obrigkeit klärungs- und regelungsbedürftig ist, dass also, mit Schleiermachers eigenen Worten, „gegen Kirche Wissenschaft und Geselligkeit Verhältnisse bestehn, welche […] streitig sein müssen“⁷⁸. Konkret im Blick auf die Religion stellt er nun, einigermaßen analog zu seinen Ausführungen in den Reden seit 1799, als Idealzustand die Realisierung vollumfänglicher Glaubensfreiheit heraus: „Jeder Staat der zur Ruhe kommen will muß eine Tendenz haben zur völligen GlaubensFreiheit“⁷⁹. Dem entspricht konsequenterweise die Forderung einer „gänzliche[n]

 Kirn 2017, 134– 135 (Anm. 60).  Schleiermacher 1995, 238,5 – 7.9 – 10 (Anm. 3).  Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen über die Lehre vom Staat, KGA II/8, hg.v. Walter Jaeschke, Berlin / New York 1998. Die nachfolgend angeführten Zitate entstammen dem der Vorlesung vom Sommersemester 1829 zugrunde liegenden Manuskript, auf das sich Schleiermacher auch beim Kolleg das Sommersemesters 1833 gestützt hat (67– 169), den Nachschriften von Hess und [Ehrenfried von] Willich zum Kolleg von 1829 (493 – 749) sowie der von Georg Waitz stammenden Nachschrift zum Kolleg vom Sommersemester 1833 (753 – 954).  Schleiermacher 1998, 75,25 – 27 (Anm. 77).  Schleiermacher 1998, 104,32– 33 (Anm. 77).

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Sonderung des Politischen und Religiösen“⁸⁰, die Erwartung also, „daß der Staat sich gänzlich lossage von jeder Identifikation mit dem religiösen“⁸¹. Die Entwicklung der europäischen Gesellschaften wird als ein Prozess begriffen, der auf diesen Zustand hinführt: „Wenn wir die ganze Europäische Geschichte betrachten, so werden wir sagen müssen daß die Reibungen zwischen dem politischen und Religiösen Element früher viel stärker gewesen sind als jetzt, und immer mehr abnehmen“⁸². Gemessen am Ideal einer „gänzliche[n] Sonderung“ erscheint der insbesondere den „alten Staaten“ bescheinigte theokratische Charakter – hier war „die Religion Religion des Staates und von Alters her unter seiner Hut“⁸³ – als eine grundsätzlich zu überwindende Konstellation und historisch-faktisch als „eine solche Form, die man als im Erlöschen begriffen ansehn muß“⁸⁴. Gleichwohl kann es nach Schleiermacher jederzeit zur Manifestation theokratischer Tendenzen im Sinne „einzelne[r] Reactionen“ kommen⁸⁵. Und in einem solchen Fall einer mit dem Gemeingeist nicht kompatiblen religiösen Orientierung darf der Staat nicht an seinem prinzipiellen Desinteresse an der Religionszugehörigkeit seiner Einwohner festhalten. Ist nemlich das religiöse Prinzip nicht rein, sondern theocratisch und will das geistliche Prinzip als Sanction des bürgerlichen Zustands sich geltend machen, so ist der Gemeingeist dieser in Widerspruch mit dem des Volks und sie wollen [das Religiöse] nicht der politischen Institution sondern diese dem Religiösen unterordnen. […] Wenn nun die Frage aufgeworfen wird, wies mit diesen zu halten, da sie unter sich ein hinderndes Prinzip politischer Art haben, so liegt es nicht in der Sache, als könnten diese gleich mit den anderen Einwohnern für den Staat mitwirken.⁸⁶

Religiösen Akteuren, denen ein theokratisches Ideal vor Augen steht, ist demnach die bürgerliche Gleichstellung zu versagen. Diese Feststellung wird umgehend auf das Judentum bezogen: „So ist das Judenthum stets eine solche [scil. theokratische; R.L.] Form gewesen und kann nur durch völlige Änderung aufhören es zu sein.“⁸⁷ Allerdings ist die Frage nach der bürgerlichen Emanzipation der Juden kein Zentralthema von Schleiermachers Ausführungen, auch kommt bei Schleiermacher das Judentum keineswegs als einzige zeitgenössische Formation theokratischen Charakters zu stehen; da es seines Erachtens „nicht minder schnell aufhören [wird]

 Schleiermacher 1998, 621,27– 28 (Anm. 77).  Schleiermacher 1998, 629,25 – 26 (Anm. 77).  Schleiermacher 1998, 621,1– 4 (Anm. 77). Vgl. 105,39 – 106,1.  Schleiermacher 1998, 513,19 – 20 (Anm. 77). Vgl. 524,33.  Schleiermacher 1998, 744,14– 15 (Anm. 77).  Schleiermacher 1998, 621,4 (Anm. 77).  Schleiermacher 1998, 915,37– 916,1.916,3 – 7 (Anm. 77).  Schleiermacher 1998, 916,2– 3 (Anm. 77). Nach einer anderen Nachschrift hat es Schleiermacher abgelehnt, die Judenemanzipation unter Bezug auf den vermeintlich theokratischen Charakter des Judentums in Frage zu stellen; allerdings zielt diese Ablehnung auf die Infragestellung der Judenemanzipation im Namen eines christlichen Staates (vgl. Schleiermacher 1998, 629,16 – 29. [Anm. 77]).

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nach der Emancipation als vor der Emancipation“⁸⁸, ist es eigentlich nicht weiter der Rede wert. Für eher aktuell relevant hält er dagegen Katholizismus und Islam: „Wir haben in dem Europäischen Staatensystem, nur noch zweierlei was den theokratischen Zustand repräsentirt nemlich einmal die türkische Herrschaft, wie sie aus dem Kalifat entstanden ist – und alsdann das Pabstthum“⁸⁹. Auf Schleiermachers Beurteilung der römisch-katholischen Kirche wird im Folgenden das Augenmerk zu legen sein; was sein analoger Hinweis auf den Islam aus heutiger Sicht bedeuten kann, wird in Abschnitt 3 thematisiert. In der Außenperspektive auf den römischen Katholizismus, innerhalb dessen nach 1815 „die sogenannten ultramontanen Grundsätze“⁹⁰ immer mehr an Bedeutung gewannen, ist zunächst Schleiermachers Feststellung wichtig, dass das Christentum seinem eigentlichen und ursprünglichen Wesen nach nicht theokratisch ist; es habe nämlich „das religiöse und politische von Anfang an gesondert und hat durchaus kein theokratisches Princip“⁹¹. Die Frage nach den Grenzen der Gemeinwohlkompatibilität religiöser Haltungen wird in den Politikvorlesungen allerdings nicht ausschließlich auf die explizit „dem Staat widerstrebenden“⁹² religiösen Formen – wie etwa die Theokratie – bezogen. Sondern namentlich die späte von Georg Waitz stammende Nachschrift zum Kolleg vom Sommersemester 1833 spiegelt auch Schleiermachers Befassung mit einem damals, am Beginn des zweiten konfessionellen Zeitalters⁹³, akuten Problem; gemeint ist die sich wieder neu manifestierende gesellschaftliche Sprengkraft konfessioneller Differenzen. Dabei sind insbesondere die Probleme im Blick, die sich ergeben können, wenn Obrigkeit und Untertanen unterschiedlichen christlichen Denominationen angehören. Speziell im Blick auf Preußen ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, dass seit den durch die territoriale Neuordnung Europas nach der Niederlage Napoleons bedingten Gebietszuwächsen im Westen innerhalb des von einer protestantischen Monarchie beziehungsweise Führungsschicht regierten beziehungsweise verwalteten Königreichs immerhin etwa zwei Fünftel der Gesamtbevölkerung katholisch waren. Der vor diesem Hintergrund akut werdende und durch das Erstarken des gerade schon erwähnten Ultramontanismus befeuerte Konflikt zwischen preußischem Staat und katholischer Kirche betraf konkret die Frage nach der Priorität des säkularen Allgemeinen Landrechts oder des katholischen Kirchenrechts in Ehesachen.⁹⁴ – Die sä Schleiermacher 1998, 108,1– 2 (Anm. 77).  Schleiermacher 1998, 744,15 – 18. (Anm. 77).  Schleiermacher 1998, 744,20 – 21 (Anm. 77).  Schleiermacher 1998, 621,8 – 9 (Anm. 77).  Schleiermacher 1998, 619,10 – 11 (Anm. 77).  Vgl. dazu: Olaf Blaschke, „Das 19. Jahrhundert. Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter?“, Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), 38 – 75.  Vgl. zu den Einzelheiten: Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Band 4: Die religiösen Kräfte, Freiburg 1955, 106 – 148; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866: Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, 418 – 423. Rechtlich maßgeblich waren hier die §§ 76 – 78 aus dem 2. Titel des II. Teils des Allgemeinen Landrechts (§§ 76 – 78 II 2 ALR): „§. 76. Sind die

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kularrechtlichen Regelungen des Landrechts wurden von preußischen Bürgern katholischer Konfession als Einschränkung ihrer Religionsfreiheit interpretiert. Dies konnte nicht nur deshalb geschehen, weil diese Regelungen dem katholischen Eherecht nicht entsprachen, dem gemäß eine konfessionsverschiedene Ehe einen Dispens erforderte, dessen Erteilung das Versprechen katholischer Kindererziehung voraussetzte. Sondern hinzu kam noch, dass der preußische Staat in seiner erstmals 1803 formulierten Deklaration, die 1825 durch eine Kabinettsorder auch auf die westlichen Provinzen übertragen wurde, die Regelungen des Landrechts als eine „wirksame Maßregel gegen das Proselytensystem der Katholischen“⁹⁵ bezeichnet und sich damit selbst als Partei im konfessionellen Dissens „geoutet“ hatte. Schleiermacher bezieht sich nach der Waitz-Nachschrift allerdings nicht auf die angedeuteten Auseinandersetzungen in Preußen; sein Augenmerk gilt also nicht der vermeintlichen staatlichen Gängelung von Vertretern einer im Kern eben theokratischen und insofern anachronistischen Religion durch eine protestantische Obrigkeit. Sondern er nimmt stattdessen analoge Konflikte im Königreich Sachsen in den Blick: Die katholische Kirche hat das Princip, vermöge dessen von keinem Mitgliede der Kirche zu verlangen ist, daß er seine Kinder außerhalb der Kirche erziehen lasse.Wird das geltend gemacht, so fürchtet der andre Theil eine Bedrängung seines Bestandes, da in der protestantischen Kirche das Princip nicht gilt. So jetzt in Sachsen, wo seit der Gleichheit der politischen Rechte dieser Argwohn auf Seiten der protestantischen Kirche lebhaft besteht, daß die katholische Kirche sich theils so vergrößern würde, theils auch durch allerlei Mittel Individuen zu sich hinüberzuziehen suche.⁹⁶

In Sachsen war die Konstellation eine ganz andere als in Preußen: Seit dem im Jahre 1697 erfolgten „Übertritt der Albertiner zum Katholizismus“ wurde das „Mutterland der Reformation […] von einer katholischen Dynastie beherrscht, mit der nur verschwindend geringe Teile der sächsischen Bevölkerung denselben Glauben teilten“.⁹⁷ Ungeachtet ihrer deutlichen Majorität befürchteten zahlreiche sächsische Protestanten eine für sie gefährliche Bevorzugung des Katholizismus. Verstärkt wurden diese Befürchtungen durch die staatlichen Regelungen zur rechtlichen Stellung der Katholiken im Königreich. Diese Regelungen dienten einer Umsetzung der in § 5 des

Aeltern verschiednen Glaubensbekenntnissen zugethan: so müssen, bis nach zurückgelegtem Vierzehnten Jahre, die Söhne in der Religion des Vaters, die Töchter aber in dem Glaubensbekenntnisse der Mutter unterrichtet werden. §. 77. Zu Abweichungen von diesen gesetzlichen Vorschriften kann keines der Aeltern das Andere, auch nicht durch Verträge, verpflichten. §. 78. So lange jedoch Aeltern, über den ihren Kindern zu ertheilenden Religionsunterricht einig sind, hat kein Dritter ein Recht, ihnen darin zu widersprechen“; https://opinioiuris.de/quelle/1623 (zuletzt abgerufen am 14.05.2018).  Zitiert nach: Schnabel 1955, 124 (Anm. 94).  Schleiermacher 1998, 918,34– 919,4 (Anm. 77).  Paul Reinhardt, Die Sächsischen Unruhen der Jahre 1830 – 1831 und Sachsens Übergang zum Verfassungsstaat, Halle 1916, 96. Im Jahre 1830 stellte die lutherische Landeskirche „mit 96,4 % der Bevölkerung die überragende konfessionelle Mehrheit im Königreich Sachsen, das zur selben Zeit etwa 1,4 Millionen Einwohne zählte“ (Johannes Hund, Das Augustana-Jubiläum von 1830 im Kontext von Kirchenpolitik, Theologie und kirchlichem Leben, Göttingen 2016, 376).

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Posener Friedens vom 11. Dezember 1806 enthaltenen Vorgaben; danach sollte „die Ausübung des katholischen Gottesdienstes im ganzen Umfange des Königreichs Sachsen der Ausübung des lutherischen Gottesdienstes ganz gleich gestellt werden, und die Unterthanen beider Konfessionen sollen ohne Einschränkung der nämlichen bürgerlichen und politischen Rechte genießen“⁹⁸. Von Bedeutung war insbesondere das königliche Mandat, die Ausübung der katholisch-geistlichen Gerichtsbarkeit in den hiesigen Kreislanden, und die Grundsätze zur Regulirung der gegenseitigen Verhältnisse der katholischen und evangelischen Glaubensgenossen betreffend, vom 19. Febr. 1827. ⁹⁹ Im Blick auf das Eherecht, namentlich was die Kindererziehung in Mischehen angeht, formulierte hier der § 55 des Mandats ganz ähnlich wie § 78 II 2 ALR¹⁰⁰: „Die Taufe der in einer gemischten Ehe erzeugten Kinder stehet demjenigen geistlichen zu, in dessen Confession dieselben, nach der Uebereinkunft der Eltern, unterrichtet werden sollen.“¹⁰¹ Flankiert ist diese Bestimmung unter anderem in § 53 durch das ausdrücklich an Geistliche gerichtete Verbot, konfessionsverschiedenen Brautleuten im Vorfeld der Eheschließung „ein Angelöbniß wegen der künftigen religiösen Erziehung der in ihrer Ehe zu erzeugenden Kinder abzufordern“¹⁰². – Allerdings: „Da das Bestreben anderer deutscher Staaten [scil. zur damaligen Zeit; R.L.] gerade darauf ausging, hier jegliche Unklarheit und durch genaue Bestimmungen eine unzulässige geistliche Beeinflussung zu vermeiden, so legte man das Fehlen einer solchen Bestimmung dahin aus, als wolle die sächsische Regierung die Priester nicht daran hindern, bei der Wahl der Konfession der Kinder entscheidend mitzuwirken.“¹⁰³ Diese sehr spezifischen eherechtlichen Bedenken spiegelten auch grundsätzliche Vorbehalte gegen das den römischen Katholizismus betreffende sächsische Religionsrecht. Ein an dieser Stelle engagierter und wortgewaltiger Kritiker war der protestantische Philosoph Wilhelm Traugott Krug, der, bevor er 1809 an die Leipziger Universität wechselte, seit 1805 an der Albertus-Universität Königsberg als Nachfolger Immanuel Kants gelehrt hatte. Im Mandat vom 19. Februar 1827 bemängelte er ganz prinzipiell die Rechtstellung des apostolischen Vikariats und des katholischen Konsistoriums, wie sie vor allem in den §§ 1, 4, 7, 11 und 1– 15 geregelt war: „Man sieht also hieraus, daß der apostolische Vikar oder päpstliche Stellvertreter eigentlich Alles in Allem ist. […] Schwerlich existiert in irgend einem Staate der christlich-zivilisierten Welt eine so anomalisch organisirte Behörde, bei welcher zuletzt alles in die Hände eines einzigen, zugleich inländischen und ausländischen, Beamten gegeben wäre. […] Darf man sich nun wundern, wenn die Errichtung einer solchen neuen Behörde

 http://www.documentarchiv.de/nzjh/1806/rheinbund_akzessionsvertrag-kftm-sachsen.html, zuletzt abgerufen am 14.05.18.  Abgedruckt in: Aktenstücke und Verordnungen über die Verhältnisse der katholischen Glaubensgenossen im Königreiche Sachsen seit dem Posener Frieden, Dresden / Leipzig 1831, 67– 87 (Nr. XXIII).  Nachgewiesen in Anm. 94.  Mandat 1831, 84 (Anm. 99).  Mandat 1831, 84 (Anm. 99).  Reinhardt 1916, 101– 102 (Anm. 97).

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vielfache Besorgnisse bei allen Protestanten des Königreiches Sachsen und selbst des Auslandes erregte?“¹⁰⁴ Anders als Krug nimmt Schleiermacher die Ängste der sächsischen Protestanten nicht zum Anlass für die Formulierung kulturkämpferischer Parolen. Sondern er betrachtet sie als Ausdruck eines nachvollziehbaren Misstrauens in einem Land „mit katholischer Regierung und protestantischen Einwohnern; die neue Gesetzgebung[¹⁰⁵] erscheint völlig unpartheiisch, allein der protestantische Theil der Einwohner fühlt sich doch verletzt, da die katholische Regierung auch die Vorsteher der Kirche sind“.¹⁰⁶ Als das in einem solchen Fall gebotene staatliche Handeln gelten Schleiermacher nicht – wie im Fall eines expliziten geistlich-religiösen Dominanzanspruchs über das Politische – Restriktionen (siehe oben); sondern seine Aufgabe, „die Kraft des Gemeingeistes zu erhalten“¹⁰⁷, nimmt der Staat in diesem Fall am besten wahr durch eine „Milderung der Ansichten“, die mit Zurückhaltung erreicht werden kann; es geht konkret darum, „die Handlungen des Staats so zu stellen, daß durchaus nicht eins oder das andre begünstigt erscheint“.¹⁰⁸ Das Misstrauen könnte allerdings erst dann vollkommen gegenstandslos werden, „wenn die Kirche sich völlig selbst regierte, und die Regierung ihr alles überließe, wo jeder Schein von Partheilichkeit schwände“¹⁰⁹, wenn also, um eine schon zitierte Formulierung nochmals aufzunehmen, eine „gänzliche Sonderung des Politischen und Religiösen“¹¹⁰ vollzogen ist. An dieser Stelle sei ein kurzes Zwischenfazit formuliert: Schleiermacher hat als Religionsintellektueller (in den Reden; Abschnitt 1) gegenüber staatlicher Übergriffigkeit und politischen Instrumentalisierungsabsichten vorrangig die Bedeutung der freien Religionsausübung hervorgehoben; dass durch deren Geltendmachung und

 Wilhelm Traugott Krug [1828], „Drei Fragen an Rechtsgelehrte und noch drei Fragen an das größere Publikum, betreffend den Kampf zwischen der katholischen und der protestantischen Kirche“, in: Krug’s Gesammelte Schriften, Zweiter Band, Braunschweig 1830, 429 – 457, hier 436.  Mit diesem Stichwort spielt Schleiermacher möglicherweise auf die in der Tat um Parität bemühten religionsrechtlichen Regelungen in der Verfassungsurkunde für das Königreich Sachsen vom 4. September 1831 an (http://www.documentarchiv.de/nzjh/verfsachsen.html; zuletzt abgerufen am 14.05.2018): „§ 57: Der König übt die Staatsgewalt über die Kirchen (jus circa sacra), die Aufsicht und das Schutzrecht über dieselben nach den diesfallsigen gesetzlichen Bestimmungen aus, und es sind daher namentlich auch die geistlichen Behörden aller Confessionen der Oberaufsicht des Ministeriums des Cultus untergeordnet. Die Anordnungen im Betreff der innern kirchlichen Angelegenheiten bleiben der besondern Kirchenverfassung einer jeden Confession überlassen. Insbesondere wird die landesherrliche Kirchengewalt (jus episcopale) über die evangelischen Glaubensgenossen, so lange der König einer andern Confession zugethan ist, von der in § 41 bezeichneten Ministerialbehörde ferner in der zeitherigen Maße ausgeübt“.  Schleiermacher 1998, 919,25 – 28 (Anm. 77): „steht die Regierung auf der einen das Volk auf der andern Seite, so ist ein Keim des Mißtrauens zwischen beiden, der gar nicht aufzuheben ist“. Vgl. auch 917,4– 6.  Schleiermacher 1998, 917,8 – 9 (Anm. 77).  Schleiermacher 1998, 918,30 – 32 (Anm. 77).  Schleiermacher 1998, 919,29 – 31 (Anm. 77).  Schleiermacher 1998, 621,27– 28 (Anm. 77).

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Ausübung dem bürgerlichen Gemeinwesen ein Nachteil entstehen kann, ist zwar im Blick, aber nur am Rande. Religiöse Orientierung und staatsbürgerliche Gesinnung werden konsequent auf zwei verschiedenen Ebenen loziert. Dagegen konnte Schleiermacher, wie eben gesehen, als kirchen- beziehungsweise religionspolitischer Akteur (in den Briefen zur Judenemanzipation; Abschnitt 2.2) sowie als Staatstheoretiker (in der Politikvorlesung, Abschnitt 2.3) nicht weniger deutlich die Notwendigkeit staatlicher Maßnahmen zur gemeinwohldienlichen Kanalisierung religiöser Differenzen einschärfen. Die Kompatibilität eines religiösen Pluralismus mit dem im politischen Gemeinwesen geltenden Recht betrachtete er also keinesfalls als immer schon gegeben. Im Blick auf deren Gewährleistung oder Herstellung stand ihm ein breites Spektrum möglicher Maßnahmen vor Augen – von der defensiven Zurückhaltung im Fall eines Konfessionsunterschiedes zwischen Obrigkeit und Untertanen mit dem Ziel eines Abbaus von Misstrauen bis hin zu offensiven Restriktionen, die solche religiösen Akteuren aufzuerlegen sind, die eine Unterordnung der politischen Institutionen unter das Religiöse fordern und betreiben. – Der nun folgende Exkurs wird zeigen, dass Hegel – ungeachtet der hier nicht zu vertiefenden religionstheoretischen Differenzen zu Schleiermacher – ein teilweise vergleichbares Spektrum religionspolitischer Optionen vor Augen hatte.

Exkurs 2: Ein Blick auf Hegel Nach Hegel ist es „nur für eine Torheit neuerer Zeit zu achten, […] zu meinen, mit der alten Religion und ihren Heiligkeiten [gemeint ist hier der Katholizismus; R.L.] könne eine ihr entgegengesetzte [scil. auf Freiheit beruhende; R.L.] Staatsverfassung Ruhe und Harmonie in sich haben“.¹¹¹ – Diese Formulierung – sie entstammt der Anmerkung zum § 552 der Enzyklopädie von 1830 – markiert die Sicht des späten Hegel auf das Verhältnis von Religion und Staat. Danach ist der Katholizismus vom Prinzip her unfähig, die Unabhängigkeit des bürgerlichen Staates von der Herrschaft der Kirche wirklich anzuerkennen. Schleiermachers philosophischer Antipode aus Berlin sieht sich deshalb „zu der Einsicht genötigt, daß nur mit der protestantischen Konfession Staat zu machen sei“¹¹². Diese Auffassung ist bei Hegel allerdings das Ergebnis einer längeren Entwicklung. In seiner Verfassungsschrift (also etwa zur Zeit der Entstehung von Schleiermachers Reden) hatte Hegel als das Prinzip des modernen (von der Konfessionsspaltung geprägten) Staates die nur äußerliche Verbindung der Menschen

 Georg Wilhelm Friedrich Hegel [1830], Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Gesammelte Werke, Bd. 20, hg.v. Wolfgang Bonsiepen / Hans Christian Lucas, Hamburg 1992, 536,29 – 537,3.  Walter Jaeschke, „Religion und Staat (§ 552 A.)“, in: Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830). Ein Kommentar zum Systemgrundriß, hg.v. Hermann Drüe u. a., Frankfurt am Main 32016, 458 – 466, hier 465.

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untereinander angenommen, eine Verbindung also, die nicht mehr durch eine einheitliche kirchlich verankerte Leitkultur getragen war.¹¹³ Im § 270 seiner Rechtsphilosophie – zur Zeit der Entstehung der dritten Auflage von Schleiermachers Reden – konnte Hegel dann die Integrationskraft der sich selbst recht verstehenden (sich nicht in Fanatismus versteigenden) Religion würdigen. Kirchliche Lehren „über das Sittliche, Recht, Gesetze, Institutionen“¹¹⁴ werden als inhaltlich mit der staatlich realisierten Vernünftigkeit identisch gesetzt; different sei lediglich die Form: hier – in der Religion – Glauben und subjektive Überzeugung; dort – im Staat – Wissen und objektive Grundsätze. In diesem Sinne hat Hegel die Religion als Grundlage des Staates gelten lassen und zugleich im Blick auf die konkreten Gehalte religiöser Lehren staatliches Desinteresse und im Blick auf religiös begründete Verweigerung von Rechtgehorsam weitgehende Liberalität und Toleranz angemahnt. In der Enzyklopädie von 1830 spiegelt sich dann insbesondere die (auch für Schleiermacher einschlägige) Erfahrung der politischen Durchschlagskraft eines mit neuem Selbstbewusstsein versehenen römischen Katholizismus, der, so schien es Hegel damals, die Stabilität des freiheitlich-modernen Staates zu gefährden droht. Wenn aber die Gesinnungen einer relevanten Zahl von Bürgern durch eine Religion der Unfreiheit geprägt sind, werden diese Personen eine freiheitliche Staatsverfassung nicht mittragen. Deshalb müsse der Staat sein Desinteresse an den Gehalten religiöser Lehren aufgeben; Hegel war mithin „zu dem Schluss gekommen, dass der Staat nicht jedwede Konfession akzeptieren kann, sondern lediglich eine Religion, die, wie auch der moderne Staat selbst, die Freiheit des Geistes zu ihrer Grundlage hat. Wenn eine Konfession diese Idee der Sittlichkeit nicht teile, sondern den Staat ihrer sakralen Ordnung unterwerfen wolle, bedeute sie aufgrund ihres ungeheuren Motivationspotentials eine Bedrohung für den Staat und dürfe daher nicht toleriert werden“.¹¹⁵ Diese Hinweise haben vor Augen geführt, dass die religionspolitischen Grundoptionen, die sich in den verschiedenen Phasen von Hegels Denken erkennen lassen, auch bei Schleiermacher begegnen. Bei letzterem sind sie allerdings eher ko-präsent. Einerseits lebt das frühe Ideal einer Pluralität autonomer religiöser Gemeinschaften (vgl. Abschnitt 1) in der philosophischen Politiktheorie weiter: sowohl in Gestalt einer kategorialen Differenzierung von religiöser Orientierung und staatsbürgerlicher Loyalität als auch in der Prognose, das „höchste Ziel“ einer „naturgemäßen Entwicklung“ sei die „gänzliche Sonderung des Politischen und Religiösen“¹¹⁶. Andererseits hat auch Schleiermacher stets einen klaren Blick für die realgeschichtliche

 Vgl. dazu: Georg Wilhelm Friedrich Hegel [1799 – 1803], „Fragmente einer Kritik der Verfassung Deutschlands“, Gesammelte Werke, Bd. 5, hg.v. Manfred Baum / Kurt Rainer Meist, Hamburg 1998, 1– 219.  Georg Wilhelm Friedrich Hegel [1821], Grundlinien der Philosophie des Rechts, Gesammelte Werke, Bd. 14/1, hg.v. Klaus Grotsch / Elisabeth Weisser-Lohmann, Hamburg 2009, 220,29 – 30.  Peter Jonkers, „Eine ungeistige Religion. Hegel über den Katholizismus“, in: Hegel-Jahrbuch 2010, 400 – 405, hier 404.  Schleiermacher 1998, 621,26 – 28. (Anm. 77).

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Möglichkeit gemeinwohlgefährdender religiöser Überzeugungen gehabt (vgl. Abschnitt 2.2). – Namentlich an diesen Aspekt seiner politischen Ethik soll im Folgenden angeknüpft werden.

3 Ausblick Wenn Schleiermacher die Frage nach den Grenzen der Gemeinwohlkompatibilität religiöser Haltungen thematisiert, dann hat er ein grundsätzliches religionspolitisches Problem vor Augen, das in spezifischer Weise gerade gegenwärtig virulent ist, allerdings im Blick auf die dritte von ihm als theokratisch bezeichnete Formation: „die türkische Herrschaft, wie sie aus dem Kalifat entstanden ist“¹¹⁷ – zeitgemäß formuliert: den Islam. Dabei geht es konkret um die Frage, ob die (in sich zugegebenermaßen äußerst inhomogene) islamische community in Deutschland insgesamt eine solche lebensweltlich effektiv durchschlagende Haltung zur säkularen Rahmenordnung des Grundgesetzes finden kann, die der Gestaltung einer friedlichen multireligiösen Zukunft dienlich ist. Bedingt durch die vielfach als opportunistisch charakterisierte Migrationspolitik maßgeblicher Teile der deutschen politischen Eliten¹¹⁸ wird diese Frage zusehends drängender. Den Einsatzpunkt der in diesem Abschnitt enthaltenen Überlegungen zu dem eben angesprochenen Problem bildet eine Feststellung: Die bei Schleiermacher noch als zukünftiger Idealzustand apostrophierte „gänzliche Sonderung des Politischen und Religiösen“¹¹⁹ wurde im Deutschland des 20. Jahrhunderts rechtlich und faktisch in der Tat vollzogen. Bereits mit dem Staatskirchenverbot der Weimarer Reichsverfassung von 1919 war der vollständige Verzicht des Staates darauf verbunden, sich mit einer bestimmten Religion oder Konfession zu identifizieren. Die religionsrechtlichen Bestimmungen von Weimar – genauer: die Art. 136 – 138 sowie Art. 141 – wurden dann 1949 über den Art. 140 des am 23. Mai 1949 in Kraft getretenen Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) zum vollgültigen Verfassungsrecht auch der zweiten deutschen Demokratie. Hier – und seit 1990 auch auf dem Gebiet der früheren DDR – gelten sie bis heute fort, wobei sie im engsten Zusammenhang mit den in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG garantierten Rechten zu interpretieren sind.  Schleiermacher 1998, 744,17– 18 (Anm. 77).  Ein Beispiel für diese Einschätzung bietet der Bestseller Die Getriebenen. Darin hat der Journalist und Buchautor Robin Alexander die Vorgänge seit Anfang September 2015 präzise rekonstruiert. Das hier verwendete Wort „opportunistisch“ knüpft an Alexanders Feststellung an, das Versäumnis von Angela Merkel – als damals zentraler Akteurin – habe im Verzicht darauf bestanden, kurzfristig nach der spontanen Grenzöffnung vom 4./5. September „ein Zeichen zu setzen, dass Deutschland nicht alle Flüchtlinge aufnehmen kann“. Vielmehr habe sie sich mitreißen lassen durch die „Begeisterung der Bevölkerung über die eigene Moral“ und entsprechend versucht, „auf der Welle zu surfen, anstatt Erwartungen zu dämpfen“ (Robin Alexander, Die Getriebenen. Merkel und die Flüchtlingspolitik: Report aus dem Innern der Macht, München 32017, 66.76).  Schleiermacher 1998, 621,27– 28 (Anm. 77).

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Mit dem Religionsrecht des Grundgesetzes ist also zweifellos eine Rahmenordnung gegeben, die als notwendige Bedingung für das erfolgreiche Management einer multireligiösen Zukunft Deutschlands gelten kann. Allerdings gibt es durchaus Indizien dafür, dass die Akzeptanz jener Rahmenordnung (und damit die hinreichende Bedingung für eine gelingende Koexistenz differenter religiöser Überzeugungen) im Fall der hier lebenden Muslime keineswegs durchgängig vorhanden ist. Diese Behauptung wird hier durch den Verweis auf einige empirisch greifbare Sachverhalte begründet. ‒ An erster Stelle ist dabei eine vom Münsteraner Exzellenzcluster Religion und Politik vorgelegte Studie zu nennen; sie beruht auf Befragungen türkischstämmiger Einwanderer über Integration und Religiosität. In den Blick genommen wurde damit die größte Migrantengruppe in Deutschland. Nach den Ergebnissen der Befragung ist der Anteil derjenigen, „die Haltungen bekunden, die schwerlich als kompatibel mit den Grundprinzipien moderner ‚westlicher‘ Gesellschaften wie der deutschen bezeichnet werden können, […] unter den Türkeistämmigen teilweise beträchtlich“¹²⁰. Dabei zeigt sich zwar, dass problematische „Orientierungen in der zweiten/dritten Generation etwas weniger verbreitet sind“¹²¹. Insgesamt gilt dennoch: 47 % aller Befragten stimmten der Aussage zu: „Die Befolgung der Gebote meiner Religion ist für mich wichtiger als die Gesetze des Staates, in dem ich lebe“¹²². ‒ An zweiter Stelle sei die im Januar 2018 publizierte Studie Zur Entwicklung der Gewalt in Deutschland erwähnt. Darin wurden erstmals Ergebnisse einer bereits 2015 repräsentativ durchgeführten Schülerbefragung veröffentlicht. Ein Ergebnis lautet: „Jeweils ein Viertel bis ein Drittel der muslimischen Befragten stimmen den Aussagen zu, dass andere Religionen weniger wert sind als der Islam, dass sie für den Islam kämpfen und ihr Leben riskieren würden und dass die Gesetze der Scharia besser sind als deutsche Gesetze.“¹²³ ‒ Schließlich, drittens, sei auf die Einsichten verwiesen, die der Journalist Constantin Schreiber gewonnen und dokumentiert hat; sie beruhen auf seinen Besuchen von insgesamt 13 Moscheen in Berlin, Hamburg, Leipzig, Magdeburg, Karlsruhe und Potsdam, die zwischen Juni und Dezember 2016 stattgefunden

 Detlef Pollack u. a. [2016], Integration und Religion aus der Sicht von Türkeistämmigen in Deutschland. Repräsentative Erhebung von TNS Emnid im Auftrag des Exzellenzclusters Religion und Politik der Universität Münster; https://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/religion_und_politik/aktuelles/2016/06_2016/studie_integration_und_religion_aus_sicht_t__rkeist__mmiger.pdf, zuletzt abgerufen am 14.05.18, 14.  Pollack 2016, 14 (Anm. 120).  Pollack 2016, 14 (Anm. 120).  Christian Pfeiffer u. a., Zur Entwicklung der Gewalt in Deutschland. Schwerpunkte: Jugendliche und Flüchtlinge als Täter und Opfer; https://www.bmfsfj.de/blob/121226/0509c2c7fc392aa88766bdfaeaf9d39b/gutachten-zur-entwicklung-der-gewalt-in-deutschland-data.pdf, zuletzt abgerufen am 14.05.18, 60.

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haben.¹²⁴ Sein ernüchterndes Resümee lautet: „Abgrenzung, Bewahrung der muslimischen Identität und die Aufforderung, sich von den Einflüssen in Deutschland abzuschirmen, waren zentrale Botschaften. […] Die von mir besuchten Predigten waren mehrheitlich gegen die Integration von Muslimen in die deutsche Gesellschaft gerichtet. […] Bestenfalls waren die Predigten dichte, religiöse Texte, die die Zuhörer in einer anderen Welt halten, schlimmstenfalls wurde das Leben in Deutschland, Demokratie und unsere Gesellschaft abgelehnt.“¹²⁵ Über die Interpretation der vorstehend referierten Befunde kann man sicher trefflich streiten. Sie als Beleg für eine prinzipielle Demokratieunfähigkeit oder eine generelle Demokratiefeindschaft des Islam zu betrachten, wäre eine ebenso unbedacht-einseitige Deutung wie eine – womöglich noch ideologiekritisch verfahrende – Bagatellisierung oder Relativierung. Unstrittig dürfte freilich sein, dass es sich um nicht leicht zu ignorierende Hinweise darauf handelt, dass die beabsichtigte und erwünschte Integration von Muslimen in die deutsche Rechtsordnung eine religionspolitische Herausforderung darstellt, deren Bewältigung mit großen Anstrengungen verbunden ist, die sowohl von der Zivilgesellschaft als auch vom Staat, also von den politischen Verantwortungsträgern, geleistet werden müssen. Oder besser: müssten. Denn dass das diesbezügliche Problembewusstsein derzeit, freundlich formuliert, steigerungsfähig ist, kann schwer bestritten werden; dies hat der Journalist und Schriftsteller Birk Meinhardt erst kürzlich in einem beeindruckend-verstörenden Text vor Augen geführt.¹²⁶ Die von Meinhardt nachvollziehbar beklagte „seltsame Duldsamkeit im öffentlichen Umgang mit jener einen Menschengruppe“¹²⁷, anders formuliert: die „Bereitschaft europäischer Intellektueller und Politiker zu vorauseilender Selbstzensur und appeasement gegenüber Frommen, die aus Glaubensgründen kein Grundrecht auf Meinungsfreiheit in religiösen Fragen anerkennen“¹²⁸, ist ein schon länger beobachtbares Phänomen. Als ein treffliches und zugleich besonders groteskes Beispiel für diese appeasement-Bereitschaft können die Berliner Vorgänge gelten, die sich im Herbst 2006 abgespielt haben, ein knappes Jahr nach den Auseinandersetzungen um die in der dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten abgedruckten Mohammed-Karikaturen. Kirsten Harms, die damalige Intendantin der Deutschen Oper, nahm Hans Neuenfels‘ Idomeneo-Inszenierung wegen angeblicher Sicherheitsbedenken vom Spielplan. Der vermeintliche Stein des Anstoßes war ein vom Regisseur der Oper

 Vgl. Constantin Schreiber, Inside Islam. Was in Deutschlands Moschee gepredigt wird. Unter Mitarbeit von Hamza Jarjanazi, Berlin 2017.  Schreiber 2017, 241.244– 245 (Anm. 124).  Vgl. Birk Meinhardt, „Stille Duld“, in: Cicero. Magazin für politische Kultur, Nr. 3 (März 2018), 14– 25.  Meinhardt 2018, 19 (Anm. 126).  Friedrich Wilhelm Graf, Missbrauchte Götter. Zum Menschenbilderstreit in der Moderne, München 2009, 57.

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angefügter Epilog, in dem die abgeschlagenen Köpfe von Poseidon, Buddha, Christus – und Mohammed gezeigt wurden. Zur Absetzung der Inszenierung kam es nicht ohne Einflussnahme durch den damaligen Berliner Innensenator Ehrhart Körting; auf dessen Initiative hin hatte das Berliner Landeskriminalamt eine Gefährdungsanalyse erstellt, in der von „schwer abzuschätzenden Folgen für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ die Rede war. Proteste oder gar konkrete Drohungen aus der islamischen Community hatte es freilich nicht gegeben.¹²⁹ Das genannte Beispiel macht deutlich, wie umstandslos traditionelle Selbstverständlichkeiten unserer säkularen Kultur wie Meinungsfreiheit, Kunstfreiheit oder das Recht auf Religionskritik relativiert werden können, wenn es darum geht, auf vermeintliche religiöse Gefühle, namentlich auf die von Muslimen, Rücksicht zu nehmen. Angesichts des (im Unterschied zum ja nur imaginierten Berliner Bedrohungsszenario höchst realen) islamisch motivierten Terroranschlags auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris vom 7. Januar 2015 haben sich erneut Stimmen artikuliert, die – abermals ausschließlich im Blick auf den Islam – eine allzu konsequente Wahrnehmung solcher Freiheitsrechte kritisierten, durch deren Ausübung religiöse Gefühle verletzt werden könnten.¹³⁰ Was aus der dokumentierten Mischung aus Geringschätzung bzw. Verachtung für eine säkulare und auf religiösen Pluralismus orientierte Rechtsordnung seitens muslimischer Akteure einerseits und der angezeigten Unterschätzung des Problems durch die deutsche Politik andererseits mittel- und langfristig folgen wird, ist derzeit nicht abzusehen. Gefragt werden kann aber, was sich im Blick auf das dargestellte Problem aus Schleiermachers politischer Ethik lernen lässt. Dabei ist erneut darauf zu verweisen, dass Schleiermacher, wie in Abschnitt 2 deutlich wurde, nicht einfach nur als ein Denker der Kultivierung von Pluralität zu gelten hat; vielmehr ist er zugleich als ein politisch umsichtiger Befürworter religiöser Vielfalt zu würdigen, der eben deshalb auch um die unvermeidbaren Grenzen gewusst hat, die dem religiösen Pluralismus im Tagesgeschäft der politischen Praxis gesetzt werden müssen. Das nachstehende Zitat macht dies noch einmal ganz deutlich.

 Vgl. dazu: Chronik der Affäre um die Absetzung von „Idomeneo“, auf: http://www.morgenpost.de/ printarchiv/politik/article104625243/Chronik-der-Affaere-um-die-Absetzung-von-Idomeneo.html, zuletzt abgerufen am 14.05.18 [paywall].  Pars pro toto sei hier auf einen Vorgang in den USA verwiesen. Gemeint ist die Auseinandersetzung über die am 5. Mai 2015 in New York erfolgte Auszeichnung von „Charlie Hebdo“ mit dem „Freedom of Expression Courage Award“ durch die US-Sektion des Schriftstellerverbandes PEN. Prominenten Autoren – genannt seien Michael Ondaatje, Peter Carey, Junot Diaz, Michael Cunningham und Teju Cole – haben die Preisverleihung an die von ihnen als islamophob stigmatisierte Satirezeitschrift kritisiert. Der zuletzt genannte nigerianisch-amerikanische Schriftsteller hatte schon vier Monate zuvor – exakt zwei Tage nach dem Anschlag vom 7. Januar 2015 – von „racist and Islamophobic provocations“ gesprochen, auf die sich „Charlie Hebdo“ in den letzten Jahren spezialisiert habe (Teju Cole, „Unmournable Bodies“, auf: https://www.newyorker.com/culture/cultural-comment/unmournable-bodies, zuletzt abgerufen am 14.05.18).

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Wenn wir sagen: die Obrigkeit müßte alle religiösen Formen, auch die dem Staat widerstrebenden, freilassen, wobei man es ja abwarten könne, ob sie sich soweit verbreiten werden, um eine andre Staatsform nöthig zu machen, die dann eintreten kann, so läßt sich dies zwar in der Theorie, nie aber in der Praxis denken – denn der Staat kann auch nie ohne das lebendige Interesse an einer eigenthümlichen Form bestehn – es muß auch im Staat ein Glaube an die bestehende Staatsform sein und die Neigung und der Wunsch sie festzuhalten – jener andre Zustand wäre also für den Staat ein höchst nachtheiliger und schlechter – der Staat muß also hier beschränken und ein solches Dilemma aufstellen, daß der andres Glaubende entweder an dem Glauben des Staats festhalten muß oder sich anderswo seine Stelle suchen – und die Obrigkeit, die ein solches Dilemma aufstellt, kann von Niemand als ungerecht getadelt werden sondern sie handelt im Sinne des Gesamtinteresses und im Geiste der Totalität. Es kann z Β religiöse Formen geben, welche die Mitglieder des Staats auf solche Weise mit den Mitgliedern andrer Staaten in Verbindung setzen, daß die Leitung ihres religiösen Lebens außerhalb des StaatsGebietes liegt, so daß dieses als an das fremde Land geknüpft angesehn werden muß – Und hier kann der Staat gewiß sagen: daß er eine solche Lage, die ihm an seiner Selbstständigkeit schade und ihn von einem fremden Staate abhängig mache, nicht dulden könne.¹³¹

Die hier zum Ausdruck kommende – und, wie in Exkurs 2 gesehen, auch von Hegel geteilte – Auffassung, nach der „im Staat ein Glaube an die bestehende Staatsform sein [muss] und die Neigung und der Wunsch sie festzuhalten“¹³², ließe sich problemlos mit einschlägigen politiktheoretischen Debatten um Verfassungspatriotismus und Leitkultur verbinden¹³³, zwei Konzepte, die, wie Tine Stein zu zeigen versucht hat, durchaus miteinander verbunden werden und auch das Anliegen des Multikulturalismus aufnehmen können¹³⁴. Und das von Schleiermacher angezeigte – und damals auf den Ultramontanismus gemünzte – Problem, „daß die Leitung“ des religiösen Lebens einer Frömmigkeitsgemeinschaft „außerhalb des StaatsGebietes liegt“¹³⁵, kann durchaus auf die inzwischen weitläufig bekannte Tatsache bezogen werden, dass der türkische Moscheendachverband DITIB¹³⁶ – als deutsche Niederlassung des türkischen Präsidiums für Religionsangelegenheiten (Diyanet İşleri Başkanlığı; abgekürzt: Diyanet) – durch die Entsendung von in der Türkei ausgebildeten Imamen massiven Einfluss auf die von ihm gelenkten etwa 900 Moscheevereine in Deutschland ausübt – seit der Präsidentschaft von Recep Tayyip Erdoğan zunehmend in Gestalt der Einschärfung einer Verbindung von türkischem Nationalismus und fundamentalistischem Islam.

 Schleiermacher 1998, 619,9 – 30 (Anm. 77).  Schleiermacher 1998, 619,15 – 17 (Anm. 77).  Im Blick auf Schleiermachers Briefe bei Gelegenheit … hat Hans-Martin Kirn festgestellt, deren Gegenwartsrelevanz bestehe in einer Erschließungskraft bezüglich „gesellschaftlicher Konflikte um die Integration von Minoritäten und die Rolle einer ‚Leitkultur‘“ (Kirn 2017, 128 [Anm. 60]).  Vgl. Tine Stein, „Gibt es eine multikulturelle Leitkultur als Verfassungspatriotismus? Zur Integrationsdebatte in Deutschland“, in: Leviathan 36/1 (2008), 33 – 53.  Schleiermacher 1998, 619,26 – 27 (Anm. 77).  Genauer: Die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V. (Diyanet İşleri Türk İslam Birliği).

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Die benannten Aspekte sind jedoch nicht zu vertiefen. Hier soll – abschließend – lediglich daran erinnert werden, dass das auch von Schleiermacher geltend gemachte Interesse an einer Rechtsordnung, die für eine Pluralität unterschiedlicher religiöser (heute: religiös-weltanschaulicher) Orientierungen offen und ihrerseits säkular verfasst ist, tief in der protestantischen Religionskultur verwurzelt ist; in gewisser Weise kann man den Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, der auf seinem Territorium einen Pluralismus solcher Überzeugungen zulässt, bereits aus den Überlegungen Luthers im zweiten Teil seiner Obrigkeitsschrift herleiten¹³⁷. Im Blick auf die hier als gegenwartsaktuell ausgewiesenen Problemlagen kann von daher ein nachdrückliches Plädoyer für den engagierten Schutz der säkularen Rahmenordnung als ein genuin protestantischer Debattenbeitrag gelten, für den man sich auch auf Schleiermachers politische Ethik berufen kann.

 Vgl. dazu: Rochus Leonhardt, „Aufgaben und Grenzen weltlicher Staatlichkeit nach Luther“, in: ‚Hier stehe ich, ich kann nicht anders!‘ Zu Martin Luthers Staatsverständnis, hg.v. Rochus Leonhardt / Arnulf von Scheliha, Baden-Baden 2015, 75 – 114.

Viktoria Gräbe / Berlin

Predigten zwischen Zweckfreiheit und edukativem Anspruch Eine bildungshistorische Untersuchung der frühen Predigten Schleiermachers an der Berliner Charité (1796 – 1802) In einem Aufsatz aus dem Jahr 2009 rekonstruiert Simon Gerber plastisch und facettenreich Friedrich Schleiermachers Tätigkeit als Krankenhausseelsorger an der Berliner Charité im Zeitraum von 1796 bis 1802 und beleuchtet dabei sowohl wichtige Aspekte dieser Lebensetappe Schleiermachers als auch der Krankenhausgeschichte.¹ Zu nennen wären hierbei beispielsweise die Eingliederung der vormals separierten psychisch Kranken in die Charité (1799), die Neuordnung des Gottesdienstes im Rahmen der Krankenhausseelsorge in Folge dessen sowie die Positionierung Schleiermachers zu den Sakramenten. Der vorliegende Aufsatz möchte diese wichtige Arbeit um eine bildungshistorische Perspektive ergänzen, deren Fokus auf Schleiermachers Predigten an der Berliner Charité liegt. Angeregt durch die Antrittspredigt Schleiermachers an der Charité und durch Äußerungen im Briefwechsel mit seiner Schwester Charlotte, werden Themen der von Schleiermacher abgehaltenen Gottesdienste auf den Krankenstationen der Charité, aber auch Predigten in der Charité-Kirche und im Invalidenhaus systematisch unter der Fragestellung untersucht, inwiefern a) sie dem von Gerber in der Instruktion zur Vokation identifizierten Auftrag der „Kontrolle, Disziplinierung und […] Resozialisierung der Randgruppen“² entsprachen oder b) sie einen zu a) möglicher Weise in Spannung stehenden (sozial‐)pädagogischen Anspruch aufzeigten und c) sich Brüche zu zeitgleich erschienenen literarischen Schriften, insbesondere zu den Reden Über die Religion von 1799, andeuten.

1 Historische Einordnung und Positionierung Schleiermachers zur Krankenhausseelsorge Friedrich Schleiermachers Tätigkeit als Krankenhausprediger an der Berliner Charité im Zeitraum von 1796 bis 1802 fällt in eine Zeit weitreichender gesellschaftlicher Veränderungen, die auch auf die Organisation des Hospitals großen Einfluss haben.

 Simon Gerber, „Seelsorge ganz unten – Schleiermacher, der Charité-Prediger“, in: Wissenschaft und Geselligkeit. Friedrich Schleiermacher in Berlin 1796 – 1802, hg.v. Andreas Arndt, Berlin / New York 2009, 15 – 43.  Gerber 2009, 8 (Anm. 1). https://doi.org/10.1515/9783110569520-016

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Viktoria Gräbe / Berlin

Die infolge der Aufhebung des feudalen Bauernschutzes einsetzende Landflucht führt um die Jahrhundertwende zu einer zunehmenden Ballung der Bevölkerung in den Großstädten. Mit der Gewerbefreiheit verschärft sich der Konkurrenzkampf; das Überangebot an Arbeitskräften führt zu sinkenden Löhnen. Prostitution in Folge ungewünschter Schwangerschaften und umgekehrt sind Themen, die auch und besonders die Charité betreffen. 1785 sind 8 % der Berliner Bevölkerung auf die Unterstützung durch Armenversorgungsanstalten angewiesen.³ Die evangelische Kirche versucht schon frühzeitig mit den kommunalen Stellen der Armenfürsorge zusammenzuarbeiten.⁴ Der ihrerseits problematisierten und auch von Schleiermacher immer wieder thematisierten religiösen Indifferenz⁵ soll durch „beßern Unterricht und durch Ermahnung“⁶ begegnet werden. Armenfürsorge wird einhergehend mit ihrer zunehmenden Regulierung und Knüpfung an einen christlichen Lebenswandel Teil der Missionierung.⁷ Der hohe Stellenwert der mündlichen, kunstvollen Rede für die Mitteilung religiöser Gefühle⁸ und hier wiederum die Vorliebe Schleiermachers für die freie Rede, die sich auch in dem überlieferten Textmaterial widerspiegelt, sind bekannt.⁹ Schleiermachers Positionierung zum spezifischen Feld der Armen- und Krankenseelsorge jedoch erscheint ambivalent. Seine diesbezüglichen Äußerungen im Briefwechsel zeugen zeitweise von Geringschätzung des Amtes und lassen eher nicht auf eine sozialkritische Haltung angesichts der ihm begegnenden Zustände schließen.¹⁰ Die im

 Sabine Hering / Richard Münchmeier, Geschichte der sozialen Arbeit. Eine Einführung, Weinheim / München 2000, 23 – 24.  Hering / Münchmeyer 2000, 33 (Anm. 3).  Vgl. etwa die Antrittspredigt Schleiermachers, wo er eben jenen Rückgang zumindest öffentlich zelebrierter Religion anspricht (KGA III/3, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 2013, 332). Auch in seiner späteren Korrespondenz mit der ihm vorgesetzten Aufsichtsbehörde, dem königlichen Armendirektorium, thematisiert er die eher geringe Anzahl an Gottesdienstbesuchern, insbesondere nach der Auslagerung der Hospitaliten infolge der Neustrukturierung der Charité ab 1799 (KGA V/3, hg.v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin / New York 1992, 169 – 175). Einen ähnlichen Hinweis gibt ein Brief, den Schleiermacher im Kontext seiner Predigttätigkeit in Potsdam (1799) an seine Schwester Charlotte adressierte (44– 46). Anders äußert er sich in einer Predigt vom 23.02.1800, in der er die Auswirkungen derartiger Aussagen problematisiert (2013, 625 [Anm. 5]).  So die Instruktion zur Vokation Schleiermachers, zit. nach Gerber 2009, 18 (Anm. 1).  Thomas K. Kuhn, „Armut und Protestantismus. Exemplarische Konzepte aus dem 18. und 19. Jahrhundert“, in: Konfessionelle Armutsdiskurse und Armenfürsorgepraktiken im langen 19. Jahrhundert, hg. von Bernhard Schneider, Frankfurt am Main 2009, 199 – 226, hier 204. Auch die Instruktion zu Schleiermachers Vokation fordert auf, „widerspenstige Religionsverächter“ zu melden (Zit. n. Gerber 2009, 18 [Anm. 1]).  Vgl. exemplarisch Friedrich Schleiermacher [1799], Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg.v. Rudolf Otto, Göttingen 2002, 129.  Vgl. exemplarisch Horst F. Rupp, Religion – Bildung – Schule. Studien zur Geschichte und Theorie einer komplexen Beziehung, Weinheim 1994, 129.171.  So äußert Schleiermacher gegenüber seinem Studienkollegen aus der Herrnhuter Zeit, C. G. von Brinckmann, 1797: „Wie leid thut es mir daß ich gerad da ich einmal gewiß wäre Dich zu treffen den Charitanten predigen muss, es ist der ärgste Streich, den sie mir noch gespielt haben. […] Ich wollte

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Briefwechsel mit unterschiedlichen Briefpartnern immer wieder deutlich werdende Abwertung der Tätigkeit sowie die Veröffentlichung der Reden Über die Religion (1799) verführen einen Kritiker zu der Unterstellung, Schleiermacher predige nur aus finanziellen Interessen.¹¹ Gerber geht jedoch davon aus, dass Schleiermacher fürchtete, sich mit der Tätigkeit an einer Einrichtung, die vor allem Arme, Schwangere und Kriegsverwundete beherbergte, nicht schmücken zu können.¹² Für eine Inszenierung gegenüber den literarischen Freunden des Berliner romantischen Kreises spricht zum einen die – bedauerlicher Weise nur fragmentarisch überlieferte –, wahrscheinlich von der Schrift seines lutherischen Amtskollegen inspirierte Ideensammlung zur Armenfürsorge, die insgesamt auf eine durchaus kritische Auseinandersetzung auch mit der sozialen Seite der Armenfürsorge schließen lässt.¹³ Ebenso lässt die Einschätzung seiner Tätigkeit an der Charité aus der Retrospektive (1803) in fast verklärenden, wenn auch stets einschränkenden Sätzen, auf mehr Herzblut als die Briefe schließen: Es sind nun neun Jahre, als ich auch an einem Charfreitag meine erste Amtsführung antrat; mir ist seitdem dieser Beruf immer lieber geworden, auch in seiner unscheinbaren Gestalt und seinem nachteiligen Verhältnis zum Geiste dieser Zeit, und ich glaube, wenn ich ihn aufgeben müßte, würde ich noch tiefer trauern als um Alles, was ich jetzt verloren habe. Es gehört dazu freilich, daß man sich über alles Aeußerliche, Einzelne, Kleine hinwegsezt, welches sonst immer widrige Störungen veranlaßt, daß man ganz und rein auf die Hauptsache hinarbeitet und sich dieser beständig bewußt ist, daß man das Ideal des Verhältnisses im Auge hat und im Geiste desselben lebt und handelt.¹⁴

Allgemein spricht Schleiermacher diesem speziellen Feld der Seelsorge einen großen Stellenwert für die Persönlichkeitsentwicklung und Herausbildung von Professionalität angehender Kirchendiener zu, gibt jedoch in der Schrift Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt ebenso wie im oben zitierten Rückblick eine kritische Einschätzung der Krankenseelsorge, wie es aktuell um sie bestellt ist: [Nun gehen wir zu dem Verhalten mit solchen über, welche durch äußere Umstände aus der Identität mit der Gemeine gefallen sind], das ist das ist die Krankenpflege, der geistliche Zuspruch bei Kranken und Sterbenden. Dieser Gegenstand hat seit geraumer Zeit sehr abgenommen, ob das ein gutes oder schlimmes Zeichen ist, läßt sich verschieden beurtheilen. Es hat sich oft viel su-

Deine Barbaren wären in der Charité oder meine Charitanten in ihrer Barbarei so hätte wenigstens einer von uns Ruhe.“ (KGA V/2, hg.v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin / New York 1988, 190) und ähnlich auch am 21.12.1797 (243).  A. L. Hülsen setzte sich in einem Brief an Schleiermacher vom 06.05.1800 mit der Unterstellung seines Freundes J. E. von Bergers auseinander, Schleiermacher predige „um des Brodtes willen“ (KGAV/ 4, hg.v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin / New York 1994, 34).  Gerber 2009, 15 (Anm. 1).  Hier finden sich wiederum ähnliche Gedanken wie bei pietistischen Vorgängern, etwa das Anhalten Arbeitsfähiger zur Erwerbsarbeit (vgl. auch Kuhn 2009, 204 [Anm. 7]).  Zit. nach Mathias Wolfes, Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit. Bd. 1, Berlin / New York 2004, 78.

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perstitiöses mit eingemischt, und wenn es deswegen seltener geworden: so müßte man sich darüber freuen; oft aber ist es nur die Folge einer größeren religiösen Indifferenz. Ich weiß nicht, was ich wünschen soll, daß es jedem von Ihnen in dem künftigen Amte recht oft oder recht selten vorkommen möge. An sich möchte ich das erstere wünschen. Es erhöht sehr die Lebensweisheit, wenn man oft mit solchen zusammenkommt die von diesem Leben scheiden.¹⁵ Wenn man aber sieht, wie es jezt gewöhnlich ist: so hat es wenig erfreuliches und erhebendes.¹⁶

2 Theologie und Pädagogik – Verortung Die Frage, welchen Anspruch Schleiermacher selbst an seine Predigttätigkeit hatte, stellt sich vor diesem Hintergrund zwangsläufig. Dass Schleiermacher im Rahmen seiner frühen Predigttätigkeit¹⁷ einen edukativen – und nicht nur, wie von anderen Autoren bereits untersucht, politischen¹⁸ oder natürlich praktisch-theologischen, erbaulichen Anspruch – gehabt haben könnte, legen Äußerungen im Briefwechsel sowie der Grundtenor der Antrittspredigt von 1796 nahe. 1798 gesteht er seiner Schwester Charlotte: Es ist freilich mit dem Erziehen eine eigne Sache, ob ich Talent dazu habe weiß ich nicht, […], aber Erfahrung habe ich genug und Lust auch, und es ist mir wirklich bisweilen bange danach daß ich nichts zu erziehn habe. […] Es scheint mir die unnachläßlichste Pflicht eines Jeden Menschen zu seyn Andere zu erziehn, es mögen nun Alte seyn oder Kinder, eigne oder fremde. Ich habe dieser Pflicht noch nicht Genüge gethan, und da ich nicht weiß wie es in Zukunft werden wird, so thue ich sehr wol, wenn ich keine Gelegenheit vorbeigehn laße. Manchmal möchte ich mir einreden wenn man Briefe schriebe erzöge man auch in der Welt – nach bestem Wißen, es ist aber nicht wahr, es ist nur ein wunderliches Treiben ohne Leben ohne Anschauung ohne Nuzen. Das predigen ist wol etwas mehr, aber nach der gegenwärtigen Einrichtung doch auch wenig genug.¹⁹

Der interdisziplinären Verständigung zwischen Theologie und Pädagogik standen von beiden Seiten lange Zeit Vorbehalte im Weg. Die strikte Hierarchie zwischen Evan-

 Ähnlich äußert sich Schleiermacher im Briefwechsel mit seiner Schwester Charlotte 1796 über die heilsame Wirkung des Anblickes Sterbender schon auf Kinder (Schleiermacher 1988, 174 [Anm. 10]). Auch hebt er in den Reden Geburt und Tod als Momente, in denen die Unendlichkeit ins Bewusstsein rücke, hervor (Schleiermacher 2002, 111 [Anm. 8]).  Zit. nach Kristin Merle / Birgit Weyel (Hg.), Seelsorge. Quellen von Schleiermacher bis zur Gegenwart, Tübingen 2009, 46 – 47.  Zur Unterscheidung der ersten und der frühen Predigten vgl. Dorothee Godel, Predigt als Vermittlung: Studien zum Verhältnis von Theologie und Philosophie in Schleiermachers ersten Predigten, Tübingen 2015, 16.  Vgl. Wolfes 2004 (Anm. 14) und hinsichtlich der späteren Berliner Predigten Arnulf von Scheliha, „‚[…] die Verletzung des Buchstabens nicht achtend, […] wahrhaft im Sinn und Dienst des Königs handelnd‘. Friedrich Schleiermacher als politischer Prediger“, in: Geist und Buchstabe. Interpretationsund Transformationsprozesse innerhalb des Christentums“, hg. von Michael Pietsch / Dirk Schmid, Berlin / Boston 2013, 155 – 175.  Schleiermacher 1988, 368 – 369 (Anm. 10).

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gelium und Bildung, wie von Karl Barth im 20. Jahrhundert entfaltet²⁰, war für die Erziehungswissenschaft dabei womöglich noch nachvollziehbarer als der Ausschluss der Selbstbildung durch den Paulinischen Gedanken des passiven Verwandeltwerdens in das Bild Christi.²¹ Aber auch die Erziehungswissenschaft hat lange Zeit eine systematische Klärung des Verhältnisses beider Disziplinen zu umgehen versucht und mit ihrem historischen – theologischen – Erbe gehadert.²² Die Schleiermacher-Forschung ist in der Frage, in welchem Verhältnis Theologie und Erziehungslehre bei Schleiermacher zu einander stehen, unentschieden, wie vor diesem Hintergrund kaum anders zu erwarten. Sie konzentrierte sich in diesem Kontext bislang v. a. auf Schleiermachers Position zu einer Bildung zur Religion oder, selbst wenn an der Verortung von Theologie und Pädagogik in Schleiermachers Gefüge der Wissenschaften interessiert, einseitig auf einen möglichen theologischen Gehalt seiner Erziehungslehre.²³ Insbesondere hinsichtlich Schleiermachers (ablehnender) Haltung gegenüber religiöser Erziehung an (öffentlichen) Schulen, die auch als Beleg für die „Freiheit der Pädagogik von allen Theologismen“²⁴ herangezogen wird, gibt es in der Literatur wenig Kontroverse – und dies, obwohl schon Erwin Wißmann in seiner bis heute grundlegenden Arbeit zur Religionspädagogik Schleiermachers eine eindeutige Einordnung der religiösen Erziehung in Schleiermachers System der Wissenschaften nachzuweisen Mühe hat.²⁵ Inwiefern Schleiermacher in seiner religiös-praktischen Arbeit einen pädagogischen, vielleicht auch sozialemanzipatorischen Ansatz verfolgt haben könnte oder ob er die ihm eigen zu sein scheinende Lust am Erziehen in der Predigttätigkeit hat ausblenden können, ist Gegenstand nur weniger Aufsätze gewesen und wird als Problemaufriss sogar für „fragwürdig“²⁶ gehalten. Inwiefern die Fragstellung durchaus legitim ist, zeigen Seitenblicke auf andere (pietistische) Konzepte zur Armenfürsorge wie dem August Hermann Franckes, dem Thomas K. Kuhn „unverkennbar ‚erzieherische‘ wie normierende Züge“ und allgemein der christlichen Armenfürsorge

 Rupp 1994, 101 (Anm. 9).  Rupp 1994, 310 (Anm. 9).  Friedrich Schweitzer, „Interferenz von Religion und Bildung“, Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 3(2004), 313 – 325, hier 316.  So nimmt bspw. Godels Habilitation trotz ihres Titels „Predigt als Vermittlung. Studien zum Verhältnis von Theologie und Philosophie in Schleiermachers ersten Predigten“ eben keine pädagogische Position ein, sondern meint mit „Vermittlung“ ausschließlich die Vermittlung zwischen Glaube und Vernunft, Theologie und moderner Wissenschaft, christlicher Sittenlehre und praktischer Philosophie sowie Vermittlung zwischen unterschiedlichen zeitgenössischen philosophischen Strömungen (Godel 2015, 27, Anm. 18).  Wolfgang Sommer, „Der Zusammenhang von Pädagogik und Praktischer Theologie in Schleiermachers Religionspädagogik“, Der evangelische Erzieher. Zeitschrift für Pädagogik und Theologie, 1 (1978), 321– 341, hier 324.  Erwin Wißmann, Religionspädagogik bei Schleiermacher, Gießen 1934, 15 – 35.  Sommer 1978, 325 (Anm. 24).

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„sozialdisziplinatorische Interessen“ ²⁷ unterstellt. Aber auch die historische Entwicklung vom Pfarramt zum Volksaufklärer und Volkslehrer bis ins 19. Jahrhundert hinein, die insbesondere im ländlichen Raum die Bekämpfung der Armut zum Ziel hatte²⁸, legitimiert die Fragestellung nach einem pädagogischen Anspruch in Schleiermachers praktischer Tätigkeit als Theologe. Bezogen auf Schleiermacher reichen die Positionierungen in der Literatur von einem gänzlichen Freispruch hinsichtlich einer Vermischung beider Sphären bis zum Vorwurf der „Pädagogisierung der Theologie“ und der „Vermischung von Glaube und Bildung, Evangelium und Erziehung“ ²⁹, der vermutlich vor allem auf die Kritik Barths an der vorgeblich anthropozentrischen Ausrichtung der Theologie Schleiermachers zurückgeht.³⁰ Schleiermacher selbst ist zum Schutz der Religion für ihre Abgrenzung von den anderen Lebensgemeinschaften eingetreten.³¹ Dass die Trennlinie dennoch nicht klar ist, kann exemplarisch am Vokabular der Antrittspredigt aufgezeigt werden.

3 Schleiermachers Antrittspredigt an der Berliner Charité: Panorama einer pädagogischen Predigttätigkeit? In der Antrittspredigt zum Krankenhausprediger an der Charité im Jahr 1796 gibt Schleiermacher einen Ausblick auf die vor ihm liegende Zeit und stellt zugleich seine Position zu der ihm angetragenen Aufgabe dar. Die Predigt kreist um zwei Pole: den Prediger und seine Adressaten. Auffällig ist die durchgängig vorgenommene Charakterisierung des Predigers als Lehrer im weitesten Sinne. So spricht er von sich oder historischen Personen, die er in einer ähnlichen Position wähnt, als von „Lehrern [der ersten Christen]“ beziehungsweise „christlichen Lehrern“ und „Lehrern der Religion“; er spricht vom „Gebote einschärfen“, die er „lehren soll“; und auf der anderen Seite von „lehrbegierigen Christen“; „aufmerksamen Zuhörern“; vom „lernen sollen“; von der „(öffentlichen) Belehrung“ und der „Lehre“ sowie vom „Lehramt“.³² Der von Schleiermacher andernorts markierte Unterschied zwischen Lehre und Predigt ist hier nicht klar ausgewiesen.³³  Kuhn 2009, 206 (Anm. 7).  Kuhn 2009, 211– 212 (Anm. 7).  Sommer 1978, 323 (Anm. 24).  Rupp 1994, 100 – 101 (Anm. 9).  Insbesondere die Einmischung des Staates in Angelegenheiten der Religion verurteilt er mit den harschen Worten: „Hinweg also mit jeder solchen Verbindung zwischen Kirche und Staat!“ (Schleiermacher 2002, 153 [Anm. 8]).  Schleiermacher 2013, 328 – 330 (Anm. 5).  „Ein anderes ist es, das Herz erwärmen, Empfindungen anregen. Das ist nicht Lehren; das ist interessieren meiner Subjektivität für etwas. Das kann wohl eine rednerische Predigt geben, aber nicht Lehre sein.“ (zit. nach Rupp 1994, 156 [Anm. 9]).

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Interessant ist die in der Predigt auszumachende Asymmetrie zwischen Prediger und Gemeinde, die auch für (andere) pädagogische Beziehungen charakteristisch ist. Ein Vergleich mit den wenige Jahre später erschienenen Reden Über die Religion hinsichtlich ihrer Konzeptualisierung des Verhältnisses zwischen „Verkündigern der Religion“³⁴ und Novizen bietet sich an. Die Aufgabe des Mittlers bzw. Lehrers für Religion ist von Schleiermacher in der dritten der Reden beleuchtet worden. Benner leitet u. a. aus dieser Rede die Bedeutsamkeit des Mittlers im religiösen Kontext bei Schleiermacher ab.³⁵ In der Rede wird die Mittlerschaft gleichwohl nur als ein vorübergehender Zustand, der auf gegenseitiger Sympathie gründet, gedacht. Auch verlangt Schleiermacher den Adressaten der Reden eine wesentlich aktivere Rolle in ihrer Bildung zur Religion ab³⁶, während sie in der Antrittspredigt explizit und implizit den Charakter einer Belehrung annimmt und dem Bildungsbegriff damit nicht gerecht wird. Es treten also graduelle, aber nicht unwesentliche Unterschiede zu Tage, die Ausdruck eines „adressatenspezifisch perspektivierten Bildungsprozesses“³⁷ sein könnten. Schleiermacher äußert sich darüber hinaus sowohl in seiner Antrittspredigt als auch in den Reden zur Bildung als Voraussetzung von Religion. Er spricht die Hörerinnen und Hörer der Antrittspredigt nicht nur als wenig geehrte, freudlose, mittellose, arme, niedrige, sondern auch als einfältige und ungebildete Mitglieder der Gesellschaft an. Aber die Wahrheiten, die ich lehren soll, wenden sich so sehr an den gemeinen Verstand, der jedem gegeben ist, die Gebote, die ich einschärfen soll, empfehlen sich so sehr dem innersten Gefühl, daß Unbekanntschaft mit weltlicher Weisheit ihrem Eingange keinen Eintrag thun kann, und es soll mein Ruhm sein, wenn ich durch meinen Dienst zeigen kann, daß auch die, welche die Welt thöricht nennt, von dem Herrn erwählt werden und in seine Weisheit eindringen können.³⁸

Schleiermacher betont damit nicht nur die Möglichkeit der Teilhabe Ungebildeter an Religion; er übertrifft die Aussage sogar noch mit der Einschätzung der ihm Anvertrauten als besonders für Religion empfänglich ob ihres derzeitigen Zustandes. Ihr Unglück und Leid, ihre Krankheiten und ihr Alter, damit aber auch die Unmöglichkeit zur Zerstreuung und der Zwang zu Muße und Einsamkeit, sind ihm vielversprechend, „Lust und Liebe zur Religion“³⁹ erwecken zu können. Mit dieser Einschätzung steht Schleiermacher in einer Traditionslinie mit August Hermann Francke, der nicht nur

 Schleiermacher 2002, 101 (Anm. 8).  Dietrich Benner, „Bildung und Religion. Überlegungen zu ihrem problematischen Verhältnis und zu den Aufgaben eines öffentlichen Religionsunterrichts heute“, in: Formen des Religiösen. Pädagogisch-anthropologische Annäherungen, hg.v. Christoph Wulf u. a., Weinheim 2004, 19 – 33, 24.  Schleiermacher 2002, 105 (Anm. 8).  Kuhn 2009, 212 (Anm. 7).  Schleiermacher 2013, 328 – 329 (Anm. 5).  Schleiermacher 2013, 334 (Anm. 5).

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Armut als Ausdruck besonderer Gottesnähe verstand, sondern auch „innerlichen und äußerlichen Miseren hinsichtlich des Glaubens pädagogische Wirkung“⁴⁰ beimaß. Was die Unmöglichkeit angeht, sich aus der alltäglichen Inanspruchnahme heraus Religion hinzugeben, äußert sich Schleiermacher in den Reden ganz ähnlich wie hier.⁴¹ Deutlicher aber als in der Antrittspredigt wird hier der Vorrang der Bildung vor der „Thorheit“⁴² herausgearbeitet und insbesondere für die Erkenntnis höherer Wahrheiten als notwendig vorausgesetzt: [Nur] verweiset mich nicht umgehört zu denen, auf die Ihr als auf Rohe und Ungebildete herabsehet, gleich als sei der Sinn für das Heilige wie eine veraltete Tracht auf den niederen Teil des Volkes übergegangen, dem es noch zieme, in Scheu und Glauben von dem Unsichtbaren ergriffen zu werden. Ihr seid gegen diese unsre Brüder sehr freundlich gesinnt, und mögt gern, daß zu ihnen auch von andern höheren Gegenständen, […], geredet […] werde. […] Aber ich bitte Euch, wendet Ihr Euch dann zu ihnen, wenn Ihr den innersten Zusammenhang und den höchsten Grund jener Heiligtümer der Menschheit aufdecken wollt? wenn der Begriff und das Gefühl, das Gesetz und die Tat, bis zu ihrer gemeinschaftlichen Quelle sollen verfolgt, und das Wirkliche als ewig und im Wesen der Menschheit notwendig gegründet soll dargestellt werden?⁴³

Welche Aufgaben hat nach Schleiermacher aber nun ein christlicher Lehrer? Geht es ihm wie den Volksaufklärern um die Erweiterung des Wissens der einfachen Leute? Oder doch vorrangig darum, für Religion zu sensibilisieren, wie – wenngleich ein wenig anachronistisch – aus den Reden abzuleiten? Schleiermacher nennt in seiner Antrittspredigt einen ganz anderen Aufgabenkreis, der sich als Dienst an der Gemeinde im Wesentlichen auf die Ordnung im Diesseits zu beschränken scheint. So will er die „Herzen zum guten lenken“, von Irrwegen abhalten, zur Zufriedenheit beitragen, die Zuversicht und den Glauben stärken – kurz: „Empfindungen […] veranlassen, die allem Thun und Bestreben eine bessere Richtung geben“.⁴⁴ Wie Schleiermacher diese Ziele in den nächsten Jahren praktisch-theologisch umzusetzen sucht, soll an den Predigten im Untersuchungszeitraum aufgezeigt werden.

 Kuhn 2009, 201 (Anm. 7).  Schleiermacher 2002, 30 (Anm. 8).  So formuliert Schleiermacher in der Antrittspredigt pathetisch: „Wo wir so viele Menschen sehen, in denen nie eine Spur besserer Gesinnung gewesen zu sein scheint, […]; muß es mir nicht ein angenehmes Geschäft sein das Gemüth von diesen Unruhen zu befreien, und indem ich immer deutlicher den Gedanken entwikkele, daß der gute dennoch besser daran sei als der böse, daß Weisheit doch die Thorheit übertrifft wie Licht die Finsterniß, […].“ (Schleiermacher 2013, 331 [Anm. 5], Hervorhebung V. G.).  Schleiermacher 2002, 29; vgl. auch 135 (Anm. 8).  Schleiermacher 2013, 328 (Anm. 5).

Predigten zwischen Zweckfreiheit und edukativem Anspruch

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4 Krankenhauspredigten – Thematische Schwerpunkte und der Versuch einer Systematisierung Um die 120 Predigten sind für den Zeitraum von 1796 – 1802 im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe ediert worden. Schleiermacher und sein lutherischer Amtskollege hielten bis zur Neuorganisation des Gottesdienstes im November 1799 vor- und nachmittags Gottesdienste in der Charité-Kirche sowie regelmäßig im Invalidenhaus ab; nach November 1799 entfiel der vormittägliche Gottesdienst zugunsten von Betstunden auf den Krankenstationen.⁴⁵ Gerber nennt als bestimmendes Motiv der Predigten die „Hilfe zur Lebensbewältigung aus dem Geist der christlichen Religion, dem Geist der Geduld und Liebe, des Gottvertrauens und der Nachfolge Jesu.“⁴⁶ Hier springt insbesondere die „Hilfe zur Lebensbewältigung“ ins Auge, die ein wichtiger Anspruch jener Predigten ist, die als trostspendende Predigten bezeichnet werden könnte und im Charité-Kontext vor allem dadurch charakterisiert sind, dass sie die Situation der Hörerinnen und Hörer analog zur Antrittspredigt trotz der eher ungünstigen äußeren Umstände als vorteilhaft bzw. auserwählt darstellen. Neben diese Predigten, mit denen sich Schleiermacher einer der selbst gestellten Aufgaben – der Stärkung der Zuversicht und der Zufriedenheit – stellt, treten weitere Predigten, deren Themen sich unterschiedlich kategorisieren lassen. Hier sind zum einen solche Predigten zu nennen, die vor allem an wichtigen Tagen des christlichen Kalenderjahrs im Sinne der Instruktion christliche Dogmen vermitteln. Eine dritte Kategorie setzt sich anlassbezogen mit den Sakramenten, insbesondere dem Abendmahl auseinander, das, wie schon angedeutet, in seiner an der Charité praktizierten Form Gegenstand fundamentaler Kritik Schleiermachers war. Mit diesen beiden thematisch zugespitzten Predigttypen bearbeitete Schleiermacher die Aufgabe, „Ausleger der göttlichen Offenbarungen zu sein und sie in ihrem größeren Sinn darzustellen; die Vorurtheile und Menschensazungen, wodurch sie oft verunstaltet werden, auszurotten“.⁴⁷ Darüber hinaus gibt es Predigten, die sich analog zur Antrittspredigt und zu den Reden mit der Frage nach dem für den Glauben notwendigen Wissen auseinandersetzen, etwa die von Gerber erstmalig edierte und interpretierte Predigt vom 11.6.1797. Wie Schleiermacher in einem Brief an einen Verehrer im Dezember 1800 erläutert, orientiert er sich in der Auswahl der behandelten Themen an den Bedürfnissen der

 Gerber 2009, 28 (Anm. 1) und Wolfgang Virmond, „Schleiermachers Predigttermine zur Charité-Zeit (1796 – 1802)“, in: Wissenschaft und Geselligkeit. Friedrich Schleiermacher in Berlin 1896 – 1802, hg.v. Andreas Arndt, Berlin / New York 2009, 121– 141.  Gerber 2009, 31 (Anm. 1).  Schleiermacher 2013, 328 (Anm. 5).

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„Unglüklichen“⁴⁸ und überwiegend Ungebildeten. Schleiermacher wählt in den Predigten, die sich mit der Bedeutung des Wissens für den Glauben auseinandersetzen, die bereits bekannten beiden unterschiedlichen Zugänge. Zum einen wird hier Wissen nicht per se für unabdinglich gehalten; Wissen muss also nicht um seiner selbst willen geschätzt werden.⁴⁹ In Extremum ordnet Schleiermacher die Verstandesbildung sogar der Herzensbildung unter.⁵⁰ Diese Haltung korrespondiert mit den im Untersuchungszeitraum ausgeprägten romantischen Ansichten Schleiermachers, die sich etwa in der durchaus wertschätzenden Identifizierung eines kindlichen Geistes im Christentum ausdrücken⁵¹ und ähnlich auch in der 1805 erschienenen literarischen Schrift Die Weihnachtsfeier entfaltet werden. Zum anderen kommt ein zweiter Zugang zum Tragen. Die Behandlung der Verstandesbildung in den Predigten, auch mit Blick auf zeitgleich erschienene literarische Schriften, ist dadurch spannungsreich, vielleicht aber auch einfach nur typisch dialektisch. So predigt Schleiermacher im selben Zeitraum über tadelnswerte Aspekte des kindlichen Geistes des Christentums, so etwa den Wunderglauben. Schleiermacher schließt die Predigt mit den Worten: „Laßt uns nicht die Weisheit für irreligiös halten die ernste Forderungen macht, und Muth und Zuversicht einflößt. Sie ist die wahre männliche Religion und Christus und seine Jünger waren auch so.“⁵² Gleichermaßen spricht Schleiermacher von verschuldeter Unwissenheit und gibt nicht nur nützlichen Kenntnissen, sondern auch Bildung ein großes Gewicht. Aussagen in Predigten wie „Der ununterrichtete ist nur Knecht“ oder „wir müßen immer verständiger werden“⁵³, lassen auf eine – sehr eigene – Auseinandersetzung mit der Aufklärungspädagogik schließen. Anders als es die Reden Über die Religion und vereinzelte Predigten⁵⁴ vermuten lassen, kritisiert Schleiermacher Christoph Lüth zufolge vor allem die Extreme der Aufklärungspädagogik sowie den Motivator ihres Perfektibilitätsanspruches, der Schleiermacher zufolge rein materialistisch an Äußerlichkeiten orientiert habe. Folgt man Lüths Gedanken weiter, so besteht die Eigenheit Schleiermachers nun im Rückgriff auf den Gedanken der Vervollkommnung, in dessen theologischer Begründung und Transformation in eine geistige Vervollkommnung.⁵⁵ Schleiermacher verurteilt damit analog zu seiner Antrittspredigt Un-

 Hülsen 1994, 363 – 364 (Anm. 11).  Schleiermacher 2013, 563.659.687– 688 (Anm. 5).  Schleiermacher 2013, 676 – 678 (Anm. 5).  Schleiermacher 2013, 648 – 649 (Anm. 5).  Schleiermacher 2013, 706 (Anm. 5) – die zitierte Passage kann allerdings unterschiedlich interpretiert werden.  Schleiermacher 2013, 560 (Anm. 5).  Vgl. etwa die Predigt vom 22.06.1800, in der sich Schleiermacher kritisch gegenüber dem „Zeitalter wo der Verstand Alles gilt“ äußert (Schleiermacher 2013, 676 [Anm. 5]).  Christoph Lüth, „Schleiermachers Kritik an der Pädagogik der Aufklärung – eine Überwindung der Aufklärungspädagogik?“, in: Moral Philosophy in the Enlightenment, hg.v. Dieter Jedan / Christoph Lüth, Bochum 2001, 59 – 80. Vgl. auch Jens Brachmann, „Schleiermachers Kritik an der Aufklärungs-

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wissenheit nicht, betont aber die Wichtigkeit des Erkenntniszuwachses, denn „daß Erkenntnis je schädlich sei, ist eine Täuschung“.⁵⁶ Dennoch scheint es Schleiermacher in den Predigten selbst nicht um die Vermittlung von Kenntnissen zu gehen, sondern neben dem Trost um die Erziehung zu gottgefälligen Gemeindemitgliedern, wie weitere Predigten zeigen. Die Predigten, in denen Schleiermacher spezifische – christlich konnotierte – Tugenden in den Mittelpunkt rückt und die als edukative Predigten bezeichnet werden könnten, sind weniger spannungsreich als jene, die um die notwendige Bildung kreisen. Sie gehen im Wesentlichen konform mit dem Auftrag der Instruktion zur Vokation: Schleiermacher predigt Rechtschaffenheit, Pflichterfüllung, Gottergebenheit, Geduld, Treue, Mäßigung, Bescheidenheit, Moralität, die Gesunderhaltung des Geistes, Tätigkeit etc. Die Abgrenzung von den Ungläubigen nach dem Muster „Kinder der Welt“ vs. „Kinder Gottes“⁵⁷ kann mit Kuhn unschwer als Versuch der Stärkung des Gemeinschaftsgedankens sowie als Verpflichtung auf tugendhaftes Handeln durch das Kindsein Gottes interpretiert werden. Mit diesen Predigten verfolgt Schleiermacher eine Mentalitätsveränderung seiner Hörerinnen und Hörer, die auf den rechten Weg (zurück‐)geführt werden sollen. Ob er damit moralischer Erziehung einen gleichermaßen dominanten Stellenwert einräumt, wie er es den Pädagogen der Aufklärung vorwirft, ist Auslegungssache.⁵⁸ Nicht abzustreiten ist jedoch, dass in derartigen Gottesdiensten Religion zwangsläufig in den Dienst der Moral gestellt wird, wogegen sich Schleiermacher insbesondere in den Reden bekanntermaßen stark machte mit der Intention, Religion den ihr gebührenden Raum zu erhalten⁵⁹ – oder, wie es Meike Sophia Baader für ähnliche Bestrebungen im reformpädagogischen Kontext formuliert, Religion „im Namen der Rettung des Religiösen“ zu beschränken.⁶⁰ Die Aufnahme einer „ethische(n) Dimension in die Religion“⁶¹ erfolgte demzufolge nicht erst in den späteren Berliner Predigten, wie Lüth vermutet, sondern bereits zu diesem frühen Zeitpunkt. Inwiefern eine solche Vermischung der Sphären (Religion / Ethik, aber auch Religion / Erziehung) vor dem Hintergrund drohender Fundamentalisierung von Geltungs- und Regelungsansprüchen

pädagogik“, in: Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen SchleiermacherGesellschaft in Berlin, hg.v. Andreas Arndt u. a., Berlin / New York 2006, 459 – 474.  Schleiermacher 2013, 611 (Anm. 5).  Kuhn 2009, 202 (Anm. 7).  Schleiermacher 2002, 107 (Anm. 8).  In den Reden bezieht Schleiermacher zur Scheidung der Propria eindeutig Position: Schleiermacher 2002, 36 – 37.44 (Anm. 8).  Meike Sophia Baader, „Kritik des Religionsunterrichtes im Namen der Rettung des Religiösen. Reformpädagogik und Religion um 1900“, in: Jahrbuch für Pädagogik 2005. Religion – Staat – Bildung, hg.v. Hans-Jochen Gamm et al., Frankfurt/Main 2006, 177– 185, hier 177.  Lüth 2001, 72 (Anm. 57).

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kritikwürdig ist, zeigt aus einer anderen (allgemein‐)pädagogischen) Perspektive Dietrich Benner auf.⁶² Ein wie auch immer gearteter emanzipatorischer Ansatz, der zum Beispiel Schleiermachers frühe Begeisterung für die Französische Revolution widerspiegeln würde und Schleiermachers späteren Bildungsschriften durchaus zugesprochen wird⁶³, kann den Predigten nicht attestiert werden. Mathias Wolfes konstatiert zwar, dass in den späten 1790er Jahren in Schleiermachers Predigten die aktive Rolle des Bürgers gegenüber dem Gehorsamsprinzip in den Vordergrund rücke⁶⁴, erkennt aber auch, dass revolutionäre Ideen keinen Raum gehabt hätten.⁶⁵ Erklären lässt sich dieser Befund vielleicht mit der Tradition der lutherischen Sozialethik, der zufolge persönliche Not Revolution gegen die Obrigkeit nicht rechtfertige.⁶⁶ Lüth hingegen sieht in dem oben skizzierten Programm der geistigen Vervollkommnung einen Gegenentwurf zur Revolution.⁶⁷

5 Fazit Schleiermacher verbindet, wie anhand der Sprache der Antrittsvorlesung nachgewiesen werden konnte, mit seiner Predigttätigkeit einen explizit edukativen Anspruch gegenüber der ihm anvertrauten Gemeine. Die in diese Richtung weisenden Denkanstöße in den Predigten können dabei im Wesentlichen als Stütze im Bemühen um eine gesellschaftliche Reintegration angesehen werden, wie auch im Rahmen der Instruktion gefordert. Einen Schritt darüber hinaus geht möglicher Weise die Betonung der Wichtigkeit von Bildung; weitere Vorstöße, die darauf schließen lassen, dass Schleiermacher mit seinen Predigten einen Beitrag zur Mündigkeit der Adressaten auch gegenüber hinterfragbaren gesellschaftlichen Normen und Institutionen hat leisten wollen, müssten erst noch herausgearbeitet werden. Schleiermacher bewegt sich in seiner Predigttätigkeit im Wesentlichen im religiösen Kontext und widmet sich zumindest nicht explizit politischen Themen. Ge-

 Dietrich Benner, „Theologie und Erziehungswissenschaft, Religion und Erziehung“, in: Pädagogik ohne Religion? Beiträge zur Bestimmung und Abgrenzung der Domänen von Pädagogik, Ethik und Religion, hg.v. Lothar Kuld u. a., Münster u. a. 2005, 53 – 68, hier 62– 63.  Zur Französischen Revolution: Friedhelm Jacobs, „Die Gleichheitsidee im Erziehungsdenken Schleiermachers“, in: Erziehungsdenken im Bannkreis der Französischen Revolution, hg.v. Kurt-Ingo Flessau / Friedhelm Jacobs, Bochum 1998, 97– 127, hier 98 – 105; im Hinblick auf die Bildungsschriften: Moritz Czarny, Friedrich Schleiermacher und die Sozialpädagogik. Eine Rekonstruktion unter besonderer Berücksichtigung der strukturtheoretischen Professionstheorie, Würzburg 2014, 104.  Wolfes 2004, 88 – 95 (Anm. 14).  Am 05.10.1800 bspw. predigt Schleiermacher: „Gehorsam gegen die Obrigkeit. a. Sie kann am besten wißen wo die Einschränkung anfangen muß. b. Wir können uns auf ihre Weisheit und Gerechtigkeit verlaßen.“ (2013, 716 [Anm. 5]).  Kuhn 2009, 201.205 (Anm. 7).  Lüth 2001, 76 (Anm. 55).

Predigten zwischen Zweckfreiheit und edukativem Anspruch

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brochen wird diese Beschränkung auf die Religion im Interesse der Wahrung ihrer Eigenlogik jedoch da, wo Schleiermacher entgegen seiner eigenen Konzeption die Bereiche Religion und Moral nicht konsequent scheidet. Wie eng auch Pädagogik und Theologie im Denken Schleiermachers zusammenhängen, wird an thematischen Interferenzen zwischen Predigten und späteren pädagogischen Schriften deutlich, etwa hinsichtlich der Wichtigkeit des Augenblicks und einer deutlichen Warnung vor einer allzu starken Ausrichtung auf die Zukunft – Themen, die in beiden Schaffensphasen Schleiermachers, wenn auch mit je eigenen Begründungslogiken, zum Tragen kommen – hier in Bezug auf Jesu eigene Unbekümmertheit ob seiner Zukunft, da mit einer Problematisierung angesichts der hohen Kindersterblichkeit, die fraglich macht, ob Zukunft je eintreten wird.⁶⁸ Widersprüchlichkeit zu den zeitgleich erschienenen Reden „Über die Religion“ charakterisiert Schleiermachers Predigttätigkeit in vielen Dimensionen und kann in diesem Aufsatz nicht zur Klärung gebracht werden. Überlegungen zu den Hintergründen könnten in hypothetischer Form lauten: 1. Zwischen Antrittspredigt und den Reden liegt eine Dauer von drei Jahren, die bei Schleiermacher zu einer Reifung, wenn nicht gar Ernüchterung geführt haben könnte angesichts der ihm in seiner praktisch-theologischen Tätigkeit begegnenden „superstitiösen“ Einstellungen und Gewohnheiten. 2. Schleiermacher lässt sich hier wie da stark von den Adressaten leiten. Schleiermacher predigt im Krankenhaus nur über den Hörern geläufige Inhalte; eine inhaltliche Reduktion, die gegenüber den „Gebildeten“ unter den Verächtern der Religion nicht angemessen wäre. In der Adressatenspezifik identifiziert Kuhn ein erfolgversprechendes Muster religiöser Praxis im frühen 19. Jahrhundert. Das integrationsstiftende Moment von Religion in der Gesellschaft werde angesichts der Säkularisierung nicht mehr gesamtgesellschaftlich, sondern gruppenspezifisch zu realisieren und damit das größere Potential einer Konzentration auf eine spezifische Klientel zu nutzen versucht.⁶⁹ 3. In der Charité-Zeit begegnet Schleiermacher das Inbild des realen Umgangs mit Religion, wie er es in der vierten der Reden eindringlich beschreibt. Dem stellt er ein Idealbild von Kirche gegenüber, das sich durch Egalität und Charisma auszeichnet.⁷⁰ Zwei Seiten einer Medaille also, an deren jeweiligen Polen unterschiedliche Formen und Ideen von Religiosität stehen. Dass Schleiermachers Predigten mittels erzieherischer Interventionen auch einen Versuch darstellen, von der „Vereinigung solcher,

 Schleiermacher 2013, 727 (Anm. 5). Diese Predigt hielt Schleiermacher allerdings nicht in der Charité, sondern in der Dreifaltigkeitskirche. Für den pädagogischen Kontext: Friedrich Schleiermacher, Texte zur Pädagogik, Kommentierte Studienausgabe, Bd. 2, hg. v. Michael Winkler / Jens Brachmann, Frankfurt / Main 2000, 51– 70.  Kuhn 2009, 212 (Anm. 7).  Vgl. auch Rupp 1994, 113 (Anm. 9).

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Viktoria Gräbe / Berlin

welche die Religion erst suchen“⁷¹ zur „wahren Kirche“⁷² zu gelangen, muss eine Vermutung bleiben.

 Schleiermacher 2002, 136 (Anm. 8).  Schleiermacher 2002, 140 (Anm. 8).

Subjektivität

Jochen Hörisch / Mannheim

Subjekt oder Sub-jekt nach Schleiermacher

Wie selbstbewusst können und dürfen Menschen sein? In der Vorbemerkung zum 1998 (also ziemlich genau 200 Jahre nach Schleiermachers Reden über die Religion) erschienenen zehnten Band des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, der Lemmata von Staat bis Tyrannis enthält, macht sich der Herausgeber Karlfried Gründer ebenso tiefsinnige wie gutgelaunte Gedanken über das Präfix sub-, ohne das zentrale Begriffe der Philosophie nicht wären. Die Stichwörter, die ‚sub‘ (oder phonetisch angeglichen: ‚sup‘) als Präfix haben, füllen mehr als 200 Spalten. Einige dieser Stichwörter gibt es auch (oft prominenter) ohne das ‚sub‘ (‚Subkultur‘ – ‚Kultur‘; ‚Supposition‘ – ‚Position‘ usw.), andere haben nur mit dem Präfix Sinn, es gibt sie nur als Komposita. Zu ihnen gehören die wichtigen philosophischen Begriffe ‚Subjekt‘ und ‚Substanz‘, deren Wortgebrauch von der philosophischen Grundlegung bis in alle Winkel des Lebens reicht. […] Wie sich das griechische ‚Hypostasis‘ (das ‚Darunter-Stehende‘) im Lateinischen in ‚Subsistenz‘, ‚Substanz‘ und ‚Suppositum‘ auffächert, wie sich ‚Substanz‘, ‚Substrat‘ und ‚Subjekt‘ differenzieren und wie das Subjekt als das ‚Unter-Worfene‘ (ὑποκείμενον, lat. subiectum) seinen Sinn umwendet und zum selbstbewussten Ich wird, kann man hier unter dem ‚sub‘-Joch in enger (wenn auch nicht direkter) Nachbarschaft nachvollziehen. Es gibt einen Vorschlag, ‚Substanz‘ und ‚Subjekt‘ von ihrem ‚SUB-Defekt‘ zu befreien: die in den fünfziger Jahren pseudonym (der Autor ist Carl Schmitt) erschienene ‚Ballade vom reinen Sein‘.[¹] ‚Subjekt‘ und ‚Substanz‘ sehen sich plötzlich konfrontiert mit der schlimmen Frage nach ihrem gemeinsamen Präfix, ohne das sie, wie es schien, nicht sein können. Sie unternehmen den Versuch ihrer ‚Ent-Subung‘ zu‚ nur noch STANZ und nur noch JEKT‘, der am geballten ‚Sub-Widerstand‘ aber scheitert. ‚Sub-Revolte‘ und ‚Re-Subung‘ führen schließlich zur Wiedervermählung mit ihrem ‚Sub‘: ‚Nein mit einem starken Stoß / Reißt sich STANZ und reißt sich JEKT / Jeder von dem SUB sich los / Und die neue STANZ-JEKT- Zweiheit / Wagt den Sprung ins Reich der Freiheit‘; jedoch: ‚STANZ ist Nichts als Stanzität‘ und ‚JEKT‘ nur noch ‚Jektität‘: ‚Die zwei SUB dagegen liegen / Wie zwei dicke tote Fliegen / Ungestanzt und ungejekt / Hylisch chthonisch und verdreckt / Im kompakten Element‘. Allein, den ‚massierten Trupps‘ der übrigen ‚SUBS‘ wissen die geschwächten ‚müden Reinen‘ nichts entgegenzusetzen: ‚Und entsubten Angesichts / Taumeln sie vom Nichts zum Nichts / […] / Und am Ende der Ballade / Ist dann alles wie es war / […] / Müßig liegen hingestreckt / Die Substanz und das Subjekt.‘²

Carl Schmitt, der Erzkatholik und furchtbare Kronjurist des Dritten Reiches, dem stilistische und intellektuelle Brillanz nicht abzusprechen ist, steht sicherlich nicht in einer von Schleiermacher geprägten Denktradition. Eine strukturelle Gemeinsamkeit  Carl Schmitt, „Die Sub-stanz und das Sub-jekt. Ballade vom reinen Sein“, zuerst unter dem Pseudonym Erich Strauss veröffentlicht in: Civis II (9. Juni 1955), 29 – 30; dann anonym in: Texte und Zeichen. Eine literarische Zeitschrift, 1, 4 (1955), 522– 525; wieder abgedruckt in: Carl Schmitt. Briefwechsel mit einem Schüler, hg. v. Armin Mohler u. a., Berlin 1995, 192– 198. Die folgenden Zitate sind dort zu finden.  Karlfried Gründer, „Vorbemerkung“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, hg. v. Joachim Ritter / Karlfried Gründer, Basel 1998 (ohne Seitenzahl). https://doi.org/10.1515/9783110569520-017

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Jochen Hörisch / Mannheim

aber gibt es: auch der frühe Schleiermacher der Reden über die Religion hält den Begriff „Subjekt“ in Zeiten seiner philosophischen Hochkonjunktur entschieden auf Distanz. Das Wort „Subjekt“ kommt ebenso wie sein Derivat „Subjektivität“ in den Reden schlicht nicht vor. Intensiven Gebrauch macht Schleiermacher hingegen vom Konzept der „Individualität“. Dem Kenner der Antike, dem historisch gebildeten Theologen und dem frühromantischen Mitgestalter der zeitgenössischen Philosophieszene ist die begriffsgeschichtliche Differenz zwischen den Konzepten „Subjekt“ und „Individualität“ selbstredend geläufig. Das antike aristotelische Subjekt-Verständnis, das sich bis in die Scholastik durchhält, meint das Unterliegende, die Unterlage, das alle Akzidenzen Tragende. Vom verwandten Substanz-Begriff unterscheidet sich das Subjekt durch seine Nähe zum grammatischen Subjekt-Verständnis: es ist nicht nur der Stoff, aus dem dies oder jenes gestaltet ist, vielmehr handelt es auch, indem es die Akzidenzien, die es trägt, bindet und synthetisiert. Das sind Kontexte, die noch zu Schleiermachers Zeiten virulent sind – gerade auch in staatstheoretischer Hinsicht. So heißt es in der 1770 erschienenen Schrift des Staatsrechtlers Heinrich Gottfried Scheidemantel mit dem ansprechenden Titel Das Staatsrecht nach der Vernunft und den Sitten der vornehmsten Völker betrachtet: Alle wirklichen Mitglieder des Staates werden Bürger im allgemeinen Verstande genennet, und weil das Subjekt, welches die Majestät hat, das vornehmste Glied der Gesellschaft ist, so kann es sich auch zugleich den Namen des Bürgers zulegen; Untertan aber ist jeder, welcher den höchsten Befehlen des Regenten gehorchen muß.³

Eine bemerkenswerte Argumentation, die vier Begriffe in eine Konstellation bringt. Erstens die Bürger als „wirkliche Mitglieder des Staates“, zweitens (wenn auch nur implizit) die vielen Subjekte, die über ihren Status als Bürger hinaus strukturgleich Zugang zu sich selbst haben und selbstbewusst über sich verfügen, aber anders als das einige privilegierte Subjekte nicht die „Majestät“ haben, anderen Subjekten oder Bürgern zu befehlen, drittens die „Untertanen“, die der vierten Position, dem „Regenten“ gehorchen müssen, der sich aber seinerseits wiederum aus freien Stücken den „Namen des Bürgers zulegen kann“. Bemerkenswert ist an dieser Darlegung, dass alle vier genannten Begriffe unterschiedliche Aspekte und Funktionen ein und derselben Größe akzentuieren und dabei bis zur wohl eher unbeabsichtigten Frivolität Übergangszonen zwischen Subjekten, Untertanen, Bürgern und Regenten im Blick haben. Novalis wird aus dieser latenten eine explizite Frivolität machen, wenn er in Glauben und Liebe dekretiert: „Alle Menschen sollen thronfähig werden. Das Erziehungsmittel zu diesem fernen Ziel ist ein König. Er assimilirt sich allmählich die Masse seiner

 Heinrich Gottfried Scheidemantel, Das Staatsrecht nach der Vernunft und den Sitten der vornehmsten Völker betrachtet, Bd. 1, Jena 1770, 41.

Subjekt oder Sub-jekt nach Schleiermacher

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Unterthanen. Jeder ist entsprossen aus einem uralten Königsstamm. Aber wie wenige tragen noch das Gepräge dieser Abkunft?“⁴ Alle Bürger sind auch Subjekte, als solche könnten sie, wenn – je nach Perspektive – der Zufall der Geburt oder der Ratschluss Gottes anders entschieden hätte, auch das eine Subjekt sein, das Majestät, also Herrschaftsgewalt, hat, sie könnten der Regent sein, dem Untertanen gehorchen müssen. Schon die Argumentation Scheidemantels ist ersichtlich eine staatstheoretische Paraphrase friderizianischen Selbstbewusstseins. Glaubt, was ihr wollt, aber gehorcht, sagt der preußische Regent seinen Untertanen – der Regent, der sich zugleich als sein eigener Untertan, als der erste Diener des Staates versteht. Die zitierte Passage ist einer von vielen Belegen dafür, wie fluide die Begriffe „Subjekt“ und „Subjektivität“ um 1800 werden. Dabei kreisen sie aber verlässlich um zwei semantische Pole. „Das Wort ‚Subjekt‘, so resümiert Michel Foucaults Essay Subjekt und Macht lakonisch, „hat zwei Bedeutungen: Es bezeichnet das Subjekt, das der Herrschaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht; und es bezeichnet das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist. In beiden Fällen suggeriert das Wort eine Form von Macht, die unterjocht und unterwirft.“⁵ Die für Foucault typische Pointe dieser ansonsten konventionellen Zusammenfassung besteht ersichtlich darin, nicht nur die erste, die Untertanen-Semantik des Begriffs „Subjekt“, sondern auch die zweite Bedeutungsvariante – nämlich „Subjekt“ als Selbsterkenntnis und Eigenidentität – machtanalytisch zu präsentieren. Subjekte unterwerfen sich selbst genau in dem Maße, in dem sie ihre unabsehbar vielen Aspekte, Perspektiven, Apperzeptionen, Gefühle, Stimmungen und Qualitäten dem übergeordneten, gewissermaßen übergriffigen Begriff „Identität“ subsummieren. Die vielzitierten Sätze von Novalis „Das ächte Dividuum ist auch das ächte Individuum“⁶ und Rimbauds Diktum aus dem Brief an Paul Demeney vom 15. Mai 1871 „Je est un autre“⁷ markieren die romantische Bedrohung, die das Subjekt zumal in der Verfassung, die es um 1800 im philosophierenden Deutschland hat, auf Distanz hält und als Angstgegner empfindet. Dass um 1800 zunehmend der zweite, der im doppelten Wortsinne selbstbewusste Aspekt des „Subjekt“-Begriffs an Geltung gewinnt, ist unstreitig. Dennoch haftet dem Subjekt-Verständnis auch um 1800 der Buchstabensinn noch an, höheren Mächten unterworfen zu sein – Subjekte sind und bleiben auch nach kopernikanischen Wenden und in postrevolutionären Zeiten Untertanen. Jedoch Untertanen, die sich emanzipieren. Um 1800 ist der Begriff des Subjekts sicher etabliert, das sich in jeder

 Novalis, Glauben und Liebe oder der König und die Königin, Schriften, Bd. 2, hg. v. Richard Samuel, Darmstadt 1965, 485 – 498, hier 489.  Michel Foucault [1982], „Subjekt und Macht“, in: ders., Analytik der. Macht, hg. v. Daniel Defert / François Ewald, Frankfurt/M. 2005, 240 – 263, hier 245.  Novalis, Das allgemeine Bouillon, Nr. 952, Schriften, Bd. 3, Darmstadt 1983, hg. v. Richard Samuel, 451.  Arthur Rimbaud, Lettre á Paul Demeny du 15 Mai 1871, Œuvre complètes, hg. v. Antoine Adam, Paris 1972, 249 – 254, hier 250.

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Weise selbstbewusst vom Objekt und mit ihm von der zuvor affinen Substanz absetzt. Dabei wird „Subjekt“ als Strukturbegriff entfaltet: dass es Beziehung zu sich selbst unterhält, sich seiner selbst bewusst ist, hat jedes Ich mit jedem anderen Ich gemeinsam. „Subjekt“ ist um 1800 im Hinblick auf „Objekt“ und „Substanz“ ein Exklusionskonzept, im Hinblick auf andere Subjekte hingegen ein Inklusionsbegriff. Ego und Alter haben gemeinsam, selbstbewusste Ego-Subjekte zu sein, aber unmittelbaren (also nicht über Kommunikation vermittelten) Zugang nur zu den eigenen Bewusstseinslagen zu haben. Philologisch bemerkenswert ist der schlichte Umstand, dass das Wort „Subjekt“ anders als das Wort „Ich“ Pluralbildungen zulässt. Alle (Transzendental‐) Subjekte sind strukturgleich, Individuen haben hingegen die Gemeinsamkeit, sich von anderen Individuen zu unterscheiden; jedes Ich ist singulär und hat schon deshalb in der Regel wenig Interesse daran, die Paradoxien universaler Einzigartigkeit bedenkenswert und bedenklich zu finden. Der Begriff „Individualität“, der ebenfalls eine staatsrechtliche und auch eine polizeiliche Vorgeschichte hat (man fahndet nach einem suspekten Individuum, an dem diese oder jene kontingenten Merkmale wie Narbe, Warzen, dunkle Haare, untersetzter Wuchs, mittleres Alter, schrille Stimme etc. auffallen) – der Begriff „Individualität“ markiert den Umstand, dass empirische Subjekte die Gemeinsamkeit haben, nun eben selbstbewusste Subjekte zu sein, dennoch aber unübersehbar viele spezifische Differenzen aufzuweisen. „Individuum est ineffabile“ (das Individuum ist nicht zu fassen, nicht theoretisch zu greifen, nicht aussagbar, nicht zu begreifen) – dass die berühmte Formel aus Goethes Brief an Lavater vom 20. September 1780: „Hab ich dir das Wort / Individuum est ineffabile / woraus ich eine Welt ableite, schon geschrieben?“⁸, ein hapaxlegomenon, also ihrerseits nicht philologisch zu fassen ist, bleibt eine hübsche Pointe der Begriffsgeschichte. Ihr polemischer Sinn erschließt sich dennoch schnell: gegen die fromme Tradition, die Gott als erhabene, unbegreifliche, nicht zu fassende Macht konzipiert („Deus est ineffabilis“), versteht Goethe eben nicht Gott, sondern Individuen als Größen, die sich allgemeingültigen Theorien entziehen. Ineffabilis Deus ist der Titel der dogmatischen Bulle, die Papst Pius IX 1854 veröffentlichte und die auf die große theologische Tradition dieser Formel verweist. Luther kommt in dieser päpstlichen Bulle selbstredend nicht vor. Dabei ist gerade seinem Denken die ineffabile-Formel geläufig und wichtig. So verweist er in seinen Operationes in Psalmos auf Psalm 22, 4: „‚Tu autem in sancto habitas‘, idest: in abscondito et inaccesso secreto. Sicut enim / deus est ineffabilis, incomprehensibilis, ita eius voluntas et auxilium praesertim in tempore derelectionis.“⁹ Man muss sich die irdischen wie die himmlischen Resonanzverhältnisse um die Begriffe „Subjekt“ und „Individuum“ gerade in der intensiven Theorie-Diskussion um  Johann Wolfgang von Goethe [1780], „27. Ostheim vor der Rhön“, in: Briefe von Goethe an Lavater. Aus den Jahren 177 – 1783, hg. v. Heinrich Hirzel, Leipizig 1833, 101– 104, hier 104.  Martin Luther [1519 – 1521], Operationes in Psalmos, WA V, Weimar 1892, 86,40 – 87,2. „‚Du aber wohnst im Heiligtum‘, das heißt: im Verborgenen und im unzugänglich Geheimen. So wie nämlich Gott unaussprechlich ist, unfassbar, ist es besonders in Zeiten der Verlassenheit auch sein Wille.“

Subjekt oder Sub-jekt nach Schleiermacher

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1800 vergegenwärtigen, um den Neueinsatz zu verstehen, den Schleiermachers ganz auf den Individualitäts-Begriff fokussierte Reden versuchen. Um zu pointieren: „Subjekt“ bzw. „Subjektivität“ ist ein Strukturbegriff. Unabhängig von allen empirischen, einzelnen, detaillierten, unverwechselbaren Bestimmungen haben transzendentale Subjekte die strukturelle Gemeinsamkeit, Bewusstsein von Bewusstsein zu haben, selbstbewusst Zugang zu sich, also zu den eigenen mentalen und kognitiven Zuständen zu kultivieren und demnach über die quasi-göttliche Kompetenz der Selbstbezüglichkeit zu verfügen. Gerade Fichtes berühmte Subjekt-Formel Ich=Ich umspielt und universalisiert ja die exklusive Selbstbezeichnung Gottes nach Moses 3,14: „Ich bin, der ich bin.“ Die implizite, aber starke Pointe dieses Theorems ist den wachen Zeitgenossen nicht entgangen: Fichte sozialisiert das Gottesprivileg der souveränen Selbstbeziehung von Subjektivität. Ihm einen gewissermaßen subjektstrukturellen Atheismus zu attestieren, ist völlig plausibel. An den mit der Ich=Ich-Formel gegeben Problemen wird sich die zeitgenössische Philosophieszene (u. a. Schelling, Hegel und die Frühromantiker) abarbeiten. Das Hauptproblem dieser Diskussion ist schnell genannt, obwohl es intrikate Dimensionen hat: Selbstbewusstsein ist unabhängig davon, ob man es als reflexiv oder präreflexiv, als thetisch oder athetisch begreift, nur als Menge aller Mengen zu verstehen, die sich selbst als Element enthält. Es muss Bewusstsein nicht nur von xyz, sondern eben auch Bewusstsein dieses Bewusstseins, Bewusstsein von sich selbst haben und sein. Kein anderer als Schleiermachers Antipode Hegel wird in seiner Phänomenologie des Geistes dieses Dilemma (seine Struktur ist spätestens seit dem „Alle Kreter lügen“Satz vertraut, sie wird aber erst 1910 mit Russels Principia mathematica formalisiert) pointiert benennen: „Ich ist der Inhalt der Beziehung und das Beziehen selbst; es ist es selbst gegen ein Anderes, und greift zugleich über dies Andere über, das für es ebenso nur es selbst ist.“ Und Hegel fährt lakonisch fort: „Mit dem Selbstbewußtsein sind wir also nun in das einheimische Reich der Wahrheit eingetreten.“¹⁰ Der theologische Hintersinn der Wendung vom „einheimischen Reich der Wahrheit“ ist offensichtlich: Strukturen, die im unendlichen Reich Gottes Geltung haben, sind auch im einheimischen Reich der von endlichen, aber selbstbewussten Subjekten bevölkerten Welt gegenwärtig. Selbstbewusste Subjektivität, die doch Ich-Identität begründen soll, ist nur als interne Widerspruchsstruktur zu haben. Sie verwickelt sich in Paradoxien, die strukturell denen des allmächtig-ohnmächtigen Gottes (und durchaus auch des Regenten, der der erste Diener seines Staates ist!) entsprechen und an denen sich die christliche Trinitätslehre abarbeitet. Kann ein allmächtiger Gott sterben, sich selbst abschaffen, die Erfahrung der Endlichkeit machen, der andere seiner selbst sein etc.? Das Abstraktionsniveau aller Debatten um absolute wie endlich-selbstbewusste Subjektivität ist hoch und muss hoch sein, geht es doch um verallgemeinerbare Strukturprobleme, die in jeder Form von Selbstbeziehung angelegt

 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Gesammelte Werke, Bd. 9, hg. v. Wolfgang Bonsiepen / Reinhard Heede, Hamburg 1980, 103.

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sind. Abstrahieren und Analysieren von Strukturen heißt aber immer auch: Überkomplexität auszublenden, Einzelheiten im doppelten Wortsinn zu übersehen, also dort transzendentale Übersichtlichkeit zu stiften, wo empirische Beobachtung auf ineffable Vielheit, auf individuelle Daten trifft, die sich auf keinen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Angesichts dieser Konstellation ist es gut, dass neben dem Begriff „Subjekt“ noch der Komplementär- bzw. Kontrastbegriff „Individuum“ zur Verfügung steht. Die Begriffe „Individuum“ bzw. „Individualität“ bezeichnen keine transzendentalen Strukturen, sondern eine kontingente Überkomplexität an spezifischen Subjekt-Qualitäten, die sich verallgemeinernder Theoriebildung entzieht. Das per se verallgemeinernde Suffix -tät ist – streng genommen – bei der Begriffsbildung „Individualität“ anders als bei „Subjektivität“ paradox. Schleiermacher hat diesen Umstand im Auge, wenn er in den Reden gegen „die Gleichförmigkeit eines allgemeinen Begriffs“ polemisiert und fortfährt: „Warum hat Euch die Spekulation so lange statt eines Systems Blendwerke, und statt der Gedanken Worte gegeben? warum war sie nichts als ein leeres Spiel mit Formeln, die immer anders wiederkamen, und denen nie etwas entsprechen wollte?“¹¹Gemeint ist eindeutig die „Spekulation“ des „vollendeten und gerundeten Idealismus“¹², die sich die Aporie einhandelt, über das Subjekt bzw. das Subjektive objektiv bzw. strukturanalytisch-allgemein zu handeln. Dagegen setzt Schleiermacher als „Gegengewicht“ den „höheren Realismus“ der Religion: Und wie wird es dem Triumph der Spekulation ergehen, dem vollendeten und gerundeten Idealismus, wenn Religion ihm nicht das Gegengewicht hält, und ihn einen höheren Realismus ahnden läßt als den, welchen er so kühn und mit so vollem Recht sich unterordnet? Er wird das Universum vernichten, indem er es zu bilden scheint, er wird es herabwürdigen zu einer bloßen Allegorie, zu einem nichtigen Schattenbilde unserer eignen Beschränktheit.¹³

Das sind klare Worte. Polemik gegen die hybriden Abstraktionen und Verallgemeinerungen, wie sie ausgerechnet Theorien der Subjektivität kennzeichnen, durchziehen Schleiermachers Reden. Wer Subjekte in Kantischer, vor allem aber in Fichtescher Perspektive als Konstitutionsgrund noch des Universums begreift, würdigt die Voraussetzung, die selbst selbstbewusste Subjekte in Anspruch nehmen müssen, ohne über sie zu verfügen, zu einer bloßen Allegorie, zu einem Schattenbild herab. Schleiermacher psychologisiert, bedient also ein Theoriedesign, das der eigentliche Angstgegner idealistischer Transzendentalphilosophie ist: Selbstbewusstsein tritt zu selbstbewusst auf, wenn es noch „das Universum“, also die ontologische Bedingung der Möglichkeit von Subjektivität, zu einem „nichtigen Schattenbild“ seiner „eigenen Beschränktheit“ macht. Schleiermachers Reden machen schon deshalb, weil sie Reden sind, plausibel, warum ihr Verfasser den Begriff „Subjekt“ konsequent meidet,  Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg. v. Andreas Arndt, Hamburg 2004, 30.  Schleiermacher 2004, 31 (Anm. 11).  Schleiermacher 2004, 31 (Anm. 11).

Subjekt oder Sub-jekt nach Schleiermacher

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aber eben doch indirekt evozieren muss. Selbstbewusste Subjekte sind mit sich selbst so vertraut, dass sie nicht kommunizieren müssen; wer ständig mit sich selbst redet, gar laut vor sich hinredet, gilt aus nachvollziehbaren Gründen als problematisches Individuum. Die Überfülle dessen, was Subjekte wahrnehmen und anschauen, drängt aber über das hinaus, was, um es kantisch auszudrücken, transzendentale Subjekte an strukturierenden Synthesisleistungen erbringen können. Die Synthesis des Mannigfaltigen überfordert und sprengt transzendentale Subjekte – und genau das ist das offene Einfallstor für religiöse Erfahrungen. Gerade weil Subjekte von einer Überfülle an Anschauungen und Wahrnehmungen und vom Unverfügbaren überwältigt werden, gerade weil sie nicht-synthetisierbare Differenz-Erfahrungen machen, werden sie aus der vermeintlichen Selbstvertrautheit des Bewusstseins in die differenzbetonte Welt der Kommunikation zwischen Individuen gedrängt. In Schleiermachers Worten: Anschauung ist und bleibt immer etwas einzelnes, abgesondertes, die unmittelbare Wahrnehmung, weiter nichts; sie zu verbinden und in ein Ganzes zusammenzustellen, ist schon wieder nicht das Geschäft des Sinnes, sondern des abstrakten Denkens. So die Religion; bei den unmittelbaren Erfahrungen vom Dasein und Handeln des Universums, bei den einzelnen Anschauungen und Gefühlen bleibt sie stehen; jede derselben ist ein für sich bestehendes Werk ohne Zusammenhang mit andern oder Abhängigkeit von ihnen; von Ableitung und Anknüpfung weiß sie nichts, es ist unter allem was ihr begegnen kann das, dem ihre Natur am meisten widerstrebt.¹⁴

In diesen Sätzen zeigt sich die eigentliche Pointe von Schleiermachers Reden: Religiöse Erfahrung ist nicht wirklich theorie- und strukturfähig, bleibt sie doch „bei den einzelnen Anschauungen und Gefühlen […] stehen“. Wer die dispersen Einzelheiten religiöser Erfahrung zu einer stimmigen „Ableitung und Anknüpfung“ synthetisieren will, verfehlt die genuine Qualität des Phänomens Religion. Und die besteht nicht in konventioneller Frömmigkeit und der Beglaubigung absonderlicher Aussagen über Wunder, eine jungfräuliche Mutter und Wandeln über Wasser, Religion ist vielmehr „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“¹⁵, also für das, was noch so selbstbewusster Subjektivität nicht verfügbar ist. In Schleiermachers Worten: Spekulation und Praxis haben zu wollen ohne Religion, ist verwegner Übermut, es ist freche Feindschaft gegen die Götter, es ist der unheilige Sinn des Prometheus, der feigherzig stahl, was er in ruhiger Sicherheit hätte fordern und erwarten können. Geraubt nur hat der Mensch das Gefühl seiner Unendlichkeit und Gottähnlichkeit, und es kann ihm als unrechtes Gut nicht gedeihen, wenn er nicht auch seiner Beschränktheit sich bewußt wird, der Zufälligkeit seiner ganzen Form, des geräuschlosen Verschwindens seines ganzen Daseins im Unermeßlichen.¹⁶

Das auch in rezeptionsgeschichtlicher Perspektive als solches erschließbare Schlüsselwort lautet „Zufälligkeit“. Religion ist, um es unromantisch mit einem Begriff der

 Schleiermacher 2004, 33 (Anm. 11).  Schleiermacher 2004, 30 (Anm. 11).  Schleiermacher 2004, 30 (Anm. 11).

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Systemtheorie auszudrücken, Kontingenzbewältigung. Die hochindividuelle Zufälligkeit des ganzen Daseins – warum wird man/frau zu diesem Zeitpunkt als Kind dieser Eltern in dieser Weltecke geboren? – ist von keiner (natur-, geistes- oder gesellschaftswissenschaftlichen) Theorie einzufangen. Die absolute Kontingenz der Seinsfrage – warum ist überhaupt Sein und nicht vielmehr nicht? – erst recht nicht. Hybrid wie selbstbewusste Subjekte, die diesen grundstürzenden Umstand systematisch verkennen, sind aber auch Theologen, die das Unverfügbare beobachten und logifizieren zu können glauben. Was nichts Anderes heißt als dies: der Theologe Schleiermacher zeigt auf, dass Theologie, die mehr sein will als Philologie und Kulturgeschichte, eine unmögliche Disziplin bzw. der Verrat an Religion ist. Denn Theologen unterwerfen Gott, der traditionell als erster Beweger und zugleich als Letztbeobachter aller Dinge konzipiert wird, ihrer eigenen Beobachtung; sie zwingen dem unverfügbaren Gott eine, ihre Logik auf – sie betreiben nun eben Theo-Logie und verfallen damit der „Wut des Verstehens“¹⁷. Die „Buchstabentheologen […] glauben das Heil der Welt und das Licht der Weisheit in einem neuen Kostüm ihrer Formeln, oder in neuen Stellungen ihrer figurierenden Beweise zu finden“.¹⁸ Um die Paradoxien zu vermeiden, die dem Versuch innewohnen müssen, das Unverständliche zu verstehen, den Letztbeobachter zu beobachten und das Kontingente abzuleiten, gibt Schleiermacher der Abhandlung, die ihm früh Ruhm bescherte, eine homiletische Verfassung. Die Reden über die Religion sind religiöse, nicht theologische Reden. Theologie erhebt sich über Gott, wenn sie Gott beobachten und die Logik seines Regelwerks erkennen zu können glaubt. Schleiermachers Reden sind Reden nicht über Gott, sondern über Religion. Und Religion entspringt, so die berühmte Wendung, nicht distanzierter Letztbeobachtung noch des Letztbeobachters, sondern dem Gefühl „schlechthinniger Abhängigkeit“.¹⁹ Diese Formel hat schnell eine große Wirkungskraft entfaltet. Schon in den Reden hat Schleiermacher die schlagende Wendung von der Abhängigkeit noch der selbstbewusstesten Subjekte vom unverfügbaren „Schicksal“ verwendet und gegen „das gewöhnliche Treiben der Menschen“ polemisiert, „die von dieser Abhängigkeit nichts wissen“, die dies und das ergreifen und festhalten, um ihr Ich zu verschanzen und mit mancherlei Außenwerken zu umgeben, damit sie ihr abgesondertes Dasein nach eigner Willkür leiten mögen, und der ewige Strom der Welt ihnen nichts daran zerrütte, und wie dann notwendigerweise das Schicksal dies alles verschwemmt, und sie selbst auf tausend Arten verwundet und quält.²⁰

 Schleiermacher 2004, 80 (Anm. 11).  Schleiermacher 2004, 16 (Anm. 11).  Friedrich Schleiermacher [1830/31], Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, KGA I/13,1, hg. v. Rolf Schäfer, Berlin / New York 2003, § 4, 32– 40.  Schleiermacher 2004, 61 (Anm. 11).

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In seinem einflussreichen theologischen Hauptwerk Der christliche Glaube, das 1830 in Halle an der Saale erschien, wird diese These gleich zu Beginn in den Leitsätzen beziehungsweise Paragraphen 3 und 4 als sein zentrales Denkmotiv benannt: Die Frömmigkeit, welche die Basis aller kirchlichen Gemeinschaften ausmacht, ist rein für sich betrachtet weder ein Wissen noch ein Tun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins.²¹ […] Das Gemeinsame aller noch so verschiedenen Äußerungen der Frömmigkeit, wodurch diese sich zugleich von allen anderen Gefühlen unterscheiden, also das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit ist dieses, daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind.²²

Ein Motiv, das Schleiermachers Werk seit den Reden kontinuierlich durchzieht. Um nur einen weiteren Beleg anzuführen sei auf Schleiermachers Dialektik hingewiesen, dort heißt es: Im religiöse[n] Gefühl […] ist der transcendente Grund oder das höchste Wesen selbst repräsentirt. Sie [die transzendente Bestimmtheit des Selbstbewusstseins, J.H.] ist also insofern, als in unsrem Selbstbewußtsein auch das Sein der Dinge, wie wir selbst, als wirkendes und leidendes gesetzt sind, also sofern wir uns dem Sein der Dinge und dieses uns identificieren also als Bedingtheit alles Seins welches in den Gegensatz der Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit verflochten ist d. h. als allgemeines Abhängigkeitsgefühl. ²³

Zehn Jahre nach der französischen Revolution und knapp zwanzig Jahre nach der Kritik der reinen Vernunft erschienen, sind Schleiermachers Reden ein von Ressentiments freies Manifest der fälligen Reflexion über die Frage, was Subjekte vermögen und welchen unverfügbaren Mächten sie trotz aller Emanzipations- und Freiheitsgewinne unterliegen. Schleiermacher ist bewusst, dass die postrevolutionäre Moderne nach dem buchstäblichen Einschnitt, den die Hinrichtung des mächtigsten Souveräns auf der Guillotine und – nach Heinrich Heines Bonmot – die ungleich militantere Hinrichtung Gottes durch Kants Kritik am ontologischen Gottesbeweis als Epoche von Individuen, nicht von Subjekten verstanden werden muss. Schleiermachers Freund Friedrich Schlegel hat dieses Motiv mit der ihm eigenen Lust an Pointen auf eine suggestive Formel gebracht. In der 47. seiner Ideen, die 1800 in der romantischen Zeitschrift Athenäum erschienen, heißt es: „Gott ist jedes schlechthin Ursprüngliche und Höchste, also das Individuum selbst in der höchsten Potenz. Aber sind nicht auch die Natur und die Welt Individuen?“²⁴ Schleiermachers Überlegungen sind nüchterner. Aber auch seine ursprüngliche Einsicht ist (trotz aller späteren Lust, sich von Hegel abzusetzen) genuin dialektisch, also paradoxiesensibel: Freiheitsspielräume haben Individuen in dem Maße, in dem  Schleiermacher 2003, 19 – 20 (Anm. 19)  Schleiermacher 2003, 32 (Anm. 19).  Friedrich Schleiermacher Vorlesungen über die Dialektik, KGA II/10/1, hg. v. Andreas Arndt, Berlin / New York, 2011, 267. [Hervorhebung teils durch J.H.]  Friedrich Schlegel, Ideen, KFSA, Bd. 2, hg. v. Hans Eichner, München u. a. 1967, 256 – 271, hier 260.

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Jochen Hörisch / Mannheim

sie sich unhintergehbarer Abhängigkeiten bewusst sind; individuell können sie in dem Maße sein, in dem sie erkennen, dass das Konzept der Individualität ein Angebot für alle Menschen ist, ihre Unverwechselbarkeit als gemeinsames Merkmal zu verstehen; fromm und religiös sind sie in dem Maße, in dem sie sich gut karfreitagstheologisch und christologisch auf die Paradoxien eines Gottes einlassen, der weiß, wie eng All- und Ohnmacht aneinander gekoppelt sind. Das Signal von Schleiermachers antisubjektivitätstheoretische Option für Individualität ist deutlich: die Fülle von Sein und Dasein überbordet alle Konzepte, sie zu beherrschen und zu synthetisieren. Bedroht ist diese – nennen wir sie getrost: göttliche – Fülle, wenn Subjekte den Doppelsinn ihres Begriffs (selbstbewusst und unterlegen bzw. unterliegend zu sein) vergessen, also der Individualitätsvergessenheit anheimfallen.

Jörg Dierken / Halle (Saale)

Subjektivität als Paradigma modernen (Religions‐)Denkens 1 Ein Narrativ mit Chancen und Risiken Nach Hegels Programmformel sei das Wahre „nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen“ – so die Aufgabe seiner Zeit des „Übergangs zu einer neuen Periode“.¹ Deren Gesamtsetting wurde später als „Sattelzeit der Moderne“ beschrieben.² Darin markiert „Subjektivität“ nach Hegel die „große Form des Weltgeistes“, welche zum „Prinzip des Nordens“ avanciert sei und sich in dem von Kant ausgehenden Denken reflektiere.³ Etwas distanzierter könnte man von Gesellschaft und Kultur der westlichen Moderne sprechen. Sie steht nicht nur im Erbe von Renaissance und Aufklärung, sondern auch der Reformation. Subjektivität ist für Hegel denn auch das „Prinzip […] des Protestantismus“. Es ist mit Freiheit aufs Engste verbunden.⁴ In der Reformation sei als wesentlicher Inhalt aufs Panier gehoben worden, dass „der Mensch […] durch sich selbst bestimmt [ist], frei zu sein“.⁵ Das mag angesichts der reformatorischen Anthropologie erstaunen. Doch in Hegels Deutung der Reformation steht die Aneignung aller religiösen Gehalte durch die „Subjektivität aller Menschen“ in „Glaube und Genuss“, also „im eigenen Geiste“, im Zentrum des Streits mit der Papstkirche, mag die Lehre Luthers noch „ganz die katholische“ gewesen sein und das Raisonnement über den „subjektiven Seelenzustand“ Züge „kleinlichen Grübelns“ getragen haben.⁶ Sogar „Christus“ werde als er- und verinnerte „wahre Geistigkeit“ selbst zur „unendliche[n] Subjektivität“: die im je eigenen Glauben bewusste Menschwerdung Gottes.⁷ Die nachreformatorische Geschichte der Neuzeit habe dann kein anderes Werk gehabt, als dieses Prinzip der Subjektivität „in die Welt hineinzubilden“.⁸ Es geht um Äußerung des Inneren von Glaube und Gewissen durch

 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke 3, hg. v. Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1970, 23.18.  Reinhard Koselleck, „Einleitung“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, hg. v. Otto Brunner u. a., Stuttgart 1979, XV.  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Glaube und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivtät in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie,Werke 2, hg. v. Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1970, 287– 433; hier 289.  Hegel 1970, Glaube, 289 (Anm. 3).  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke 12, hg. v. Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1970, 497.  Hegel 1970, Geschichte, 496.495.505 (Anm. 5).  Hegel 1970, Geschichte, 496.494 (Anm. 5).  Hegel 1970, Geschichte, 496 (Anm. 5). https://doi.org/10.1515/9783110569520-018

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Jörg Dierken / Halle (Saale)

Gestaltung der sozio-kulturellen Welt. Hegel verschweigt nicht, dass der geschichtliche Weg konfliktbeladen und widersprüchlich ist: von der unumgänglichen Kirchenscheidung mit blutigen Konfessionskriegen, über die absolutistische Emanzipation des politischen Gemeinwesens gegenüber den geschwächten Religionsparteien bis hin zur bürgerlichen Revolution, auf die Terror und napoleonische Herrschaft folgten. Als Höhepunkt versteht Hegel das friederizianische Preußen, in dem der Protestantismus in staatstragende Sittlichkeit transformiert sei.⁹ Die Chance einer strukturierenden Geschichts- und Gegenwartsdeutung ist mit dem Risiko affirmativer Teleologie und politischer Apologetik verbunden – mit einem langen Schatten bis ins Kaiserreich und seine Symbiose von Protestantismus und Politik. Auch Schleiermacher verstand die Reformation als Zugewinn von religiöser Freiheit angesichts der inneren Präsenz des Erlösers im „Selbstbewusstsein“ der einzelnen, ob ihrer Unmittelbarkeit zu Christus ranggleichen Christen.¹⁰ Mit der Verschränkung von Selbst- und Gottesbewusstsein in der Innerlichkeit des Glaubens, welcher zugleich in umfassender „Lebensgemeinschaft“ mit Christus steht, wird zudem der christentumsgeschichtliche Anfang präsent. Dennoch sei die Reformation nicht nur eine Reinigung von Missständen des mittelalterlichen Kirchenwesens, sondern habe auch den Neuaufbruch zum Protestantismus als eigener und legitimer Gestalt des Christlichen heraufgeführt. Er zeige sich auch in der Fortschrittsgeschichte auf das – freilich nie ganz erreichbare – Reich Gottes hin.¹¹ Für diese durch menschliches Handeln vorangetriebene Geschichte steht neben der beständigen Kirchenverbesserung auch die kontinuierliche Optimierung des modernen Staates. Beides korrespondiert mit der Herausbildung eines allgemeinen Schul- und Bildungswesens, mit der Etablierung effektiverer Organisation wirtschaftlicher Naturaneignung, mit verfeinerten Verkehrs- und Geselligkeitsformen sowie mit erweitertem Wissen und komplexeren ästhetischen Symbolen.¹² Trotz mancher sozialtheoretischer Unterschiede sind sich Schleiermacher und Hegel einig, dass die durch die Reformation freigesetzte religiöse Subjektivität sich gerade in den weltlichen Lebensformen von Familie und Beruf zeigt. Ähnliches gilt für

 Hegel 1970, Geschichte, 520 – 542 (Anm. 5); vgl. zu diesem Topos: Ludwig Siep, Der Staat als irdischer Gott. Genese und Relevanz einer Hegelschen Idee, Tübingen 2015; vgl. Jörg Dierken, „‚Protestantisches Prinzip‘. Religionsphilosophische Implikationen eine geschichtlichen Denkform Hegels“, in: ders., Selbstbewusstsein individueller Freiheit, Tübingen 2005, 259 – 280.  Vgl. Friedrich Schleiermacher [1830/1831], Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Teilband 1, KGA I/13,1, hg. v. Rolf Schäfer, Berlin / New York 2003, § 24; Die christliche Sitte. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. v. Ludwig Jonas, Berlin 21884, 97– 216.Beilage B (102– 159) u. ö.; Vorlesungen über die Kirchengeschichte, KGA II/6, hg. v. Simon Gerber, Berlin / New York 2006; dazu: Simon Gerber, Schleiermachers Kirchengeschichte, Tübingen 2015, bes. 353 – 390; Martin Ohst, Schleiermacher und die Bekenntnisschriften. Eine Untersuchung zu seiner Protestantismusdeutung, Tübingen 1989.  Vgl. etwa Schleiermacher 1884, 122 – 139 (Anm. 10).  Vgl. Schleiermacher 1884, 241– 290 (Anm. 10); Vorlesungen über die Lehre vom Staat, KGA II/8, hg. v. Walter Jaeschke, Berlin / New York 1998.

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die weltlichen Bildungszuwächse durch das geistliche Motiv des Schriftzugangs aller Christen.¹³ Die Reformation habe neue Mentalitätsmuster angestoßen, die es voranzutreiben gelte. Für Hegel realisiert sich das „Prinzip der Subjektivität“ in den aufklärerischen Entwicklungen von Philosophie und Wissenschaft, zudem prägt es die Institutionen der weltlichen Sittlichkeit.¹⁴ Und Schleiermacher beschreibt Frömmigkeit in subjektiven Zuständen von Seligkeit im Gegenüber zu Unseligkeit, worin sie zugleich Handlungsimpulse als „reines Äußern“ der inneren „Bestimmtheit des Selbstbewusstseins“ setzt.¹⁵ Deren Spektrum reicht von wechselseitiger Darstellung in kirchlicher „Communikation“ bis hin zu durchdringender Verbreitung und Reinigung in Staat und Gesellschaft. Indem Vergemeinschaftung durch kommunikative Äußerung innerlicher Zustände erfolgt, kommt „gleich ursprünglich“ die Individualität von Frömmigkeit zur Geltung: Subjektivität und Sozialität bilden Wechselverhältnisse, und zwar tendenziell im Ganzen von Gesellschaft und Kultur.¹⁶ Hegel und Schleiermacher sind prominente Vertreter des Narrativs, das Reformation und Moderne im Zeichen des Subjektivitätsparadigmas versteht. Das Narrativ ist weit verbreitet, angefangen von anderen Denkern im Umfeld der Deutschen Klassik über spätere Theologien und Kulturwissenschaften bis hin zu populären Kanzelreden. Allzu gerade Teleologien konnten durch die von Troeltsch betonte Differenz von Altund Neuprotestantismus gebrochen werden.¹⁷ Auch im 20. Jahrhundert wurde von dem Narrativ Gebrauch gemacht, etwa von Emanuel Hirsch, wenn auch mit manch anderem Akzent.¹⁸ Dem gingen Bestreitungen voraus. Marx′ Erklärung des Subjekts in Geschichte und Gegenwart durch objektive Gesellschaftskräfte, Nietzsches naturalistische Reduktion mitsamt seiner ätzenden Diagnose von religiöser Innerlichkeit als Instrument der Herrschaft des Ressentiments seien genannt, aber auch das theologische Seitenstück zur Dialektik der Aufklärung in Karl Barths These, die Religionsgeschichte von Neuzeit und Moderne sei durch einen Verfall des Glaubens an Gottes absolute Subjektivität zugunsten menschlichem Subjektivismus gestimmt und finde ihren Gipfel in zerstörerischem Totalitarismus – fast eine verfallsgeschichtliche Umkehrung des Fortschrittsmotivs. Seitdem traten naturalistische oder strukturalistischpostmoderne Thesen vom „Ende des Subjekts“ hervor. Sie beziehen sich auch auf sehr glatte Varianten des um Subjektivität gravitierenden Moderne-Narrativs. Allerdings stecken unterschwellig in jenen Meta-Kritiken des Subjektivitätsparadigmas erhebli-

 Vgl. Hegel 1970, Geschichte, 497– 498 (Anm. 5); Schleiermacher 1884, 618 u. ö. (Anm. 10).  Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Werke 20, hg. v. Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1970, 50 – 60.  Schleiermacher 1884, 508 (Anm. 10).  Schleiermacher 1884, 510 (Anm. 10).  Vgl. Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, München / Berlin 41929.  Vgl. Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bde. 1– 5, Gütersloh 1949 – 54; Die Reich-Gottes-Begriffe des neueren europäischen Denkens, Göttingen 1921; Lutherstudien, Bd. 2, hg. v. Hans Martin Müller, Waltrop 1998.

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che Anleihen bei ihm. Das zeigt schon die exklusiv Gott zugesprochene und absolut gesetzte Subjektivität bei Barth. Und naturalistische wie strukturalistische Konzepte von Selbstbehauptung oder -durchsetzung rekurrieren mit dem „Selbst“ solch machtvoller Setzung auf ein zentrales Moment jenes Paradigmas. Macht ist ohne Selbstverhältnis nicht denkbar – natural wie kulturell. Und der Gedanke der Selbsterhaltung kann gar in einer Drift, die vom Gottesgedanken ausgeht, seine Plausibilisierung erhalten, wie Spinoza gezeigt hat.¹⁹ Wenn von Nietzsche bis zum Strukturalismus verkappte Machtphänomene kritisch beleuchtet werden, ist damit eine elementare Leistung von Subjektivität im Fokus: Keine Macht ohne Selbstzentrierung. Die ambivalente Wirkungsgeschichte jenes Narrativs gibt Anlass, die Risikoabschätzung des Subjektivitätsparadigmas mit einer erneuten Erkundung seiner Chancen zu verbinden. Dazu sei der Blick insbesondere auf Spannungen gerichtet, deren Nichtbeachtung die Risiken steigen lassen. Seine Chancen zeigt das Subjektivitätsparadigma, so die These, wenn es Widersprüche produktiv wendet. Dazu gibt es bei den klassischen Denkern Potential, das im Folgenden zunächst im Blick auf die Struktur religionstheoretischen Subjektivitätsdenkens erkundet werden soll, um sodann nach seiner Bedeutung für Gesellschaft und Kultur zu fragen. Ein Fazit wird gegenwärtigen Herausforderungen gelten.

2 Subjektivität oder die Dynamik von Spontaneität und Reflexivität im bewussten Leben Phänomene des Subjektiven gehören zur conditio humana. Elementare Sponaneität, die in nichts Äußerem gründet, aber ihrerseits sich in Ausgriffen auf Äußeres ausdrückt, ist bereits ein Merkmal von Lebendigem überhaupt. Ohne ein basales Selbstverhältnis wäre kein Organismus fähig, sich spontan in einer Umwelt, die er von sich unterscheidet, zu verhalten. Darüber hinaus werden im bewussten Leben Sponaneität und Selbstbezug in einer einheitlichen inneren Instanz, dem Bewusstsein, in dynamischer Gegenläufigkeit zusammengehalten. Als seiner selbst bewusstes vermag es überdies, sich in dieser Gegenläufigkeit selbst erlebend zu vergegenwärtigen. Es weiß in irgendeiner Weise um sich. In dieses Selbstverhältnis ist der durch Unterscheidung vermittelte Bezug zu Anderem eingezeichnet. Schon darum ist es nicht solipsistisch. Die mit aller Unterscheidung verbundene Negation gehört ins Selbstverhältnis hinein. Damit ist es, gleich ursprünglich, als es selbst nicht nur es selbst – und verbindet doch beides in einer einheitlichen Relation, in der es in sich zugleich außer sich ist. Diese einheitliche Reflexivität des Spontanen ist nicht verschlossen, sie vollzieht sich vielmehr immer in Akten des unterscheidenden Bezugs auf Anderes. Darum korreliert der Selbstbezug des selbsttätig Subjektiven mit ge Vgl. Baruch de Spinoza, Ethica, Opera/Werke Bd. 2, hg. v. Konrad Blumenstock, Darmstadt 41989, Pars Tertia, Prop. VI–LIX.

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stuften inneren Transzendenzen: von der elementaren Bezogenheit auf seine Leiblichkeit als inneres Anderes, über das Reich der Dinge als äußeres Anderes bis zur Sphäre des Sozialen als Ort ähnlicher Anderer. Dem korrespondieren im Inneren die Dimensionen des Emotiven, Kognitiven und Volitiven, freilich in eigener Ordnung. Deren orientierende Sortierung sind Leistungen des bewussten Lebens. Sie gründen in seinem Vollzug, greifen in verschiedenen Weisen auf das Verhältnis von Selbst und Welt aus und suchen die Ordnung dieses Verhältnisses als Ganzes irgendwie zu vergegenwärtigen. Insofern das Subjekt mit seiner Dynamik an diesem Verhältnis teilhat, verändert es die Momente dieses Ganzen auch. Ein Verständnis von der Ordnung des Ganzen und deren durch eigenes Verhalten angestoßenen Veränderung sind die Ausgangspunkte für Moral und Kultur im bewussten Leben. Die damit verbundenen Weltsichten lassen sich ihrerseits reflexiv durchdringen und gestalten. Dabei bilden sich symbolische Formen aus. Sie können religiös sein und waren es in der Geschichte vielfach – mit Familienähnlichkeiten zu ästhetischen Formativen und zu gedanklicher Beschreibung. Mit der Symbolik des Ganzen und seiner Ordnung sowie der gegenläufigen Dynamik ihrer in Freiheit gründenden Veränderung sind Ankerpunkte des Religiösen, das im bewussten Leben wurzelt, benannt. Eine religiöse Grundform symbolisiert die mit dem Selbst verbundenen Sozial- und Weltverhältnisse in ihrer aufs Unerschöpflich-Ganze gehenden Transzendenz.Wenn von der Symbolik des Ganzen her die gegenläufigen Momente der im Wollen oder Sollen liegenden Veränderung thematisch werden, gibt es Fluchtlinien zum religiösen Thema des Unbedingten in seiner Kreativität, an dem die subjektive Freiheit teilhat. Das markiert eine zweite Grundform des Religiösen. Mit der inneren Spannung im Selbst, dass es angesichts der Gegenläufigkeit seiner Grundmomente eben nicht in sich selbst gegründet ist, rückt als religiöses Thema die eigene Endlichkeit in den Fokus, die sich im Gegenüber zum Unendlichen selbst versteht. Damit treten Verbindungslinien zwischen beiden Grundformen hervor. Beide Formen, die Teilhabe am Unbedingten der Freiheit und das Verstehen der Endlichkeit im relationalen Gegenüber zum Unendlichen und Ganzen, bilden mehrdimensionale Wechselverhältnisse. Ihre Leitmotive der Ganzheit und der Freiheit sind in verschieblicher Weise aufeinander bezogen. Daraus ergeben sich die religiösen Themen zwischen Schöpfung und Vollendung, Sünde und Erlösung in der Symbolik von Selbst-, Weltund Gottesvorstellungen – mit entsprechenden Gemeinschaftsformen. Phänomene des Subjektiven verstehen zu wollen, ist so alt wie diese selbst sind. Exemplarisch sei auf die verzweigte Geschichte des Begriffs der Seele verwiesen.²⁰ In seinem Spektrum standen Themen wie Lebendigkeit überhaupt (Aristoteles), die innere Struktur von Einzelnem und Gesellschaft mitsamt ethischer Kriterien von deren Wohlordnung (Platon), das Gesamt innerer Zustände sowie ihre Artikulation gegenüber Gott als alles befassendem Anderen in größtmöglicher Nähe zum Selbst (Au-

 Vgl. dazu ausführlicher: Jörg Dierken / Malte D. Krüger (Hg.), Leibbezogene Seele. Interdisziplinäre Erkundungen eines kaum noch fassbaren Begriffs, Tübingen 2015.

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gustin). Spätestens mit Kants Kritik einer gleichsam verdinglichten Seelen-Substanz hat der Begriff seine überkommene Plausibilität eingebüßt. Die mit ihm verbundenen Themen bedurften einer Transformation in andere terminologische Systematiken. Die Linie dieser Transformation lässt sich grob mit Cassirers Formel von der Substanz zur Funktion beschreiben.²¹ Auch der metaphysische Begriff des Subjekts ist hiervon betroffen. Danach ist es eben kein einfach Zugrundeliegendes – ὑποκείμενον oder sub-jectum –, seine Fundierungsfunktion muss vielmehr anders, nämlich verlaufsoder vollzugslogisch beschrieben werden. Hierfür steht der für das neuzeitliche Subjektivitätsdenken maßgebliche cartesianische Einsatz beim Ich, das ganz in seinen mentalen Akten besteht und darin sich selbst zugänglich wird. Hinter es kann nicht zurückgegangen werden, etwa auf Gott oder die Welt der Dinge, da es für diesen Rückgang bereits beansprucht wäre. Dass das Ich zum Schlüssel all seiner Gehalte bis hin zu Welt und Gott wird, ist eine wesentliche Pointe des neuzeitlichen Paradigmenwechsels zur Subjektivität. Umstritten blieb dabei, wie die innere Struktur des Ich und seines Selbstbewusstseins angesichts der verschiedenen Vermögen des Kognitiven, Volitiven und Emotiven zu verstehen ist: ob die Identität des Selbst die Einheit seines Vollzugs begründet oder umgekehrt, wie die intentionalen Gehalte zu seinem Selbstverhältnis stehen; ob ein eher dualistisches oder eher monistisches Konzept für die Relation von Selbst und Außenwelt in Erkennen und Handeln angemessen ist und welches symbolische Ideengeflecht dieses Konzept vergegenwärtigen kann. Es ging und geht in den großen Debatten neuzeitlich-modernen Subjektivitätsdenkens darum, mit dem grundlegenden Übergang von Substanz zu Funktion nicht die Vieldimensionalität, die mit dem bewussten Leben verbunden ist, auf einen gleichsam mechanischen Funktionalismus zu reduzieren und zu verlieren – oder umgekehrt, das Ich nicht wiederum zu einer gleichsam festen, aller Erfahrung und allem Handeln vorausgehenden Größe zu verdinglichen. Beide Reduktionismen verfehlen die Dynamik des Subjektiven, und sie haben dadurch den Boden für die Kritik des Subjektivitätsparadigmas bereitet. Maßgeblich für das funktionsorientierte, besser: vollzugslogische Verständnis von Subjektivität als Paradigma modernen Denkens ist Immanuel Kant. In theoretischer Hinsicht stiftet das Ich in seinem spontanen Vollzug die kategoriale Ordnung und mithin Einheit des durch sinnliche Anschauung gegebenen Mannigfaltigen im empirischen Erkennen. Selbst aber ist es kein Gegenstand von Erfahrungserkenntnis, die auf der Zweistämmigkeit von Sinnlichkeit und Verstand beruht: Das Ich bleibt sich selbst partiell verborgen.²² Wollte es sich selbst vergegenständlichen, erzeugt es nur einen Schein von einem substantialen Ich – ähnlich wie der Versuch, die ordnende Einheit in den mannigfaltigen Gehalten der Anschauung zu finden, auf antinomische Begriffe von der Welt im Ganzen führt. Das „Ich denke“ des Erfahrungserkennens  Vgl. Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Berlin 1910.  Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. v.Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1977, § 25, 152– 153 [B 157– 159].

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steht in einer unabschließbaren Korrelation mit dem sinnlich gegebenen Mannigfaltigen. Dieses Ich verbleibt im Radius des Endlichen und Bedingten. Damit kommt die Frage nach dem Unendlichen und Unbedingten in den Horizont. Sie ist rational und mit der Vollzugslogik von Subjektivität verfugt. Kant geht ihr nach, indem er in seiner Dialektik das Unbedingte als Totalität der Bedingungen des Bedingten erörtert und kritisch vermisst.²³ Neben dem Subjekt- und Weltbegriff wird dabei auch der Begriff Gottes in seiner Funktion, beides als ideale Totalität aller möglichen Bestimmungen zu übergreifen, thematisch – unter Kritik der mit ihm verbundenen Tendenz, ihn gleichsam als empirisches Ding höherer Ordnung zu verstehen, wie die alten Gottesbeweise suggerierten. Als Symbol von Totalität bleibt Gott ein notwendiger Grenzbegriff der rationalen Vermessung der Subjektivität des Erkennens. Das geht mit der These einher, dass der eigentliche Ort der Verständigung im Horizont von Gott das praktische, moralische Leben ist. Dessen Grundbegriff ist Autonomie.²⁴ Moral ist subjektive Selbstbestimmung nach Maßgabe vernünftiger Universalisierung der im Sinnlichen wurzelnden Handlungsmaximen, was zugleich eine klare Absetzung von einer Leitung durch partikulare Neigungen mit sich bringt. Moral fußt auf Freiheit, sie ist nicht durch Gott bedingt. Vielmehr muss auch er im Zeichen desselben Sittengesetzes gedacht werden. Gott steht für die Grenzfragen in den Fluchtlinien der Moral, nämlich der Verbindung von sittlicher Würdigkeit und sinnlichem Glück. Während im Feld des Theoretischen die Gottesidee über den Totalitätsgedanken exponiert wird, führt im Praktischen das Freiheitsmotiv zum Postulat Gottes. In beiden Hinsichten wird der Gottesgedanke in den Fluchtlinien der reflexiven Erkundung von Vollzügen von Subjektivität thematisch, die in eine Grenzdialektik von Bedingtem und Unbedingtem verwickeln. Damit ist der Ankerpunkt für ein rationales Verständnis des Gottesgedankens gegeben. Wie er sich in der geschichtlichen Welt explizieren lässt, wird Thema der Religionsphilosophie. Sie erörtert den invarianten reinen Religionsglauben der Verklammerung von Moral und Gott unter den Bedingungen des geschichtlich variablen, in approximativer Näherung begriffenen Kirchenglaubens.²⁵ Kants Denken bildet den Hintergrund der großen Entwürfe der klassischen deutschen Philosophie.²⁶ So sehr alle die Kantischen Duale wie Sinnlichkeit und Verstand, Bedingtes und Unbedingtes oder Ganzheit und Freiheit zu dynamisieren

 Vgl. Kant 1977, 335 – 340 [B 390 – 398] (Anm. 22).  Vgl. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1978, 142– 155 [A 58 – 72].  Vgl. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1978.  Vgl. zum Folgenden Dieter Henrich, „Grund und Gang spekulativen Denkens“, in: ders., Bewußtes Leben. Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik, Stuttgart 1999, 85 – 138; Walter Jaeschke / Andreas Arndt, Die klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik, München 2012; Georg Essen / Christian Danz (Hg.), Philosophisch-theologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit, Darmstadt 2012; Ulrich Barth, Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005, 195 – 337; Jörg Dierken, Selbstbewußtsein individueller Freiheit, Tübingen 2005, 197– 279; Glaube und Lehre im modernen Protestantismus, Tübingen 1996, 203 – 416.

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suchen, so wenig lassen sich die daraus hervorgegangenen Denkgestalten in eine einfache Aufstiegslinie bringen.²⁷ Sie bilden vielmehr verschiedene Typen der Systematisierung des Geflechts von Ich, Welt und Gott, insbesondere durch unterschiedliche Konstellierungen des Spontanen und des Reflexiven. Während der frühe Fichte aus dem freien Ich-Vollzug heraus das Gegenmoment der Welt als Material von Erkennen und Handeln entstehen lässt und Gott zum Inbegriff einer das Ganze umfassenden moralischen Ordnung wird, deutet sich beim späten Fichte das Ich, das seiner selbst reflexiv nicht durchsichtig wird, als Erscheinung eines Absoluten, das universaler, freier Selbstvollzug ist. Gegenüber einem solchen Pantheismus der Freiheit stehen bei Schelling und vor allem Hegel eher Figuren im Zentrum, die mit Reflexionsmitteln spekulative Ideenontologien entwerfen. Sie können wie bei Schelling das Ich naturphilosophisch zu genetisieren suchen und dahinter ein Absolutes als Indifferenz von Denken und Sein, Idealem und Realem sehen, um von hier aus den gleichsam theogonischen Prozess der Selbstmanifestation dieses als Freiheit verstandenen Absoluten durch Welt und Selbst zu beschreiben – mit der späten Korrektur, dass die Logik dieses Prozesses gegenüber seiner geschichtlichen Wirklichkeit defizitär bleibt. Damit rückt auch bei Schelling das bei Kant recht vernunftferne Thema der Geschichte in den Fokus, wenngleich in einem eher mythisch-heilsgeschichtlichen Sinn. Hegel hingegen sieht die Geschichte der sozio-kulturellen Welt als Realisierungsort des ideenontologisch explizierten Geflechts möglicher Relationen von Selbst-,Welt- und Gottesverhältnissen, deren Tendenz zur Symmetrie die evolutive Richtung der an die Naturentwicklung anschließenden Realgeschichte im Ganzen verbürgt. Um dies zu erfassen, bedarf es der kulturellen Reflexionsgestalten von Kunst, Religion und insbesondere der Philosophie. So sehr in dieser Konzeption die großen Linien von der Subjektivität des Bewusst- und Selbstbewusstseins zu den geschichtlichen Formationen von Gesellschaft und Kultur als Orten der Freiheitsvollzüge führen, so sehr bedarf es deren reflexiver Aneignung in den Formen von Kunst und Religion, die – anders als die ihnen übergeordnete Philosophie mit ihrer zur Indifferenz tendierenden Einheit von Begriffsform und spekulativem Inhalt – ihrerseits auch soziologisch beschreibbare Größen mit eigenen symbolischen Gehalten sind. Schleiermacher zeichnet sich demgegenüber durch deutliche Reserven gegen ideenontologisch-spekulative Figuren aus, so sehr er mit Hegel den Fokus aufs Geschichtlich-Dynamische teilt, mit Schelling das Motiv vom Absoluten als Einheit von Denken und Sein verfolgt und mit Fichte die Vollzüge des subjektiven Ich als primären Ort der Freiheit akzentuiert. Doch er bleibt ein eher kritizistisch an Kant orientierter Reflexionsdenker, der die Selbst-, Welt- und Gottesverhältnisse in der Perspektive des Endlichen vermisst, das sich darin zugleich über sich aufklärt. Das gilt jedenfalls für den reifen Schleiermacher, der von seinem frühen romantischen Aufbruch einerseits das spinozistische Ἓν καὶ Πᾶν-Motiv und andererseits die Hochschätzung des Individuellen als Manifestation des Absoluten im Subjektiven fortschreibt.

 Dafür steht klassisch Richard Kroner, Von Kant bis Hegel, Tübingen 42006.

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Die zentrale subjektivitätslogische Intuition des reifen Schleiermacher besteht darin, dass er in basalen subjektiven Zuständen eine Einheit von Denken und Sein, Idealem und Realem, Geist und Natur findet, in der sich der mit reflexiver Selbstvermessung allen Wissens aufdrängende Gedanke des Absoluten, das ob seiner differenzfreien Einheit seinerseits begrifflich unerreichbar bleibt, gleichsam abschattet.²⁸ Gemeint ist das Gefühl als subjektive Vergegenwärtigung des Absoluten, wie es die Dialektik als Verschränkung von Sein und Denken expliziert. Das alle Reflexionsdifferenzen unterlaufende Gefühl steht für die Einheit des Subjekts im zeitlichen Verlauf seiner Zustände, einhergehend mit relationaler Verwobenheit mit allen welthaft-realen Gehalten. Zudem wird das Subjekt seiner eigenen Endlichkeit inne, insofern es sich in seinen Vollzügen immer schon vorfindet und durch seine Freiheitsschranken in Differenz zum Absoluten steht. Diese doppelte Leistung des Gefühls ist freilich eher reflexionslogisch erschlossen denn aus seinen Zuständen heraus entfaltet.²⁹ Das ist eine mit Schleiermachers Ansatz verbundene offene Flanke. Er konzipiert diese Leistung des Gefühls, indem er es im Übergang zwischen den kognitiven Vermögen des Wissens und den volitiven des Handelns verortet, die teils von mehr aktivischen, teils mehr passivischen Relationen zu den je welthaften Gegenständen gekennzeichnet sind. Da diese wiederum in einem tendenziell universalen Zusammenhang stehen – das besagt der Begriff der Welt –, ist das Subjekt in deren umfassende Wechselwirkung einbegriffen. Zugleich ist es – jedenfalls für sich im emotiven Selbstverhältnis – der Indifferenzpunkt seiner gegenläufigen kognitiven und volitiven Vermögen, und es bildet in den Verlaufsformen der Zeit die Einheit von sich und seinen Gehalten, die tendenziell das Gesamt der Wechselwirkung umfasst. Gleichwohl kann es diesen Zustand nicht selbst setzen. Das menschliche Subjekt kann nicht in seinem Selbstvollzug bewirken, dass es kann, was es darin kann. Darum erfährt es sich in seiner Selbsterkundung, die mit seiner selbsttätigen Verwicklung mit den Gegenständen der Welt in ihrer tendenziell unendlichen Ganzheit einher geht, ebenso als endlich. Dies wird begrifflich über den Ausschluss schlechthinniger Freiheit expliziert und religiös als schlechthinnige Abhängigkeit symbolisiert, deren Bezug der korrelativ zur Welt gedachte Gott ist.³⁰ Er steht für Einheit ohne Vielfalt, die Welt indes für Einheit mit Vielfalt.³¹ Dass Gott und Welt unterschieden werden, rührt daher, dass das Subjekt vermöge des Wechselwirkungsgedankens ein Teil von deren Ganzheit ist, die es als solche aber nur kraft seiner Einheitsfunktion erfassen kann: Das Erfassen der Welt kann nicht gleichermaßen deren bloßes Teilmoment sein.³²

 Vgl. Friedrich Schleiermacher, „Dialektik (1814/15)“, in: ders., Dialektik (1814/1815). Einleitung zur Dialektik (1833), hg. v. Andreas Arndt, Hamburg 1988, 1– 116, bes. ab § 215.  § 3 und v. a. § 4 der Glaubenslehre bieten raffinierte apagogische Argumentationen auf, um das Gefühl als Form der Frömmigkeit im Indifferenzpunkt von eher rezeptivem Wissen und eher spontanem Wollen sowie dessen Prädikat schlechthinniger Abhängigkeit zu explizieren.  Vgl. Schleiermacher 2003, § 4 (Anm. 10).  Vgl. Schleiermacher 1988, § 219 (Anm. 28).  Vgl. Schleiermacher 2003, § 8.2 (Anm. 10).

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Dass die Welt in die Einheit unseres Selbstbewusstseins aufgenommen wird, dieses aber dafür in partieller Differenz zur Welt stehen muss, kennzeichnet den subjektivitätslogischen Spinozismus des reifen Schleiermachers, der zugleich mit einem strengen Monotheismus verbunden wird. Mit der Weltdistanz des Subjekts geht seine Selbständigkeit einher, die zum Ankerpunkt von Personalitätsidealen wird, gleichsam im Gegenzug zum Pantheismusmotiv. Personalität gibt es freilich nicht als bloß abstrakte Struktur, sie erscheint in der Vielfalt des Individuellen. Es nimmt darum nicht wunder, dass Schleiermacher zugleich der Denker des Individuellen im Spektrum der deutschen Klassik ist. Insofern für ihn das Individuum durch seine Differenzen gegenüber den Anderen ausgezeichnet ist, sind diese virtuell mit Individualität bereits im Horizont. Daher beinhaltet Schleiermachers Denken des Individuellen gleichursprünglich eine kommunikative Theorie des Sozialen.³³ So sehr Schleiermacher mit seinem subjektivitätsmetaphysischen Konzept von Selbst, Welt und Absolutem einen vernünftig fassbaren Ankerpunkt für Religion beschreibt, so sehr liegt deren Vorkommen im Gebiet des geschichtlichen Lebens.³⁴ Ihr Merkmal ist das Kontingent-Veränderliche.³⁵ Hierin gibt es zwar Berührungspunkte mit jener Metaphysik der Subjektivität, aber durch relative Reihenbildung in typologischer Variation hindurch. Deren Muster werden zum einen von den Resonanzen gebildet, die die subjektivitätslogische Struktur des sogenannten „höheren Selbstbewusstseins“ in dem zwischen Lust und Unlust aufgespannten „niederen Selbstbewusstsein“ findet. Damit sind Widerstreit und Einigung markiert, welche die symbolisch-religiösen Vorstellungsgehalte zwischen Sünde und Gnade durchzuklären erlauben – mit einer teleologischen Tendenz zu größtmöglicher „Leichtigkeit“ im Hervortreten des höheren Bewusstseins in lustvoll erlebten, von einer optimistischen Lebensstimmung der sittlichen Weltgestaltung geprägten Zuständen des niederen Bewusstseins. Hierfür stehen idealtypisch der die Frommen in sein Erlösungswerk einbeziehende Erlöser und das Reich Gottes als alles umgreifendes Ziel. Zum anderen werden die Muster des geschichtlich erscheinenden Religiösen durch die Interferenzen gebildet, die Religion mit anderen Formen des sozio-kulturellen Lebens zwischen Politik und Wirtschaft,Wissenschaft und Bildung sowie individueller und ästhetischer Kommunikation aufweist. Das gilt nicht nur für Christentum und Protestantismus, sondern grundsätzlich auch für die evolutiven Tendenzen anderer Religionskulturen. Schleiermacher thematisiert sie zwar in Fluchtlinien zum Christentum hin, doch er kennt auch eine legitime Pluralität von Typen. Damit sind Spannungen markiert.

 Vgl. dazu Jörg Dierken, „Identität und Individualität. Schleiermacher über metaphysische, religiöse und sozialtheoretische Implikationen eines Schlüsselthemas der Moderne“, NZThG 15 (2008), 183 – 207.  Vgl. Schleiermacher 2003, §§ 4– 19 (Anm. 10).  Daher ist Religion auch Thema der philosophischen Ethik als Strukturtheorie der Geschichte, und die Darlegungen über die Frömmigkeit verstehen sich formal als „Lehnsätze“ aus ihr.

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Von solchem Subjektivitäts-Denken scheint das der Reformation weit entfernt. Luthers unfreier Wille reibt sich mit einem in Freiheitsbegriffen codierten Gottesverhältnis. Dass auch für Gott kein anderes Sittengesetz gelte als das der Vernunftautonomie, ist mit den nominalistisch beeinflussten Vorstellungen von Gottes an Willkür streifender Macht letztlich unvereinbar. Auch Einheits- oder Ganzheitsfiguren passen nicht zu den dualistischen Implikationen einer supranaturalen Autorität, die zwar in allem wirkt, aber nur im überlieferten Offenbarungswort fassbar wird. Die mittelalterliche Herkunft dieses Denkens ist nicht zu übersehen. Gegenüber dem Altprotestantismus mit seiner bald etablierten Tendenz zum Doktrinalen zeigt sich im neuprotestantischen Subjektivitätsdenken eine aufklärerische Transformation. Trotz der damit verbundenen Differenz von reformatorischem und modernem Denken gibt es Kontinuitäten, teils überraschende. So fußt die Kritik an Papsttum und Ablasswesen auf dem eigenen, in der Subjektivität des Gewissens verankerten religiösen Urteil.³⁶ Wenn es sich auf das göttliche Wort als Widerlager zur divinisierten Macht von Kirche und Papst stützt, muss es dieses gleichsam in eigener Verantwortung verstehen und aneignen. Dass Gott darin präsent wird, kommt letztlich nur im Glauben zur Geltung. Er bringt den im Wort gegenwärtigen Gott zur religiösen Wirksamkeit. Sein eigener Vollzug ist gleichsam eine performative Realisierung Gottes: Der Glaube wird zur creatrix divinitatis – jedenfalls in uns.³⁷ Auch ein zentrales Motiv der Rechtfertigungslehre, deren erbsündentheologischer Hintergrund und moralferne Gerechtigkeitszueignung wesentliche Transformationshindernisse darstellen, lässt Linien zu modernem Subjektivitätsdenken ziehen. Gemeint ist die innere Selbstbeurteilung des Subjekts in den Koordinaten dessen, was nicht sein soll, aber faktisch ist.³⁸ Wenngleich der reformatorische Sündengedanke in abständigen bußtheologischen Begriffen entfaltet worden ist, artikuliert sich in ihm der Gedanke des Kontrafaktischen, gleichsam als Gegenbild zum ebenfalls einer Logik des Kontrafaktischen folgenden Rechtfertigung. Ohne das Motiv des Kontrafaktischen ist Freiheit auch in modernem Sinn nicht zu denken. Es lässt sich in einem gehaltvollen Verständnis von Negativität im Selbstverhältnis reformulieren. Das steht in klarem Gegensatz zum Zerrbild saturierter Subjektivität in selbstgerechter Gewissheit. Jener Negativität entspricht ein Gottesverhältnis, für das Gott auch Muster des Kontrafaktischen umfasst. Eine Verbindung von Selbst und Gott über Figuren von Negation steht im Zentrum von Hegels Religionsdenken. Es expliziert ein durch doppelte Umkehrung – Erhebung

 Vgl. Ulrich Barth, „Die Geburt religiöser Autonomie. Luthers Ablassthesen 1517“, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 53 – 95.  Martin Luther [1531], In Epistolam S. Pauli ad Galatas Commentarius, WA 40/1, Weimar 1911, 360.  Vgl. Ulrich Barth, „Die Entdeckung der Subjektivität des Glaubens. Luhers Buß-, Schrift- und Gnadenverständnis“, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 27– 51; Jörg Dierken, „Selbstbeurteilung und Selbstbestimmung. Protestantisches Freiheitsdenken zwischen Luther und Kant“, in: ders., Selbstbewusstsein individueller Freiheit, Tübingen 2005, 197– 220, bes. 199 – 206; „Negativität im Selbstverhältnis. Warum Sünde gut ist“, in: ders., Ganzheit und Kontrafaktizität. Religion in der Sphäre des Sozialen, Tübingen 2014, 173 – 189.

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des Menschen zu Gott und Menschwerdung Gottes – vermitteltes Anerkennungsverhältnis als Versöhnung, das zugleich zum Paradigma für Sozialverhältnisse wird. Durch sie schimmert das reformatorische Motiv der doppelten Relation der Freiheit eines Christenmenschen, nämlich in Christus und im Nächsten, hindurch.³⁹ Obzwar Schleiermachers Religionstheorie keine negationsdialektische Verschränkung von menschlicher und göttlicher Subjektivität kennt, teilt sie mit Hegel die These, dass das Gottesverhältnis zugleich als Sozialverhältnis zu denken ist. Diese Verschränkung von Gottes- und Sozialverhältnis gehört maßgeblich zum reformatorischen Erbe. Die Subjektivitätsdenker transformieren es sozialphilosophisch.

3 Sozialität oder die Dynamik von Kommunikation und Anerkennung Das aus Grundstrukturen von Subjektivität erschlossene Gottesverhältnis spiegelt sich in welthaften Sozialverhältnissen. Schon weil das Selbstsein des Subjekts nicht ohne Bezug auf sein Anderes ist, verweist Subjektivität auf Intersubjektivität. Und wenn mit der Vermessung von Endlichkeit und Unbedingtheit der Gottesgedanke thematisch wird, führt Theologie angesichts der Korrelation von Gott und Welt schnell auf Gesellschaft und Kultur als „zweite Natur“ des Menschen. Damit werden Linien der reformatorischen Adelung des christlichen Lebens in den welthaften Sozialformen von Ehe und Familie, bürgerlichem Beruf und öffentlicher Ordnung aufgenommen. Deren religiöser Hintersinn wird ins Säkulare transformiert, nicht zuletzt angesichts seiner Ambivalenzen. Ehe und Familie galten als Sozialformen der Regulierung der im geschöpflichen Subjekt liegenden Geschlechtlichkeit und Generativität zwischen Erlaubnis und Disziplinierung. Beruf und Hauswesen verbanden die Berufung zum ökonomisch-kreativen Umgang mit geschöpflicher Knappheit mit der Internalisierung von Askese. Und die von Gott gewollte obrigkeitliche Amtsführung sollte mit dem Strafrecht der mit allem Sündhaft-Menschlichen verbundenen Gewalt wehren und den Raum für politisches wie kirchliches Handeln offen halten. Freilich haben erst die Entwicklungen von Aufklärung und Moderne, die durch die konfessionelle Pluralisierung ermöglicht wurden, die altprotestantischen Klammern der weltlichen Sozialformen des christlichen Lebens⁴⁰ gelockert. Exemplarisch sei auf den Gedanken der von Gott angesichts der menschlichen Bosheit eingesetzten Obrigkeit verwiesen.⁴¹ So sehr die damit verbundene Differenzierung von Politik und Religion ein reformatori-

 Vgl. Martin Luther [1520], Von der Freiheit eines Christenmenschen, WA 7, Weimar 1897, 20 – 38, hier 38 [Zum dreißigsten].  Vgl. dazu Karl Holl, „Der Neubau der Sittlichkeit“, in: ders., Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1, Tübingen 1948, 155 – 287.  Vgl. Martin Luther [1523], Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei, WA 11, Weimar 1900, 245 – 281.

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scher Grundzug ist, so sehr sind die Legitimierung politischer Macht durch die Bürger als innerweltlicher Souverän oder die Teilung der staatlichen Gewalt aufklärerische Ideen. Mehr noch gilt dies für das zu den Menschenrechten führende Motiv von gleicher Freiheit Aller.Weil damit auch die Religionsfreiheit verbunden ist, haben sich die protestantischen Kirchen dagegen lange gesträubt, so sehr sie die Gleichheit der Menschen vor Gott und die Freiheit des Gewissens betonen. Dass die welthaften Sozialverhältnisse gerade in ihrer Säkularität religiös anerkannt und dass hierfür die aufklärerischen Leitbegriffe von Freiheit und Gleichheit maßgeblich werden, sind Errungenschaften der Moderne und ihres Subjektivitätsverständnisses.⁴² Wichtige Markierungen hierbei sind die Sozialphilosophien von Schleiermacher und Hegel, den am stärksten soziologisch ausgerichteten Denkern der deutschen Klassik. Beide haben einen subjektivitätslogischen Ausgangspunkt, bei beiden reicht das Religiöse in die systematischen Fundamente. Schleiermachers eher systemtheoretisch geprägtes Konzept der Interferenz der ethischen Gütersphären nach dem sogenannten „Viererschema“ lebt von einem partiellem In- und Auseinander von Vernunft und Natur, das die Ethik in einer Vernunftperspektive beschreibt und dessen Bedingung das alles umfassende Absolute ist.⁴³ Staat und Wirtschaft, Wissen und Geselligkeit bilden die vierfachen Pole des gekreuzten Doppels von Organisieren und Symbolisieren sowie Allgemeinem und Individuellem. Doch erst vielfältige Wechselwirkungen und Interferenzen führen zum lebendigen Reichtum der Formen des sozialen Lebens, deren hintergründige Regeln die Ethik beschreiben will, um die geschichtliche Empirie verstehen zu können. Grundmuster für Regelbildung sind Kommunikation und Austausch in der Vielfalt ihrer Erscheinungen zwischen Wissenschaft, Kunst, Religion und Geselligkeit sowie Gütertausch, Handel, Recht und Politik. So sehr für kommunikative Regelbildung Verhältnisse der Wechselseitigkeit und damit gleicher Freiheit beansprucht werden, so sehr bedarf es elementarer Differenzen – schon damit nicht immer das Gleiche gesagt und Verschiedenes getauscht werden kann. Die Ausgestaltung solcher Differenzen kann mitunter irritierende Spannungen zu Grundbegriffen und Methodik der Ethik bilden, wie etwa an Schleiermachers Gegenüber von Klerus und Laien als Matrix für protestantisch-kirchliche Kommunikation oder das Verhältnis von Obrigkeit und Untertanen im modernen Verwaltungsstaat sichtbar wird. Das besondere Gewicht des Subjektiven, das sich auch im kommunikativ artikulierten Widerspruch zeigt, kommt eher in den am Individuellen orientierten Sphären des Geselligen und ihren ästhetisch-religiösen Symboliken zum Ausdruck.

 Freilich ist der Menschenrechtsgedanke auch in den Sozialphilosophien der klassischen Subjektivitätsdenker nur begrenzt expliziert, Überordnungen des Staates über das Individuum dominieren. Vgl. Siep 2015 (Anm. 9).  Vgl. Friedrich Schleiermacher, Ethik (1812/13), hg. v. H.-J. Birkner, Hamburg 1981, Einleitung (9 – 17); Das höchste Gut: Einleitung (18 – 22); Allgemeine Übersicht (23 – 34); Einleitung. Letzte Bearbeitung (185 – 226); Güterlehre. Letzte Bearbeitung: Einleitung (231– 239); Grundzüge (240).

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Auch Hegels Sozialphilosophie der autonomen Sittlichkeit geht auf Prinzipen der Subjektivität zurück. Diese bildet sich in die Sozialwelt hinein und findet darin ihr Anderes. Gerade in ihrer institutionellen Objektivität wird Subjektivität zum Geist und realisiert damit das höchste Formativ des Absoluten. Als Geist wird Gott nicht nur subjektiv gewusst, er steht auch für die Struktur intersubjektiv-symmetrischer Anerkennung.⁴⁴ Sie erscheint in geschichtlichen Sozialverhältnissen, deren Empirie stets durch Asymmetrien gekennzeichnet ist, als subkutane Normativität in Gestalt von Negation und Kritik. Stärker als Schleiermacher kann Hegel Momente von Freiheitsregungen aufnehmen, die nicht in Symmetrien aufgehoben sind. Sie kommen etwa im Grenzwert einer Moralität, die auf Abgleich mit dem Äußeren und Anderen verzichtet und sich in ihrer Selbstgewissheit tendenziell außerhalb von Sozialität stellt, zum Ausdruck. Ähnliches gilt auch für institutionalisierte Sozialverhältnisse, wie etwa das ökonomische Eigeninteresse der von Entzweiung geprägten bürgerlichen Gesellschaft zeigt. Die Anerkennung dieses Interesses im wechselseitigen Tausch führt zugleich zu seiner Begrenzung. Dazu bedarf es allerdings der Integration in ein übergeordnetes, umfassendes Allgemeines, das über die Regeln des Tausches wacht und den Interessen überhoben ist. Hegels Staat soll die Vollendung des besonderen Willens der Einzelnen im Allgemeinen sein und damit die Freiheit aller gewährleisten. Sein Prinzip habe die Stärke, „das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen“.⁴⁵ Damit ist grundsätzlich die Subjektivität des Menschen als solchen in Geltung – d. h. „weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf.“ ist.⁴⁶ Dennoch ist Hegels Staat keineswegs demokratisch im heutigen Sinne, sondern trägt das Gepräge einer konstitutionellen ständischen Monarchie. Wenn Hegels Staat als „absolute Macht auf Erden“ gleichsam die göttliche Vernunft vergegenwärtigen soll,⁴⁷ wirft dies die kritische Frage nach einem Transzendenzvorbehalt zur Unterscheidung von Bedingtem und Unbedingtem auf. Dieser Transzendenzvorbehalt gegenüber einer Staatsdivinisierung drängt sich schon angesichts der Fehlbarkeit irdisch-geschichtlicher Institutionen und mehr noch Personen auf, und er enthält auch ein Widerlager gegen das Aufgehen individueller Subjektivität im Ganzen der Vergesellschaftung. Nach und gegen Hegel ist subjektive Freiheit gegen ihre soziale Vereinnahmung auch durch öffentliche Artikulation der religiösen Unterscheidung von Bedingtem und Unbedingtem zu schützen. Damit wird an reformatorisches Erbe in Ungleichzeitigkeit angeknüpft, nachdem die Semantik

 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 3: Die vollendete Religion, hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1984, bes. 93 – 98; 167– 176; 262– 270.  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg 1995, § 260.  Hegel 1995, § 209 (Anm. 45). Dieses Bild aus der Rechtspflege hat Konsequenzen für den Verfassungsstaat.  Hegel 1995, § 331 (Anm. 45).

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des Religiösen durch die Rationalität des Subjektivitätsparadigmas aufgeklärt werden konnte.

4 Fazit Eine solche Aufklärung ist kein Selbstzweck. Vielmehr sind auch die Herausforderungen aufzunehmen, die im Gefolge der modernen, entzaubernden Fokussierung des Welthaft-Endlichen für das Paradigma der Subjektivität entstanden sind. Dazu zählen naturalistische und kulturalistische Reduktionen des Subjekts. Nach der Sattelzeit der Moderne aufgekommen, beziehen sie sich sogar in der Dekonstruktion auf das Paradigma der Subjektivität. Wenn moderne Naturalismen den Menschen ganz durch biophysikalische, -chemische und -elektrische Kausalitäten beschreiben, bleibt die in subjektiven Freiheitsvollzügen beanspruchte Perspektive der ersten (und zweiten) Person ein unerklärtes Faktum, auch wenn es zur Fiktion erklärt wird. Subjektivitätstheoretisches Denken erlaubt es, die Naturtranszendenz des Subjekts verstehbar zu halten und gegebenenfalls symbolisch mit Bezug zur Transzendenz Gottes auszudeuten – ohne damit lebenswissenschaftliche Einsichten in die Selbsterhaltung von Organismen zu verdrängen. Wenn kulturalistische Dekonstruktionen des Subjekts darauf hinweisen, dass dessen begriffliche Explikation in der westlichen Moderne erfolgte, muss die richtige Einsicht in die geschichtliche Kontingenz der Entfaltung des Subjektivitätsparadigmas nicht zum Verzicht auf einen begründeten Geltungsanspruch der damit verbundenen Prinzipien wie Autonomie und Menschenwürde führen. Die Behauptung gleicher Gültigkeit des Gegenteils führt zu bloßer Gleichgültigkeit. Subjektivitätsdenken ist kein relativistischer Subjektivismus⁴⁸ beliebiger Meinungen – schon gar nicht solcher, die sich mithilfe der Technologie anonymer elektronischer Kommunikation argumentativer Rechenschaft gegenüber Anderen mit Bezug auf Sachverhalte entziehen. Man mag fragen, ob der religiöse Transzendenzvorbehalt der korrelativen Unterscheidung von Divinem und Humanem, dem die kontrafaktischen Potentiale der Transzendenz des Subjektiven gegenüber Reduktionismen korrespondieren, noch artikulierbar ist oder in der Säkularität verdunstet. Wenn diese im Radius des ins Welthaft-Soziale gespiegelten Gottesverhältnisses liegt, muss jedoch innerhalb solcher Säkularität auch das Nicht-Säkulare präsent sein können. Ohne Gegenmoment verliert der Begriff des Säkularen seine Kontur. Insofern ist die kirchlich-religiöse Kommunikation gewiss der primäre Ort, jenen Transzendenzvorbehalt zur Sprache zu bringen. Die Kirchen bilden jedoch keine simplen Gegenwelten zum modernen Leben. Ihre Aufgabe ist, im Säkularen das Nicht-Säkulare, an dem das Motiv einer normativen Würdigung des weltlichen intersubjektiven Lebens hängt, zu vergegenwärtigen. Als

 Vgl. zu diesem Stichwort Ernst Cassirer [1939], Was ist Subjektivismus?, Gesammelte Werke, Bd. 22, bearb. v. Claus Rosenkranz, Hamburg 2006, 167– 192.

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immanentes Anderes der säkularen Sozialwelt obliegt der kirchlichen Kommunikation die Pflege der christlich-religiösen Symbolwelten und Narrative. Dazu gehört zentral das reformatorische Narrativ von der im Glauben wurzelnden christlichen Freiheit. Das Subjektivitätsdenken der Klassik und insbesondere Schleiermachers sind konstruktive Angebote für seine Transformation in die Moderne. Die gegenwärtige Pflege des kulturellen Gedächtnisses kann daran anknüpfen, wenn sie mit deren Pluralität auch deren Spannungen kritisch erinnert.

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Varianten protestantischen Subjektivitätsdenkens Zum Glaubensbegriff bei Luther und Schleiermacher Das im Obertitel formulierte Thema wurde mir seitens der Kongressleitung angesonnen; es ist ebenso reizvoll wie uferlos. So habe ich es mir als kirchengeschichtliches zurechtgelegt: In der Sprache christlicher Frömmigkeit und Theologie wird Subjektivität durchgängig als Glaube thematisiert, also als dasjenige, was den Menschen zum Christen macht, indem es ihn – durch welche Vermittlungen auch immer – zum Ursprungsgeschehen der christlichen Religion in ein individuell-persönliches Verhältnis versetzt und ihm – unter welchen weiteren Bedingungen auch immer – die Teilhabe an deren Heilsverheißungen eröffnet. Worauf sich dieser Glaube eigentlich inhaltlich richtet, welche kognitiven und affektiven Elemente beim Glauben im Spiel sind, ob und wie er sich in welche Reihen anderer Lebenshaltungen einfügt, die er aus sich hervortreibt oder welcher er zu seiner eigenen Vollständigkeit bedarf – das alles sind Fragen, die in der Geschichte der christlichen Religion immer neu traktiert und beantwortet worden sind – jeweils klassisch von Paulus, den beiden großen Alexandrinern, Augustin und Luther. Auch Schleiermacher hat den Glauben auf eine zu seiner Zeit ungewöhnliche Weise zur Sprache gebracht. Und wenn man seine einschlägigen Äußerungen kontextualisiert, dann bemerkt man mit Staunen, dass Schleiermacher und Luther gerade in ihrem jeweiligen Glaubensbegriff neben allen augenfälligen Differenzen doch auch erstaunliche Gemeinsamkeiten aufweisen. So zeigt sich auch am Glaubensbegriff: Luther war der schöpferische Bahnbrecher protestantischen Christentums, das nachkatholisch ist, weil es den treibenden Grundfragen katholischen Christentums nicht etwa ausweicht, sondern sie derart profund beantwortet, dass die Antworten ein neuartiges Syndrom von Fragen aus sich hervorgetrieben haben. Schleiermacher war der wohl bislang wichtigste Theoretiker dieses nachkatholischen, protestantischen Christentums. All das erschließt sich allerdings nicht in primitiven 1:1-Vergleichen, sondern nur dann, wenn man im weiten Ausgriff eine Reihe idealtypischer Skizzen entwirft und deren Konfigurationen in ihren geschichtlichen Folgeverhältnissen auf sich wirken lässt.¹ Wir müssen uns also zunächst eine christentumsgeschichtliche Grundspannung vergegenwärtigen, die im Begriff des Glaubens waltet (I.). Dann werfen wir einen Blick  In dieser Vorgehensweise, aber auch in der Auswahl der zu interpretierenden Schleiermacher-Texte berühre ich mich mit Dietrich Korsch, „Luther im Licht Schleiermachers“, in: Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006, hg.v. Andreas Arndt u. a., Berlin / New York 2008, 181– 192. https://doi.org/10.1515/9783110569520-019

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auf Luthers Glaubensbegriff in seinem Kontext (II.) und unternehmen² danach nach drei kurzen, aber verständnisnotwendigen Zwischenschritten (III.) das gleiche mit Schleiermacher (IV.).

I. Als terminus technicus der hellenistisch-frühjüdischen Missionspredigt bezeichnet πίστις/Glaube die Annahme und Anerkennung der Botschaft von dem Einen Gott, welche die vielen Götter als bösartige, subalterne Dämonen entlarvt und zu einem sinngewissen Leben in einem ernsten, strengen Ethos anleitet. Genau hier knüpfte die urchristliche Missionspredigt an, indem sie Kreuz und Auferweckung Jesu Christi als letztgültige Selbstkundgabe des Einen Gottes verkündigte und die baldige Wiederkunft des erhöhten Kyrios zum Gericht verhieß bzw. androhte. Diese Botschaft war, allen Beweisen des Geistes und der Kraft (1. Kor 2,4) zum Trotz, eingestandenermaßen unanschaulich und kontrafaktisch; das zeigt die wirkungsreichste frühchristliche (frühjüdische?) Definition des Glaubens: „Es ist aber der Glaube eine Zuversicht auf Erhofftes, eine Überführung über Dinge, die man nicht sieht“ (Hebr 11,1; Übers. Weizsäcker). Und genau deshalb war schon die Anerkennung jener Botschaft die erste, für alles weitere konstitutive Bedingung, welche erfüllen musste, wer der mit ihr verbundenen Heilsverheißungen teilhaftig werden wollte: „Durch Glauben ward Enoch entrückt, so daß er den Tod nicht sah, und ward nicht gefunden, weil ihn Gott entrückt hatte; denn vor der Entrückung ist ihm bezeugt, daß er Wohlgefallen fand bei Gott; ohne Glauben ist aber das Wohlgefallen unmöglich; denn glauben muß, wer Gott naht, daß er ist, und daß er denen, die ihn suchen, ihren Lohn gibt“ (Hebr 11,5 f; Übers. Weizsäcker). Die Frage, ob bzw. unter welchen Umständen der Mensch das überhaupt könne, wurde beantwortet, indem sie erst gar nicht aufgeworfen wurde.³ In diesem Kontext war Paulus ein Sonderfall. Er selber hatte die urchristliche Botschaft vom gekreuzigten Messias wegen ihrer Tora-relativierenden Konsequenzen zunächst für strafwürdige Blasphemie gehalten, und erst durch ein ekstatisches Erlebnis, in welchem sich ihm die Identität des himmlischen Kyrios mit dem gekreuzigten Jesus als unumstößliche Gewissheit imponierte, wurde der Verfolger zum

 In den beiden ersten Hauptteilen dieses Aufsatzes greife ich auch auf Einsichten und Thesen des folgenden Beitrags zurück: Martin Ohst, „Glaube in der Kirchengeschichte. Zu den geschichtlichen Wandlungen eines Zentralbegriffs der christlichen Religion“, in: Glaube, hg.v. Friedrich Wilhelm Horn, Tübingen 2018 (im Druck). In dem Abschnitt über Melanchthon und die luth. Orthodoxie habe ich dort aus Raumgründen nur sehr knapp gehaltene Andeutungen etwas weiter ausgeführt, der Rest dieser Studie lässt sich auch als Teil einer möglichen Fortsetzung jener Überblicksdarstellung lesen.  Ob es sich bei Worten wie Mk 9,24 parr. und Lk 17,5 um paulinische Einsprengsel in die synoptische Tradition handelt, ist eine Frage, die hier natürlich nur angesprochen werden kann.

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Apostel. Von dieser Lebenswende her hat er unter Verwendung ganz heterogener gedanklicher Vorgaben originelle, kreative Theologie getrieben. Das gilt auch und gerade vom Glaubensbegriff. Das Christwerden und das Christsein waren für Paulus keine der menschlichen Wahlfreiheit anheimgestellten Möglichkeiten, sondern im religiösen Lebensweg des einzelnen Menschen realisiert sich der hinsichtlich seiner Gründe unerforschliche göttliche Ratschluss in der Zeit. Von den Erwählten ergreift Christus, der Himmlische, in der Gemeinde als Pneuma waltende Kyrios, Besitz; in ihnen übt er seine Herrschaft. Und genau für dieses Verhältnis, das notdürftig als „Christusmystik“ bezeichnet wird, weil es keinen weniger schlechten Ausdruck dafür gibt, nahm er in terminologischen Gewaltstreichen das Substantiv πίστις/Glaube und seine Derivate in Anspruch: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben“ (Gal 2,20). Paulus hat damit diesem in seiner frühjüdisch-urchristlichen Grundschicht ja ursprünglich ganz einfachen religiösen Deutebegriff dauerhaft dynamische Spannungen eingestiftet – er oszilliert forthin allenthalben zwischen Spontaneität und Passivität, zwischen Kognition und Affekt, zwischen Gnade und Leistung, zwischen Individualität und Gemeinschaftlichkeit etc. Für die weitere Entwicklung im Westen entscheidend wurde Augustins Einschmelzung der spezifisch paulinischen Fassung des Glaubensbegriffs in seine Gnadenlehre. Diese wurde von ihm selbst und von seinen Nachfolgern mit der vulgärkatholischen Anschauung vom Glauben als einer mit kirchlich-sakramental vermittelter göttlicher Gnadenhilfe zu erbringenden Leistung zwar mit großem Aufwand an Scharfsinn und Begriffskunst kombiniert, aber nie innerlich verbunden. In der so entstehenden Lücke schlugen dann die unterschiedlichen Spielarten der Mystik Wurzeln und trieben ihre Blüten.

II. A) Diese Faktoren waren maßgeblich für das Verständnis des Glaubens in Luthers religiös-intellektueller Bildungswelt⁴. Der Begriff bezeichnete einmal das unermessliche göttliche Gnadengeschenk, das allem menschlichen Handeln unumkehrbar vorund übergeordnet ist: Dass der Mensch überhaupt glauben darf, ist eine ihm von Gott geschenkte Möglichkeit, und über diese selbst und über deren Implikationen gibt sein Inhalt Auskunft, den das Apostolicum in knapper, allerdings unendlich weiter Explikation fähiger Abbreviatur darlegt. Sodann zeigt der Glaube dem Menschen aber  Für die folgende Freihandskizze kann ich auf einen kurzen, extrem weit verbreiteten und darum mustergültig als Exempel tauglichen Quellenbeleg verweisen: Der Dekalog-Auslegung in seinem Opus Tripartitum stellt Johannes Gerson eine knappe, lose am Apostolicum orientierte Gesamtdarstellung des kirchlichen Glaubens voran (Johannes Gerson, Opera I, hg.v. Louis Ellies du Pin, Antwerpen 1706 [Hildesheim 1987], 428 – 429).

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auch, dass ihn dieses Geschenk zur eigenen Leistung verpflichtet: Das Glauben selbst als kognitiver Willensakt wider die Anschauung und den Verstand ist eine Leistung, die sein Inhalt dem Subjekt abfordert, und er klärt den Menschen auch darüber auf, welche weiteren Leistungen er zu erbringen hat, damit sich die Heilsverheißungen des Glaubens an ihm erfüllen können. So erhebt ein Mensch mithilfe kirchlicher Belehrung im Laufe seines Lebens die ihm in der Taufe lebenslang verpflichtend eingegossene fides implicita, also die pauschale Zustimmung zur kirchlichen Lehrverkündigung, zu dem ihm an seinem Lebensort und in seinem Lebensstand gemäßen Maß an fides explicita: Er eignet sich die Ätiologie der Kirche als der von Gott in Jesus Christus gestifteten Heils-, Lehr- und Rechtsanstalt aus denjenigen Heilsereignissen an, anlässlich derer die Kirche Feste feiert. Er lernt, dass er in die Sünde Adams verwickelt ist und dass er sich aus dieser tödlichen Verstrickung zu befreien vermag, wenn er denn tut, was Gott ihn mittels der Kirche lehrt, und wenn er sich dabei der Gnadenhilfen bedient, welche ihm Gott in der Kirche darreicht. Die Kirche bejaht, unterstützt und verstärkt seinen Willen, ewig selig zu werden, und sie hilft ihm lehrend und disziplinierend dabei, sein Leben so zu formen, dass es der Erfüllung dieses elementaren Verlangens förderlich ist. Und dabei kommt letztlich alles auf den Glauben an: Der Mensch muss glauben, dass jene in sich verwirrend vielfältige Institution ihm wirklich als Gottes vollmächtige Sachwalterin begegnet. Das alles ist einmal gänzlich unanschaulich – trotz aller Glaubenshilfen, welche erkenntnis- und lerntheoretische Gedankengänge sowie Mirakel- und Visionserzählungen⁵ bieten. Glaube ist sodann personal. Selbst wenn er sich inhaltlich dabei bescheidet, pauschal das zu glauben, was die Kirche glaubt, so ist doch auch das ein unerlässlicher und unvertretbar subjektiver Akt des Individuums. Drittens: Glaube ist, man denke an die elevierte Hostie in der Messe, wesentlich kontrafaktisch. Endlich: Glaube ist Vertrauen – das Vertrauen darauf, dass Gott seine Zusagen einhält – bei denen, die ihm das durch ihr Verhalten ermöglichen. Das alles bezeugt die Bibel, die Urkunde des Glaubens, welche die Kirche legitimiert, die ihrerseits das heilsame Verständnis des Gottesbuches eröffnet. So ist also ohne den Glauben alles nichts. Aber ebenso deutlich ist: Der Glaube ist nicht alles. Er muss sich in einer ihm entsprechenden Lebensführung bewahrheiten, welche die Vorschriften der wesentlich restriktiven Moral möglichst unverletzt lässt. Allfällige Verstöße müssen kompensiert werden, und zwar durch von der Kirche bezüglich ihrer Heilswirksamkeit approbierte und zertifizierte Gute Werke. Deren Pluriformität wird durch den Rekurs auf die frühchristliche Trias von Gebet, Fasten und Almosen strukturiert. Allesamt haben sie ihre heilsrelevante Besonderheit darin, dass der Mensch sie um seines Heils willen für Gott verrichtet, dass sie also aus seinem lebensweltlichen Pflichten- und Aufgabenkreis herausfallen. B) Martin Luther ist in diese Praxis und Theorie des Glaubens hineingewachsen. Als Professor hat er im höchstmöglichen Maße die fides implicita in die fides explicita

 Vgl. dazu Martin Ohst, „Glaube und Wunder“, in: Leibhaftes Personsein. Interdisziplinäre Perspektiven, hg.v. Elisabeth Gräb-Schmidt u. a., Leipzig 2015, 127– 142.

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überführt, und als Bettelmönch hat er sich den mit dem Glauben verknüpften Bedingungen zugleich mit dem Höchstmaß an subjektiver Anstrengung gestellt. Die immer weiter gesteigerte Quantität der Selbstkontrolle und des Selbstverzichts wollte allerdings nicht in die Qualität des Gewissensfriedens umschlagen. Stattdessen wurde ihm die ihn von Gott scheidende Willensdifferenz desto schärfer bewusst, je mehr er für Gott leistete, um von ihm etwas zu erlangen. Dieses Problem war subjektiv-individuell – deshalb konnte es eine innovative Lösung hervortreiben. Aber es war zugleich zeitalter- und standestypisch – andernfalls wären jene individuell errungenen und erarbeiteten innovativen Lösungen ja nicht anschlussfähig gewesen und hätten keine weit ausgreifenden Wirkungen entfalten können. Zunächst meinte Luther aus seinen Glaubens- und Lebensnöten den Schluss ziehen zu müssen, er gehöre zur Masse der von Gott um der in ihnen waltenden Adamssünde willen zur ewigen Strafe Verdammten. Aber im Medium des mit allen Instrumentarien damaliger Professionalität getriebenen Bibelstudiums erwuchs ihm eine neuartige Diagnose. Jenes ganze Gebäude der bedingten Heilszusagen, das ihm sein Glaube erschloss, stand auf einem morschen Fundament – nämlich auf der Grundannahme, dass der Mensch von Gott genau das erwarte, was der ihm auch geben wolle, nämlich die ewige Seligkeit, und damit dieses Ziel erreicht werde, könne und müsse er, der Mensch, ihm, nämlich Gott, soviel geben, wie in seinen Kräften stehe. Diese angeblich trotz des Bruchs der Sünde unverbrüchlich gegebene Willensübereinstimmung zwischen Mensch und Gott erschien ihm in neuem Licht als ihr eigenes genaues Gegenteil, nämlich als Wurzel aller sündhaften Überhebung, die den Menschen immer weiter von Gott entfernt, statt ihn Gott näherzubringen. Dieses Verhängnis ist dem Menschen als Sünder unerkennbar und unüberwindlich – es sei denn, dass Gott selbst am Menschen sein Gericht übt und ihn dessen innewerden lässt. Das Urbild dieses Gottesgerichts am Menschen ist der unschuldig leidende Gottmensch. Dessen Leiden ist stellvertretend, und zwar dergestalt, dass es Menschen zum Medium wird, durch welches sie des Gerichts verstehend innewerden, das Gott an ihnen selbst übt. War Gottes geschichtlich einmalige Selbsterschließung bislang verstanden worden als Stiftung eines Komplexes von Möglichkeitsbedingungen und Hilfen, bei dessen heilsamer Inanspruchnahme der je einzelne Mensch seinen unerlässlichen Eigenbeitrag, elementar und konstitutiv den Glauben, zu erbringen hat, so wird nun Gottes geschichtlich-einmalige Selbsterschließung zum Paradigma, gemäß dem Gott selbst schöpferisch an jedem einzelnen Menschen handelt, an dem er seinen ewigen Heilsratschluss in Raum und Zeit umsetzt. Es geht nicht mehr um ein sich Einfügen in ein kirchlich-sakramentales System der Belehrung und Kräftigung auf der Basis eines pauschalen Glaubensgehorsams, sondern um ein Handeln Gottes am Gewissen des je einzelnen menschlichen Subjekts. Und genau der Reflex dieses göttlichen Handelns am Gewissen ist die mit dem Gekreuzigten Gottes Zorn erleidende

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Buße und hierin zugleich der an den Gekreuzigten sich haltende Vergebungsglaube.⁶ Je genauer Luther dieses Zentrum seines neuartigen Wesensverständnisses der christlichen Religion durchdachte, desto klarer erschloss sich ihm, welche Faktoren hier wie miteinander kooperierten. Zunächst las er die Bibel als Sprach-und Verstehensmuster für das, was dem Menschen innerlich widerfährt, nach welchem Gottes Zorn- und Gnadengericht greift. Mit und seit dem Streit um Buße und Ablass trat ihm immer deutlicher vor Augen, dass die zum lebendigen Wort gewordene Geschichte Jesu Christi sich in menschlichen Kommunikationsakten in Menschen vergegenwärtigt und in Menschen die Buße und den Glauben wirkt: Wort und Geschichte Jesu werden nicht mehr als Ätiologie der Heilsanstalt „Kirche“ verstanden, sondern sie ereignen sich, vermittelt durch das aktualisierte biblische Wort, je neu im Glaubensleben eines jeden Christen.⁷ Und genau hier nun kommen charakteristische Elemente des paulinischen Glaubensverständnisses neu zur Geltung: Im Glauben übernimmt Jesus Christus selbst die Herrschaft im Menschen, nun allerdings nicht mehr als GeistKyrios, sondern in seiner Selbstvergegenwärtigung im Bibelwort: Glaube ist Sein in Christus bzw. das Sein und Leben Christi im Gläubigen. Besonders eindrücklich führt Luther das als Exeget natürlich da aus, wo der vorgegebene Textzusammenhang das nahegelegt. Der Gedanke kommt auch sonst allenthalben vor – so etwa in seiner wichtigsten theologischen Absage an das Papsttum: Christus ist nicht gekommen, „um uns bloß darüber zu belehren, wie man gut lebt. Sondern er hat das getan, damit er selbst in uns lebe und regiere und unser Herr sei, der in uns alle unsere Werke tut, was allein durch den Glauben an ihn geschieht“⁸. Wirkungsgeschichtlich sind natürlich die Auslegungen des II./III. Glaubensartikels in den Katechismen von überragender Bedeutung. Und von dieser neuartigen Leitintuition her werden die Reflexionsbegriffe, die Medien und Institutionen der gelebten christlichen Religion nun neuartig gewertet, gedeutet und geformt. Kaum irgendwo wird das so deutlich wie beim Glaubensbegriff: Bezeichnet dieser nach papstkirchlicher Lesart die freie, vom Heilswillen motivierte Annahme der kirchlichen Lehrverkündigung im Verstand, die durch vernünftige Argumente, aber auch durch den Verweis auf Lohn- und Strafmirakel unterstützt werden kann, so ist er nach dem allmählich Kontur gewinnenden evangelischen Verständnis der worthaft rechenschaftsfähige Widerschein des schöpferisch-souveränen, worthaften göttlichen Heilshandelns im und am mensch-

 Vgl. auch Martin Ohst, „Vom Leistungsprinzip zum Bildungsgedanken. Motive und Tendenzen in Martin Luthers Verständnis der Buße“, BThZ 34 (2017), 47– 72.  Am leichtesten ablesbar ist das an Luthers Auslegung des II. Glaubensartikels im Kleinen Katechismus; vgl. dazu die mustergültige Exegese und Auslegung von Claus-Dieter Osthövener, Erlösung. Transformationen einer Idee im 19. Jahrhundert, Tübingen 2004, 20 – 33. Auch Luthers in elementarisierender Absicht scheinbar ganz ungebrochen an zentrale Vorstellungskomplexe spätmittelalterlicher Volksfrömmigkeit anknüpfendes Lied „Nun freut euch, lieben Christen g‘mein…“ lädt zu vergleichbaren Beobachtungen ein.  Martin Luther [1521], Ad Librum Eximii Magistri Nostri, Magistri Ambrosii Catharini, Defensoris Silvestri Prieratis Acerrimi, Responsio, WA 7, Weimar 1897, 698 – 778, hier 726 – 727 (eigene Übersetzung).

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lichen Subjekt. Und weil das so ist, darum rechtfertigt er allein. Je schärfer Luther das alles durchreflektiert hat und je präziser er dabei die kategoriale Spannung von Gesetz und Evangelium als Leitkategorie bei der Deutung und Bewertung einer jeden Aussage über des Menschen Verhältnis zu Gott und Gottes Verhältnis zum Menschen betätigte,⁹ desto deutlicher wurde es: Die für das katholische Christentums- und Glaubensverständnis konstitutive Annahme einer pauschalen Gehorsamshaltung gegenüber dem Gesamtkomplex kirchlicher Lehrverkündigung, also einer fides informis, welche ihrem quantitativ steigerungsfähigen und -bedürftigen Inhalt nach (fides implicita – fides explicita) die ruhende Grundlage einer sich dann im zirkulär-spiralförmigen Wechselspiel menschlicher Bemühung und göttlicher Gnadenzuwendung emporsteigernden fides caritate formata bildet, ist in seinem Verständnis der christlichen Religion ein Fremdkörper, der ausgeschieden werden muss. Die konsequent durchreflektierte und angewandte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zersprengt gleichsam das Fundament eines dieser Differenz vorgelagerten bzw. übergeordneten „Wortes Gottes“: Die worthaften (sprachlichen, bildlichen, rituellen) Überlieferungsbestände der geschichtlichen christlichen Religion sprechen den Menschen nie neutral an, sondern immer entweder als Gesetz oder als Evangelium, besser: In, mit und unter diesen Überlieferungsbeständen spricht Gott den Menschen im Gesetz oder im Evangelium an. Besonders deutlich wird das daran, dass bestimmte prominente biblische Aussagezusammenhänge nach Luthers Deutung sowohl als Ausdrucksformen des Gesetzes als auch als Ausdrucksformen des Evangeliums vernommen werden können – je nachdem, wie ein Mensch sie vernimmt: Gesetz und Evangelium sind keine mechanisch-technisch handhabbaren, objektiven Gegebenheiten, sondern sie bezeichnen als Reflexionsbegriffe das dynamische Angeredetsein und Beanspruchtsein des Menschen in seinem Gewissen. Einen wider diese Basisdifferenz neutralen Grundbestand christlicher Glaubensüberzeugungen oder einen wider diese Differenz indifferenten ernsthaften Zugang zu diesem Überlieferungskomplex, also einen Glauben, der etwas anderes wäre als ein Angeredetsein durch Gott in der Forderung des Gesetzes oder in der Zusage des Evangeliums, gibt es nicht. Das führt zu einer bei oberflächlicher Betrachtung anstößigen Konsequenz: Eine Art des „Für-Wahr-Haltens“ traditioneller christlicher Sätze/Behauptungen, die diese Differenz negiert oder einebnet, damit implizit das Gesetz absolut setzt und dieses seiner wahren Heilsbedeutung, welche in seiner dienenden Zuordnung zum Evangelium liegt, beraubt, kann Luther als „gottlos“, als „atheistisch“ abqualifizieren – nicht etwa in einem allenfalls psychologisch erklär-

 Einschlägig sind hier die Thesen zur Promotions-Disputation von Nikolaus Medler und Hieronymus Weller, WA 39/I, Weimar 1926, 40 – 77 (bes. 44– 48), sowie insgesamt die Disputationen gegen die Antinomer. S. dazu die unveraltete Studie von Martin Schloemann, Natürliches und gepredigtes Gesetz bei Luther, Berlin 1961.

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baren polemischen Überschwang, sondern im vollen intellektuellen Ernst des theologischen Sachurteils.¹⁰ Der Glaubensbegriff verliert durch diese normative Zentrierung¹¹ an Weite seines Bezugsfeldes, und im Gegenzug gewinnt er an inhaltlicher Bestimmtheit, indem er auf das durch die Selbstvergegenwärtigung Jesu Christi im Evangelium gestiftete menschliche Gottesverhältnis konzentriert wird: Glaube in diesem streng gefassten Sinne ereignet sich nur da, wo ein menschliches Subjekt worthaft durch Jesus Christus im Evangelium angesprochen wird, und erst von hier aus können andere Spielarten des menschlichen Gottesverhältnisses nach ihrem Wahrheitsgehalt und nach dessen Grenze gewürdigt werden. Unter den Prämissen der Theologie Luthers ist diese inhaltliche Engführung des Glaubensbegriffs auf die Begegnung mit Jesus Christus als Evangelium ebenso zwingend wie seine Aufwertung zur Chiffre für das alleinige Sinnzentrum christlichen Lebens. Und unter papstkirchlichen Prämissen sind diese beiden Gedankengänge mit demselben Grad an zwingender Notwendigkeit unsinnig.

III. Bei diesem bloßen Gegeneinander konnte es in der Situation des 16. Jahrhunderts und angesichts der sich in ihr stellenden Aufgabe, die neue Situation des Widereinanders zweier wesensdifferenter Auffassungen der christlichen Religion kommunikativ zu fassen und zu bewältigen, nicht bleiben. A) Es war insbesondere¹² Philipp Melanchthon, der auch dem reformatorischen Verständnis des Glaubens eine begriffliche Gestalt gegeben hat, die es auch über die

 Vgl. Martin Ohst, „Atheismus – ein Begriff im Spannungsfeld der Konfessionen“, in: Gott – Götter – Götzen, hg.v. Christoph Schwöbel, Leipzig 2013, 83 – 105.  Ich verwende diesen von Berndt Hamm geprägten Begriff in diesem Zusammenhang etwas anders als Wolf-Friedrich Schäufele, „Fiducia bei Martin Luther“, in: Gottvertrauen. Die ökumenische Diskussion um die Fiducia, hg.v. Ingolf U. Dalferth / Simon Peng-Keller, Freiburg u. a. 2012, 163 – 181, hier: 181.  Selbstverständlich finden sich auch bei Luther solche Gedanken und Aussagen, die dem eigentlichen Heilsglauben eine im pauschalen Autoritätsglauben zu akzeptierende Grundschicht unterlegen; insbesondere ist hier natürlich auf seine verselbständigende Herauslösung der Bibel aus dem dreigliedrigen papstkirchlichen Auroritätenkomplex (Bibel, rechtgläubige Auslegungstradition, autoritativ auslegende und lehrende Kirche) zu verweisen; vgl. in Kürze Martin Ohst, „Luthers ‚Schriftprinzip‘“, in: Luther als Schriftausleger, hg.v. Hans Christian Knuth, Erlangen 2010, 21– 39. Dennoch war es Melanchthon, der, neben anderen Leitbegriffen reformatorischer Theologie, auch den des Glaubens so geformt hat, dass er in der entstehenden kontroverstheologischen Gesprächssituation durch Anknüpfung an herkömmliche, bei den Altgläubigen weiterhin unstrittig gültige Vorgaben überhaupt erst kommunikabel und diskutabel wurde – zumal bei solchen Gesprächspartnern, die, wie er selbst, der humanistischen Bildungsbewegung angehörten.

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sich erhebenden und verfestigenden Grenzen zwischen den Konfessionskulturen hinweg zumindest diskutabel gemacht hat.¹³ Er hat zu diesem Behufe den Versuch unternommen, das reformatorische Verständnis des Glaubens anschlussfähig zu machen an das bislang selbstverständlich gültige, welches den Glauben primär, grundlegend und durchgängig als die willensbestimmte Zustimmung zum Gesamtkomplex kirchlicher Heilsverkündigung und -lehre verstand. Er hat dieses Grundverständnis mit dem Ziel umgebaut und kontextualisiert, die These zu plausibilisieren, dass es genau der Glaube und nur der Glaube sei, was Gott vom Menschen zu dessen Heil fordere und was er ihm schenke: Deshalb sei der Glaube Kern und Wesen christlicher Existenz – eben dasjenige, was den Menschen allein rechtfertige. Seinen dogmatischen Ort hat Melanchthons Glaubensbegriff im übergeordneten Zusammenhang seiner Lehre von der Buße. Diese gibt Auskunft darüber, wie der in Sünde gefallene Mensch durch einen von Gott durch das äußere Wort und durch den Geist gestalteten Erziehungs- und Bildungsprozess zu seiner Wahrheit und zu seinem Heil geführt wird.

 Ich beziehe mich allein auf die Spätphase von Melanchthons Theologie. Als Hauptquelle benutze ich seine Loci in ihrer Letztgestalt, und zwar den Abschnitt De vocabulo fidei aus dem Locus De gratia et iustificatione (in: Philipp Melanchthon, Loci praecipui theologici von 1559 [2. Teil] und Definitiones, Melanchthons Werke in Auswahl II/2, hg.v. Hans Engelland, Gütersloh 1953, 360 – 371) und den kurzen Abschnitt über den Glauben in den angehängten Definitiones (786). Daneben greife ich zurück auf Philipp Melanchthon [postum 1561], Expositio Symboli Niceni, CR 23, hg.v. Heinrich Bindseil, Halle 1855, 449 – 461). Aus der älteren Literatur bleibt beachtlich Otto Ritschl, Dogmengeschichte des Protestantismus, Bd. II, Göttingen 1912, 226 – 274. Klaus Haendler, Wort und Glaube bei Melanchthon, Gütersloh 1968 präsentiert die Fülle des Materials und interpretiert sorgfältig. – Neuerdings hat Cornelia Richter, „Melanchthons fiducia. Gegen die Selbstmächtigkeit des Menschen“, in: Gottvertrauen. Die ökumenische Diskussion um die fiducia, hg.v. Ingolf U. Dalferth / Simon Peng-Keller, Freiburg u. a. 2012, 209 – 242, Melanchthons Glaubensbegriff, zentriert um die fiducia als „affektbestimmende[n] Affekt“ (214), mit großem Aufwand an moderner Begrifflichkeit und unter Rückgriff auf ganz unterschiedliche moderne Theorieperspektiven als gegenwärtig in besonderem Maße erschließungskräftig und tragfähig dargestellt: Wenn die Vernunft ihrer eingeschränkten Reichweite innewerde, dann bedeute dies für die Frage nach Gott: „Wir müssen die Tradition kennen, das Evangelium gehört haben, also schlicht wissen, dass es diesen Gott gibt“ (237). Dieser Akt der Kenntnisnahme entspreche der Funktion der notitia bei Melanchthon. Diese weist über sich selbst hinaus: Jeder Mensch muss sich „willentlich zur Annahme der Tradition entscheiden“ (238) – durch die „Bitte, glauben zu dürfen und zu können“ (238). „Drittens braucht es […] die fiducia, weil nur in ihr das Innerste zugänglich ist“, welche auf die notitia und den als performative Bewegtheit gedeuteten assensus aufbaut, sie aber erst zum Ziel bringt: „Ich muss diese Bewegung zu meiner Bewegtheit werden lassen“ (238). Noch sehr viel deutlicher als bei Melanchthon selbst wird hier die Nähe seines Ansatzes zur herkömmlichen katholischen Denkweise – die fiducia, die hier Gestalt gewinnt, ist doch letztlich nichts anders als die Zwillingsschwester der fides caritate formata. Sicher, der Vergleich mit Schleiermacher drängt sich hier auf (230, Anm. 45) – aber er dürfte, wie im Folgenden angedeutet wird, zu erheblich anderen Resultaten führen als zu denen, welche Richter vorschweben.

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Gott arbeitet am Menschen worthaft durch das Gesetz, das ihn fordernd als ethisch reflexionsfähiges, verstehendes Wesen anspricht. Gott führt den Menschen also zu gewissen Verstehensleistungen, die ihm die Einsicht in seine Sünde unausweichlich machen: Er wird durch das ihn worthaft in seinem Verstehensvermögen treffende Gesetz seiner Sünde und seiner Verlorenheit inne. Diese Einsicht bleibt jedoch unvollständig, solange Gott nicht noch anderweitig an ihm wirkt: Erst der Geist erschließt ihm die wahre Art und den wahren Grad seiner Verschuldung und Verlorenheit und führt ihn in die Reue. Die Reue wiederum schlägt dem Menschen nur dann nicht zur tödlichen Verzweiflung aus, wenn sie durch einen weiteren Umschwung abgefangen wird, in welchem der Mensch dessen innewird, dass ihm Gott allein um Christi willen und ohne jeden Leistungsbeitrag seinerseits seine Sünde vergibt und ihn zum Kind annimmt: Das ist die fiducia, der Heilsglaube. Der Glaube ist mitnichten ein Eigenbeitrag, den der Mensch erbringen muss, wenn er des Heilsertrags aus dem Werk Jesu Christi teilhaftig werden will, sondern er ist reines Empfangen, ὄργανον ληπτικὸν. Diese bewusste, bejahte Annahme des Geschenks der Kindschaft im Heilsglauben ist identisch mit dem Beginn einer dynamisch-umfassenden, unvollendbaren Lebenserneuerung, die jedoch in unumkehrbarem Gefälle reine Folge und schlechterdings in keiner Weise die Ursache der geschenkten Gotteskindschaft ist. Grundlage dieser dogmatischen Gesamtargumentation ist ein bestimmter objektiv gegebener Komplex von Heilswahrheiten, also von Tatsachenberichten bzw. -behauptungen und von Sätzen, welche diesen Propositionen allgemeine, die Beschränkungen des Ortes und der Zeit transzendierende Bedeutungen zuschreiben. Melanchthon kann diesen Gesamtkomplex promiscue als „omnes articuli fidei“¹⁴ oder „omne verbum Dei nobis traditum“¹⁵ bezeichnen. Aber er ist nicht nur Vorgabe der Argumentation, sondern er ist auch als stabile, in sich konstante Größe Voraussetzung und Basis des ganzen Prozesses der Heilsaneignung, den Melanchthon als „Buße“ beschreibt. Diesen Glauben hat ein Mensch schon, bevor ihn Gesetz und Geist in die Buße führen. Er bildet gleichsam den Boden, auf dem die Buße durch Evangelium und Geist in den Vergebungsglauben übergeht, und auf ihm geschieht dann auch der Prozess der Heiligung. Ohne diesen Glauben ist alles nichts, aber er ist nicht alles, und das zeigt: Hier ist nichts anderes gemeint als die hergebrachte fides implicita. Bei dieser geforderten Anerkennung ist immer schon, psychologisch gesprochen, ein gewisses Vertrauen vorausgesetzt, welches sich, mehr oder minder explizit, auf die Dokumente bzw. die Institutionen richtet, welche diese Wahrheiten enthalten und übermitteln. Und es liegt auf der Hand: Dieses Lehrstück steht letztlich erratisch da,

 Melanchthon 1561, 454 (Anm. 13).  Melanchthon 1559, 786 (Anm. 13).

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wenn ihm sein notwendiges Widerlager fehlt, nämlich die Doktrin von der unfehlbar lehrenden Kirche und ihrer Autorität.¹⁶ „Glaube“ ist für Melanchthon also nach seinem weitesten Verstande, der zugleich seine konstante Grundschicht darstellt, eine positiv konnotierte kognitive Haltung zu diesem Komplex von Tatsachen- und Geltungsbehauptungen. Hiermit ist eine wichtige Anknüpfung an Selbstverständlichkeiten vorreformatorischen Christentums gesichert. Entscheidend für das Verständnis alles Folgenden ist: Anders als bei Luther ist diese Variante des Glaubensbegriffs nicht eine überwindungsbedürftige Vorstufe, deren wahre Bedeutung und deren rein vorläufiger Wert sich überhaupt erst aus einer anderen, erneuerten Perspektive ermessen lässt, sondern diese Variante des Glaubensverständnisses ist die stabile Grundschicht, auf der Melanchthon gleichsam das reformatorische Verständnis des allein rechtfertigenden Heilsglaubens konstruiert. Er bewerkstelligt das durch Differenzierungen, die miteinander zu einem System aufeinander sich lagernder Schichten führen; er bringt es allerdings noch nicht zum Abschluss in einer verfestigten, kompendientauglichen Terminologie. Als gänzlich unstrittig qualifiziert Melanchthon die bloße zustimmende Kenntnisnahme der Tatsachenbehauptungen als solcher – etwa der Existenz des Einen Gottes sowie der Berichte von Jesu Christi Kreuzestod und seiner Auferstehung – diese Zustimmungsleistung wird ja nach Jak 2,19 auch von den Teufeln in der Hölle erbracht. Nun sind diese Tatsachen nicht als bruta facta von Belang, sondern mit ihnen sind Bedeutungszuschreibungen untrennbar verbunden. Die bloße Kenntnisnahme geht in Anerkennung über, sobald auch diese Urteile ratifiziert werden. Und jetzt folgt der für Melanchthon entscheidende Schritt, der nicht aus dem Bereich der Konsens-Kontinuität mit der Papstkirche heraus führen will, sondern lediglich auf dem gemeinsamen Boden zu einem anderen Standpunkt führen soll. Der reformatorische Glaubensbegriff, so die implizite These, zieht lediglich Konsequenzen, die im herkömmlichen Glaubensbegriff schon immer gelegen haben und nur nicht klar genug realisiert worden sind. Die geforderte Anerkennung erstreckt sich eben nicht nur allgemein auf den Bedeutungsgehalt der Tatsachen als auf die Formulierung eines Bedingungsgefüges, das sich dann realisiert, wenn ein Mensch seinerseits bestimmte Leistungen einbringt, sondern sie impliziert darüber hinaus die Bejahung einer an das Subjekt selbst persönlich ergehenden, unverbrüchlich festen Zusage: Wenn Paulus sagt: ‚Wir werden durch den Glauben gerechtfertigt‘, dann bezeichnet die Vokabel ‚Glaube‘ hier nicht allein die historische Kenntnis [scil. der Heilsgeschichte, M.O.], wie auch die Teufel die Geschichte und die Lehren kennen, sondern sie bedeutet die Zustimmung zu allen Glaubensartikeln, und unter diesen auch zu dem folgenden Artikel: ‚Ich glaube, dass die Vergebung der Sünden und das Ewige Leben nicht nur anderen gegeben werden, sondern auch mir‘. Mit

 Vgl. dazu Martin Ohst, „Aus den Kanondebatten in der Evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts“, in: Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion, hg.v. Eve-Marie Becker / Stefan Scholz, Berlin / Boston 2012, 39 – 70.

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dieser Zustimmung, mit welcher du glaubst, dir werde vergeben, wird das Herz aufgerichtet durch das Vertrauen auf die zugesagte Barmherzigkeit […] Es leuchtet im Verstand die Zustimmung, welche die Stimme des Evangeliums ergreift. ¹⁷

So weit, so eindeutig: Der unverbrüchlich geforderte Glaubensgehorsam schließt in sich die Forderung der persönlich zustimmenden, individualisierenden Aneignung der Zusage der Sündenvergebung um Christi willen. Aber dabei bleibt es nicht; ich wiederhole anknüpfend und füge dann das nächste Satzglied hinzu: „Es leuchtet im Verstand die Zustimmung, welche die Stimme des Evangeliums ergreift, und im Herzen das Vertrauen auf den Mittler und die Barmherzigkeit.“¹⁸ Hier liegt also ein Sprung vor, eine μετάβασις εἰς ἄλλο γένος. Melanchthon bewältigt das, indem er die Dichotomie der Schichten im Glaubensbegriff auf unterschiedliche Seelenvermögen bezieht; er drückt das so aus: Paulus loziere die Kenntnisnahme und die allgemeine Zustimmung zum Bedeutungsgehalt der Heiligen Geschichte „in potentia cogitante“¹⁹, die fiducia jedoch in den Willen, sie sei eine Bewegung „in corde et voluntate“²⁰. Wenngleich Melanchthon das gleich wieder einschränkt, indem er der Kenntnis und der Zustimmung bescheinigt, ihre Spezifika lägen darin, dass sie apprehensivae, also zugreifend, ergreifend seien, so bleibt doch der Hiat deutlich bestehen: Die als Gehorsamsleistung geforderte individualisierende Zu- und Aneignung der Heilsbedeutung der Lehre liegt auf einer spezifisch anderen Bewusstseinsbene als deren Anerkennung als eines allgemeingültigen Geflechts von Verheißungen und Möglichkeitsbedingungen. Diese allgemeine Anerkennung vermag der Mensch als gehorsame Erkenntnisleistung bzw. als Durchgang durch einen rational einsehbaren Lernprozess zu vollziehen. Das alles belässt ihn jedoch hinsichtlich seiner selbst bestenfalls in einem Schwebezustand der Ungewissheit, der ja im herkömmlichen Glaubensbegriff auch durchaus vorgesehen ist, weil er gerade die Motivationsinstanz zu einem Handeln bildet, welches sich der Gnade öffnet bzw. nach ihr sucht. Und der Weg aus dieser Ungewissheit in jene zwar geforderte, aber mit menschlichen Mitteln nicht erreichbare Gewissheit der persönlich-unvertretbaren fiducia, welche dann in die religiös-sittliche Erneuerung der Wiedergeburt bzw. der Heiligung übergeht, erfolgt durch einen qualitativen Sprung, nämlich durch die Wirkung des Heiligen Geistes. „Der Glaube ist sowohl Kenntnisnahme, und er ist eine Bewegung in Herz und Willen, die vom Heiligen Geist angestoßen wird. Durch sie wollen und empfangen wir gegenwärtig die Vergebung der Sünden, die Versöhnung und die Belebung, welche durch den Sohn und den Heiligen Geist geschieht“²¹.

 Melanchthon 1561, 454 (Anm. 13).  Melanchthon 1959, 786 (Anm. 13), Hervorhebungen M.O.; vgl. auch Melanchthon 1561, 456 (Anm. 13): Der Glaube ist „sowohl Zustimmung, welche die Verheißung annimmt, als auch Vertrauen, das in Gott um des Mittlers willen Ruhe findet“.  Melanchthon 1559, 786 (Anm. 13).  Melanchthon 1559, 786 (Anm. 13).  Melanchthon 1561, 456 (Anm. 13).

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Der Weg zur Gewissheit und zur Erneuerung führt eben nicht direkt über diesen rechenschaftsfähigen kommunikativen Prozesses, in welchen der Mensch einbezogen wird, weil und sofern die Dokumente der reflektierten, gedeuteten Gottesgeschichte ihn ins Gespräch ziehen, sondern durch einen von außen hinzukommenden Faktor: Der Geist vergegenwärtigt dem Einzelmenschen das Heilsgeschehen derart, dass dieser es als ihn ganz unmittelbar selbst betreffend und bestimmend anerkennt: Seine Sünde ist um Christi willen vergeben, darum nimmt er persönlich als Gerechtfertigter im Glauben die Anrechnung der Gerechtigkeit und die als Nichtanrechnung seiner Sünden verstandene Vergebung an, und zugleich nimmt ihn der Heilige Geist in Besitz, welcher das Werk seiner Erneuerung beginnt. Das geschichtlich-kommunikative Wirken des Evangeliums und die Geistesgabe sind so als mit- und beieinander geschehend gedacht, aber sie liegen nicht eigentlich ineinander. In dogmengeschichtlicher Langzeitperspektive zeigt sich die Wiederkehr eines Problems, das Augustin der abendländischen Theologie eingestiftet hat: Die Koinzidenz zwischen der Partizipation eines Menschen an den worthaft-geschichtlichen Heilsmitteln und dem unanschaulichen Wirken von Geist und Gnade wird zwar behauptet, aber nicht wirklich plausibilisiert. Nirgends ist das deutlicher ablesbar als an der allbekannten Formulierung des Augsburger Bekenntnisses: „Denn durch das Wort und die Sakramente wird der Heilige Geist geschenkt, welcher den Glauben bewirkt, wo und wann es Gott gefällt, und zwar bei denjenigen, welche das Evangelium hören“.²² Gegen die papstkirchliche These ist hiermit an der Behauptung festgehalten, dass es allein der Glaube ist, welcher das Heil schenkt. Und die Spezifik dieses Heilsglaubens ist deutlich abgehoben von der Kenntnis und Zustimmung zu einem religiösweltanschaulichen Überzeugungssystem, welche den Menschen im Innersten lässt, wie er immer schon ist. Damit wird einerseits dem papstkirchlichen Vorwurf gewehrt, die evangelische Lehre verheiße dem Menschen auf bloßes, müßiges Fürwahrhalten hin das Heil. Anderseits widerfährt jedoch genau dieser Haltung des Fürwahrhaltens eines Komplexes von Tatsachen- und Geltungsbehauptungen eine durchgängig positive Würdigung als für sich zwar ungenügende, zugleich jedoch auch unentbehrliche Vorstufe des eigentlichen Heilsglaubens, der seinerseits der ganze Wesenskern christlichen Lebens ist und zu seiner Vollständigkeit keiner weiteren Ergänzung bedarf: Die fides caritate formata ist ausgeschlossen, weil die caritas der fides als deren Folge zu- und nachgeordnet wird. Beibehalten bleibt die fides implicita, wenngleich deren heilsrelevante Aktivierung nun nicht mehr an das Widerspiel von göttlichen

 Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 71976, 58; CA V lat. in eigener dt. Übers. – Ein Seitenblick auf Luther zeigt kontrastierend, wie entschieden Melanchthon zwischen dem äußeren, geschichtlichen Wort, also der Gegenwärtigsetzung des geschichtlichen Jesus Christus, und dem eigentlich entscheidenden inneren Walten des Geistes distinguiert: „Zu erst vor allen wercken und dingen höret man das Wort Gottes, Darynn der geyst die wellt umb die sünde strafft, Joan. 16.Wenn die sünde erkennet ist, höret man von der gnade Christi. Im selben wort kompt der geyst, und gibt den glauben, wo und wilchem er will, Darnach geht an die tödtung und das creutz und die werck der liebe“ (Martin Luther [1525], Wider die himmlischen Propheten, WA 18, Weimar 1908, 37– 214, bes. 139).

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Gnadenangeboten und menschlichen Reaktionen, auf die weitere Gnadenangebote folgen, geknüpft wird, sondern rein an das göttliche Gnadengeschenk des Heilsglaubens im Geiste und mit ihm. Die von Melanchthon gegebenen Impulse wurden von der rechtgläubigen Theologie zu festen Lehrschemata verarbeitet, die den Glauben in der Begriffstrias von notitia, assensus und fiducia begrifflich fixierten. Diese Trias konnte sowohl als Stufenschema²³ gefasst werden als auch als das Bei- und Miteinander komplementärer Aspekte.²⁴ B) Der von Melanchthon begründeten schultheologischen Theorie des Glaubens stand allerdings noch eine ganz anders Verständnisweise zur Seite. Luther selbst hat auch schon zur Illustration seiner schöpferischen Neufassung des Glaubensbegriffs als subjektiver Reflex des worthaften Angeredetseins durch Jesus Christus auf jene Jesus-Mystik zurückgegriffen, deren Vorstellungs- und Gedankenmuster im Rückgriff auf und in Weiterführung von augustinischen Vorstellungsformen v. a. Bernhard von Clairvaux ausgebildet hatte.²⁵ Es kam in der Folgezeit zu einem Durchdringungsprozess in zwei Richtungen: Einerseits wurden jene mystischen Bilder und Formeln herausgelöst aus ihrem Ursprungszusammenhang, wo sie eine bestimmte Etappe im Aufstieg der Seele zum seligen Selbstverlust bei der Einkehr in ihren göttlichen Grund markiert hatten. Sie wurden gleichsam zweckentfremdet zum Ausdrucksmittel des ganz anders fundierten und ausgerichteten rechtfertigenden Christusglaubens. Aber anderseits ist auch die umgekehrte Richtung feststellbar: Die Bild- und Gedankenwelt der bernhardinischen Christus-Devotion widerstand dieser Instrumentalisierung und verschaffte der in ihr ursprünglich wirksamen aufstiegs- und vereinigungsmystischen

 Im Folgenden notiere ich hierfür Belege aus Johann Gerhard, Loci Theologici, Bd. III, hg.v. Eduard Preuß, Berlin 1865: „Sed ne quid supersit dubii, dicimus fidem justificantem esse in corde hominis, h.e. in animo tanquam proprio subjecto; hujus autem fidei esse duas partes, nempe notitiam cum assensu conjunctam, et fiduciam; respectu notitiae cum assensu conjunctae dicimus eam esse in intellectu, respectu fiduciae in voluntate, respectu utriusque in intellectu et voluntate simul, h.e. in corde sive animo hominis“ (365a-b). „Unus fidei actus non opponendus est alteri, cum eidem subordinetur, siquidem fiducia non fertur in rem incognitam, praerequirit igitur notitiam. […] Atqui nuda notitia DEO non placemus, cum hypocritae et impii quoque fidem historicam habeant, quos tamen DEO placere nemo dixerit“ (366a). „Fiduciam ex fide oriri concedimus, quo vero sensu id accipiendum sit, superius indicatum est. Ex notitia et assensu divinae promissionis oritur fiducia, sed ex eo tam non sequitur, fidem non esse fiduciam, quam si quis colligere velit: Deus novit suos [2. Tim 2,19; M.O]“ (367b).  Johann Friedrich König, Theologia positiva acroamatica (Rostock 1664), hg. u. übers. v. Andreas Stegmann, Tübingen 2006, 386: „§.894 Materia quasi ex qua sunt partes fidei materiales, quarum tres sunt: Notitia, Assensus, Fiducia. §. 895. Notitia est cognitio seu apprehensio intellectualis promissionis de gratuita peccatorum nostrorum remissione per Christum. §896. Assensus est judicium intellectus approbans, quo credimus promisso de gratuita nostri justificatione, inque eo simpliciter acquiescimus. §.897. Fiducia hic non accipitur pro παρρησίᾳ seu confidentia, orta ex meriti Christi receptione: haec enim fidem justificantem & justificationem demum sequitur: sed pro actu fidei justificantis, qua justificans est“.  Vgl. zum folgenden Martin Ohst, „Urheber und Zielbild wahren Menschseins: Jesus Christus in der Kirchengeschichte“, in: Jesus Christus, hg.v. Jens Schröter, Tübingen 2014, 119 – 179, hier 141– 161.

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Auffassung des Heilsweges Wirksamkeit und Geltung. Angebahnt wurde das alles im späten 16. Jahrhundert in der Erbauungsliteratur und in der aufblühenden Geistlichen Dichtung;²⁶ kirchen- und theologiegeschichtlich von besonderer Bedeutung waren die Wirkungen in den diesen vorbereitenden Bewegungen sowie im radikalen Pietismus selbst, dessen Erbe auch in der und durch die Herrnhuter Brüdergemeine weitergetragen und ausgebreitet wurde; die Jesus-Frömmigkeit des Grafen Zinzendorf und ihre Bedeutung darf man dabei keinesfalls allein an ihren oft und gern zitierten Bizarrerien bemessen.²⁷ C) In der Schultheologie indessen blieb für den Glaubensbegriff die von Melanchthon begründete Trias der Kategorien notitia-assensus-fiducia bestimmend.

 Hierzu grundlegend Winfried Zeller, „Einleitung“, in: Der Protestantismus des 17. Jahrhunderts, hg.v. Winfried Zeller, Bremen 1962 [Nachdruck Wuppertal 1988], XIII–LXVI. Zur Kritik an Zeller vgl. Walter Sparn, „Die Krise der Frömmigkeit und theologischer Reflex im nachreformatorischen Luthertum“, in: Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland, hg.v. Hans-Christoph Rublack, Gütersloh 1992, 54– 82.  Von epochaler forschungsgeschichtlicher Bedeutung sind trotz ihrer von dogmatischen Interessen (er selbst hätte wohl formuliert: Cupiditäten) geleiteten Werturteile die einschlägigen Arbeiten von Albrecht Ritschl, Geschichte des Pietismus, Bd. I, Bonn 1880, 36 – 61 („Katholizismus und Protestantismus“). Bd. II, Bonn 1884, 3 – 93 („Mystik in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts“), bes. 63 – 93 („Jesusliebe in Poesie und Prosa“). Bd. III, Bonn 1886, 404– 438 („Die Theologie Zinzendorf’s“). – Nachdem Albrecht Ritschl den Pietismus auch und gerade wegen seiner Anleihen bei den unterschiedlichen Spielarten der Mystik in geradezu denunziatorischer Weise der Abkehr von den Grundeinsichten der Reformation geziehen hatte, lockerten sich die hieraus resultierenden Erstarrungen in seinem und seiner Schüler Wirkungskreis erst allmählich (Horst Stephan, Der Pietismus als Träger des Fortschritts in Kirche, Theologie und allgemeiner Geistesbildung, Tübingen 1908). Unberührt blieben davon allerdings diejenigen abtrünnigen und aufmüpfigen Enkelschüler Ritschls, die als Protagonisten der Dialektischen Theologie zeitweilig eine prekäre Arbeits- und Kampfgemeinschaft bildeten. Eine als Generalabrechnung mit Schleiermacher gestaltete Extremposition vertrat hier Emil Brunner, Die Mystik und das Wort, Tübingen 1924. Der Mystik-Begriff wird inhaltlich restlos entkernt, und die übrig bleibende Hülle muss als Behältnis für alles Verderbliche herhalten. Der alledem gegenübergestellte und mit Bezugnahme auf die „Bibel“ und die „Reformatoren“ verstandene „Glaube“ bezieht sich strikt auf „Offenbarung“, „also Mitteilung eines wunderbaren, übernatürlichen Wissens von Gott und göttlichen Dingen“ und ist „nichts anderes als das Fürwahrhalten dieser göttlichen Mitteilungen im Gegensatz zu menschlicher Erfahrung und Verständigkeit“ (82, ähnlich steile Formulierungen auch 95 und 99 – 100). Die exaltierte Orthodoxie-Beschimpfung (100 – 101) wirkt demgegenüber rein willkürlich. In einem Aufsatz, der unvergleichlich viel mehr bietet als sein Titel verspricht, hat Emanuel Hirsch dann gezeigt, auf welchen verschlungenen Vermittlungswegen bestimmte Impulse Luthers gerade im radikalen Pietismus zur modifizierten Wirkung gelangen konnten: Emanuel Hirsch [1922], „Zum Verständnis Schwenckfelds“, in: ders., Lutherstudien, Bd. II, Gütersloh 1954, 35 – 67. Horst Stephans Schüler Martin Schmidt hat zu diesem Problemkreis gewichtige, unterschiedlich weit ausgreifende Detailstudien vorgelegt, die bequem greifbar sind: Martin Schmidt, Wiedergeburt und neuer Mensch, Witten 1969, darin v. a. „Speners Wiedergeburtslehre“ (169 – 194 mit fundierter Kritik an Hirsch), „Luthers Vorrede zum Römerbrief im Pietismus“ (299 – 330); zur Geschichte der Pietismusforschung und zu Schmidts eigener Stellung in ihr s. auch Martin Schmidt, „Epochen der Pietismusforschung“ (1978), in: Ders., Der Pietismus als theologische Erscheinung, hg.v. Kurt Aland, Göttingen 1984, 34– 83.

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Das gilt auch noch für deren aufgeklärte Transformationsgestalt. Auch hier kamen diese drei Begriffe nicht nur als Gegenstand der kritischen Selbstprofilierung in Betracht, sondern sie dienten formal auch weiterhin als Muster der eigenen Lehrbildung. Sehr schön lässt sich diese zwiefältige Verhaftung an das melanchthonische Lehrschema ablesen am Dogmatik-Lehrbuch Christoph Friedrich von Ammons²⁸, das Schleiermacher einst als Anfänger seinen ersten Dogmatik-Vorlesungen zugrunde legte.²⁹ Das Heil hat nach Ammon zwei Ursachen, nämlich die göttliche Vorherbestimmung und Berufung und den menschlichen Glauben. Die Prädestination, welche die Universalität der Berufung zum Glauben und zum Heil scheinbar einschränke, erklärt Ammon als Aufrichtung einer für alle Menschen offenen und einsichtigen Bedingungsordnung.³⁰ Glaube ist der freie Akt, mit dem der Mensch auf Gottes Berufung zu einem tugendhaften, der Glückseligkeit würdigen Leben antwortet.³¹ An Ammons grundlegenden Überlegungen zum Glaubensbegriff ist auffällig, wie geschickt er herkömmliche dogmatische Terminologie mit Fundamentalunterscheidungen aufgeklärten Denkens verbindet, nämlich mit der leibnizischen Unterscheidung zwischen reinen Vernunftwahrheiten und zufälligen Geschichtswahrheiten sowie der kantischen zwischen statutarischem Kirchenglauben und reinem Religionsglauben: Der Form nach wird der Glaube unterschieden in den Autoritätsglauben [fides informis], welcher auf fremdem Zeugnis beruht, sei es privat oder das öffentliche der ganzen Kirche, und in den Glauben der freien Überzeugung und Überlegung [fides formata, libera], welcher sich auf innere Beweisgründe stützt. Dem Inhalt nach wird er unterschieden in den historischen, der es mit einer äußerlichen Tatsache zu tun hat, und den vernünftigen, insbesondere den Religionsglauben, welcher auf Gott als den Gewährer des Höchsten Gutes blickt. Des letzteren Folge ist die fiducia, also derjenige Zustand des Gemütes, der seinen Ursprung in der Zustimmung [assensus] hat. Es macht also einen Kategorienfehler, wer die Begriffe des Glaubens und des Vertrauens [fiducia] vermischt.³²

 Ich benutze im folgenden Christoph Friedrich von Ammon, Summa Theologiae Christianae, Leipzig 1816. Ich zitiere das bisweilen nicht ganz einfache Latein in eigener deutscher Übersetzung; die den Text allenthalben durchziehenden meist biblischen Belege und Zitate lasse ich stillschweigend fort.  Vgl. Hans-Friedrich Traulsen, „Die Theologie Tochter der Religion. Zu Schleiermachers Auseinandersetzung mit der Dogmatik Christoph Friedrich von Ammons“, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, hg.v. Günter Meckenstock / Joachim Ringleben, Berlin / New York 1991, 51– 70, hier 52. Zu Ammons Profil und zu seiner Stellung in der zeitgenössischen theologischen Topographie vgl. Wilhelm Gaß, Geschichte der protestantischen Dogmatik, Bd. IV, Berlin 1867, 311– 319.324– 330.  Vgl. Ammon 1816, §§110 – 112; 205 – 210 (Anm. 28).  Vgl. Ammon 1816, §109; 203 – 204 (Anm. 28).  Ammon 1816, §113; 211 (Anm. 28).

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Einer bloßen Verwerfung des Autoritätsglaubens ist hier nicht das Wort geredet, aber er hat eben nur vorübergehende Bedeutung und weist in einer Stufenordnung über sich selbst hinaus, wie schon das Neue Testament bezeugt: Unleugbar hat Jesus öfters den Autoritätsglauben als Heilsbedingung gefordert. Dass dieser aber keinesfalls blinde Zustimmung [fides informis, implicita] sein darf, ergibt sich aus anderen Stellen des NT sowie daraus, dass er lehrt, der Glaube an ihn müsse alsbald in den Glauben an den Vater übergehen. Der vernünftige Glaube an Gott, der sich auf freie Überlegung stützt, wird im NT als einziger Quell der Tugend und des mit ihr verbundenen Heils erwiesen; insbesondere der gemischte Glaube, welcher Jesus, dem Sohne Gottes, und seiner Lehre gezollt wird. Den Unglauben hingegen beschreiben die heiligen Autoren allenthalben als Quell des Verderbens und des menschlichen Elends. Dennoch muss man sich mit aller Kraft hüten, das, was die heiligen Schriften über den moralischen Unglauben sagen, auf historische Skepsis [Ammon schreibt ἀπιστία; M.O.] oder historische Urteilsenthaltung [Ammon schreibt ἐποχή; M.O.] zu beziehen, welche nämlich, wenn sie von tauglichen Argumenten ausgehen, mit der Liebe zur Wahrheit und Tugend auf’s Glücklichste zusammenbestehen können.³³

Hieraus sei die gängige kirchliche Doktrin zum Thema entstanden: Auf diese und andere ähnliche Bibelstellen gestützt, hat man in der Kirche gelehrt: Der Glaube sei allgemein eine Überzeugung von Unsichtbarem, die derart fest sei, dass sie zur Grundlage unserer Hoffnung werde; der Glaube an Christus aber sei eine Haltung des Intellekts und des Willens, dasjenige auf sich anzuwenden, was in den Heiligen Schriften von Christus offenbart ist. Die Teile dieses Glaubens seien die Kenntnis dessen, was von Christus und seinem Verdienst zu glauben ist, und zwar die ausdrückliche, nicht bloß die implizite, die Zustimmung, d. h. das Urteil über die Wahrheit dessen, was die Heiligen Schriften über Christi Werk lehren, endlich das Vertrauen, d. h. derjenige Akt des Willens, in welchem er in Christus, dem Mittler, zur Ruhe gelangt und auf ihn, das heißt auf seinen Sühnetod, die Hoffnung auf Vergebung und ewige Seligkeit gründet. Die Erstursache des Glaubens ist der dreieinige Gott, die Instrumentalursache ist das Evangelium, die Zweckursache ist die Rechtfertigung der Menschen und das ewige Heil.³⁴

Ammon bemängelt hieran, dass die kategoriale Differenz unterbestimmt sei, welche zwischen Autoritäts- bzw. Geschichtsglauben und dem allein auf Einsicht basierten vernünftigen Gottvertrauen besteht: Wir bemängeln an dieser Lehre erstlich, dass sie die Unterschiede zwischen Wissen, Glauben und Meinen bzw. Aberglauben unerörtert lässt. Nach unserer Auffassung liegen diese darin, dass wir dasjenige, was wir wissen, aus der Erfahrung erheben, dasjenige aber, was wir glauben und hoffen, nur durch die einzige und wahre Vernunft, das aber, was wir meinen, ohne Vernunftgründe oder mit scheinbaren Vernunftgründen erschließen. Der wahre und feste Gottesglaube kann nur durch tiefschürfendes, ausdauerndes Nachdenken über die göttlichen Dinge angenommen, genährt und gepflegt werden, und er übertrifft selbst das Wissen an vernünftiger Festigkeit der Überzeugung. Höchst ehrwürdig ist uns deshalb der äußerliche Glaube, welcher sich auf die göttliche Autorität Jesu Christi stützt, so jedoch, dass er sich allmählich in den inneren Religionsglauben auflöst, welcher sich Gott als das höchste Beispiel der Weisheit und Güte zur

 Ammon 1816, §114; 212– 213 (Anm. 28).  Ammon 1816, §115; 213 – 214 (Anm. 28).

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Nacheiferung im Geiste vorsetzt, der also vom Sohne zum Vater aufsteigt und vom Vater zum Sohne zurückkehrt. Nicht in Wortklauberei und Silbenstecherei besteht der christliche Glaube, sondern in Wahrheit und Geist, welcher den inneren Menschen nährt und ihn befreit von den Fiktionen der Menschenmeinungen. Er flieht nicht das Licht, sondern er sucht es, um Werke hervorzubringen, welche der Wahrheit gemäß sind.³⁵

Anerkannt ist also, dass die geschichtlich vermittelte Begegnung mit dem geschichtlichen Jesus Christus hineingehört in die Werdegeschichte erfüllter Religion, in der ein Mensch angesichts Gottes und der Ewigkeit wahrhaft zu sich selbst findet. Allerdings markiert diese Begegnung auf diesem Wege lediglich eine Etappe und mitnichten das Ziel. Damit befindet sich Ammon in einer bei aller Gebrochenheit doch deutlich erkennbaren problemgeschichtlichen Kontinuitätslinie, die zu Melanchthons an herkömmliche Konsense anknüpfender argumentativer Fassung des reformatorischen Glaubensbegriffs zurückweist. Diese Kontinuitätslehre wird desto deutlicher, je genauer man sie im Kontrast zu Luthers Fassung des Glaubensbegriffs in ihrer innovativen Besonderheit und zu deren ebenfalls gebrochenen Fortwirkungen in den Jesusmystischen Traditionen evangelischer Frömmigkeitsgeschichte ins Auge fasst.

IV. Damit ist eine überblickshafte problemgeschichtliche Orientierungsskizze gegeben, in die nun Schleiermachers Glaubensbegriff nach einigen seiner Hauptbeziehungen eingezeichnet werden kann. Ich stütze mich dabei allein auf Schleiermachers Spätwerk, nämlich primär auf die Zweitauflage der Glaubenslehre ³⁶ und zur Illustration der hier aufzuweisenden gedanklichen Hauptlinien auf die fast gleichzeitig entstandenen und gedruckten Augustana-Predigten ³⁷. Seine allenthalben methodisch streng gehandhabte Pluralität der Perspektiven bestimmt auch seine Behandlung des Glaubensbegriffs. Daraus folgt nun allerdings nicht etwa eine Diffusion des Begriffs in eine Mehrzahl von Bedeutungsvarianten, sondern, ganz im Gegenteil, seine Präzisierung, die sich schon rein formal und dann auch inhaltlich vom Vorgehen anderer gleichzeitiger Dogmatiker abhebt.³⁸ Wie sie traktiert Schleiermacher den Glaubensbegriff nämlich auch zweimal, nämlich in den

 Ammon 1816, §116; 214– 215 (Anm. 28).  Ich zitiere den Text und die Seitenzahlen der Zweitauflage (Berlin 1830/31); so sind die Zitate sowohl in der Ausgabe von Redeker/Gerdes als auch in der von Rolf Schäfer ohne weiteres verifizierbar.  Hier zitiere ich den Text nach der zuverlässigen und vorzüglich kommentierten Ausgabe von Emanuel Hirsch (Friedrich Schleiermacher, Kleine Schriften und Predigten, Bd. III, Berlin 1969, 13 – 154), und zwar unter Angabe der Seitenzahlen des Originaldrucks (Berlin 1831).  Repräsentativ sein dürfte der Befund bei Karl Gottlieb Bretschneider, Systematische Entwicklung aller in der Dogmatik vorkommenden Begriffe, Leipzig 31825: §2; 8 – 26 bietet ein Sammelsurium der unterschiedlichsten religions- und erkenntnistheoretischen Glaubensbegriffe; ganz unabhängig davon sind dann die Angaben zum rechtfertigenden Glauben §109, 640 – 646.

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Prolegomena und in der Lehre von der Heilsaneignung. Bei Schleiermacher stehen beide Untersuchungsgänge trotz der deutlich hervorgehobenen Differenzen in ihrem wissenschaftstheoretischen Status in einem ganz lückenlosen wechselseitigen Verweisungszusammenhang. Diese Stringenz erreicht Schleiermacher durch eine rigorose Restriktion und Reduktion in der Beschränkung des Begriffs: In Schleiermachers Wesensbestimmung der Religion und der religiösen Gemeinschaft sucht man den Glaubensbegriff vergeblich, und dasselbe gilt für seine religionswissenschaftliche bzw. religionsgeschichtliche Einordnung der christlichen Religion. Dass Schleiermacher in diesem Zusammenhang von „Glaubensarten“ etc. redet, ist kein Gegenargument: Das sind ja nur deutschtümelnde Ersatzbildungen für den von Schleiermacher auch aus sachlichen Gründen als problematisch eingeschätzten Begriff „Religion“³⁹ und seine Composita. Weder gehört „Glaube“ zu denjenigen Begriffen, mittels derer der Ort der Religion im Gesamtzusammenhang menschlichen Geisteslebens zu bestimmen ist, noch lässt sich das Christentum im Rekurs auf diesen als generisch verwandt mit anderen Religionen erweisen. Vielmehr bezeichnet der Glaubensbegriff bei Schleiermacher exklusiv eine Konfiguration, die ausschließlich im Christentum, also im geschichtlichen Ausstrahlungsbereich Jesu Christi, möglich und wirklich ist. Und folgerichtig beginnt seine Einführung auch erst im Zuge der Wesensbestimmung des Christentums, und zwar nicht etwa als eines der Elemente, welche generische Gemeinsamkeiten mit den beiden anderen monotheistischen Religionen markieren, sondern gerade zur Bezeichnung von dessen irreduzibler Eigenart. Genau diese Fassung des Begriffs kann Schleiermacher eben nicht konstruieren, indem er einen allgemeinen religions- oder erkenntnistheoretischen Glaubensbegriff auf die christliche Religion anwendet, sondern er verfährt umgekehrt. Er beschreibt zunächst in anderer Terminologie eine spezifisch christliche Konfiguration religiösen Bewusstseins: Die Bedeutung Jesu Christi als „Erlöser“ für das Christentum ist eine qualitativ andere als die des Mose für das Judentum oder die Mohammeds für den Islam, und exakt durch diese Differenz ist die Rede von Jesus Christus als Religionsstifter spezifiziert: „Jesus ist nur auf die Weise Stifter einer frommen Gemeinschaft, als die Glieder derselben sich der Erlösung durch ihn bewußt werden“.⁴⁰ Und erst als Wechselbegriff zu der etwas blassen Formel „bewußt werden“ fügt sich nun genau die markante Einführung des Glaubensbegriffs im Leitsatz des § 14 in die Gedankenführung ein: „Es gibt keine andere Art, an der christlichen Gemeinschaft Anteil zu erhalten, als durch den Glauben an Jesus als den Erlöser“. „Glauben“ heißt also: Sich der Bedeutung Jesu als Erlöser bewusst werden,

 Vgl. Schleiermachers Angaben in der Erstauflage der Glaubenslehre Anmerkung zu §6 Leitsatz in: Friedrich Schleiermacher [1821/1822], Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, KGA I/7.1, hg.v. Hermann Peiter, Berlin / New York 1980, 20.  Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Bd. 1, Berlin 1830, §11,3; 79 (Hervorhebung M.O.).; vgl. auch §11,4; 80: „Die nähere Entwikklung dieses Sazes, wie nämlich durch Jesum die Erlösung bewirkt wird und in der christlichen Gemeinschaft zum Bewußtsein kommt, fällt der Glaubenslehre selbst anheim“.

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und der so verstandene Glaube, nichts als er, ist es wiederum, welcher eben genau dem Subjekt den Anteil an der Erlösung gewährt. Das Erschließungspotential und die kritische Stoßkraft dieser Definition bewährt Schleiermacher erstmals sofort innerhalb dieses Paragraphen: „Wunder“, „Weissagung“ und „Inspiration“, also Phänomene bzw. Behauptungen, die seit den Anfängen in immer neuen Variationen als Argumente für den christlichen Glauben in Anspruch genommen worden und immer mehr mit ihm selbst verwachsen sind, werden aus dem Bereich des eigentlichen Glaubens eliminiert, und es wird ihnen an dessen Rand ihr Ort angewiesen, nämlich als unter bestimmten, transitorischen Verständigungsbedingungen instrumentell nützlichen Hilfsargumenten. Dieser Paragraph vertritt auch die Stelle des in Schleiermachers Einleitung fehlenden Locus De scriptura sacra. Die Bibel wird allein als nota ecclesiae und medium salutis in der Ekklesiologie/Soteriologie traktiert, und dort ist der Gedankengang strukturanalog: Wie der Verweis auf Wunder, Weissagung und Inspiration nur demjenigen (unter bestimmten mentalen und weltanschaulichen Bedingungen) einleuchtet, der ohnehin schon in einem Glaubensverhältnis zu Jesus Christus steht, so verhält es sich auch mit dem Bibelkanon: „Das Ansehen der heiligen Schrift kann nicht den Glauben an Christus begründen, vielmehr muß dieser schon vorausgesezt werden um der heiligen Schrift ein besonderes Ansehen einzuräumen“.⁴¹ Und jedes derartige Ansehen der Schrift ist begrenzt durch die Einsicht, dass der Kanon ein Werk der sichtbaren Kirche ist, welche „immer dem Irrthum unterworfen ist“.⁴² Jener sich auf die Heilige Schrift in toto beziehungsweise auf die Summe aller Glaubensartikel richtende Autoritätsglaube, der bei Melanchthon und bei denjenigen, die in seinen Spuren wandelten, als notitia/ assensus nicht nur die Vorstufe, sondern auch die bleibende Grundlage des Heilsglaubens gebildet hatte, ist damit aus den Erörterungen über den Glaubensbegriff ausgeschieden – mitsamt der in ihm zwar verdeckt, aber darum nicht weniger bestimmend nachwirkenden Lehre von der fides implicita und der zu ihrer Plausibilisierung schlechterdings notwendigen Voraussetzung der unfehlbar lehrenden Kirche. Darin ist Schleiermacher mit Ammon durchaus einig. Aber einerseits greift seine Kritik hier schärfer und tiefer ein als die Ammons, der eine Art traditionalen Autoritätsglauben als Durchgangsstufe positiv zu würdigen weiß. Und anderseits hat seine thetische und exklusive Verknüpfung des Glaubens mit der Person Jesus Christus bei Ammon gar keine Entsprechung. Und genau hier liegt das bestimmende Schwergewicht seines Glaubensverständnisses. Schleiermachers Abkehr von all den gängigen auf Augustin zurückgehenden Definitionen des Glaubens im Spannungsfeld von Wissen und Meinen ist so konsequent, dass er sie nicht einmal mehr notiert oder kritisiert – ein Umstand, der gerade bei Schleiermacher besonders bemerkenswert ist, scheut er doch sonst keine Mühe und keinen gedanklichen Umweg, wenn es gilt, die

 Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Bd. 2, Berlin 1831, §128 L; 352.  Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, §149 L; 484 (Anm. 41).

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Anschlussfähigkeit seiner eigenen Lehrbildung an große Gestalten christlichen Denkens zu erproben und nachzuweisen.⁴³ Aber auch Schleiermachers Glaubensbegriff hat durchaus kognitiven Gehalt. Glaube ist nach Schleiermacher die sprachlich verfasste und damit kommunizierbare und reflektierbare Deutung von Erfahrung. Ausgangs- und Bezugspunkt ist der „Eindruck“, den jemand „von Christo empfängt“, eine personale Begegnung, die in demjenigen, welchem sie widerfährt, etwas auslöst: In ihm wird „ein Anfang, wenn auch nur ein unendlich kleiner, eine reale Ahndung, gesezt […] von der Aufhebung des Zustands der Erlösungsbedürftigkeit“.⁴⁴ Der Glaube nun ist genau derjenige kognitive Akt, in dem diese empfangene Einwirkung zum wachen Bewusstsein gelangt, und von demjenigen, welchem sie widerfährt, als Wirkung auf Christus als Ursache zurückgeführt wird. Der Glaube an Christus ist also, so Schleiermacher, „die Beziehung des Zustandes als Wirkung auf Christum als Ursache“.⁴⁵ In der Einleitung in die Glaubenslehre wird der Glaubensbegriff lediglich aus einer Außenperspektive fixiert: Einmal mit der Absicht, den Ort der christlichen Religion in der Welt der Religionen zu ermitteln, zum anderen bei der Unterscheidung zwischen festen, invarianten Leitkategorien für die Selbstdeutung der christlichen Religion und anderen Vorstellungen und Begriffen, welchen diese kategoriale Bedeutung nicht zukommt: Den Begriffen beziehungsweise Vorstellungen von Wunder, Weissagung und Inspiration spricht Schleiermacher jenen kategorialen Rang ab, und zwar dadurch, dass er sie dem exklusiv als Chiffre für die personale Christus-Beziehung definierten Glauben ein- und unterordnet. Entfaltet werden diese Andeutungen zum Glaubensbegriff dann erst in der materialen Dogmatik, die ihren Standpunkt nicht mehr „über dem Christenthum“,⁴⁶ sondern innerhalb seiner selbst, aus der Haltung der Teilhabe heraus hat und von hier

 Angesichts dieses Befundes wird das aus zwei Anselm-Zitaten zusammengefügte Motto, das Schleiermacher der Erst- und dann (unter Beibehaltung eines dicken Druckfehlers) auch der Zweitauflage der Glaubenslehre auf dem Titelblatt vorangestellt hat, vollends rätselhaft: Einmal ist ja hier genau jener von Augustin lern- und erkenntnistheoretisch durchreflektierte Begriff des Autoritätsglaubens leitend, welcher das Erkennen bedingt; zum andern lässt Anselm die Erfahrung durch den vorgängigen Glauben bedingt sein, während Schleiermacher diese Abfolge exakt umkehrt.  Schleiermacher 1830, § 14,1; 97. (Anm. 40).  Schleiermacher 1830, § 14,1; 97. (Anm. 40). In der IV. Augustana-Predigt entfaltet Schleiermacher diesen Gedanken vertiefend im Anschluss an Gal 2,20: „Der Glaube ist nur jenes seinem Einfluß sich hingeben; und er wäre also gar nicht, wenn Er ihn nicht hervorriefe. Weil er aber sich unser bemächtigen will, weil er diese Gewalt jetzt noch mittelbar eben so übt, wie er sie persönlich übte, als er auf Erden wandelte: so entsteht nun in denen, die sich diesem Einfluß hingeben, sein Leben. […] So entsteht und gedeiht sein Leben in uns; was hieran Werk ist und That, das ist sein, nur das Aufnehmen ist unser. Und dieses sich immer erneuernde Aufnehmen ist der Glaube, von dem Paulus sagt, daß er nun in ihm lebe, nachdem er mit Christo dem Gesetz gestorben ist“ (Schleiermacher 1831, AugustanaPredigten, 68 [Anm. 37]).  Friedrich Schleiermacher [1830], Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, KGA I/6, hg.v. Dirk Schmid, Berlin / New York 1998, §33. Vgl. auch Schleiermacher 1821/22, §6 L, 20 (Anm. 39).

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aus den in der Einleitung als Zentrum der Wesensbestimmung des Christentums konstruierten Erlösungsbegriff expliziert: Er wird in ein feines kategoriales Raster hinein entfaltet, und anhand dieses Rasters werden die überkommenen dogmatischen Stoffe von den großen Zusammenhängen herab bis ins kleinste, scheinbar abseitigste Detail hinein kritisch gesichtet, reorganisiert und gedeutet. Die Erlösung, von Schleiermacher dogmatisch bekanntlich mit der Schöpfung als Implikat des einen Göttlichen Ratschlusses koordiniert, hat ihr dynamisches Zentrum in Jesus Christus, in welchem sie Faktum⁴⁷ geworden ist – als Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur. Erlöser ist Christus insofern, als er, in Person selbst die proleptisch vollendete Erlösung, der mit ihm beginnenden Geschichtszeit die Gesamtdynamik der Erlösung eingestiftet hat, nämlich das von ihm gestiftete Gesamtleben. Dieses Gesamtleben ist nun mitnichten sein Stellvertreter, sein Vicarius in terris, sondern in ihm und mittels seiner wirkt Jesus Christus selbst in geschichtlich-personhafter Identität.⁴⁸ Diese Wirkung verläuft zwar in geschichtlichen Institutionen – Schrift/Verkündigung, Taufe, Abendmahl, Amt der Schlüssel –, aber diese sind eben Medien in des Wortes strengem Sinne: Mittels ihrer wirkt Christus selbst. Gerade hinsichtlich der Schrift hat Schleiermacher das in unübertrefflicher Deutlichkeit in einem Brief ausgedrückt: Lebt er [der Glaube; M.O.] schon, so ist er ja auch gegründet, und Christus weiset uns an keine Nahrung als an sich selbst. Entstanden muß er nicht sein aus der Schrift, weil es sonst in zwei Jahrhunderten keinen Glauben gegeben hätte; und also konnte er auch immer noch entstehen ohne Schrift. Feder und Tinte sind doch etwas zu Unwesentliches. Die Schrift ist nichts für sich,

 Als „Faktum“ gilt diese Aussage nur demjenigen, der selbst im Glauben angesprochen und beteiligt ist. Menschen, für die das nicht zutrifft, können lediglich jene Konfiguration religiösen Bewusstseins und deren Folgewirkungen als Fakten konstatieren und bewerten. Schleiermacher konstatiert also zwei Modi der Teilhabe an der Erlösung; einmal den persönlichen im individuellen Christusglauben, sodann den mittelbaren, der in einem gebildeten, reflektierten historischen Bewusstsein den Wert der christlichen Religion als Kulturfaktor anerkennt. Diesen zweiten Modus der Teilhabe hält er für defizient, wie er in der IV. Augustana-Predigt bezeugt: „Wenn ihr den Ursprung dessen, was ihr als euer Eigenthum in Anspruch nehmen wollt, verläugnet, werdet ihr auch bald nicht mehr haben, was ihr hattet; wenn ihr Bild und Überschrift [vgl. Mk 12,16 parr.] austilgt, werdet ihr bald selbst irre werden an dem Werth eurer Münze. Brecht den Zusammenhang mit Christo ab, so wird bald die Natur wie sie war zum Vorschein kommen; das reine Ziel werdet ihr nicht mehr erblikken, die Liebe wird zusammenschrumpfen, das Reich des Geistes wird in sich zerfallen“ (Schleiermacher 1831, Augustana-Predigten, 78 [Anm. 37]). Erhellend ist Hirschs Kommentar zur Stelle (359, Anm. 34). Seine hier vertretene Deutung revidiert stillschweigend seine Einschätzung, die er 1930 dargelegt hatte (Emanuel Hirsch, Fichtes, Schleiermachers und Hegels Verhältnis zur Reformation, Göttingen 1930, 40 – 46, besonders 45, Anm. 104).  Mit diesem Gedanken reproduziert Schleiermacher wohl unbewusst diejenige positive Einsicht Luthers, die für dessen Qualifikation des Papsttums als „Antichrist“ entscheidend war; einschlägig ist Luther 1521, 705 – 778 [Anm. 8]).

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sondern nur etwas als der fortlebende vor Augen gemalte Christus, der denn in der Schrift wie mündlich von sich selbst zeugt, und sein Zeugniß ist wahr. ⁴⁹

Weil er das tut, rekapituliert sich bei eines jeden Menschen „Aufgenommenwerden in die Lebensgemeinschaft Christi“⁵⁰ die ganze Erlösung am Orte des individuellen Subjekts.⁵¹ Das heißt: Ungeachtet aller geschichtlichen und kulturellen Differenzen geschieht beim Christwerden eines jeden Menschen wesentlich das gleiche wie bei den ersten Jüngern: „Wir müssen aber hier wieder an den Grundsaz erinnern, daß das ganze Verfahren in der Erlösung so wie es ohne Unterschied für alle Völker Juden oder Heiden dasselbe ist so auch für alle Zeiten, und daß die Selbigkeit der Erlösung und der christlichen Gemeinschaft gefährdet wäre, wenn unser Glaube einen andern Gehalt hätte, oder auf eine andere Weise entstände – denn dies zieht nothwendig jenes nach sich – als bei den ersten Jüngern“.⁵² Nach Schleiermacher müssen bekanntlich alle dogmatischen Sätze als Beschreibungen des christlich-frommen Selbstbewusstseins gefasst werden; deren Gehalte sind dann, auch um den Zusammenhang mit der Lehrüberlieferung in Freiheit zu wahren, in Aussagen über Beschaffenheiten der Welt und Eigenschaften Gottes zu transponieren. Auf diesen drei Argumentationsebenen entfaltet Schleiermacher auch seine Lehre von der Erlösung,⁵³ und vor allem auf der maßgeblichen Primärebene stellt sich das Hauptproblem, dessen Lösung Schleiermacher metaphorisch mit dem Verweis auf den Wendepunkt einer mathematischen Kurve anzeigt: Diskontinuität ist so zu denken, dass sie Kontinuität nicht abbricht, und Kontinuität ist so zu denken, dass innerhalb ihrer echte Diskontinuität Raum hat. Die Erlösung am Ort des individuellen Menschen, also der bestimmende Kern der Erlösungstheorie, kommt in der Glaubenslehre gemäß ihrem Charakter als einer kirchlichen Dogmatik nicht allein in Schleiermachers eigener Terminologie zur Sprache; also als „Wendepunkt […], an dem das frühere Leben gleichsam abbricht und das neue beginnt“.⁵⁴ Darüber hinaus entfaltet Schleiermacher seine Erlösungslehre eben auch noch im kritischen Anschluss an die herkömmliche theologische Ausdrucksweise. So gerät er in das völlig verwucherte Begriffsdickicht des ordo sa-

 Brief IV, 334 (9. April 1825 an Karl Heinrich Sack), Hervorhebung von mir.  Schleiermacher 1830, §106,2; 178 (Anm. 40).  Vgl. Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, §106,2; 178 – 179 (Anm. 41).  Vgl. Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, §108,5; 198 – 199 (Anm. 41) – Ob es Schleiermacher wohl bewusst war, dass er mit diesem lakonischen Satz, der die seit dem 2. Jhdt. immer neu und immer wieder beschworene formale Autorität des „Apostolischen“ klar und folgerichtig verneint, lediglich eines der tragenden Argumente Luthers aus seinem Kampf gegen den römischen Primat auf den Begriff brachte? In der Resolution zur 13. These zur Leipziger Disputation hat er der Primatsperikope (Mt 16) die Funktion der Ätiologie des Papsttums abgesprochen und sie stattdessen als Paradigma für alles Christwerden und -sein gedeutet; vgl. Ohst 2010, 37– 38 (Anm. 12).  Grundlegend hierzu Osthövener 2004, 58 – 107 (Anm. 7).  Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, §106,2; 179 (Anm. 41).

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lutis, ein dogmatisches Gelände, das Semler wenige Jahrzehnte zuvor zur Rodung ausgeschrieben hatte.⁵⁵ Schleiermacher gestaltet es nun in einfachen, klaren, wohlproportionierten Linien neu – gleichsam im dogmatischen Schinkel-Stil. Die beiden Hauptthemenfelder, die er von einander abgrenzt und aufeinander bezieht, sind die Wiedergeburt und die Heiligung, also der Beginn des neuen Lebens und die allmähliche Herausbildung von dessen lebenspraktischen Realisationsgestalten. Bei der Wiedergeburt unterscheidet er noch einmal den Aspekt der Änderung der Lebensform, also die Bekehrung, von der Änderung des Gottesverhältnisses, also der Rechtfertigung.⁵⁶ Die Auswahl und die Konfiguration der Leitbegriffe zeigen es unmissverständlich: Wir befinden uns hier in einer durch und durch pietistisch imprägnierten Sprach- und Gedankenwelt.⁵⁷ Wer das am reformatorischen Denken Wertvolle mit Formeln identifiziert, wird angewidert zurückzucken, und er wird sich vollends mit Grausen wenden, wenn er merkt, wo in Schleiermachers Ausführungen die Bestimmungen zum Glauben ihren primären Haftpunkt haben, nämlich nicht etwa bei der Rechtfertigung, sondern bei der Bekehrung, also dem „Uebergang“ eines einzelnen Menschen „aus dem Gesammtleben der Sündhaftigkeit zur Lebensgemeinschaft mit Christo“.⁵⁸ Hier nun ist allerdings der Glaube von zentraler Bedeutung, und was hierbei mit dem Glaubensbegriff selber geschieht, ist bemerkenswert. Sehen wir genauer hin. Schleiermacher bindet seine Ausführung eng an den in der Einleitung begrifflichformal ausgearbeiteten Begriff der Erlösung⁵⁹ zurück: Es geht um den Übergang des einen Lebenslaufes aus einer „Lebensform“⁶⁰ in eine andere. Die Differenz der hier thematischen Lebensformen liegt in dem Verhältnis zwischen den „Erregungen des Selbstbewußtseins, in welchen das Gottesbewußtsein mitgesezt war“ einerseits und denen, in welchen „das sinnliche Selbstbewußtsein“ dominiert. Und genau hier findet nun die Umkehrung statt: Die bislang lediglich transitorisch nebeneinspielenden Motive werden dominant und willensbestimmend, und das heißt auf der Sprachebene  Vgl. Gottfried Hornig, „Die Lehre von der Heilsordnung. Semlers Rezeption und Kritik des Halleschen Pietismus“, in: ders., Johann Salomo Semler. Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen, Tübingen 1996, 86 – 122.  Vgl. Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, §§106 – 107; 176 – 183 (Anm. 41). – Wie sorgfältig und feinfühlig hier Schleiermacher seine eigene Terminologie und die hergebrachte dogmatische Schulsprache aufeinander bezieht, ist bewunderungswürdig: Er bringt auf diese Weise die überkommene Terminologie in ihrer Differenziertheit zum Leuchten und stellt zugleich sowohl das konstruktive als auch das hermeneutisch-erschließende Potential seines eigenen Systementwurfs unter Beweis.  Es war vor allem Martin Schmidt, der in Detailstudien und in weit ausgreifenden Überblicken die Interdependenz zwischen frömmigkeits- und theologiegeschichtlichen Verschiebungen verständlich gemacht hat, die zu terminologischen Konfigurationen wie der hier von Schleiermacher entfalteten geführt hat; vgl. Martin Schmidt, „Der Pietismus als theologische Erscheinung“, in: Der Pietismus als theologische Erscheinung, hg.v. Kurt Aland, Göttingen 1984, 9 – 33.  Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, § 107,1; 180 (Anm. 41).  Vgl. Schleiermacher 1830, §11,2; 76 – 78 (Anm. 40).  Schleiermacher 1830, §11,2; 76 – 78 (Anm. 40). Vgl. Zum folgenden auch die luziden Bemerkungen von Korsch 2006, 188 – 191 (Anm. 1).

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der materialen Dogmatik: „Der Lebenszusammenhang mit Christo bringt eine Umwandlung dieses Verhältnisses beider Elemente hervor, und dies wird durch den Ausdrukk Bekehrung bezeichnet“.⁶¹ Das alles ist gesagt im Bezug auf das Selbstbewusstsein, sofern es sich im Übergang zur Tätigkeit befindet. Im ruhenden Selbstbewusstsein, sofern in ihm das Gottesbewusstsein mitgesetzt ist, findet eodem actu ein analoger Umschwung statt, nämlich die Rechtfertigung, und Rechtfertigung und Bekehrung sind die beiden Aspekte des „Aufgenommenwerden[s] in die Lebensgemeinschaft mit Christo“.⁶² Die Bekehrung als „Anfang des neuen Lebens in der Gemeinschaft mit Christo“ fasst Schleiermacher ihrerseits noch einmal wieder als lebendige Dialektik zweier Bewegungen, nämlich von Buße, die in Reue und Sinnesänderung besteht, und Glaube, nämlich der „Aneignung der Vollkommenheit und Seligkeit Christi“.⁶³ Die Bekehrung als punctum mathematicum, als Wendepunkt der Lebenskurve, markiert Zäsur und Übergang zwischen zwei Perioden, deren Unterschied in der Grundrichtung der Tätigkeiten liegt, welche beide erfüllen; sie ist also „eine zwiefache Untätigkeit in der Form eines Nichtmehrtätigseins in jener und Nochnichttätigseins in dieser“.⁶⁴ Genau in dieser Passivität wirkt die „Anschauung der Vollkommenheit Christi“⁶⁵ einerseits die Reue,⁶⁶ und unscheidbar von dieser bewirkt seine „sich mittheilende Vollkommenheit“ die „Entstehung des Glaubens“, und zwar „infolge seiner uns bewegenden Selbstdarstellung“.⁶⁷ Im Ausdruck „Selbstdarstellung“ wird man wohl in Abbreviatur Schleiermachers gesamte Theorie der Religion als Kommunikation, wie er sie zuerst in den „Reden“ und späterhin dann in der Christlichen Sitte als Theorie des Darstellenden Handelns ausgearbeitet hat, mithören und -lesen dürfen.⁶⁸ Mit dem hier ingressiv verstandenen Glauben beginnt also das „Sein in der Lebensgemeinschaft mit

 Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, §11,2; 76 – 78 (Anm. 40).  Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, §107 L; 180 (Anm. 41).  Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, §108 L; 183. (Anm. 41).  Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, §108, 2; 188 (Anm. 41).  Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, §108, 2; 189 (Anm. 41).  Hier liegt eine offenkundige Differenz jedenfalls zur Reifegestalt von Luthers Denken, wie sie etwa in den Antinomer-Disputationen dokumentiert ist, vor. Es wäre nun ein leichtes, Schleiermacher in eine Reihe von „Antinomern“ einzuordnen, die bei Johann Agricola beginnt und sich dann über Albrecht Ritschl bis zu dessen berühmtestem rebellischen Enkelschüler hinzieht. Gewonnen wäre damit allerdings nichts. Stattdessen ist auf ein Forschungsdesiderat hinzuweisen: Mir jedenfalls ist keine Untersuchung zu Schleiermachers Begriff des Gesetzes bekannt. Eine solche müsste ihren Ausgang wohl bei den „Grundlinien“ nehmen und dann den Entfaltungen in der Philosophischen Ethik folgen, wo die Akademieabhandlung über den Unterschied von Natur- und Sittengesetz (1825) einen Knotenpunkt markiert. Vor diesem Hintergrund wären dann die III. Augustana-Predigt und die einschlägigen Passagen der Glaubenslehre zu deuten. Und erst wenn das alles geschehen wäre, könnte man sich der Aufgabe nähern, den Standort von Schleiermachers Stellungnahmen in weiteren geschichtlichen Zusammenhängen zu bestimmen.  Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, §108,2; 189. (Anm. 41).  Vgl. Martina Kumlehn, Symbolisierendes Handeln, Gütersloh 1999.

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Christo“,⁶⁹ und zwar „weil wir uns dabei nicht anders verhalten können als die menschliche Natur Christi sich in dem Act der Vereinigung verhielt mit dem ruhenden Bewußtsein des Aufgenommenseins“,⁷⁰ welches in den Willen übergeht. So geht der Glaube aus dem Moment der Ingression in den Zustand der Duration über – als „bleibende[r] Grundzustand des neuen Lebens“⁷¹ stiftet er dem neuen Leben seine spezifische Leittendenz ein, die Heiligung, welche Schleiermacher, nebenbei bemerkt, in einem von pietistischen Bedenklichkeiten ganz freien Sinne als progressives Verstehen und Durchdringen der gegebenen Tätigkeit im Beruf beziehungsweise in der Vielzahl der Berufe als Arbeit im Reiche Gottes versteht.⁷² Gerade wenn man den tiefen, materialiter unvermittelbaren Differenzen der Gedankenwelten nichts abmarktet, stechen die intentionalen Gemeinsamkeiten mit dem Sermon von den Guten Werken ins Auge: Dort verwendet Luther in einer gegenüber der seelsorgerlichen und katechetischen Auslegungstradition⁷³ völlig neuartigen Weise den Dekalog als Übersichtskarte zur Erschließung der naturwüchsig-geschichtlichen sozialen Lebenswelt als des Ortes, an welchem dem Glaube Gottes Wille begegnet. Und wenn man liest, wie der Güterethiker Schleiermacher dem asketischen Denken eine sehr begrenzte, lebensphasenspezifische Berechtigung einräumt,⁷⁴ dann ist es kaum möglich, nicht an Luthers Ausführungen über die Zeremonien im Freiheitstraktat ⁷⁵ zu denken. Aber kehren wir zu seinem Glaubensverständnis selbst zurück, das sich aus seiner Theorie der Bekehrung am besten erheben lässt. Es wird in der Argumentation immer wieder deutlich, dass er hier nicht nur an und mit bloßen Begriffen arbeitet, sondern dass er Lebenskonzeptionen und Lebenskonfigurationen anspricht. Er gibt zu erkennen, dass ihm eine Lebenswelt vor Augen steht, die sprachlich, symbolisch und rituell christlich geprägt ist, und dass Menschen in diese Lebenswelt mit einem hohen Grad an Selbstverständlichkeit hineinwachsen. Als Folgewirkung der Erlösung, als Ausstrahlungen des in Christus entstehenden und bestehenden neuen Gesamtlebens achtet Schleiermacher die von christlichen Überlieferungen und Impulsen bestimmte Kultur mitnichten gering. Aber in der spezifischen Perspektive der intellektuellen Selbstbeschreibung und -durchdringung der christlichen Religion ist das alles nur vorläufig. Und so okkupiert

 Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, §108,2; 189 (Anm. 41).  Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, §108,2; 189 – 190 (Anm. 41).  Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, § 108,1; 187. (Anm. 41).  Vgl. Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, §111,4; 241 (Anm. 41); vgl. auch §111,4; 248.  Man versteht von Luthers in weitestem Sinne katechetischen Texten rein gar nichts, solange man nicht wahrnimmt, wie er auf Schritt und Tritt souverän-spielerisch Sprach- und Denkmuster der reichen damaligen katechetischen Tradition aufnimmt – in Anknüpfung und Widerspruch, auch travestierend, parodierend und persiflierend. Unentbehrlich bleibt daher Johannes Meyer, Historischer Kommentar zu Luthers Kleinem Katechismus, Gütersloh 1929; dort zum Dekalog 151– 256.  Vgl. Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, §112,4; 248 – 249 (Anm. 41).  Vgl. Martin Luther [1520], Epistola Lutheriana ad Leonem Decimum summum pontificem. Tractatus de libertate Christiana, WA 7, Weimar 1897, 39 – 73, hier 71– 72 (lat. Version).

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Schleiermacher hierfür den altehrwürdigen Begriff der gratia praeveniens;⁷⁶ sein souverän-ironischer Umgang mit den augustinisch-scholastischen Zerspaltungen des Gnadenbegriffs wäre einen längeren Seitenblick wert, den ich mir hier versagen muss. Fluchtpunkt aller Überlegungen ist, dass persönlich-individuelles Christsein, die Teilhabe an der Erlösung und das Werden zur Person im Reiche Gottes, nur demjenigen beschieden sei, der in seinem persönlichen Leben die Erlösung rekapituliert, also die Wiedergeburt, in der der Glaube entsteht, durchlebt, denn andernfalls gehören auch solche Handlungen, die denen der Wiedergeborenen äußerlich ununterscheidbar gleichen mögen, „nicht dem eigenen Leben des Handelnden [an], sondern einem fremden Leben welches sich in ihm kräftig erweiset“.⁷⁷ Zwei Grenzpunkte markiert Schleiermacher, nämlich einmal die Annahme, ein Christ müsse ein punktuelles, datierbares Erlebnis von Bußkampf und Wiedergeburt vorweisen können,⁷⁸ auf der anderen Seite die Meinung, ein in eine christliche Kulturwelt Hineingeborener wachse zwangsläufig, quasi automatisch in den Zustand des Erlöstseins hinein.⁷⁹ Zwischen diesen Extremen spannt er ein feinmaschiges Netz von Überlegungen aus, die die essentielle Notwendigkeit jenes Überganges näher begründen und zugleich darlegen, dass dieser Übergang selber sich in der unübersehbaren Fülle seiner lebensgeschichtlichen Gestaltungen jedem klassifizierenden Zugriff entzieht, zumal, weil die Wirkungen der gratia praeveniens und die der Wiedergeburt ihrem äußeren Bestande nach ununterscheidbar sind. Diejenigen Faktoren, welche die Wiedergeburt herbeiführen und den Glauben im Subjekt hervorbringen müssen, Schleiermachers christentumstheoretischem Grundansatz zufolge, bei jedem Christen genau diejenigen sein, die schon die ersten Jünger zum Glauben gebracht haben. Bei diesen entstanden Bekehrung und Glaube „durch das Wort im weiteren Sinn, d. h. durch die gesammte prophetische Thätigkeit Christi“.⁸⁰ Und genauso verhält es sich auch hier und heute: „Nur daß die Selbstdarstellung Christi jezt vermittelt ist durch diejenigen, welche ihn verkündigen; da aber diese ihm als seine Organe angeeignet sind, mithin die Thätigkeit von ihm ausgeht, so ist sie immer wesentlich die seinige“;⁸¹ und das kann Schleiermacher noch einmal verstärken: Die Wirksamkeit Christi ist also hier nur in der menschlichen Mittheilung des Wortes, aber nur in der dieser, sofern sie das Wort Christi fortbewegt, einwohnenden göttlichen Kraft Christi selbst, wobei es aber vollkommen der Wahrheit gemäß ist, wenn dem Bewußtsein des in der Bekehrung Begriffenen jede menschliche Zwischenwirkung verschwindet, und Christus sich ihm ganz in

     

Vgl. Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, §108, 2; 191. (Anm. 41). Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, §110,2; 224. (Anm. 41). Vgl. Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, §108,3; 193 – 196. (Anm. 41). Vgl. Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, §108,4; 196 – 197(Anm. 41). Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, §108,5; 199 (Anm. 41). Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, §108,5; 199 (Anm. 41).

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seiner erlösenden und versöhnenden Tätigkeit von der prophetischen bis zu der königlichen, welche von ihm Besiz ergreift, unmittelbar vergegenwärtigt.⁸²

Schleiermacher bemüht sich also deutlich, das Zum-Glauben-Kommen eines Menschen gerade als das Ergebnis der – freilich geschichtlich vermittelten – Begegnung mit dem Menschen Jesus Christus zu verstehen. Anders als Melanchthon, der den Sprung vom pauschalen, auf die „Schrift“ oder auf „die Glaubensartikel“ gerichteten Autoritätsglauben in die fiducia nur durch den Rekurs auf das von allen geschichtlichen Vermittlungen letztlich, wie bei Augustin, unabhängige Wirken des Heiligen Geistes plausibilisieren konnte, versperrt Schleiermacher sich und seinen Lesern diesen Nebenweg ausdrücklich: In den ersten Jüngern nun wurde beides [Wiedergeburt und Rechtfertigung; M.O.] durch das Wort im, weiteren Sinn, d. h. durch die gesammte prophetische Thätigkeit Christi; und wir müssen also dieses gemeinschaftliche als solches eben so gut verstehen können, vorläufig auch ohne die Lehre von dem heiligen Geist, wie auch die Jünger ihren eignen Zustand ohne dieselbe verstanden.⁸³

Schleiermacher hat sich vom Hallischen Pietismus, wie wir kurz gestreift haben, in der Lehre vom Bußkampf deutlich abgesetzt. Noch in einer anderen Frage geht er in unserem Zusammenhang zum Hallischen Pietismus und vor allem auch zum Neupietismus, wie ihn unter seinen Augen etwa August Tholuck inszenierte und propagierte,⁸⁴ auf Distanz und rückt dafür, allerdings wohl unbewusst,⁸⁵ Luther näher: Der Glaube ist kein spontanes Ja zu einem göttlichen Angebot. Er ist keine von Gott dem Menschen gnadenhaft eröffnete Option, die dieser im Gebrauch seiner unveräußerlichen Freiheit realisieren oder vernachlässigen kann.Wenn er das nicht ist – was ist er dann, und wie kommt er dennoch zustande? Ich kann mich hier kurz fassen, denn Sabine Schmidtke hat jüngst jenem Begriff der „lebendigen Empfänglichkeit“, den Schleiermacher ausgearbeitet hat, um seinen strengen Prädestinatianismus und sein

 Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, §108,5; 202 (Anm. 41).  Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, §108,5; 199 (Anm. 41).  Vgl. zum zeitgeschichtlichen Kontext Martin Ohst, „Bemerkungen zu den Erweckungsbewegungen in Berlin und Pommern“, Blätter für deutsche Landesgeschichte 144 (2008), 269 – 291. August Neander, als Student in Halle Schleiermachers enthusiastischer Schüler und seit 1813 in respektvoller wechselseitiger Distanz als Kollege in Berlin neben ihm wirkend, hat in einem Rückblick die neupietistischen Vorbehalte gegen Schleiermacher wegen dessen „Pantheismus“ und „Determinismus“ knapp und eindrücklich auf den Begriff gebracht: August Neander [1850], „Das verflossene halbe Jahrhundert in seinem Verhältniß zur Gegenwart“, in: August Neander, Wissenschaftliche Abhandlungen, hg.v. Justus Ludwig Jacobi, Berlin 1851, 215 – 268, hier: 241– 243.  Die hier primär einschlägige Abhandlung Über die Lehre von der Erwählung; besonders in Beziehung auf Herrn Dr. Bretschneiders Aphorismen (KGA I/10, hg.v. Hans Friedrich Traulsen, Berlin 1990, 147– 222) gibt jedenfalls nirgends zu erkennen, dass Schleiermacher die Differenz bewusst war, die in dieser Frage zwischen Luther und derjenigen lutherischen Lehrform bestand, an welche sich Bretschneider angeschlossen hatte.

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Festhalten an der inneren Konstanz der sprachlich-vernünftigen Persönlichkeit beieinander zu halten, ihre gründliche Monographie gewidmet.⁸⁶ Schleiermacher war sich durchaus dessen bewusst, dass er mit seiner Füllung und Verwendung des Glaubensbegriffs weit von den ausgetretenen Pfaden dogmatischen Denkens abwich, und er räumte ein, die „Verschiedenheit des Sprachgebrauchs“ sei „unangenehm“.⁸⁷ Dennoch blieb er auf dem einmal eingeschlagenen Kurs und füllte den Glaubensbegriff mit einem neuartigen Inhalt. Er verabschiedete die seit Augustin mit dem Glaubensbegriff verbundenen Erkenntnis- und lerntheoretischen Erwägungen aus der Dogmatik und reservierte den Terminus „Glaube“ stattdessen exklusiv für die geschichtlich vermittelte Christus-Beziehung des einzelnen Menschen. Zwei argumentationsstrategische Begründungen gab er hierfür: Einerseits sei „der Ausdrukk unter uns völlig einheimisch geworden […] als Übersezung des Wortes, wodurch die Ursprache der Schrift den Gemüthszustand des Menschen bezeichnet, welcher sich in der Gemeinschaft Christi zufriedengestellt und kräftig fühlt; andrerseits aber [habe er] im Streit gegen die Werkthätigkeit der römischen Kirche einen neuen geschichtlichen Werth für uns gefunden“.⁸⁸ Die erste dieser Begründungsfiguren steht in dieser Pauschalität, wie eingangs gezeigt, auf ganz schwachen Füßen. Umso wichtiger ist die zweite. Klarer und deutlicher, als es ihm bewusst gewesen sein dürfte, hat Schleiermacher in seiner Neufassung des Glaubensbegriffs ein innovatives Element des Christentumsverständnisses Martin Luthers zu neuer Wirkung gebracht. Ob Schleiermachers von Emanuel Hirsch⁸⁹ vermutete Kenntnis von Luthers Galater-Auslegungen ihm hier die entscheidenden Impulse gegeben hat, dürfte kaum zu ermitteln sein. Vermittlungen durch die Sprachwelt der Mystik, die ja als radikalpietistisches Erbe in der Herrnhuter Brüdergemeine besonders gepflegt wurde, müssen sicher auch in Betracht gezogen werden. Das mag an dieser Stelle als biographisch-genetische Problemanzeige genügen; sicher ist so viel: Mit seiner Ausscheidung des augustinisch-scholastischen Glaubensbegriffs und dessen melanchthonischer Ersatzbildung aus der Dogmatik hat Schleiermacher einen spezifisch innovativen Zug von Luthers Glaubensverständnis auf neuartige Weise zur Wirkung gebracht.⁹⁰ Und der hat damit etwas getan, was exakt

 Sabine Schmidtke, Schleiermachers Lehre von Wiedergeburt und Heiligkeit, Tübingen 2015.  Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, §108,1; 187 (Anm. 41).  Schleiermacher 1831, Glaubenslehre, §108,1; 188 (Anm. 41).  Vgl. Schleiermacher 1831, Augustana-Predigten, 357, Anm. 28 (Anm. 37). Schleiermacher hat Luthers Großen Gal-Kommentar sogar einmal mit Emphase zitiert, nämlich zu Beginn seines Sendschreibens an Bretschneider über die Erwählungslehre (vgl. Schleiermacher 1990, 153 [Anm. 85]).  Der folgende Satz eines renommierten Kirchenhistorikers ist doch wohl als kirchen- und theologiepolitischer Winkelzug im beginnenden Kampf um die Deutungshoheit über das zu Ende gehende Reformationsjubiläum zu verstehen: „Dass Luther 1517 und in den Jahren danach stark durch das vertiefte Nachdenken über die Sakramente der Taufe, der Buße und des Abendmahls zu seiner besonderen Konzentration auf das Wort Gottes gekommen ist, das in Form mündlich zugesprochener biblischer Sätze Menschen ins Herz trifft, verbindet den Wittenberger Theologieprofessor eher mit dem

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im Duktus seiner Reformationsdeutung liegt: Er hat einer reformatorische Innovation gegen zeitgeschichtlich-kontextuelle unabdingbare Einhegungen, welche sie nicht hatten, zur vollen Wirksamkeit hatten gelangen lassen, zur Durchsetzung verholfen und damit sein oft zitiertes Motto „Die Reformation geht noch fort“⁹¹ tathaft interpretiert, denn die Reformatoren waren „Theologen wie wir; und wir haben denselben Beruf Reformatoren zu seyn wie sie, wenn und so weit es nöthig ist und wenn und so weit wir uns geltend machen“.⁹²

katholischen Kirchenvater Augustinus als mit gegenwärtig beliebten protestantischen Theologen des neunzehnten Jahrhunderts“ (Christoph Markschies, „Lebendiges Licht.Was das Reformationsjubiläum 2017 war – und was aus ihm werden muss“, in: FAZ 252 (2017), 7).  Friedrich Schleiermacher [1827], Gespräch zweier selbst überlegender Christen über die Schrift: Luther in Bezug auf die neue preußische Agende, KGA I/9, hg.v. Günther Meckenstock, Berlin / New York 2000, 381– 472, hier 471.  Friedrich Schleiermacher [1830/31], Sendschreiben an von Cölln und Schulz, KGA I/10, hg.v. Hans Friedrich Traulsen, Berlin 1990, 395 – 428, hier 410.

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A few years ago, I visited the library of the renowned early twentieth-century Swedish bishop, Lutheran theologian and scholar of religion, Nathan Söderblom. There were three large rooms in the library; books were arranged in alphabetical order. In the smaller room on the right side of the entrance stood his desk. Books lined the shelves on the desk’s far side. These books were written by authors whose last names began with the final letters of the alphabet. On one of the upper shelves, the letter S. I took a ladder and climbed up to find the volume I was looking for: Schleiermacher’s Speeches on Religion. The version I found was Rudolf Otto’s reprint of the original 1799 edition, published to celebrate its one-hundredth anniversary in 1899.¹ As I took the volume off the shelf, a sheet of paper fell out – an invitation by the publisher for a review. Why did the Swedish bishop have a copy of Schleiermacher’s Speeches in his Uppsala library? In his book from 1916, The Development of the Belief in God, Söderblom appreciates Schleiermacher’s “deep faith in God” and assigns to him a “place of honor in the history of religions”.² Even earlier, Söderblom explicitly used the Speeches as basis for his inaugural lecture at the University of Uppsala, “The Significance of Schleiermacher’s ‘Speeches on Religion’: A Contribution to the Centenary.”³ Was Söderblom alone in his appreciation of Schleiermacher’s theory of religion for his own thought or did he represent an intellectual current that signaled the importance of Schleiermacher for the modern study of religion at its early twentieth-century origins? The historical topic I address in this essay has to do with the reception of Schleiermacher by a particular group of Lutheran theologians working at the turn of the twentieth century in Germany and in the Nordic countries. Gathered together in an intellectual movement known as the Luther Renaissance, these theologians sought to apply historical tools of inquiry to Luther and thereby study him as a historical figure. Luther scholars would become preoccupied with Luther’s biography from this point forward. Yet my interest in this essay is more precisely how Luther scholars constructed Luther’s biography as a religious development. Karl Holl, the church historian credited with the origins of the Luther Renaissance, studied Luther’s biography as a dramatic breakthrough to a new religious understanding of self and God. How did Holl conceptualize religion as he applied it to Luther? Schleiermacher’s influence on this approach to Luther is the thread running through  Friedrich Schleiermacher, Über die Religion: Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg.v. Rudolf Otto, Göttingen 1899.  Nathan Söderblom, Das Werden des Gottesglaubens. Untersuchungen über die Anfänge der Religion, Leipzig 1916, 287.  Nathan Söderblom, Betydelsen af Schleiermachers “Reden über die Religion”, Uppsala 1899. https://doi.org/10.1515/9783110569520-020

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this essay. My aim is to show how Schleiermacher’s concept of religion is helpful in understanding why Rudolf Otto and Karl Holl considered Luther’s experience as idiosyncratic, nonrational, and singular. While others, particularly Peter Schüz have already done excellent work in establishing an explicit connection between Schleiermacher and Holl, I argue that the recovery of Schleiermacher explains why the theologians of the Luther Renaissance were fascinated by Luther’s religious experience.⁴ These theologians sought a charismatic Luther. Schleiermacher helped them find him. I will consider two texts published in 1917, a year marked by both the imminent end of the Great War and the celebration of the fourth centenary of the Protestant reformation: Rudolf Otto’s The Holy and Karl Holl’s What Did Luther Understand by Religion?. Both texts thematize Luther’s religious experience in ways establishing a foundational moment in Lutheran theology.

I Friedrich Schleiermacher When church historians and theologians turned to study Luther at the end of the nineteenth century, they did so in an academic environment that was rapidly shifting. Albrecht Ritschl’s theological influence was waning. This famous Lutheran theologian of the Bismarck era had made the study of Luther a central pillar of his theology, advocating for the historical study of Luther’s texts that were being published in the newly founded critical edition, beginning in 1883. Ritschl was interested in correlating justification to ethics; building the kingdom of God was the ethical complement to the justified Christian. Ritschl’s theological program was hostile to mysticism; his neo-Kantian metaphysic an alternative to what he denounced as scholastic “substance metaphysics”. Yet his doctrines were becoming the object of a growing critique. His theology was criticized for its alliance with the liberal bourgeois culture of Wilhelmine Germany. Younger theologians were becoming uneasy with a doctrine of justification that had its ethical concretion in the social and political activity of the day. In efforts to resist a complacent correlation between theology and ethics, they were interested in the experiential foundations of doctrine, free from its presuppositions and overlays. The theological path these theologians took diverged from Ritschl’s theological alliance with ethics as the key for society’s transformation. The central term for this divergence was a specific criticism of a theology that had established the rationale for the institutionalization of Lutheran Christianity. If theology supported a distinctive form of the church, then how could it serve as prophetic challenge when that church had become increasingly allied with the politics of the state? Adolf Harnack sensed the frustration among his contemporaries. While Harnack supported Ritschl’s

 See the excellent study by Peter Schüz: Mysterium tremendum. Zum Verhältnis von Angst und Religion nach Rudolf Otto, Tübingen 2016.

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insistence on the use of historical-critical tools in theology, he reacted to their application in Ritschl’s work as a legitimating tool. Theology, and in particular the historical study of the church, should use historical methods to trace the development of doctrine in history; by demonstrating historical development doctrines would be exposed as conceptual tools rationalizing an original religious impulse that, at its very basis, resisted rationalization. An irrational mystical impulse was at the foundation of every religion’s trajectory; its rationalization unfortunately and inevitably led to an alliance with institutions. Harnack insisted that theology’s aim was to glimpse at the novel religious origins establishing the history of Christian doctrine. In his lectures on the Essence of Christianity, published as student notes of the lectures Harnack had delivered at the University of Berlin in the winter semester of 1899/1900, Harnack succeeded in his aim.⁵ This bestseller disclosed a charismatic Jesus at the origins of subsequent attempts to “Hellenize” him. Jesus was distinguished from the subsequent doctrine of Christ superimposed onto this charismatic figure. Harnack’s student, Karl Holl would do the same for Luther. The concept of rationalization was an important category, particularly in distinguishing between “kernel” and “husk,” as Harnack had done. The category was part of the neo-Kantian philosophical conceptuality dominant at this time in the German university. The rejection of Kant’s Ding-an-sich that had been the subject of much debate on the metaphysics of causality opened the door for a new epistemology concerning how the human mind could make sense of the world of sensation. Neo-Kantian philosophers presupposed a rupture between thought and reality and sought to conceptualize the interaction between subject and object as one of subjective rationalizing of the manifold of sensations considered “irrational”. This epistemological position became the foundation of the scientific wing of the neo-Kantian school and was interpreted in terms of cultural values by academics in the humanities.⁶ Max Weber, for example, made this term central to his analysis of how a distinctive religious group rationalized the acquisition of wealth as a good in his work, The Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism from 1904/05. Rudolf Otto too adapted this category in his 1917 book, The Holy. Rationalization was central to a religion’s articulation in doctrines and existence in institutions. Behind rational processes, however, were nonrational experiences that would only at a later moment be conceptualized. While epistemology is certainly significant, the study of religious experience required additional resources. It was Rudolf Otto who brought Friedrich Schleiermacher’s theory of religious experience to the forefront of Lutheran theological interests. In his book on Otto, Peter Schüz traces Otto’s familiarity with Schleiermacher to his theological studies at the University of Erlangen from 1888 to 1891. The theologians  Adolf Harnack, Das Wesen des Christentums, Leipzig 21900. In the preface, Harnack thanks his student Walther Becker for having recorded the lectures; online at https://de.wikisource.org/wiki/Das_ Wesen_des_Christentums/Titel_und_Vorwort, accessed January 25, 2018.  See Frederick C. Beiser, The Genesis of Neo-Kantianism, 1796 – 1880, Oxford 2014.

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in Erlangen were interested in subjective experience because of their connections to German Pietism. This orientation contrasted with the more confessional approaches of Lutheran theology that emphasized scripture and doctrine.⁷ Otto came into contact with Schleiermacher in a seminar he took during the winter semester of 1889/ 1990 with Reinhold Seeberg.⁸ Otto’s subsequent studies at the University of Göttingen from 1891– 1892, where he passed his first theological exams, also exposed him to Schleiermacherian currents. Schüz specifically names the lectures Otto heard in 1889 by Hermann Schulz on the “Grundriss der christlichen Apologetik”, which Schulz published in 1894. As Schüz reports, Schulz’s lectures mentioned many terms distinctive to Schleiermacher’s theory of religion, namely the essence of religion, religious feeling, and mysterious ground of piety.⁹ Otto deepened his understanding of religious feeling in the summer semester 1892 when he heard another set of lectures delivered by Theodor Häring, Ueber unsre persönliche Stellung zum geistlichen Beruf. Schüz reports that Häring emphasized the personal experiential dimension to the theological vocation. This emphasis would later inform Otto’s thoughts on religious psychology.¹⁰ Significant for Otto’s investigations into religious psychology was Schleiermacher as “the rediscovery of religion”, as Otto claimed in his 1903 article on Schleiermacher in the journal Christliche Welt. ¹¹ Otto’s own study of Schleiermacher began soon after the defense of his doctoral dissertation on Luther’s pneumatology in 1898.¹² In 1899 he issued a reprint of the first edition of Schleiermacher’s 1799 Speeches for their one-hundredth anniversary in 1899.¹³ The Schleiermacher edition was the very same volume I discovered in Söderblom’s library. Otto taught a course on Schleiermacher’s theology in Göttingen during the summer semester of 1901, a course he repeated twice in 1908/09 and 1913, and then later in Breslau in 1917 and 1917/18 he continued to teach Schleiermacher’s theology in addition to lectures on the Glaubenslehre. ¹⁴ What becomes clear in Otto’s early writings on Schleiermacher is his deep appreciation for Schleiermacher’s discovery of the particular emotive dimension of religion. In his search for an irrational religious experience underlying the doctrinal efforts of rationalization, he found inspiration in Schleiermacher’s account of religion:

 Schüz 2016, 108 – 114 (n. 4).  Schüz 2016, 62 (n. 4).  Schüz 2016, 121 (n. 4).  Schüz 2016, 124– 125 (n. 4).  See Rudolf Otto, “Wie Schleiermacher die Religion wiederentdeckte”, Die Christliche Welt 17 (May 28, 1903), 506 – 512. Schüz writes that Otto revised the essay towards the end of his life, and published it with the title “Der Neue Aufbruch des sensus numinis bei Schleiermacher”. See Schüz 2016, 214, n. 499 (n. 4).  Rudolf Otto, Anschauung von heiligen Geiste bei Luther. Eine historisch-dogmatische Untersuchung, Göttingen 1898.  See Schleiermacher 1899 (n. 1).  Schüz 2016, 207, n. 460 (n. 4).

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He [Schleiermacher] sought to prove that if one experienced the environing world in a state of deep emotion, as intuition and feeling, and that if one were deeply affected by a sense of its eternal and abiding essence to the point where one was moved to feelings of devotion, awe, and reverence – then such an affected state was worth more than knowledge and action put together.¹⁵

Schleiermacher offered Otto a perspective on the essence of religion as an irrational mystical impulse, caused by the particular revelation of the universe. It would be Otto’s later work from 1917 that would debate Schleiermacher on the issue of how the epistemological account could preserve the irrational element from rationalization.

II Rudolf Otto Rudolf Otto’s name is not commonly associated with the Luther Renaissance. This movement is usually credited to a church historian, Karl Holl, who taught at the University of Berlin beginning in 1901 with a promotion to professor in 1906. Yet Holl’s famous study of Luther from 1917 was not the first investigation of the reformer around the turn of the twentieth centenary. Luther was in fact actively studied since the four-hundredth century of Luther’s birth in 1883 when his works were being collected, edited, and published in the edition known as the Weimar critical edition of Luther’s works. The historical study of Luther thus took shape before Holl allegedly inaugurated the Luther Renaissance in 1917. Lutheran theologians invigorated the study of Luther at the beginning of the twentieth century by asking the question as to how theology could participate as a viable academic discipline in the university. The legacy of this question had to go with Albrecht Ritschl, theologian in the 1880s, who sought to develop an academic Lutheran theology on the basis of a neo-Kantian epistemology and thereby free Lutheran theology from its confessional inclinations that he thought were unscientific. Yet the subsequent generation of Lutheran theologians found themselves at a critical distance from Ritschl. These theologians were heavily invested in the new academic disciplines that were forming around them, and were seriously interested in demonstrating that Lutheran theology had its origins in a religious innovation. While Ritschl had represented a new development in framing Lutheran theology as an academic rather than confessional discipline, the later theologians thought he did not go far enough. Among them were Rudolf Otto, Ernst Troeltsch and Karl Holl. Their subject of inquiry was Martin Luther. They focused their theological attention on el-

 Translation of Otto’s introduction (translated by Salvator Attanasio) to his reprint of Schleiermacher’s Speeches in 1899, in the English translation of the third edition, in: Friedrich Schleiermacher, On Religion. Speeches to its Cultured Despisers, trans. by John Oman, New York 1958, xix.

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ements in his biography that resisted rationalization as a doctrine of justification; they were interested in Luther’s experience of God.¹⁶ Why Otto’s scholarship on Luther is not treated in accounts of the Luther Renaissance has to do with the fundamental difference in approaches to Luther between Otto and Holl. While both theologians were interested in recovering Luther’s experience of God, Holl aimed to connect Luther’s experience to its concretion in the doctrine of justification. Furthermore, after Germany’s devastating loss in 1918, Holl added another dimension to his study of Luther, namely the construction of a new morality on the basis of Luther’s experience that could constitute German society anew.¹⁷ For Holl, Luther’s experience of justification must have theological, ethical, and political implications for German society. Rudolf Otto, however, was not interested in grounding doctrine. Rather, his interest was shaped by a specific question he had inherited from his studies of Schleiermacher, namely he was interested in the elementary encounter of a charismatic individual with revelation that had a distinctive effect in feeling. Otto’s work, however, like Holl’s, had Luther’s experience at its center. Yet while both books, Holl’s What Did Luther Understand by Religion? and Otto’s The Holy, were published in the same year, Holl’s stands out for its contribution to Luther scholarship. Otto’s does not. Rudolf Otto had written his doctoral dissertation for the theology faculty at the University of Göttingen on Luther’s pneumatology in 1898. His discovery of Luther’s experience of the holy subsequently became central to his account of religious experience in his book, The Holy. ¹⁸ As he admits in the chapter on Luther (ch. 12: “The Numinous in Luther”), Otto’s introduction of the “maiestas” and “tremendum” dimensions of the numinous are due to “Luther’s own expressions, and [I] borrowed them from his divina maiestas and metuenda voluntas, which have rung in my ears from the time of my earliest studies of Luther”.¹⁹ In this regard, Otto departs radically from Ritschl’s account of Luther. While Ritschl saw Luther’s numen as a function of late medieval theology that was sufficiently excised in his reformation theology, Otto regarded this aspect as central to Luther’s idea of God. For Otto, Luther’s 1525 text De servo arbitrio (“On the Unfree Will”) was indispensable because it explicitly thematized the ideas of the divine majesty and the divine omnipotence in ways not evident in other parts of Luther’s corpus.²⁰ What Otto accomplished was to put De servo ar-

 I thank my interlocutors at the March 2017 conference in Halle, who gave me exceptionally helpful feedback on my talk.  Karl Holl, “Der Neubau der Sittlichkeit”, in: id., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Tübingen 1923, 155 – 287 (English translation is: The Reconstruction of Morality, trans. by Fred W. Meuser / Walter R. Wietzke, ed. by James Luther Adams / Walter F. Bense, Minneapolis, 1979).  Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917.  Rudolf Otto, The Idea of the Holy. An Inquiry into the non-rational factor in the idea of the divine and its relation to the rational, trans. by John W. Harvey, London et al. 1958, 99.  Otto 1958, 97 (n. 19).

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bitrio at the center of his study of Luther. In so doing, Otto demonstrated that Luther’s idea of the “hidden God” stood in a historical line of religious charismatics, who had had similar experiences of the divine majesty. The Hebrew prophets, John the Evangelist, the Apostle Paul emerge as exemplary figures in addition to Luther.²¹ Specifically gifted individuals have actualized the religious “faculty of divination” that remains a universal potential in humans.²² Through these diviners, others can be awakened to religious experience. The distinctive treatment of experiences of the sacred, rather than the experience of justification, singles out Otto’s contribution to the study of Luther. Yet what is significant is precisely how Otto’s critical engagement with Schleiermacher facilitated this approach to Luther. In chapter three of The Holy, Otto relays two corrections he has to Schleiermacher’s idea of religion. The first concerns the “feeling of dependence”, which as Otto argues against Schleiermacher does not do justice to a qualitative difference between this religious feeling and other feelings of dependence. As Otto explains: “It [the feeling of absolute dependence] cannot be expressed by means of anything else, just because it is so primary and elementary a datum in our psychical life, and therefore only definable through itself.”²³ While Otto might have misunderstood the distinction Schleiermacher himself makes between a transcendental understanding of the feeling of absolute dependence and the feeling of dependence as a function of sensible self-consciousness, he insists that there is such a qualitative difference.²⁴ Otto makes this difference productive for his own analysis of religious phenomenology, namely that the “creature-feeling”²⁵ or subjective feeling in an encounter with the sacred is a specific feeling that is not reducible to any other sphere of experience. Otto further insists on the causal referent of the creature-feeling as significant to his analysis. He criticizes Schleiermacher for “a second defect”, namely “he [Schleiermacher] professes to determine the real content of the religious emotion, is merely a category of self-valuation in the sense of self-depreciation.”²⁶ Here Otto refers to Schleiermacher’s famous account in §4,4 of Christian Faith, in which the negation of the feeling of absolute freedom in immediate self-consciousness is an af-

 Otto 1958, chs. 10 and 11 (72– 93) (n. 19).  On this point, Jacqueline Mariña sees a difference between Otto and Schleiermacher. She writes, “He [Otto] criticized Schleiermacher for thinking that this faculty of divination was active in everyone; his own position is that it is a universal potentiality (IH 149).” (See her essay, “Friedrich Schleiermacher and Rudolf Otto”, in: The Oxford Handbook of Religion and Emotion, ed. by John Corrigan, Oxford 2007, 5).  Otto 1958, 9 (n. 19).  Jacqueline Mariña makes this clear by distinguishing between the aims of each theologian: “It is not that Otto denies the transcendental basis for the genesis of religious feeling, but his focus is on the phenomenology of the religious experience as it develops historically.” (See Mariña 2007, 11 [n. 22]).  Otto 1958, 10 (n. 19).  Otto 1958, 9 (n. 19).

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firmation of the feeling of absolute dependence.²⁷ For Otto, Schleiermacher’s account does not directly refer to an external “Whence” of subjective feeling. Otto criticizes Schleiermacher for accessing the referent only through an inference in consciousness; the feeling of absolute dependence only indirectly refers to the Whence through an inference within self-consciousness. Otto proposes a correction to Schleiermacher, namely that the causal referent to the creature-feeling is a “numen praesens […]. The numinous is thus felt as objective and outside the self.”²⁸ Otto aims to do justice to what he considers is a distinctive encounter with a referent that remains outside of the conditioned structure of rationalization. The subjective register in the feeling of terror and awe is caused by the presence of the sacred, or in words that Karl Holl will also use, the “Wholly Other”. Thus Otto adjusts Schleiermacher’s basic account of religious experience by making explicit the subjective “creature-feeling” that has a distinctive valence of awe and terror, and by referring it to a cause external to the self, namely the numen. Otto’s contribution to Luther scholarship both in his dissertation from 1898 and in his The Holy consists of a unique appreciation for the experience of the numen in Luther. Not the Lectures on Romans, which will prove significant for Holl, but De servo arbitrio is the textual basis on which Otto relies in order to provide a new perspective on Luther’s thought, namely a religious experience that defies rationalization in the doctrine of justification. Relying on his studies of Schleiermacher, Otto productively engages with specific religious categories in Schleiermacher in order to explain that religious experience has a distinctive specificity both subjectively and in terms of its referent. As a potential within human experience, some gifted individuals have actualized this potential and thus innovated a nonrational basis for religion. Luther is central to this account.

III Karl Holl The Luther Renaissance is the term for an academic theological movement characterized by an interest in Luther’s reformation breakthrough and Luther’s significance for German Protestantism. A number of formidable thinkers are associated with this movement, among them Reinhold Seeberg, Emanuel Hirsch, Carl Stange, and Paul Althaus. It would, however, be Karl Holl who gave the Luther Renaissance its renown as a research program focused on Luther. Holl was a church historian, whose early publications were in the area of early Christianity and Tolstoy. Yet his turn to the reformation was prompted by the 1909 commemoration of the four-hundredth anniversary of Calvin’s birth, for which he delivered a talk. Christine Põder writes that Holl’s

 Friedrich Schleiermacher, Christian Faith. A New Translation and Critical Edition, trans. by Terrence N. Tice et al., ed. by Catherine L. Kelsey / Terrence N. Tice, Louisville 2016, 24– 27.  Otto 1958, 11 (n. 19).

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work on Calvin’s doctrine of predestination “shimmers through” his studies of Luther’s doctrine of justification.²⁹ Holl deepened his interest in Luther throughout the 1910s, particularly focusing on the newly published Lectures on Romans from 1515/1516, and then culminating in a lecture he gave in Berlin on the four-hundredth anniversary of the Protestant reformation on Oct. 31, 1917. This essay, What Did Luther Understand by Religion?, revised in 1921, is placed before the earlier study from 1910 of Luther’s Lectures on Romans in the first volume of Holl’s collected works in church history.³⁰ The revised edition of the famous essay demonstrates how Holl’s thoughts on Luther were deeply affected by the First World War, Germany’s loss in 1918 and humiliation at Versailles in 1919. As Christine Põder shows in a recent publication, Holl’s interpolations, additions, and expansions must be understood in light of his recognition that 1918 spelled God’s judgment on the German nation.³¹ Holl’s study of Luther is seen as the origin of the Luther Renaissance. Holl’s approach to Luther, like Otto’s, was to identify the distinctive characteristics of Luther’s religion. Like Otto, Holl aimed to work out Luther’s interior psycho-spiritual development in relation to a specific experience of God. Holl had been preoccupied for almost a decade with Luther’s religion as inner psychological and spiritual phenomenon. By the 1921 publication, he had identified the fundamental aspects of an experience that consisted of an experience of justification. For Holl, the distinctive experience of justification would be seen as Luther’s religious breakthrough that could be made productive both for Protestantism and Germany. The way Holl sets up Luther’s experience of justification reveals a decisive theological commitment to both sides – human and divine – of the account. Luther’s religion is a religion of conscience (Gewissensreligion).³² Conscience was a term since the middle ages (conscientia) denoting the inner human sensitivity to register sin. In the case of Luther, the terrified conscience reflects his fanatical obsession with the magnitude of personal sin and its just deserts in the divine condemnation. Holl identifies conscience as central to religion, yet couches it in the Kantian meaning of the subjective site at which the “ought” of the divine will appears with its demanding

 Christine Svinth-Værge Põder, “Gewissen oder Gebet. Die Rezeption der Römerbriefvorlesung Luthers bei Karl Holl und Rudolf Hermann”, in: Lutherrenaissance. Past and Present, ed. by Christine Helmer / Bo Kristian Holm, Göttingen 2015, 54– 73, here 58.  Karl Holl, “Was verstand Luther unter Religion”, in: id., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Tübingen 1923, 1– 110; “Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief mit besonderer Rücksicht auf die Frage der Heilsgewißheit”, in: id., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Tübingen 1923, 111– 154. The English translation of the 1921 edition is: What Did Luther Understand by Religion?, trans. by Fred W. Meuser / Walter R. Wietzke, ed. by James Luther Adams / Walter F. Bense, Philadelphia 1977. Quotations in this essay are from the English translation.  Christine Svinth-Værge Põder, “Die Lutherrenaissance im Kontext des Reformationsjubiläums. Gericht und Rechtfertigung bei Karl Holl, 1917– 1921”, KZG 26/2 (2013), 191– 200, here 193.  Holl 1977, 48 (n. 30).

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force.³³ Unlike Kant, however, Holl insists that the “ought” registers an unbreakable relation to the God who issues it. As Holl insists: “Thus the concept of God, and specifically of a personal God, is for Luther directly connected with the sense of obligation.”³⁴ Conscience is thus a term of religion, in Holl’s view, because it relates human interiority to an object external to the self, to a personal God. By defining Luther’s religion precisely in terms of a relation between human and God, Holl opens the experience of justification to further theological explication. Luther’s conscience, as Holl describes it, is the site of an opposition. Holl focuses here on the “will” as feature of conscience registering the confrontation between human and divine. The human will seeks its own end. This “desiring will”, as Holl describes, is “a self-will that seeks to assert itself in the surrounding world and evaluate[] everything with which it comes in contact in terms of personal advantage.”³⁵ This is the will’s desire, in short, for its own happiness.³⁶ Yet the self experiences another desire in its encounter with the “Holy,” a designation Holl explicitly uses for the appearance of God. In a footnote Holl refers to Söderblom’s and Otto’s use of the term the Holy for the concept of religion, yet criticizes them for “not emphasiz[ing] the distinctiveness of Luther’s view sufficiently strongly”.³⁷ Holl describes Luther’s consciousness of the divine will: “As over against his own ‘rational’ striving, Luther perceives the emergence in himself of another, unconditional will, which he is bound to distinguish from his own and yet cannot avoid recognizing as right.” The experience of God’s unconditional demand results in a maximal opposition in the will. “It dawns upon us that we always instinctively want something different from our prescribed duty, something other than what we are commanded to will, for to will ourselves and the will to serve God are irreconcilable opposites.”³⁸ The self is torn between the opposites of self-seeking will and the will that longs to fulfill the unconditional command of total obedience to God. Holl introduces the motif of Luther’s terrified conscience into the vocabulary of Luther’s reformation experience. The relation as Holl constructs it between human and divine focuses on a fascinating and disturbing moment. Holl preserves both sides in relation but prohibits the human from knowing God fully.³⁹ By keeping God’s perspective at a distance from the human, Holl can intensify the human experience in the face of God. The encounter with the divine demand precipitates the self into a recognition that its entire will is oriented to self-interest. Ultimately the self is broken in its opposition to the divine will. Holl writes, “Luther did not want to base religion on the desire for benefits or on any will originating in us, but rather on the impress that is given by God, which lays

      

Holl 1977, 48 (n. 30). Holl 1977, 49 (n. 30). Holl 1977, 69 (n. 30). Holl’s anti-eudamonism is intrinsic to his account of Luther’s experience of justification. Holl 1977, 66, n. 40 (n. 30). Holl 1977, 70 (n. 30). Holl 1977, 66 (n. 30).

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hold of us and shatters us in our feeling of selfhood.”⁴⁰ What shatters the human will, and its self-seeking for happiness, is its acknowledgment that it cannot fulfill the divine command, even though it knows that this unconditional demand must be fulfilled. The human acknowledges that self-interest lies at the foundation of very personal existence; it cannot be overcome or circumvented. What the human knows is “that before God one is absolutely guilty, that one’s whole person is completely reprehensible in the sight of God.”⁴¹ The unconditional demand precipitates the self to experience its entire existence as guilty. God sees the human incapacity to overcome self-seeking desire from a different perspective. God desires “personal fellowship with human beings”. “Communion with God”⁴² occurs when the human will has reached a unity with the divine will. This will occur when the human has submitted the will entirely to God. While this is not possible for a will that insists on its own importance, it is God who can bring about the desired union. God accomplishes what the imperative demands, the “ought” in a “unity of wills.” God’s love brings about this unity. Love is active in dispensing the divine righteousness as gift to the sinner. Unity is brought about by God’s love that “impart[s] [the divine] self […] [and] makes them [sinners] righteous.”⁴³ When the divine will joins the human will to itself, then God imparts the divine gift of righteousness. The human will is finally characterized by the “recognition and affirmation of God’s gift […] the honor that God asks above all else.”⁴⁴ The human has renounced self-interest, and honors God. Yet the human never experiences this unity of wills. Rather the human has an experience that is altogether terrifying. Holl introduces the idea of Luther’s Anfechtung in the distinctive encounter of the person with the divine wrath. When confronted with the Holy, the human experiences the terror associated with the “acute sense of sin”. God “desires this supreme goal [the unity of wills] so emphatically and with such determination that in his wrath he annihilates everything that arises to oppose it.”⁴⁵ The self experiences the divine wrath with a “sense of guilt as pure agony.”⁴⁶ At this particular moment, the human experiences the divine wrath as the terrified conscience. There is no recourse to respite. Rather at this extreme moment, the person accepts being condemned to hell if this condemnation accords with the divine will.⁴⁷ Holl intensifies the Anfechtung by taking up the motif of the resignatio ad infernum (the resignation to hell) from the early Luther of the Lectures on Romans. The

 Holl 1977, 66 (n. 30).  Holl 1977, 73 (n. 30).  Holl 1977, 42 (n. 30).  Holl 1977, 56 (n. 30).  Holl 1977, 87 (n. 30).  Holl 1977, 67 (n. 30).  Holl 1977, 67 (n. 30).  “[Luther] holds that the genuinely pious individual would be willing to renounce heaven and be damned in hell if this should be God’s will.” (Holl 1977, 67 [n. 30]).

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self must will to surrender itself to the divine wrath in an act of willed self-sacrifice. By “enduring” the divine wrath as “absolute self-condemnation”, the sinner acknowledges God’s righteousness, and condemns the self.⁴⁸ Holl praises Luther’s discovery: “Never has this doctrine been preached more forcefully”.⁴⁹ There is a remarkable paradox between what the human experiences and what God does. The human does not experience relief from the act of self-surrender. Rather, it endures the divine judgment as God’s “cure” for the self-seeking will.⁵⁰ As Holl writes, “[T]he wrath of God must be bravely not defiantly endured, but in such a way that God’s judgment of condemnation – and, consequently, God himself – is recognized as completely just.”⁵¹ While the sinner endures the divine wrath, God has different knowledge of the human at precisely this moment of the person’s self-willed self-sacrifice. God wills that the sinner would live. When the human experiences that all is lost, God gives the divine gift of righteousness that unites the divine with the human will. When the human surrenders its will, God forgives the sinner. Thus from God’s perspective, the sinner is justified. The sinner, however, does not experience this relief. Holl’s portrayal of Luther’s experience of justification ends with the image of the “strong Christian” who alone can withstand the will to self-surrender. As Põder writes: “Den Gedanken von ‘starken’ Christen und ihrer resignatio ad infernum erscheint nach dem Kriegsende im Horizont eines neuen Anliegens Holls, eine reformatorische Grundlage der Ethik auszuarbeiten. Die Figur wird nun um eine politisch-sozialethische Deutung erweitert.”⁵² The result of Holl’s work is the celebration of Luther as a strong Christian, whose own biography could be appropriated as significant resource for rebuilding Germany after Versailles. This Luther of the Luther Renaissance would later be used to support the German nationalism, racism, and anti-Semitism of Nazi Germany, specifically a Luther whose words were cited to instigate the November pogrom of Nov. 9, 1938 and the most evil genocide undertaken against Jews that the world has ever known.⁵³

IV Results What have we learned by surveying Otto in relation to Holl? While both view Luther from distinctive angles – Otto is interested in a religious phenomenology of experi-

 Holl 1977, 74. 79 (n. 30).  Holl 1977, 66 (n. 30).  Holl 1977, 81 (n. 30).  Holl 1977, 79 (n. 30).  Põder 2015, 59 (n. 29).  See the catalogue for the summer 2017 exhibition at the Topographie of Terror museum in Berlin: “Überall Luthers Worte…”. Martin Luther im Nationalsozialismus / “Luther’s Words are Everywhere…”. Martin Luther in Nazi Germany, Berlin 2017.

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ences of the sacred while Holl is interested in reconstructing Luther’s experience of justification in view of law and gospel – they both participate in the same discussion about Luther’s religious experience. It is significant, however, for this emerging interest in Luther as charismatic figure that Schleiermacher hovers in the backdrop. In the effort to move beyond Ritschl, the search for new religious categories, specifically nonrational experiential accounts, was aided with help from Schleiermacher. It seems then that on a number of significant points Schleiermacher is a generative force among Lutheran theologians interested in Luther’s biography, his reformation breakthrough, and his experience of the Holy. Particularly productive is Schleiermacher’s theory of religion from the Speeches. Schleiermacher’s emphasis is on the particularity of revelation, specifically the relation between revelation of the universe as objective referent and the subjective feeling elicited by the particular revelation. The encounter for Schleiermacher transcends moral reason, the causal referent of the elicited feeling is the reality of the universe’s revelation. Both Otto and Holl take up the subject-object relation in their respective concepts of religion; both underline the reality of the Holy as cause of subjective religious feeling. Schleiermacher’s theory of religion also highlights the specific “mediators” chosen by the universe to communicate a particular revelation. Otto focuses on Luther’s role in the line of charismatics from the Hebrew prophets on, while Holl in arguing for Luther’s privileged place in this succession, admits that Luther felt an affinity with the mystics who had gone on before him.⁵⁴ Finally, both Otto and Holl appeal to new terminology to identify God. If Schleiermacher used the term “universe” in his Speeches to avoid any misconstruing of God in metaphysical or ethical terms, then Otto appeals to the Holy and Holl, too writes about God as the Holy One. Otto and Holl, however, incorporate a new dimension of the holy into their accounts, namely Otto’s reading of De servo arbitrio introduces the dimension of the nonrational God back into the concept after Ritschl had excised this dimension. Holl too appeals to numerous facts of Luther’s doctrine of God that are irreconcilable with any predictable account of love, whether it is the cause of Anfechtung, or wrath, or the divine majesty that demands obedience. Both Otto and Holl thus flesh out an ambivalent yet rich concept of God that is based on Luther’s more opaque texts, such as De servo arbitrio. The charismatic portrayal of Luther by Otto and Holl would prove productive for other theologians of the Luther Renaissance. This foundational research on Luther set the conceptual parameters for what was to follow throughout the twentieth century. Whether that development took place as the Lutheran theology coopted by the German Christians, or as dialectical theology, or as the Lutheran theology taken to North America by theologians studying in Germany after the Second World War, Luther’s reformation experience would be the central theme.

 Holl 1977, 74 (n. 30).

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Reformation als „Wiederentdeckung der Religion“

Der Gedanke, die Reformation sei mehr als nur ein historisches Ereignis, beschreibt zweifellos einen alten und bis heute lebendigen Traum des Protestantismus. Dahinter steht die große Idee, es sei in der reformatorischen Bewegung etwas zur Erscheinung gekommen, was nicht Variante, sondern Grundzug und Prinzip des Christentums ist. Wenn Schleiermacher einen seiner beiden „selbst überlegenden evangelischen Christen“ sagen lässt, die Reformation gehe „noch fort“, stiftet dieser Gedanke dem Protestantismus eine Seele ein, die nicht allein aus der Erinnerung und Rückbindung an das Reformationszeitalter, sondern aus einem bis heute lebendigen Grundmotiv christlicher Frömmigkeit lebt. ¹ Doch was hat man sich darunter vorzustellen? Unter den vielen Ansätzen, dem eigentlichen Wesen des fortgehend Reformatorischen im Christentum nachzuspüren, soll im Folgenden lediglich einem etwas genauer nachgegangen werden. Die Überlegungen orientieren sich an der Reformationsdeutung Rudolf Ottos, deren an Schleiermacher anknüpfende Grundthese sich auf die zunächst einfache Formel bringen ließe, es sei die Reformation ihrem Wesen nach „Wiederentdeckung der Religion“. Um etwas genauer zu verstehen, was damit gemeint sein könnte, wer hier was wiederentdeckt und wie das Wiederentdeckte zuvor überhaupt aus dem Blick geraten konnte, konzentrieren sich die Überlegungen auf Ottos frühe Schleiermacherdeutung, die einen entscheidenden Schlüssel für sein Verständnis der Reformation darstellt. Ein bisher nur wenig beachteter, früher Aufsatz Ottos soll hierfür zunächst den Hauptgegenstand bilden (1). Ein zweiter Abschnitt leitet dann auf die Reformationsdeutung in Ottos späteren Werken vor dem Hintergrund der protestantischen Theologiegeschichte um 1900 und Überlegungen zu ihren ideengeschichtlichen Wurzeln über (2), um schließlich in einem kurzen Ausblick der Frage nachzugehen, worin womöglich das bleibende Anregungspotential dieses von Schleiermacher inspirierten Ansatzes bestehen könnte (3).

 Vgl. die ursprünglich anonym publizierte Schrift Friedrich Schleiermacher [1827], Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen über die Schrift. Luther in Bezug auf die neue preußische Agende. Ein letztes Wort oder ein erstes, KGA I/9, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 2000, 381– 472. Zum erwähnten Zitat „Die Reformation geht noch fort“ siehe dort 471. Zu den Hintergründen des dahinter stehenden Grundgedankens und der Reformationsdeutung Schleiermachers vgl. vor allem Martin Ohst, Schleiermacher und die Bekenntnisschriften. Eine Untersuchung zu seiner Reformations- und Protestantismusdeutung, Tübingen 1989. https://doi.org/10.1515/9783110569520-021

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1 Rudolf Ottos frühe Schleiermacherdeutung Am 28. Mai 1903 erschien in der Zeitschrift Die Christliche Welt ein kaum acht Spalten umfassender Artikel des erst 33 Jahre alten Göttinger Privatdozenten Rudolf Otto unter dem Titel „Wie Schleiermacher die Religion wiederentdeckte“.² Die zentrale These des Beitrags wird gleich im ersten Satz mit einer lapidaren Feststellung vorweggenommen: „‚Wiederentdeckt‘ worden zu sein, das hat Religion des öftern erlebt im langen Laufe ihrer Geschichte“.³ Otto setzt im Folgenden voraus, dass es so etwas wie einen unwandelbaren Kern der Religion gibt, der in und hinter den unzähligen religiösen Darstellungsformen der Religionsgeschichte lebendig ist. Das Verhältnis der Religionsgeschichte zu jenem Kern stellt er sich dabei als dynamische Spannung vor. Es habe demnach ebenso „Zeiten schöpferischer Anfänge und großen Emporblühens“ der Religion gegeben wie Zeiten „des Verfalles, des Erstarrens, des Steif- und Oedewerdens und der Ueberwucherung mit fremdartigen Bestandteilen bis nahe an den Verlust“.⁴ Was Otto vor Augen steht, ist offenbar ein unablässiges Ringen um die Adäquatheit religiöser Darstellungsformen gegenüber dem, was zunächst noch vage als unmittelbare religiöse Gefühlsregung umschrieben wird. Demnach droht zuweilen der eigentliche Gefühlskern der Religion ganz unter unangemessenen Darstellungsformen verschüttet zu werden, um dann an anderer Stelle schließlich in eindrucksvollen „Wiedergeburten und Wiederentdeckungen“ wieder zur vollen Entfaltung zu kommen.⁵ Für Otto steht dabei fest, dass die beschriebenen Wiederentdeckungen der Religion nicht von alleine ins Rollen kommen, sondern zumeist „an das Wirken schöpferischer Persönlichkeiten“ gebunden sind, die „die erstarrten Massen aufs neue in Fluß“ bringen.⁶ Der junge Autor spart nun im weiteren Verlauf nicht an lebendigen Bildern und Metaphern, um das Schicksal der Religion im stetigen Wechsel von Verlust und Wiederentdeckung zu inszenieren. Bemerkenswert ist dabei, dass der Beginn jener wechselhaften Religionsgeschichte offen gelassen wird. Auch den Ursprung des Christentums, „das Evangelium selber“, stellt Otto lediglich als eine Wiederentdeckung unter vielen dar, die irgendwann unter dem „Schutt der Satzung und des Pharisäerwesens“ aus der „echten lauteren Frömmigkeit des israelitisch-jüdischen Prophetismus, der Psalmen und der ‚Stillen im Lande‘“ aufgebrochen sei.⁷ Als weitere

 Vgl. Rudolf Otto, „Wie Schleiermacher die Religion wiederentdeckte“, ChW 17 (1903), 506 – 512. Fast drei Jahrzehnte später, 1932, veröffentlichte Otto den Aufsatz in überarbeiteter und erweiterter Form erneut in einem seiner Aufsatzbände und widmete ihn seinem Marburger Vorgänger Wilhelm Herrmann. Vgl. den Aufsatz Rudolf Otto, „Der Neue Aufbruch des sensus numinis bei Schleiermacher“, in: ders., Sünde und Urschuld. Und andere Aufsätze zur Theologie, München 1932, 123 – 139.  Otto 1903, 506 (Anm. 2).  Otto 1903, 506 (Anm. 2).  Otto 1903, 506 (Anm. 2).  Otto 1903, 506 (Anm. 2).  Otto 1903, 507 (Anm. 2). Ottos Bemerkung zu den „Stillen im Lande“ spielt wohl auf die an Luthers Übersetzung von Ps 35,20 angelehnte Selbstbezeichnung pietistischer Frömmigkeitsbewegungen

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Hauptdarsteller der Wiederentdeckungsgeschichte werden sodann Gestalten wie Paulus, Augustinus, Franz von Assisi und der Pietismus genannt. „Luthers Reformation“ hebt Otto schließlich als „Wiederentdeckung größesten Stiles“ besonders hervor.⁸ Alle Genannten stehen dabei nicht für Restaurationen älterer Epochen oder Lehren, sondern für mächtige Neuansätze, die das eigentliche Wesen der Religion in für ihr Zeitalter angemessenen Formen neu zum Leuchten brachten. Bevor Otto nun Schleiermacher als Wiederentdecker der Religion in der Moderne vorstellt, muss er zunächst klären, wodurch die Religion zuvor verschüttet werden konnte. Anders als in früheren Zeitaltern findet Otto die Ursache hier nun nicht in den dunklen Korridoren kirchlicher Orthodoxie und dogmatischer „Schullehre“, sondern in der „Fackel der Aufklärung“.⁹ Mit „nüchtern-kahler Verständigkeit“ habe ihr Schein die tiefen, geheimnisvollen „Brunnen der Religion“ ausgeleuchtet und schließlich zugenagelt „wo man sie nicht verschütten kann“.¹⁰ Die Aufklärung wird als von vereinseitigtem „Intellektualismus und Moralismus“ dominierte Epoche dargestellt, in der man „kein Auge“ mehr für ehrfurchtsvolle „Geheimnisse“ und für „die nicht auszusagenden Schätze und Tiefen des Gemütes und Gefühls, des unmittelbaren Empfindens und innerlichen Erlebens“ gehabt habe.¹¹ Es sei damals die Religion

(insbesondere im Umfeld Gerhard Tersteegens) im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert an, die besonders durch Jung-Stilling bekannt wurde (vgl. zum Hintergrund Christian Peters, Art. Stille im Lande, in: RGG4, Bd. 7, 1738). Otto verbindet an dieser Stelle also die Religionsgeschichte Israels durchaus subtil mit jenen religiösen Erneuerungs- und Erweckungsbewegungen des neuzeitlichen Protestantismus, die den rationalistischen Tendenzen der Aufklärung ausgesprochen kritisch gegenüberstanden und sich durch einen mitunter mystisch geprägten Frömmigkeitsstil auszeichneten. Zu sehen ist diese Verbindungslinie zwischen alttestamentlicher Religionsgeschichte und frömmigkeitstheoretischer Fragestellung vor dem Hintergrund von Ottos früher Prägung durch die alttestamentliche Forschung seines Göttinger Umfeldes um 1900, aus dem er entscheidende Impulse auf dem Weg zu seinen späteren religions- und frömmigkeitstheoretischen Überlegungen empfing. Zu denken ist neben dem der Religionsgeschichtlichen Schule angehörenden engen Freund Heinrich Hackmann besonders an Ottos prägende Lehrer Rudolf Smend und Hermann Schultz sowie an den Eindruck, den Bernhard Duhm, Paul de Lagarde und Julius Wellhausen auf ihn ausübten. Bereits 1901 hatte Otto einen bemerkenswerten Aufsatz zur modernen alttestamentlichen Exegese am Beispiel des Propheten Jesaja verfasst und ließ darin deutliche Ansätze seiner späteren Suche nach dem Wesen der Religion und ihrem intuitiven Urgrund hinter den Ausdrucksformen (bzw. hinter den „Wiederentdeckungen“, wie Otto nun 1903 in seinem Schleiermacheraufsatz sagen würde) der Religionsgeschichte – insbesondere im Alten Israel – erkennen. Vgl. hierzu Rudolf Otto, „Zum geschichtlichen Verständnis des Alten Testamentes“, Kirchliche Gegenwart. Gemeindeblatt für Hannover 1 (1901/1902), 42– 43.58 – 59.75 – 76.104– 105.127– 128.140 – 141.156 – 157.168 – 169.188 – 189.232– 233.250 – 251.267– 268 und dazu Peter Schüz, „Die Entdeckung des Heiligen im Alten Testament“, in: 100 Jahre „Das Heilige“, hg.v. Wolfgang Gantke / Vladislav Serikov, Frankfurt a.M. 2017, 59 – 77.  Vgl. Otto 1903, 507 (Anm. 2).  Vgl. Otto 1903, 508 (Anm. 2).  Otto 1903, 508 (Anm. 2).  Otto 1903, 508 (Anm. 2). Otto schreibt dort weiter, man habe damals „kein Geheimnis und Mysterium, kein Unsagbares und Wundervolles, keine verborgene Tiefe und kein ehrfurchtsvolles Rätsel in dieser Welt anerkennen und übrig lassen“ können.

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gewissermaßen rationalistisch entseelt und „ihr eigentliches Gehalt ausgesogen“ worden: „Man hatte die großen Gegenstände der Religion als Begriffe, aber nicht als lebendigen Besitz.“¹² Die Einseitigkeit, die Otto hier dem Rationalismus der Aufklärung vorwirft, wird man sicher auch seiner Darstellung derselben vorhalten müssen. Natürlich handelt es sich hier um eine Karikatur – um nicht zu sagen, um eine grobe Verzeichnung.¹³ Wenn man dem jungen Verfasser jenes Klischeebild der Aufklärung jedoch verzeihen kann, vermag man allerdings hinter den Einseitigkeiten auch zu vernehmen, dass es ihm hier eigentlich nicht um Epochenschelte, sondern um die Beschreibung von etwas Prinzipiellem geht. Was Otto leichtfertig der Epoche der Aufklärung ankreidet, ließe sich vielleicht als tief im Wesen des religiösen Menschen verankerter Drang zum Rationalen bezeichnen. Der irrationale Gefühlskern der Religion, um den Ottos Denken in den folgenden Jahrzehnten kreist, drängt demnach in einem ständigen Ringen des Annäherns und Abstoßens in rationale Begriffe und Formen, die dann aber letztlich immer in der Gefahr stehen, dem eigentlich Gemeinten nicht angemessen zu sein. Häufig verselbstständigen sich die rationalen Elemente der Religion und verlieren den Kontakt zum irrationalen Ursprungsgefühl für das schlechterdings Geheimnisvolle. Dieser spätere Grundgedanke Ottos ist der eigentliche Kern seines klischeehaften Aufklärungsbildes, dem dann Schleiermachers epochale Wiederentdeckung der Religion im Geiste der Romantik entgegengehalten wird.¹⁴ Für das breite Leserpublikum der Christlichen Welt anschaulich und lebendig erzählt, beschreibt Otto nun zunächst, wie Schleiermacher in den „genialischen Gemüter[n]“ der jungen romantischen Schule ein Biotop für „das neu aufquellende Verlangen nach tieferem, vollerem Dasein, nach Leben aus dem Unmittelbaren, nach poetischem, gemütvollem, innigem Erfassen der Welt und des Lebens“ fand und schließlich mit seinen Reden von 1799 zum „Herold der Religion“ seiner Epoche wurde.¹⁵ Es folgt ein kurzer Kommentar der Reden, der ganz auf der Linie der Überlegungen liegt, die Otto bereits vier Jahre zuvor in den Anmerkungen seiner neu herausgegebenen Jubiläumsausgabe

 Otto 1903, 508 (Anm. 2). Über die Religion heißt es hier: „Ihr innerster Geist aber, der, wie jeder Fromme fühlt, noch etwas ganz Anderes ist, als Erkenntnis von den höchsten Dingen oder Befolgungen von Geboten, war verraucht […].“ (508 – 509).  Zu Ottos klischeehaft-einseitigem Verständnis der Aufklärung und zum tatsächlichen Reichtum nicht-rationalistischer Elemente und Strömungen in jener Epoche aus heutiger Sicht vgl. u. a. ClausDieter Osthövener, „‚Affectionate Religion‘. Religion und Gefühl in der englischen und deutschen Aufklärung“, in: Theologie der Gefühle, hg.v. Roderich Barth / Christopher Zarnow, Berlin / Boston 2015, 79 – 112.  Zu den komplexen Konstellationen, die sich insbesondere von Schleiermacher her im Blick auf die Aufklärung und ihre Bedeutung für die Theologie in der Moderne ergeben, vgl. den auch Otto streifenden Aufsatz von Claus-Dieter Osthövener, „Schleiermachers kritisches Verhältnis zur theologischen Aufklärung“, in: Aufgeklärte Religion und ihre Probleme. Schleiermacher – Troeltsch – Tillich, hg.v. Ulrich Barth u. a., Berlin / New York 2013, 513 – 544.  Otto 1903, 509 (Anm. 2).

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der Erstauflage geäußert hatte.¹⁶ Im Mittelpunkt steht dabei der Begriff der Frömmigkeit, die als eine sich von gewöhnlicher Erfahrung und moralischem Bewusstsein kategorisch unterscheidende, intuitive Aneignung eines unmittelbaren Eindrucks beschrieben wird. Für dieses „demutsvolle Innewerden“ des „Geheimnisvollen“ wird der fortan in Ottos Werk zentrale Begriff des „Erlebens“ gewählt. Religion als Erleben des „Ganz anderen“, wie Otto es später nennt, wird als irrationale Intuition verstanden, die nur in unmittelbaren Ausdrucksformen der Religion zum Erscheinen kommt und sich als eigenartiges Gefühl frommen Voreingenommenseins zuweilen gegen rationale Darstellungsformen der Theologie sträubt. Die sicher überzeichnete Skizze der Aufklärung in Ottos Aufsatz steht demnach für jenes übermäßige Rationalisieren, das den unmittelbaren Ausdrucksformen intuitiven Erlebens nicht gerecht zu werden vermag, sozusagen das fromme Rohmaterial der Religion nicht aushält und gewaltsam in rationale, vom ursprünglichen Erleben entfremdete Formen zwängt. Ein religiöses Grundproblem also, das – wie Otto sehr wohl weiß – keineswegs an die Epoche der Aufklärung gebunden, sondern in allen Zeitaltern der Religionsgeschichte als latentes Darstellungsproblem präsent ist. Grundsätzlich werden mit der Idee der „Wiederentdeckung“ also herausragende Momente des Mit-sich-selbst-Ringens der Religion beschrieben: Momente eines in der Religionsgeschichte wellenartig wiederkehrenden Unbehagens an alten, bei gleichzeitiger Sehnsucht nach neuen Darstellungsformen, die dem inneren Erleben adäquat sind. Nach seinen Beispielen zu urteilen, traut Otto entsprechende Wiederentdeckungen weniger der klassischen Schultheologie als den eher intuitiv generierten religiösen Ausdrucksformen in der Religionsgeschichte zu, die sich in Verbindung mit charismatischen Persönlichkeiten und in autochthonen Frömmigkeitsbewegungen in das Gedächtnis und in die Praxis religiöser Gemeinschaften eingegraben haben. Natürlich können solche Wiederentdeckungen nicht auf Dauer gestellt werden. Sie werden unentwegt neu ausgehandelt und machen die Religionsgeschichte zu einer dynamischen Wiederentdeckungsgeschichte, die immer wieder alte Formen durchbricht und neue generiert. Mit Schleiermacher ist nach Meinung Ottos nun in doppelter Weise ein solcher Wiederentdecker auf den Plan getreten.¹⁷ Zunächst als religiöser Virtuose der Ro-

 Vgl. die Edition Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Zum Hundertjahr-Gedächtnis ihres ersten Erscheinens in ihrer ursprünglichen Gestalt neu herausgegeben von Rudolf Otto, Göttingen 1899 (vgl. auch die überarbeitete Ausgabe 21906 und die Folgeauflagen bis 51926, dann 1967 als 6. Auflage neu abgedruckt bis 82002). Schon in der Erstauflage der Reden-Edition bezeichnete Otto Schleiermachers Frühwerk als „Erbauungsbuch solcher, die sonst keine Erbauungsbücher lesen“ (Otto 1899, VII, par. Otto 82002, 7). Seit der zweiten Auflage beschrieb Otto dann die Reden als „Versuch, ein religionsmüdes und fremdes Zeitalter zur Religion zurückzurufen und sie, die vergessen zu werden drohte, in das unvergleichlich reich und mächtig aufstrebende Geistesleben der neuesten Zeiten wieder einzuflechten.“ (Vgl. Otto 21906, V, par. Otto 82002, 5).  Im Schlusssatz des Artikels resümiert Otto: „Und so alle Dinge sub specie aeterni im ewigen Lichte sehen, Sinn haben für das halbverhüllte und halboffenbare Geheimnis von Welt und Dasein und unserm eigenen Leben, die Welt und alle Dinge und das eigene Wesen empfinden als Ausdruck höchster Setzung und ewiger Ideen, damit aber Welt und Leben und Menschenwesen in einem Glanze

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mantik mit herausragender divinatorischer Begabung, zugleich aber auch als theoretischer Wiederentdecker, der mit seinem Religions- und Gefühlsbegriff überhaupt erst das Instrumentarium zu einer der Moderne angemessenen, theoretischen Beschreibung von Frömmigkeit entwarf. ¹⁸ Hinter Ottos Überlegungen zeichnet sich bereits die theologische Agenda ab, die ihn in den darauffolgenden Jahrzehnten beschäftigte und die man vielleicht als religionskundlich verankerte Frömmigkeitstheorie bezeichnen könnte. Es geht darum, von der Analyse unmittelbarer Ausdrucksformen gelebter Religion zu immer einfacheren, geradezu archaischen Urmomenten vorzudringen, um mit den hier begegnenden Gefühlen und Wertungsintuitionen das eigentliche und zeitlose Wesen der Frömmigkeit zu beschreiben. Dies führte ihn auf die grundlegende Idee einer artbesonderen Kategorie des Erlebens, die zunächst gar keinen Erfahrungsinhalt hat, sondern auf eine a priori veranlagte Ahnung und Bewertung des schlechthin „Ganz anderen“ zurück geht.¹⁹ Berühmt wurde Otto dann besonders für seine Beschreibung der rohen und urtümlichen Momente des „mysterium tremendum et fascinans“ und des „Kreaturgefühls“, die er in klassischen Motiven der Religionsgeschichte wie der

sehen wie nie zuvor, in einer Tiefe verstehen, wie kein Profaner sie erreicht, das war der Sinn und die Forderung dieser Reden über die Religion.“ (Otto 1903, 512 [Anm. 2]).  Die erstgenannte Spur zur Deutung Schleiermachers als divinatorische Gestalt und religiöser Virtuose hat Otto später deutlich zurückgenommen. Seit der Erstauflage von Das Heilige bezweifelt er, dass Schleiermacher eine „eigentlich divinatori[sch]e Natur gewesen ist“ und nimmt ihn aus der Reihe „schöpferischer Persönlichkeiten“ (Otto 1903, 506 [Anm. 2]) in der Wiederentdeckungsgeschichte der Religion heraus, die nun allein den großen charismatischen Stifterfiguren und Propheten bis hin zu Goethe (als der herausragenden divinatorischen Gestalt der Neuzeit) vorbehalten bleibt (vgl. hierzu insbesondere das erste Kapitel zur Divination in Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917, 147– 160 [im Folgenden beziehe ich mich auch auf die Ausgabe Letzter Hand, München 23–251936). Umso wichtiger bleibt Schleiermacher für Ottos Denken im zweitgenannten Sinne, als genialer Theoretiker und Diagnostiker der Religion auf dem Weg in die Moderne. Die wichtigen Passagen zur Theorie religiösen Fühlens und Erlebens wie überhaupt fast alle religionsphilosophischen Abhandlungen Ottos arbeiten sich ausdrücklich an Schleiermacher ab und greifen auf dessen Begriffe zurück (vgl. neben den ausführlichen Schleiermacherpassagen in Das Heilige, insbes. in Otto 1936, 9 – 13, 20 – 21, 23 – 24, 175 – 188 [Anm. 18] z. B. auch den Abschnitt zu Schleiermacher und der Mystik in Rudolf Otto, West-östliche Mystik. Vergleich und Unterscheidung zur Wesensdeutung, Gotha 1926, 324– 341). Siehe hierzu ausführlich Roderich Barth, „Religion und Gefühl. Schleiermacher, Otto und die aktuelle Gefühlsdebatte“, in: Religion und Gefühl. Praktisch-theologische Perspektiven einer Theorie der Emotionen, hg.v. Lars Charbonnier u. a., Göttingen 2013, 15 – 48 und Claus-Dieter Osthövener, „Ottos Auseinandersetzung mit Schleiermacher. Religionstheorie als Zeitdiagnose“, in: Rudolf Otto. Theologie – Religionsphilosophie – Religionsgeschichte, hg.v. Jörg Lauster u. a., Berlin / New York 2013, 179 – 190 sowie ferner Peter Schüz, Mysterium tremendum. Zum Verhältnis von Angst und Religion nach Rudolf Otto, Tübingen 2016, 205 – 241.  Otto sprach bereits in der ersten Auflage seines Hauptwerks von einer „eigentümlichen numinösen Bewertungskategorie“ und „Gemütsgestimmtheit“, die „vollkommen sui generis ist“ (Otto 1917, 7 [Anm. 18]). In späteren Auflagen ergänzte Otto hier noch den Deutungsbegriff und definierte das Herzstück seiner Konzeption des Heiligen als Urmoment einer „numinosen Deutungs- und Bewertungs-kategorie“ (Otto 1936, 7 [Anm. 18]).

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„Gottesfurcht“ oder im „Zorn Gottes“ innerhalb und auch außerhalb des Christentums wiederentdeckte.²⁰ An diesem Punkt hakt schließlich auch ein maßgeblicher Punkt der Kritik an Schleiermacher ein, die Otto in den folgenden Jahren immer deutlicher äußerte und die zugleich einen Grundgedanken von Das Heilige berührt. Als Otto seinen frühen Schleiermacheraufsatz von 1903 fast drei Jahrzehnte später in seinem Aufsatzband Sünde und Urschuld in überarbeiteter Form erneut abdruckte, fasste er die kritischen Einwände nochmals in einem Ergänzungskapitel zusammen.²¹ Der Haupteinwand lautet, Schleiermacher habe die Religionstheorie in unangemessener Weise der Religionsgeschichte und der Methode, die Otto „religionskundlich“ nennt, vorgezogen: Niemand findet erst ein allgemeines „Wesen“ der Religion, das er dann nach einem principium individuationis a priori ein- und abteilt. In Wahrheit geht ein jeder aus von dem, was er als Religion kennt und anerkennt, um dann bei sich erweiternder Umschau Analoges zu finden, es zu vergleichen und zu unterscheiden, verbindende Merkmale zu finden, und, so weit er kann, zu Typen zu gelangen, die dann dem einen vielleicht zu einem letzten einheitlichen „Grundwesen der Religion“ zusammenstreben, dem andern vielmehr in konkurrierenden Typen auseinanderstreben, dem dritten vielleicht gar, trotz der Übereinstimmung in bedeutenden Merkmalen, im Zentrum dennoch als „grundverschiedene Seelenhaltungen“ erscheinen können.²²

Otto macht gegenüber Schleiermacher geltend, allein von unmittelbaren religiösen Ausdrucksformen der Religionsgeschichte her und durch die sich hieran andockende „Selbstbesinnung“, wie es in Das Heilige heißt, sei erst eigentlich zu den Urphänomenen der Religion und ihren Gefühlsdimensionen zu gelangen.²³ Nicht Theorie der

 Vgl. hierzu vor allem die Kapitel zum „Kreaturgefühl“ und zum „mysterium tremendum“ in Otto 1936, 8 – 12 und 13 – 37 (Anm. 18). Besonders die Konzeption des „Kreaturgefühls“ lehnt Otto an Schleiermachers Idee des Gefühls „schlechthinniger Abhängigkeit“ an, welches dieser „glücklich herausgegriffen“ habe (9), kritisiert aber zugleich, Schleiermacher habe in seinem Abhängigkeitsbegriff noch nicht deutlich genug herausgestellt, dass es sich dabei um ein „sich selber bekennendes ‚Abhängigkeits-gefühl‘“ handle, „das doch eben noch mehr und zugleich qualitativ etwas anderes ist als alle natürlichen Abhängigkeits-gefühle“, nämlich ein „Gefühl der Kreatur die in ihrem eigenen Nichts versinkt und vergeht gegenüber dem was über aller Kreatur ist“ (10). Überdies moniert Otto, Schleiermacher habe zu stark das „Selbst-Gefühl“ betont und dabei den Moment purer „Scheu“ unterschätzt, der „Realitäts-gefühle […] eines objektiv gegebenen Numinosen“ aus sich heraussetze (11) – ein Punkt, der im Blick auf Ottos Verhältnis zu Schleiermacher und seine Gesamtkonzeption des Heiligen entscheidend ist.  Vgl. in dem neu abgedruckten Aufsatz in Otto 1932, 123 – 139 (Anm. 2) besonders die auf den Seiten 134– 139 hinzugefügte Kritik.  Otto 1932, 138 – 139 (Anm. 2). Schon in der ersten Auflage von Das Heilige monierte Otto, dass Schleiermacher in seiner Religionstheorie „zwar sehr warm und an[sch]aulich die Divination gegenüber von Welt und Ge[sch]ichte zu [sch]ildern weiß, ihr aber nur knapp in Andeutungen, nicht aber ausführlich und deutlich dasjenige Objekt gibt und läßt, das ihrer am würdigsten und am günstigsten ist: die Ge[sch]ichte der Religion selber und vornehmlich die der bibli[sch]en und deren höchsten Gegenstand und Inhalt, Christum selber.“ (Otto 1917, 161 [Anm. 18]).  Otto hat hier wohl vor allem die fünfte von Schleiermachers Reden im Auge (vgl. u. a. Otto 1932, 138 [Anm. 2] und Otto 1917, 161 [Anm. 18] bzw. Otto 1936, 183 [Anm. 18]). Stark vereinfacht könnte man

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Religion, sondern die in der Religionsgeschichte aufbrechende religiöse Intuition selbst ist es, die laut Otto zur Wiederentdeckung der Religion führt.²⁴ Erst anschließend können dann jene Begriffe und Theorien für das Wesen der Religion gefunden und erörtert werden, die bei Schleiermacher – so als sei er von der Lösung zum Problem gelangt – den Ausgangspunkt bilden.²⁵ In diesem Sinne heißt es im Nachwort der Reden-Edition über Schleiermachers „sozusagen aus der Pistole“ geschossene Idee des „Wesens der Religion“: „Das Wesen der Religion gilt es zu finden, indem man ihre geschichtlichen Erscheinungsformen studiert, und diese nicht in den Systemen, Dogmatiken und Institutionen, die sie hervorgebracht haben, sondern in den religiösen Persönlichkeiten und ihrem ursprünglichen Erleben, besonders im Erleben der religiösgenialen Persönlichkeiten, der Führer, ‚Mittler‘, Heroen, der Propheten und Religionsstifter.“²⁶ Im Anschluss an eine Rezension Heinrich Rickerts macht Otto im Vorwort seines ersten Aufsatzbandes Aufsätze das Numinose betreffend von 1923 allerdings auch deutlich, dass er jenen „Weg der Selbstbesinnung“ anstelle von „hochfliegender Spekulation“ letztlich Schleiermacher verdankt, bei dem er die „Besinnung auf die religiöse Erfahrung selber, so wie wir sie in uns und mehr noch in den Mustern und Typen religiösen Erfahrens“ vorzufinden gelernt habe.²⁷ Sein Einwand besteht letztlich darin, dass Schleiermachers Religionsbegriff für seinen Geschmack zu wenig mit urtümlichen und rohen Ausdrucksformen religiösen Erlebens unterfüttert ist. Salopp gesagt, Schleiermachers Idee der Religion ist Otto zu harmlos – und letztlich mit der vielleicht sagen, die religionsgeschichtlichen Überlegungen, wie sie sich in der fünften Rede andeuten, hätten nach Ottos Auffassung der insbesondere in der zweiten Rede ausgeführten Religionstheorie nicht folgen, sondern vielmehr zu Grunde liegen müssen. Claus-Dieter Osthövener hat nachgewiesen, dass Otto diese für seinen eigenen Ansatz zentrale Methodologie schon im Kommentar der Erstauflage seiner Reden-Edition von 1899 deutlich vor Augen stand (Osthövener 2013, 183 [Anm. 18]).  Vgl. hierzu grundsätzlich die vielleicht aufschlussreichste Passage zu Schleiermacher und insbes. zum Demutsgefühl als Grundmotiv religiöser Intuition in Otto 1926, 324– 341 (Anm. 18).  Die Aufbaulogik von Das Heilige folgt dann auch genau jenem Schema, von der „Selbstbesinnung“ und der Phänomenologie der Momente des Numinosen über deren „Ausdrucksformen“ in der Religionsgeschichte zur Theorie des „religiösen Apriori“ und zur Idee der „Divination“. Dabei ist Otto übrigens der Meinung, auch Schleiermacher sei in seiner Konzeption der Reden insgeheim diesen von Otto als „Religionskunde“ bezeichneten Erkenntnisweg „gegangen oder besser geführt worden“. Schleiermacher sei demnach vom „alten Motive seines frommen christlichen Sonder-Erbes“ aus den Wurzeln seiner Herrnhutischen Frömmigkeit ausgegangen und von dort erst zur Religionstheorie der Reden gelangt: „In geheimer Führung lernte er wieder, was lebendiges Numen sei anstelle eines theistisch korrekten aber toten ‚Gottesbegriffes‘, was Erfahren sei anstelle rationalistischer Beweiskünste, was Ergebung, Demut, Reue, Abhängigkeitsgefühl und Andacht seien anstelle Fichtescher Hochschwünge; was Erlösungsbedürftigkeit sei anstelle moralistischer Selbstvervollkommnung.“ (vgl. Otto 1932, 139 [Anm. 2]).  Otto 1906, XXI (Otto 2002, 209) (Anm. 16). Otto fordert an dieser Stelle eine über Schleiermacher hinausgehende Methode der „Religionskunde“, die zwischen der „psychologischen Analyse“ und der „historischen Induktion“ bewusst zu unterscheiden versteht im Sinne eines „methodischen Programms“ zur „sorgfältigen psychologisch-historischen Gewinnung eines ‚Wesens der Religion‘“.  Vgl. das Vorwort in Rudolf Otto, Aufsätze das Numinose betreffend, Gotha 1923, VI.

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rauen Wirklichkeit der Religionsgeschichte nur bedingt vereinbar. Für Otto steht vielmehr fest, dass „auch das Christentum ‚vom Zorne Gottes‘ zu lehren habe, trotz Schleiermacher und Ritschl“, weil sich gerade hierin das unabdingbare „Dämonische“ der numinosen „Scheu“ als ein wesentlicher Urmoment der Religion gehalten habe.²⁸ Die Wurzeln dieser Kritik führen zweifellos nach Göttingen, wo Otto nicht nur Schleiermacher für sich entdeckte, sondern seit den letzten Semestern seines Studiums unter dem Eindruck von Gelehrten wie Rudolf Smend, Hermann Schultz, Paul de Lagarde, Bernhard Duhm und Julius Wellhausen auch die Entdeckung der Religionsgeschichte und ihre Erforschung durch die historisch-kritische Bibelwissenschaft erlebte.²⁹ Angesichts der sich hier auftuenden Vielfalt religiöser Ausdrucksformen in der Geschichte der Religion lag auch die Frage nach den dahinter liegenden irrationalen Urphänomenen in der Luft. Insbesondere mit seinen Freunden aus dem Umfeld der Religionsgeschichtlichen Schule verbindet Otto seit den Göttinger Jahren also nicht nur der dem Erbe Schleiermachers verbundene Gedanke der Selbstständigkeit der Religion, sondern auch die Faszination für die irrationale Eigendynamik und die urtümlichen Ausdrucksformen der Religion in ihrer geschichtlichen Entwicklung.³⁰ Natürlich konnte Otto in der frühen Göttinger Zeit noch nicht ahnen, dass er Jahre später mit seinem Hauptwerk Das Heilige auch seinerseits als ein Wiederentdecker der Religion gefeiert werden und Adolf von Harnack über ihn sagen würde: „Als vor 130 Jahren Schleiermacher ‚die Religion‘, und als in unseren Tagen Otto ‚das Heilige‘ aus umstrickenden und niederziehenden Verbindungen herausführte, ging ein Schauer der Erleuchtung und Befreiung durch deutsche evangelische Christen.“³¹ Was einige in Otto einen „Schleiermacher redivivus“ sehen ließ, lag nicht allein an seinem eifrigen Einsatz für dessen Werk, sondern daran, dass ihm mit seinem Buch

 Vgl. Otto 1936, 21 (Anm. 18) und zum Hintergrund Hans-Walter Schütte, „Die Ausscheidung der Lehre vom Zorn Gottes in der Theologie Schleiermachers und Ritschls“, NZSTh 10 (1968), 387– 397.  Vgl. zur Bedeutung der alttestamentlichen und religionsgeschichtlichen Forschung, der Otto in Göttingen begegnete und die ihn (wie übrigens auch seinen lebenslangen Freund Heinrich Hackmann) entscheidend prägte, oben Anm. 7. Wie Otto damals auf Schleiermacher kam, ist nur zu vermuten. Nachdem der aus lutherisch-orthodoxem Umfeld stammende Student in Erlangen beim jungen Reinhold Seeberg ein Kolleg über das Leben Schleiermachers besucht hatte, werden es wohl vor allem Göttinger Lehrer wie Hermann Schultz, Theodor Häring und Ferdinand Kattenbusch gewesen sein, denen Otto die entscheidenden Anregungen verdankte. Als Schultz am 15. Mai 1903, also wenige Tage vor dem Erscheinen von Ottos Schleiermacherartikel, starb, verfasste dieser umgehend einen anonymen Nachruf, in dem ausdrücklich Schleiermacher als „wahlverwandte“ Schlüsselfigur in Schultz’ Denken hervorgehoben wird. Vgl. hierzu Rudolf Otto [anonym]: „Hermann Schultz †“, Kirchliche Gegenwart. Gemeindeblatt für Hannover, 2. Jg., Nr. 13 (1903), 191– 194. Schultz‘ Witwe bestätigte diese Einschätzung dann nochmals in einem Dankesbrief: „[…] daß Sie ihn viel mehr von Schleiermacher als von Ritschl abhängig hinstellen, hat gewiß sein Recht.“ (Zitiert aus dem Brief an Otto in: Rudolf Otto Archiv, Universitätsbibliothek Marburg, Signatur: Ms 797.330).  Als wichtigstes Beispiel für die Verbindung von Selbstständigkeitsthese und religionsgeschichtlicher Forschung kann der „Systematiker“ der Religionsgeschichtlichen Schule, Ernst Troeltsch, gelten, den Otto damals in Briefen immer wieder als Vorbild nennt.  Adolf von Harnack, „Die Neuheit des Evangeliums bei Marcion“, ChW 43 (1929), 362– 370, hier 363.

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über das Heilige nach Meinung vieler selbst eine Wiederentdeckung der Religion unter den Bedingungen der Moderne gelungen ist.³²

2 Reformation als Wiederentdeckung der Religion Inwiefern ließe sich im Blick auf die Ausgangsfrage nun von der Reformation als einer Wiederentdeckung der Religion sprechen? Schon in seinem Aufsatz von 1903 räumte Otto der Reformation und Luther eine herausragende Stellung in seiner Wiederentdeckungsgeschichte der Religion ein. Jedoch nicht der Reformator in seiner kirchenhistorischen Bedeutung, sondern das Frömmigkeitsphänomen Luther und die spirituelle Dimension der Reformation ließ ihn von einem „Heros der Religion“ und von einer religiösen „Wiederentdeckung höchsten Grades“ sprechen – ein Grundzug in Ottos Lutherdeutung, dessen Wurzeln bis zu seiner Erstlingsschrift von 1898 über Die Anschauung vom Heiligen Geiste bei Luther zurückreichen und lebenslang prägend blieben.³³ Schnell wird deutlich: Nicht die folgenreichen Hammerschläge an der  Vgl. u. a. Friedrich Heiler, „Die Bedeutung Rudolf Ottos für die vergleichende Religionsgeschichte“, in: Religionswissenschaft in neuer Sicht. Drei Reden über Rudolf Ottos Persönlichkeit und Werk anläßlich der feierlichen Übergabe des Marburger Schlosses an die Universität 1950, hg.v. Birger Forell u. a., Marburg 1951, 13 – 26, hier 25 und Gerardus van der Leeuw, „Rudolf Otto und die Religionsgeschichte“, ZThK, NF 19 (1938), 71– 81, hier 76. Die an Schleiermacher orientierte und gewissermaßen über diesen hinausgehende Bedeutung Ottos für die Theologie im frühen 20. Jahrhundert beschrieb Ernst Benz einmal rückblickend mit den Worten: „Diese Erfahrung des Heiligen, das persönliche Ergriffenwerden von dem Transzendenten, Übermächtigen, Unaussprechlichen steht vor jeder Theologie. Gegenüber der religiösen Urerfahrung – und hierin ist Otto ganz Schüler Schleiermachers – ist alle Theologie und alles Dogma erst nachträgliche intellektuelle Auslegung dessen, was in der Urform der religiösen Erfahrung erlebt wird.“ (Ernst Benz: „Rudolf Otto als Theologe und Persönlichkeit“, in: Rudolf Otto’s Bedeutung für die Religionswissenschaft und die Theologie heute, hg.v. Benz, Ernst, Leiden 1971, 30 – 48, hier 36).  Vgl. die Dissertation Rudolf Otto, Anschauung vom heiligen Geiste bei Luther. Eine historisch-dogmatische Untersuchung, Göttingen 1898. Das in die späteren Werke hinausweisende Potenzial von Ottos Erstlingsschrift hat der Zweitgutachter Paul Tschackert in seinem Korreferat bereits deutlich erkannt und – aus pädagogischen wie aus fachlichen Gründen – eher kritisch gesehen. So meldete der eher konservative Kirchenhistoriker ein gewisses Unbehagen angesichts der „Exatravaganzen“ des jungen Kandidaten an, durch die „die Subjektivität des Herausfindenden der Maßstab zu werden“ drohe. Der Verfasser pflege demnach seine „eigene psychologisch-subjektivistisch-deistische Weltauffassung so energisch in seine Darstellung der Lehre Luthers hinein zu weben, daß man beständig zwei Männer vor sich hat, den Reformator Luther und den Verfasser der Arbeit, der nicht blos kritisiert, sondern sich gern expectoriert, nicht blos in den Excursen, sondern auch mitten im Text. Die Wärme seines eigenen religiösen Empfindens drängt ihn bei jeder sich darbietenden Gelegenheit zur Kundgebung seiner eigenen Erkenntnis; aber die Sache, um die der Gegenstand, um den es sich handelt, verliert dadurch die strenge Sachlichkeit.“ (vgl. das handschriftliche Gutachten in: Universitätsarchiv der Universität Göttingen, Akte Rudolf Otto 1898, Theol. Prom. 0136, 40 – 43). Ebenso skeptisch wie präzise bringt Tschackert, der Wilhelm Herrmann als fragwürdiges Vorbild von Ottos Studie vermutet, dabei auf den Punkt, was Reinhold Seeberg bald darauf in einer Rezension kritisch als „neues litterarisches Genre“ bezeichnete (vgl. Reinhold Seeberg, „Neue Kirchengeschichte: Geschichte der protestantischen

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Wittenberger Schlosskirche oder die reformatorischen Hauptschriften, sondern der freie Durchbruch religiöser Intuition ist für Ottos Deutung der Reformation entscheidend.³⁴ In Das Heilige sieht Otto Gottes „‚Unoffenbarkeit‘ in der schauervollen Majestät seines Gottseins selbst“ besonders in der Reformationszeit durch urtümliche, geradezu dämonische Gefühlslagen und Ausdrucksmotive zur Eruption kommen.³⁵ Gegen bürgerliche Lutherbilder des 19. Jahrhunderts zeichnet er einen religiösen Rebellen, der aus rohen, ganz fernab gelehrter Theologie liegenden, archaisch-volksreligiösen Stimmungen das „uralte ‚Unheimliche‘“ im religiösen Erleben wiederentdeckt und theologisch in der „Idee der Verlorenheit“ zum Anker seiner Theologie gemacht habe.³⁶ Theologie“, ThR 3 (1900), 469 – 484, hier 470 [Rezension „R. Otto, Anschauung vom heil. Geiste bei Luther“]). Es ging Otto schon damals nicht um reine kirchen- und theologiegeschichtliche Forschung, sondern um ein im Anschluss an Luther entzündetes, systematisches Anliegen, in dem auch seine zeitgleiche Auseinandersetzung mit Schleiermacher durchschimmert. Bereits hier hat Otto die Spur eines religiösen Intuitionsvermögens, einer Anlage für religiöse Urgefühle im Auge, die er bei Luther entdeckt und in seinen späteren Werken dann umfassend zu einer eigenen Frömmigkeitstheorie ausbaut. Tschackert scheint dies geradezu vorausgesehen zu haben und wusste schon im Promotionsgutachten trotz aller Kritik zu würdigen: „Was die Arbeit im ganzen betrifft, so zeigt sie ein fleißiges Sich-vertiefen des Verfassers in Luthers Gedanken und eine schöne Begabung, fremden Gedankenreihen mit innerster Beteiligung nachzugehen und aus Anlaß derselben eigene Gedanken mit gutem dogmatischem Geschick aufzustellen. Ja man kann wohl sagen, ihr Verfasser zeigt die erfreulichsten Ansätze zu originaler Gedankendiktion: er übernimmt nicht blos, er reflektiert auch nicht blos über Gegebenes, sondern kraft einer lebendig sprudelnden Anschauungskraft schafft er Neues. Wenn auch seine phantasievollen Ausblicke sich noch nicht immer für einen klaren Lehrvortrag eignen, so ist doch alle Hoffnung vorhanden daß der Verfasser, wenn er das logische Denken die Oberhand gewinnen läßt über seine Phantasie, die systematische Theologie recht erheblich fördern dürfte.“ (Tschackert 1898, Hervorhebungen im Original unterstrichen).Vgl. hierzu auch das durchweg positive Erstgutachten von Ottos Lehrer und Mentor Hermann Schultz in: Universitätsarchiv der Universität Göttingen, Akte Rudolf Otto 1898, Signatur: Theol. Prom. 0136, 37– 38.  In diesem Sinne ist es neben Luthers Predigten und erbaulichen Texten besonders die Schrift De servo arbitrio, in der Otto die eigentliche Pointe von Luthers Theologie zum Ausdruck gebracht sieht. In Das Heilige bekennt er: „Ja, an Luthers de servo arbitrio hat sich mir das Verständnis des Numinosen und seines Unter[sch]iedes gegen das Rationale gebildet, lange bevor ich es im Qādoš des Alten Testamentes und in den Momenten der ‚religiösen [Sch]eu‘ in der Religionsge[sch]ichte überhaupt wiedergefunden habe.“ (Otto 1917, 104– 105 [Anm. 18]).  Vgl. u. a. Otto 1936, 121 (Anm. 18).  Vgl. Otto 1936, 122 (Anm. 18). Zu Ottos Lutherdeutung sind in den letzten Jahren zahlreiche Studien entstanden. Über die fundamentale Bedeutung Luthers für Ottos Denken seit der Dissertation von 1898 sind sich die Beiträge durchweg einig. Vgl. hierzu u. a. Roderich Barth, „Systematische Lutherdeutung in der liberalen Theologie“, ZNThG 16 (2009), 58 – 74; Ulrich Barth, „Psychologie der Religion. Zugänge zu Rudolf Ottos klassischem Entwurf“, in: ders., Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 352– 374; Thorsten Dietz, „Die Luther-Rezeption Rudolf Ottos oder die Entdeckung der Kontrast-Harmonie der religiösen Erfahrung“, in: Rudolf Otto. Religion und Subjekt, hg.v. Thorsten Dietz / Harald Matern, Zürich 2012, 77– 107; Wolf-Friedrich Schäufele, „Rudolf Ottos Lutherbild“, in: Rudolf Otto. Theologie – Religionsphilosophie – Religionsgeschichte, hg.v. Jörg Lauster u. a., Berlin / New York, 165 – 178; HansWalter Schütte, Religion und Christentum in der Theologie Rudolf Ottos, Berlin 1969, 11– 22; Schüz 2017, 137– 204 (Anm. 18).

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Damit nimmt Otto eine durchaus faszinierende Spur in der Geschichte der Lutherdeutungen auf, die weit in das 19. Jahrhundert zurückreicht. Schon Goethe zog dem „verworrenen Quark“ der Reformation bekanntlich den faszinierenden „Charakter“ Luthers und den „poetischen, mythologischen Anstrich“ der reformatorischen Gestalten vor und dürfte damit auch den Goetheverehrer Otto beeinflusst haben.³⁷ Zu den vielleicht literarisch eindrucksvollsten Lutherdarstellungen überhaupt mag jene von Heinrich Heine zählen, in der Luther als „träumerischer Mystiker“ und als „ein begeisterter, gottberauschter Prophet“ dargestellt wird: „Er war voll der schauerlichsten Gottesfurcht, voll Aufopfrung zu Ehren des heiligen Geistes, er konnte sich ganz versenken ins reine Geistthum; […] Wie soll ich sagen, er hatte etwas Ursprüngliches, Unbegreifliches, Mirakulöses, wie wir es bey allen providenziellen Männern finden, etwas schauerlich Naives, etwas tölpelhaft Kluges, etwas erhaben Bornirtes, etwas unbezwingbar Dämonisches.“³⁸ Wie Otto, der in Das Heilige später das „uralte ‚Unheimliche‘“ und die „dämonische ‚Scheu‘“ besonders beim „Bauernsohn“ Luther in den „elementaren Grundgefühlen gelebter Volksreligion und speziell der Bauern-religion“ aufwallen sieht,³⁹ betonte schon Heine die volksreligiösen Eindrücke des Bergarbeitersohnes als entscheidende Spurenelemente in Luthers Wesen:

 Vgl. die Bemerkung zum 300. Jubiläum des Thesenanschlags 1817 in Goethes Brief an Karl Ludwig von Knebel vom 22. August 1817 und hierzu u. a. Kay Ehling, „Ein ‚verworrener Quark‘ – Goethe und das Dritte Evangelische Jubelfest in Weimar 1817“, Archiv für Kulturgeschichte 97 (2015), 395 – 426. Ehling betont hier besonders die „Herkulesgestalt“ Luthers, die Goethe geschätzt habe (401– 402). Grundsätzlich sind freilich Goethes Äußerungen über Luther und die Reformation ähnlich schwer auf einen Begriff zu bringen wie sein Verhältnis zum Christentum (vgl. für einen Überblick Jörg Baur, „Martin Luther im Urteil Goethes“, Goethe-Jahrbuch 113 [1996], 11– 22). In Goethes Gesprächen mit Eckermann ist es besonders der Geniebegriff, der im Vordergrund steht. Vgl. Eckermanns Schilderungen zum 11. März 1828 (Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens MA 19, hg.v. Heinz Schlaffer, München 1986, 606) und zum 11. März 1832 (695). Es ging Goethe dabei nicht unbedingt um Luther als religiösen Charismatiker und Propheten, dennoch hat der moderne Protestantismus aber gerade hier Anknüpfungspunkte zu einer Neudeutung Luthers im Sinne eines divinatorischen und dämonischen Virtuosen gesehen. Vgl. hierzu nur den bekannten Aufsatz Adolf von Harnack, „Die Religion Goethes in der Epoche seiner Vollendung“, in: ders., Erforschtes und Erlebtes, Reden und Aufsätze. Neue Folge 4, Gießen 1923, 141– 170 und zum Hintergrund Jan Rohls, „‚Goethedienst ist Gottesdienst‘. Theologische Anmerkungen zur Goethe-Verehrung“, in: Goethe in Gesellschaft. Zur Geschichte einer literarischen Vereinigung vom Kaiserreich bis zum geteilten Deutschland, hg.v. Jochen Golz / Justus H. Ulbricht, 33 – 62 sowie Friedemann Voigt, „Die Goethe-Rezeption der protestantischen Theologie in Deutschland 1890 – 1932“, in: Protestantismus und Ästhetik. Religionskulturelle Transformationen am Beginn des 20. Jahrhunderts, hg v. Volker Drehsen u. a., Gütersloh 2001, 93 – 119.  Heinrich Heine [1834], Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, HDA 8/1, hg.v. Manfred Windfuhr, Hamburg 1979, 9 – 120, hier 33 – 34. In der französischen Erstausgabe wurde Luther sogar explizit im Titel genannt: De lʼAllemagne depuis Luther, 1834 erschienen in der Zeitschrift Revue des deux mondes.  Vgl. Otto 1936, 122 und 119 – 120, Anm. 3 (Anm. 18) wo Otto resümiert: „Den dunklen omnipotentiagott von De servo arbitrio kennt gerade Bauernreligion instinktiv und unabhängig vom kirchlichen Katechismus.“

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Luthers Vater war Bergmann zu Mansfeld, und da war der Knabe oft bey ihm in der unterirdischen Werkstatt, wo die mächtigen Metalle wachsen und die starken Urquellen rieseln, und das junge Herz hatte vielleicht unbewußt die geheimsten Naturkräfte in sich eingesogen, oder wurde gar gefeyt von den Berggeistern. Daher mag auch so viel Erdstoff, so viel Leidenschaftschlacke, an ihm kleben geblieben seyn, wie man dergleichen ihm hinlänglich vorwirft. Man hat aber Unrecht, ohne jene irdische Beymischung hätte er nicht ein Mann der That seyn können.⁴⁰

Am Ende des 19. Jahrhunderts war es dann besonders Wilhelm Dilthey, dem jene intuitive und urtümlich-irrationale Kraft in Luthers Wesen und Frömmigkeit besonders am Herzen lag. In seiner Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert schrieb der Schleiermacherbiograph, dem Otto später seine Jubiläumsausgabe der Reden widmete: Alle diese dogmatischen Voraussetzungen sind allerdings in den Dienst einer gemütsmächtigen Zuversicht des Glaubens gestellt; sie werden hierdurch Teile einer einzigen lebendigen Erfahrung; sie werden der Vernunftreflexion entzogen. […] Luther, eines Bergmanns Sohn, in nordischen Bergen, ein Mönch in Nebeln, Schnee und Unbildlichkeit der Natur, ohne einen Schimmer von Kunst in seiner Seele, auch ohne ein stärkeres Bedürfnis nach Wissenschaft, nichts als Unsichtbarkeit alles Höheren um sich, Unbildlichkeit höherer Kräfte und Kraftverhältnisse: Er erst hat den religiösen Prozeß ganz losgelöst von der Bildlichkeit des dogmatischen Denkens und der regimentalen Äußerlichkeit der Kirche.⁴¹

Diltheys Bild Luthers als „religiöses Genie“⁴² und spätmittelalterlicher Mystiker hat um 1900 zahlreiche Gleichgesinnte in der protestantischen Theologie gefunden. So schrieb Adolf von Harnack in seinem Lehrbuch der Dogmengeschichte, es sei in Luthers Reformation um „nichts weniger“ gegangen als darum, „das religiöse Verständnis des Evangeliums, das souveräne Recht der Religion in der Religion“ wieder herzustellen.⁴³ Es sei, wie Harnack an anderer Stelle schreibt, die Reformation die „Enthüllung dessen, was in der Weltgeschichte längst aufgeleuchtet, aber wieder verdunkelt war“ und somit ein epochaler „Umschwung in der Religionsgeschichte“.⁴⁴ In dieser Deu-

 Heine 1979, 34 (Anm. 38).  Wilhelm Dilthey [1891/92], Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert, Gesammelte Schriften II, Leipzig/Berlin 1914, 57– 58 (Kursivierung im Original gesperrt). Zum Hintergrund vgl. Ernst-Wilhelm Kohls, „Das Bild der Reformation bei Wilhelm Dilthey, Adolf von Harnack und Ernst Troeltsch“, NZSTh 11 (1969), 269 – 291.  Dilthey 1914, 54 u. a. (Anm. 41).  Vgl. Adolf von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 3, Tübingen 41910, 813. In seiner berühmten Vorlesung von 1899/1900 betonte Harnack besonders die religiöse Intuition Luthers: „Endlich, er wollte überall auf das Ursprüngliche, auf das Evangelium selbst zurückgehen, und soweit das durch Intuition und innere Erfahrung möglich war, hat er es geleistet.“ (Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums, hg.v. Claus-Dieter Osthövener, Tübingen 22007, 162 (=182 in der Originalpaginierung der Ausgabe letzter Hand). Insofern war es nur konsequent, auch andere Gestalten der Religionsgeschichte als „Reformator[en] der christlichen Frömmigkeit“ zu bezeichnen (z. B. Augustinus in Harnack, 1910, 59).  Adolf von Harnack, „Die Bedeutung der Reformation innerhalb der allgemeinen Religionsgeschichte“, in: Reden und Aufsätze II, Gießen 1904, 295 – 326, 312 und 321.

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tungslinie ist nun auch Otto mit seiner Wiederentdeckungsthese bereits deutlich zu erkennen, der sich – wie Harnack einmal in einer Rezension zu Das Heilige bemerkte – besonders um „die Aufdeckung des Primitiven in der Religion“ als etwas „BleibendWurzelhafte[m] in ihr“ verdient gemacht habe.⁴⁵ Auch Ernst Troeltsch hat damals diese religionsgeschichtliche Dimension der Reformation und ihre tief ins Spätmittelalter zurückragende Fremdheit eindrücklich vor Augen geführt und zugleich auf die bleibende, zeitlose Bedeutung Luthers für die „religiöse Idee“ der „modernen Welt“ in der „Ursprünglichkeit und Kraft seines religiösen Erlebnisses“ und seiner „Phantasie und Irrationalität“ hingewiesen.⁴⁶ Der hier kurz skizzierten und bis zu Otto reichenden Deutungslinie zufolge ist es also gerade nicht das kulturgeschichtlich in die Neuzeit oder gar in die Aufklärung weisende Erbe, das die Reformation bedeutsam macht.Vielmehr ist das aufbrechende „Kreaturgefühl“ und die kraftvolle Revitalisierung des Zumutungscharakters der Religion in ihren Paradoxien und archaischen Urformen entscheidend. So verstanden ist Reformation für Otto – zumindest in Bezug auf die Religion – kein humanistischaufklärerischer Fortschritt, wie man besonders im Rückgriff auf Hegel immer wieder gerne annahm, sondern eher eine Rückbesinnung auf das, was ursprünglich mal mit Begriffen wie „Gottesfurcht“, „heiliger Scheu“ und „Sühne“ gemeint und seit frühsten Zeiten der Religionsgeschichte eine Urform religiöser Intuition war.⁴⁷ In seiner Fokussierung auf jene irrational-intuitive Dimension der Religion nimmt Otto nun nicht nur von der lutherischen Orthodoxie, sondern auch von der neuprotestantischen Lutherdeutung, wie sie insbesondere durch Ritschl geprägt wurde, Abstand. In einer unscheinbaren Fußnote seiner Schrift Die Gnadenreligion Indiens und das Christentum von 1930 schrieb er später über Jesus Christus und den „tiefste[n] Sinn seiner Erscheinung“ als „Versühner“: Mein Buch über „das Heilige“ ist seinerzeit entstanden aus den Versuchen, in meiner Vorlesung für mich selbst und für meine Hörer einen Zugang zu schaffen zu dieser tiefsten aller christlichen Intuitionen, die ich in den orthodoxen Konstruktionen der „Versöhnungslehren“ sowohl angedeutet wie verschüttet erkannte, und die mir auch in den Versuchen Ritschls über „Rechtfertigung und Versöhnung“ nicht gefunden erschien. Ich kam zu dem Ergebnisse, daß „Sühne“ einer Theorie in Begriffen im tiefsten Grunde nicht zugänglich sei. Das „Fallbeil“ – wie einer meiner Kritiker es gut bezeichnet – fiel – eine für alle Rationalisten unbequeme Tatsache. Aber was ich „begriff“, das war, daß wir oft im tiefsten Grunde das „verstehen“, was wir nicht „begreifen“ und

 Adolf von Harnack, Rez. zu „Rudolf Otto, Das Heilige“, Deutsche Literaturzeitung N.F. 1 (1924), 993.  Vgl. u. a. Ernst Troeltsch [1907/08], Luther und die moderne Welt, KGA 8, hg.v. Trutz Rendtorff, Berlin / New York 2001, 53 – 98. Troeltsch, der übrigens ebenso wie Harnack und Otto (und ganz anders als Ritschl) De servo arbitrio als entscheidende und tiefsinnigste Lutherschrift hervorhebt, betont hier besonders „Innerlichkeit“ und „Individualität“ als Grundmerkmale des bleibenden reformatorischen Erbes. Vgl. hierzu erneut Kohls 1969, 269 – 291 (Anm. 41).  Vgl. Otto 1936, 121 (Anm. 18).

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wofür wir keine Theorie haben, wie Luther sagt: „Gott kann man nicht begreifen, und man fühlet ihn doch.“⁴⁸

In der Zeit um den Ersten Weltkrieg kamen jene eher dunkel und irrational gefärbten Töne sicherlich der Zeitstimmung entgegen.⁴⁹ Entsprechend beträchtlich war auch die über Schulgrenzen hinwegreichende Rezeption von Ottos Reformationsdeutung, die nicht nur bei den Liberalen, sondern auch bei Lutherforschern wie Werner Elert, Heinrich Bornkamm und Walther von Loewenich Zustimmung fand.⁵⁰ Als Beispiel sei nur auf die außerordentlich vielrezipierte Luther-Biographie Gerhard Ritters aus den Zwanzigerjahren verwiesen, die Ottos Ansatz – ohne explizite Namensnennung – bis in den Wortlaut aufnimmt.⁵¹ Wenn man Otto so weit folgen mag, die eigentliche Pointe der Reformation in ihrer Wiederentdeckung eines zeitlosen Darstellungsproblems der Religion, also des Problems der angemessenen Verarbeitung des im religiösen Erleben sich ausdrückenden schlechthin Inkommensurablen zu sehen, stellt sich das Reformatorische weniger als historisches Phänomen, sondern als prinzipielle, freilich nicht an das 16. Jahrhundert

 Rudolf Otto, Die Gnadenreligion Indiens und das Christentum. Vergleich und Unterscheidung, München 1930, 81– 82, Anm. 1.  Zum „neuromantisch-neureligiösen Nerv der Zeit“, den Otto insbesondere in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg traf, vgl. Markus Buntfuß, „Rudolf Ottos (neu)romantische Religionstheologie im Kontext der ästhetischen Moderne“, in: Rudolf Otto. Theologie – Religionsphilosophie – Religionsgeschichte, hg.v. Jörg Lauster u. a., Berlin / New York 2013, 449 – 462.  So heißt es bei Elert: „Aber was für eine Wandlung gegenüber Ritschl, wenn Otto nun die gefundene Kategorie auf das Christentum anwendet! Gegenüber den banalen Einwänden Ritschls gewinnt Otto wieder gleich Luther ein echtes Empfinden für das im Zorn Gottes liegende Mysterium wie für das Mysterium des Sühnebedürfnisses und der Sühnung, auf das, wie Otto sagt, niemand verzichten kann, der christliche und biblische Religiosität vertreten will.“ (Werner Elert, Der Kampf um das Christentum. Geschichte der Beziehungen zwischen dem evangelischen Christentum in Deutschland und dem allgemeinen Denken seit Schleiermacher und Hegel, München 1921, 448 – 449). Bornkamm schreibt über Otto: „Vielmehr bietet er in seiner prophetischen Kraft ein unvergleichliches und dem modernen Menschen innerlich trotz allem Trennenden noch sehr nahes Zeugnis für die Grundphänomene aller Religion, die Schauder erregenden und zugleich beseligenden Erfahrungen des Göttlichen. Erst vor dem dunklen Hintergrunde des im Gewissen und in den Anfechtungen erlebten Zornes Gottes, des Erschauerns vor der unnahbaren Majestät und den Abgründen der Erwählung gewinnt Luthers jubelnder Glaube an Gottes Liebe seine Tiefe. Rudolf Otto versuchte mit dieser Rückbesinnung auf die Elemente von Luthers Frömmigkeit der landläufigen Vermenschlichung des christlichen Gottesbildes Einhalt zu gebieten.“ (Heinrich Bornkamm, Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte. Mit ausgewählten Texten von Lessing bis zur Gegenwart, Göttingen 21970, 112). Zu Loewenichs Würdigung Ottos, in der es heißt, es sei „in der Phänomenologie der Religion bei R. Otto ein Stück von dem Lebensgefühl der Krise der Moderne wirksam“, vgl. Walther von Loewenich, Luther und der Neuprotestantismus, Witten 1963, 274– 283, hier 278.  Vgl. die letzte Auflage Gerhard Ritter, Luther. Gestalt und Tat, München 71983, ursprünglich ein biographischer Essay in Hans von Arnims zweibändigem Kompendium Kämpfer. Großes Menschentum aller Zeiten von 1923, der 1925 unter dem Titel Luther. Gestalt und Symbol als Buch ausgearbeitet wurde und zwischenzeitlich (1934) auch Luther der Deutsche hieß.

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gebundene, religiöse Grundhaltung dar. Das zeitlose Erbe, das Schleiermachersche „Noch-fort-gehen“ der Reformation, schließt nach Otto demnach auch den epochenübergreifenden Sinn und Geschmack für die Aufklärungsresistenz der Religion und die wiederkehrende Sehnsucht nach ihren auch in höchsten Entwicklungsstufen noch immer lebendigen Urmomenten bei gleichzeitigem Unbehagen an deren begrifflicher Erfassung ein. ⁵² Dahinter steht ein Gedanke, der angesichts aktueller Debatten zur Möglichkeit der „Zähmung“ und Domestizierung der Religionen zu denken gibt: Mag auch der ethisch-rationale Überbau der Religionen eine Fortentwicklungs-, Aufstiegs- oder Aufklärungsgeschichte beschreiben, so bleibt das darunter brodelnde, ewig gleiche Darstellungsproblem der Frömmigkeit bestehen und drängt in unmittelbare, urtümliche Ausdrucksformen, mit denen die Religion vor nicht mehr rekonstruierbarer Zeit „mit sich selber angefangen hat“.⁵³ Immer wieder gibt es demnach Revitalisierungen des – hier reformatorisch genannten – Bewusstseins für das Darstellungsproblem der Religion, das in religiösen Bewegungen und Einzelgestalten produktiv wird. Schleiermacher und Otto verbindet vor diesem Hintergrund vielleicht nicht zufällig auch ihr leidenschaftliches Engagement für eine Erneuerung der Agende, der Liturgie und des Kirchenliedes als eines zu aktualisierenden Vollzugsund Aneignungsrahmens dessen, was in Begriffen nicht vollends zu fassen ist und auf unmittelbare Ausdrucksformen religiöser Intuition zurückgeht.⁵⁴ Auch wenn die dunklen Motive des „tremendum“ nach Ottos Auffassung bei Schleiermacher etwas zu kurz kommen, kann er daher auch diesen selbst als „genialen Reformator der evangelischen Theologie“ und als „Neu-Beleber und Erwecker der Frömmigkeit für viele“ würdigen.⁵⁵ Eine Einschätzung, die Otto nicht nur mit prominenten Zeitgenossen wie Dilthey, sondern auch mit frühen und durchaus originellen Lesern Schleiermachers im 19. Jahrhundert wie Claus Harms oder August Neander teilt.⁵⁶

 Sicher dachte Otto in erster Linie an Luther, als er im Kommentar zu Schleiermachers Reden schrieb: „Die Heroen der Religion wissen nichts von Systematisieren und Theoretisieren. Ihre Religion ist nichts als das geheimnisvolle Erleben und Bewegtwerden von der ewigen Welt, ihre Rede und Äußerung nichts als die unwillkürliche, gewaltige Darstellung und Mitteilung des Erlebten.“ (Otto 2002, 35 [Anm. 16]).  Vgl. den bekannten und immer wieder verwendeten Ausdruck Ottos zur Entstehung der Religion z. B. in Otto 1917, 136 (Anm. 18).  Stellvertretend für Ottos zahlreiche Schriften zu Gottesdienst, Liturgie und Kirchenlied vgl. nur Rudolf Otto, Zur Erneuerung und Ausgestaltung des Gottesdienstes, Gießen 1925 und dazu die Dissertation Katharina Wiefel-Jenner, Rudolf Ottos Liturgik, Göttingen 1997.  Vgl. Otto 1899, VI–VII (Anm. 16); Otto 2002, 7 (Anm. 16).  Vgl. hierzu die bekannte Würdigung Schleiermachers als nachreformatorischen Reformator in Diltheys Leben Schleiermachers von 1870. Den von Claus Harms zum Reformationsjubiläum 1817 verfassten 95 Thesen, in denen Schleiermachers Reden als „Stoß zu einer ewigen Bewegung“ gefeiert und deren Verfasser in die Reihe der Reformatoren gestellt wird, konnte Otto insofern einiges abgewinnen, als er hier die Entdeckung des „Demutsgefühls als Urelement der Religion“ aus dem Geiste religiöser Intuition und Mystik mit dem Feuer unmittelbarer frommer Ausdruckskraft kongenial verbunden sah (vgl. Otto 1926, 329 [Anm. 18] und Otto 1936, 78 [Anm. 18]). Eine eher in die Wirkungsgeschichte der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts übergehende Deutung der Reformation als Prinzip bzw. als

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3 Reformation und das „immer Inadäquate“ religiöser Darstellungsformen Große Reformationsjubiläen waren immer auch Versuche der Selbstbesinnung und Neujustierung des Protestantismus.⁵⁷ Dies mag ebenso für das Jahr 2017 gelten – gerade weil die Meinungen über das Gelingen der Feierlichkeiten und über die gewählten Erinnerungsformate auseinandergehen. Die kontroversen Debatten und scharfen Auseinandersetzungen um die angemessene Erinnerungskultur rund um den fünfhundertsten Thesenanschlagsjahrestag lassen deutlich werden: Reformationsjubiläumsfeierlichkeiten bringen nicht zu leugnende Vermittlungsprobleme zwischen Reformation und Gegenwartsprotestantismus ans Licht, die von Generation zu Generation neu ausgehandelt werden müssen.⁵⁸ Die Hauptlinien dieser generationenübergreifenden Vermittlungskrise rangieren besonders entlang jener Deutungspositionen, die auch schon zur Zeit Ottos maßgeblich waren: Es stehen sich historischkritische Quellenforschung und aktualisierende, gegenwartsorientierte Deutungskultur gegenüber. Die Verfechter einer historisierenden Luther- und Reformationsdeutung monieren, man verzeichne den Reformator nach Belieben zu einem kirchenpolitischen Markensiegel, das mit den Wurzeln im 16. Jahrhundert kaum oder gar nicht mehr in Kontakt steht.⁵⁹ Allzu leicht komme dabei dann ein irgendwie für etwas Gutes stehendes Playmobilmännchen als Hoffnungsträger einer um die eigene Identität und Relevanz besorgten Noch-Volkskirche heraus.⁶⁰ Die Gegenposition kontert

zeitloses „religiöses Element“ findet sich besonders in den frömmigkeitsgeschichtlichen Arbeiten August Neanders, der sich in diesem Zusammenhang ebenfalls auf Schleiermacher beruft. Vgl. hierzu August Neander, „Ueber Matthias von Janow als Vorlä ufer der deutschen Reformation und Reprä sentanten des durch dieselbe in die Weltgeschichte eingetretenen neuen Princips“, in: ders., Wissenschaftliche Abhandlungen, hg.v. Justus Ludwig Jacobi, Berlin 1851, 92– 111, hier 95 – 96 und August Neander, „Das verflossene halbe Jahrhundert in seinem Verhältnis zur Gegenwart“, in: ders., Wissenschaftliche Abhandlungen, hg.v. Justus Ludwig Jacobi, Berlin 1851, 215 – 268.  Vgl. hierzu u. a. Hartmut Lehmann, Luthergedächtnis 1817 bis 2017, Göttingen 2012.  Vgl. hierzu und zur latenten „Unsicherheit protestantischer Erinnerungskultur“ Ulrich Barth, „Die Ambivalenz des reformatorischen Erbes. Luther-Deutungen des Theologischen Historismus um 1900“, in: ders., Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 375 – 386 und hier besonders 375.  Zum Hintergrund und den Problemen des Erbes historistischer Lutherbilder vgl. erneut Barth 2014, 375 – 386 (Anm. 58), der besonders die „kultur- und dogmengeschichtlichen Fragen“ in den Lutherdeutungen um 1900 und ihre Bedeutung für die Gegenwartsrelevanz der Reformation herausstellt.  In einem vielbeachteten Artikel bezeichnete der FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube in diesem Zusammenhang das Reformationsjubiläum als einen Fall von „Produktpiraterie“, denn mit größerem Recht könne sich die FDP auf Karl Marx berufen, als die EKD auf Luther (vgl. den Artikel Lasst uns froh und Luther sein in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 31.10. 2016). Gemäßigter zur Vermittlungskrise des Protestantismus im Jahr 2017 vgl. Johann Hinrich Claussen, „Zwischen altlutherischer Heldenverehrung und spätkapitalistischer Playmobilisierung. Überlegungen zum Problem, die Erinnerung an die Reformation heute öffentlich darzustellen“, in: Das Christentum hat ein Darstellungsproblem, hg.v. Tobias Braune-Krickau u. a., Freiburg 2016, 11– 25.

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nicht weniger scharf. Dem konsequent und redlich historisierten Lutherbild hält man vor, eine kaum noch verständliche Gestalt aus einer uns überaus fernen und fremden Zeit zu musealisieren, die der aktuellen Situation des Protestantismus eigentlich nicht mehr viel zu sagen hat. Folglich zieht man demgegenüber eine gestalterische Reformations- und Lutherinterpretation vor, die primär auf Gegenwarts- und Zukunftsfragen gerichtet ist. Zu befrieden ist dieser Konflikt letztlich kaum, denn er gründet in prinzipiell verschiedenen theologischen Haltungen. Beide Positionen ringen in all ihren Spielarten um die kaum zu lösende Aufgabe, historische Wurzeln und ihre Ursprungserinnerung mit gegenwärtiger Kultur und Frömmigkeit vermitteln zu müssen. Das bleibende Anregungspotential der Reformationsdeutung Ottos im Fluchtpunkt seiner Schleiermacherrezeption scheint mir demgegenüber darin zu bestehen, nicht die Reformation selbst, sondern die in ihr zur Erscheinung gekommenen Frömmigkeitsmotive und Aneignungsformen in ihrer zeitlosen Bedeutung zu beschreiben und auf ihre Anknüpfungspunkte hin transparent zu machen. Zu erinnern wäre bei einem Reformationsjubiläum in diesem Sinne dann wohl weniger ein Ereignis vor 500 Jahren, sondern etwas, was so alt ist wie die Religion selbst: die Freiheit des zeitlosen und bis heute lebendigen Ringens um das – wie Otto später sagte – „Vorantreibende, Nieruhende in der religiösen Vorstellungsbildung“ aufgrund des unvermeidbar „immer Inadäquaten der Ausdrucksmittel“ in der Frömmigkeitsgeschichte.⁶¹ Die Ursprungssehnsucht der reformatorischen Tradition wäre in diesem Sinne kein historisches Schwelgen in den Wurzeln im 16. Jahrhundert, sondern eine Sehnsucht des religiösen Individuums nach den bleibenden und unaussprechlichen, letzten Geheimnissen des christlichen Glaubens. Für das hoch anspruchsvolle Projekt einer der eigenen Epoche angemessenen Reformationsdeutung braucht es demnach – darin wären sich Otto und Schleiermacher sicher einig – mehr als Gelehrsamkeit: Es braucht so etwas wie religiöse Kongenialität, die das bleibend Berührende und Tiefe, das zugleich Fremde und Inspirierende in Luthers Frömmigkeit als den zeitlosen Kern des reformatorischen Anliegens in Frömmigkeitsformen der Gegenwart sichtbar zu machen oder in ihnen wiederzuerkennen versteht. Derart kongeniale Reformationsdeutungen sind dann nicht mehr bloß Zeugnisse über die Reformation, sondern in gewisser Weise selbst reformatorische Ereignisse, indem sie die großen religiösen Fragen von damals als die bleibenden religiösen Fragen von heute aufzuweisen imstande sind. Die eigentlich inspirierenden und charmanten Reformationsjubiläumsbücher wären demnach vielleicht nicht zuletzt solche, denen gelingt, was Rudolf Otto mit seinem vor 100 Jahren im Reformationsjahr 1917 erschienenen Buch Das Heilige gelungen ist. Vielleicht gerade weil es kein Lutherbuch ist, wurde sein Hauptwerk von

 Vgl. den wichtigen Aufsatz Rudolf Otto, „Mythus und Religion in Wundts Völkerpsychologie“, ThR 13 (1910), 251– 275, 293 – 305, hier 302 und in überarbeiteter Form im späten Aufsatzband Rudolf Otto, Das Gefühl des Überweltlichen (sensus numinis), München 1932, 52.

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vielen als reformatorisches Ereignis wahrgenommen, als eine kongeniale Besinnung auf Grundmotive christlicher Frömmigkeit und den Wandel ihrer geschichtlichen Ausdrucksformen; und zwar so, dass sie auch der religiösen Intuition, dem Erleben des Einzelnen in der Moderne nachvollziehbar sind beziehungsweise mit dem eigenen religiösen Erleben vermittelt oder darin wiedererkannt werden können.⁶² In Ottos Blick auf die Religionsgeschichte ließe sich schließlich Schleiermachers Vision des ewigen „Fortgehens“ der Reformation damit vielleicht auch als zukunftsoffene Revitalisierungsgeschichte des geheimnisvoll unverfügbaren, archaischen Restes und Randes der Religion verstehen, um den zweifellos auch Luther gerungen hat. Wo Otto über Schleiermacher hinausgeht, steht besonders die Darstellung des Undarstellbaren und die sich Ratio und Ethos entziehende, rohe Eigendynamik religiöser Ausdrucksformen im Vordergrund. Nicht nur im Christentum entdeckt er jene irrational-mystischen Elemente wieder, sondern das Gesamtuniversum der Religionsgeschichte wird zum Kraftfeld reformatorischer Bewegung, das bei Otto bis zurück zum Autor des Hiobbuches oder zu religiösen Stifterfiguren des alten Indien reicht. Welche religiösen Reformationen sich auf dieser Linie in Zukunft noch ereignen und welche Gestalten sie hervorbringen werden, wird abzuwarten sein – dass sie sich ereignen werden, daran hatten zumindest Otto und Schleiermacher keinen Zweifel.

 Jenes intuitive Wiedererkennen bezeichnete Otto in seinem religionsphilosophischen Ansatz gerne als religiöse „Anamnesis“; so z. B. bereits in der „Ahnungslehre“ in Rudolf Otto, Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie. Zur Einleitung in die Glaubenslehre für Studenten der Theologie, Tübingen 1909, 111– 121. Otto äußert hier auch Lektüreempfehlungen von in diesem Sinne durchaus reformatorisch zu nennenden Büchern: „Nichts ist lehrreicher, als Schleiermachers Reden in ihrer ersten Form, de Wettes Theodor [1822] und Tholucks Büchlein [Guido und Julius 1823] nacheinander zu lesen. Man sieht hier stufenweis die Abkehr jener Zeit von der Gemütskälte des Rationalismus und das Erwachen einer neuen Innerlichkeit erst in den Formen einer romantisch-religiösen Schwärmerei, dann in immer stärkerer Hinkehr zu den eigentümlichen Inhalten christlichen Frommseins, dann in stürmischer Hinkehr zu den fast verschollenen Sünde- Gnade- Erlebnissen sich vollziehen, die für die Zeit im allgemeinen charakteristisch ist.“ (187– 188).

Sabine Schmidtke / Heidelberg

„motus in voluntate“ – Melanchthon, Schleiermacher und die Frage nach dem subjektiven Glaubensvollzug Das Bild, das einem in älteren und zeitgenössischen Darstellungen von Melanchthon vermittelt wird, war und ist häufig nicht das positivste. Das spiegelt sich bis in die filmischen Darstellungen. Wer jüngst Katharina Luther ¹ geschaut hat, bekam dort einen ähnlichen Eindruck von Melanchthon wie schon in dem 2003 erschienen Film Luther: Ein leicht vertrottelt wirkender Melanchthon darf wie Willi der Luther-BieneMaja hinterher fliegen und gelegentlich seine philologischen oder strategischen Bedenken äußern. Viel mehr scheint er aber auch nicht zu können.² Ein ähnlicher Blick ergibt sich, wenn man in – vor allem ältere und lutherisch geprägte – Literatur schaut: Dem jüngeren Melanchthon traut man noch zu, dass er epigonenhaft „als nachvollziehender Helfer und Freund“³ Luthers Gedanken sammelt und systematisiert. Dem späteren Melanchthon wirft man dann aber die nicht zu bestreitenden Abweichungen von der Theologie Luthers vor. Exemplarisch sei Karl Holl zitiert: „Wenn man unter einem Systematiker einen Mann versteht, der imstande ist, große Gedankengänge zu erschauen, dann war Luther in weit höherem Maß Systematiker als Calvin, um von Melanchthon gar nicht zu reden.“⁴ „Melanchthon hat die lutherische Rechtfertigungslehre verdorben […]. Was Melanchthon aus eigenen Kräften beisteuerte, war ein übler Ersatz für den angerichteten Schaden.“⁵ In der neueren Forschungsliteratur fällt das Urteil über Melanchthon meist allerdings wesentlich milder und differenzierter aus.⁶ Und auch ich hoffe, mit dem

 http://www.daserste.de/unterhaltung/film/katharina-luther/index.html, zuletzt aufgerufen am 04.09.17.  Zu Melanchthon als „Reformator neben und hinter Luther“ vgl. auch Ulrich Köpf, „Melanchthon in der Kirchen- und Dogmengeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts“, in: Melanchthon und die Neuzeit, hg.v. Günter Frank / Ulrich Köpf, Stuttgart-Bad Canstatt 2003, 147– 165, hier 148.  Christoph Gestrich, „Luther und Melanchthon in der Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“, LuJ 66 (1999), 29 – 53, hier 32.  Karl Holl [1910], „Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief mit besonderer Rücksicht auf die Frage der Heilsgewißheit“, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte I: Luther, Tübingen 2/31923, 111– 154, hier 117, Anm. 2.  Holl 1923, 128 – 129 (Anm. 4). Ähnlich urteilen bspw. auch Reinhold Seeberg, Emanuel Hirsch und Rudolf Thiel (vgl. Georg Hoffmann, „Luther und Melanchthon. Melanchthons Stellung in der Theologie des Luthertums“, ZSTh 15 [1938], 81– 135, hier 107 und 89 – 92).  Vgl. bspw. Andreas J. Beck (Hg.), Melanchthon und die reformierte Tradition, Göttingen 2016; Günter Frank (Hg.), Philipp Melanchthon. Der Reformator zwischen Glauben und Wissen, Berlin 2017; Johannes Schilling (Hg.), Melanchthons bleibende Bedeutung. Ringvorlesung der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zum Melanchthon-Jahr 1997, Kiel 1998; Friedrich Schweitzer u. a. (Hgg.), https://doi.org/10.1515/9783110569520-022

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folgenden Beitrag zeigen zu können, dass Melanchthons Akzentsetzungen in seiner Spättheologie nicht zwingend als bedauernswerte Abweichung von reformatorischen Grundeinsichten verstanden werden müssen. Vielmehr ist er an eine entscheidende Problemstellung evangelischer Theologie auf produktive Weise herangegangen, die zumindest partiell von Schleiermacher rezipiert und weitergeführt wurde.

1 Einleitung: „Wir aber verstehen unter dem Glauben nicht eine Ueberzeugung allein […], sondern […] auch eine Bewegung des Willens“⁷ Eine ideengeschichtliche Betrachtung der Schleiermacherschen Auffassung des Glaubens wird durch die Art seiner theologischen Arbeit und Rezeption geradezu herausgefordert. In seinen Erinnerungen an Dr. Friedrich Schleiermacher hält Friedrich Lücke diesbezüglich fest: „Schleiermacher gehörte nicht zu denen, welche in der Wissenschaft egoistisch alles von sich anzufangen meinen. Er ging gerne auf die früheren Zustände und Entwicklungen in der Theologie zurück, lernte daraus, und knüpfte daran an.“⁸ Zugleich erschwert jedoch Schleiermachers Eigenart dogmatischer Arbeit und Rezeption insofern eine ideengeschichtliche Betrachtungsweise, als er den expliziten Verweis auf andere dogmatische Entwürfe „für etwas unwesentliches“ hält. Sinnvoll sei er nur dort, „wo sei es nun nur der Bezeichnung oder auch dem Inhalte nach von den symbolischen Schriften abgewichen wird“⁹. Nimmt man beide Aspekte zusammen, dann ruft es besondere Aufmerksamkeit hervor, wenn Schleiermacher sich in der Glaubenslehre insgesamt¹⁰ und an prominenter Stelle innerhalb der Soteriologie mehrfach und explizit auf Melanchthon be-

Philipp Melanchthon. Seine Bedeutung für Kirche und Theologie, Bildung und Wissenschaft, NeukirchenVluyn 2010, darin bes. Ulrich Köpf, „Der Reformator Philipp Melanchthon“, 11– 26.  Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der christliche Glaube (1821/22). Studienausgabe, 2 Bde., hg.v. Hermann Peiter, Berlin / New York 1984, Bd. 2, § 130, Anm. b, 120.  Friedrich Lücke, „Erinnerungen an Dr. Friedrich Schleiermacher“, ThStKr 7/4 (1834), 745 – 813, hier 780.  Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), hg.v. Rolf Schäfer, Berlin / New York 2008, § 27 Zusatz, 182.  Vgl. Konrad Fischer, „Satis est. Theologische Perspektiven zum Projekt Europäische MelanchthonAkademie Bretten (2005)“, online unter: www.ulnastudios.com/www/konradfischer/pdfs/satis_est. pdf, 4, zuletzt aufgerufen am 04.09. 2017, wonach Schleiermacher „in der Glaubenslehre Melanchthons Arbeiten, insbesondere die Loci von 1559, gewissermaßen auf Augenhöhe als autoritative Texte […] zitiert“.

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ruft.¹¹ Bereits in der ersten Auflage der Glaubenslehre heißt es innerhalb des Lehrsatzes von der Bekehrung: „Wir aber verstehen unter dem Glauben nicht eine Ueberzeugung allein oder die Annahme einer Kenntniß, sondern nur eine solche, welche zugleich auch eine Bewegung des Willens ist […].“¹² Schleiermacher verwendet „wir“ zwar auch ohne konkreten Bezug, hier findet sich jedoch ein expliziter Verweis auf Melanchthons Loci: „fiducia est motus in voluntate“¹³. Der gleiche Verweis findet sich erneut in der zweiten Auflage als Beleg für und Erläuterung der Bestimmung des Glaubens:¹⁴ „Necesse est igitur fide intellegi fiduciam applicantem nobis beneficium Christi.“ „Nam fiducia est motus in voluntate […], quo voluntas in Christo acquiescit […].“¹⁵ – Es sei notwendig, den Glauben als das die Wohltat Christi zueignende Vertrauen zu begreifen, und dieses Vertrauen sei eine Bewegung des Willens. Dem Verhältnis von Schleiermacher und Melanchthon widmen sich bereits einige Forschungsbeiträge,¹⁶ allerdings fokussieren sich diese meist auf den Vergleich der Erstauflage der Loci Melanchthons (1521)¹⁷ mit dem reifen System Schleiermachers in der zweiten Auflage der Glaubenslehre. Außer Acht bleibt dabei jedoch, dass Schleiermacher dort gerade nicht das Frühwerk Melanchthons heranzieht, sondern die in entscheidenden Themen abweichenden und stark erweiterten Loci der tertia aetas von 1559.¹⁸ In ihnen behandelt Melanchthon im Rahmen der Anthropologie und Bußlehre

 Vgl. zum Folgenden ausführlich: Sabine Schmidtke, Schleiermachers Lehre von Wiedergeburt und Heiligung. ‚Lebendige Empfänglichkeit’ als soteriologische Schlüsselfigur der ‚Glaubenslehre’, Tübingen 2015, 42– 45.297– 341. Luther und Calvin werden in der Soteriologie der Glaubenslehre nicht in nennenswerter Weise zitiert. Man muss allerdings in Bezug auf Schleiermachers Melanchthon-Rezeption festhalten, dass für jenen – darf man einer Nachschrift Klamroths zu einer Vorlesung Schleiermachers zur Kirchengeschichte Vertrauen schenken – die Loci gerade nicht das Kriterium echter evangelischer Dogmatik erfüllten. Es mangele ihnen einerseits an „einem größeren systematischen Zusammenhang“ und andererseits seien sie nicht rein „aus dem evangelischen Princip hervorgegangen“ (Friedrich Schleiermacher, „Kolleg [1821/22]. Nachschrift Klamroth“, in: ders., Vorlesungen über die Kirchengeschichte, KGA II/6, hg.v. Simon Gerber, Berlin / New York 2006, 467– 661, hier 644.656).  Schleiermacher 1984, Band II, § 130, Anm. b, 120 (Anm. 7) [Hervorhebungen durch die Vfn.].  Schleiermacher 1984, Band II, § 130, 120, Anm. 6 (Anm. 7), zitiert nach: Philipp Melanchthon, Loci praecipui theologici (1559), StA II/1+2, hg.v. Hans Engelland, Gütersloh 1952/3, II/2, 363,10.  Vgl. die Belege zu Schleiermacher 2008, § 108, 172 (Anm. 9). Schleiermacher ändert die Zitate aus den Loci leicht ab.  Melanchthon 1952/3, Band II/2, 370,6 – 7 und 363,10 – 11 (Anm. 13).  Vgl. bspw. Matthias Freudenberg, „Melanchthon im Kontext der reformierten Tradition der Neuzeit“, in: Philipp Melanchthon. Der Reformator zwischen Glauben und Wissen, hg.v. Andreas J. Beck, Berlin 2017, 197– 212, hier 198 – 200; Reiner Preul, „Schleiermachers Verhältnis zu Melanchthon“, in: Melanchthons bleibende Bedeutung. Ringvorlesung der Theologischen Fakultät der Christian-AlbrechtsUniversität zum Melanchthon-Jahr 1997, hg.v. Johannes Schilling, Kiel 1998, 115 – 133; Paul Wernle, Melanchthon und Schleiermacher. Zwei dogmatische Jubiläen, Tübingen 1921.  Philipp Melanchthon, Loci communes (1521), lt.-dt., übers. v. Horst Georg Pöhlmann, hg.v. Lutherischen Kirchenamt der VELKD, Gütersloh ²1997.  Obwohl in den späten Loci die exklusive Konzentration auf die den Menschen existentiell betreffenden loci salutares (Melanchthon 1997, 24 [0,19] [Anm. 17]) aufgegeben wird und sie um die loci supremi erweitert werden, ist weiterhin der soteriologische Fokus erkennbar.Vom Locus de gratia et de

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in nicht unumstrittener Weise die Frage der Entstehung und des subjektiven Vollzugs des Glaubens. Unter Zuhilfenahme von philosophischen und psychologischen Erwägungen zur Freiheit des Willens und mit dem tres-causae-Gedanken hält er fest: Es müsse eine Weise des freien Willens als Möglichkeit der Heilszueignung vorausgesetzt werden, der Wille sei im Bußkampf nicht müßig. Für die guten Werke kämen folglich drei Gründe oder Ursachen in Betracht: Wort Gottes, heiliger Geist und menschlicher Wille.¹⁹ Wenn Schleiermacher in der Entfaltung der Lehre von der Bekehrung auf Melanchthons Bestimmungen rekurriert, die diesem den Synergismusvorwurf ²⁰ eingebracht haben, dann lässt sich fragen, ob Schleiermacher sich mit der Rezeption zwangsläufig die gleichen kritischen Anfragen einhandelt. Damit verbunden ist zu klären, ob diese Kritik überhaupt Melanchthons eigene Ausführungen trifft. Im Folgenden soll daher zunächst durch die skizzenhafte Rekonstruktion der anthropologisch-soteriologischen Konzeption Melanchthons und über den Vergleich mit den entsprechenden Ausführungen Schleiermachers gezeigt werden, inwiefern sich eine ideengeschichtliche Kontinuität und Strukturanalogie der Argumentationsfiguren zeigen lässt. Es werden aber auch die entscheidenden Differenzen und Weiterentwicklungen verdeutlicht, aufgrund derer sich der Schleiermachersche Ansatz als anschlussfähiger für weiterführende Erwägungen der Thematik erweist. Schließlich gerät mit einer weiteren Gemeinsamkeit beider Ansätze in Form einer terminologischen Unschärfe auch die Grenze der – beide Ansätze methodisch einenden – Verknüpfung von psychologisch fundierter Anthropologie und theologischer Soteriologie in den Blick.

2 Schleiermacher und Melanchthon 2.1 Die fiducia als motus in voluntate – Melanchthon Der rechtfertigende Glaube – fides bzw. fiducia – zeichnet in Melanchthons Loci als positives Element gemeinsam mit der Reue (contritio) als negativem Element die Bekehrung (conversio) bzw. Buße (poenitentia) aus.²¹ Unter dem Begriff der Buße veriustificatione heißt es dann auch, er enthalte die summa Evangelii (vgl. Melanchthon 1952/53, Band II/2, 353, 9 – 11 [Anm. 13]).  Vgl. Melanchthon 1952/53, II/1, 243 – 245 (Anm. 13).  Vgl. bspw. Werner Elert, Morphologie des Luthertums, Bd. 1, München 1958 [verbesserter ND München 1931], 130; oder Emanuel Hirsch, der in den Aussagen der Loci, tertia aetas die „synergistische Erweichung der Lehre Luthers“ (Emanuel Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Reformatoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin ³1958, 160) erblickt.Vgl. auch die gegen Melanchthons tres-causae-Lehre gerichteten Ausführungen der Konkordienformel, in: BSELK, FC Ep. II, 1235,8 – 13; FC SD II, 1387,17– 31.  Diese „Doppelgestalt“ der Buße entspricht bei Melanchthon dem zweifachen Charakter des WortHandelns Gottes in Gesetz und Evangelium, vgl. dazu Schmidtke 2015, 303 – 304 (Anm. 11).

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sammelt Melanchthon also die Aspekte, die die subjektiv-erfahrbare Seite des Heilsgeschehens ausmachen: „Ich nenne Buße (poenitentiam) […] die Bekehrung (conversionem) zu Gott und unterscheide des Lehrens halber die Teile oder verschiedenen Bewegungen dieser Bekehrung. Ich sage, die Teile seien die Reue und der Glaube (contritionem et fidem).“²² In der umfassenden Buße erfahre der Mensch also sein eigenes Sein coram Deo in einer zweifachen Weise: Als schmerzhaftes Zugeständnis der Verfehlung dieses Verhältnisses und damit einhergehender Anerkennung seiner selbst als Sünder in der Reue – und als aufrichtendendes Vertrauen und damit einhergehender Erkenntnis seiner selbst als Angenommener im Glauben. Noch bevor Melanchthon allerdings überhaupt die Loci über Gnade, Rechtfertigung, Buße und Glaube erläutert, legt er in einem Abschnitt seine anthropologischpsychologischen Annahmen „über die menschlichen Fähigkeiten bzw. den freien Willen“²³ dar. Sie müssen den nachfolgenden Ausführungen zugrunde gelegt werden. Er unterscheidet im Menschen zwei Vermögen: den Geist (mens)²⁴ als erkennende und urteilende Instanz und den Willen (voluntas) als Strebekraft. Dieser voluntas werden von Melanchthon die Affekte (affectus)²⁵ untergeordnet (sie seien sub voluntate)²⁶,  Übersetzung nach Hirsch 1958, 179 (Anm. 20). Außerdem kann nach Melanchthon die nova obedientia (neuer Gehorsam) als dritter, auf die ersten zwei Teile notwendig folgender Teil zur Buße gerechnet werden (Melanchthon 1952/3, Band II/2, 541,36 – 542,4 [Anm. 13]: „Voco poenitentiam […] conversionem ad Deum et huius conversionis partes seu diversos motus docendi causa discerno. Dico partes esse contritionem et fidem. Has necessario sequi debet nova obedientia, quam si quis vult nominare tertiam partem, non repugno.“).  Vgl. Melanchthon 1952/3, Band II/1, De humanis viribus seu de libero arbitrio, 236 – 252 (Anm. 13) (vor diesem Locus werden noch Gottes- und Schöpfungslehre verhandelt). Vgl. zur Willenslehre Melanchthons insgesamt Wolfgang Matz, Der befreite Mensch. Die Willenslehre in der Theologie Philipp Melanchthons, Göttingen 2001.  Während der Begriff mens in den Loci von 1521 kaum Verwendung findet, wird er in den Loci von 1559, neben intellectus und ratio zum beherrschenden Ausdruck für die pars cognoscens. Daneben begegnen aber auch conscientia und animus in ähnlicher Bedeutung.  Die Stellung der Affekte wurde von Melanchthon in den Loci von 1521 anders bestimmt: dort stehen sie gewissermaßen mit der vis cognoscendi auf einer Stufe (vgl. Melanchthon 1997, 26 [1,8 – 9] [Anm. 17]). „Indem Melanchthon […] intellectus und affectus in dieser Weise auf eine Stufe stellt und von einer Interaktion beider Seelenkräfte im Menschen ausgeht, rechnet er in der neuplatonisch augustinischen Tradition den affectus auf die Seite der höheren Seelenkräfte bzw. des appetitus spirituales“ (Karl-Heinz zur Mühlen, „Melanchthons Auffassung vom Affekt in den Loci communes von 1521“, in: Humanismus und Wittenberger Reformation. Festgabe anläßlich des 500. Geburtstages des Praeceptor Germaniae Philipp Melanchthon am 16. Februar 1997, hg.v. Michael Beyer / Günther Wartenberg, Leipzig 1996, 327– 336, hier 329). In seiner späteren Theologie schwenke Melanchthon dann „wieder auf die aristotelisch-scholastische Linie“ (zur Mühlen 334) ein und rechne „den Affekt wieder auf die Seite des appetitus sensitivus“ (zur Mühlen 334; zum Unterschied zwischen neuplatonischaugustinischer und aristotelisch-scholastischer Affektenlehre vgl. auch Karl‐Heinz zur Mühlen, „Die Affektenlehre im Spätmittelalter und in der Reformationszeit“, ABG 35 [1992], 93 – 114).  Melanchthon versteht jedoch diese Unterordnung nicht strikt hierarchisch, was daran erkennbar wird, dass nicht die voluntas die Affekte bestimme, sondern diese entweder mit ihr übereinstimmen oder ihr widersprechen könnten (vgl. Melanchthon 1952/3, Band II/1, 237,17– 23 [Anm. 13]: „In homine est pars cognoscens ac iudicans, quae vocatur mens vel intellectus vel ratio, in hac parte sunt notitiae.

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deren Quelle wiederum das Herz (cor)²⁷ sei. Willenskraft und Geist stehen nach Melanchthon in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zueinander: Einerseits sei die Willenskraft auf die Kenntnisse des Geistes angewiesen, andererseits erfolge die Entscheidung, ob einem intellektuellen Urteil Folge geleistet wird, nicht durch den Geist, sondern durch die voluntas. Hinsichtlich der theologisch relevanten Frage nach dem liberum arbitrium unterscheidet Melanchthon nun drei Perspektiven: Es gebe eine Auffassung vom freien Willen, mit der die Übereinstimmung von intellektuellem Urteil und Wollen bezeichnet werde (1). Als zweites komme die Betrachtungsweise der voluntas als gefangener in den Blick, wenn es um die herzensmäßige Gesetzeserfüllung gehe (2). Schließlich gebe es aber auch noch irgendeine Weise des freien Willens in Form einer „Fähigkeit […], sich an die Gnade anzupassen“²⁸ (facultas applicandi se ad gratiam)²⁹ (3). (1) Die allgemeine Auffassung vom liberum arbitrium ist nach Melanchthon die eben angezeigte Verbindung von Geist und Wille. Auch in theologischer Hinsicht bestehe diesbezüglich eine gewisse Freiheit, die sich auf die äußerlichen Gesetzeswerke (externa Legis opera) beziehe. Jedoch sei postlapsarisch einerseits die Kenntnis des göttlichen Gesetzes verdunkelt und andererseits die Natur des Menschen so korrumpiert, dass es zu keiner vollständigen und innerlichen Übereinstimmung mehr kommen könne. Dem Menschen sei somit das Gesetz als „Heilsweg“ abgeschnitten.³⁰ (2) Hinsichtlich der Möglichkeit der Gesetzeserfüllung „aus ganzem Herzen“ ist sonach der Mensch laut Melanchthon schlichtweg unfrei. Der Mensch sei durch die Sünde so verdorben, dass er der Forderung des stetigen und vollkommenen Gehorsams ex toto corde nicht mehr Folge leisten könne.³¹ Die eigentliche Unfreiheit zeige sich darin, dass der Mensch diese „Verkrümmung“ seines Herzens nicht aus eigener Kraft ablegen könne, denn „das Herz [entzieht] sich letztlich der Macht sowohl des Intellektes wie auch des Willens“³².³³

Altera pars appetens vocatur voluntas, quae vel obtemperat iudicio vel repugnat, et sub voluntate sunt appetitiones sensuum seu affectus, quorum subiectum et fons est cor, qui interdum congruunt, interdum pugnant cum voluntate.“).  In den weiteren Ausführungen ist allerdings meist nicht von cor, sondern von animus die Rede. Jedoch begegnet dieser Begriff auch im Sinne von mens oder conscientia.  Übersetzung nach Hirsch 1958, 161 (Anm. 20).  Vgl. Melanchthon 1952/3, II/1, 245,30 – 33 (Anm. 13).  Vgl. Melanchthon 1952/3, II/1, 238 – 240 (Anm. 13), und hierzu ausführlich Schmidtke 2015, 306 – 308 (Anm. 11).  Vgl. Melanchthon 1952/3, II/1, 312,12– 16 (Anm. 13).  Klaus Haendler, Wort und Glaube bei Melanchthon. Eine Untersuchung über die Voraussetzungen und Grundlagen des melanchthonischen Kirchenbegriffs, Gütersloh 1968, 500.  Vgl. Melanchthon 1952/3, I, 240,14– 31 (Anm. 13): „Sed in Ecclesia Dei non tantum dicitur de externis moribus, sed de integra Legis impletione in corde. Mens in non renatis plena est dubitationum de Deo, corda sunt sine vero timore Dei, sine vera fiducia et habent impetus ingentes contra Legem Dei. […] Hic certum est homines non habere libertatem deponendi hanc pravitatem nobiscum nascentem

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Der zweite und eigentliche Gebrauch des Gesetzes (secundus praecipuus usus Legis) liege daher nach Melanchthon darin, die Sünde aufzudecken und den Menschen anzuklagen, dass dieser in Schrecken versetzt werde.³⁴ Diese Schrecken des Geistes oder des Gewissens zeichnen nach Melanchthon die Reue aus. Sie seien damit der Beginn der Buße, die allerdings keine wahre wäre, käme nicht noch das „positive“ Element, der Glaube, hinzu. (3) Die dritte Perspektive im Blick auf die Freiheit ergibt sich im Zusammenhang mit der Frage nach der Funktion der voluntas in der Hervorbringung von geistlichen Handlungen (actiones spirituales), also ihrer Funktion in der Heiligung.³⁵ Melanchthon geht allerdings im weiteren Verlauf der Darstellung nicht nur dieser Frage nach, sondern vor allem auch derjenigen, wie sich die voluntas in der Bekehrung verhält. Zwar schließt er zunächst aus, dass der menschliche Wille die effectus spirituales auch ohne den heiligen Geist hervorbringen könne,³⁶ aber ebenfalls in diesem Zusammenhang begegnet die umstrittene Rede von dem liberum arbitrium als facultas applicandi se ad gratiam ³⁷, von den drei Ursachen guter Werke (tres causae bonae actionis) und von der voluntas, die in Bekehrung nicht müßig (non otiosa) sei.³⁸ Es muss angesichts des sich hieran anschließenden Synergismusvorwurfs gegenüber Melanchthon die Funktion der voluntas humana im Bekehrungsgeschehen genauer analysiert werden. Nur dann kann erhellen, was mit der Beschreibung des Glaubens als motus in voluntate intendiert ist. Bereits die durch den Gesetzesimperativ sich einstellende Sündenanklage und -erkenntnis sei kein Werk des menschlichen Intellekts oder Willens, sondern es bedürfe der Wirkung des heiligen Geistes,³⁹ damit die Gesetzesverkündigung ihr Ziel erreiche: die Vermittlung des vollen, geistlichen Gesetzesverständnisses und damit einhergehend das Erschrecken des Geistes und die schmerzliche Anerkenntnis des menschlichen Versagens. In dieser „negative[n] Wirkung des Gesetzes“⁴⁰ erschöpft sich nach Melanchthons Darstellung seine Aufgabe noch nicht vollständig, „seine aut deponendi mortem. […] Non potest voluntas exuere nascentem nobiscum pravitatem nec potest Legi Dei satisfacere, quia Lex Dei non tantum de externa disciplina et de umbra operum concionatur, sed postulat integram obedientiam cordis, ut Lex dicit: ‚Diligas Dominum Deum tuum ex toto corde tuo et omnibus viribus’ etc.“  Vgl. Melanchthon 1952/3, Band II/1, 323,23 – 26 (Anm. 13).  Vgl. dazu insgesamt Melanchthon 1952/3, Band II/1, 241– 247 (Anm. 13). Diese Handlungen bzw. effectus oder motus spirituales bestehen nach Melanchthon unter anderem in agnitio Dei, timor, fides, fiducia in misericordiae Dei, dilectio, tolerantia und fortitudo in afflictionibus und in adeunda morte (vgl. 241,8 – 9.26 – 28).  Vgl. Melanchthon 1952/3, Band II/1, 241,20 – 35 (Anm. 13).  Vgl. Melanchthon 1952/3, Band II/1, 245,30 – 33 (Anm. 13).  Vgl. Melanchthon 1952/3, Band II/1, 243 – 246 (Anm. 13).  Vgl. bspw. Melanchthon 1952/3, Band II/1, 242,9 – 28 oder besonders deutlich in Band II/2, 552,22– 25 (Anm. 13).  Lauri Haikola, „Melanchthons Lehre von der Kirche“, in: Philipp Melanchthon. Forschungsbeiträge zur vierhundertsten Wiederkehr seines Todestages dargeboten in Wittenberg 1960, hg.v. Walter Elliger, Göttingen 1961, 91– 97, hier 92.

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letzte Mission [sei es], in und durch sein Versagen über sich selbst hinauszuweisen auf seinen Erfüller“⁴¹. Der „erschrockene Geist“ würde nach einem Trost außerhalb seiner selbst fragen,⁴² nach einer iustitia aliena. An dieser Stelle gerät somit Christi Heilswerk in den Blick, das beneficium Christi, welches Melanchthon hauptsächlich als Genugtuung (satisfactio) bestimmt, durch die Gott versöhnt, sein Zorn besänftigt und die Vergebung der Sünden verdient werde. Im Werk Christi besteht für Melanchthon der objektive Grund des Heils. In Christi Sendung und Tod zeigten sich Barmherzigkeit und Zorn Gottes gleichermaßen. Diese Verheißung der Barmherzigkeit begegne dem Menschen in der Stimme des Evangeliums. Nun stellt sich in dieser Hinsicht die Frage, welche Rolle der voluntas des Menschen in Bezug auf sein Heil zukommen kann. Zum einen wird nach Melanchthon vom Menschen gemäß dem ersten Gebrauch des Gesetzes (usus paedagogius) gefordert, seinen in äußerlichen Dingen freien Willen richtig auszuüben. Hierzu gehöre es, danach zu streben, das Evangelium zu hören und zu lernen. Das bloße Hören und ZurKenntnis-Nehmen eröffne aber den erschrockenen Gewissen nicht den Trost, den sie suchten. Im Gegenteil: Die Schrecken würden durch die bloße historische Kenntnis sogar noch vermehrt.⁴³ Was bei einer rein geschichtlichen Kenntnis zum Trost fehle, sei das Vertrauen, die fiducia, durch die der Einzelne darauf vertraue, dass der zur Kenntnis genommene Inhalt auch für ihn gelte.⁴⁴ Erst durch dieses Vertrauen werde der Wille dazu bewegt, der intellektuellen Kenntnis zuzustimmen. Das Vertrauen sei damit eine von außerhalb des menschlichen Willens kommende Bewegung des Willens. Erst durch einen solchen Glauben, der Kenntnis, Vertrauen und Zustimmung umfasse,⁴⁵ würden die erschrockenen Geister aufgerichtet.⁴⁶ Dieser Glaube stelle die subjektive Teilhabe am objektiv vollbrachten Heilswerk Christi her. Es stellt sich nun Melanchthon das folgende Problem: Er will einerseits an dem universalen Heilswillen Gottes unbedingt festhalten: Die Verheißung (promissio) gelte gemäß dem im Evangelium offenbarten Willen Gottes universal.⁴⁷ Damit ergehe auch die Berufung (vocatio) zum Heil an alle Menschen. Dem stehe aber andererseits die faktische Partikularität der Erwählung (electio) gegenüber. Da im göttlichen Willen keine Widersprüchlichkeit herrschen könne, muss nach Melanchthon der Grund für die Partikularität in unterschiedlichen Handlungen des

 Hans Engelland, Melanchthon, Glauben und Handeln, München 1931, 291.  Vgl. Melanchthon 1952/3, Band II/2, 361, 23 – 27 (Anm. 13): „Hos si considerant, scirent mentes perterrefactas quaerere consolationem extra sese et hanc consolationem esse fiduciam, qua voluntas acquiescit in promissione misericordiae propter Mediatorem donatae.“  Vgl. Melanchthon 1952/3, Band II/2, 365,6 – 8 (Anm. 13).  Vgl. Melanchthon 1952/3, Band II/2, 365,14– 16 und 379,16 (Anm. 13).  Vgl. Melanchthon 1952/3, Band II/2, 361,27– 31 und 362,36 – 363,2 (Anm. 13).  Vgl. Melanchthon 1952/3, Band II/2, 358,18 (Anm. 13).  Vgl. Melanchthon 1952/3, Band II/2, 385,7– 11 (unter Zitation von I Tim 2,4) (Anm. 13).

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Menschen liegen.⁴⁸ Die Differenz bestehe genauer darin, ob der Verheißung der menschliche Glaube korreliere, oder ob die Gnade zurückgewiesen wird. Da für den späten Melanchthon weder die göttliche Prädestination noch der Zwang der Affekte für diese Differenz der Handlungsweisen in Betracht kommen, muss er „irgendeine Art von Willensfreiheit“ (aliqua libertas voluntatis) postulieren. Das entschiedene Festhalten an der Universalität des göttlichen Heilswillens einerseits, die faktische Partikularität der Erwählten andererseits und schließlich die innerliche Erfahrung eines Kampfes (certamen) in der Bekehrung⁴⁹ motivieren daher die Rede von der „copulatio causarum, verbi Dei, Spiritus sancti et voluntatis“⁵⁰, von „aliqua libertas in electione“⁵¹ und von der voluntas, die in der Bekehrung „non esse otiosam.“⁵² Zwei Aspekte lassen sich aber bei einer „wohlwollenden“ Interpretation im Blick auf Melanchthons angreifbare Redeweise festhalten – wenn auch nicht immer ganz eindeutig. Erstens: Offensichtlich steht es für Melanchthon nie zur Debatte, dass das Heilswerk selbst in keiner Weise an der Würdigkeit oder an Handlungen des Menschen hängt. Der Mensch könne sich Sündenvergebung und Annahme nicht aus eigener Kraft verdienen. Die gratia ist und bleibt für Melanchthon gratis. Zweitens: Die voluntas erscheint in der Rede von den drei Gründen nicht neben Wort Gottes und heiligem Geist als gleichwertige Ursache.⁵³ Vielmehr gehen die Tätigkeit Gottes im Wort und darin die Wirksamkeit des heiligen Geistes der Aktivität des Willens voran. Dies wird an verschiedenen Stellen deutlich: (1) Glaube und damit auch das Vertrauen als motus in voluntate werden von Melanchthon zu den motus spirituales gezählt. Der „natürliche Mensch“ habe aber die Fähigkeit zu actiones spirituales mit dem „Fall“ verloren. Es bedürfe zu geistlichen Handlungen somit der vorgängigen Hilfe durch den heiligen Geist. (2) Wenn das Vertrauen als motus in voluntate bestimmt wird, klingt darin an, dass sich diese Bewegung eben nicht dem Willen selbst verdankt, sondern die Quelle der Bewegung jenseits seiner liegt.⁵⁴ Entsprechend ordnet Melanchthon auch die fiducia

 Vgl. Melanchthon 1952/3, Band II/1, 245,36– 246,3 (Anm. 13).  Vgl. Melanchthon 1952/3, Band II/1, 244,15 – 19 (Anm. 13).  Melanchthon 1952/3, Band II/1, 246,7– 8 (Anm. 13).  Melanchthon 1952/3, Band II/1, 248,11 (Anm. 13).  Melanchthon 1952/3, Band II/2, 385,25 – 26 (Anm. 13).  Vgl. auch Henk van der Belt, Word and Spirit in Melanchthon’s Loci Communes, in: Melanchthon und die reformierte Tradition, hg.v. Andreas J. Beck, Göttingen 2016, 63 – 75, hier 75: „The three causes for salvation Melanchthon mentions in the third generation of the Loci […] have led to the accusation of synergism, but the causes should not be explained as equals; only the Spirit is the causa efficiens.“ Van der Belt macht darauf aufmerksam, dass bei Melanchthon in den verschiedenen Auflagen der Loci ein Zusammenhang zwischen der zunehmenden Relevanz des äußeren Wortes (gegenüber dem inneren Geistwirken) und der größeren Verantwortung des Menschen bezüglich des Heils besteht.  So auch Haendler 1968, 499 (Anm. 32): „Zwar sind die Affekte ‚sub voluntate’, doch erfüllen sie ihn [sc. den Willen] als ‚motus in voluntate’ und bestimmen ihn damit hinsichtlich der Richtung seines Wollens.“ – Dieser Feststellung, dass der motus sich nicht der voluntas selbst verdanke, entspricht auch die Aussage, dass die fiducia es sei, durch die (qua) „voluntas acquiescit in promissione mi-

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dem Herzen zu und charakterisiert sie als Affekt.⁵⁵ Dass der Mensch aber keine Freiheit dazu besitze, sein Herz und dessen Affekte selbst zu bestimmen, hält Melanchthon entschieden fest. Es bedürfe somit einer von außerhalb des Selbst stammenden Veränderung des Herzens, damit fiducia als ein der Verheißung entsprechender Herzens-Affekt entstehen könne; diese vollziehe sich nun aber durch das Wort Gottes selbst, durch das der Geist wirkt und die Herzen aufrichtet,⁵⁶ so dass auch hier wiederum Wort Gottes und heiliger Geist als causae dem motus in voluntate vorgängig sind.⁵⁷ (3) Die Aktivität, die Melanchthon unter dieser Voraussetzung der voluntas zugesteht, wird von ihm sehr vorsichtig und immer nur in Relation zum vorgängigen Handeln Gottes im Wort durch den Geist bestimmt: Wenn der Geist in den Herzen die wahre Sündenerkenntnis wirke, damit auch das Gewissen neu qualifiziere und motus spirituales entfache, so würden dadurch auch dem Intellekt und Willen neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet:⁵⁸ Es bestehe die Möglichkeit, dass sie sich dann dieser Hilfe des heiligen Geistes widersetzen (repugnare), indem die voluntas sich der Bewegung durch den Herzensaffekt entgegenstellt.⁵⁹ Diesbezüglich hält Melanchthon – wie auch später die Konkordienformel –⁶⁰ fest, dass der heilige Geist nicht in denen wirksam sei, die auf diese Weise in freier Entscheidung in den Sünden contra conscientiam beharrten.⁶¹ Die Handlung des Menschen innerhalb der Bekehrung besteht nach Melanchthon mithin negativ darin, sich nicht zu widersetzen (non repugnare),

sericordiae propter Mediatorem donatae“ (Melanchthon 1952/3, Band II/2, 361,26 – 27 [Anm. 13]). Wäre die fiducia selbst ein Produkt der voluntas, so würde diese sich durch sich selbst beruhigen.  Vgl. Melanchthon 1952/3, Band II/1, 238,16 – 26 und 240,16 – 17 (Anm. 13).  Vgl. Melanchthon 1952/3, Band II/2, 385,19 – 20 (Anm. 13). Vgl. zur physiologisch-psychologisch akzentuierten Erklärung der Wirkweise des heiligen Geistes am Herzen des Menschen sowie zu ihrem Hintergrund in der spiritus-Lehre Melanchthons Sascha Salatowsky, De Anima. Die Rezeption der aristotelischen Psychologie im 16. und 17. Jahrhundert, Amsterdam 2006, 112– 116, hier bes. 116 – 117: „Dieses physiologisch-erkenntnistheoretische Modell der beiden spiritus dient Melanchthon zunächst als ein Muster, das die Wirkung des Hl. Geistes beschreibt: Wie jene als Medien die Erkenntnis vom Gehirn zum Herzen transformieren, wo der Affekt entsteht, so ist der Hl. Geist das von Christus in das menschliche Herz ausgegossene Medium für die Frohe Botschaft. Aus physiologischer Sicht besteht seine Funktion im Entflammen des Herzens bzw. im Entzünden einer mit Gott übereinstimmenden Bewegung im Herzen und Willen, aus psychologischer Sicht im Wirken einer neuen Liebe und Freude zu Gott und zu Christus. […] Sofern […] der Hl. Geist den Willen und damit die Affekte, die ihren Sitz im Herzen haben, in Einklang mit Gott bringt, erneuert er damit zugleich die beiden spiritus, indem er sich mit ihnen mischt.“  Vgl. auch Melanchthon 1952/3, Band II/1, 242,3 – 8 (Anm. 13).  Vgl. auch Matz 2001, 153 (Anm. 23) (hinsichtlich der Loci von 1535): „Wenn Melanchthon die voluntas als causa bezeichnet, so versteht er darunter nur den zur Entscheidung durch das Wort und den Geist befreiten Willen. […] Es kann daher von der voluntas des Menschen als dem von Gott befreiten Willen gesprochen werden.“  Die Möglichkeit der Diskrepanz zwischen voluntas und affectus wird von Melanchthon ausdrücklich eingeräumt, vgl. Melanchthon 1952/3, Band II/1, 237,19 – 23 (Anm. 13).  Vgl. FC Ep II, in: BSELK, 1232,15 – 19, sowie FC SD II, in: BSELK, 1382,18 – 1384,2.  Vgl. Melanchthon 1952/3, Band II/1, 239,15 – 17 (Anm. 13).

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und positiv im Versuch der Zustimmung (conatum assensus). Dieser Versuch wird von Melanchthon als nur kraftloses Zustimmen (languide assentiri) charakterisiert, das ohne die Hilfe des Geistes nichts bewirken würde.⁶² Wenn diese Beobachtungen hinsichtlich der Funktionsbestimmung der voluntas die Intention der Darstellung Melanchthons zutreffend beschreiben, dann kann die Heilslehre nicht als ein semipelagianischer Synergismus⁶³ bewertet werden. Mit Klaus Haendler gesprochen: „Was der menschliche Wille im Akt des Glaubens und der Heilsaneignung coram [D]eo und in bezug auf das Wort vermag und tut, vermag und tut er aus der Kraft Gottes im Geist, die ihn hierzu befähigt.“⁶⁴ Der Vertrauensglaube – als motus in voluntate – verdankt sich eben nicht einer Handlung des Menschen, sondern ist als motus Effekt des Wirkens des heiligen Geistes im und am Herzen.

2.2 Schleiermachers Rekurs auf Melanchthons Loci Der Vergleich der soteriologischen Argumentationsfiguren von Schleiermacher und Melanchthon soll nicht über grundlegende Differenzen hinwegtäuschen: Allein die theologie- und geistesgeschichtliche Entwicklung und die Bedeutungsverschiebungen in der Terminologie verbieten vorschnelle Identifikationen selbst bei gleicher oder ähnlicher Begrifflichkeit. Dennoch lassen sich meines Erachtens Strukturanalogien in den Denkfiguren ausweisen. Während Melanchthon als Oberbegriff „Buße“ verwendet und den Bekehrungsbegriff synonym dazu, subsummiert Schleiermacher „Buße“, als „Verknüpfung von Reue und Sinnesänderung“, und „Glauben“ unter das Hyperonym „Bekehrung“.⁶⁵ Beiden ist daran gelegen, die verschiedenen, aber zusammenhängenden Vorgänge im Subjekt zu erhellen, die insgesamt die μετάνοια ausmachen.⁶⁶ Zentral wird auch für

 Vgl. Melanchthon 1952/3, Band II/1, 244,15 – 17 (Anm. 13). Vgl. dazu aber auch Matz 2001, 185 (Anm. 23): „Wie das Adverb ‚kraftlos’ inhaltlich zu füllen und vorzustellen ist, erläutert Melanchthon nicht. So sehr er ansonsten auf die rationale Nachvollziehbarkeit der Aussagen […] bedacht ist, an dieser Stelle ist die Verwendung des Begriffes ‚kraftlos’ von dem Bestreben Melanchthons motiviert, die Diskussion um einen möglichen Synergismus des göttlichen und menschlichen Wirkens […] zu vermeiden.“  So auch Heinrich Bornkamm, „Melanchthons Menschenbild“, in: Philipp Melanchthon. Forschungsbeiträge zur vierhundertsten Wiederkehr seines Todestages dargeboten in Wittenberg 1960, hg.v. Walter Elliger, Göttingen 1961, 76 – 90, hier 87: „Melanchthon wurde […] kein Pelagianer, denn der Wille ist für ihn nicht von sich aus fähig, das Gute zu tun, sondern nur, wenn der Geist ihn von den Fesseln der Sünde befreit hat.“  Haendler 1968, 542 (Anm. 32).  Vgl. zu Schleiermachers Verständnis der Bekehrung im vorliegenden Band Martin Ohst, „Luther und Schleiermacher. Varianten protestantischen Subjektivitätsdenkens“, Abschnitt IV, sowie Schmidtke 2015, 212– 252 (Anm. 11).  Schleiermacher kritisiert die Übersetzung von μετάνοια mit „Buße“ vor dem Hintergrund eines verengten Bußverständnisses (vgl. Schleiermacher 2008, § 108.1, 173 [Anm. 9]).

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Schleiermacher daher die Frage nach dem „Zustand des Subjectes selbst während der Bekehrung“⁶⁷. Zunächst muss jedoch festgehalten werden, dass das Grunddilemma, das Melanchthon zur Rede von einer gewissen Freiheit in der Bekehrung motiviert, sich Schleiermacher so nicht stellt. Die für Melanchthon nur schwer lösbare Spannung zwischen universalem Heilswillen Gottes und partikularer Heilsteilhabe wird von Schleiermacher im Sinne des einen, ewigen göttlichen Ratschlusses zur Erlösung aufgelöst. „Die vollkommne Gewißheit des göttlichen Ratschlusses unsrer Seligkeit“⁶⁸ verbiete es unter Berücksichtigung des Zusammenhangs von Selbst- und Gattungsbewusstsein schlicht, dieses Dekret so zu fassen, dass es die Verwerfung eines Teils der Menschheit vorsehe.⁶⁹ Daher könne der Unterschied zwischen universeller Berufung und partikularer Erwählung nur so gefasst werden, dass letztere sich lediglich aus den natürlichen Bedingungen der Entwicklung des neuen Gesamtlebens in Raum und Zeit ergebe, ihr aber keine „ewige“ Geltung zukomme.⁷⁰ Obwohl sich für Schleiermacher also nicht das gleiche Problem stellt, nimmt er dennoch auf die entsprechenden Formulierungen und Erwägungen Melanchthons Bezug. Seine Aufmerksamkeit richtet sich genau auf den Punkt, der Melanchthons Darlegungen synergistisch erscheinen lässt. Beide Theologen gehen von der anthropologisch-psychologisch begründeten Annahme aus, dass der Mensch bei der Bekehrung schlicht nicht pure passive sein könne.⁷¹ Gewissermaßen kann man Melanchthons Ausführungen auch als Versuch der Klärung der zwei Fragen verstehen, denen Schleiermacher im Lehrsatz der Bekehrung nachgeht, „deren erste die ist, Wie sich das in dem Moment der Bekehrung gewiß vorhandene Thun des Subjekts zu der die Sinnesänderung und den Glauben hervorrufenden Einwirkung Christi verhält; die andere aber die, Wie sich der vorausgesezte leidentliche Zustand währender Bekehrung zu der darauf folgenden Selbstthätigkeit in der Gemeinschaft Christi verhält.“⁷² Vor diesem Hintergrund zeigen sich zwischen Schleiermachers und Melanchthons Ausführungen weitere strukturelle Analogien. Zunächst ist beiden das Interesse gemeinsam, die Möglichkeit des Menschen, sein Heil aus sich heraus zu bewirken, strikt zu negieren. Die Voraussetzung zur Entstehung des (Fiduzial‐)Glaubens wird daher als eine von außen stammende, schöpferische Tätigkeit am Innersten des Menschen beschrieben: Bei Melanchthon steht dafür das Herz bzw. die Seele, die

 Schleiermacher 2008, § 108.6, 187 (Anm. 9).  Schleiermacher 2008, § 118.1, 249 (Anm. 9).  Vgl. Schleiermacher 2008, § 118, 249 (Anm. 9).  Vgl. dazu Schleiermacher 2008, §§ 117– 120, 244– 277 (Anm. 9).  Vgl. zu Melanchthon auch Matz 2001, 154 (Anm. 23): „Der Mensch ist als intelligibles Wesen mit Verstand und Willen von Gott geschaffen, so daß er durch den Willen befähigt ist, Handlungen willentlich hervorzubringen. An dieser Disposition des Menschen geht in der Sicht Melanchthons auch das Rechtfertigungsgeschehen nicht vorbei. Der Mensch ist keine Statue, sondern hat einen Willen, der tatsächlich in das Rechtfertigungsgeschehen eingebunden wird.“  Schleiermacher 2008, § 108.6, 187– 188 (Anm. 9).

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aufgerichtet und erneuert werden, bei Schleiermacher wird diese Änderung als Sinnesänderung, also als Änderung der innersten Gesinnung durch die – im neuen Gesamtleben vermittelte – schöpferische Tätigkeit des Erlösers beschrieben.⁷³ Ebenso wird von beiden aber auch zugestanden, dass diese von außen stammende Tätigkeit, damit sie im Inneren wirksam werden könne, die „Öffnung“ des Menschen benötigt: Die erste Voraussetzung, die hierfür gegeben sein muss, wird als eine Form der Anerkenntnis der Erlösungsbedürftigkeit qualifiziert, die nicht nur ein Bewusstsein eigener Sündhaftigkeit impliziert, sondern über sich selbst hinausweist.⁷⁴ Damit dieses „Erlösungsbedürftigkeitsbewusstsein“ sich einstellen kann, sei die Verkündigung und ihre Rezeption notwendig. Hier wird von Melanchthon und Schleiermacher die Bereitschaft zur organischen Aufnahme des Wortes als „Mitbedingung“ der Bekehrung eingeräumt. Während jedoch Melanchthon dieses Hören als Möglichkeit der Freiheit des Menschen in äußeren Dingen auffasst, geht Schleiermacher zwar auch auf dieses Verständnis ein, macht aber sogleich darauf aufmerksam, dass „schon jene Mitwirkung der psychischen Organe zur Auffassung des Wortes auch eine Zustimmung des Willens in sich schließt“⁷⁵. Damit sei bereits hier nach den Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Handelns in und für die Bekehrung zu fragen, die bei Melanchthon erst in Bezug auf die Folge des Hörens in Betracht kommen. Die menschlich-willentliche Handlung wird nun bei Melanchthon in zwei Punkten charakterisiert: sie sei kein Widerstand und, positiv gewendet, der Versuch der Zustimmung. Schleiermacher wiederum bestimmt das Handeln ebenfalls so, dass es kein Widerstand sein dürfe, worin positiv auch eine Zustimmung des Willens liege, „die aber nichts weiter ist als das sich hingeben in die Einwirkung oder das Freilassen der lebendigen Empfänglichkeit für dieselbe“⁷⁶. Mit dem Gedanken der „lebendigen Empfänglichkeit“ kann Schleiermacher schlüssiger als Melanchthon den Synergismusvorwurf abwehren.⁷⁷ Die lebendige Empfänglichkeit verursache nicht die Aufnahme in die Lebensgemeinschaft mit dem Erlöser, sondern sei nur die Möglichkeit des Aufgenommenwerdens. Es lässt sich vermuten, dass Schleiermacher sich der strukturellen Nähe seiner Argumentation zu Melanchthons Entfaltung der Frage der

 Vgl. zu den Schwierigkeiten und der Deutung des Begriffes der „Sinnesänderung“ bei Schleiermacher: Schmidtke 2015, 231– 236 (Anm. 11).  Vgl. bei Schleiermacher: 2008, § 91, 35 (Anm. 9). Schleiermacher hält hinsichtlich des Sündenbewusstseins fest, dass mit ihm als Erlösungsbedürftigkeitsbewusstsein auch eine „Ahndung jener Hülfe“ (Schleiermacher 2008, § 71.3, 435 [Anm. 9]) gesetzt sei, die zu seiner Überwindung notwendig sei.  Schleiermacher 2008, § 108.6, 189 (Anm. 9).  Schleiermacher 2008, § 108.6, 189 (Anm. 9).  Vgl. zur lebendigen Empfänglichkeit Schmidtke 2015, 132– 152 (Anm. 11) sowie Sabine Schmidtke, „‚Lebendige Empfänglichkeit’ als anthropologische Grundbedingung der Frömmigkeit“, in: Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster, September 2015, hg.v. Arnulf von Scheliha / Jörg Dierken, Berlin / Boston 2017, 363 – 377.

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Beteiligung des Menschen in der Bekehrung bewusst ist, wenn er vehement betont, dass die mit dem Gedanken des Freilassens der lebendigen Empfänglichkeit implizierte Zustimmung des Willens keine Mitwirkung und keine Ursächlichkeit bedeute.⁷⁸ Die Konsequenz der mit der „Öffnung“ ermöglichten, aber nicht durch sie verursachten Wirksamkeit des Heilshandelns wird bei beiden Dogmatikern wiederum ähnlich bestimmt: Es werde eine Änderung des Innersten, des Herzens bzw. der Gesinnung, bewirkt. Mit dieser Änderung des „Personzentrums“ werde das gesamte Sein und Leben des Menschen neu qualifiziert, werde der Grund seines Willens neu bestimmt. Das Leben im „neuen Gehorsam“, die guten Werke in der Heiligung erscheinen damit als natürliche Konsequenz, nicht als verdienstliche Leistung des Menschen. An diesem Punkt erweist sich der Schleiermachersche Gedanke der „lebendigen Empfänglichkeit“ als weniger angreifbar als Melanchthons Behauptung der drei Ursachen guter Werke: Unter Berücksichtigung des Lebensverlaufs als Wechsel von Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit lässt sich nach Schleiermacher der Übergang von Empfänglichkeit in Selbsttätigkeit so nachvollziehen, dass diese Selbsttätigkeit zwar einerseits vom Subjekt tatsächlich sich selbst zugeschrieben wird, sie andererseits bewusst wird als eine, deren ursprüngliche Ursache in einer anderen, von außerhalb des Selbst kommenden Tätigkeit liegt: „Die Selbstthätigkeit in der Lebensgemeinschaft Christi beginnt also mit dem Aufgenommenwerden in dieselbe zugleich und ohne allen Zwischenraum, so daß man sagen kann die Bekehrung sei nichts anders als das hervorrufen dieser mit Christo vereinigten Selbstthätigkeit, das heißt die lebendige Empfänglichkeit geht über in belebte Selbstthätigkeit.“⁷⁹ Die Ähnlichkeiten der Argumentationsfiguren und die expliziten Verweise lassen darauf schließen, dass Schleiermacher sich mit Melanchthons Theologie intensiver auseinandergesetzt hat und sich ihr teilweise anschließen konnte. Gerade die Abweichungen zeigen aber auch, dass Schleiermacher die „wunden Punkte“ in den Ausführungen Melanchthons erkannt hat und bewusst umgehen wollte. So betont er entschiedener, dass die Tätigkeit des Menschen in der Bekehrung keinesfalls so bestimmt werden dürfe, dass sie als gleichrangige Mitwirkung (miss‐)verstanden werden könne. Vor allem aber zieht er die grundsätzliche Folgerung, dass es die Vorstellung eines universalen Heilswillens Gottes bei strikter Fassung des Gottesgedankens nicht zulasse, eine nur partikulare Verwirklichung des Heils anzunehmen, wolle man nicht doch dem Menschen auf irgendeinem Wege wieder eine Mitursächlichkeit in Bezug auf das Heil zuerkennen: Wird auf der einen Seite festgehalten, dass der Mensch nur sola fide am Heil teilhaben kann, ist dieser Glaube wiederum nicht eigenes Werk, sondern durch die berufende Tätigkeit Christi, solus Christus, bewirkt; verdankt sich

 In der ersten Auflage der Glaubenslehre spricht Schleiermacher zwar noch nicht von der lebendigen Empfänglichkeit, doch begegnet dafür in der Frage nach der „Vorstellung von der Leidentlichkeit des Menschen selbst in der Wiedergeburt“ (Schleiermacher 1984, I, § 130, Zusatz 2, 130 [Anm. 7]) die ausdrückliche Betonung, dass „an eine Ursächlichkeit des Menschen nicht zu denken ist“ (131 [Hervorhebung durch die Vfn.]).  Schleiermacher 2008, § 108.6, 190 (Anm. 9).

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diese aber ausschließlich dem universalen göttlichen Heilswillen – sola gratia –, so muss auf der anderen Seite auch festgehalten werden, dass dieser Heilswille erst dann voll realisiert ist, wenn alle Menschen am Heil teilhaben. – In der radikalen Betonung der Exklusivpartikel scheint Schleiermacher dem reformatorischen Anliegen fast treuer als Melanchthon, der sie zwar mit Emphase betont, im Durchdenken der Loci aber gelegentlich ihre Preisgabe riskiert.

3 Terminologische Schwierigkeiten Ein letzter Punkt, der Melanchthon und Schleiermacher in der Darstellung ihrer Soteriologie eint, wurde bisher ausgeklammert, scheint aber ein Indiz dafür zu sein, dass auch sie bei der Entfaltung der Frage nach der subjektiven Seite des Heilsgeschehens an gewisse Grenzen stoßen: Sowohl Melanchthon als auch Schleiermacher, die doch dafür gerühmt werden, die ihnen überkommenen Gedanken und Begriffe geordnet, systematisiert und präzisiert zu haben, gelingt es nicht vollständig, zentrale Begriffe ihrer soteriologischen Darstellung eindeutig zu bestimmen und in ein klares Verhältnis zueinander zu setzen. Ein exakter Aufweis der Schwierigkeiten kann hier nicht mehr geleistet werden, stattdessen muss es bei knappen Hinweisen bleiben.⁸⁰ Die bisherige Rekonstruktion hat die begrifflichen Unschärfen und Ungenauigkeiten in den soteriologischen Ausführungen bei Melanchthon bewusst geglättet. De facto werden jedoch beispielsweise die Begriffe „Buße“, „Bekehrung“, „Reue“ und „Erneuerung“ keineswegs klar unterschieden. Auch Ort und Funktion des Gewissens werden nicht durchgängig deutlich. Schließlich wird der Begriff „animus“ im Verhältnis zu „mens“, „voluntas“ und „cor“ nicht in letzter Eindeutigkeit bestimmt. Bei Schleiermacher wiederum fällt auf, dass die „Sinnesänderung“ als wesentlicher Bestandteil der Bekehrung nicht umfassend erklärt wird. Und die Erläuterungen zur Bekehrung als Oberbegriff von Buße, in Form von Reue und Sinnesänderung, sowie Glaube, laufen letztlich darauf hinaus, dass der Begriff der Buße selbst inhaltsleer ist und verzichtbar wird. Schließlich gerät als gravierenderes terminologisches Problem in den Blick, dass der Glaubensbegriff der Glaubenslehre nicht eindeutig geklärt wird, was am deutlichsten an seiner unterschiedlichen Verwendung innerhalb der Einleitung einerseits und innerhalb der Soteriologie andererseits erkennbar wird.⁸¹

 Vgl. dazu aber Schmidtke 2015, 201– 208.214– 227.231– 236.258 – 261.321– 327 (Anm. 11).  Vgl. Schleiermacher 2008, § 14, 115 – 121 (Anm. 9), wo Glaube als Gewissheit bestimmt wird. Es entstehen allerdings durch den erläuternden Verweis auf den vermeintlich zuvor behandelten „Glauben an Gott“ (116) selbst wieder Unklarheiten, da an entsprechender Verweisstelle (vgl. § 4.4, 38 – 40) von „Glaube“ gar nicht gehandelt wurde. Demgegenüber gerät Glaube in § 108, 171– 191 unter der Perspektive seiner Entstehung und in seiner Funktion als Grund des Willens in den Blick, wobei jedoch der Begriff der „Gewissheit“, der in der Einleitung entscheidend war, keinerlei Verwendung findet.

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Diese Unschärfen lassen sich einerseits daraus erklären, dass bei beiden Theologen die jeweils nur relative Unterschiedenheit der Begriffe und die Dynamik des durch sie beschriebenen Geschehens betont werden, die eine strikte Zuordnung und Bestimmung schwieriger werden lässt. Die Begriffe erläutern sich in ihrem wechselseitigen Verhältnis und sollen den notwendigen Zusammenhang von beispielsweise Reue und Glaube in der Bekehrung verdeutlichen. Andererseits können die terminologischen Schwierigkeiten aber meines Erachtens auch ein Indiz für die folgenden zwei Aspekte sein: Erstens scheinen sie sich dem Ursprung der Begriffe zu verdanken. Die Zentralbegriffe der Soteriologie haben schon in der Bibel eine hohe Bedeutungsweite und -variabilität. In der weiteren Geschichte der Lehrentwicklung kommt es dann zu Bedeutungsverschiebungen, -verengungen und -erweiterungen. Hinzu kommen die Unschärfen, die jede Übersetzung mit sich bringt, dies wird insbesondere hinsichtlich des Begriffs der μετάνοια fassbar. Schleiermacher selbst schwankt darin, wie er ihn übersetzen soll. In der ersten Auflage der Glaubenslehre wählt er noch „Buße“ als Übersetzung, in der zweiten dann „Bekehrung“, ist in der Verwendung der Begriffe aber in keinem der beiden Fälle konsequent. Es ist meines Erachtens zu überdenken, ob beziehungsweise wie sich die systematisch-theologische Reflexion der biblischen und tradierten Begriffe bedienen sollte. Für die Glaubenslehre ließe sich zeigen, dass die Verwendung des Bußbegriffs verzichtbar ist. Ein solcher Verzicht hätte eine größere Klarheit der Entfaltung zur Folge. Eine gegenwärtige Darstellung müsste meines Erachtens prüfen, welche soteriologischen Begriffe der Explikation des Phänomens der μετάνοια dienlich sind – und welche lieber „der Geschichte zur Aufbewahrung übergeben werden.“⁸² Zweitens scheint sich in der genannten Schwierigkeit auch die Grenze der Verknüpfung von Theologie und nicht-theologischer Anthropologie zu zeigen. Die Zusammenfügung religiöser Terminologie mit psychologischen Erwägungen kann durchaus zur theologischen Erhellung des Phänomens „Glaube“ beitragen. Sie funktioniert aber nicht vollständig reibungslos, sondern führt auch zu unscharfen Begriffen und nicht eindeutig durchgeklärten Verhältnisbestimmungen. Dieser Aspekt lässt sich als ein Zeichen dafür werten, dass der Glaube und seine Wirklichkeit im und am Inneren des Menschen zwar auch in psychologischer Begrifflichkeit beschreibbar sind, dass diese Beschreibungen aber nicht wiederum eine „psychologische Glaubensanleitung“ sein können. Mit der Feststellung der Grenze ist jedoch nicht die Legitimität der Frage nach der Art und Weise der Glaubensentstehung und seines subjektiven Vollzugs bestritten. Vielmehr ist die protestantische Theologie mit ihrer Betonung des sola fide immer wieder vor die Aufgabe gestellt, diesen Glauben näher zu beschreiben, nach seiner Konstitution, seinem Unterschied zu anderen Phänomenen und den Möglichkeiten seiner Vermittlung zu fragen. Mit dem Konzept der „lebendigen Empfänglichkeit“ hat

 Schleiermacher 2008, Zusatz zum Hauptstück über das Geschäft Christi, 164 (Anm. 9).

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Schleiermacher hinsichtlich der Frage des Verhältnisses von göttlicher Tätigkeit und menschlicher Mit-Tätigkeit in der Bekehrung eine wegweisende Figur gefunden, um „zwischen der Skylla des Synergismus und der Charybdis des Determinismus sicher hindurch[zufahren]“⁸³.

 Manfred Marquardt, „Die Vorstellung des ‚Ordo Salutis’ in ihrer Funktion für die Lebensführung der Glaubenden“, in: Lebenserfahrung, hg.v. Wilfried Härle / Reiner Preul, Marburg 1990, 29 – 53, hier 44.

Henryk Machoń / Oppeln (Polen)

Religion – nur emotions- oder auch kognitionsbestimmt? Die Auffassungen von Schleiermacher, James und Otto In seinem Frühwerk Über die Religion von 1799 hat Friedrich Schleiermacher eine neue Perspektive entworfen, in der er Religion unter anderem nicht mehr als ein einheitliches Phänomen verstanden, sondern verschiedene Komponenten in ihr unterschieden hat. Aus diesem Grund ist der Gegenstand seiner Analyse in dieser Schrift nicht Gott oder Theologie, die an sich eher als etwas Einheitliches verstanden werden, sondern Religion, betrachtet in ihrer differenzierten Struktur. Der folgende Aufsatz geht von einer ähnlichen Prämisse aus, indem er Religion in der Spannung zwischen zwei Dimensionen sieht und analysiert, nämlich zwischen Emotion und Kognition.¹ Neben Schleiermachers Auffassung, und in gewissem Sinne als ihre Fortsetzung, werden auch James‘ und Ottos Position in dieser Hinsicht dargestellt. Diese drei Denker haben starke Thesen zur Religionstheorie formuliert, die ihre Bedeutung zum Teil bis heute nicht verloren haben.² Ihre Betrachtungsweise kann einen bedeutenden Beitrag leisten, um Fragen nach dem genuin Religiösen zu stellen: Welche Geltung haben Emotionen und Kognitionen in der Religiosität? Was macht eine Erfahrung zur religiösen Erfahrung? Kann man bewusst eine individuelle Religiosität entwickeln, oder erleben alle Gläubigen ihren Glauben ähnlich?

1 Religion in ihrem Wesen Das Vorhaben aller drei Denker ist ähnlich: Sie wollen den Kern von Religion erhellen und wählen dazu eine entsprechende Untersuchungsmethode. Deswegen sollen zunächst neben ihren Absichten auch ihre wissenschaftlichen Methoden geschildert werden.

 Zu dem sehr intensiv erforschten Thema der Emotionen in der Religionsforschung vgl. Roderich Barth / Christopher Zarnow (Hg.), Theologie der Gefühle, Berlin / Boston 2015.  Ich beziehe mich hier auf vier Werke von diesen Autoren, die sicherlich lediglich ein Teil ihrer Religionstheorie darstellen, für die analysierte Problematik jedoch repräsentativ sein sollen: Friedrich Schleiermacher [1799], Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihrer Verächtern, Göttingen 1967; ders. [1821/22], Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Berlin 1960; William James [1902], Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, übers. v. Eilert Herms u. Christian Stahlhut, Frankfurt a.M. / Leipzig 1997; Rudolf Otto [1917], Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 1997. https://doi.org/10.1515/9783110569520-023

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Schleiermacher möchte in den Reden die wahre Religion in ihrer geheimnisvollen Gestalt enthüllen und in der Glaubenslehre das Wesen des Christentums erfassen.³ In seinem wissenschaftlichen Verfahren will er Religion von allen fremden Vermischungen reinigen, sie aber darstellen und nicht etwa erklären.⁴ Auf diesem Hintergrund soll das spezifisch Religiöse besonders hell leuchten.⁵ James hingegen vertritt die These, dass das Wesen der Religion in den lebendigen und intensiven Erlebnissen zu finden ist. Deshalb sucht er „nach den ursprünglichen Erfahrungen […], die das Muster abgaben“⁶, analysiert „die Existenzbedingungen von Religion“⁷ und möchte „religiöse Antriebe und religiöse Gefühle“⁸ untersuchen. Der Untertitel der Varieties lautet ja: Eine Studie über die menschliche Natur. Dazu wählt er eine qualitative Methode, mit der er – als einen sicheren Interpretationshorizont – Biographien von großen Persönlichkeiten, wie etwa Luther, Ignatius von Loyola oder Theresa von Ávila, analysiert. Obwohl er, wie schon der Titel seines Standardwerkes besagt, die Vielfalt religiöser Erfahrungen darstellt, widmet er die größte Aufmerksamkeit den Intensiverfahrungen, weil sie seiner Meinung nach das genuin Religiöse in sich tragen. Ein „normaler“, durchschnittlicher Gläubiger ist für ihn uninteressant, denn in seinen lauwarmen Glaubensformen hat er keinen Zugang zu den lebendigen und stark emotionalen Quellen religiösen Erlebens. In seiner phänomenologischen Methode will Otto den Kern der Religion vorsichtig beschreiben, das heißt „eigentümlich religiöse Gefühle“, vor allem „religiöse Erregtheit“⁹ „ein[]fangen und nach ihren Momenten fest[]legen“¹⁰. Am deutlichsten erkennt man diese Zustände dann, wenn man sie selbst erlebt. Deshalb bemerkt er schon im Anfang seiner Schrift: „Wer das nicht kann oder wer solche Momente überhaupt nicht hat, ist gebeten nicht weiter zu lesen.“¹¹ Das Vorhaben aller drei Denker, das spezifisch Religiöse herauszuarbeiten, wird auch von einem eindeutig apologetischen Ansatz begleitet. Religion als Phänomen sui generis bleibt immun gegen jede gewöhnliche Kritik. Die Verteidigung der Religion bzw. des Christentums wird jedoch von jedem dieser Forscher auf eigene Art durchgeführt. Nach der Aufklärung, die Religion in Frage gestellt und lediglich ihre rationalisierte Form für legitim gehalten hat, will Schleiermacher nachweisen, dass sie der ratio nicht wiedersprechen muss und trotzdem in sich ein anziehendes Geheimnis

 Schleiermacher 1967, 63 (Anm. 2); 1960, 12 (Anm. 2).  Hans-Peter Großhans, „Gottesverhältnis und Freiheitsgefühl. Schleiermachers Theologie zwischen Neuzeit und Moderne“, in: Schleiermacher – Denker für die Zukunft des Christentums?, hg.v. Andreas Arndt / Kurt-Victor Selge, Berlin / New York 2011, 11– 30, hier 26.  Uwe Glatz, Religion und Frömmigkeit bei Friedrich Schleiermacher. Theorie der Glaubenskonstitution, Stuttgart 2010, 171– 172.  James 1997, 42 (Anm. 2).  James 1997, 44 (Anm. 2).  James 1997, 38 (Anm. 2).  Otto 1997, 8 (Anm. 2).  Otto 1997, 77 (Anm. 2).  Otto 1997, 8 (Anm. 2), vgl. 200.

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enthält. Mit anderen Worten, verteidigt er die Religion, indem er sie von ihr fremden Funktionen befreit, die man ihr fälschlicherweise als Dienst an der Moral oder als Begründung der Gottesbeweise zuweist.¹² James hebt, seinem Pragmatismus entsprechend, vor allem die guten Früchte, die der Glaube mit sich bringt, hervor. Er schreibt: „Die höchsten Wagnisse der Liebe, Hingabe, Treue, Geduld, Tapferkeit […] sind im Namen religiöser Ideale unternommen worden.“¹³ Die durchaus positiven Folgen der gelebten Religion überzeugen ihn stärker als gut begründete Thesen, die die Wahrheit der Religion nachweisen wollen. Otto dagegen, der die Religion im Gegensatz zum Naturalismus sah, suchte in ihr vor allem die übernatürlichen Momente des Numinosen und fand sie in bestimmten Formen der Religion. In der vollkommensten Form seien aber diese Momente im Christentum vorhanden.¹⁴

2 Emotion – Kognition – Religion Wenn man bei den drei Denkern den Kern der Religion zwischen Fühlen und Denken untersucht, stellt man fest, dass sie alle den Emotionen Vorrang vor den Kognitionen geben, auch wenn sie es unterschiedlich tun.¹⁵ Das Wesen der Religion ist bei Schleiermacher „Anschauung und Gefühl“¹⁶ – „Anschauung des Universums“.¹⁷ Dieses Gefühl ist vor allem in der Frömmigkeit vorhanden. So schreibt er in der Glaubenslehre: „Die Frömmigkeit, welche die Basis aller kirchlichen Gemeinschaften ausmacht, ist rein für sich betrachtet weder ein Wissen noch ein Tun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewusstsein.“¹⁸ Schleiermacher präzisiert, dass es sich um „schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl“ handelt.¹⁹ Bedeutend ist in diesem Kontext die Tatsache, dass das religiöse Gefühl bei ihm – wie es scheint – einen Gegenstand hat, von dem dieses Gefühl erst ausgelöst wird, wie etwa das Universum, das in Erstaunen versetzt, Gott von dem man sich abhängig fühlt oder ein anderer religiöser Gegenstand, der zur religiösen Erregung führt. Diese Beobachtung wirft die Frage auf, ob es exklusive religiöse Gefühle gibt. Wenn man sie bejaht, behauptet man, dass es eine eigene Kategorie von Emotionen gibt, die sich grundsätzlich von den (säkularen) zwischenmenschlichen Gefühlen unterscheiden.

 Schleiermacher 1967, 33.38 – 39.48.84– 85 (Anm. 2).  James 1997, 273 (Anm. 2).  Otto 1997, 134– 135 (Anm. 2).  Andrew Dole, „Schleiermacher and Otto on religion“, Religious Studies. An International Journal for the philosophy of religion 40 (2004), 389 – 413.  Schleiermacher 1967, 49 (Anm. 2).  Schleiermacher 1967, 69 (Anm. 2).  Schleiermacher 1960, 14 (Anm. 2).  Schleiermacher 1960, 26 (Anm. 2).

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Für James sind religiöse Gefühle qualitativ nicht grundsätzlich anders als andere Erlebnisse. Er schreibt in den Varieties: Es gibt religiöse Furcht, religiöse Liebe, religiöse Ehrfurcht, religiöse Freude usw. Aber religiöse Liebe ist nur eine besondere Form des natürlichen menschlichen Gefühls der Liebe, das sich auf ein religiöses Objekt richtet; religiöse Furcht ist nichts anderes, als die normale Furcht vor einer Begegnung, sozusagen das gewöhnliche Zittern des menschlichen Herzens, erweckt durch den Gedanken an göttliche Vergeltung; religiöse Ehrfurcht ist derselbe körperliche Schauer, den wir im Wald spüren, wenn es dämmert, oder in einer Gebirgsschlucht; nur überkommt er uns in diesem Fall beim Gedanken an unsere übernatürlichen Beziehungen […].²⁰

Diese Meinung bestätigt heutzutage auch die religionspsychologische Forschung.²¹ Trotzdem haben Gefühle, hauptsächlich die sehr intensiven, bei James eine enorme Bedeutung. Die wahre Religion, „first-hand religion“ ist ja für ihn persönliche, private, direkte, feierliche und ernsthafte religiöse Erfahrung. Vor allem aber ist sie eine stark gefühlsmäßige Erfahrung. Obwohl James in den Varieties die Vielfalt religiöser Erfahrungen beschreibt, bildet ihren Kern immer ein stark emotionales Erlebnis. Die Begründung dafür findet man – wie es scheint – einerseits in seiner Emotionstheorie, auch James-Lange-Theorie²² genannt, nach der Emotionen eine starke Motivationskomponente in sich tragen. Andererseits ist für ihn die lebendige Religion tief im Unbewussten (englisch subconscious oder subliminal) verankert, was ihr nicht nur Lebendigkeit schenkt, sondern in manchen Fällen auch ihre pathologischen Züge erklärt.²³ Sogar die Individualität wurzelt nach James im Gefühl. Er schreibt in den Varieties: Individualität ist im Gefühl begründet; und die Schlupfwinkel des Gefühls, die dunkleren, blinderen Schichten des Charakters, sind die einzigen Orte in der Welt, an denen wir die reale Faktizität in ihrem Ursprung erfassen und direkt wahrnehmen, wie Ereignisse geschehen und wie etwas wirklich zustande kommt.²⁴

Demnach sind Emotionen so bedeutend, dass sie über die Einzigartigkeit einer Person entscheiden. Diese Individualität aber, die in der psychologischen Sprache Persönlichkeit genannt wird, beeinflusst nach James wieder die Religiosität eines Gläubigen, weshalb er von „einmal Geborenen“ und „zweimal Geborenen“ spricht.²⁵ Zur ersten Gruppe gehören Gläubige, die im Allgemeinen positiv gestimmt sind und sich deshalb  Otto 1997, 60 (Anm. 2).  Vgl. etwa Bernhard Grom, Religionspsychologie, München 32007, 186 – 189.  William James, „What is an Emotion?“, Mind 9 (1884), 188 – 205.  Vgl. Henryk Machoń, Religiöse Erfahrung zwischen Emotion und Kognition. William James’, Karl Girgensohns, Rudolf Ottos und Carl Gustav Jungs Psychologie des religiösen Erlebens, München 2005, 11– 54.  James 1997, 483 (Anm. 2).  James 1997, 110 – 187 (Anm. 2).

Religion – nur emotions- oder auch kognitionsbestimmt?

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auch zu einer freudvollen Religion bzw. religiösen Gruppierung bekennen. Die zweite Gruppe besteht aus Religiösen, die ihr Leben in dunkleren Farbtönen schildern und sich hauptsächlich aus diesem Grund vom Glauben Trost und Versöhnung erhoffen. Darum entscheiden nach James positive oder negative Gefühle über die konkrete Form von Religion, die man wählt bzw. pflegt. Auch Otto schreibt den Gefühlen eine große Bedeutung zu. Die Kontrastharmonie des mysterium tremendum et fascinans kann nicht in Begriffen dargestellt werden, sondern ihre Natur wird lediglich im Gefühl teilweise enthüllt. Der Verfasser des Heiligen, der eine antinaturalistische Position von Religion vertrat, unterscheidet sehr deutlich zwischen natürlichen und religiösen Gefühlen. In den religiösen Gefühlen wird die Religion tiefer verstanden als in den Begriffen und in einer theoretischen Reflexion. Der Grund dafür liegt seiner Meinung nach in der Natur des Numinosen, das „über aller Vernunft ist“.²⁶ In den religiösen Gefühlen wird der Mensch vom Numinosen ergriffen, das ihn in seiner Macht hat. In einem durchaus passiven religiösen Erleben erkennt der Gläubige das Wesen seiner Religion, was bedeutet, dass Otto eine Erkenntnisfähigkeit religiöser Gefühle voraussetzt. Die religiösen Gefühle werden auch tiefer als die zwischenmenschlichen Gefühle erlebt. Sie bringen den Menschen zum „Erzittern und Verstummen“; es sind enorm intensive Erlebnisse, die nur selten im Leben eines Menschen vorkommen.²⁷ Doch unterscheiden sich religiöse Gefühle von den „natürlichen“ nicht nur durch ihre größere Intensität, sondern durch ihre andere Qualität. Um das zu veranschaulichen, nennt Otto in diesem Kontext das Beispiel der spezifischen Körperreaktion, die lediglich in stärkstem religiösen Erleben vorkommt. Besonders bei den unangenehmen Zuständen, die tiefer als die positiven sind und die Otto im religiösen Kontext höher schätzt bzw. einstuft, bekommt man die Gänsehaut, die „etwas ‚Übernatürliches‘“ ist.²⁸ Die Art, wie die drei Religionstheoretiker das Emotionale einschätzen, zeigt sich deutlich in ihrem Verständnis des Kognitiven, das sie der emotionalen Komponente stark entgegensetzen. Unter Kognitionen versteht Schleiermacher jedes philosophische Systemen, in dem das Absolute beziehungsweise Gott als einem seiner Elemente gründet. Oft werde das Göttliche in der Metaphysik nicht als das „Ganz Andere“ betrachtet, sondern rationalistisch und zu allgemein verstanden, um das Innerste des Gläubigen noch zu berühren. Auch die kirchlichen Lehren, die zwar bedeutend seien, jedoch im Vergleich zu religiöser Erfahrung zweitrangig blieben, sollten den Christen nicht zur geglaubten Orthodoxie führen, sondern auf der Basis der religiösen Gefühle und der Frömmigkeit das Bewusstsein der absoluten Abhängigkeit wach halten.²⁹ Das

 Otto 1997, 62.163 (Anm. 2).  Otto 1997, 19 (Anm. 2).  Otto 1997, 17– 18 (Anm. 2), vgl. Harald Matern, „Rudolf Ottos religionsphilosophischer Gefühlsbegriff“, in: Rudolf Otto. Subjekt und Religion, hg.v. Thorsten Dietz / Harald Matern, Zürich 2012, 109 – 153.  Schleiermacher 1960, 14– 16.23 – 26 (Anm. 2); vgl. Andreas Krichbaum, Kierkegaard und Schleiermacher. Eine historisch-systematische Studie zum Religionsbegriff, Berlin / New York 2008, 189 – 190.

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Kognitive in Form von philosophischen Systemen, kirchlichen Lehren oder präzisen moralischen Anweisungen gehöre nicht zum wahren Kern der Religion, der nach Schleiermacher lediglich in ihrer Innerlichkeit und Subjektivität vorhanden ist³⁰. Dort offenbare sich die wahre Religion als Religion sui generis und dort werde sie auch vor den Menschen, die sie nicht bzw. falsch verstehen, geschützt. Auch in diesem Sinne kann man mit den Reden sagen, „dass ihr eine eigene Provinz im Gemüte angehört“.³¹ Am deutlichsten von den drei Denkern schildert James seine Auffassung von Kognitionen. Glaubenslehren und religiöse Doktrinen nennt er schlicht „over-beliefs“ – „Über-Glaube“. Diese machen zwar das Unterscheiden von verschiedenen Glaubensrichtungen voneinander möglich, doch ist ihre Funktion sehr gering, d. h. zum Kern der Religion wurden sie nur hinzugefügt.³² Unzweideutig veranschaulicht das folgende Textstelle: Wenn wir den Gesamtbereich der Religion überblicken, entdecken wir eine große Vielfalt der jeweils vorherrschenden Gedanken; aber die Gefühle auf der einen Seite und das Verhalten auf der anderen sind fast immer dieselben, denn stoische, christliche und buddhistische Heilige sind in ihrer Lebensführung praktisch ununterscheidbar. Die Theorien, die die Religion erzeugt, sind, weil sie so variabel sind, sekundär; wenn man ihr Wesen zu erfassen sucht, muss man sich die konstanteren Elemente des Gefühls und des Verhaltens anschauen. Diese beiden Elemente bilden den eigentlichen Stromkreis der Religion, hier vollbringt sie ihr Hauptgeschäft, während die Ideen, Symbole und anderen Einrichtungen Nebenschleifen bilden […].³³

Der Untertitel von Ottos Werk lautet: Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Er will die faktische Beziehung der beiden Teile untersuchen, d. h. feststellen, in welchem von ihnen das genuin Religiöse vorhanden ist. Das Kognitive, d. h. Rationale, Begriffliche und Eindeutige, bildet einen Teil der Religion, doch bei diesem „verschließt man […] die Augen vor dem ganz Eigenen des religiösen Erlebens“.³⁴ Dieses entzieht sich der klaren Logik, der präzisen Sprache mit den schärfsten Begriffen, weil diese immer natürliche Begriffe sind. Die Religion dagegen ist ein über-natürliches Phänomen. Deshalb sucht und findet er auch das spezifisch Religiöse in den tieferen, stark emotionalen und irrationalen Erlebnissen. Obwohl man Otto nicht als Antirationalisten bezeichnen kann, sondern als jemanden, der das Wesen der Religion in einer stark antinaturalistischen Perspektive gesucht hat, ist in seinem Hauptwerk das Kognitive dem Emotionalen untergeordnet.³⁵

     

Schleiermacher 1967, 43 – 49 (Anm. 2). Schleiermacher 1967, 40 (Anm. 2). James 1997, 74 (Anm. 2). James 1997, 484– 485 (Anm. 2). Otto 1997, 4 (Anm. 2). Vgl. Machoń 2005, 97– 141 (Anm. 23).

Religion – nur emotions- oder auch kognitionsbestimmt?

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3 Fazit Alle drei Denker geben den Emotionen den Vorrang vor den Kognitionen. Man erkennt dies vor allem in der von ihnen verwendeten Sprache: In der Religion stehen die intensiven Gefühle neben dem oberflächlichen Denken, die erkenntnisfähigen Emotionen vermischen sich mit den nur einen geringen Teil der Wirklichkeit erfassenden Kognitionen und die Tiefe des religiösen Geheimnisses entzieht sich eindeutig dem einseitigen und simplen Rationalismus. Kognitionen und Emotionen stehen in einer spannungsreichen Beziehung zueinander, die auch über die Lebendigkeit eine Religion oder Spiritualität entscheidet. Ohne Kognitionen, auch wenn sie in manchen religiösen Phänomenen auf ein Minimum reduziert sind, kann nicht von Religiösem die Rede sein. Dies bedeutet, dass das spezifisch Religiöse im Kognitiven liegt, weil nur dieses das Religiöse vom Nichtreligiösen unterscheidet. Den Unterschied zwischen Profanem und Religiösem kann nicht etwa in der Intensität der Gefühle oder in der Einzigartigkeit der religiösen Emotionen liegen, weil diese Eigenschaften in beiden Bereichen ähnlich sein können. Für diese These spricht noch ein weiteres Argument, nach dem man eine geeignete Sprache benötigt, um die religiösen Phänomene zu beschreiben und – was noch bedeutender ist – zu deuten, damit ihre Spezifik auch klar erkannt werden kann. Mit einer Formulierung von Richard Schaeffler gesagt: „Es gibt keine interpretationsfreie Erfahrung“.³⁶ Die Emotionen aber geben der religiösen Erfahrung ihre Intensität und Lebendigkeit. Sie bewirken beim Gläubigen, dass er religiöse Erlebnisse sucht und sie als etwas Bedeutsames für den Erhalt und die Lebendigkeit seines Glauben bewertet. Ohne die Gefühlskomponente hat man lediglich mit kalten religiösen Wahrheiten oder kirchlichen Lehren zu tun, die man zwar analysieren und reflektieren kann, die aber für sich allein im Leben des Gläubigen keine bedeutsamen Folgen bewirken können, etwa im Sinne der James‘schen „Früchte der Religion“. In Bezug auf die zwei Komponenten der Religion kann man Fragen nach den Inhalten der Religiosität oder Spiritualität eines Menschen stellen: Was hat hier Vorrang? Welche Gefühle und Gedanken werden gepflegt und kultiviert? Welche Gefühle sind nicht erwünscht beziehungsweise erlaubt? Die gleichen Fragen lassen sich auch an religiöse Gruppierungen richten: Warum bevorzugen bestimmte Glaubensrichtungen eher Emotionen, während sich andere auf das Kognitive konzentrieren? Als Beispiel lassen sich viele evangelikale Gemeinschaften anführen, die einerseits religiöse Erlebnisse sehr hoch schätzen und intensiv pflegen, andererseits die Bibel wortwörtlich (als etwas Kognitives, Bestimmtes und Sicheres?) nehmen. Vielleicht kann man eine einseitig emotionale Ausprägung der Religiosität als Suche nach Intensiverfahrungen verstehen, eine stark kognitive da Richard Schaeffler, Erfahrung als Dialog mit der Wirklichkeit. Eine Untersuchung zur Logik der Erfahrung, Freiburg / München 1995, 424.

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gegen als Sorge um die Orthodoxie deuten? Obwohl die Gegenüberstellung von Kognitionen und Emotionen in der Religion künstlich und deshalb falsch ist, könnte man in diesem Zusammenhang nach der Überzeugungskraft der Religion beziehungsweise des Christentums fragen. Liegt ihre/seine Stärke eher im Kognitiven (Lehren, Forschung und ihre Qualität) oder im Emotionalen (religiöse Erlebnisse die „sehr gut tun“)? Alle drei Autoren betonen, wenn auch auf unterschiedliche Weise, die Passivität des Menschen in der religiösen Erfahrung. Der Gläubige kann aber gewiss seine Religiosität auch aktiv gestalten, indem er ihr eher eine volitionale, kognitive oder emotionale Form gibt. Es kommt hier auf bestimmte, ausgewählte religiöse Texte, Praktiken, aber auch Gefühle an, die man schätzt, pflegt und auch reflektiert. Gewiss sind die hier analysierten Text von Schleiermacher, James und Otto eine solche Reflexion auch heute noch wert. Ihre Überlegungen kann man mit den Schultern von Riesen vergleichen, auf denen wir sitzen, um mehr zu sehen oder wenigstens das Phänomen der Religion deutlicher zu beschreiben.

Manke Jiang / Berlin

Das Gefühl im Offenbarungsverhältnis Eine kommunikationstheoretische und sozialphilosophische Dimension des Gefühlsbegriffs in der Philosophischen Ethik Schleiermachers

I „Das Erkennen tritt aber auch hervor auf der andern Seite mit dem Charakter der Eigenthümlichkeit d. h. der Unübertragbarkeit. Das nennen wir nun im eigentlichen Sinne Gefühl. In dem Maaß, als in jeder einzelnen Lebensoperation Gefühl ist, ist auch Unübertragbarkeit darin. Diese Unübertragbarkeit gilt aber nicht nur zwischen mehreren Person, sondern auch zwischen mehreren Momenten desselben Lebens.“¹ – So schrieb Friedrich Schleiermacher im Brouillon zur Ethik (1805), seiner Vorlage für die Vorlesung zur Ethik im Wintersemester 1805/06 an der Universität Halle. Mit dieser Notiz wird das Gefühl nicht nur zum ersten Mal in seinem handlungstheoretischen Schema, das Schleiermacher im Rahmen seiner Philosophischen Ethik entwickelt, verortet und als individuelles Erkennen – in späteren Ethikvorlesungen als individuelles Symbolisieren – verstanden. In dieser Aussage wird zugleich auch ein entscheidender Punkt zur Bestimmung des Gefühls genannt: Das Gefühl wird hier ebenfalls zum ersten Mal durch den Charakter der Unübertragbarkeit gekennzeichnet. Diesen Sachverhalt drückt Schleiermacher hier mit dem Begriff der Eigentümlichkeit aus. Unübertragbarkeit ist also ein wesenhaftes Merkmal des Gefühls. Gefühl fungiert als Grundbegriff in den religionsphilosophischen und theologischen Gedanken Schleiermachers. Das ist in der Forschung allgemein anerkannt. Die handlungstheoretische Verortung des Gefühls hat eine weiterreichende Bedeutung in der gesamten Entwicklungsgeschichte seiner Religionsgedanken. In seiner frühromantischen religionstheoretischen Programmschrift, den Reden über die Religion (1799), bestimmt Schleiermacher das Wesen der Religion als Anschauung und Gefühl des Universums neu, um Religion von Metaphysik und Moral zu entkoppeln und sie in „eine[r] eigene[n] Provinz im Gemüthe“² zu verorten. Als wesens- und grenzbestimmender Maßstab für das Phänomen Religion ist Anschauung in dieser neuen Bestimmung der klare Leitbegriff. Im Vergleich dazu tritt die Bedeutung des Gefühls in

 Friedrich Schleiermacher [1805/06], Brouillon zur Ethik, Schleiermachers Werke, Bd. II, hg.v. Otto Braun, Aalen 1981 [Nachdruck Leipzig 21927], 97– 98.  Friedrich Schleiermacher [1799], Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, KGA I/2, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 185 – 326, hier 37 (Hier zitiert nach der am Rande abgedruckten Paginierung der ersten Ausgabe). https://doi.org/10.1515/9783110569520-024

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Manke Jiang / Berlin

den Hintergrund, obwohl Gefühl ebenfalls eine unentbehrliche Rolle für die Vollendung der Religion spielt. In seiner Philosophischen Ethik genauer genommen im Brouillon zur Ethik von 1805/06 kommt es aber zu einer systematischen Aufwertung des Gefühls zum religionstheoretischen Grundbegriff. Das Gefühl ersetzt die Anschauung als Leitbegriff für das Religionsverständnis. Religion wird im Rahmen seines handlungstheoretischen Schemas als Ethisierung des Gefühls verstehbar: Religion ist ein ethischer Handlungsprozess. Religion und Gefühl gehören Schleiermacher zufolge im sittlichen Leben zusammen: Religion gründet sich ursprünglich im Gefühl; das sittliche Gefühl muss religiös sein.³ Durch die kulturtheoretische Verortung der Religion in der Philosophischen Ethik erlebt Schleiermachers Religionsverständnis eine grundlegende kategoriale Umstellung. Der weiterreichende Einfluss dieser Umbildung zeigt sich vor allem in seiner Glaubenslehre. In der Glaubenslehre (¹1821/22; 2 1830/31), seiner systematischen Darstellung der christlichen Dogmatik, wird der Religionsbegriff schließlich durch das Frömmigkeitsgefühl, das mit dem schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl identifiziert wird, ersetzt.⁴ Die grundlegende kategoriale Umbildung des Religionsverständnisses im Brouillon zur Ethik gilt also als wichtigste Wende in der religionstheoretischen Entwicklung Schleiermachers.⁵ In engem Zusammenhang mit dieser Wende steht die kurz danach erschienene selbstkorrigierende zweite Auflage der Reden über die Religion (1806). Der Aufwertung des Gefühls zum religionstheoretischen Grundbegriff entsprechend arbeitet Schleiermacher in der Philosophischen Ethik einen Gefühlsbegriff heraus, der unterschiedliche Bedeutungsaspekte enthält: Das Gefühl kann unter anderen erkenntnistheoretisch als individuelles Erkennen verstanden werden, das Gefühl kann ebenso ausdruckstheoretisch als Ausdruck der inneren mentalen Bewusstseinszuständen gesehen werden, und das Gefühl kann zugleich auch subjektivitätstheoretisch als individuelles Selbstbewusstsein interpretiert werden.⁶

 Zu diesem bisher wenig erforschten Religionsbegriff Schleiermachers im Brouillon zur Ethik vgl. Hermann Süskind, Der Einfluß Schellings auf die Entwicklung von Schleiermachers System, Tübingen 1909, 134– 138; Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers, Bd. 2, Gesammelte Schriften, Bd. XIV, hg.v. Martin Redeker, Göttingen 1966, 560 – 563. In seiner posthum erschienen Darstellung des Systems Schleiermachers macht Dilthey auf den ethischen Religionsbegriff im Brouillon zur Ethik aufmerksam. Zu diesem Thema vgl. ferner Manke Jiang, Religion und Individualität. Eine Untersuchung zur Philosophischen Ethik Schleiermachers, Dissertation Humboldt-Universität zu Berlin 2016 (wird derzeit zum Druck vorbereitet und erscheint voraussichtlich 2019), 75 – 109.  Dazu vgl. Hans-Joachim Birkner, „Beobachtungen und Ergänzungen zum Religionsbegriff in der neuen protestantischen Theologie“, in: Fides et communicatio. Festschriften für Martin Doerne zum 70. Geburtstag, hg.v. Dietrich Rössler u. a., Göttingen 1970, 9 – 20.  Diese Umbildung bezeichnet Hermann Süskind als „Umbildung von Schleiermachers Religionsbegriff“. Dazu vgl. Süskind 1909, 99 (Anm. 3); Jiang 2016, 103 – 109 (Anm. 3).  Zum Gefühl als Selbstbewusstsein in der Philosophischen Ethik Schleiermachers vgl. Peter Grove, Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, Berlin / New York 2004, 397– 432; zu dieser Dimension und zu weiteren Theorieaspekten des Gefühls in der Philosophischen Ethik vgl. ferner Jiang 2016, 69 – 74.134– 187 (Anm. 3).

Das Gefühl im Offenbarungsverhältnis

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Diese Bedeutungsaspekte des Gefühlsbegriffs bringen eine vieldimensionale Vertiefung des Selbstverhältnisses in der im Gefühl fundierten Religion mit sich. Dank des starken Bezugs auf den Gedanken der Subjektivität ist Schleiermachers Religionsphilosophie als subjektivitätstheoretische bekannt.⁷ Die Grundbedeutung des Subjekts für die Religion entdeckt Schleiermacher bereits in den Reden über die Religion (1799). Mit jener kategorialen Umbildung des Religionsverständnisses in der Philosophischen Ethik arbeitet er diese Bedeutung noch stärker heraus. Allerdings ist auch die soziale Dimension elementar für das Religionsverständnis Schleiermachers. Bereits in den Reden über die Religion (1799) bilden Religion und Sozialität keinen Gegensatz. Vielmehr ist die durch Geselligkeit und Mitteilung gekennzeichnete Kommunikation unentbehrlich für Religion. Diese Position bleibt in seiner Philosophischen Ethik und wird sogar noch deutlicher. Denn ebenso wie mit den drei erstgenannten Theorieaspekten des Gefühlsbegriffs – erkenntnistheoretischer Interpretation, ausdruckstheoretischem Gedanken, subjektivitätstheoretischer Selbstbewusstseinsanalyse – verbindet sich das Gefühl in der Philosophischen Ethik mit einer kommunikationstheoretischen Dimension. Diesen theoretischen Aspekt des Gefühls in der Philosophischen Ethik zu klären, ist das Ziel dieses Beitrags. Mit der Charakterisierung des Gefühls durch die Unübertragbarkeit stellt sich in der Philosophischen Ethik die schwierige Frage, wie die intersubjektive Kommunikation in der im Gefühl fundierten Religion zustande kommen kann. In den Ethikvorlesungen seiner Berliner Reifezeit (1812– 17) führt Schleiermacher Offenbarung als einen elementaren Begriff in die Problematik ein, um zu klären, wie die intersubjektive Kommunikation auf dem Gebiet des Gefühls trotz seiner wesenhaften Unübertragbarkeit möglich ist. In einem kommunikationstheoretischen Sinne bedeutet Offenbarung hier die durch das gegenseitige Andeuten-Ahnen strukturierte Wechselwirkung zwischen Individuen auf dem Gebiet des Gefühls. Die kommunikationstheoretische Dimension des Gefühls in der Philosophischen Ethik ist durch den Begriff der Offenbarung gekennzeichnet. Diese Dimension des Gefühls ist für das Religionsverständnis der Philosophischen Ethik Schleiermachers von besonderer Bedeutung. Sie spielt in diesem philosophischen Werk nicht nur eine entscheidende Rolle in der Verhältnisbestimmung von Religion und Kunst, sondern ist auch für Schleiermachers kulturtheoretischen Kirchenbegriff zentral. Trotz seiner hohen Bedeutung wurde der Begriff Offenbarung in der Philosophischen Ethik in der Forschung bisher erstaunlich wenig berücksichtigt.⁸

 Die bisher umfassendste Untersuchung zur subjektivitätstheoretischen Religionstheorie Schleiermacher hat Peter Grove vorgelegt. Grove 2004 (Anm. 6).  Zum Begriff der Offenbarung in der Philosophischen Ethik Schleiermachers vgl. Hans-Joachim Birkner, „,Offenbarung‘ in Schleiermachers Glaubenslehre“, in: ders.: Schleiermacher-Studien, Berlin 1996, 81– 98, bes. 94– 97; Theodor Jørgensen, Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis des späteren Schleiermacher, Tübingen 1977, 6 – 202, bes. 78 – 90. Darüber hinaus haben zwei Autoren in der neusten Forschung diesen Begriff im Rahmen ihrer Studien kurz berücksichtigt: Martina Kumlehn, Symbolisierendes Handeln. Schleiermachers Theorie religiöser Kommunikation und ihre Bedeutung für die gegenwärtige Religionspädagogik, Gütersloh 1999, 91– 92; Andreas Krichbaum, Kierkegaard und

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Manke Jiang / Berlin

Schleiermachers Philosophische Ethik wird heute als handlungstheoretisch fundierte Kulturphilosophie rezipiert und versteht sich als eine deskriptive Darstellung des menschlichen Handelns. Durch die wiederholten Vorlesungen in Halle und in Berlin hat er die Philosophische Ethik immer wieder ausgearbeitet, obwohl er dieses Werk – ebenso wie seine anderen philosophischen Hauptwerke – selbst nicht in den Druck gegeben hat.⁹ In seiner letzten Bearbeitung zur Güterlehre von 1816/17¹⁰ wird der besondere Akzent darauf gelegt, das soziale Verhältnis der Menschen untereinander in unterschiedlichen Handlungsbereichen der Kultur zu beschreiben. Im Handlungsbereich des identischen Organisierens, wozu Staat, Politik und Wirtschaft gehören, wird das soziale Verhältnis durch das Verhältnis des Rechtes charakterisiert, weil die Einzelnen auf diesem Gebiet durch den Austausch von Gütern und durch den „Verkehr“ miteinander verbunden sind.¹¹ Dementsprechend ist das soziale Verhältnis in der Handlungssphäre des identischen Symbolisierens, worin sich Sprache und Wissen finden, durch das Verhältnis des Glaubens zu bestimmen.¹² Das Verhältnis des „Glaubens“ beruht auf der durch Aussprechen und Nachbilden strukturierten gegenseitigen Verständigung. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass der Begriff Glauben hier nicht im Sinne des religiösen Glaubens, so wie ihn Schleiermacher später in seiner Glaubenslehre verwendet, zu verstehen ist, sondern er bedeutet in diesem Kontext eine durch das allgemeine Wissen und dessen ebenfalls allgemeinen Ausdruck vermittelte Überzeugung. Im Handlungsbereich des individuellen Organisierens, wo sich die Haus- oder Gastfreundschaft als Privatsphäre der Menschen darstellt, ist das soziale Verhältnis Schleiermacher zufolge durch das Verhältnis der Geselligkeit gekennzeichnet.¹³ Damit direkt verbunden wird das Verhältnis der Einzelnen untereinander im Handlungsbereich des individuellen Symbolisierens bzw. im Gebiet des Gefühls, wozu Religion und

Schleiermacher. Eine historisch-systematische Studie zum Religionsbegriff, Berlin / New York 2008, 345 – 348.  Schleiermachers eigenhändige Manuskripte der Vorlesungsvorlage für die Ethik wird durch die heute noch maßgebende Edition von Otto Braun dokumentiert. Friedrich Schleiermacher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, Schleiermachers Werke, Bd. II, hg.v. Otto Braun, Aalen 1981 [Nachdruck Leipzig 21927]. Die vorliegende Studie zitiert nach der Paginierung in der Ausgabe von Otto Braun.  Friedrich Schleiermacher, Ethik 1816 (Allgemeine Einleitung), Schleiermachers Werke, Bd. II, hg.v. Otto Braun, Aalen 1981 [Nachdruck Leipzig 21927], 485 – 511; (Einleitung und Güterlehre) 511– 626.  Schleiermacher 1981, Ethik 1816, 591, §55 (Anm. 10): „Das sittliche Zusammensein der Einzelwesen im Verkehr ist das Verhältnis des Rechts oder das gegenseitige Bedingtsein von Erwerbung und Gemeinschaft durch einander.“ Mehr dazu vgl. 591– 592.  Schleiermacher 1981, Ethik 1816, 592, §57 (Anm. 10): „Das Verhältniß der Einzelnen untereinander in der Gemeinschaft des ausgesprochenen Denkens ist das des Glaubens oder die gegenseitige Abhängigkeit des Lehrens und Lernens von dem Gemeinbesiz der Sprache und umgekehrt des Gemeinbesizes der Sprache vom Lehren und Lernen.“ Mehr dazu vgl. 592– 594.  Schleiermacher 1981, Ethik 1816, 594, §59 (Anm. 10): „Das sittliche Verhältnis der Einzelnen unter einander in der Abgeschlossenheit ihres Eigenthums ist das der Geselligkeit, oder das gegenseitige Bedingtsein der Unübertragbarkeit und der Zusammengehörigkeit durch einander.“ Mehr dazu vgl. 594– 596.

Das Gefühl im Offenbarungsverhältnis

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Kunst gehören, schließlich als das Verhältnis der Offenbarung verstanden.¹⁴ Zusammenfassend lässt sich sagen: Im Rahmen des handlungstheoretischen Schemas Schleiermachers modifiziert sich das soziale Verhältnis der Menschen in den identischen Handlungsbereichen als Rechtsverhältnis und als Glaubensverhältnis, in den individuellen Handlungsbereichen als Geselligkeitsverhältnis und als Offenbarungsverhältnis.¹⁵ In der Philosophischen Ethik ist es für Schleiermacher grundlegend, dass die beiden Grundformen des menschlichen Handelns – die organisierende Tätigkeit und die symbolisierende Tätigkeit – im sittlichen Sein überall ineinander vereint sind und sein müssen. Die beiden Grundformen des menschlichen Handelns, jeweils als Vereinigung von Vernunft und Natur, sind eigentlich dasselbe, und sie kommen nur innerhalb der Struktur der Vernunfttätigkeit unterschiedlich zu stehen. Diese Grundposition bleibt auch in Schleiermachers Beschreibung des sozialen Verhältnisses in unterschiedlichen Handlungsbereichen. Vor diesem Hintergrund steht seine Diskussion über den Austausch zwischen Menschen im Gebiet des Gefühls als Offenbarungsverhältnis unter der Voraussetzung seiner Interpretation der Geselligkeit. Für ihn gilt die Geselligkeit als Rahmen für das Offenbarungsverhältnis. Insofern ist es angebracht, einen kurzen Blick auf das Verhältnis der Geselligkeit voranzustellen, bevor wir auf das Offenbarungsverhältnis im Gebiet des Gefühls eingehen.

II Bereits in der frühromantischen Werkphase Schleiermachers ist die Geselligkeit ein Schlüsselbegriff. Sowohl in seinem Religionsverständnis in den Reden über die Religion (1799) als auch in seiner Individualitätstheorie in den Monologen (1800) spielt der Begriff der Geselligkeit eine wichtige Rolle. Seine kurze Abhandlung Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799), die noch vor Reden und Monologen erschien, ist ausschließlich dem Verständnis des Begriffs Geselligkeit gewidmet.¹⁶ Im Versuch einer Theorie des geselligen Betragens wird die freie Geselligkeit sozialphilosophisch interpretiert als eine Form des Zusammenlebens von Menschen, in der sich die menschliche Individualität ausprägt. Diese Form des Zusammenlebens fordert den

 Schleiermacher 1981, Ethik 1816, 596, §61 (Anm. 10): „Das Verhältniß der einzelnen unter einander in der Geschiedenheit ihres Gefühls ist das der Offenbarung oder das gegenseitige Bedingtsein der Unübertragbarkeit und der Zusammengehörigkeit des Gefühls.“ Mehr dazu: vgl. 596 – 599.  Zu Schleiermachers Beschreibung des Verhältnisses der einzelnen in verschiedenen Handlungsgebieten in dieser Vorlesungsvorlage vgl. Dilthey 1966, 301– 303 (Anm. 3).  Friedrich Schleiermacher [1799], Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, KGA I/2, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 165 – 184.

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intersubjektiven Austausch einzelner Individualitäten untereinander, wodurch erst der Mensch zum Mensch wird.¹⁷ Im Brouillon zur Ethik (1805/06), dem ersten systematischen Gesamtentwurf seiner Philosophischen Ethik, ordnet Schleiermacher die Geselligkeit seinem handlungstheoretischen Schema zu und versteht sie als Vollzug des individuellen Organisierens. Dadurch wird der sozialphilosophische Begriff der Geselligkeit im Versuch einer Theorie des geselligen Betragens um eine handlungstheoretische Dimension bereichert. In den Vorlesungen zur Ethik seiner Berliner Reifezeit entwickelt Schleiermacher den Begriff der Geselligkeit immer wieder mit neuen Einsichten. In der Güterlehre von 1814/16¹⁸ verwendet Schleiermacher den Begriff Zusammengehören, um die Gestaltungsweise der Geselligkeit als Gemeinschaft der Individualität zu charakterisieren. Alle Individuen in diesem Handlungsgebiet müssen zusammengehören. Für Schleiermacher ist dieses notwendige Zusammengehören dreifach zu begründen: Erstens, das abgeschlossene Dasein jedes Individuums ist nur durch das Zusammensein mit anderen („mit allen“) zu bestimmen; zweitens, seine eigene bildende Tätigkeit steht mit den Tätigkeiten der Andren im Zusammenhang; drittens, erst durch das Zusammengehören aller Individuen in dieser Handlungsgebiet kann die Einheit der Vernunft („Organismus der Vernunft“) vollendet werden. Anders als das durch die vollständige Gemeinschaftlichkeit bestimmte Zusammenleben im identischen Handlungsgebiet ist die Geselligkeit für Schleiermacher „das Nebeneinandergestellt- und Miteinanderverbundensein des Unübertragbaren“¹⁹. Die Geselligkeit beruht also einerseits auf der durch die Unübertragbarkeit gekennzeichnete Individualität, anderseits auf dem notwendigen Zusammengehören aller Individuen in dieser Gemeinschaft. Insofern versteht Schleiermacher Gemeinschaft und Individualität – nämlich „Geselligkeit“ und „Eigentum“ – als „vollständige Correlate“²⁰. Vor dem Hintergrund dieser neuen Entwicklung definiert Schleiermacher in seiner letzten Bearbeitung zur Güterlehre von 1816/17 die Geselligkeit im Rahmen seiner Beschreibung des sozialen Verhältnisses in allen Kulturbereichen wie folgt: „Das sittliche Verhältniß der Einzelnen unter einander in der Abgeschlossenheit ihres Eigenthums ist das der Geselligkeit, oder das gegenseitige Bedingtsein der Unübertragbarkeit und der Zusammengehörigkeit durch einander.“²¹ Damit identifiziert Schleiermacher das Verhältnis der Geselligkeit mit dem gegenseitigen Bedingtsein der

 Zum Begriff der freien Geselligkeit im Versuch einer Theorie des geselligen Betragens vgl. Bernd Oberdorfer, Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit. Die Theorieentwicklung Friedrich Schleiermachers bis 1799, Berlin 1995, 469 – 491; Andreas Arndt, „Geselligkeit und Gesellschaft. Schleiermachers ‚Versuch einer Theorie des geselligen Betragens‛“. in: ders., Friedrich Schleiermacher als Philosoph, Berlin 2013, 51– 63.  Friedrich Schleiermacher, Ethik 1814/16 (Einleitung und Güterlehre I), Schleiermachers Werke, Bd. II, hg.v. Otto Braun, Aalen 1981 [Nachdruck Leipzig 21927], 421– 455; (Pflichtenlehre) 457– 511.  Schleiermacher 1981, Ethik 1814/16, 443 (Anm. 18).  Schleiermacher 1981, Ethik 1814/16, 443 (Anm. 18).  Schleiermacher 1981, Ethik 1816, 594, §59 (Anm. 10).

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Unübertragbarkeit jedes Individuums und der Zusammengehörigkeit aller Einzelnen. Das scheint ein Widerspruch zu sein. Wie ist das notwendige Zusammengehören trotz der Unübertragbarkeit des ausgeschlossenen Daseins möglich? Für diese Frage sieht es Schleiermacher als entscheidend an, den Widerspruch zwischen dem Sich-ausschließen-lassen des Individuums und der Einheit der Vernunft in der sittlichen Tätigkeit aufzuheben. Das ist in seiner Sicht nur möglich, insofern jede Vernunfttätigkeit des Individuums als „für sich bestehend“²² zugleich in der individuellen Vernunfttätigkeit der Anderen mitwirkt, und insofern umgekehrt die individuelle Vernunfttätigkeit der Anderen zugleich einen Anteil an der Handlung meiner individuellen Vernunfttätigkeit hat. Auf diese Weise leistet jedes Individuum durch die eigene Vernunfttätigkeit also einen Beitrag an der Einheit der Vernunft und wird ein integrierender Teil des Ganzen. Das Verhältnis zwischen dem individuellen Dasein und der Einheit der Vernunft in der Geselligkeit ist so wie das Verhältnis zwischen einzelnem Organ und als Totalität aufgefasstem Organismus, ist so wie das Verhältnis zwischen Teil und Ganzem. Das Zusammengehören als Gestaltungsmerkmal der Geselligkeit wird demnach als Anteilhaben an der Einheit der Vernunft verstanden. Mit Schleiermachers eigenen Worten: „[Das] Zusammengehören mit allen Theilen, bildet die Geselligkeit.“²³

III Die Geselligkeit, die sich durch das Zusammengehören aller Einzelnen gestaltet, bietet in der Güterlehre Schleiermachers von 1816/17 einen Rahmen für den sozialen Austausch zwischen Menschen im Handlungsgebiet des individuellen Symbolisierens. Unmittelbar mit seiner Interpretation der Geselligkeit als Verhältnis im Handlungsgebiet des individuellen Organisierens verbunden beschreibt Schleiermacher das Verhältnis der Einzelnen in der Handlungssphäre des individuellen Symbolisierens mit dem folgenden Leitsatz: „Das Verhältniß der einzelnen unter einander in der Geschiedenheit ihres Gefühls ist das der Offenbarung oder das gegenseitige Bedingtsein der Unübertragbarkeit und der Zusammengehörigkeit des Gefühls.“²⁴ Dieser Satz klingt fast wörtlich wie seine Bestimmung der Geselligkeit, die im Vorangehenden zitiert wurde, so dass Schleiermacher gleich zufügt: Das Wesen dieses Verhältnisses ist „auch“ Geselligkeit. Allerdings sind das Verhältnis der Geselligkeit und das der Offenbarung in Schleiermachers Darstellung nicht dasselbe. Während er mit dem Begriff der Geselligkeit den Akzent auf die Gestaltungsweise der individuellen Gemeinschaft legt, nämlich auf das Zusammengehören der Einzelnen „durch einander“, versucht er mit

 Schleiermacher 1981, Ethik 1816, 595, §55 (Anm. 10).  Schleiermacher 1981, Ethik 1816, 595, §55 (Anm. 10).  Schleiermacher 1981, Ethik 1816, 596, §61 (Anm. 10).

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dem Begriff der Offenbarung zu klären, wie die Kommunikation innerhalb dieser durch die Zusammengehörigkeit gekennzeichneten Gemeinschaft trotz der wesenhaften Unübertragbarkeit des Gefühls zustande kommt. Im Folgenden wird gezeigt, wie Schleiermacher mit dem umstrittenen Begriff „Offenbarung“ die Kommunikation im Gebiet des unübertragbaren Gefühls entschlüsselt. Der Ansatzpunkt der Diskussion besteht in der Frage, wie die Erregung zwischen Einzelnen im Bereich des unübertragbaren Gefühls überhaupt geschieht. Damit ist der Sachverhalt verbunden, dass die Erregung des Einzelnen das Bedürfnis nach der Kommunikation in diesem Handlungsgebiet – nämlich das Suchen und Verlangen nach den Anderen – voraussetzt. Die Erregung darf hier als Gemütsbewegung verstanden werden. Für Schleiermacher legt die Veräußerlichung des Gefühls dem Suchen und dem Verlangen in diesem Handlungsgebiet zugrunde. Denn jedes „Suchen und Verlangen würde immer leer bleiben, wenn das Gefühl nicht kund werden könnte zwischen einem und dem Anderen.“²⁵ An dieser Stelle stellt sich die entscheidende Frage, wie das Gefühl äußerlich werden kann. Der Ausdruck des Gefühls ist ein vielseitiges und wichtiges Thema bei Schleiermacher und wird in verschiedenen Zusammenhängen diskutiert. Wir werden hier auf diese Problematik nicht näher eingehen, sondern nur die Besonderheit des Ausdrucks des Gefühls im Vergleich zum Ausdruck des Gedanken mit Blick auf das soziale Verhältnis in beiden Handlungsbereichen darstellen. Aufgrund seiner wesenhaften Unübertragbarkeit kann das Gefühl in Schleiermachers Sicht nicht wie der Gedanke durch Aussprechen und Nachbilden der Sprache äußerlich werden. Das Gefühl werde durch Gebärde äußerlich: „[W]ie die Sprache zum Gedanken, so verhält sich zum Gefühl unmittelbar und ursprünglich die Geberde auch im weitesten Sinne genommen.“²⁶ Das Gefühl und die Gebärde gehören „unmittelbar und ursprünglich“ zusammen. Das heißt: Es gibt außer der Gebärde kein anderes Mittel, wodurch das Gefühl äußerlich werden und zugleich zustande kommen kann: „[S]o ist kein Gefühl ein ganzer und in sich vollendeter Act, es sei denn Geberde geworden.“²⁷ Wohl haben Gebärde als Ausdruck des Gefühls und Sprache als Ausdruck des Gedankens eine strukturelle Ähnlichkeit, aber zwischen beiden Ausdrucksweisen besteht nach Schleiermacher ein elementarer Unterschied. Der Unterschied ist dadurch zu erklären, dass der Austausch zwischen Subjekten im Gebiet des Gefühls wesentlich anders als in dem des Gedankens gestaltet wird. Schleiermacher beschreibt diesen wesentlichen Unterschied wie folgt: „Aber das Wahrnehmen der Geberde wird nicht, wie das Nachtönen des Wortes zum Nachbilden des Gedankens, so auch seinerseits zur Entwickelung einer gleichmäßigen Erregung, sondern vielmehr fühlt keiner deswegen, weil ihm das Gefühl des Andern kund geworden, geschweige noch, daß er eben so fühlen sollte.“²⁸ Das Empfangen des Ausdrucks im    

Schleiermacher 1981, Ethik 1816, 597 (Anm. 10). Schleiermacher 1981, Ethik 1816, 597 (Anm. 10). Schleiermacher 1981, Ethik 1816, 597 (Anm. 10). Schleiermacher 1981, Ethik 1816, 597 (Anm. 10).

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individuellen Bezeichnungsgebiet bzw. im Gebiet des Gefühls, das durch „das Wahrnehmen der Gebärde“ erfolgt, ist also anders als das in dem identischen Bezeichnungsgebiet, worin das Empfangen des Ausdrucks des Gedankens durch das Nachsprechen des Wortes möglich wird und in dem Empfangenden hervorgebracht werden kann. Keiner kann fühlen, bloß weil das Gefühl eines Anderen ihm kund geworden ist. Zugleich ist es auch ausgeschlossen, dass jener auf eine gleiche Art und Weise wie dieser Andere fühlen kann. Wie kann das Gefühl des Einen allerdings entstehen, als das Gefühl eines Anderen ihm kund geworden ist? – „Sondern nur weil und inwiefern jeder weiß, daß eine bestimmte Erregung in ihm auf ähnliche Weise äußerlich wird, schließt er, daß der Andere in der ähnlichen Erregung begriffen ist, die aber in ihrer Bestimmtheit ihm verborgen bleibt.“²⁹ Das Fühlen des Einen ist zwar aus dem Anlass der Veräußerlichung des Gefühls eines Anderen geschehen, der wesentliche Grund dafür liegt aber in dem Fühlenden selbst. Das bedeutet: Indem jeder weiß, dass es eine individuelle Erregung bzw. eine Gemütsbewegung in ihm gibt, die auf ähnliche Weise äußerlich wird, vermutet er, dass es eine ähnliche Bestimmtheit in einem Anderen gab, dessen Gefühl ihm bekannt geworden ist. Die Erregung des Anderen ist allerdings wegen ihrer Individualität für jenen unerreichbar. Von daher ist zu ersehen, dass die Analogie meiner individuellen Erregbarkeit in meinem Gemütszustand mit der ebenfalls individuellen Erregbarkeit der Anderen die entscheidende Rolle für die Kommunikation im Gebiet des Gefühls spielt, ja sogar auch für das Entstehen meines Gefühls. Mit anderen Worten: Schleiermacher baut seine Konklusion auf ein Verfahren des Analogieschlusses zwischen dem Empfangenden und dem Gebenden genauer genommen zwischen dem Fühlenden und dem das Gefühl kund Gebenden. Bis hierher ist deutlich, dass das Entstehen des Gefühls für Schleiermacher ein auf der Analogie beruhender intersubjektiver Vorgang ist und sein muss. Zur Verdeutlichung dieses intersubjektiven Vorgangs dient Schleiermacher das Begriffspaar Andeuten und Ahnen. „Da aber der symbolisirende Prozeß unmittelbar nicht aus der Person herausgeht, so wird die Ergänzung nur wirklich beschafft unter der Bedingung einer Beweglichkeit der Person im Vernunftausdruck und eines Wahrnehmens dieser Beweglichkeit, welches ein Verhältniß bildet des Andeutens und Ahndens.“³⁰ Das Gefühl kann nicht allein entstehen, eine Ergänzung ist erforderlich. Diese Ergänzung ist das Resultat der aktiven Gemütsbewegung eines Einzelnen durch den Ausdruck seines Gefühls einerseits und der passiven Reaktion auf diese Bewegung durch die Anderen anderseits, ist das Resultat einer Dynamik von Spontaneität und Rezeptivität zwischen individuellen Subjekten. Jene Gemütsbewegung definiert Schleiermacher als Andeuten, diese passive Reaktion als Ahnen. Das Gefühl gründet also in der intersubjektiven Zusammenarbeit von Andeuten und Ahnen. Insofern sind das Gefühl

 Schleiermacher 1981, Ethik 1816, 597 (Anm. 10).  Schleiermacher 1981, Ethik 1814/16, 447, §46 (Anm. 18).

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und das Andeuten-Ahnen-Verhältnis für Schleiermacher wesentlich nicht zu trennen: „[W]ie es kein Andeuten und Ahnen giebt ohne Gefühl, so bildet sich auch das Gefühl in keinem Menschen anders als in diesem Verhältniß.“³¹ Ebenso wie Aussprechen und Nachbilden als Leitbegriffe für seine Beschreibung der Kommunikation im Handlungsgebiet des identischen Symbolisierens gelten, so sind Andeuten und Ahnen Leitbegriffe in seiner Interpretation der Kommunikation im Bereichs des Gefühls. Mit diesem strukturellen Vergleich führt Schleiermacher den Begriff „Offenbarung“ in seiner letzten Bearbeitung der Güterlehre von 1816/17 schließlich in die Diskussion ein: „Hier [sc. im Gebiet des Gefühls] ist also kein Aussprechen und Nachbilden, sondern nur ein Andeuten und Ahnden, keine Verständigung, sondern Offenbarung.“³² Das soziale Verhältnis im Gebiet des Gefühls ist nicht die durch die Zusammenarbeit von Aussprechen und Nachbilden strukturierte Verständigung, sondern die durch eine Wechselwirkung von Andeuten und Ahnen realisierte Offenbarung. Schleiermacher bezeichnet hierbei die gesamte Wechselwirkung zwischen dem Kundgebenden und dem Empfangenden, das durch den unmittelbaren Ausdruck des Gefühls vermittelt und durch die Zusammenarbeit von Andeuten und Ahnen verwirklicht ist, als Offenbarung. Offenbarung ist hier nicht allein im Sinne des Sich-Offenbarens zu verstehen – also als „Sich-Enthüllen“ oder „Sich-Zeigen“, so wie dieser Begriff damals im 18. und 19. Jahrhundert oft verwendet wurde, auch nicht in einem engen theologischen Sinn einer worthaften göttlichen Selbstmitteilung.³³ Offenbarung ist für Schleiermacher vielmehr ein Zusammenspiel, eine Wechselwirkung und eine Synthese von Andeuten und Ahnen in einem intersubjektiven Horizont. Andeuten und Ahnen als „Elemente der Offenbarung“ sind durch zwei Merkmale – Freiwilligkeit und Wechselseitigkeit – charakterisiert. ³⁴ Andeuten und Ahnen sind freiwillig, insofern die beiden Richtungen im Offenbarungsverhältnis auf freie Weise zusammengehören müssen. Das gegenseitige Wollen gilt als erste Bedingung für diesen Austausch. Das Merkmal der Freiwilligkeit im Offenbarungsverhältnis stimmt mit dem Grundprinzip der freien Geselligkeit, das Schleiermacher bereits in seiner Abhandlung Versuch einer Theorie des geselligen Betragens entwickelt, überein. Andeuten und Ahnen sind zugleich auch wechselseitig, indem jedes Individuum als Träger des Ausdrucksaktes des Gefühls in

 Schleiermacher 1981, Ethik 1814/16, 447– 448 (Anm. 18).  Schleiermacher 1981, Ethik 1816, 598 (Anm. 10).  Zu dieser sprachlichen Verwendung des Begriffs „offenbaren“ im 18. und 19. Jahrhundert vgl. Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Leipzig 1798, 584– 585; Theodor Heinsius, Volksthümliches Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 3, Hannover 1820, 727– 728 und Jacob Grimm / Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. VII, Leipzig 1889, 1174– 1175.  Schleiermacher 1981, Ethik 1816, 598 (Anm. 10): „Denn wie kein Act des Gefühls ein ganzer und sittlicher ist, wenn er nicht Andeutung wird für jeden, der ahnden will, und wenn er nicht zugleich Ahndung ist dessen, daß andere andeuten wollen, so kann auch keiner entstehen als nur im Zusammenhang mit der Gesamtheit des Andeutens und Ahndens, die für jeden einzelnen Act schon muß vorausgesezt werden.“

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dem Offenbarungsverhältnis gleichzeitig der Gebende und der Empfangende bzw. gleichzeitig der Andeutende und der Ahnende sein muss. Bemerkenswert ist, dass Schleiermacher nicht erst in seiner Bearbeitung der Güterlehre von 1816/17 den Begriff der Offenbarung verwendet hat, um ein symbolisierendes Handlungsgebiet zu beschreiben. Bereits in der Güterlehre von 1814/16 bedient er sich dieses Begriffs, um das symbolisierende Handlungsgebiet mit dem Charakter der Identität funktionell zu interpretieren: „Inwiefern also bei diesem [sc. gemeinschaftlichen] Prozeß überall von der Identität der Vernunft und von der Gleichheit des Naturvermögens ausgegangen wird, bildet er ein gemeinsames Gebiet der Mittheilung und Offenbarung.“³⁵ Darauf folgt noch: „Das gemeinsame Gebiet dieser Mittheilung und Offenbarung ist das der Gedanken.“³⁶ Funktion gemäß wird das Gebiet der Gedanken durch Mitteilung und Offenbarung bestimmt, gilt bloß als „gemeinsam“. Der Begriff Offenbarung wird an dieser Stelle nicht näher geklärt. Parallel dazu wird das Gebiet des Gefühls in dieser Vorlesungsvorlage als „Gebiet des Geheimnisses und der Ahndung“³⁷ bezeichnet. Erst zwei Jahre später, in seiner Bearbeitung der Güterlehre von 1816/17 dient der Offenbarungsbegriff Schleiermacher ausschließlich dazu, das Verhältnis der Menschen untereinander im Handlungsgebiet der individuellen Bezeichnung bzw. im Gebiet des Gefühls zu charakterisieren und es von dem im Gebiet des Gedankens deutlich zu unterscheiden. Daraus versteht sich, dass für unseren Autor die wechselseitige Offenbarung dem Charakter der Kommunikation im Gebiet des Gefühls näherkommt. Das ist ein Beispiel für die werkgenetisch nachvollziehbare gedankliche Präzisierung des Autors. Wahrscheinlich hat Schleiermacher vorausgesehen, dass der Offenbarungsbegriff in diesem kommunikationstheoretischen Sinne ein umstrittener sein würde, da man ihn mit dem Offenbarungsverständnis in der gesamten mittelalterlichen und altprotestantischen Tradition in Beziehung und Konkurrenz setzen könnte. Insofern stellt er an einer späten Stelle heraus: „Unter diesem Worte soll daher hier nicht irgend etwas Uebernatürliches gedacht werden, so wenig wie eben unter Glaube, sondern nur das allgemein Menschliche, worauf auch die übernatürliche Bedeutung der Worte zurückgeht.“³⁸ Anders als in der religionsphilosophischen und theologischen Tradition, wo der Begriff der Offenbarung überwiegend in dem Sinne verwendet wird, das Verhältnis zwischen Gott (dem Offenbarenden) und den Menschen (denen etwas offenbart wird) zu beschreiben und zu bestimmen, spricht Schleiermacher im Rahmen seiner Beschreibung des sozialen Verhältnisses in unterschiedlichen Handlungsgebieten von einer gegenseitigen Offenbarung zwischen Menschen, von einer allgemeinen menschlichen Kommunikation. Durch den Offenbarungsbegriff wird in der Philosophischen Ethik gezeigt, dass die Individuen im Gebiet des unübertragbaren Gefühls durch die intersubjektive    

Schleiermacher 1981, Ethik 1814/16, 439, §28 (Anm. 18). Schleiermacher 1981, Ethik 1814/16, 439, §29 (Anm. 18). Schleiermacher 1981, Ethik 1814/16, 440, §32 (Anm. 18). Schleiermacher 1981, Ethik 1816, 598 (Anm. 10).

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Wechselwirkung von Andeuten und Ahnen miteinander kommunizieren können und müssen. Die Offenbarung in diesem kommunikationstheoretischen Sinne gehört zu dem Bereich der Vernunft, genauer genommen zu dem Bereich der symbolisierenden Vernunfttätigkeit mit dem Charakter der Individualität. Gerade durch einen Vergleich mit dem sozialen Austausch im Bereich des Wissens als Grundannahme der Verständigungsfähigkeit, versucht Schleiermacher hier, seine Leser davon zu überzeugen, dass die Offenbarung im Gebiet des Gefühls kein Übernatürliches, sondern „ein über das ganze menschliche Geschlecht sich verbreitendes Verhältniß“³⁹ ist. Allerdings gilt das Verhältnis der Offenbarung in Schleiermachers Sicht, im Vergleich zum Verhältnis der Verständigung im Gebiet des Wissens, zugleich auch als ein geheimnisvolles oder als ein mysteriöses. Der Grund besteht in der wesenhaften Unübertragbarkeit des Gefühls. Wegen der Unübertragbarkeit spielt die Analogie zwischen den individuellen Subjekten in ihrer eigentümlichen Erregbarkeit bzw. zwischen dem Andeutenden und dem Ahnenden für das Entstehen des Gefühls die entscheidende Rolle. Darüber hinaus kann ich als individuell fühlendes Subjekt das Gefühl eines Anderen zwar durch dessen Veräußerlichung im Offenbarungsverhältnis wahrnehmen, aber das Gefühl des Anderen selbst kann weder in „mir“ aufgenommen noch in „mein“ Gefühl verwandelt werden.⁴⁰

IV Schleiermachers Verwendung des Offenbarungsbegriffs in diesem Zusammenhang ist in der bisher spärlichen Literatur doch umstritten. Alexander Schweizer (1835), der als erster Schleiermachers Philosophische Ethik herausgegeben hat, kommentiert mit einer Fußnote wie folgt: „So wenig als auf identische Seite der bezeichneten Thätigkeit den Ausdruck Glaube etwas über das gegenseitige Verhältniß der Menschen unter sich hinausgehendes bezeichnete, ebenso wenig hier das Wort Offenbarung, daher sich vielleicht ein anderes [sc. Wort] finden ließe für diesen Begriff.“⁴¹ Wilhelm Dilthey ist der Meinung, dass Schleiermacher selbst „wenig glücklich“ mit seiner Bezeichnung des Verhältnisses der einzelnen untereinander im Gebiet des Gefühls als Offenbarung war.⁴² Hans-Joachim Birkner hat den Offenbarungsbegriff Schleiermachers in der philosophischen Ethik in seinem frühen Aufsatz (1956) als „menschliche“ Offenbarung bezeichnet.⁴³ Theodor Jørgensen (1977) betrachtet den Offenbarungsbegriff in

 Schleiermacher 1981, Ethik 1816, 598 (Anm. 10).  Schleiermacher 1981, Ethik 1816, 598 (Anm. 10): „Es giebt sich nemlich darin zu erkennen das geheimnißvolle dieses Verhältnisses, daß wir das Gefühl eines anderen durch seinen Ausdrukk zwar inne werden, aber ohne es in uns aufnehmen und in das unsrige verwandeln zu können.“  Alexander Schweizer [1835], Fußnote, in: Friedrich Schleiermacher, Entwurf eines Systems der Sittenlehre, hg.v. Alexander Schweizer, SW III/5, Berlin 1835, 154, Fußnote.  Vgl. Dilthey 1966, 302 (Anm. 3).  Birkner 1996, 94 (Anm. 8).

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der Philosophischen Ethik Schleiermachers als „philosophisch“, im Unterschied zu dem religionsphilosophischen und christologischen Offenbarungsbegriff in seiner Glaubenslehre. ⁴⁴ Allerdings kann man nicht sagen, dass es Schleiermacher in seiner Philosophischen Ethik, genauer genommen, in seinen Berliner Ethikvorlesungen, nicht gelungen sei, die intersubjektive Kommunikation im Handlungsbereich des Gefühls, in engem Zusammenhang mit dem sozialphilosophischen Begriff „Geselligkeit“, durch den Begriff „Offenbarung“ strukturell und charakteristisch zu beschreiben. Liegt dieser geheimnisvollen Kommunikationsweise der wesenhafte Charakter der Unübertragbarkeit des Gefühls zugrunde, so gehört die sozialphilosophische und kommunikationstheoretische Dimension ebenfalls zu den wichtigen Theorieaspekten des Begriffs „Gefühl“, ebenso wie die anderen eingangs genannten Dimensionen. Mit unserer Untersuchung zu der durch die wechselseitige Offenbarung strukturierten Kommunikation im Handlungsgebiet des individuellen Symbolisierens verbindet sich in der Philosophischen Ethik unmittelbar eine weitere Frage, wie das Gefühl ausgedrückt werden kann. Für Schleiermacher dient die Kunst in bestmöglicher Weise zum Ausdruck des Gefühls und verwirklicht damit das Offenbarungsverhältnis im Gebiet des Gefühls. – So heißt der Zusammenhang zwischen Kunst und Offenbarung im Gefühl: „Die Kunstdarstellung vermittelt das Offenbarungsverhältniß.“⁴⁵ Auf diesen weiteren Kontext kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht eingegangen werden.

 Jørgensen 1977, 4 (Anm. 8).  So Friedrich Schleiermacher in einer Randbemerkung von 1827 zu seiner Vorlesungsvorlage von 1812/13 (Friedrich Schleiermacher, Ethik 1812/13, Schleiermachers Werke, Bd. II, hg.v. Otto Braun, Aalen 1981 [Nachdruck Leipzig 21927], 318, Fußnote).

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Kunst und Religion bei Schleiermacher und den Frühromantikern 1 Die Brüder Schlegel, Novalis und Schleiermachers Reden Zu den zentralen Figuren der Frühromantik zählt das einer alten protestantischen Theologenfamilie entstammende Brüderpaar August Wilhelm und Friedrich Schlegel, deren Vater Pastor an der Marktkirche in Hannover war und später zum Konsistorialrat und Generalsuperintendenten aufstieg. Während August Wilhelm das Studium der Theologie in Göttingen schnell gegen das der Philologie eintauschte, studierte Friedrich widerwillig Jura, um schließlich als freier Schriftsteller und Kritiker tätig zu werden. In die Leipziger Studienzeit fällt seine Bekanntschaft mit Friedrich von Hardenberg, der sich später das Pseudonym „Novalis“ zulegen sollte. In den Jahren 1794 bis 1796 weilt er in Dresden und widmet sich dort dem Studium der griechischen Literatur mit dem Ziel, für sie das zu leisten, was Winckelmann für die Plastik der Griechen geleistet hatte. Dabei gelangt er in seinem 1797 erschienenen Buch Die Griechen und Römer zu einer Unterscheidung von antiker und moderner Dichtung, wobei er keinen Zweifel an der Überlegenheit der Antike lässt. Die antike Dichtung zeichne sich durch ruhige Schönheit und Natürlichkeit aus, während Kennzeichen der modernen Dichtung, die er mit Dante beginnen und in Shakespeare gipfeln lässt, das Überwiegen des Charakteristischen, Individuellen und Interessanten sowie ihre Künstlichkeit seien. Eine Synthese zwischen Schönem, Objektivem und Interessantem, Künstlichem stellt für Schlegel hingegen Goethe dar, dessen Poesie er als Morgenröte echter Kunst und Schönheit preist. Als er im Frühjahr 1797 bei seinem Bruder in Jena weilt, vertieft er sich in die Philosophie Fichtes und Schellings, über die er sich auch nach seiner im Juli erfolgten Übersiedlung nach Berlin brieflich mit Novalis austauscht. Am 26. September schreibt er dem Freund: „Es giebt auch einen Philosophen in Berlin; er heißt Schleyermacher, ist reformirter Geistlicher, und trägt viel zu meiner Zufriedenheit hier bey. Er hat Sinn und Tiefe, und das Höchste den kritischen Geist: dabey so viel Sinn für Mystik, daß es beynah hinreicht.“¹ „Schreibe mir doch mehr von Schleyermacher“, bittet ihn Novalis kurz darauf ². Schlegel zog in Schleiermachers Wohnung, und in Berlin lernte er Tieck und seine spätere Frau Dorothea Veit, die Tochter Moses Mendelssohns, kennen. Gemeinsam mit seinem Bruder hatte er die Herausgabe des Athenäum geplant, und im ersten Heft dieses bedeutendsten litera-

 Novalis, Schriften, Bd. 2, hg.v. Paul Kluckhohn / Richard Samuel, Darmstadt 21965, 491.  Novalis 1965, 243 (Anm. 1). https://doi.org/10.1515/9783110569520-025

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rischen Manifests der Frühromantik veröffentlichte er 1798 eine Sammlung von Aphorismen, die sogenannten Athenäums-Fragmente. In ihnen findet sich in Anspielung auf die „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ von Wackenroder und Tieck auch ein Lob der „künstlerischen Religiosität des Klosterbruders“³. In Anlehnung an Schillers Unterscheidung von naiver und sentimentaler Dichtung wird der Katholizismus als das naive, der Protestantismus als sentimentales Christentum charakterisiert. Außer seinem polemischen, revolutionären habe der Protestantismus auch noch das positive Verdienst, „durch die Vergöttlichung der Schrift die einer universellen und progressiven Religion auch wesentliche Philologie veranlaßt zu haben“⁴. Tatsächlich führt ja das reformatorische Schriftprinzip zu einer Blüte der Philologie, damit aber letztlich zu einem historisch-kritischen Umgang mit der Bibel. Allerdings geht Schlegel diese Liberalisierung der Religion nicht weit genug. Vielmehr möchte er einige biblische Geschichten in ein homerisches Epos gießen, andere im Stil der klassischen Historie eines Herodot oder Tacitus darstellen und schließlich die ganze Bibel als das Werk eines einzigen Autors rezensieren. Mit der Liberalisierung der Religion verbindet sich bei Schlegel ihre Individualisierung. Intoleranz in der Religion komme nur zustande „aus Mangel an Sinn für religiöse Individualität“.⁵ Die Religion sei aber so groß wie die Natur, so dass selbst der beste Priester nur ein Stück von ihr habe und es unendlich viele Arten der Religion gebe, die sich allerdings unter einige Hauptrubriken ordnen ließen. Schlegel kommt auch auf den für die romantische Religionsauffassung wichtigen Mittlergedanken zu sprechen und findet es „sehr einseitig und anmaßend, daß es gerade nur Einen Mittler geben soll“⁶. Für den vollkommenen Christen müsste in seinen Augen alles Mittler sein. Das ist ein Gedanke, der auch bei Novalis begegnet, für den die Vorstellung des Mittlers und Heilands eine zentrale Rolle spielt. Denn der Mittler wird von ihm ebenso wenig wie von Schlegel exklusiv mit Christus identifiziert. Ausführlich entwickelt Novalis seine Vorstellung vom Mittleramt in der Sammlung Blüthenstaub, die gleichfalls 1798 im Athenäum erscheint. Danach bedarf jede Religion eines Mittlers, um eine Verbindung zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen, Mensch und Gott herzustellen. Die Religion wird geradezu als Vermittlung des Endlichen mit dem Unendlichen definiert. „Nichts ist zur wahren Religiosität unentbehrlicher als ein Mittelglied, das uns mit der Gottheit verbindet. Unmittelbar kann der Mensch schlechterdings nicht mit derselben in Verhältniß stehn.“⁷ In der Wahl des Mittelgliedes müsse aber der Mensch völlig frei sein, da jeder Zwang seiner Religion schade. Da das Wesen der Religion nicht von der Beschaffenheit des Mittlers abhänge, son-

 Friedrich Schlegel, „Athenäums“-Fragmente und andere Schriften, Auswahl und Nachwort von Andreas Huyssen, Stuttgart 2005, 132.  Friedrich Schlegel 2005, 104 (Anm. 3).  Friedrich Schlegel 2005, 118 (Anm. 3).  Friedrich Schlegel 2005, 104 (Anm. 3).  Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Bd. 2, hg.v. Hans-Joachim Mähl, München / Wien 1978, 257.

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dern nur von dessen Auffassung als Mittler, könne jeder Gegenstand die Rolle des Mittlers übernehmen: „Fetische, Gestirne, Thiere, Helden, Götzen, Götter, Ein Gottmensch“⁸. Mittler sind für Novalis Organe oder sinnliche Erscheinungen der Gottheit, und da jede Religion eines Mittlers bedarf, sind in seinen Augen weder der Götzendienst noch das, was er das ältere Judentum nennt, Religionen. Das ältere Judentum sei deshalb irreligiös, weil es anders als das exilisch-nachexilische Judentum überhaupt keinen Mittler kenne, während der Götzendienst irreligiös sei, weil es den Mittler mit Gott identifiziere. Die wahre Religion, unter der er das Christentum versteht, sieht Novalis hingegen „antinomisch getheilt in Pantheismus und Monotheismus“⁹. Unter dem Pantheismus versteht er dabei im Unterschied zum gängigen Sprachgebrauch die Idee, dass alles Mittler sein könne, wogegen es sich beim Monotheismus oder Entheismus um den Glauben handle, dass es nur einen einzigen Mittler gebe. Novalis möchte beide Auffassungen vereinigen, indem er den monotheistischen Mittler, Christus, zum Mittler der pantheistischen Mittlerwelt macht. „Jeder Gegenstand kann dem Religiösen ein Tempel im Sinn der Auguren seyn. Der Geist dieses Tempels ist der allgegenwärtige Hohepriester, der monotheistische Mittler, welcher allein im unmittelbaren Verhältnisse mit der Gottheit steht.“¹⁰ In Die Christenheit oder Europa unterscheidet Novalis daher am Christentum drei Momente: die Freude an der Religion als deren Zeugungselement, das Mittlertum als Glaube an die vermittelnde Fähigkeit alles Irdischen und den Glauben an Christus sowie an seine Mutter und die Heiligen¹¹. Religion als Vermittlung von Endlichem und Unendlichem grenzt Novalis scharf ab von der als bloßes Opiat dienenden Religion der Philister¹². Für ihn selbst gehören Religion und Poesie ebenso wie Priester und Dichter aufs engste zusammen. „Der ächte Dichter ist aber immer Priester, so wie der ächte Priester immer Dichter geblieben. Und sollte nicht die Zukunft den alten Zustand der Dinge wieder herbeyführen?“¹³ Novalis spricht von der „Religion des Schönen“ und der „Künstlerreligion“.¹⁴ Gegenüber dem Kreisamtmann Coelestin August Just in Bad Tennstedt bemerkt Novalis, dass seine eigene Theologie weniger auf der Bibel als überirdischer Urkunde und somit auf historischer Gewissheit beruhe. Vielmehr sei er selbst geneigter, in sich „höhern Einflüssen nachzuspüren“ und sich so „einen eignen Weg in die Urwelt zu bahnen“.¹⁵ In der Geschichte und den Lehren der christlichen Religion glaube er „die symbolische Vorzeichnung einer allgemeinen, jeder Gestalt fähigen, Weltreligion – das reinste Muster der Religion, als historischen Erscheinung

 Novalis 1978, 257 (Anm. 7).  Novalis 1978, 259 (Anm. 7).  Novalis 1978, 259 (Anm. 7).  Novalis 1978, 749 (Anm. 7).  Novalis 1978, 263 (Anm. 7).  Novalis 1978, 255.257 (Anm. 7).  Novalis 1978, 223 (Anm. 7).  Novalis 1965, 272 (Anm. 1).

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überhaupt – und wahrhaftig also auch die vollkommenste Offenbarung“ zu sehen.¹⁶ In seiner Antwort vom 20. Januar 1799 wirft Just es Novalis allerdings vor, „in der Religion zu sehr auf‘s ästhetisch Schöne zu rechnen“, wo doch „die ästhetische Schönheit nur Nebensache ist, welches uns aber auch die christliche Religion empfehlenswert machen kann“.¹⁷ Schlegel stimmt Novalis in seiner Mittlertheorie im Prinzip zu und teilt ihm auch mit, dass Tieck seine Religion sehr poetisch finde.¹⁸ Am 20. Oktober 1798 schreibt er dem Freund enthusiastisch, das Ziel seiner literarischen Projekte sei es, „eine neue Bibel zu schreiben, und auf Muhameds und Luthers Fußstapfen zu wandeln“¹⁹. Novalis reagiert begeistert und erkennt in dem Bibelprojekt ein Beispiel des von beiden proklamierten Symphilosophierens. Er selbst sei bei seinem „Studium der Wissenschaft überhaupt – und ihres Körpers, des Buchs – ebenfalls auf die Idee der Bibel gerathen – der Bibel – als des Ideals jedweden Buchs. Die Theorie der Bibel, entwickelt, giebt die Theorie der Schriftstellerey oder der Wortbildnerey überhaupt – die zugleich die symbolische, indirecte Constructionslehre des schaffenden Geistes abgiebt.“²⁰ Zwar räumt Schlegel in seinem Antwortschreiben ein, dass die Bibel das Ideal jedes Buches sei. Auch das Journal, der Roman, das Kompendium, der Brief oder das Drama seien in einem gewissen Sinn eine Bibel. Schlegel meint jedoch mehr: „Mein biblisches Projekt aber ist kein litterairisches, sondern – ein biblisches, ein durchaus religiöses. Ich denke eine neue Religion zu stiften oder vielmehr sie verkündigen zu helfen.“²¹ Schlegel erkennt zwar die Selbständigkeit von Philosophie und Poesie an, glaubt aber, dass es bestimmte Gegenstände wie etwa Gott gebe, die weder von der Philosophie noch von der Poesie behandelt, sondern die nur in Evangelien, Episteln und Apokalypsen dem Zeitalter enthüllt werden könnten. Schlegel sieht sich in der Rolle des Paulus, während er bei Novalis das Talent zu einem neuen Christus vermutet. Er habe vielleicht noch die Wahl, „entweder der letzte Christ, der Brutus der alten Religion, oder der Christus des neuen Evangeliums zu seyn“.²² Die Idee des neuen Evangeliums führt Schlegel auf Lessing zurück, und als Zeichen dafür, dass sich das neue Evangelium, das eine Synthesis von Goethe und Fichte sei, bereits zu regen beginne, nennt er Schleiermacher, der gerade an einem Werk über die Religion arbeite. Schleiermacher steht allerdings der Idee einer von Schlegel und Novalis ins Auge gefassten Kunstreligion recht skeptisch gegenüber. In seinen 1799 anonym erschienenen Reden Über die Religion kann der junge Prediger an der Berliner Charité erklären: „Von einer Kunstreligion, die Völker und Zeitalter beherrscht hatte, habe ich

      

Novalis 1965, 272 (Anm. 1). Novalis 1965, 516 (Anm. 1). Novalis 1965, 494 (Anm. 1). Novalis 1965, 501 (Anm. 1). Novalis 1965, 262– 263 (Anm. 1). Novalis 1965, 507 (Anm. 1). Novalis 1965, 508 (Anm. 1).

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nie etwas vernommen.“²³ Zwar seien die unterschiedlichen Formen der Religion immer wieder durch den Kunstsinn mit neuer Schönheit und Heiligkeit überschüttet worden, doch habe der Kunstsinn niemals eine historische Gestalt der Religion, eine Kunstreligion hervorgebracht. Andererseits glaubt Schleiermacher, der nicht nur mit dem Romantiker Friedrich Schlegel die Wohnung teilt, sondern darüber hinaus dem Denken der Frühromantik verhaftet ist, durchaus, dass vom Kunstsinn ein Weg zur Religion führe, auch wenn er bekennen muss: „Ich kenne ihn nicht, das ist meine schärfste Beschränkung, es ist die Lücke, die ich tief fühle in meinem Wesen, aber auch mit Achtung behandle. Ich bescheide mich, nicht zu sehen, aber – ich glaube; die Möglichkeit der Sache steht klar vor meinen Augen, nur daß sie mir ein Geheimnis bleiben soll.“²⁴ Allerdings sei der Glaube an eine Kunstreligion, also an einen Weg vom Anblick großer und erhabener Kunstwerke zur Religion mehr auf die Zukunft als auf die Vergangenheit und Gegenwart gerichtet. Das Verhältnis von Kunst und Religion in seiner eigenen Gegenwart sieht Schleiermacher eher skeptisch. Denn während die Kunst in der Vergangenheit der Religion doch immerhin gedient habe, könne man das von der Gegenwart kaum sagen: „Jetzt dient sie keiner, und Alles ist anders und schlechter. Religion und Kunst stehen nebeneinander wie zwei befreundete Seelen, deren innere Verwandtschaft, ob sie sie gleich ahnden, ihnen doch noch unbekannt ist. Freundliche Worte und Ergießungen des Herzens schweben zwischen ihnen immer auf den Lippen und kehren immer wieder zurück, weil sie die rechte Art und den letzten Grund ihres Sehnens noch nicht finden können.“²⁵ Doch Schleiermacher ist trotzdem zuversichtlich, dass die zeitgenössische Erneuerung der Kunst auch zu einer Auferstehung der Religion führen werde, da die Künstler, selbst wenn sie sich als Verächter der Religion gäben, doch deren unabsichtliche Retter und Pfleger seien.²⁶ Denn über eine Erneuerung des Kunstsinns gelange man dazu, die Welt als eine Galerie religiöser Ansichten und die Menschheit als den Stoff des größten Kunstwerks zu betrachten.²⁷ Der Kunstsinn könne so zu einem adäquaten Verständnis der Religion beitragen, nämlich zu einer Sicht der Menschheitsgeschichte als einer Galerie verschiedenster religiöser Anschauungen des Universums. „Lasst uns“, ruft Schleiermacher am Ende der dritten Rede seinen Hörern zu, „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umschlingen, eine endlose Galerie der erhabenen Kunstwerke durch tausend Spiegel ewig vervielfältigt.“²⁸ Auch wenn er durchaus einen Weg vom Kunstsinn zur Religion sieht, führt Schleiermacher in den „Reden“ seine Gedanken dazu nicht weiter aus. Religion wird in seinen Augen primär auch nicht durch Poesie, Malerei oder eine andere Kunst mitgeteilt, sondern die Kommunikation von Religion vollziehe sich zu-

 Friedrich Daniel Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799, 168.  Schleiermacher 1799, 167 (Anm. 23).  Schleiermacher 1799, 169 (Anm. 23).  Vgl. Schleiermacher 1799, 170 – 171 (Anm. 23).  Vgl. Schleiermacher 1799, 141.173 (Anm. 23).  Schleiermacher 1799, 173 (Anm. 23).

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nächst auf rednerischem Wege. Es sei „unmöglich, Religion anders auszusprechen und mitzuteilen als rednerisch, in aller Anstrengung und Kunst der Sprache.“²⁹ Die übrigen Künste neben der mündlichen Rede hätten dagegen nur eine dienende Funktion, insofern sie der flüchtigen Rede beistehen können. In der begeisterten Rede, einer Musik ohne Gesang und Form, teile der Priester als Virtuose der Religion diese seinen Hörern mit. Gegenüber der lebendigen mündlichen Rede sei der Buchstabe tot, und daher seien auch heilige Schriften nicht das der Religion angemessene Medium. „Jede heilige Schrift ist nur ein Mausoleum der Religion, ein Denkmal, daß ein großer Geist da war, der nicht mehr da ist; denn wenn er noch lebte und wirkte, wie würde er einen so großen Wert auf den toten Buchstaben legen, der nur ein schwacher Abdruck von ihm sein kann?“³⁰ Eine heilige Schrift ist für Schleiermacher nur eine versteinerte mündliche Rede, die die Unmittelbarkeit und Frische des mündlichen Vortrags eingebüßt hat und zum toten Buchstaben geworden ist. „Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern, welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte.“³¹ Es sei daher auch völlig irreligiös, wollte man nur bestimmten heiligen Schriften den Rang einer Bibel zusprechen. Vielmehr werde eine Schrift Bibel aus eigener Kraft, und man könne keinem Buch neben den Büchern des Alten und Neuen Testaments verbieten, „auch Bibel zu sein oder zu werden“.³² Während Novalis Schleiermachers Reden Über die Religion enthusiastisch begrüßte, war Schlegels Reaktion zurückhaltender. Im Athenäum veröffentlichte er eine Rezension in Gestalt von zwei Briefen an zwei fiktive Freunde, von denen der eine die Irreligion der meisten Gebildeten, der andere hingegen die Minderheit der Religiösen repräsentiert. Er zeigt sich davon überzeugt, dass die Reden „den irreligiösesten Dichtern und Künstlern noch eher zusagen werden, als den religiösesten Philosophen“³³. Für Schlegel ist Schleiermacher ein Zeuge für die Religion gegen das Zeitalter, das abgesehen von Lessings Hinweis auf das neue ewige Evangelium jeden Sinn für Religion verloren habe.³⁴ Seine eigene Haltung gegenüber der Religion bringt er in den „Ideen“ zum Ausdruck, die er 1800 im Athenäum publiziert. Mit Schleiermacher stimmt er darin überein, dass die Religion „die allbelebende Weltseele der Bildung“ sei, „das vierte unsichtbare Element zur Philosophie, Moral und Poesie“³⁵. Kunst ohne Religion ist für ihn daher undenkbar. „Nur derjenige kann ein Künstler sein, welcher eine eigne Religion, eine originelle Ansicht des Unendlichen hat.“³⁶ Die Kraft der Poesie bestehe darin, dass sie aus sich herausgehe und ein Stück von der Religion

 Schleiermacher 1799, 181 (Anm. 23).  Schleiermacher 1799, 121– 122 (Anm. 23).  Schleiermacher 1799, 122 (Anm. 23).  Schleiermacher 1799, 305 (Anm. 23).  Friedrich Schlegel, Über Schleiermachers Reden, KFSA, Bd. 2, hg.v. Hans Eichner, München u. a. 1967, 275 – 281, hier 278.  Vgl. Schlegel 1967, Reden, 275, (Anm. 33).  Friedrich Schlegel, Ideen, KFSA, Bd. 2, hg.v. Hans Eichner, München u. a. 1967, 256 – 272, hier 256.  Schlegel 1967, Ideen, 257, (Anm. 35).

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losreiße, um dann wieder in sich zurück zu gehen. Wer Religion habe, werde Poesie reden. Auch der Geistliche müsse, wenn er das Endliche zum Ewigen und Unendlichen bilden wolle, ein Künstler sein. Schlegel ruft dazu auf, alle Religionen aus ihren Gräbern zu wecken und durch die Allmacht der Kunst und Wissenschaft neu zu beleben und zu bilden. Und „in der Welt der Kunst und der Bildung, erscheint die Religion notwendig als Mythologie oder als Bibel.“³⁷ Das Zentrum der Poesie aber sei die Mythologie. Da Poesie und Kunst Faktoren der Religion sind, werden die Dichter und Künstler als Mittler des Göttlichen, Unendlichen, wird der Künstlerbund als Gemeinde der Heiligen bezeichnet. Schlegel verheißt der Religion eine große Auferstehung, und Religion ist für ihn jede Beziehung des Menschen aufs Unendliche. Er greift auch seine Gedanken zur Bibel wieder auf, wenn er sagt: „Als Bibel wird das neue ewige Evangelium erscheinen, von dem Lessing geweissagt hat: aber nicht als einzelnes Buch im gewöhnlichen Sinne.“³⁸ Bereits die Bibel Alten und Neuen Testaments sei ja ein System von Büchern, und unter der Bibel will Schlegel hier ein unendliches, absolutes Buch verstehen. Alle klassischen Gedichte der Antike seien ein organisches Ganzes und daher ein einziges Gedicht, in dem die Dichtkunst vollkommen erscheine. „Auf ähnliche Weise sollen in der vollkommenen Literatur alle Bücher nur Ein Buch sein, und in einem solchen ewig werdenden Buche wird das Evangelium der Menschheit und der Bildung offenbart werden.“³⁹ Auch jetzt lässt Schlegel nicht ab von dem Lob Winckelmanns. Der Begründer der klassischen Archäologie wird als heilig bezeichnet, weil er das Urbild der vollendeten Menschheit in den Gestalten der antiken Kunst gottbegeistert verkündigte. Wie Schleiermacher verteidigt Schlegel auch den von ihm gleichfalls verehrten Fichte angesichts des Atheismusvorwurfs. Denn wenn das Wesen der Religion das Interesse am Übersinnlichen sei, dann sei Fichtes ganze Lehre Religion in Form von Philosophie. Und Schleiermacher wird gerühmt, weil sich gegenwärtig nichts Größeres zum Ruhm des Christentums sagen lasse, als dass der Verfasser der Reden Christ sei. Wer ein Höchstes in sich ahne und es nicht zu deuten wisse, der möge die Reden Über die Religion lesen. Dort erfahre man, dass man das Universum weder erklären noch begreifen, sondern nur anschauen und offenbaren könne. Wo aber die Religion ohne Poesie sei, da werde sie dunkel und falsch. Im dritten Band des Athenäum veröffentlichte Schlegel 1800 sein Gespräch über die Poesie, dessen Teilnehmer jeweils eigene Beiträge beisteuern, über die sie dann gemeinsam diskutieren. Den Ausgangspunkt bildet ein weiter Begriff von Poesie, insofern der „Poesie der Worte“ als notwendige Voraussetzung eine ursprüngliche „bewußtlose Poesie“ vorgeordnet wird. Gemeint ist die Erde als „das eine Gedicht der Gottheit, dessen Teil und Blüte auch wir sind“.⁴⁰ Die Schönheit dieses Gedichts können wir aber verstehen, weil wir Teil seines Dichters, also Gottes sind und ein  Schlegel 1967, Ideen, 259, (Anm. 35).  Schlegel 1967, Ideen, 265, (Anm. 35).  Schlegel 1967, Ideen, 265, (Anm. 35).  Friedrich Schlegel, Gespräch über die Poesie, KFSA, Bd. 2, hg.v. Hans Eichner, München u. a. 1967, 284– 351, hier 285.

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Funke seines schöpferischen Geistes auch in uns lebt. Die Poesie ist für Schlegel eine derart universale Größe, dass sich über sie auch nur in Poesie reden lässt. Den ersten Beitrag zu dem Gespräch liefert Andrea, der über die „Epochen der Dichtkunst“ spricht. Die Quelle der europäischen Kunst lokalisiert er in Griechenland, und für die Griechen sei die Quelle ihrer Kunst Homer gewesen. Während in römischer Zeit die Poesie einen Niedergang erlebte, „war die Erfindung und Begeisterung in der Religion um so reger; in der Ausbildung der neuen, in den Versuchen zur Umbildung der alten, in der mystischen Philosophie müssen wir die Kraft jener Zeit suchen“.⁴¹ Als „der heilige Stifter und Vater der modernen Poesie“ wird Dante genannt, der Religion und Poesie miteinander verbunden habe.⁴² Mit Petrarca und Boccaccio bilde Dante das Dreigestirn der Begründer der modernen Kunst. Von den Spaniern findet Cervantes, von den Engländern Shakespeare besondere Erwähnung, während die Erneuerung der Poesie in Deutschland mit Winckelmanns Wiederentdeckung der Antike, Goethes Universalität und der idealistischen Philosophie in Verbindung gebracht wird. „Die Philosophie gelangte in wenigen kühnen Schritten dahin, sich selbst und den Geist des Menschen zu verstehen, in dessen Tiefe sie den Urquell der Fantasie und das Ideal der Schönheit entdecken, und so die Poesie deutlich anerkennen mußte, deren Wesen und Dasein sie bisher auch nicht geahndet hatte.“⁴³ Philosophie und Poesie griffen nunmehr ineinander, um sich wechselseitig zu beleben. Der zweite Gesprächsbeitrag, vorgestellt von Ludoviko, ist die „Rede über die Mythologie“. In ihr greift Schlegel ein Thema auf, das in engstem Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Diskurs nicht nur über die Religion, sondern auch über die Philosophie und die Kunst steht. Der moderne Dichter müsse anders als der antike alles aus seinem Innern herausarbeiten, so dass jedes seiner Werk gleichsam eine Schöpfung aus dem Nichts sei. Es fehle „unsrer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie für die der Alten war, und alles Wesentliche, worin die moderne Dichtkunst der antiken nachsteht, läßt sich in die Worte zusammenfassen: Wir haben keine Mythologie.“⁴⁴ Allerdings stehe die Geburt einer neuen Mythologie, an der man mitarbeiten müsse, nahe bevor. Die Mitarbeit an ihr sei aber deshalb erforderlich, weil sie unter ganz anderen Voraussetzungen entstehe als die antike Mythologie, die sich als Produkt jugendlicher Phantasie an der sinnlichen Welt orientiert habe. „Die neue Mythologie muß im Gegenteil aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden: es muß das künstlichste aller Kunstwerke sein, denn es soll alle andern umfassen, ein neues Bette und Gefäß für den alten ewigen Urquell der Poesie und selbst das unendliche Gedicht, welches die Keime aller andern Gedichte verhüllt.“⁴⁵ Die neue Mythologie ist somit für Schlegel das Produkt des autonomen Ich und seiner Einbildungskraft und als Quelle der zukünftigen modernen Poesie wie Homers Epos selbst Poesie. Als Hervorbringung     

Schlegel 1967, Poesie, 296 (Anm. 40). Schlegel 1967, Poesie, 297 (Anm. 40). Schlegel 1967, Poesie, 303 (Anm. 40). Schlegel 1967, Poesie, 312 (Anm. 40). Schlegel 1967, Poesie, 312 (Anm. 40).

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des Geistes stehe sie in engster Verbindung mit dem zeitgenössischen Idealismus, dessen realistisches Produkt sie sei. Spinoza wird als Mystiker der Alleinheit und Vater der neuen spekulativen Physik gepriesen, dem mit Homer und Dante eine Wohnung im Tempel der neuen Poesie gebühre. Denn der zündende Funke der Poesie sei der Widerschein der Gottheit im Menschen. Die neue Mythologie hängt bei Schlegel aufs engste zusammen mit dem neuen Roman, wie aus dem „Brief über den Roman“ hervorgeht, den Antonio vorträgt. Denn der Roman gilt ihm als romantisches Buch, als ein Ganzes, gemischt aus Erzählung, Gesang und anderen Formen. Wie aber die Dichtkunst der Griechen mit dem Epos angefangen habe, so die moderne Poesie mit dem Roman.⁴⁶

2 Schleiermachers Weihnachtsfeier und August Wilhelm Schlegel Was Schleiermacher in den Reden Über die Religion über das Verhältnis von Kunst und Religion nur andeutet, findet seine Präzisierung in seiner Weihnachtsfeier, die 1806 in Halle erscheint. Schleiermacher schrieb sie kurz vor Weihnachten 1805, wobei der Besuch eines Konzerts des blinden Flötisten Friedrich Ludwig Dulon am 3. Dezember im Hallenser Ratskellersaal den Anstoß gab⁴⁷. Er bezeichnet die Weihnachtsfeier als „etwas einem Kunstwerk Ähnliches“, spricht von Novellen und von platonischer Form⁴⁸. Anspielungen auf Platons Symposion finden sich im Text selbst.⁴⁹ Eingebettet in eine Rahmenerzählung bilden drei Erzählungen der anwesenden Frauen und drei Reden der Männer, die alle das Fest der Geburt Christi und die Christologie zum Inhalt haben, die Mitte der Weihnachtsfeier. Sowohl die Verbindung unterschiedlicher literarischer Gattungen zu einer Einheit wie auch die Bezeichnung des Ganzen als Gespräch hat Parallelen in der zeitgenössischen klassischen und frühromantischen Literatur, bei Goethe ebenso wie bei Friedrich Schlegel und Schelling.⁵⁰ Das Vorbild für das Haus und den geselligen Kreis von Männern, Frauen und Töchtern, der sich an Weihnachten in ihm versammelt, dürfte das Anwesen des Komponisten Johann Friedrich Reichardts auf dem Giebichenstein bei Halle gewesen sein, in dem auch Schleiermacher verkehrte und mit Achim von Arnim und Clemens von Brentano Vertreter der jüngeren Generation der Romantik kennenlernte. Die Weihnachtsfeier ist aber nicht nur ein Beispiel für die frühromantische Mischung der literarischen Gattungen und damit selbst ein Kunstprodukt, sondern in ihr wird auch über die Kunst  Vgl. Schlegel 1967, Poesie, 335 – 336 (Anm. 40).  Hermann Patsch, Historische Einführung, KGA I/5, hg.v. Hermann Patsch, Berlin / New York 1995, VII–CXXVIII, hier XLIV–XLVI.  Patsch 1995, XLVIII (Anm. 47).  Vgl. Friedrich Schleiermacher, Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch, KGA I/5, hg.v. Hermann Patsch, Berlin / New York 1995, 39 – 98, hier 94, 1– 3.  Patsch 1995, XLIX (Anm. 47).

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und das Verhältnis zwischen Kunst und Religion diskutiert. Die kleine Sofie bekommt zu Weihnachten ein Buch mit „größtentheils religiösen Kompositionen“ geschenkt, die alle dem Weihnachtsfest gewidmet sind.⁵¹ Kurz darauf singt man vom Klavier begleitet „das Chor: ‚Lasset uns ihn lieben‘, und den Choral: ‚Willkommen in dem Jammerthal‘, und noch einiges aus Reichardts trefflicher Weihnachts-Cantilene, wo die Freude und das Gefühl der Errettung und die demüthige Anbetung so schön ausgedruckt ist“.⁵² Der Text der 1784 in Berlin uraufgeführten und 1786 gedruckten Weihnachts-Cantilene stammt von Matthias Claudius, mit dem Reichardt befreundet war. Es handelt sich um eine Mischung aus chorischen und solistischen Partien von Sopran und Tenor. Choräle wechseln mit Arien und Rezitativen, die sich dem biblischen Text der Weihnachtsgeschichte anschließen. Bei den andächtigen Zuhörern der Weihnachtsfeier bewirkt der Gesang etwas, das Schleiermacher zufolge religiöse Musik immer bewirkt, nämlich stille Befriedigung und Zurückgezogenheit des Gemüts. „Es gab einige stumme Augenblikke, in denen aber Jeder wußte, daß eines Jeden Gemüth liebend auf die Uebrigen und auf etwas noch Höheres gerichtet war.“⁵³ Reichardt selbst hatte bereits 1782 in seinem Musikalischen Kunstmagazin in einem Artikel namens Kirchenmusik geäußert, dass der letzte und höchste Zweck wie alles menschlichen Tuns und Strebens so auch der der Tonkunst die Veredlung des Gefühls sein müsse. Diesen Zweck erreiche sie aber nur, „wenn sie all ihr Vermögen anwendet, die Größe, Majestät, Allgewalt Gottes und seine herrliche lebende Natur um uns herum lebendiger und seelendurchdringender zu malen und dann der staunenden, betäubten, versinkenden Seele mit süßer Macht zuruft: Gott ist die Liebe“.⁵⁴ Der Ort aber, wo dieser Lobpreis Gottes auf angemessene Weise stattfinde, sei der „Tempel des Herrn, wo der Bessere durch Hoffnung, der Schlechtere durch Furcht schon in empfänglicherer Spannung ist, wo tausend Erinnerungen und frühere Eindrücke die Seele in Bewegung setzen, wo alles um mich herum schon auf Erhebung der Seele abzweckt oder doch abzwecken könnte und sollte“.⁵⁵ Allerdings beklagt Reichardt den gegenwärtigen Zustand der Kirchenmusik, die ihre edle Würde eingebüßt habe und zu elender Tändelei und Schönschmäcklerei verkommen sei. Er preist sie als edle, erhabene, himmlische und göttliche Kunst, wobei er unter anderem Händels Messias als positives Beispiel anführt. Als wahre Kirchenmusik betrachtet er vor allem den Chor. „Das Rezitativ ist zu leer, zu charakterlos, sticht gar zu sehr gegen das Chor ab, die Arie ist, wenn sie die Einfalt des Liedes verläßt und üppigen, verbrämten Gesang hat, zu zerstreuend, zu reizend, zu vergnügend, als daß bei ihr Andachtsgefühle statthaben könnten.“⁵⁶ Reichardt stand mit seinen Bemühungen um

 Schleiermacher 1995, 46 (Anm. 49).  Schleiermacher 1995, 49 – 50 (Anm. 49).  Schleiermacher 1995, 50 (Anm. 49).  Johann Friedrich Reichardt, Briefe, die Musik betreffend. Berichte, Rezensionen, Essays, Leipzig 1976, 170.  Reichardt 1976, 170 (Anm. 54).  Reichardt 1976, 172 (Anm. 54).

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eine Erneuerung der Kirchenmusik, an der auch Schleiermacher gelegen war, nicht allein. 1793 publizierte Herder in den Zerstreuten Blättern seinen Artikel Cäcilie, in dem er sich, ausgehend von Reflexionen über die zur Schutzgöttin der Musik aufgestiegene Heilige, Gedanken über die heilige Musik macht. Die aus der Andacht quellende heilige Musik erscheint ihm als der Höhepunkt der Musik überhaupt. „Alle lustigen, kleinen Ergötzungen, die die Musik schafft, sind unschuldige Spiele oder leichte Vorübungen zu dem erhabnen, umfassenden Genuß, den nur die reine heilige Musik unsrer Seele gewähret.“⁵⁷ Als tiefste Grundlage der heiligen Musik gilt Herder der Hymnus oder Lobgesang, der dem Menschen natürlich sei, weil er ihm angesichts der Schöpfung von den Lippen komme. Der christliche Hymnus habe seinen Ursprung dabei in den hebräischen Psalmen als Tempel- und Chorgesang. Das Trishagion, das Gloria und das Halleluja hätten ihren Ursprung im jüdischen Gottesdienst. Der christliche Gottesdienst bestehe aber nicht nur aus dem Hymnus, sondern den Tonarten und Saiten der menschlichen Seele entsprechend gebe es daneben auch das sanfte erbauliche Lied und das klagende, ängstliche Miserere und das Kyrie eleison. Schließlich würde auch das Abendmahl mit „Intonationen einer göttlichen Gegenwart und Begeisterung“ gefeiert, und selbst das Credo werde gesungen.⁵⁸ Der christliche Gottesdienst mit seiner Liturgie bildete Herder zufolge die Grundlage der heiligen Musik, wie sie von Palestrina, Pergolesi, Händel, Bach und anderen komponiert wurde. Aus diesem historischen Rückblick folgert Herder, „daß der christliche Kirchengesang von Anfange bis zu Ende eines Gottesdienstes oder Festes Ein Ganzes seyn müße, das vom ersten bis zum letzten Tone Ein Geist belebet“⁵⁹. Er beklagt, dass diese Einheit aus dem protestantischen Gottesdienst fast ganz geschwunden sei. Die einzelnen gesungenen Stücke der Liturgie bildeten kein Ganzes im sinnlich-geistigen Eindruck. Um dies zu erreichen, verlangt Herder die Rücksicht darauf, dass die Basis der heiligen Musik der Chor sei, da eine Gemeinde singen soll. „Arien also, Duette, Terzette u. dgl. sind nie das Hauptwerk einer Musik der Kirche, gesetzt, daß sie auch in die Kirche gehörten. Nur auf dem Wege des Chors, (im weitesten Verstande genommen,) gelangt man zu jener Bewegung und Rührung, die diese Musik erfodert.“⁶⁰ Die auf die biblischen Lesungen bezogenen Rezitative müssten hingegen kurz sein, und überhaupt dürfe die Kirchenmusik auf keinen Fall dramatisch sein. „Wollte man biblische Geschichten dramatisiren; so gehören sie nicht für die Kirche, sondern mögen zu Hause in sogenannten geistlichen Cantaten gesungen oder gespielt werden.“⁶¹ Herder unterscheidet somit scharf zwischen Kirchenmusik und dramatischer Musik, wenngleich für ihn beide Schwestern sind und aus der Kirchenmusik die dramatische Musik entstanden sei wie bei den Griechen aus dem Chor und Dythrambus die Tra-

 Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke, Bd. XVI, hg.v. Bernhard Suphan, Hildesheim 1967 (Nachdruck Berlin 1887), 256.  Herder 1967, 259 (Anm. 57).  Herder 1967, 260 – 261 (Anm. 57).  Herder 1967, 261– 262 (Anm. 57).  Herder 1967, 265 (Anm. 57).

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gödie. Zwar beklagt er, dass die wahre Musik dem Tempel jetzt weitgehend entflohen sei, doch zugleich verleiht er der Hoffnung auf ihre Erneuerung Ausdruck, bevor er seinen Beitrag mit der Rhapsodie Die Tonkunst beschließt, die 1791 in Reichardts Musikalischem Kunstmagazin erschien. Kurz nachdem man in Schleiermachers Weihnachtsfeier Reichardts WeihnachtsCantilene angestimmt hat, kommt das Gespräch auf den Katholizismus, als der aufgeklärte Leonhardt bei der kleinen Sofie Zeichen des Aberglaubens entdeckt zu haben meint. Das Katholisieren der Romantiker wird angedeutet, wenn davon die Rede ist, dass die Besten zur katholischen Kirche hielten, weil sie „in Verein mit den Künsten getreten“ sei.⁶² Leonhardt gibt sich hingegen als erklärter Feind einer „Anwendung der Künste auf die Religion“.⁶³ Schleiermacher legt ihm die Worte in den Mund: „Ich bin als Christ sehr unkünstlerisch und als Künstler sehr unchristlich. Ich mag die steife Kirche nicht, die uns Schlegel in seinen steifen Stanzen geschildert hat, und auch die armen bettelnden erfrornen Künste nicht, die froh sind ein Unterkommen zu finden.“⁶⁴ Damit spielt Schleiermacher auf August Wilhelm Schlegels Gedicht „Der Bund der Kirche mit den Künsten an. In 33 Stanzen schildert das 1800 entstandene Gedicht, wie ein hohes Weib vom Himmel herabschreitet, zu seinen Füßen Cherubim und auf der Stirn die Mitra. Sein schlichtes Kleid samt Stola schmücken priesterliche Zeichen, den Hirtenstab ziert ein Purpurkreuz im Banner. Ihr Schritt führt sie zum Parnass, von dem die eitle Welt so viel gedichtet hat. Aber „Apollos‘ alter Dienst ist längst vernichtet,/ Daß dürr, verwildert seine Haine stehn“.⁶⁵ Die inzwischen verschmähten Künste, die Malerei und Bildnerei ebenso wie die Architektur und Musik sind hierher geflohen, nachdem die Götter und Heroen, denen sie sich widmeten, gestürzt wurden und Geist und Wahrheit die trügerische Sinnlichkeit verbannt haben. Doch da tritt jenes hehre Weib mitten unter sie, hält ihnen vor, ihre Reize in den Dienst der Sünde gestellt und die Menschen vom Ziel der Gnade abgelenkt zu haben, und fordert sie zur tätigen Buße auf. „Durch Thaten übt ihr eine beßre Buße./ Ihr waret stolz auf eures Lorbeers Laubm/ Die Palme winket euch mit schönerm Gruße,/ Verlorne Schwestern, weiht euch meinem Dienste,/ So führ‘ ich euch zu himmlischem Gewinnste.“⁶⁶ Nach überwundener Scham sehen die Künste in der hehren Frauengestalt der Ekklesia ihr neues Heil. Sie „flehn fußfällig daß sie möge lehren/ Ganz ihr zu leben, und sie recht zu ehren“.⁶⁷ Daraufhin schildert ihnen die Kirche, wie die Christen zunächst von den als Götter verehrten Kaisern verfolgt wurden und nur im Untergrund ihre Versammlungen abhalten konnten. Doch schließlich hätten die Feinde des Kreuzes nur zu dessen Erhöhung und seiner Anerkennung durch das römische Reich beigetragen.

 Schleiermacher 1995, 59 (Anm. 49).  Schleiermacher 1995, 59 (Anm. 49).  Schleiermacher 1995, 59 (Anm. 49).  Walter Jaeschke (Hg.), Früher Idealismus und Frühromantik. Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (1795 – 1805), Quellenband, Hamburg 1995, 139.  Jaeschke 1995, 140 (Anm. 65).  Jaeschke 1995, 140 (Anm. 65).

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Wegen des Sieges des Christentums müsse nunmehr die Sonne des Heils sichtbar scheinen, „daß vom himmlisch geistigen Exempel/ Ein Bild und Abglanz sey der ird’sche Tempel“.⁶⁸ Das Urbild des irdischen Tempels ist der Himmel selbst, in dem die Geister sich in seliger Gottesschau befinden und der aus der Gnade und den theologischen Tugenden der Glaube, Liebe und Hoffnung gebaut ist. Am Hof des himmlischen Monarchen sind, je nach Rang geordnet, Herrlichkeiten, Throne und Hierarchen ebenso vertreten wie Älteste, Patriarchen und Märtyrer, vereint in Lobgesängen und vielstimmigen Psalmodien. Das Trishagion erschallt dort zusammen mit dem Ave Maria, und gespeist werden alle vom Blut und Leib des Gottmenschen, der sich zur Sühne der Sünde geopfert hat. „So wird im Tag, den keine Nacht umschleyert,/ Des hohen Tempels reiner Dienst gefeyert.“⁶⁹ Erst nach dieser Beschreibung des himmlischen Gottesdienstes kommt Schlegels Gedicht auf den irdischen Beitrag zu sprechen, den die Künste der Kirche leisten können und sollen, nämlich ihr Tun würdig zu zieren. Eine Wiedergeburt der nach dem Sturz der paganen Götter toten Künste finde dann statt, wenn sie „vom Himmel auf die Erde nieder/ Die Heiligkeiten, bildlich deutend, führt“.⁷⁰ Es folgt die Aufzählung der spezifischen Aufgaben der einzelnen Künste, angefangen bei der Architektur, die sich an Naturgebilden orientiert. In dem Kirchenbau soll kein Götterbild im Dunkel thronen. „Nein, zahllos soll die betenden Gemeinden/ Der lichte doch geschloßne Bau befreunden.“⁷¹ Den hohen Dom soll die Musik mit Tonkunstwerke erfüllen. „Und solch Gebäu erfüllend zu durchdringen,/ Wölb‘ auch, Musik! Der Töne reichen Bau./ Verhältniß aus Verhältniß laß entspringen,/ Gesondert, wechselnd, doch vereint genau./ Wie alle Sphären rein zusammen klingen,/ Doch jede Kugel aus krystallnem Blau/ In eignem Ton: so mußt du in Gewittern/ Der Harmonie die Seelen tief erschüttern.“⁷² Die heilige Cäcilie wird dabei der Musik helfend zur Seite stehen, wenn die menschlichen Stimmen sich mit dem Orgelklang verbinden. Den Bildhauern und Malern weist das Gedicht die Aufgabe zu, die Väter, Apostel, Märtyrer, Heiligen und Wundertäter ebenso darzustellen wie Maria und Christus am Kreuz. Die Malerei soll sich den Wundern der geistlichen Geschichten widmen, wobei Schlegel unter den Malern ausdrücklich zwei als erkorene Meister bezeichnet. „An ihren Namen sollst du sie erkennen,/ Weissagend will ich sie nach Engeln nennen.“⁷³ Gemeint sind Michelangelo und Raffael. Und nachdem sie den Künsten ihre künftige Aufgaben umrissen hat, fordert die Kirche sie auf, sich vor allem Rom und dort insbesondere dem Vatikan zu widmen. Die Trennung von Kunst und Religion, wie sie in Schleiermachers „Weihnachtsfeier“ Leonhardt mit seiner Kritik an der romantischen Begeisterung für den Katholizismus propagiert, will Ernst allerdings nicht einleuchten. Für ihn gehören Leben

     

Jaeschke 1995, 141 (Anm. 65). Jaeschke 1995, 142 (Anm. 65). Jaeschke 1995, 142 (Anm. 65). Jaeschke 1995, 143 (Anm. 65). Jaeschke 1995, 143 (Anm. 65). Jaeschke 1995, 144 (Anm. 65).

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und Kunst ebenso zusammen wie Leben und Religion, so dass ein gebildetes Leben für ihn selbst ein Kunstwerk ist, zu dem auch die Religion gehört. Das ist zwar eine Vorstellung, die sich bei Schleiermacher auch später noch findet, dass nämlich „jedes sittlich und folgerecht geführte Leben selbst ein Kunstwerk sei“⁷⁴. Doch spielt sie für die eigentliche Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Religion bei ihm keine Rolle. Wohl aber spricht er sich selbst stets entschieden gegen eine Trennung von Kunst und Religion aus. Für ihn ist in der „Weihnachtsfeier“ vielmehr zentral der Gedanke, dass unter den verschiedenen Künsten gerade die Musik dem religiösen Gefühl am nächsten verwandt sei. Der vollständige und unmittelbare Ausdruck eines schönen Gefühls geschehe nicht durch das Wort, sondern durch den Ton. Um dem Ausdruck des religiösen Gefühls wieder aufzuhelfen, sei daher die Förderung der Musik und des Gesangs erforderlich. „Was das Wort klar gemacht hat, muß der Ton lebendig machen, unmittelbar in das ganze innere Wesen als Harmonie übertragen und festhalten.“⁷⁵ Dem Ton und damit der Musik wird somit von Schleiermacher eine Gefühlsunmittelbarkeit attestiert, die er dem Wort abspricht. Wie er aber die Musik als dem religiösen Gefühl nächstverwandt betrachtet, so ist er umgekehrt wie Reichardt und Herder der Auffassung, „daß nur auf dem religiösen Gebiet die Musik ihre Vollendung erlangt“⁷⁶. Eine ernste Oper etwa sei ebenso wie jedes höhere Tonkunstwerk letztlich ohne religiöse Basis nicht denkbar. Diese innere Verwandtschaft von Religion und Musik liegt für Schleiermacher darin mitbegründet, „daß nur in der unmittelbaren Beziehung auf das Höchste, auf die Religion, und eine bestimmte Gestalt derselben, die Musik ohne an ein einzelnes Factum geknüpft zu werden, doch Gegebenes genug hat, um verständlich zu sein“⁷⁷. Das Christentum, also eine bestimmte Gestalt der Religion, erscheint ihm als ein einziges Thema, dargestellt in unendlichen Variationen, die ein inneres Gesetz verbindet und die unter bestimmte allgemeine Charaktere fallen. Gerade wegen dieser allgemeinen Vertrautheit des Christentums, seiner Verankerung im Bewusstsein des Volkes, bedarf es in der Kirchenmusik gar nicht bestimmter Worte, um verständlich zu sein. Vielmehr seien ein Miserere, ein Gloria oder ein Requiem durch seinen bloßen musikalischen Charakter als solches verständlich. Christentum und Musik gehören daher beide zusammen, insofern sie sich einander verklären und erheben. In Anspielung auf Lk 2,13 – 14 heißt es, dass Jesus vom Gloria-Chor der Engel empfangen werde. Und wenn es weiter heißt „und so begleiten wir ihn mit Tönen und Gesang bis zum großen Hallelujah der Himmelfahrt“⁷⁸, dann handelt es sich um eine Anspielung auf Händels Messias. Denn in der zweiten Auflage der Weihnachtsfeier fügt Schleiermacher hinzu: „eine Musik wie Händels Messias ist mir gleichsam eine compendiöse Verkündigung des gesammten

 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Akademievorträge, KGA I/11, hg.v. Martin Rössler u. a., Berlin / New York 2002, 772.  Schleiermacher 1995, 64 (Anm. 49).  Schleiermacher 1995, 64 (Anm. 49).  Schleiermacher 1995, 64 (Anm. 49).  Vgl. Schleiermacher 1995, 64– 65 (Anm. 49).

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Christenthums“⁷⁹. Schleiermacher zitiert aus dem Abschnitt „Musik der Musik“ aus Jean Pauls Flegeljahren, um zu unterstreichen, dass sich die Musik mit ihrem Dur und Moll immer nur auf die großen Akkorde des Gemüts und niemals auf einzelne Begebenheiten bezieht. Wenig später stimmt Friederike am Klavier eine Kirchenmelodie an, zu der sie gemeinsam mit Sofie „die schönen Verse von Novalis“ singen.⁸⁰ Nach „Ich sehe dich in tausend Bildern,/ Maria, lieblich ausgedrükt“ folgt später noch als weiteres Gedicht von Friederikes Lieblingsdichter Wo bleibst du Trost der ganzen Welt. ⁸¹ Beide Gedichte stammen aus den Geistlichen Liedern, die ihm schon seit 1800, das heißt vor der Drucklegung, in einer Abschrift durch Friedrich Schlegel vertraut waren.⁸² Auf Schleiermacher geht es auch zurück, dass einige dieser zum Teil romantisch katholisierenden Lieder 1829 in das Berliner Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch für evangelische Gemeinden aufgenommen wurden. Schleiermacher ist somit der Auffassung, dass die christliche Religion die Basis jeder höheren Tonkunst sei, weshalb er auch für eine Erneuerung gerade der religiösen Musik aus dem Geist eines romantisch verstandenen Christentums plädiert. August Wilhelm Schlegel verweist in seinen Vorlesungen, die er 1801 in Berlin über die Kunstlehre gehalten hat, auf sein von Schleiermacher erwähntes Gedicht Bund der Kirche mit den Künsten, wo er vom Einfluss der christlichen Religion nicht nur auf die Tonkunst, sondern auf die Künste allgemein zu sprechen kommt und die Liberalität der katholischen Religion gegen die Künste hervorhebt.⁸³ Die entsprechenden Passagen in dem Abschnitt „Von der Mythologie“ bestehen allerdings nur aus knappen Stichworten. Dort ist zwar vom Einfluss des Christentums auf Architektur, Musik und Malerei die Rede, auch werden Michelangelo und Raffael eigens erwähnt. Aber eingehender behandelt wird nur der Einfluss auf die Poesie, wobei der christliche Mythos in einem ganz anderen Verhältnis zum Leben stehe als der griechische, insofern er es nicht universell umfasse. Der Mythos des christlichen Rittertums wird erwähnt, der sich bei Tasso findet. Vom religiösen Anstrich Petrarcas mit der madonnenhaften Laura ist ebenso die Rede wie von Dantes Göttlicher Komödie und von Miltons Paradise Lost. Klopstocks Messias wird hingegen als vergeblicher Versuch, eine protestantische Mythologie zu schaffen, kritisiert. Shakespeare wird dem Katholizismus zugerechnet, und die Spanier, vor allem Calderon, werden wegen ihrer dramatischen Darstellung von Legenden gerühmt. Grundsätzlich teilt Schlegel die damals herrschende Überzeugung, dass die Mythologie zum Wesen des Menschen gehöre. „Die Mythologie ist eine im Gange der menschlichen Kultur wesentliche und unabsichtliche Schöpfung der Phantasie: es muß ihr also Wahrheit zugrunde lie-

 Schleiermacher 1995, 65 (Anm. 49).  Schleiermacher 1995, 74 (Anm. 49).  Vgl. Schleiermacher 1995, 78 (Anm. 49).  Vgl. Patsch 1995, LII–LIII (Anm. 47).  Vgl. August Wilhelm Schlegel, Die Kunstlehre, Kritische Schriften und Briefe, Bd. 2, hg.v. Edgar Lohner, Stuttgart 1963, 304.

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gen.“⁸⁴ Dabei unterscheidet Schlegel die realistischen Mythologien, zu denen er vor allem die griechische zählt, die am vollendetsten in Poesie und Kunst übergegangen und durch sie verewigt worden sei, von den idealistischen, zu denen er neben der christlichen auch die indische rechnet. Den geschichtlichen Wendepunkt von der realistischen zur idealistischen Mythologie, genauer gesagt vom griechisch-römischen Heidentum zum Christentum erblickt er in dem Ausgeliefertsein an das Schicksal. Denn: „Es gibt kein anderes Mittel, sich der Gewalt des Schicksals zu entziehen, als sich in die Arme der Vorsehung zu werfen.“⁸⁵ Genau das geschah aber Schlegel zufolge, als sich die alte Welt vom paganen Schicksalsglauben zum Christentum bekehrte. „Da verloren die alten Götter ihre Kraft, die laute Freude der Feste schwieg, die Orakel verstummten, und der Mensch, gleichsam aus seinem geliebten irdischen Wohnsitze ohne Rückhalt vertrieben, mußte eine höhere geistige Heimat suchen.“⁸⁶ Das Wesen des Christentums bestimmt Schlegel durch seinen Gegensatz zum Heidentum. Während die griechische Religion nach Vergötterung der Menschheit strebte, lehrt die christliche Religion die Menschwerdung Gottes. War der Grieche in der Natur eins mit sich selbst, so verlangt das Christentum vom Menschen die Bekämpfung seiner sinnlichen Natur um eines geistlichen Reiches willen. Damit hängt nun die Forderung eines unsinnlichen Gottesdienstes zusammen, die sich aus der Unsinnlichkeit des jüdischen Kultus erklärt. Diese wiederum folgte aus dem Monotheismus, den Moses den ägyptischen Mysterien entlehnte. Dass sich gleichwohl aus einer unsinnlichen Religion wie der christlichen „wieder eine Mythologie bilden konnte, beweist, wie mächtig die Phantasie als Organ der Religion; wie selbst das unsinnliche Streben eines Anhalts, einer individuellen positiven Anschauung bedarf, um sich nicht zu verlieren“.⁸⁷ Schlegel erhebt daher auch keine grundsätzlichen Einwände gegen die Sinnlichkeit des katholischen Kultus. Und auch wenn er die Reformation wegen der eingerissenen Verderbnis des Katholizismus für historisch notwendig erachtet, hält er ihre Folgen für negativ: „In Hinsicht auf das poetische und künstlerische Interesse war die Reformation Vernichtung der christlichen Mythologie.“⁸⁸ Die Forderung nach einem unsinnlichen Kultus sei von den Reformierten sogar noch konsequenter als von den Lutheranern aufgestellt und eingelöst worden. Aber durch den Abbruch der traditionellen Kontinuität hätten die Reformatoren das Fundament des Christentums letztlich untergraben, was sich allerdings erst im prosaischen Zeitalter der Aufklärung gezeigt habe, die die Religion als etwas Selbstständiges vernichtete und in Moral auflöste. Doch Schlegel sieht bereits die Umkehrung der Zeiten gekommen, in Frankreich mit Chateaubriand und in Deutschland vor allem mit Goethes Faust, der sich katholischer Vorstellungsarten bediene.

    

Schlegel 1963, 283 (Anm. 83). Schlegel 1963, 298 (Anm. 83). Schlegel 1963, 298 (Anm. 83). Schlegel 1963, 300 (Anm. 83). Schlegel 1963, 301 (Anm. 83).

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August Wilhelm Schlegel ist der erste, der eine eigene Kunstlehre vorträgt, die über Kants Kritik der Urteilskraft hinausgehend an die These anknüpft, die Schelling in seinem System des transzendentalen Idealismus vertritt. Schelling weist der Kunst dort insofern eine Spitzenstellung zu, als sie für ihn „das einzig wahre und ewige Organon zugleich und Dokument der Philosophie“⁸⁹ ist. Das von der Philosophie in intellektueller Anschauung erfasste Unendliche, das Absolute, wird von der Kunst sinnlich, das heißt im Medium der Endlichkeit, dargestellt. In Anlehnung an Schellings These, dass Schönheit das Unendliche endlich dargestellt sei, formuliert Schlegel: „Das Schöne ist eine symbolische Darstellung des Unendlichen.“⁹⁰ Das bedeutet, dass das Unendliche im Endlichen nur symbolisch, in Bildern und Zeichen zur Erscheinung gebracht werden kann. Poetische, das heißt künstlerische Tätigkeit besteht für Schlegel in einem ewigen Symbolisieren, indem man entweder für etwas Geistiges eine äußere, materielle Hülle sucht oder etwas Äußeres, Materielles auf etwas Geistiges bezieht. Dass etwas Geistiges in etwas Materiellem offenbar gemacht oder in etwas Materiellem etwas Geistiges erkannt wird, setzt eine ursprüngliche Einheit von Geist und Materie voraus. Schlegel verdeutlicht das an der intersubjektiven Kommunikation. Bestimmte materielle Laute und Gebärden werden als unmittelbarer Ausdruck unseres geistigen Inneren betrachtet. Auf dem unwillkürlichen Gebrauch dieser Anlage zum Ausdruck beruht auch die Fähigkeit zur Wortsprache, mit der wir willkürlich Gegenstände darstellen und bezeichnen. Schlegel meint nun, dass „es nur so viel Medien der Kunst geben kann, als Arten des natürlichen Ausdrucks, wodurch der Mensch sein Inneres im Äußeren offenbart. Dies geschieht durch Gestalt und Gebärden, durch Töne und durch Worte, und auf diese Mittel der Darstellung sind auch die schönen Künste beschränkt“⁹¹. Da die einzelnen Künste sinnlich darstellen, es aber nur zwei Formen der sinnlichen Anschauung gibt, nämlich Raum und Zeit, unterscheidet Schlegel zwei Gattungen von Künsten: solche, die simultan und solche, die sukzessiv darstellen. Der Sinn, der uns den Raum öffnet, ist der Gesichtssinn, für den es eine Kunst gibt, die die Formen durch sich selbst darstellt, die Plastik, und eine solche, die es mittels der Farben und der Beleuchtung tut, die Malerei. Wie der Raum die Form der äußeren so ist die Zeit die Form der inneren Anschauung, deren Gegenstand alles wird, was wir auf unseren eigenen Zustand beziehen. Der eigentliche innere Sinn ist der Gehörsinn, der das Sukzessive in der Außenwelt in die Zeit als Form unseres inneren Sinnes übersetzt. Daher kann es nur für das Gehör Künste geben, deren Darstellung in einem Spiel der Sukzessionen besteht. Das ist einerseits die Musik als Tonkunst und andererseits die nicht bloß für das Gehör, wohl aber durch das Gehör wirkende Poesie als Wortkunst. Die Poesie ist so zwar eng mit der Musik verbunden, aber insofern ihre hörbaren Zeichen sich auf äußere Gegenstände beziehen, betrifft sie nicht nur den inneren, sondern auch den äußeren Sinn. „Daher muß die

 Schlegel 1963, 81 (Anm. 83).  Schlegel 1963, 81 (Anm. 83).  Schlegel 1963, 84 (Anm. 83).

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Poesie notwendig die grenzenloseste aller Künste sein.“⁹² Die eigentliche Kunst des sichtbaren Ausdrucks ist allerdings für Schlegel weder die Plastik noch die Malerei, sondern der mimische Tanz, der aber weder nur simultan noch nur sukzessiv, sondern als Bewegung beides zugleich ist. Denn die Bewegungen der Tanzkunst „gehen im Raume vor sich, nach Zeitmessung der Töne“.⁹³ Die Tanzkunst „ist also eine wahre Kombination der beiden Hauptdarstellungsarten und macht das verbindende Mittelglied zwischen den simultanen und sukzessiven, den bildenden und musikalischen Künsten aus, so daß wir folgende Reihe derselben bekommen: Plastik, Malerei, Tanzkunst, Musik, Poesie“.⁹⁴ Ursprünglich als durch Leidenschaften hervorgerufene unwillkürliche natürliche Ausdrucksarten treten Gebärden, Töne und Worte zwar zusammen auf. Aber der Mensch prägte ihnen den Charakter seiner Freiheit auf, indem er die wilden Ausbrüche an eine selbstgegebene Regel band. Für die Gebärden, Töne und Worte bestand diese Regel in dem Zeitmaß, dem Takt und dem Rhythmus, wodurch Poesie, Musik und Tanz entstanden. Die simultanen bildenden Künste leitet Schlegel ebenso wie die sukzessiven tönenden Künste aus der Tanzkunst ab. Wenn man sich von der Darstellung der Tanzkunst die Bewegung wegdenkt, so erhält man die Malerei, und abstrahiert man zudem noch von Farbe und Beleuchtung, so bleibt nur der Umriss, womit man die Plastik erhält. Denkt man sich hingegen bei der Tanzkunst von der Bewegung die räumliche Erscheinung weg, so ist man bei der Musik, und abstrahiert man dann noch von den musikalischen Tönen, so ist man bei der artikulierten Sprache und damit bei der Poesie. „So sehen wir also, daß diese Reihe oder Skala der Künste an beiden Seiten in den entgegengesetzten Extremen von Geist und Materie endigt, indem die Plastik durch Körper, die Poesie durch Gedanken darstellt.“⁹⁵ Nur aus zwei schönen Künsten lassen sich durch die Kombination mit dem Nützlichen laut Schlegel neue Künste ableiten, nämlich aus der Plastik die Architektur und aus der Poesie die prosaische Redekunst oder die Komposition in Prosa. Und „mit diesen sieben Künsten hätten wir die Zahl derjenigen erschöpft, welche für sich Bestand haben“.⁹⁶

3 Schleiermachers Ästhetik Schleiermacher hatte zwar 1806 mit der Weihnachtsfeier seinen letzten Versuch vorgelegt, Theologie in dichterischem Gewand zu präsentieren. Aber er blieb auch weiterhin an Fragen der Kunst interessiert. Bereits in seinen Vorlesungen zur Ethik von 1812/13 geht er auf die Kunst ein, und 1819, 1825 und 1832/33 macht er sie auch zum Gegenstand eigener Vorlesungen. Während aber seine von ihm selbst nicht publi    

Schlegel 1963, 103 (Anm. 83). Schlegel 1963, 105 (Anm. 83). Schlegel 1963, 105 (Anm. 83). Schlegel 1963, 107 (Anm. 83). Schlegel 1963, 109 (Anm. 83).

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zierten Vorlesungen zur Ästhetik nur als Nachschrift der letzten Vorlesung aus der Feder des späteren Zürcher Theologen Alexander Schweizer und ansonsten in unzureichenden Editionen vorliegen, hat Schleiermacher die auf ihnen beruhenden zwei Akademievorträge Über den Umfang des Begriffs der Kunst in Bezug auf die Theorie derselben, die er am 11. August 1831 und am 2. August 1832 gehalten hat, noch für den Druck vorbereitet⁹⁷. Die Ausarbeitung eines abschließenden dritten Vortrags wurde hingegen durch seinen Tod unterbrochen. Schleiermacher geht von der Kunstproduktion, nicht von der Wirkung der Kunst auf den Rezipienten aus und ordnet deshalb, da es sich um ein freies Produzieren handelt, die Ästhetik der Ethik unter. Dabei unterscheidet er die Kunst als individuelles Symbolisieren von der Wissenschaft als identischem Symbolisieren und rückt sie so in die Nähe der Religion, die gleichfalls als individuelles Symbolisieren bestimmt wird. „Wenn demnach das Bilden der Fantasie in und mit seinem Heraustreten Kunst ist, und der Vernunftgehalt in dem eigenthümlichen Erkennen Religion, so verhält sich Kunst zur Religion wie Sprache zum Wissen.“⁹⁸ Die Kunst verhält sich somit zur Religion wie die individuelle äußere Darstellung zum individuellen inneren Gefühl. Da Schleiermacher die Kirche als „Eigenthümlichkeit der Erregtheit und der Darstellung“ betrachtet, kann er auch sagen, dass „die höchste Stufe des Gefühls das religiöse ist und auch der Gipfel aller Kunst auch die religiöse“.⁹⁹ In der Kirche hat jeder sein religiöses Gefühl nicht nur als persönliches, sondern auch als gemeinsames. Jeder ist somit in seinem Gefühl durch die anderen mitgeprägt und prägt seinerseits deren Gefühle mit. Da die Kunst der Darstellung religiöser Gefühle dient, ist der Kirche gelegen an der „Bildung eines Kunstschatzes, an welchem sich das Gefühl eines jeden bildet, und in welchem jeder seine ausgezeichneten Gefühle niederlegt und die freien Darstellungen seiner Gefühlsweise, so wie sich auch jeder, dessen darstellende Production mit seinem Gefühl nicht Schritt hält, Darstellungen aneignen kann“.¹⁰⁰ Dabei unterscheidet Schleiermacher bleibende Kunstwerke, also Bilder und Gebäude, von vergänglichen wie dem Kultus. Neben religiösen gibt es allerdings auch profane Kunstwerke. Im profanen Stil soll die persönliche Eigentümlichkeit des Künstlers ganz heraustreten, während sie im religiösen hohen Stil völlig zurücktreten soll, da der Künstler hier nur als Organ und Repräsentant der Kirche darstellt.

 Zu Schleiermachers Ästhetikvorlesungen vgl. Thomas Lehnerer, Die Kunsttheorie Schleiermachers, Stuttgart 1987; Anne Käfer, „Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös“. Schleiermachers Ästhetik im Kontext der zeitgenössischen Entwürfe Kants, Schillers und Friedrich Schlegels, Tübingen 2006. Schleiermachers Vorlesungen über die Ästhetik von 1832/33 liegen nun auch in einer von Holden Kelm herausgegebenen und digital zugänglichen Nachschrift von Alexander Schweizer vor: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Vorlesungen über die Ästhetik (1832/33), Vorlesungsnachschrift von Alexander Schweizer (Zentralbibliothek Zürich, Nachlass Schweizer, VIII-33), hg.v. Holden Kelm, Berlin 2016, online unter: http://schleiermacher-in-berlin.bbaw.de/vorlesungen/index.xql?vorlesung=aesthetik, zuletzt aufgerufen am 19.03.18.  Friedrich Schleiermacher, Ethik (1812/13), hg.v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1981, 74– 75.  Schleiermacher 1981, 33 (Anm. 98).  Schleiermacher 1981, 122 (Anm. 98).

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Spuren der künstlerischen Tätigkeit erblickt Schleiermacher bei allen Menschen, so dass die Kunst von ihm als eine allgemeine Aktivität des menschlichen Geistes bestimmt werden kann, die sich in Harmonie mit allen anderen Geistestätigkeiten befinden muss. Die Aufgabe der Ästhetik sieht er dann darin, die künstlerische Tätigkeit „treu und lükkenlos nach dem ganzen Verlauf von ihrem innersten gemeinsamen Keime aus ihren Verzweigungen folgend bis zu den äußersten Spizen der Mannigfaltigkeit ihrer Formen zu begleiten“.¹⁰¹ Das bedeutet, dass die Ästhetik in der Ethik als der Wissenschaft von den Lebenstätigkeiten des menschlichen Geistes wurzelt. Die Mannigfaltigkeit der Formen der künstlerischen Tätigkeit lässt sich hingegen nur erklären durch die unterschiedlichen natürlichen Bedingungen ihres Daseins, deren Betrachtung Schleiermacher der Wissenschaft der Natur, der Physik zuweist. Den Ausgangspunkt bildet dabei die faktische Mannigfaltigkeit der Kunstformen, also die Verschiedenheit der schönen Künste, so dass sich erst sekundär die Frage nach ihrer Einheit, weshalb sie alle Formen der einen Kunst sind, stellt. Schleiermacher meint, dass die Bestimmung der Kunst ein Doppeltes voraussetzt, nämlich zum einen „daß alle Kunst entspringt aus der Begeistung auch lebhafter Bewegung der innersten Gemüths und Geisteskräfte“, und zum andern „daß nämlich jede Kunst ihr Werk muß aufzuweisen haben“.¹⁰² So äußern sich Freude und Schmerz als innerste Gemütsregungen in Ton und Bewegung, die selbst kunstlose Naturanfänge zweier Künste, nämlich von Tanz und Gesang, sind, aus denen sich dann die weiteren Gebiete der Mimik und Musik entwickeln. Der Unterschied zwischen kunstlosen und künstlerischen Äußerungen besteht nun darin, dass die kunstlose Äußerung mit der unmittelbaren inneren Gemütsregung zusammenfällt, während dies bei künstlerischen Äußerungen, bei denen die Gemütsregungen durch Maß und Regel bestimmt sind, nicht der Fall ist. Diese Bestimmung führt Schleiermacher auf die höhere Gewalt der inneren Besinnung zurück. Kunsttätigkeit entsteht für ihn nur dort, wo „ein kräftiges Maaß dieser Besinnung vorhanden ist, welche die Naturthätigkeit über sich selbst erhebt und zu einer Offenbarung des sich seiner bewußten und die Erregung beherrschenden Geistes adelt“.¹⁰³ Das Kunstlose aber ist ohne Maaß und Regel (Sprung in der Freude, Umherwüthen im Zorn, Schrei im Schreck usw.). […] Das Künstlerische hat Maaß und Wechsel und wird dadurch Gesang und Tanz. Wo aber Maaß und Wechsel ist, da ist ein innerer Typus, Urbild, der der Ausführung vorangeht und zwischen die Erregung und sie tritt. Die Kunst ist also hier die Identität der Begeisterung vermöge deren die Aeußerung aus der inneren Erregung herrührt, und der Besonnenheit, vermöge deren sie aus dem Urbilde herrührt.¹⁰⁴

 Schleiermacher 2002, 728 (Anm. 74).  Schleiermacher 2002, 736 (Anm. 74).  Schleiermacher 2002, 737 (Anm. 74).  Friedrich Schleiermacher, Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/32), hg.v. Thomas Lehnerer, Hamburg 1984, 10 – 11.

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Die unmittelbare Identität von Erregung und Äußerung ist hier aufgehoben und die künstlerische Darstellung unmittelbar nur auf das Urbild bezogen. Nur mittelbar bezieht sich die Darstellung über das Urbild auf ein Erregungsmoment, aus dem das Urbild hervorgegangen ist. Die Kunst geht also nicht allein auf die Erregung oder Stimmung zurück, sondern „auf die von der Stimmung ausgehende freie Produktion“.¹⁰⁵ Das ist dieselbe Unterscheidung künstlerischer Darstellung von natürlichem Ausdruck, die sich in Schlegels Kunstlehre findet. Wie Schlegel erblickt Schleiermacher das Wesen jeder Kunst in dieser zwischen innerer Gemütsregung und künstlerischer Äußerung liegenden vorbildenden Besinnung, die das Zusammenfallen von Erregung und Äußerung verhindert. Während dieser Hemmung der Erregung können weitere Erregungen entstehen, die nun ihrerseits auch etwas zur künstlerischen Äußerung beitragen. Jede künstlerische Äußerung impliziert demnach drei Elemente, nämlich die Erregung, die Vorbildung und die Ausführung, wobei jedes dieser Elemente unterschiedlich stark oder schwach ausgeprägt sein kann. Es kann erstens die Ausführung dürftig sein, was bei künstlerischen Genies oft in der Anfangsperiode der Fall ist. Es kann aber auch zweitens die zur Vorbildung gehörige Erfindungsgabe gering sein, was zur Nachahmung führt, entweder indem sich der Künstler an fremden Mustern orientiert oder indem er nur Ausführender eines von anderen erzeugten Kunstwerks ist wie der Übersetzer, der Vorleser, der Kupferstecher, der Gießer oder der Instrumental- und Gesangsvirtuose. Bei Personen, wo nur die Erregung vorliegt und die Vorbildung und Ausführung völlig zurücktreten, haben wir es hingegen mit bloßen Kunstfreunden zu tun. Der dritte Fall schließlich, wo zwar Vorbildung und Ausführung gegeben sind, aber die Erregung fehlt, tritt da ein, wo nach einer Blütezeit die Kunst zum leblosen mechanischen Luxus geworden ist. Aus den drei Elementen lassen sich Schleiermacher zufolge aber nicht nur die verschiedenen Stufen im Kunstleben ableiten, sondern die vorbildende Besinnung legt auch das jeweilige Kunstgebiet fest. „Die Stimme mit ihren nachahmenden Instrumenten, die Hand mit ihren mancherlei Werkzeugen, der ganze Körper selbst bringen nur das zur äußeren Erscheinung, was in dem innern Urbilde schon gesezt ist; das innere Auge hat gesehen das innere Ohr hat gehört, und nun wird für den äußeren Sinn gearbeitet.“¹⁰⁶ Doch damit nicht genug, vielmehr liegt für Schleiermacher jeder Kunst eine spezifische innere Erregung zugrunde, die den Trieb auf eine Äußerung ursprünglich in sich schließt. Um als Kunstwerk zu gelten, muss sich das Innere nicht nur in der äußeren Produktion offenbaren, sondern diese Offenbarung muss auch erstens bewusst und gewollt sein und zweitens nichts anderes beabsichtigen als nur das Offenbaren des Inneren.¹⁰⁷ Damit greift Schleiermacher die kantische These von der Zweckfreiheit des Kunstwerks auf. Nach dieser allgemeinen Definition der Kunst wendet er sich in einem zweiten Schritt den einzelnen Kunstarten zu, wobei er auch hier wieder wie August

 Schleiermacher 1984, 18 (Anm. 104).  Schleiermacher 2002, 741 (Anm. 74).  Vgl. Schleiermacher 2002, 773 (Anm. 74).

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Wilhelm Schlegel ausgeht von der mimischen und musikalischen Bewegung. Für natürlich hält er nämlich den „Durchbruch des Tons und der Bewegung in die Rede“.¹⁰⁸ Die Rede dient in diesem Fall nicht der Mitteilung eines Gedankens und ist daher nicht Ausdruck eines vermeintlichen Wissens, sondern nur „Kundgebung einer momentanen Bestimmtheit“, und ebenso dränge die „innere Gestaltbildung“ zur wörtlichen Darstellung.¹⁰⁹ Auf diese Weise kommt es Schleiermacher zufolge zur Poesie, die von der Wiedergabe des flüchtigsten Eindrucks im Epigramm bis zur umfassendsten Darstellung des Volkslebens in Drama und Epos reicht. Die Äußerung der inneren Gestaltbildung in der äußeren Gestalt führt hingegen zu Malerei und Bildnerei oder Skulptur. Schleiermacher gelangt so zu der These, dass alle schöne Kunst zwecklose Selbstmanifestation des Künstlers sei, und da „es keine andere Selbstdarstellung giebt als vermittelst der Bewegung und des Tons oder auch der Gestaltbildung und der Rede: so ist auch, sofern die Behauptung richtig ist, dadurch zugleich bestimmt da es keine andern Künste geben kann als die dort aufgeführten“, das heißt Mimik, Musik, Malerei, Skulptur und Poesie.¹¹⁰ Dabei beschränkt Schleiermacher den Begriff des Künstlers nicht auf den Kunstproduzenten. Vielmehr bestreitet er ausdrücklich, „daß nicht Alle Künstler sind sondern nur Einige und Andere nicht“.¹¹¹ Denn zum einen finde sich Kunst überall, „wo nur die Noth des Lebens einigen Raum läßt für freies Spiel, und die Strenge und Dürftigkeit der Umgebung nicht zu herbe ist, um eine Ahndung der Anmuth aufkeimen zu lassen“.¹¹² Zum andern aber sei jeder Mensch deshalb Künstler, weil die Kunst in dem Kunstproduzenten dieselbe ist wie in dem Kunstrezipienten. Daher seien auch alle, die Kunstwerke zwar nicht schaffen, wohl aber sich aneignen, als Künstler zu betrachten. Die Kunst wurzelt somit für Schleiermacher im individuellen Gefühl, das mit Hilfe der Phantasie äußerlich dargestellt wird. Dabei wird die menschliche Kunst als Korrelat der göttlichen Schöpfung betrachtet. Wie der Mensch in der Kunst schöpferisch, so sei Gott in der Schöpfung künstlerisch. „Der Genuß dieser göttlichen Kunst ist immer wieder als die höchste Bestimmung des Menschen, durch die er selbst wieder künstlerisch werden sollte (ewige Musik und Poesie der Offenbarung) angesehn worden.“¹¹³ Schleiermacher unterscheidet zwar einerseits die Kunst in Musik, Mimik, Malerei, Skulptur und Poesie, sieht sie aber nur in einem alle Zweige vereinenden Festleben recht aufblühen, wie es in der hellenischen und in der italisch-christlichen Zeit existierte. Wie gegen ihre Geringschätzung wendet er sich allerdings auch gegen eine „Vergötterung der Kunst, wenn sie als unmittelbare Offenbarung des Göttlichen im Menschen dem Höchsten auf dem Gebiet des Wissens, nämlich der Philosophie,

     

Schleiermacher 2002, 777 (Anm. 74). Schleiermacher 2002, 777 (Anm. 74). Schleiermacher 2002, 790 (Anm. 74). Schleiermacher 2002, 780 (Anm. 74). Schleiermacher 2002, 780 (Anm. 74). Schleiermacher 1984, 7 (Anm. 104).

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gleichgesezt“ wird.¹¹⁴ Er hat dabei offenbar Schellings System des transzendentalen Idealismus und seine Kunstphilosophie der Jenaer und Würzburger Zeit vor Augen, auf die er auch mehrfach eingeht. Zwar legt sich die Vergötterung der Kunst angesichts des überwältigenden Eindrucks großer Kunstwerke und des Zusammenhangs jeder Kunstblüte mit dem politisch-religiösen Gesamtleben nahe. Aber der Einfluss der Kunst auf die Religion ist Schleiermacher zufolge keineswegs immer positiv. Gerade die Renaissance in der Zeit Leos X. zeige vielmehr, „daß die Aufnahme der Kunst in die Religion diese nur verunreinigt und zum Sinnlichen herabzieht, wie in der Leonischen Zeit [gemeint ist das Pontifikat Leos X.; J.R.], und daher das erste Bestreben gründlicher Verbesserung darauf ausging, die Kunst ganz wieder aus dem Gebiet der Religion zu vertreiben“, wie dies im Verlauf der Reformation geschehen sei.¹¹⁵ Alle Kunst hat für Schleiermacher zwar einerseits eine religiöse Tendenz, doch andererseits sei sie das freie Spiel mit dem Einzelnen, wobei beide Seiten zusammen gehören. Denn wo die Kunst nur Spiel mit dem Einzelnen sei, da werde sie geistlos, während die religiöse Stimmung niemals für sich allein in der Darstellung heraustreten könne. Schleiermacher verdeutlicht das an Gottesbildern. Denn weder ein Fetisch, den ein Primitiver anfertigt, noch ein künstlerisches Gottesbild sei Darstellung einer religiösen Stimmung, deren Anblick beim Betrachter ebensolche Stimmungen wachrufe. Vielmehr sehe man einen alten Mann, durch seine Attribute als Gott gekennzeichnet. Die von der geselligen Kunst unterschiedene religiöse Kunst müsse daher eine Mannigfaltigkeit von Einzelheiten werden. Schleiermacher unterscheidet so grundsätzlich zwischen zwei Stilen der Kunst, dem religiösen oder heiligen auf der einen und dem geselligen auf der anderen Seite. „Der relative Gegensaz von religiösem und geselligem Stil geht durch alle Kunstzweige durch. Architectur: Kirchen- und Lustgebäude; Mimik: die Begleitung religiöser Festzüge und die Maskerade, der Theatertanz; Musik: Kirchenstil und Opernstil; Poesie: Tragödie, Ode und Tändeleien; Malerei: Altargemälde und Decoration; Skulptur: Götter, Heilige und das erotische Basrelief.“¹¹⁶ Aus diesem Gegensatz erklären sich auch die entgegengesetzten Auffassungen der Kunst. Die spekulative komme von der religiösen Stimmung her, die in der religiösen Kunst ebenso äußerlich werde wie im Dogma, aber in der Kunst anders als im Dogma nicht durch Reflexion, sondern durch Darstellung. Und wie das Dogma System werden wolle, so strebe die Kunst danach, einen mythologischen oder symbolischen Zyklus auszubilden. Je mehr sich aber wie in der Scholastik und im Protestantismus das dogmatische System ausbilde, desto mehr trete der Kunstzyklus zurück, während umgekehrt in der paganen Antike das dogmatische System zurücktrete, je mehr der Kunstzyklus sich ausbilde. „Hervortreten des Kunstcyclus in der christlichen Kirche, verbunden mit Verlust der dogmatischen Bildung. Hervortreten der lezten mit Widerspruch gegen die erste im Protestantismus.“¹¹⁷ Die entgegengesetzte Auffassung    

Schleiermacher 1984, 19 (Anm. 104). Schleiermacher 1984, 19 (Anm. 104). Schleiermacher 1984, 22 (Anm. 104). Schleiermacher 1984, 23 (Anm. 104).

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geht hingegen davon aus, dass die Kunst wesentlich Spiel sei. Grundsätzlich ist Schleiermacher aber überzeugt, dass wahre Kunst immer beide Aspekte, die gesellige, spielerische und die religiöse, symbolische miteinander in sich vereinigen müsse. „Die Kunst beweist daher ihre Freiheit durch die spielende und losere Seite, und ihre innere Nothwendigkeit durch die symbolische und höhere.“¹¹⁸ Mit dem Unterschied des Religiösen und Spielerischen hängt für Schleiermacher auch der zwischen dem Heidnisch-Antiken und dem Christlich-Modernen zusammen. „Denn wie in dem Heiligen heraustritt die Offenbarung des Göttlichen in dem Menschlichen, so ist das Spielende das Losreißen des Einzelnen vom Allgemeinen und die Offenbarung des bloß Irdischen im Menschen. Dagegen wo das Geistige gleichsam nur aus dem Materiellen hervorwächst, da kann es sich auch wieder ins Materielle zurückverlieren durch unmerkliche Uebergänge.“¹¹⁹ Letzteres sei bei den paganen Göttern als den höchsten Gegenständen der antiken Kunst der Fall. In der christlich geprägten modernen Kunst sei der vornehmste Gegenstand hingegen die heilige Geschichte, in der die einzelnen Naturen nur Momente der göttlichen Offenbarung seien. Wie in der Antike die Naturseite so trete in der Moderne die Seite der Freiheit gegenüber der Natur hervor. Ein weiterer Unterschied zwischen antiker und moderner Kunst liegt für Schleiermacher darin, dass in der Antike ein größeres Bestreben vorhanden war, die Künste zu vereinigen, wogegen in der Moderne ihre Verselbständigung zunimmt. Bei den Alten sei die Musik fast niemals allein gespielt worden, während das in modernen symphonischen Konzerten anders sei. Was die einzelnen Künste betrifft, so unterscheidet Schleiermacher zwischen Mimik und Musik als begleitenden, Architektur, Skulptur und Malerei als bildenden und Poesie, Drama und Roman als redenden Künsten. „Der Hauptgegensatz ist also der, daß einige Künste sich am meisten dem Heraustreten des unmittelbaren Gefühls nähern, andere durch das producirende Erkennen, wenn es dargestellt wird, mehr der bildenden Thätigkeit.“¹²⁰ Durch alle Künste hindurch gehe aber der Gegensatz von religiösem und geselligem Stil. So sei bei der Musik zwischen Kirchenstil auf der einen und Kammer- oder Opernstil auf der anderen Seite zu unterscheiden. Wie der Opernoder Kammerstil sich durch Fülle im Gleichzeitigen und Wechsel auszeichne, so der Kirchenstil durch die strengsten Gesetze des Rhythmus, der Melodie und Harmonie, wobei, abgesehen von der Einleitung, reine Instrumentalmusik ausgeschlossen sei.¹²¹ Bei der Architektur trete der Gegensatz zwischen heiliger und profaner Architektur weniger in der Antike, wo der größte Gegensatz der zwischen Amphitheater und Tempel sei, als im christlichen Mittelalter in Erscheinung. „In einer gothischen Kirche und einer gothischen Burg haben wir den größten Gegensatz des Religiösen und des Bürgerlichen. Man wird aber keine Ueberbleibsel der gothischen Baukunst in dem bürgerlichen Style finden, welche in so hohem Grade ein Kunstwerk wären als die    

Schleiermacher 1984, 25 (Anm. 104). Schleiermacher 1984, 42 (Anm. 104). Schleiermacher 1984, 47 (Anm. 104). Schleiermacher 1984, 76 – 77 (Anm. 104).

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gothischen Dome; weil das Religiöse zu jener Zeit so bedeutend über dem Bürgerlichen stand.“¹²² Den Grund für die gegenwärtige Uneinigkeit über die Prinzipien der Baukunst sieht Schleiermacher in dem Mangel an Gemeingeist und lebendigem öffentlichen, das heißt politischem Leben. Zwar sei man inzwischen vom überladenen französischen Stil abgekommen und baue bald mehr im griechischen, bald mehr im gotischen Stil. Aber eine Belebung des allgemeinen Sinns für die Architektur erhofft sich Schleiermacher noch am ehesten von den Schauspielhäusern, insofern „die mymische Darstellung der dramatischen Poesie überhaupt in dem politischen Sinn des Volkes wurzelt“¹²³. Wie in der Architektur sieht er auch in der Skulptur einen gravierenden Unterschied zwischen Antike und Moderne. In Griechenland verband sich anders als heute bei uns mit den Götterplastiken in und an den Tempeln das Religiöse mit dem Nationalen. Zwar gab es nach der frühchristlichen Zerstörung der Götterbilder im Mittelalter skulpturale Werke, etwa Apostelstatuen in den Kirchen, die sich aber schon allein durch ihre Gewandung von nackten antiken Plastiken unterscheiden. Die klassizistische Wiederbelebung der antiken Skulptur ist laut Schleiermacher nur etwas für die Gebildeten und nichts Volkstümliches. „Wenn die Skulptur etwas wirklich Volksmäßiges sein soll, so muß sie sich entweder an unser religiöses System anschließen, oder sie muß das Historische auf solche Weise behandeln, daß es in Gemeinschaft tritt mit der gegenwärtigen Zeit.“¹²⁴ Was aber die Geschichte des Christentums angeht, so ist sie ebenso wenig volkstümlich, und auch die Kenntnis der sonstigen Geschichte reicht nicht weit zurück. Schleiermacher hält letztlich nur Denkmäler zeitgenössischer Personen für angemessen, denn das Religiöse „wird in dem Gebiet dieser Kunst immer zurückstehen müssen“¹²⁵. Bei der Malerei unterscheidet er zwischen Historien- und Landschaftsmalerei, wobei die Vereinigung beider für ihn die vollkommenste Gattung ist. Der größte Gegenstand der Historienmalerei sei die heilige Geschichte, wobei die Gestalten vielfach selbst Geschöpfe der Kunst seien, die sich ihre eigene Tradition schaffe. Während in der Antike die Skulptur überwogen habe, genieße in der neueren christlichen Zeit die Malerei den Vorrang, weil es hier weniger auf die Gestalt als vielmehr auf den Ausdruck ankomme. Grundsätzlich hält Schleiermacher es nicht für ausgemacht, „daß die Malerei nicht wieder die Höhe erreichen wird, welche sie in den Zeiten der italienischen und deutschen Malerei wirklich erreicht hat, wenn auch die Trennung der protestantischen Kirche der Kunst nachtheilig gewesen zu sein scheint“.¹²⁶ Den Geist des Protestantismus, auch wenn er keine Verehrung von Heiligen mehr kennt, hält Schleiermacher jedenfalls nicht für an sich kunstfeindlich.Von dem Überschwang allerdings, mit dem er anfangs noch ein neues Bündnis von Kunst und Religion in naher Zukunft erhoffte, ist in seinen Vorlesungen über Ästhetik nichts mehr zu spüren. Zwar glaubt Schlei    

Schleiermacher 1984, 99 (Anm. 104). Schleiermacher 1984, 100 (Anm. 104). Schleiermacher 1984, 113 (Anm. 104). Schleiermacher 1984, 114 (Anm. 104). Schleiermacher 1984, 126 (Anm. 104).

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ermacher auch jetzt noch, dass wahre ernste Kunst einer religiösen Basis bedürfe, aber der frühere Enthusiasmus ist einer Nüchternheit gewichen, die weit entfernt ist von den Kunstvisionen der Frühromantik.

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Zur ethischen Relevanz der Kunstproduktion nach Schleiermacher Einleitung Im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien wird seit 2011 jährlich ein sogenannter „Internationaler App Art Award“ verliehen, der für künstlerisch wertvolle Anwendungen für Smartphones ausgeschrieben ist. Im Jahr 2015 erhielt den Preis in der Kategorie „Künstlerischer Innovationspreis“ ein US-amerikanisches Künstler- und Programmierer-Team für die Anwendung „EDMT“.¹ Das Smartphone wird mit dieser Anwendung zugleich zum Abspielgerät und zum Instrument, indem es dem Nutzer ermöglicht, dreidimensionale, verschiedenfarbige und -klingende Animationen durch bestimmte Fingerbewegungen zu erzeugen. Bislang sind nur wenige Künstler in diesem Bereich tätig, paradigmatisch wirkte die isländische Sängerin Björk mit ihrem Multimediaalbum Biophilia (2011), das bereits Eingang in die digitale Kollektion des Museum of Modern Art gefunden hat.² Die Anwendung Biophilia erzeugt nicht nur Visualisierungen jedes einzelnen Liedes, sondern erlaubt es dem Hörer auch, in den Kompositionen vorkommende Sequenzen, Klänge und Geräusche aufgrund eines vereinfachten Notensystems spielerisch zu rekombinieren. Auch der englische Musikproduzent Brian Eno hat sein Album Reflection (2017) als eine multimediale Smartphone-Anwendung veröffentlicht – bereits mit seinen früheren Produktionen hat er dafür die Bezeichnung „generative Musik“ geprägt.³ In einem Beitrag des Deutschlandfunks vom 3. Januar 2017 beschreibt die Geschäftsführerin des Karlsruher Zentrums für Kunst und Medien, Christiane Riedel, diese audio-visuellen Anwendungen als ein Kunstprodukt, das nicht abgeschlossen ist, sondern dem Anwender ein Werkzeug oder einen „Prozess zur Verfügung stellt, in dem dann potenziell jeder auch kreativ […] und selbst Künstler werden kann.“⁴ Ich erwähne diese Beispiele aus der zeitgenössischen Kunst deshalb, weil ich auf den Zusammenhang von Kunstproduktion und Kunstrezeption aufmerksam machen möchte, um den es in diesem Beitrag gehen soll. Es scheint nämlich, dass mit dem Konzept des „generativen Kunstwerks“ die Grenze zwischen Kunstproduktion und Kunstrezeption verschwimmt, insofern der Rezipient eines solchen Kunstwerks nicht  Vgl. http://www.k3-karlsruhe.de/news/app-art-award-2015, zuletzt aufgerufen am 27.9.17.  Vgl. https://www.moma.org/explore/inside_out/2014/06/11/biophilia-the-first-app-in-momas-collecti on, zuletzt aufgerufen am 27.9.17.  Vgl. http://www.deutschlandradiokultur.de/eno-bjoerk-und-co-wenn-musiker-mit-apps-experimentie ren.2177.de.html?dram:article_id=375353, zuletzt aufgerufen am 22.9.17.  Vgl. http://www.deutschlandfunkkultur.de/kunst-appart-ermoeglicht-neue-symbiosen.1008.de.html? dram:article_id=375393, zuletzt aufgerufen am 27.9.17. https://doi.org/10.1515/9783110569520-026

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nur passiv aufnimmt, was er sieht und hört, sondern dasselbe auch potenziell weiter entwickelt und damit selbst zum Künstler wird. Ähnliche Vorstellungen vom Kunstwerk als ein im Rezipienten Fortwirkendes finden sich bereits in der frühromantischen Poetik, etwa bei Friedrich Schlegel. Allerdings geht dieser noch einen Schritt weiter, indem er die Rezeption zu einer literarischen „Kritik“ ausweitet und den Kritiker als einen „Autor in der 2 t[en] Potenz“ betrachtet.⁵ Insofern kommt dem Rezeptionsvorgang nicht nur die Bedeutung einer Realisierungsweise des Kunstwerks zu, sondern auch die einer kritischen Reflexion, Erwiderung und eines Weiterbildens des Rezipierten. Mein Beitrag geht aus von der Annahme, dass Friedrich Schleiermachers philosophische Ethik einen theoretischen Rahmen zur Verfügung stellt, um die Problematik des generativen Kunstwerks näher zu erörtern, insofern in ihr die allgemeinen Regeln der Kunstproduktion und -rezeption, der Mitteilung und Empfänglichkeit für symbolische Darstellungen enthalten sind. Schleiermachers Ethik legt die in der Ästhetik näher behandelte künstlerische Produktivität in ihrer allgemeinen Bedeutung und ethischen Relevanz dar, womit Schleiermacher auf einen Begriff der Kunst abzielt, der zugleich die Selbstständigkeit und die soziale Bedeutung der Kunst ins Auge fasst. In Hinblick auf die ethische Relevanz der Kunst gehe ich davon aus, dass diese mittels des Verhältnisses von Kunst und Religion näher bestimmt werden kann, wie es insbesondere in den Ethik-Kollegien ab 1805/06 in kritischem Anschluss an die Konzeption der „Kunstreligion“ in den Reden von 1799 entwickelt wird. Zentral für diese Problematik ist die in der „Güterlehre“ der Ethik von 1812/13 beschriebene Analogie, wonach sich die Sprache zum Wissen so verhält, wie die Kunst zur Religion, die Kunst also ein Medium der Religion ist.⁶ Folgt man dieser Analogie und berücksichtigt Schleiermachers Annahme, dass jede historische Religion ein besonderes Kunstsystem ausprägt, so wird bereits eine wesentliche Quelle der Kunstproduktion sichtbar: die Religiosität oder Innerlichkeit des Individuums. Schleiermacher spricht aber auch von der Bedeutung eines solchen Kunstsystems als einer Bildungsstätte für das Gefühl, wonach eine Ansammlung von Kunstwerken dazu beitragen kann, den Kunstsinn jedes einzelnen Rezipienten anzuregen und kritisch auszubilden, womit die ethische Bedeutung der Kunstproduktion angedeutet ist.⁷ Um diesen Zusammenhang näher zu erläutern, werde ich zunächst auf den besonderen produktionsästhetischen Ansatz von Schleiermachers Ästhetik von 1819 eingehen (1), um daraufhin die allgemeine ethische Bedeutung der Kunst anhand des Verhältnisses von Kunst und Religion in den Ethikentwürfen von 1805/06 und 1812/13 textnah zu rekonstruieren (2). Abschließend möchte ich die ethische Relevanz der Kunstproduktion, wie sie sich in der Ästhetik und der Ethik darstellt, in Hinblick auf  Vgl. Friedrich Schlegel, Philosophische Fragmente. Zur Philosophie 1797, KFSA II/18, hg.v. Ernst Behler, München u. a. 1963, 106 [Nr. 927].  Vgl. Friedrich Schleiermacher, Ethik (1812/13), hg. u. eingel. v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1990, 74– 75, § 228.  Vgl. Schleiermacher 1990, 122, § 213 (Anm. 6).

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eine Theorie der Zirkulation, Verbreitung und Kritik ästhetischer Wissensformen zusammenfassen (3).

1 Schleiermachers Produktionsästhetik Gleich zu Beginn seiner Ästhetik von 1819 grenzt Schleiermacher seine Konzeption von Auffassungen ab, in denen Kunst auf die Empfindung und die formalen Kriterien der Beurteilung von Kunstwerken reduziert wird, wie etwa in der Ästhetik der Empfindsamkeit in der Mitte des 18. Jahrhunderts oder in Kants Kritik der Urteilskraft (1790/93). Diese, auf die Rezeption von Kunstwerken konzentrierten Ansätze, würden allein die passive Seite des Begriffs der Kunst erfassen und damit den Gegenstand unterschlagen, der die schöne Empfindung oder das Wohlgefallen hervorruft. Auch den Punkt der Erzeugung und Herstellung von Kunstwerken könnten sie nicht erklären. Schleiermacher geht es nun nicht um eine einfache Umkehrung solcher formalästhetischer Ansätze zugunsten der Produktion, sondern um eine graduelle Vermittlung von künstlerischer Produktivität und ästhetischer Urteilsfähigkeit. Damit ist Schleiermachers Ästhetik gegen einen Typus der Erkenntnistheorie gerichtet, in der die Wahrnehmung äußerer Eindrücke als eine bloße Reiz-Reaktion und nicht als eine aktive Aneignung des Wahrgenommenen betrachtet wird, wonach Kunstwerke als eine mechanische Nachahmung der äußeren Natur erscheinen müssen und nicht als das Resultat der freien Produktivität des menschlichen Geistes. Nach Schleiermacher ist also nicht erst die virtuose Aufführung einer Klavierpartitur eine geistige Aktivität, sondern bereits das bewusste Wahrnehmen von Geräuschen und Klängen. Diesem Ansatz liegt die spekulative Annahme zugrunde, dass die ursprünglichen Formen des Seins, wie sie in der Natur hervortreten, mit den Formen des Geistes identisch sind und dieser lebendige Geist diese Formen ähnlich wie die Natur in selbsttätiger Weise hervorbringt. Dies bedeutet für das Konzept der Kunstproduktion, dass bereits der Traum die Vorstufe eines Kunstwerks darstellt, insofern der menschliche Intellekt darin selbsttätig Bilder und Gedanken in Beziehung setzt, auch wenn ein äußerer Anreiz dazu nicht unmittelbar gegeben ist. Allerdings fehlt dem Traum das für die künstlerische Produktivität wesentliche Moment der „Besinnung“, die Schleiermacher als einen bewussten Akt darlegt, der die Kunstausübung von einem alltäglichen Gefühlsausdruck unterscheidet. Kunstproduktion ist demnach eine bewusste Aktivität, in der das Individuum aufgrund eines besonderen Gefühlszustands beziehungsweise einer Stimmung in eine spezifische Begeisterung für einen Bereich des Sinnlichen (Töne, Farben, dreidimensionale Körper oder Ähnliches) versetzt wird. Aus dieser Stimmung heraus wird es erfinderisch und kreativ tätig und bildet innerlich Gestalten beziehungsweise Gedanken und Bilder, indem es auf die ursprünglichen Formen des Geistes reflektiert. Aufgrund dieser Reflexion wird die künstlerische Gestaltbildung an ein Allgemeines zurückgebunden, während die äußere Darstellung durch die Individualität des Künstlers bedingt ist. Für diesen Zusammenhang von Begeisterung, Er-

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findung und äußerer Darstellung findet sich in der Ästhetik von 1819 die Kurzformel: „Organischwerden der Stimmung“.⁸ Dass dieser produktionsästhetische Ansatz auch rezeptive ästhetische Akte wie das Geschmacksurteil beziehungsweise das Hören oder Betrachten eines Kunstwerks umfasst, bedeutet, dass auch in der Kunstrezeption Begeisterung entstehen kann, jedoch ohne dass dabei das erfinderische oder das darstellende Moment hervortreten muss. Daher kommt es bei der reinen Kunstrezeption zu keiner äußeren Darstellung, sondern zu einer Bildung des inneren Kunstsinns aufgrund der Ablehnung oder Anerkennung des Rezipierten. In Bezug auf die Frage, wie der Inhalt, der in der Kunstproduktion erzeugt wird in der Rezeption aufgenommen, erkannt oder verstanden werden kann, schreibt Schleiermacher in seinem Kollegheft 1819: „Ebenso soll durch das Werk nur was in der Seele des Urhebers war in andere Seelen (ohne irgend einen bestimmten Zweck denn er weiß ja nicht in welche) übergetragen werden. Das übergetragene ist aber nicht das an sich unübertragbare Gefühl, über dieses bleiben wir vielmehr immer zweifelhaft, sondern das Urbild selbst. Also die erkennende Function bleibt die dominirende.“⁹ Ein Kunstwerk ist also ambivalent: Einerseits ist es ein genuiner Ausdruck eines Gefühls beziehungsweise der Seele des Künstlers, andererseits kann es als solches nicht eindeutig erkannt werden, weil das ausschlaggebende Gefühl des Künstlers nicht übertragbar ist. Vielmehr ist an einem Kunstwerk nur das eindeutig erkennbar, worauf der Künstler in seiner spezifischen Begeisterung ursprünglich reflektiert hat: das Urbild – dieses mitzuteilen demnach eine implizite Absicht seiner Produktivität ist. Insofern das Urbild allgemeine Formen des Geistes bezeichnet, sind diese im Kunstwerk also potenziell für jeden Rezipienten erkennbar und auch verständlich. Schleiermacher nennt ein Kunstwerk ideal oder auch schön, wenn es diese ursprünglichen Formen in elementarer und organischer Hinsicht vollkommen offenbart. Zu dieser erkenntnistheoretischen tritt eine geschichtliche Komponente der Rezeption: Nach Schleiermacher erfüllt der Kunstschatz einer Gemeinschaft beziehungsweise Nation eine kanonische und damit orientierende Funktion für den Kunstsinn ihrer Individuen: „An sich betrachtet aber ist jede nationelle Kunstwelt ein Individuum d. h. nur durch eine Unendlichkeit der Anschauung zu erschöpfen. Eine allgemeine Kenntniß derselben in ihren Unterschieden muß die Geschichte der Kunst mittheilen.“¹⁰ Der Kunstsinn ist demnach auch an die Geschichtlichkeit der Kunst beziehungsweise an die von der Kunstgeschichte zu vermittelnden Kenntnisse gebunden, die dem Zusammenhang einer Nation und darüber hinaus einer Kultur angehören. Dass diese Entwicklung der Kunst mit der Geschichte der Religion in Wechselwirkung steht, lässt sich aus einer Nachschrift des Ästhetik-Kollegs von 1832/ 33 entnehmen, wo es in Hinblick auf die Reformation heißt:

 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Ästhetik, hg.v. Rudolf Odebrecht, Berlin / Leipzig 1931, 78.  Vgl. Schleiermacher 1931, 64 (Anm. 8).  Vgl. Schleiermacher 1931, 90 (Anm. 8).

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Im Anfang [des] 16. Jahrhunderts war Empfänglichkeit für Kunst in unsrem Volke im Allgemeinen nicht groß, und selbst die nationale Poesie lebte nicht in der Masse; nun entstand die Reformation, es war eine Reaction des Nationalbewußtseyns in seinem eigenthümlichen Charakter gegen die Unterdrükung und Mißleitung des religiösen Princips und mit diesem erwachte nun [der] Sinn für den religiösen Gebrauch der Poesie und Musik, so daß gerade dieses zur Ausweitung der Reformation wesentlich beytrug.¹¹

Zu den Bedingungen der Verbreitung und damit der allgemeinen Bildung des Kunstsinns werden in dieser Nachschrift zudem der öffentliche Geschmack und die Medien der Kunstrepräsentation, wie etwa der Kupferstich und die Lithografie, gerechnet: „Unleugbar haben diese Erfindungen den großen Werth, den Sinn für die Kunst zu weken und [zu] verbreiten. – Es gibt außerdem noch einen Maaßstab für den Kunstcharakter eines Zeitraums, auf was für Gegenstände sich diese vervielfältigenden Gebiete werfen. Da Vervielfältigung ihr Zwek ist, so gehört dazu, den Geschmack des Publikums zu kennen, und nur zu nehmen, was allgemeinen Beifall hat.“¹² Hier kann an Schleiermachers Aussage erinnert werden, dass es einen Irrweg der Kunst darstellt, wenn ein Künstler allein für einen bestehenden Geschmack arbeitet, an dem er selbst nicht mitgewirkt hat. Der Zusammenhang von Kunstproduktion und -rezeption wird in der Ästhetik somit aufgrund der freien künstlerischen Produktivität dargelegt, die sich im Akt der Besinnung auf allgemeine Formen des Geistes bezieht, die als solche in schönen Kunstwerken für den Rezipienten offenbar und in ihrer spezifischen Gestaltung auch ästhetisch beurteilbar werden.

2 Zu den Ethik-Vorlesungen von 1805/06 und 1812/13 Im einleitenden Teil zur Güterlehre heißt es, dass wenn die erkennende Funktion mit dem Charakter der Individualität oder Eigentümlichkeit hervortritt, dies die Sphäre des „Gefühls“ in seiner „Unübertragbarkeit“ bezeichne.¹³ Nach Schleiermacher ist es aber das Merkmal einer jeden „Einwirkung nach innen, die ein Gefühl“ wird, durch „organische Notwendigkeit wieder nach außen“ zu drängen – dieses „Aeußerlichwerden des Gefühls“ trage aber nicht den Charakter der „Sprache“ wie das identische Erkennen (Wissenschaft), sondern einen eher symbolischen.¹⁴ Wenn also der implizite Vernunftgehalt des Gefühls durch äußere Anregung organisch zur Darstellung treibt, ist das Resultat ein Symbolisches, das Schleiermacher „im Großen angesehn“  Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen über die Ästhetik (1832/33), hg.v. Holden Kelm, Berlin 2016, 70, online unter: http://schleiermacher-in-berlin.bbaw.de/vorlesungen/index.xql, zuletzt aufgerufen am 29.9.17.  Vgl. Schleiermacher 2016, 195 (Anm. 11).  Vgl. Friedrich Schleiermacher, Brouillon zur Ethik 1805,Werke, Bd. 2, hg.v. Otto Braun und Johannes Bauer, Aalen 1981 [2. Neudruck Leipzig 21927], 75 – 239, hier 97.  Vgl. Schleiermacher 1981, 98 (Anm. 13).

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als „Kunst“ bezeichnet.¹⁵ Vermittels der „Fantasie“ („die aber Vernunft ist unter dem Charakter der Eigenthümlichkeit“) bilden sich „Ton, Gebärde, vorzüglich Antlitz, Auge“ und damit die individuellen Organe der symbolischen Darstellung des Gefühls aus, die in diesem Sinn ein „Abspiegeln der Individualität im Objektiven“ ermöglichen.¹⁶ Dieses Äußerlichwerden des Gefühls ist die allgemeine und produktive Formel der Kunstentstehung in Schleiermachers philosophischer Ethik. Wie gezeigt wird es in der Ästhetik von 1819 – den Terminus „Gefühl“ durch „Stimmung“ ersetzend – dann heißen: „Organischwerden der Stimmung“.¹⁷ Doch während die Kunstproduktion in der Ästhetik durch die „Besinnung“ und das „Urbild“ näher bestimmt wird, bleibt sie in der Ethik weitgehend auf die allgemeine Bedeutung beschränkt, Darstellungsfunktion des Gefühls zu sein. Eine Parallele zu dieser allgemeinen Bedeutung der Kunst gibt es auch im Manuskript zur Christlichen Sittenlehre, die Schleiermacher 1809/10 in Berlin vorgetragen hat. Darin zählt er das „darstellende Handeln“ (noch vor) dem „verbreitenden“ und dem „reinigenden“ Handeln (das im Manuskript jedoch nicht mehr enthalten ist) zu den grundlegenden Handlungsformen des christlichen Lebens. In dieser „Beilage A“ schreibt Schleiermacher zum darstellenden Handeln: „Alles darstellende Handeln ist ein zusammengeseztes von Kunstelementen.“¹⁸ In der Erläuterung heißt es dann: „Alle Kunst im höheren Sinne ist Darstellung und geht unmittelbar von einem Gefühle aus, welches nicht als Lust oder Unlust gesezt wird. Alle Kunst im großen angesehen ist immer mit der Religion in Verbindung. […] Auch alles darstellende Handeln des einzelnen wird künstlerisch, wenn auch nur mimisch.“ In dieser Aussage zeigt sich, dass Schleiermacher das künstlerische Moment des darstellenden Handelns – die Verbindung von Religion und Kunst – vor allem in der Sprach-, Gesichts-, oder Gebärdenmimik sieht, wobei in diesem Kontext etwa das Predigen gemeint sein dürfte. Wenn Schleiermacher daran anschließend „Religion“ nicht nur als Vollendung, sondern auch als „die eigentliche Sphäre des Gefühls im sittlichen Sein“ bezeichnet, so liegt hierin die Verbindung des künstlerischen Handelns zur Religiosität des Subjekts.¹⁹ In einer anonymen Nachschrift dieses Kollegs heißt es dazu: Wenn es einen Menschen auf der Stufe des sittlichen Lebens gäbe, in dem nicht ein sittliches Gefühl irgendein Bilden, es sei nun ein poetisches oder ein musikalisches oder ein plastisches Darstellen und ganz todt wäre, so gäbe es gar kein sittliches Gefühl. So gewiß also wir sittlich fühlen, geht auch ein inneres Bilden vor, welches als Kunstelement hervortreten muß, so oft sich ein specifisch gebildetes Organ dessen bemächtigte.²⁰

 Vgl. Schleiermacher 1981, 98 (Anm. 13).  Vgl. Schleiermacher 1981, 98 – 99.182 (Anm. 13).  Vgl. Schleiermacher 1931, 78 (Anm. 8).  Vgl. Friedrich Schleiermacher, Die christliche Sitte, hg.v. Ludwig Jonas, Berlin 21884, Beilage A, § 86.  Vgl. Schleiermacher 1981, 100 (Anm. 8).  Vgl. Vorlesungsnachschrift von Schleiermachers Kolleg zur philosophischen Ethik von 1805/06, „Anonymus Lübeck“, Bibliothek der evangelisch-reformierten Gemeinde Lübeck, KIII26, 52.

Zur ethischen Relevanz der Kunstproduktion nach Schleiermacher

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Weil das Bewusstsein dieser sittlichen Dimension implizit voraussetzt, dass sich das Subjekt als „Identität mit dem Absoluten“ setzt, so folgt daraus für Schleiermacher letztlich, dass „Kunst und Religion“ „zusammenfallen“.²¹ Im Ethik-Kolleg 1812/13 ändert sich nichts Grundlegendes an dem dargestellten Verhältnis von Kunst und Religion, es wird allerdings ausdifferenziert. Bezüglich des wesentlichen Inhalts der Kunst bringt Schleiermacher wiederum die Religion zur Geltung, welche die Kunst als eines Mediums bedarf: „Wenn demnach das Bilden der Fantasie in und mit seinem Heraustreten Kunst ist, und der Vernunftgehalt in dem eigenthümlichen Erkennen Religion, so verhält sich Kunst zur Religion wie Sprache zum Wissen.“²² Religion sei aber nicht nur im engeren Sinn der Inhalt der Kunst, wie er in der „Dialektik“ untersucht werde, sondern auch im allgemeinen Sinn, als „alles reale Gefühl“ umfassend.²³ Damit werden graduelle Unterschiede zwischen der höchsten und der allgemeinen Kunstausübung sichtbar. Auch wird ein systematischer Zusammenhang zwischen Kunst, Religion und spekulativer Wissenschaft angedeutet, wonach die Religion als individuelles Erkennen und das allgemeine Wissen in der Dialektik, das Verhältnis von Religion (als alles reale Gefühl umfassend) und Kunst (im Allgemeinen) als dessen Darstellung in der Ethik und die Kunst (im Besonderen) als freie Produktivität beziehungsweise Darstellungsmedium des Gefühls und der Stimmung in der Ästhetik verortet werden. Mit der Betrachtung der „vollendeten ethischen Formen“ kommt schließlich die Kunstrezeption in den Blick der Theorie: „Die höchste Tendenz der Kirche ist die Bildung eines Kunstschazes, an welchem sich das Gefühl eines jeden bildet, und in welchem jeder seine ausgezeichneten Gefühle niederlegt und die freien Darstellungen seiner Gefühlsweise, so wie sich auch jeder, dessen darstellende Production mit seinem Gefühl nicht Schritt hält, Darstellungen aneignen kann.“²⁴ Der Zusammenhang von Kunstproduktion und -rezeption stellt sich hierbei so dar, dass die im Kontext einer institutionalisierten Religion, wie der christlichen Kirche, entstandenen Kunstwerke von ihren Mitgliedern gesammelt und aufbewahrt werden, damit jeder, der daran interessiert ist, seine Religiosität, seine Fantasie und Darstellungsfähigkeiten sowie auch seinen Kunstsinn an ihnen bilden kann. Der primäre Ort der Bildung, Sammlung, der Rezeption und des Austauschs von Gefühlen ist demnach die Kirche als soziale Gemeinschaft. Die ethische Relevanz der Kunstproduktion zeigt sich hierbei darin, dass die Wechselwirkung von Religion und Kunst eine symbolische Kommunikation ermöglicht. Denn mit der Kunst wird etwas mitgeteilt, was eigentlich gar nicht direkt mitteilbar ist, nämlich das individuelle oder religiöse Gefühl. Diese indirekte Mitteilung ist an sinnliche Ausdrucksformen wie Mimik, Gestik, Sprachmimik oder Ähnliches gebunden. Nach Schleiermacher kommt es auf den impliziten Vernunftgehalt dieser    

Vgl. Schleiermacher 1931, 100 (Anm. 8). Vgl. Schleiermacher 1990, 74– 75, § 228 (Anm. 6). Vgl. Schleiermacher 1990, 75, § 229 (Anm. 6). Vgl. Schleiermacher 1990, 122, § 213 (Anm. 6).

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Ausdrucksformen an, so dass mit der künstlerischen Darstellung etwas entsteht, was für andere Individuen nicht nur erkennbar, sondern auch verständlich, anerkennbar oder verwerflich ist. Sie können damit auch einen Gefühlszustand oder eine Stimmung hervorrufen, die eine kritische Erwiderung oder eine neue Ausdrucksform zur Folge hat. Symbolische Darstellungen bewirken also im Rezipienten etwas, sie wirken auf ihre Innerlichkeit und ihr sittliches Selbstverständnis, weil sie eine Einbildung des Allgemeinen im Einzelnen sind und insofern eine Reflexion des Individuums im Allgemeinen ermöglichen. Die anhand von Ästhetik und Ethik dargelegte Theorie der Kunst Schleiermachers erlaubt es schließlich, eine kritische Analyse der eingangs erwähnten Beispiele vorzunehmen, wenngleich es zweifelhaft ist, ob sie einen Ort in Schleiermachers System der Künste einnehmen könnten. Wird ein Rezipient durch eine symbolische Darstellung, die durch die generative audio-visuelle Anwendung hervorgebracht wird, in eine produktive Begeisterung versetzt, die ihn nicht nur in reinem Wohlgefallen belässt, sondern auch dazu veranlasst, die erzeugten Darstellungen ästhetisch zu bewerten, selbsttätig umzubilden und damit seiner erregten Stimmung eine äußere Gestalt zu geben, so könnte durchaus von einer Kunstausübung im Sinne Schleiermachers gesprochen werden. Allerdings ist von diesem „produktiven Rezipienten“ in einem viel geringeren Grade als etwa von einem Pianisten, der eine Partitur auf seinem Instrument spielt, gefordert, das ihm vorliegende Material auch inhaltlich zu beherrschen. Dazu kommt, dass dieser „produktive Rezipient“ in der Regel selbst sein erster und vielleicht auch sein letzter Rezipient sein dürfte, womit der Kreislauf von Kunstproduktion und -rezeption auf ein Individuum reduziert wäre; der kommunikative Aspekt wäre suspendiert und es bliebe bei einer Art indirekter Selbstmitteilung, deren ethischer Wert durchaus fraglich ist. Aber auch wenn dieser Rezipient seine Produktionen mitteilen würde, könnte wohl nach Schleiermacher nur von einer „erweiterten Rezeption“ und keiner genuinen Kunstproduktion gesprochen werden, weil dieser produktive Rezipient in letzter Hinsicht der verlängerte Arm des Künstlers beziehungsweise Programmierers des generativen Kunstwerks bliebe.

3 Schluss Ähnlich wie seine Zeitgenossen Schelling oder Hegel lehnt Schleiermacher eine konkrete Zweckbestimmung der Kunst ab. Ihr wird in ihrem Bereich der freien künstlerischen Produktion kein pädagogischer, politischer, wissenschaftlicher oder anderweitiger Zweck zugewiesen, womit er dem Kantischen Credo von der Kunst als einer „Zweckmäßigkeit ohne bestimmten Zweck“ Rechnung trägt. Gleichwohl ist die Ästhetik als eine kritische Disziplin angelegt, deren allgemeiner Grund die philosophische Ethik ist. Die künstlerische Produktivität erhält aus dieser Perspektive allerdings einen notwendigen Bezug auf den allgemeinen Zweck der Ethik: die progressive Beseelung der Natur durch die Vernunft. Insofern kommt der Kunstproduktion eine gewisse systematische Ambivalenz zu, da die ethische Perspektive ihre Verbindung

Zur ethischen Relevanz der Kunstproduktion nach Schleiermacher

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mit anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens wie Wissenschaft, Recht und Handel berücksichtigt, während die ästhetische Perspektive ihre Unabhängigkeit von diesen Bereichen zu ihrem Auszeichnungsmerkmal macht. Schleiermachers produktionsästhetischer Ansatz ist auf die künstlerische Tätigkeit fokussiert und sieht in der Abfolge von spezifischer Begeisterung, Urbildung und äußerer Darstellung den Kern jeder freien Kunstproduktion. Ein Kunstwerk entsteht demnach aus einer bewussten (besonnenen) Gestalt- und Gedankenbildung, die aufgrund einer Reflexion auf ein Urbild einen allgemeinen Aspekt aufweist, der in der individuellen Darstellung rezipierbar und (an)erkennbar ist. Damit stellt Kunst eine – wenngleich indirekte – Art der Kommunikation dar. Die ethische Bedeutung der Kunstproduktion läuft darauf hinaus, dass die allgemeinen Formen des Geistes sich im Kunstwerk offenbaren und aufgrund des kommunikativen Aspekts sukzessive – abhängig vom historischen Kontext – auch die kunstferneren Bereiche einer Gesellschaft durchdringen und damit den allgemeinen Kunstsinn ausbilden können. In den betrachteten Ethik-Entwürfen legt Schleiermacher diese ethische Bedeutung der Kunst durch ihren Bezug auf die Religion dar, die er als eine Art Quelle der Kunstproduktion darlegt. Jede künstlerische Darstellung ist demnach eine indirekte Mitteilung und damit ein Medium der Religiosität ihres Produzenten. Als sittliches Gefühl enthält diese Religiosität auch die Intention, von anderen verstanden werden zu können. Die Kirche als Form der vollkommenen Wechselwirkung von Kunst und Religion, als Bildungs- und Sammlungsstätte von Gefühlen und deren Darstellungen, zeigt im Besonderen, worauf die ethische Bedeutung der Kunst im Allgemeinen hinausläuft: die Bildung und Kultivierung des Kunst- und damit auch des Gemeinsinns. Denn indem sich im Kunstwerk das Allgemeine individualisiert, ermöglicht es dem Rezipienten, sich seiner Stellung in der für ihn maßgeblichen Konkretion dieses Allgemeinen, dem gesellschaftlichen Zusammenleben, bewusst zu werden. Insofern der Rezipient künstlerischer Darstellungen auch zum Kunstproduzent werden kann, indem das Aufgenommene nicht nur verinnerlicht, sondern auch kritisiert und ferner zum Anlass neuer freier Produktionen genommen wird, zeichnet sich in der Ethik schließlich eine Theorie der Zirkulation und der Reproduktion ästhetischer Wissensformen ab. Eine Hermeneutik der Kunst, welche die allgemeinen von den individuellen Bestandteilen eines Kunstwerks zu sondieren erlaubt, scheint Schleiermacher nicht für nötig gehalten zu haben. Sein Verständnis der literarischen Kritik zeichnet sich jedoch im Ausgang dieser Rezeptions- und Zirkulationstheorie ab, die darüber hinaus einen Erklärungsansatz dafür bietet, wie sich eine Kultur aufgrund der Erzeugung, Verbreitung und Verinnerlichung von symbolischen Formen erhalten und entwickeln kann. Der Grad, in dem die Einheit von Kunst und Religion von einer Gesellschaft zu einem bestimmten historischen Zeitraum gelebt und praktiziert wird, kann demnach als ein Indikator für die Verwirklichung der Vernunft in ihr betrachtet werden. Wenn Kunst somit eine grundlegende Funktion des gesellschaftlichen Zusammenlebens darstellt, dann kann von ihrer Kultivierung zugleich auch eine Kultivierung dieses Zusammenlebens erwartet werden.

Emanuela Giacca / Rom (Italien)

Ethik, Religion und Geselligkeit Subjektivität im Blick auf die Entwicklung von Schleiermachers ethischem Denken Was bedeutet Kommunikation, und was ist insbesondere die Bedeutung der sozialen Kommunikation bei Friedrich Schleiermacher? Die Antwort auf diese Frage stellt in indirekter Weise auch eine Antwort auf die Frage der Subjektivität dar. Die Entwicklung des Denkens Schleiermachers von den Jungendschriften, über die Berliner Zeit bis zu den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre kann anhand dreier Begriffe strukturiert werden, deren wechselseitige Beziehungen im Folgenden genauer herausgearbeitet werden. Diese drei Begriffe sind meiner Meinung nach Ethik, Religion und Geselligkeit. ¹ Ihre vielfältigen gegenseitigen Verflechtungen stellen ein „offenes“ theoretisches Instrument zur Verfügung, durch dessen methodologischen Ansatz bei einer Definition der Subjektivität die Gegenpole vermieden werden können, zwischen denen Schleiermacher selbst die Grundlagen seiner Sittenlehre gelegt hat: Subjektivismus, Rationalismus und Formalismus auf der einen Seite, Objektivismus, Naturalismus und Eudämonismus auf der anderen Seite.

1 Die Jugendschriften Nachdem schon in den Anmerkungen zu Aristoteles von 1788 das Thema der Geselligkeit auftaucht, genauer gesagt unter der Form der Freundschaft, beschäftigt sich Schleiermacher in seinen ersten beiden philosophischen Schriften Über das höchste Gut und An Cecilie vor allem mit der Erkenntnis des höchsten Gutes und mit dem Binom Ethik-Religion. Die zweite Schrift behandelt die Alternative zwischen Fanatismus und praktischer rationaler Religion in Verbindung mit den Motiven der Theodizee und der Vereinbarung von Freiheit und Notwendigkeit.² Im Schreiben Über das höchste Gut versucht Schleiermacher hingegen, die wechselseitige Abhängigkeit von Glückseligkeit und Tugend, Wohlbefinden und Wohlverhalten abzubauen, die nach seiner Auffassung weite Teile der antiken Philosophie und auf paradigmatische Weise

 Zur Vertiefung der historisch-philosophischen Aspekte dieser These, deren theoretische Elemente im vorliegenden Beitrag zusammengetragen werden, erlaube ich mir, auf mein Buch La formazione del pensiero etico di Schleiermacher, Pisa / Roma 2015 zu verweisen; vgl. insbes. die Einleitung (13 – 24) zur Verortung dieser Position innerhalb der aktuellen Forschungsdiskussion.  Vgl. Friedrich Schleiermacher [Vermutlich 1790], An Cecilie, KGA I/1, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 189 – 212, hier 211: „Das Herz läßt ihn fühlen daß wenn auch die Verbindlichkeit zur Tugend von allem übrigen unhabhängig allein in dem Wesen der Vernunft gegründet wäre, diese Einrichtung nur ein Fehltritt der Natur und eine traurige Notwendigkeit bleiben würde, wenn es nicht eine höhere Bestimmung des menschlichen Geistes gäbe […]“. https://doi.org/10.1515/9783110569520-027

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die praktische Philosophie Kants kennzeichnet, und will auβerdem die retributive Optik zu Fall bringen, die jener Abhängigkeit zu Grunde liegt.³ Diese Dekonstruktion besteht in einer umfassenden Kritik der von Kant entwickelten Postulatenlehre, einer Kritik, die auch in Wissen, Glauben und Meinen (1790 – 1793) zu finden ist. Dagegen schlägt Schleiermacher ein neues Modell der Beziehung zwischen Sittenlehre und Glückseligkeitslehre vor, in welchem die Autonomie der beiden Bereiche dem Glück Platz lässt, um einen relativen moralischen Anreiz zu bieten⁴: „So fließen Sitten und Glückseligkeit zusammen. Der nemliche Zustand des Empfindungs und Begehrungsvermögens der uns vor dem Erliegen unter dem Unglück sichert, eben dieser macht uns auch der seligen Einflüße des moralischen Sinnes deßen Herrschaft uns allein zufrieden machen kann in einem höheren Grad empfänglich.“⁵ Schleiermacher führt die ethische Diskussion auf die Ebene des Lebens und der konkreten Erfahrung zurück und kommt auf diese Weise zu einer einschlieβenden, immanenten Ethik, die die menschliche Natur in ihrem Ganzen zu umfassen weiβ und die Unterschiedlichkeit der Gründe versteht, die die Handlung bedingen.⁶ Die moralische Subjektivität wird folglich in der verhängnisvollen Spannung definiert, die

 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Über das höchste Gut [1789], KGA I/1, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 81– 125, hier 104: „Aber da diese Würdigkeit sich blos auf den etwanigen Gebrauch der Güter, auf die Anwendung uneigennütziger Gesinnungen in concreto bezieht, und der persönliche Werth nicht auf den hervorgebrachten Handlungen die nicht in unsrer Gewalt stehn, da sie von den Umständen abhängen, sondern nur auf den Gesinnungen beruht, so wird es in Absicht auf diesen persönlichen Werth, auf den sich doch das höchste Gut allein beziehen kann, sehr gleichgültig seyn, ob der Besiz der Glückseligkeit mit der Würdigkeit dazu wirklich verbunden ist oder nicht, und diese Verbindung wird daher nicht als nothwendig gedacht werden können.“  Es gibt bei Schleiermacher keine konstitutive Beziehung mehr zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit: vgl. Bernd Oberdorfer, Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit. Die Theorieentwicklung Friedrich Schleiermachers bis 1799, Berlin / New York 1995, 204; Günter Meckenstock, Deterministische Ethik und Kritische Theologie. Die Auseinandersetzung des frühen Schleiermacher mit Kant und Spinoza 1789 – 1794, Berlin / New York 1988, 34: „Schleiermacher bestimmt die Glückseligkeitslehre primär asketisch als Vermeidungsstrategie von Unglückseligkeit.“  Schleiermacher 1984, Über das höchste Gut, 125 (Anm. 3).  Bereits in den Notizen zu Kant – eine kleine Sammlung von Notizen zur Kritik der praktischen Vernunft – und im zeitgenössischen Freiheitsgespräch wird die Kritik der Abstraktheit und des jenseitigen Charakters der praktischen Philosophie Kants mithilfe des von englischen Illuministen veränderten Begriffes des Gefühls verstärkt. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Notizen zu Kant: Kritik der praktischen Vernunft [Vermutlich 1789], KGA I/1, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 127– 134, hier 134: „Die positive Ansicht des moralischen Gesezes (vermöge deren es uns einen neuen Werth vorstellt) ist ganz unterschieden von der negativen, und diese allein kann kein Gefühl hervorbringen welches sich auf jene bezieht; von dieser allein aber erkannte ich eine Wirkung aufs Gefühl a priori. 4.) Es ist kein Gefühl fürs Gesez (à la Hutcheson). In der Erläuterung was es nun aber in Absicht aufs Gesez ist wird eine unmittelbare Causalität des leztern vorausgesezt.“ Zur Problematik der sittlichen Gesinnung und der Aufnahme der englischen Aufklärung bei Schleiermacher vgl. Andreas Arndt, „Schleiermacher und die englische Aufklärung“, in: 200 Jahre Reden über die Religion. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft, Halle 14.–17. März 1999, hg.v. Ulrich Barth und Claus-Dieter Osthövener, Berlin / New York 2000, 181– 193.

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zwischen Freiheit und Bestimmtheit, zwischen Spontaneität und Bedingtheit besteht.⁷ Das zentrale Anliegen der Jugendschriften ist der Versuch, durch die Definition seines von ihm selbst in der Freiheitsschrift⁸ so bezeichneten Determinismus den Dualismus Kants auszusöhnen. Die Besonderheit der Lösung Schleiermachers ist nun genau in der Aufmerksamkeit für die wechselseitige Interaktion von Ethik, Geselligkeit und Religion und in der Verteidigung ihrer Unabhängigkeit voneinander erkennbar. Der Determinismus Schleiermachers ist tatsächlich – gegenüber den verschiedenen Determinismen, die sich im letzten Jahrzehnt des achtzehnten Jarhunderts miteinander verflochten haben – ein Determinismus sui generis. Weder liegt bei Schleiermacher ein absoluter Determinismus vor, wie z. B. in naturalistisch-phänomischer Bedeutung beim empiristischen Skeptizismus à la Creuzer oder in rationalistischnoumenischer Bedeutung à la Schmid, noch ist sein Determinismus auf ein theologisches Fundament gebaut. Er unterscheidet sich nicht nur in der Fähigkeit, Spontanteität und Bestimmung miteinander auszusöhnen, sondern auch in der Möglichkeit, die Autonomie der Moral mit ihrer osmotischen Beziehung auf die anderen menschlichen Lebensbereiche, das heißt den geselligen, den religiösen, den politischen und den bürgerlichen, in Einklang zu bringen. Sogar die hermeneutische Formulierung der Geselligkeit und der Kommunikation in den Schriften Über das Naive (1789), Entwurf zur Abhandlung über den Stil, Über den Stil (1790/91) ist nur eine Wiederaufarbeitung der Beziehung zwischen Freiheit und Notwendigkeit, Spontaneität und Konditionierung, die in der dritten ethischen Rhapsodie, der Schrift Über den Wert des Lebens (1793), die Bezeichnung „Bestimmung“ erhält.⁹ Die Ethik Schleiermachers versöhnt – durch eine sittliche Gesinnung, die gleichzeitig intellektuell und sinnlich, universal und individuell ist, – den negativen Teil der Bestimmung

 Schleiermacher nutzt die verschiedenen Ansätze aus, die in der ihm zeitgenössischen Philosophie zu finden waren: die Hallesche Schule und den ethischen Rationalismus ihres Meisters Eberhard (wobei er dennoch dem phänomenologischen Aspekt Aufmerksamkeit schenkt), bis zu Denkern, die – wie Reinhold – Kant folgend versuchten, das Problem des Dualismus mithilfe eines auf dem Vorstellungsvermögen beruhenden philosophischen „Monismus“ zu lösen. Er schreibt in der Freiheitsschrift, in einer Anspielung auf Reinholds Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens von 1789: „Es scheint in dem jezigen Zustand der philosophischen Welt in Deutschland nichts weniger als vortheilhaft für den Schriftsteller zu seyn, daß er eine Samlung philosophischer Rhapsodien gradezu mit einer Abhandlung über diesen Streitpunkt anfängt“: Friedrich Schleiermacher, Über die Freiheit [Zwischen 1790 und 1792], KGA I/1, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 217– 356, hier 219.  Vgl. Schleiermacher 1984, Freiheit, 244 (Anm. 7): „Ob nun gleich unter allen philosophischen Sekten-Namen wol keiner seyn mag, der eine unbestimmtere Bedeutung hat, und größere Verschiedenheiten unter denen, welchen er beigelegt wird zuläßt, so macht doch der Verfasser keinesweges Anspruch darauf, daß man an ihm eine Ausnahme von dem allgemeinen Schiksal klassificirt zu werden, verstatten möge; er läßt sich vielmehr den Namen eines Deterministen gefallen, wenn man ihm nur verspricht, daß man ihm keinen Saz irgend eines Deterministen unterschreiben wolle, wenn er nicht deutlich in dem, was er selbst gesagt hat und noch sagen wird enthalten ist.“  Vgl. dazu Denis Thouard, Schleiermacher. Communauté, individualité, communication, Paris 2007, 53 – 76; Oberdorfer 1995, 332– 335 (Anm. 4).

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mit dem positiven der Spontaneität und hält damit Passivität und Verantwortlichkeit, Natur und Vernunft zusammen. Die Bestimmungsgründe des Handelns sind sowohl natürlich als auch geistig, wobei dieser zweite Aspekt progressiv entschieden vorgezogen und seit der Freiheitsschrift mit der Geselligkeit gleichgesetzt wird.¹⁰ Wie können Notwendigkeit und Freiheit koexistieren? Zu dieser Frage schreibt er in der Freiheitsschrift: Hier ist also unser Gefühl von Selbstthätigkeit und Personalität desto größer je mehr wir den Zusammenhang der verschiednen einfachen Seelenwirkungen die zu einer Handlung gehören unter einander, und eines ganzen Zustandes mit den vergangenen nach den Regeln der Nothwendigkeit, welche also gleichsam vorausgesezt wird, einsehen können, und desto kleiner je weniger wir davon auf diese Weise erklären können, je weniger also überhaupt Nothwendigkeit da zu seyn und je mehr die Wirkungen der Seele der Freiheit zu entsprechen scheinen.¹¹

Die Freiheit verbindet sich mit der Notwendigket in direkt proportionaler Beziehung, weil genau die bewusste Verortung in der natürlichen und geistigen Welt die Voraussetzung für die Kontrolle über die Wirkung des eigenen Wollens ist, über die Reihe der Einflüsse, innerhalb derer sich jeder Einzelne einen eigenen Rahmen aktiver Spontaneität freilegt und die eigene Individualität erreicht in der vielfältigen phänomenischen Welt, in einem dauerhaften, gleichzeitig limitierendem und kräftigendem Austausch mit anderen Individuen, wie später auch aus den Monologen hervorgehen wird. Zusammenfassend können wir also behaupten, dass die Verarbeitung der Philosophie Kants, die aus den ersten Schriften hervorgeht, es Schleiermacher gestattet, einen Determinismus zu entwickeln, in dem Notwendigkeit und Freiheit sich im gemeinsamen Bezug aller Handlungen und aller moralischen Urteile auf die universale Menschlichkeit zusammenfinden, in der gemeinsamen Ausrichtung der Bestimmung. Dieser gemeinsame Bezugspunkt hebelt also die retributive Logik und das Schema des göttlichen Wollens aus und verortet die Gerechtigkeit des Schicksals, unabhängig vom Zusammenhang zwischen Glückseligkeit und Tugend, im Bereich einer autonomen Ethik, genauer gefasst einer durch die zentrale Rolle der Geselligkeit säkularisierten Ethik.

 Vgl. Schleiermacher 1984, Freiheit, 356 (Anm. 7): „Die Gemeinschaft des Menschen mit andern Menschen in so fern sie willkührlich handelnde Wesen sind heisst Geselligkeit. Liesse sich diese aber mit ihren Folgen ebenfalls blos als etwas zufälliges denken, welches nicht unter Regeln stände die sich darauf allein beziehen und daraus hergenommen sind, so würde sie ebenfalls nicht hieher gehöhren, nur sofern diese Gemeinschaft unter eigenthümlichen Gesezen als Bedingungen ihrer Möglichkeit steht lebt der Mensch im geselligen Zustand.“  Schleiermacher 1984, Freiheit, 296 (Anm. 7).

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2 Die Schriften der Berliner Zeit Die Originalität der Lösung Schleiermachers, die schon in den Jugenschriften in der für sie typischen rhapsodischen Form angedeutet ist, beginnt sich in der Berliner Zeit dem systematischen Charakter anzunähern, der die Grundlinien entscheidend kennzeichnen wird. Die Auseinandersetzung mit Kant und die Philosophie Spinozas und Leibniz’ spielen von den Spinoza Studien (1793/94) an über die Reden und Monologen bis zu den Rezensionen der Berliner Zeit eine zentrale Rolle. Durch den Widerhall des Atheismusstreites wird die theoretische Absicht Schleiermachers deutlich, die der Abgrenzung einer eignen „Provinz im Gemüthe“¹² für die Religion zugrunde liegt. Mithilfe der Kritik an der transzendentalen Philosophie kommt Schleiermacher in den Reden zu einer Immanentisierung des Dogmeninhalts, auβerdem übernimmt er von Spinoza den Gedanken der Inhärenz des Endlichen ins Unendliche, und von Jacobi, wenn auch mit einigen Unterschieden – zum Beispiel dem Widerspruch gegen den göttlichen Personalismus und gegen die rein rationalistische Interpretation Spinozas – eine auf das Gefühl und auf das unmittelbare Selbstbewußtsein gründende Definition des Religiösen.¹³ Das Prinzip der Inhärenz, das in den Augen Schleiermachers den Kernpunkt der von Jacobi verarbeiteten Doktrin Spinozas darstellt, wird in den Reden zum Inhalt der Empfindung oder der religiösen Anschauung, aus der die religiöse Kommunikation und Geselligkeit selbst entspringen: Ist die Religion einmal, so muß sie nothwendig auch gesellig sein: es liegt in der Natur des Menschen nicht nur, sondern auch ganz vorzüglich in der ihrigen. Ihr müßt gestehen, daß es etwas höchst widernatürliches ist, wenn der Mensch dasjenige, was er in sich erzeugt und ausgearbeitet hat, auch in sich verschließen wird. In der beständigen, nicht nur praktischen, sondern auch intellektuellen Wechselwirkung, worin er mit den Übrigen seiner Gattung steht, soll er alles äußern und mittheilen.¹⁴

In diesen Zusammenhang fügt sich auch die Kritik an der traditionalen Metaphysik ein, von denen wir Elemente in den Fragmenten zu Leibniz (1797– 1798) – einem Teil des Anti-Leibniz Projektes, das Schleiermacher gemeinsam mit Schlegel in der Berliner Zeit entwickelt hatte¹⁵ – und dann in den Reden finden. Spuren des Leibnizschen

 Friedrich Schleiermacher [1799], Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, KGA I/2, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 185 – 326, hier 204. Vgl. Folkart Wittekind, „Die Vision der Gesellschaft und die Bedeutung religiöser Kommunikation. Schleiermachers Kritik am Atheismusstreit als Leitmotiv der Reden“, in: 200 Jahre Reden über die Religion. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft, Halle 14.–17. März 1999, hg.v. Ulrich Barth / ClausDieter Osthövener, Berlin / New York 2000, 397– 415; Giacca 2015, 158 – 161 (Anm. 1).  Vgl. Andreas Arndt, „Mystizismus, Spinozismus und Grenzen der Philosophie. Jacobi im Spannungsfeld von F. Schlegel und Schleiermacher“, in: Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit, hg.v. Birgit Sandkaulen / Walter Jaeschke, Hamburg 2004, 126 – 141.  Schleiermacher 1984, Über die Religion, 267 (Anm. 12).  Vgl. Giacca 2015, 124– 133 (Anm. 1).

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Denkens halten in der Definition des Individuums und des Endlichen in seinem Bezug zum Unendlichen das Gleichgewicht zu Spinoza. Die rhetorische Bevorzugung der Religion gründet sich in den Reden auf den Satz Spinozas von der Inhärenz des Endlichen ins Unendliche. Nach der Behauptung der Autonomie des Religiösen kommt Schleiermacher zu einer Definition der Religion als vereinendem Prinzip der Moral und der Metaphysik, indem er aus dem Binom endlich-unendlich das „metaphysische“¹⁶ Schema macht (hier wird aber die Metaphysik als fundamentale Anschauung und als rein epistemologisches Skelett aufgefasst), das am Anfang der Auffassung von Ethik, Religion und Geselligkeit steht. Auf jeden Fall bleibt – über jegliche rhetorische Hervorhebung der Rolle der Religion in den Reden hinaus – die Beziehung zwischen Ethik, Geselligkeit und Religion eine wechselseitige Beziehung, wie aus einem der Gedanken hervorgeht, der zeitlich mit der Entstehung der Reden zusammenfällt: „Daß Religion die Quelle der Moral sei ist nicht wahr und daß Moral die Quelle der Religion sei ist auch nicht wahr. Wahr ist aber daß Religiosität die Quelle der Moralität und daß Moralität die Quelle der Religiosität ist.“¹⁷ In den Monologen fällt das Fortdauern der hermeneutischen Kreisbewegung auf, die nach Schleiermacher Ethik, Geselligkeit und Religion aneinander bindet. Die Monologen bieten eine anthropologische Vision an, die sich vom transzendentalen Modell unterscheidet, das seinerseits auch in den Rezensionen von Kants Anthropologie (1799) und Fichtes Bestimmung des Menschen (1800) kritisch diskutiert wird. Indem er die in der religiösen Erfahrung typische Transzendenz neu versteht, unterstreicht Schleiermacher noch deutlicher die Funktion, die die Geselligkeit in der moralischen Bestimmung übernimmt: „Was Welt zu nennen ich würdige, ist nur die ewige Gemeinschaft der Geister, ihr Einfluß auf einander, ihr gegenseitig Bilden, die hohe Harmonie der Freiheit. Nur das unendliche All der Geister, sez ich mir dem Endlichen und Einzelnen entgegen. Dem nur verstatt ich zu verwandeln und zu bilden die Oberfläche meines Wesens, um auf mich einzuwirken.“¹⁸ Der Determinismus Schleiermachers zeigt sich – wie oben gezeigt wurde – als Synthese von Freiheit und Bestimmtheit.¹⁹ Da wir also, um unsere drei Begriffe in Zusammenhang zu bringen, von Gegenseitigkeit ausgehen müssen, scheint der gesellige und intersubjektive Aspekt in diesen Schriften eine herausragende Rolle zu spielen. Es ist deutlich geworden, wie Schleiermacher von den Jugendschriften an die traditionelle Theodizee  Frederick Charles Beiser, „Schleiermacher’s Ethics“, in: The Cambridge Companion to Friedrich Schleiermacher, hg.v. Jacqueline Mariña, New York 2005, 53 – 71, hier 64.  Friedrich Schleiermacher [1796 – 1799], Vermischte Gedanken und Einfälle (Gedanken I), Nr. 153, KGA I/2, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 36.  Friedrich Schleiermacher [1800], Monologen. Eine Neujahrsgabe, KGA I/3, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1988, 1– 61, hier 10.  Vgl. Schleiermacher 1988, 12 (Anm. 18): „Klar wie der Unterschied des Innern und Äußern von mir steht, weiß ich es, wer ich bin, und finde mich selbst im innern Handeln nur, im Äußern nur die Welt, und beides weiß der Geist zu unterscheiden, nicht ungewiß wie Jene zwischen beiden schwankend in verwirrungsvoller Dunkelheit. So weiß ich auch, wo Freiheit ist zu suchen und ihr heiliges Gefühl, das dem sich stets verweigert, deßen Blik nur auf dem äußern Thun und Leben der Menschen weilet.“

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umkehrt, indem er sie durch seine, wenn wir sie so nennen wollen, „Theodizee der Intersubjektivität“²⁰ ersetzt: „Und wenn ich es glaube, wenn ich überzeugt bin, daß wir am Ende alle bei einem gemeinschaftlichen Ziel zusammentreffen, und daß wir uns demselben alle – nur auf verschiedenen Wegen – nähern, selbst wenn wir uns davon zu entfernen scheinen, so ist die Gerechtigkeit Gottes in meinen Augen gerechtfertigt, und ich brauche nichts weiter zu wißen.“²¹ Die Geselligkeit zeigt sich so als geeignetes Instrument, um die gegenseitige Abhängigkeit von Ethik und Religion abzubauen und eine neue Definition ihrer Beziehung vorzuschlagen, die auf der einen Seite die Autonomie der Moral aufrecht erhält und auf der anderen Seite die Authentizität der religiösen Erfahrung bewahrt. Die Geselligkeit durchquert von den Jugendschriften an Ethik, Religion und Hermeneutik in ihrer moralischen Funktion als handlungsauslösender Faktor, in ihrer religiösen Funktion als treibende Kraft der Dekonstruktion des Binoms Ethik-Religion und als Anknüpfung an die Immanenz, in ihrer hermeneutischen Funktion als identitätsbildender Ort zwischen Spontaneität und Konvention. Noch vor den Reden schlägt Schleiermacher im Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799) ein Menschlichkeitsmodell vor, das auf der Wechselwirkung als Essenz des sozialen Lebens beruht.²² Diese Wechselwirkung, die den ethischen Bezug strukturiert, ist dem Religiösen wesenhaft, wie wir an den Ausschnitten aus den Reden erkennen, die dem sprachlichen Ausdruck und der Kommunikation ohne Vermittlungen gewidmet sind.²³ Von den hermeneutischen Jugendschriften an und bis zu den Rezensionen Garves und der Anthropologie Kants, in Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde (1800) und der Rezension der Lucinde (1800) formuliert Schleiermacher eine „Hermeneutik der Wahrhaftigkeit“²⁴, die auf der Kritik an der leeren moralischen Heuchelei und an

 Wie anderweitig ausgeführt (Giacca 2015, 66 – 71 [Anm. 1]), wird also die göttliche Gerechtigkeit durch die Schleiermachersche „Theodizee der Intersubjektivität“ aus der retributiven Optik befreit, die auf dem traditionellen metaphyischen Schema beruhte, um zur Konkretheit der intersubjektiven Dimension zurückgeführt zu werden. Diese „Intersubjektivität“ ist selbstverständlich weit gefasst und meint die Ganzheit der Darstellungen, die auf das soziale und interpersonale Leben bezug nehmen können wie die freie Geselligkeit, oder auf das institutional geregelte bürgerliche und politische Leben, oder auch auf das schon das Thema der Bestimmung vorgreifende Konzept der Menschheit.  Schleiermacher 1984, Freiheit, 276 (Anm. 7).  Vgl. Friedrich Schleiermacher [1799], Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, KGA I/2, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 163 – 184; Vgl. dazu aus der Einleitung des Bandherausgebers (LI): „In Anlehnung an die drei Grundsätze in Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (Jena/Leipzig 1794/95) entwickelt Schleiermacher aus dem allgemeinen Begriff der Gesellschaft und dem konkreten der individualisierten (mannigfaltigen) Geselligkeit drei Gesetze (das formelle, materielle und quantitative) für eine angemessene Tätitgkeit im Zustand freier Geselligkeit.“  Vgl. Schleiermacher 1984, Über die Religion, 274 (Anm. 12): „Ich hoffe Ihr seid aus dem vorigen mit mir einverstanden darüber daß in der wahren religiösen Geselligkeit alle Mittheilung gegenseitig ist, das Princip, welches uns zur Äußerung des eigenen antreibt, innig verwandt mit dem, was uns zum Anschließen an das Fremde geneigt macht und so Wirkung und Gegenwirkung aufs unzertrennlichste mit einander verbunden.“  Giacca 2015, 238 – 239 (Anm. 1).

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der Beschränkung der Geselligkeit auf Konventionen beruht: „Soll nicht jeder Mensch eine Eigenthümlichkeit haben, und soll er nicht diese überall mitnehmen und dadurch Alles was er thut und hat als das seinige bezeichnen? Müßen wir also nicht eine Zeit hoffen und sie herbeizuführen suchen, da Jeder stark und gebildet genug sein wird um die Eigenthümlichkeit des Andern zu ertragen ohne sich dadurch stören und aufhalten zu laßen?“²⁵ Schleiermacher verteidigt die Authentizität des intersubjektiven Austausches, sowohl in ihrem Ausdruck als freie Geselligkeit oder als sprachliche Beziehung – z. B. im Scherz oder im Witz –, als auch in ihrer institutionalisierten Form der zivilen, politischen, religiösen oder wissenschaftlichen Gemeinschaft.

3 Die Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre Zur Vervollständigung der in den Jugendschriften eröffneten Themenstränge erhalten wir vier grundlegende Erträge aus den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. Der erste Beitrag ist kritisch. Es handelt sich um die Weiterentwicklung der kritischen Auseinandersetzung mit Aristoteles, mit den Stoikern, dem Epikureismus, mit Kant, Fichte, Spinoza und der englischen Aufklärung. Zweitens erhalten wir einen systematischen Ertrag: die Definition einer Auffassung der Wissenschaft und die Verdeutlichung der Kriterien der Wissenschaftlichkeit der Sittenlehre. Der dritte Ertrag ist moralisch: es wird eine Definition der Bestandteile der Sittenlehre entwickelt: Güterlehre, Tugendlehre, Pflichtenlehre. Viertens erhalten wir einen inhaltlichen Beitrag: die Objekte der Sittenlehre werden definiert und traditionell von der Sittenlehre ausgeschlossene Elemente werden wieder aufgenommen: die Liebe, der Witz, die Kunst, die Wissenschaft, die Phantasie, die freie Geselligkeit. Mithilfe der Weiterentwicklung von Textbezügen auf Kant und Fichte führt Schleiermacher in den Grundlinien ein Argument des Juridizismus ein, indem er die Abwesenheit einer rein moralischen Behandlung des Problems des Anderen im Werk der beiden Philosophen unterstreicht: Dieser nun, kann man sagen, ist durchaus mehr juridisch als ethisch, und hat überall das Ansehn und alle Merkmale einer gesellschaftlichen Gesezgebung; welches auch mit dem vorigen genau zusammenhängt. Denn wenn der ethische Grundsaz immer und allein unter der Gestalt eines Gesezes erscheint, welches bloß in einem Vielen gemeinschaftlichen gegründet ist, so kann es nich anders als ein gesellschaftliches, oder im strengen Sinne betrachtet, ein Rechtsgesez werden.²⁶

 Friedrich Schleiermacher [1800], Über das Anständige, KGA I/3, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1988, 73 – 99, hier 92.  Friedrich Schleiermacher [1803], Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, KGA I/4, hg.v. Eilert Herms u. a., Berlin / New York 2002, 27– 357, hier 94. Vgl. auch 233: „Es scheint aber die Ursache der Verwirrung die zu sein, daß der sittliche Werth, und dessen Anerkennung verwechselt worden ist,

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Das Verhältnis von Individualität und Geselligkeit ist dagegen bei Schleiermacher nichts anderes als eine Deklination des Binoms Einzelnes-Universales, seinerseits Wiederaufarbeitung des Begriffpaares Endliches-Unendliches, das auch in den Reden vorkommt.²⁷ Dies führt nun in den Grundlinien, wenn auch mit Einschränkung des jugendlichen Spinozismus, zu einer Bevorzugung Platons aufgrund seiner wissenschaftlichen Methode und seiner Aufwertung der Vielfalt und der Phantasie: Die dritte Methode aber ist die heuristische, und Platon der einzige Meister, der sie in ihrer Vollkommenheit aufgestellt hat. Ihr Wesen nun besteht darin, daß sie nicht von einem festen Punkt anhebend nach einer Richtung fortschreitet, sondern bei der Bestimmung jedes Einzelnen von einer skeptischen Aufstellung anhebend durch vermittelnde Punkte jedesmal die Principien und das Einzelne zugleich darstellt, und wie durch einen elektrischen Schlag vereinigt.²⁸

Es wurde darauf hingewiesen, dass das Prinzip der Autonomie der Ethik in den Grundlinien bestehen bleibt. Schleiermacher unterstreicht erneut die Unmöglichkeit, die göttliche Offenbarung und den Menschenverstand auf die moralische Ebene zu reduzieren: „Denn eben so würde eine Kritik der Wissenschaft von den Gründen des Daseins weder mit den halben und schiefen Begriffen des gemeinen Verstandes, noch auch mit den von einer Offenbarung ausgehenden Lehren sich einlassen dürfen.“²⁹ Genau die Autonomie der Ethik garantiert ihre Wissenschaftlichkeit. Autonomie der Ethik bedeutet auch Unabhängigkeit von der Seelenlehre und von der Naturwissenschaft, denn die zu ihnen bestehende Beziehung darf keine Vermischung der jeweiligen Bereiche bedeuten, sondern muss auf einer höheren Wissenschaft beruhen, die sie miteinander vereint. Diese höhere Wissenschaft ist im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Vollendung zu verorten. Dank der Auseinandersetzung mit der systematischen Ausarbeitung des Idealismus vor allem durch Fichte und Schelling kommt Schleiermacher zu einer Definition der beiden Grenzpunkte dieser Wissenschaft, von denen er sich fernhalten will, und versucht mit seiner Sittenlehre eine ausgewogene, systematische Synthese von Anthropologie und Kosmologie zu liefern. Auf diesem systematischen Hintergrund sieht Schleiermacher den Mangel in den vorangegangenen Moraltheorien darin, dass sie die Verbindung von theoretischer und

mit dem bürgerlichen, welches auch überall auf die Behandlung des guten Rufes von nachtheiligem Einfluß gewesen ist. Dieses nun bezog sich auf die praktische Sittenlehre.“  Vgl. Schleiermacher 2002, Grundlinien, (Anm. 26): „Daher ist offenbar genug, daß wer eine Ethik nach den Grundzügen des Platon oder des Spinoza vollig, und so genau als es in andern Systemen geschehen ist, aufbauen wollte, jener Aufgabe einer Vereinigung des Allgemeinen und Eigenthümlichen nicht entgehen könnte.“  Schleiermacher 2002, Grundlinien, 349 (Anm. 26); vgl. auch 200: „Am reinsten aber nicht nur von Fehlern, sondern auch am vollständigsten findet sich dieser Begrif, wenn gleich auch nur unentwikelt, in der Sittenlehre des Platon. Denn so dachte er sich die Gottähnlichkeit des Menschen als das höchste Gut, daß so wie alles Seiende ein Abbild ist und eine Darstellung des göttlichen Wesens, so auch der Mensch zuerst zwar innerlich sich selbst, dann aber auch äußerlich, was von der Welt seiner Gewalt übergeben ist, den Ideen gemäß gestalten solle, und so überall das Sittliche darstellen.“  Schleiermacher 2002, Grundlinien, 38 (Anm. 26).

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praktischer Philosophie nicht in ausreichender Weise behandeln.³⁰ Über die Alternative Aktivismus-Eudämonismus hinweg legt Schleiermacher somit die Fundamente für ein System, in dem Kosmologie und Anthropologie, Natur und Vernunft nicht länger zwei Extreme in einem wechselhaften und unvermeidlichen Ungleichgewicht darstellen, wie es seiner Meinung nach in den beiden Hauptvertretern des Idealismus geschieht, bei Schelling im kosmologischen, bei Fichte im anthropologischen Sinne, sondern vielmehr zwei Gegenpole, in deren Spannung die Einheit der Philosophie mit dem Leben – Thema der Schrift Versuch, die nicht zufällig der Geselligkeit gewidmet war – erzeugt wird, oder besser gesagt wieder neu entsteht: „Dieses nemlich scheint der Grund des Übels zu sein, daß Alle fast das geistige Vermögen des Menschen nur ansehen als Vernunft, die andere Ansicht dieser Grundkraft aber als freies Verknüpfungs- und Hervorbringungsvermögen, oder als Fantasie, ganz vernachläßigen, welches doch die eigentlich ethische Ansicht sein müßte […]“.³¹ Hier ist nun deutlich geworden, dass genau das Fehlen einer gemeinsamen Wurzel nach Schleiermacher der Beweis dafür ist, dass das System keine authentische Anhaftung an das Leben aufweist. Der Vorschlag, die freie Geselligkeit und mit ihr eine Theorie der religiösen und wissenschaftlichen Gemeinschaft in eine Sittenlehre einzuschließen, die von einem positiven Prinzip geprägt auf die Festigkeit der Verknüpfung mit der Wissenschaft gegründet ist, die ihrerseits die Verbindung ihrer Teile miteinander garantiert, auch wenn sie ihre Autonomie bewahren,³² dieser Vorschlag also ist der letzte Schritt, mit dem sich Schleiermacher einem ethischen Determinismus nähert, in welchem die Phänomenizität der Handlung und ihr transzendentaler Ursprung eine systematische vollendete Einheit bilden, die kohärent und gleichzeitig konstitutiv offen für die Integration der Wirklichkeit ist. Es handelt sich um die Fähigkeit, in der Erfahrung, unter den gegebenen Bedingungen und Umständen, das Ethische vom Nichtethischen unterscheiden zu können, ein stabiles Leitbild zu haben in der Vielfältigkeit der Wirklichkeit, das gleichzeitig aber das Eindringen der Kon Vgl. Schleiermacher 2002, Grundlinien, 354 (Anm. 26): „Ja was noch mehr beweisende Kraft hat zwischen den verschiedenen Ideen, nach denen im Verlauf besonders die Naturwissenschaft ist bearbeiten worden, und denen, welche der Ethik zum Grunde lagen, findet sich eine Ähnlichkeit der Verhältnisse und ein durchgängig herrschender Zusammenhang des Gleichartigen in beiden, welcher dem Saz, daß die praktische Philosophie eines Jeden, wie sie selbst durch die Sittlichkeit in ihm bestimmt werde, auch wieder seine theoretische bestimme, eine frühere Anerkennung schon längst hätte zusichern müssen.“  Schleiermacher 2002, Grundlinien, 287 (Anm. 26).  Vgl. Schleiermacher 2002, Grundlinien, 337 (Anm. 26): „Eben so endlich müßte der Theorie des Staates in der praktischen Ethik sowohl, wo er einen unmittelbaren Werth hat, als auch in der genießenden, die ihn nur als Nothmittel gebraucht, gegenüberstehen die Theorie der wissenschaftlichen und der religiösen Gemeinschaft. Beide aber sind nirgends, weder als eigne Wissenschaften, noch als Veranstaltungen des Staates gehörig behandelt. Von der Religion nun ist nichts zu sagen, wenn man sich des ethischen Drukes erinnert, unter welchem das freie Combinationsvermögen existirt: denn so wird sie natürlich dem einen nur ein Werkzeug des ethischen Wissens, dem andern aber ein untergeordnetes und zufälliges nur unter gewissen Umständen anwendbares Mittel. Das Übersehen der wissenschaftlichen Verbindung aber gründet sich offenbar in der Negativität der Sittenlehre.“

Ethik, Religion und Geselligkeit

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tingenz nicht verhindert, sondern in der Lage ist, sie aufzunehmen, einzuschließen, zu ordnen und immer wieder neu zu systematisieren.³³ Im wechselseitigen Verhältnis von Singularität und Universalität, in der Durchdringung von Individualität und Geselligkeit – sei sie ethisch, religiös oder hermeneutisch –, spielt die Vielfalt eine unbestrittene Hauptrolle. Schleiermacher, der Spinoza folgend die Inhärenz des Endlichen ins Unendliche zugelassen hatte, scheint sich selbst treu zu bleiben, auch wenn er seine Beobachtungsperspektive ändert.³⁴ Das Interesse am Endlichen, an der Immanenz, das ihn durch die Mäander seiner komplexen Polemik an den formalistischen und dualistischen Ergebnissen des Kritizismus geleitet hatte, bringt ihn nun in der Auseinandersetzung mit dem Idealismus dazu, die Aufmerksamkeit für das Reale zu unterstreichen, die systematisch, kohärent und wenigstens potenziell vollständig sein will.

4 Abschluss Aus dem eben Gesagten lässt sich leicht folgern, dass in der Frage der Vollständigkeit und der Kontrolle über das Reale dennoch ein gemeinsames Element mit dem Idealismus verbleibt. Diese Frage löst sich letztendlich nicht in dem Versuch auf, das Reale einzugliedern, sondern in dem ausgeglichenen Bedürfnis nach Ordnung und Verwurzelung. Dieses Bedürfnis verrät noch den transzendentalen Ursprung der Philosophie Schleiermachers. Zusätzlich ist diese Verwurzelung mit einer Offenheit gegenüber der Zufälligkeit verbunden, die in jedem Fall unausweichlich ist. Die Phantasie, die imaginative Fähigkeit, die Schleiermacher wieder ins Spiel gebracht hat, ist weder ein rein ideales Mittel des Realen, noch eine mythische Evasion aus der Realität, es ist ganz im Gegenteil die Fähigkeit einer freien Erzeugung und Anbindung, die zu einer Einstellung führt, die sich dem Unvorhersehbaren nicht verschließt. Diese Einstellung enthält ein Schema der moralischen Subjektivität, das vollkommen, aber nicht verschlossen ist, vollständig, aber nicht erschöpfend, universal, aber nicht

 Vgl. Schleiermacher 2002, Grundlinien, 325 (Anm. 26): „Sonach scheint mit Beiseitsezung der höheren Ansprüche, welcher wir uns gleich anfänglich begaben, der wissenschaftlichen Gestalt der Ethik so nothwendig zu sein eine Vereinigung jener drei Begriffe [der Pflichten, der Tugenden und der Güter], daß sie, wenn nicht auf dem richtigen Wege gefunden, wenigstens auf einem falschem von Jedem muß gesucht weden. […] das Wesen dieser Vereinigung liegt in der Reduktion jener verschiedenen Gestalten des Sittlichen, welche, wenn sie überzeugend sein soll und allgemein, nicht vom Einzelnen darf aufs Einzelne gehen, was auch schon die Natur der Sache verbietet, noch auch vom Ganzen aufs Einzelne, sondern nur vom Ganzen aufs Ganze.“  Die Bevorzugung Platons vor allem auf den letzten Seiten der Grundlinien legt die Idee einer Aneignung der Jacobischen Deutung des Spinozismus als Rationalismus nahe. Folglich würde die Annäherung Schleiermachers an Platon als Gegengewicht und partielle Korrektur seines jugendlichen Spinozismus dienen. Diese These würde auch den Grund der Abwesenheit des Verweises auf Jacobi und Leibniz in den Grundlinien erklären, obwohl Schleiermacher ihnen, wie bereits gezeigt wurde, frühere Studien gewidmet hatte. Vgl. Arndt 2004 (Anm. 13).

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zwingend. Vielleicht ist dies der tiefere Sinn der ethischen Lösung Schleiermachers in den Grundlinien. Auf diesem Hintergrund kann die Beziehung zwischen Ethik, Geselligkeit und Religion wenn auch nicht den Fluchtpunkt, dann doch wenigstens ein privilegiertes Modell der meisterhaften Einheit von Theorie und Praxis anbieten, die von Anfang an ein Bollwerk der Philosophie Schleiermachers darstellt.

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The Great Rule of the Christian Life Schleiermacher’s Redemption of Hospitality

1 Introduction: An essential connection between redemption and friendship and hospitality? Posing the question today There is a pressing need for practices of hospitality at present. The claim is likely selfevidently true for many. I probably do not need to say anything about our current global political landscape – with its mass migrations, class and ethnic conflict, and cultural and religious tensions – to persuade anyone that a stronger, deeper commitment to welcoming others today would be helpful for neutralizing and overcoming so much of the exclusion and oppression of others that root themselves in simple ignorance and fear. But in order to take up hospitality anew, and in a way that is prudent, sustainable, and effective for cultivating mutual understanding, it is necessary that our approach take into account the sociological conditions in which hospitality today occurs. This is the first point to be examined in the present essay. I do find it important, nevertheless, to analyze with some care the seemingly “self-evident” nature of the need for hospitality. There is a risk in simply taking for granted that societies and, more to the point from a theological perspective, that theological convictions support the view that hospitality is necessary—now or in any age. Do they? Do practices of friendship and hospitality hold a necessary place in Christian belief and/or practice? Or, at the end of the day, are both useful – probably in various ways for the mission of the church and edification of the saints – and so to that extent recommended, but ultimately optional? In Christian faith, and from a systematic-theological perspective, what is the place of friendship and hospitality vis-à-vis redemption or being in Christ? Thus, in the second part of this essay, I examine the theological plotting of hospitality in a way that I believe Friedrich Schleiermacher would have, or at the very least could have, by situating the question in his ethics and in the sermons on Christian hospitality and benevolence or charity found in his Predigtreihe on the Christian household.¹ That is, I will present a “Schleiermacherian” position that outlines what  Friedrich Schleiermacher, Predigten. Vierte Sammlung (1820, mit den Varianten von 1826), KGA III/1, ed. by Günter Meckenstock, Berlin / Boston 2012, 621– 766. Volume III/5 of the KGA includes Ludwig Jonas’s direct transcriptions of the sermon series, providing “a view into the immediate impression which the sermons left on Schleiermacher’s audience and into the process of redaction in preparing https://doi.org/10.1515/9783110569520-028

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he could say based on what he did say. The sermons on hospitality and benevolence are helpful in this regard because they constitute direct and explicit accounts of the specifically Christian nature of both, and they give pointers for how Schleiermacher might have plotted each systematic-theologically in Christian faith.² For Schleiermacher, the practice of hospitality requires that certain material and social conditions of justice be met. Hospitality is a “Recht” (“right”) practiced only in the context of the satisfaction of these conditions. What is true of hospitality in this regard follows for friendship also, insofar as friendship presupposes the dynamics of hospitality are well-established and intensifies them. The conditions that Schleiermacher takes to be necessary for hospitality he sees as, moreover, “etwas Wesentliches” (“something essential”) to human individual and social life and, as I will argue, to redemption. I argue for the thesis that through hospitality, in both its “geistliche” and “leibliche” expressions, humanity is “herrlicher erbaut” (“more gloriously cultivated”) in the form of the Bild (“image”) of completed humanity, of the second Adam, of Christ.³ the sermons for publication.” (Friedrich Schleiermacher, Predigten 1816 – 1819, KGA III/5, ed. by Katja Kretschmar, Berlin / Boston 2015, 443 – 464.470 – 501.514– 530; the quotation just given comes from the editor’s introduction and may be found on page XXIII). The second edition of the complete sermon series is also included as Predigten über den christlichen Hausstand in: Schleiermachers Werke III, ed. by Otto Braun / Johannes Bauer, Leipzig 1910, 181– 398. I have used Bauer’s text in the course of writing the present essay. An English translation (ET) of the second edition (1826) as found in the Schleiermacher Sämmtliche Werke II/1 is available as: Friedrich Schleiermacher, The Christian Household. A Sermonic Treatise, ed. and trans. by Dietrich Seidel / Terrence N. Tice, New York 1991. However, unless otherwise noted, all translations are my own and follow Bauer.  This particular series is very interesting for the extent to which they rely explicitly on his philosophical ethics. Schleiermacher presents the order of the sermons on the Christian household in the same order as that in which he develops his theory of society in the ethics, moving from marriage to child-rearing to those members who intersect the family’s circles in extended household relationships and finally on to relationships that join families into a society. The relationship of Schleiermacher’s theological system to his philosophical ethics has been a favourite Streitpunkt in research on Schleiermacher, and, while I do not expect this essay will bring that discussion to a close, the sermons on the Christian household as a whole very clearly attest to a non-competitive, non-subordinating relationship between them. The theological significance of friendship and hospitality vis-à-vis being in Christ, in Schleiermacher’s framework, only becomes clear when the position which they occupy in his ethics is properly understood.  It is crucial that Schleiermacher be read and engaged as one person – not here as a theologian, there as philosopher, here as preacher, there as ethicist, translator, exegete, politician, etc. Schleiermacher the preacher is Schleiermacher the philosopher; Schleiermacher the ethicist is Schleiermacher the exegete, and so on. As Johannes Bauer, editor of the four volume Braun/Bauer edition of Schleiermacher’s works, Schleiermachers Werke, wrote in his introduction to the collection of sermons on “the Christian household”: Schleiermacher was “the same person in the pulpit as behind the lecturn, in a book of sermons as in a scholarly treatise.” (Johannes Bauer, Einleitung, in: Friedrich Schleiermacher [1820], Predigten über den christlichen Hausstand, Schleiermachers Werke III, ed. by Otto Braun / Johannes Bauer, Leipzig 1910, 181– 222). I make reference to this style of reading Schleiermacher because it explains why or how I come to the interpretation that I lay out in the following essay.

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2 Background to the Interest of this Essay The present essay proceeds out of the combination of a socio-political observation and personal research interest. My concern for a theology of hospitality and friendship is motivated, first, by the observation that political strategies for securing tolerance in contemporary society, while necessary, are inadequate for the simple reason that tolerance alone does not underwrite mutual concern among strangers for wellbeing. Two primary reasons stand out: First, tolerance is a passive political value, whose only necessary criterion for satisfaction is indifference. Second, tolerance ultimately requires enforcement, thus implies a relation of the dominant to the dominated, and for that reason fails the mutuality test. The cultivation of mutual concern for well-being among people who regard one another as different, objectionable, not part of some “us” – as “other” in some significant sense – requires voluntary mutuality. This is a difficult criterion to satisfy. Seemingly impossible, on the formal political level. But for people coming from a variety of religious traditions and their ways of inhabiting the world, a wealth of resources – textual, conceptual, symbolic and practical – already do exist. Friendship and hospitality form a logical cluster for focused study for people of all religious traditions who are concerned to identify alternative strategies for cultivating mutual concern for one another’s well-being in the encounter with others whom one’s group encounters as outside others. Second, my current research project, “The Be.Friend Project”, takes up this study within the Christian traditions broadly and within modern liberal Protestantism more specifically, by means of a threefold word play on the English word “befriend”: (1) Under the keyword “Befriending,” I am asking, how are the friend and the stranger to be interpreted in light of the development of a functionally differentiating global society, and can strangers become friends? (2) Under the keyword, “being friends,” I am asking with historical-systematic theological interest how friendship and hospitality have been and are being understood in Christian theology and whether they hold any necessary relation to being-in-Christ. And (3), under the keyword “be (well), friend, I am asking with practical-constructive theological interest whether Christian hospitality and friendship, specifically with non-Christian others, stand in any necessary connection with Christian understandings of being-in-Christ.

3 Sociological conditions under which hospitality takes place at present Indeed, the first question to pose, in my view, is not the historical-systematic theological question of what Christian thinkers have been said concerning Christian friendship but under what conditions do friendship and hospitality take place in an increasingly global and functionally differentiating society. Hospitality has often been viewed as an act of hosting total strangers, those from beyond the

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home place, as Andrew Arterbury argued concerning the ancient world in his study of early Christian hospitality in the Mediterranean region.⁴ Richard Kearney likewise places the emphasis on “the stranger” in his recent edited volumes on the topic.⁵ Another common form, more familiar to us today, is entertaining family and friends, which Mona Siddiqui has recently discussed in Muslim belief and practice.⁶ Both of these emphases maintain the binary near/far or familiar/strange. And both largely presuppose a situation of closed, separate groups. However, in ever-globalizing world societies, strangers are no longer complete strangers but rather are part of one another’s communities and often participate in overlapping social systems. The stranger is the neighbor, colleague, teacher, and perhaps even family. Sociologist Rudolf Stichweh has argued that the stranger is “disappearing” in the modern world.⁷ According to Stichweh, the semantics of the stranger, in the classical sense, has or at least is evolving out of significance in modern society and is being replaced by forms and a corresponding semantics of inclusion and exclusion. The phenomenon of the stranger historically and in classical sociological theory has been regarded as the encounter with a (1) “compact social object” (2) who is not a “member” (3) of some closed social system.⁸ But these characteristics do not accurately describe human experience of functionally differentiated global society: Functional communication systems exhibit an increasing, and already high, degree of social openness (which is not to say equality); and individual persons are not compact but can participate in several communication systems at once, with their “membership” in no one system exhausting their total identity. Stichweh proposes that expanding networks of inclusion / exclusion are the successor model to the semantics of the stranger and can more accurately describe the emplotment of human persons marked by otherness in global society. “Participation” in systems’ communications – being “addressed” by them and being the subject of “expectations” those communications place on one – constitutes “inclusion” in those systems.⁹ To the extent a system does not address subjects or hold any expectations of them, one is “excluded” and becomes marked as more “other” to the system. This has the effect that otherness today is rarely, if ever, absolute; for all persons

 Andrew Arterbury, Entertaining Angels. Early Christian Hospitality in its Mediterranean Setting Sheffield, 2005.  Richard Kearney, Phenomenologies of the Stranger: Between Hostility and Hospitality, New York 2011; Richard Kearney / James Taylor (Ed.), Hosting the Stranger. Between Religions, New York / London 2011.  Mona Siddiqui, Hospitality and Islam. Welcoming in God’s Name, New Haven / London 2015.  See Rudolf Stichweh, “Ambivalenz, Indifferenz und die Soziologie des Fremden” and “Fremde, Inklusionen Identitäten”, in: Der Fremde. Studien zu Soziologie und Sozialgeschichte, Frankfurt a.M. 2010, 128 – 147 and 148 – 161; Rudolf Stichweh, “Inklusion in Funktionssysteme der modernen Gesellschaft” and “Inklusion/Exklusion und die Soziologie des Fremden”, in: Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie, Bielefeld 22016, 17– 46 and 179 – 188.  Stichweh 2016, Inklusion/Exklusion, 182– 186 (n. 7).  Stichweh 2016, Inklusion/Exklusion, 181 (n. 7).

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find themselves addressed and subjected to the expectations of various functional systems to at least some extent. That is to say, then, that otherness is partial. Moreover, subjects today find themselves always participating in several systems at once, in some less and in others more. Otherness in contemporary functionally differentiated global society is characterized by partial, multiple, and even overlapping forms of inclusion and exclusion. I propose to call this a situation of “intimate strangeness” and “foreign friends.” The strange, political other may not be far away, may in fact be one’s neighbour, closest colleague, or favourite professor. On the other hand, the familiar religious leader or family friend may strike one as quite foreign to one’s own views on education, economy or law. This situation changes the way one understands hospitality. The focus in hospitality shifts away from the framing of familiar and foreign. But to what? Arnulf von Scheliha, in his proposal for an appropriate response to challenges posed to Western Europe arising from the vast numbers of recent migrants into Europe, refers to Immanuel Kant’s argument rooting hospitality in common human ownership of the Oberfläche der Erde (“common ownership of the earth’s surface”).¹⁰ In a functionally differentiated global society, this sense of non-possession is magnified through the partial and interdependent nature of participation in multiple systems. No one owns any communication system or tradition of thought or practice in that system. Welcome takes root, then, not in authorization-of the other from a place of normative authority or possession but in sharing-with another from a position of like need, contingency, and otherness. A contemporary theological account of friendship and hospitality would have to be able to take this situation into account. It is in this connection that I would like to draw attention to Schleiermacher’s views on hospitality and benevolence as practices that cultivate mutual well-being and, in particular, to highlight his view that these practices are necessary – that means unavoidable and intrinsic – practices of redemption.

4 The hospitality of the household and of humanity itself Schleiermacher’s sermons Über die christliche Gastfreundschaft and Über die christliche Wohltätigkeit are, respectively, the eighth and ninth of nine sermons that Schleiermacher preached in the summer and fall of 1818 on the Christian household.

 Arnulf von Scheliha, “Migration und Religion. Christliche Verantwortung in der Flüchtlingsfrage’’ http://www.katharinen-hamburg.de/fileadmin/99-redaktion/02-pdf_predigten/Migration_und_Religion_Christliche_Verantwortung.pdf, accessed 7/11/2016. See also: Immanuel Kant, “To Perpetual Peace: A Philosophical Sketch,” in: Immanuel Kant, Perpetual Peace and Other Essays. On Politics, History, and Morals, Indianapolis 1983, 107– 144, here 118.

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The series was enthusiastically received and was published in 1820 as the fourth collection of his published sermons, under the title Der christliche Hausstand with a second edition following in 1826.¹¹ We can begin with the forward that Schleiermacher later placed before the sermon on hospitality when preparing it for publication. Denn wahrlich, wenn unser Hauswesen so eingerichtet ist, wie das Wort Gottes verlangt; wenn jedes Verhältnis als göttliche Ordnung und zur Erziehung für das Reich Gottes notwendig im Glauben ergriffen wird; wenn eben deshalb der Geist der Liebe überall darin herrscht und jeder seine Stelle im Haus ausfüllt, damit er seine Stelle im Reich Gottes verdiene: dann ist ein solcher Verein, mehr als der einzelne, auch der vollendetste Mensch es sein kann, ein Tempel Gottes, in welchem der Geist Gottes wohnt; und von denen, die einem Hauswesen angehören, welches diesem Bild entspricht, kann man mit Recht voraussetzen, daß sie einander genug sind, und daß sie in dem Gefühl, wie der Herr sich gnädig an ihnen erweiset und sie immer weiter und herrlicher erbaut, auch kein Bedürfnis haben können, aus ihrem schönen Kreise herauszugehen.¹² For truly, if our household is arranged as the Word of God demands; if each relationship be grasped in faith as a divine arrangement and necessary for rearing toward the Kingdom of God; if precisely for that reason the spirit of love rules throughout and each one fills out their place in the house that they might serve worthy of their place in the kingdom of God: then is such a band – more than the individual – even the most complete human there can be, a temple of God, in which the spirit of God dwells; and of those who belong to such a household as corresponds to this image, one can rightly posit that they are enough unto one another, and that, in the feeling that the Lord graciously imparts unto them and in which they are ever more gloriously cultivated, they might have no need to depart from its pleasant circle.

Schleiermacher goes on to call the Christian household a place of “göttliche Gnade” (“divine grace”) that should “den Geist des christlichen Lebens offenbaren” (“reveal the spirit of the Christian life”). Schleiermacher, as a communicator, always possesses a certain flair and is known to engage in the occasional use of hyperbole, but note the theological significance he is vesting in the family with these ascriptions: That the family should “offenbaren” (“reveal”) the divine grace and that one might, in the relational dynamics of the family, serve worthy of or receive one’s place in the kingdom of God. A whole list of ethical resonances come to the fore in this quotation. Above all, biblical concepts serve as a kind of encryption method, whereby Schleiermacher in-

 For an overview of the reception history of the series, see: Johannes Bauer, “Einleitung,” in: Friedrich Schleiermacher, Predigten über den christlichen Hausstand, ed. by Johannes Bauer, Leipzig 1911, 5 – 42; more recently, compare Günter Meckenstock, “Einleitung des Bandherausgebers in den Band”, KGA III/1, ed. by Günter Meckenstock, CVI–CXII; Terrence N. Tice, “Editor’s Postscript,” in: Friedrich Schleiermacher, The Christian Household. A Sermonic Treatise, ed. and trans. by Dietrich Seidel / Terrence N. Tice, New York 1991, 177– 179.  Friedrich Schleiermacher, “Über die christliche Gastfreundschaft”, in: Predigten über den christlichen Hausstand, Schleiermachers Werke III, ed. by Otto Braun / Johannes Bauer, Leipzig 1910, 359 – 376, here 359.

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tegrates core theses of his philosophical ethics with his theological vision of redemption. Note that Schleiermacher developed his ethical system as a kind of speculative philosophical anthropology. From his earliest draft of a sketch of the highest good (1792) to the so-called Brouillon (1805/06), the lectures he held on ethics in 1812/13 and later years, and on to his later lectures before the Prussian Academy of Sciences, specifically, “on the concept of the highest good” (1827, 1830), Schleiermacher begins each time by viewing the individual human being as an incomplete being, one, however, already aware of its incompleteness.¹³ Schleiermacher deduces from this a dialectical structure of experience moving first toward the inside and then toward the outside, again toward the inside and then toward the outside, bringing in experience, forming and processing it, and then reproducing and presenting it, and trying it out on the world.¹⁴ In some such way, the individual seeks to fill-out that which one finds to be lacking within oneself, in one’s knowledge, understanding and capabilities. For Schleiermacher, the structure of individual experience – of knowing, doing, and feeling – most basically is creative, communicative interaction with the rest of the world, or relational experience. Schleiermacher works with this theory of human nature in the foreword just quoted by means of a biblical reference. In the quotation provided here from his forward, he writes that humanity was “herrlicher erbaut” (“gloriously formed”) to correspond to a “Bild” (“image”) created by divine grace. In the acoustics of this phrase, “herrlicher erbaut”, Schleiermacher’s audience, whether in print or in person, would naturally hear the resonance of Genesis 1,26 – that the human, created in the divine Bild (image), should herrschen (rule) over the earth – with Genesis 2,15 – that the human should bebauen (cultivate) the earth. If such resonant references to Genesis seem too subtle to be credible, one need look only to Schleiermacher’s 1827 lecture to

 Friedrich Schleiermacher [1789], Über das höchste Gut, KGA I/1, ed. by Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 83 – 125; for lecture notes on ethics in 1805/06 and 1812/13 along with other essays and fragments, see Schleiermachers Werke II, ed. by Otto Braun, Leipzig 1913, respectively 75 – 239 (Brouillon zur Ethik) and 241– 420 (Ethik 1812/13); the Akademievorträge are collected in: KGA I/11, ed. by Martin Rössler, Berlin / New York 2002, with the lectures the highest good found on pages 535 – 554 (Über den Begriff des höchsten Gutes. Erste Abhandlung [17. Mai 1827]) and 657– 678 (Über den Begriff des höchsten Gutes. Zweite Abhandlung [22. Oktober 1830]).  The classic formulation of this dynamic in Schleiermacher can be found in the first speech on religion, where he writes: “Each human soul […] is merely a product of two opposing drives. The one strives to draw into itself everything that surrounds it, ensnaring it in its own life and, wherever possible, wholly absorbing it into its innermost being. The other longs to extend its own inner self ever further, thereby permeating and imparting to everything from within, while never being exhausted itself,” in: Schleiermacher, On Religion. Speeches to its Cultured Despisers, ed. and trans. by Richard Crouter, Cambridge 1997, 5. The same dynamic is evident in his ethics when, in the Brouillon, he describes self-contained Dasein and community with the Ganzes or, in the 1812/13 lectures on ethics, he describes the cognitive appropriation of the individual which then becomes a communal possession. Cf. Schleiermacher 1913, Brouillon (n. 13) beginning with the “general outline” of the “Introduction to the presentation of the highest good” on page 87, and Schleiermacher 1913, Ethik (n. 13), beginning with the “general overview” of the highest good on page 263.

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the Prussian Academy of Sciences, Über den Begriff des höchsten Gutes (“On the Concept of the Highest Good”), where he uses precisely this doubled quality of the human vocation as given in the creation narratives to portray the doubled in-out dynamic of human nature that he outlines in the philosophical anthropology of his ethics. In that lecture, Schleiermacher directs the attention of his scholarly audience to “the oldest ethical consciousness of the human being” and how it sich ausgesprochen hat in dem Beruf, die Erde zu beherrschen, auf der andern Seite aber schon ein zwar ziemlich entwickeltes Bewußtsein von der Beherrschung untergeordneter Kräfte, das aber doch den Umfang derselben noch lange nicht ausgemessen hatte, die richtige Grenze nach dieser Seite zu finden wußte in dem bekannten δὸς πoῦ στῶ καὶ γῆν κινήσω.¹⁵ i.e. has expressed itself in the calling to rule the earth, but also, on the other hand, shows a rather developed consciousness of the powers [that humanity possesses] being governed by humanity’s own rule. This latter consciousness, however, has not taken the extent of these powers into account such that it has found their proper boundaries, evident in the famous expression, “give me somewhere I [can] stand, and I will move the earth.”

What an interesting and, indeed, ironic characterization of the human vocation to rule and to cultivate. The way he views them as mutually qualifying is particularly interesting. The purpose of the human capacity to “herrschen” (“rule”) is not to broaden its powers over nature, but rather to limit them, “To find their right boundaries.” The latter task, namely to limit itself, he says, drives the human through the – note well – “Kreisbewegungen und Oszillationen der Erde” (“the circular movements and oscillations of the earth”), using the same geometrical imagery that he uses in the above quotation of the sermon foreword.¹⁶ In this way, one learns from the experiences, abilities, and limitations of others, even as, reciprocally, others learn from one’s own. As Schleiermacher often explains this point in his lectures on philosophical ethics, human beings’ activities of expanding their “Kreisen” (“circles”) or “Sphären” (“spheres”) are simultaneously and reciprocally activities that determine them.¹⁷ Through mutual and reciprocal forms of interaction – in exploration, trade, art, governance – human beings formulate, make more precise, and then act in response to their hopes for and concerns about the nature of human completion and perfection until all of their “circles” exist and, indeed, live in a geistlichen, interconnected relationship with one another. The nature of the individual human

 Schleiermacher 2002, Erste Abhandlung, 549 (n. 13). Translation mine. The quotation in Greek is a reference to Archimedes’ famous claim to be able to be move the whole earth given enough leverage. Schleiermacher interprets this as an example of raw capability in need of reasoned reflection as to its ends.  Schleiermacher 2002, Erste Abhandlung, 550 (n. 13).  So it is that through freely sociable (i. e., voluntary and reciprocal, free-flowing) communication individuals come together in friendship and then marriage, forming a new shared and definite (if still dynamic and, ideally, expanding) sphere in the intersection of individual spheres. Cf. Schleiermacher 1913, Brouillon, 130 – 136 (n. 13).

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being, according to Schleiermacher, with its doubled, in-out, give-and-be-given-to structure, is thus a communal nature that includes both embodied as well as geistliche exchange with “related” circles.¹⁸ Accordingly, the first arena of individual action, he goes on to say in the first Academy lecture on the highest good (and this is true of his lectures on ethics as well) is action among relatives, “d. h. die Familie” (“that is, the family”).¹⁹ In his first lectures on ethics, the Brouillon of 1805/06, Schleiermacher writes that the family wird auf diese Art eine Totalität alles dessen, was sonst nur zerspalten vorhanden ist, der Geschlechter sowohl als der Alter. Und eben durch diese Totalität wird nun die Zeit und der Raum gleichsam aufgehoben und die Familie eine vollständige Repräsentation der Idee der Menschheit. Daher ist sie auch selbst ein völliges Individuum und gewinnt eine eigene Seele.²⁰ in this way becomes a totality of all that which otherwise is present only in a divided manner, both in terms of gender as well as in terms of age. And precisely through this totality, time and space equally are now suspended and the family becomes a complete representation of the idea of humanity. So it is itself also a complete individual and obtains its own soul.

As Schleiermacher underscores in his foreword to the sermon on hospitality, in a creative allusion to the temptation of Christ in Luke 4, it is a great temptation to believe that the human being could satisfy its basic needs alone or, indeed, that caring for its basic needs satisfies – “allein der Mensch soll nicht seinem Bedürfnis allein leben” (“it is the human alone that is not to live alone in its needs”).²¹ It is, rather, “the family [that] must be seen as something originally given,” as he says in his ethics, and this “originally given” exhibits “eine totale Repräsentation der Menschheit” (“a complete representation of humanity”)²² even as it strives, collectively, after the divine image for which humanity was created, namely what Schleiermacher from the Christmas Eve: A Dialogue (1806) to The Christian Faith (1830/31) describes as the “höchste Vollendung” of life and “die nun erst vollendete Schöpfung der menschlichen Natur” in Christ (“the now first completed creation of human nature”).²³ The individual human can only pursue the full realization of its ethical nature in relationship with others.

 For explication and interpretation of this point in relation to Schleiermacher’s theology, see: Matthew Ryan Robinson, Redeeming Relationship, Relationship that Redeems. Free Sociability and the Completion of Humanity in the Thought of Friedrich Schleiermacher, Tübingen 2018.  Schleiermacher 2002, Erste Abhandlung, 550 (n. 13).  Schleiermacher 1913, Brouillon, 134 (n. 13).  Schleiermacher 1910, Gastfreundschaft, 360 (n. 12). Luke 4:4 in the 2017 Lutherbibel reads, “Der Mensch lebt nicht allein vom Brot, sondern von einem jeglichen Wort Gottes.”  Schleiermacher 1913, Brouillon, 137 (n. 13).  Friedrich Schleiermacher [1806], Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch, KGA I/5, ed. by Hermann Patsch, Berlin / New York 1995, 39 – 98, here 92; Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube, nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (21830/31), KGA I/ 13.1+2, ed. by Rolf Schäfer, Berlin / New York 2003, here I/13.1, 27– 28.

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But what is the relevance of all of this to hospitality? Why is Schleiermacher taking the time to carefully signal the connections between his philosophical-anthropological views on the basic doubled-nature of human action, on the one hand, and, on the other hand, his theological understanding that the family cultivates these forms of action in cultivation of the image of God, as a form of preparatory grace for the kingdom of God? As just noted, Schleiermacher maintains that the family must be seen as something “originally given.” When he says the family must be as something originally given in the Brouillon, he continues in the very next sentence: “Die freie Geselligkeit aber auch. Daher ist beides identisch” (“But free sociability also. So for this reason, both are identical”).²⁴ In ideal terms, free sociability, according to Schleiermacher, is a completely reciprocal and mutual communication of thoughts, feelings, and experiences among free and equal individuals with no predetermined or delimiting purpose. It is the very form and praxis of the ethical life, as Schleiermacher imagines it. It is a performance and practice of both individuality and at the same time of humanity on the whole. And as a form or structure, free sociability is present in every area of ethical life – from relationships between individual persons to those even between states.²⁵ Each “individuality” – whether that of an individual human being or that of an individual family, tribe, nation, state, or social system – forms its own Kreis or Sphäre or Eigenthum which it then communicates to other individuals in a freely sociable manner with whom it comes into contact and vice versa. Of particular relevance for present purposes is that the “allgemeine Form” of free sociability – that means its general form of expression – ist also das freiwillige Eintretenlassen der Andern in die Sphäre des Eigenthums, und da überall nur der, welcher innerhalb dieser Sphäre betrachtet wird, erkannt werden kann, so muß es gegenseitig sein=gegenseitige Gastfreiheit.²⁶ is the voluntary receiving or welcoming of others into one’s unique sphere, and since one can only be known who is beheld within this sphere, it [i. e., the act of welcome] must be mutual=mutual hospitality.

The answer to the question of this significance of the particular forward that Schleiermacher wrote before his sermon on hospitality is that the essence of hospitality is free sociability, and free sociability, for Schleiermacher, is the practice of the completion of humanity and the basic dynamic of all human action. In other words:

 Schleiermacher 1913, Brouillon, 135 (n. 13).  In the 1812/13 lectures, Schleiermacher writes that “Free sociability is sociable property and encompasses various circles (Kreise), which at the broadest seems to be limited by the historical nature of formation itself.” (Schleiermacher 1913, Ethik, 273 [n. 13]).  Schleiermacher 1913, Ethik, 126 (n. 13).

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the structure of human nature is hospitality.²⁷ Thus when Schleiermacher in the forward to his sermon speaks of the family’s forming and maintaining its “Kreis” (“circle”) in a Genesis 1– 2 practice of being “herrlicher erbaut” (“gloriously cultivated”) into the “Bild” (“image”) of human completion, he is not simply evoking theological imagery for poetic effect. He is rather signalling that he sees the whole series that he had been delivering on the Christian household, and the sermon that he is about to deliver on hospitality in particular, as an expression and practice of what it most essentially means to be a human being created by God and living in the world. I have focused on the philosophical-ethical background to Schleiermacher’s comments in setting up the closing sermons of his series, namely, those on hospitality and benevolence. But the “anthropology” which I have been describing in his thought is at one and the same time, without competition or subordination, philosophical and theological. The philosophical anthropology that Schleiermacher outlines in his ethics is also working within the theological, and more specifically christological, imago dei-imagery of two natures existing in complete harmony and together forming completed human beings and perfected humanity. As noted, Schleiermacher advances this Christology quite consistently, from the early Christmas Eve: A Dialogue on through both editions of The Christian Faith. The completion of the perfection of humanity constitutes the telos of humanity, in the semantics of both ethical description of history and culture as well as Christian confession of salvation in Christ and hope for entry into the Kingdom of God. So the stakes for hospitality and benevolence could not be higher. Through the family, and through the family’s commitment “vorübergehend andere in sich aufzunehmen und Verbindungen außerhalb zu unterhalten” (“to gather others into itself and to engage connections [with others] beyond itself”), the entire scope of brotherly

 This thesis has been repeatedly and explicitly advanced in the twentieth century, independent of Schleiermacher, for example, in the ethical-phenomenology of Emmanuel Levinas as well as the theology of Dietrich Bonhoeffer. In Totalität und Unendlichkeit, Levinas portrays an image of the self whose structure is hospitality, writing: “Die Intentionalität ist Aufmerksamkeit auf das Wort oder Empfang des Antlitzes, Gastlichkeit […].” In the course of his argument he paints the self as a dwelling “Bei-sich-zu-Hause” in the world, and, ulltimately, he wants to suggest that the reception of another into one’s space of possession and economy is necessary for the constitution of the self, that I can only come to receive myself as the unique and independent self that I am in the reception of, in hospitable invitation to, another to come and stay with me for a while. (Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit: Versuch über die Exteriorität, München / Freiburg i. Br. 1987, 41– 43, 434). Dietrich Bonhoeffer similarly argued in his dissertation on the sociology of the church that reception of the self is made possible only in being placed into a place of responsibility through the address of a “foreign I” (fremdes Ich). He likely meant his argument at this early point in his career as a further development of the Barthian dialectical theology of the saving righteousness of God that must be a “strange righteousness” (fremde Gerechtigkeit) coming “from the outside.” But in the context of his very concretely ethical articulation of this theology, the tonality of the Fremdheit takes on a rather embodied, and hospitable feel. See: Dietrich Bonhoeffer, Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche, ed. by Joachim Soosten, Güterloh 2015, 25 – 26.45 – 51.

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love and the spirit of the Christian life is revealed to all.²⁸ This insight concerning humanity’s two-natured calling to “herrschen” (“rule”) and “bebauen” (“cultivate”) is fundamental for understanding Schleiermacher’s treatment of Christian benevolence and hospitality in the sermon series on the Christian household and for how he regards these as essential to both human life and redemption in Christ.

5 The “great rule” of the Christian life: On why it is essential to (be able to) give to others Hebr 13,2 – Gastfrei zu sein vergesset nicht; denn durch dasselbe haben etliche ohne ihr Wissen Engel beherbergt Do not forget to show hospitality, for in this way some have welcomed angels without knowing it. Eph 4,28 – Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern arbeite und schaffe mit den Händen etwas Gutes, auf daß er habe, zu geben dem Dürftigen Let the one who has stolen steal no more but rather work and produce something good with his hands that he may have something to give to the needy.

These are the two sermon texts for the sermons on hospitality and benevolence. The key is to understand the intrinsic interconnection of hospitality and benevolence in these sermons. Schleiermacher begins both sermons with the same analytic point, namely, the observation that, in earlier times, hosting and helping the needy were “eins und dasselbe” (“one and the same thing”) or, respectively, “größtenteils dasselbe” (“largely the same”) inasmuch as both are rooted in “Mitgefühl” (“sympathy”) for the other.²⁹ As society has differentiated, however, and at first social practices and then social institutions formed to provide assistance to the needy stranger – the migrant, refugee, and immigrant – so also hospitality and benevolence differentiated from one another, resulting in a specification of the nature of each: Benevolence attends to “dem lieblichen Teil” (“the bodily element”) of the human being, and hospitality “dem geistlichen” (“the spiritual/intellectual/cultural element”). To correlate this distinction to the previous distinction, a parallel is evident here between the spiritual and bodily, in these sermons, and herrschen and erbauen, in the sermon forward as well as Schleiermacher’s ethics.

 Schleiermacher 1910, Gastfreundschaft, 360 (n. 12).  Schleiermacher 1910, Gastfreundschaft, 363 (n. 12).

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“The purpose of all hospitality,” writes Schleiermacher, “should be aimed at geistigen Verkehr and geistigen Genuß.”³⁰ He takes this to be the point of the Hebrews text and the account of Abraham hosting the three angelic individuals under the oak at Mamre, to which it refers. Hospitality is distinguished from material aid when it goes beyond simply meeting needs to providing also for a quality of geistliches life, in the full semantic range of that unique German word: Hospitality is a “reciprocity” of spiritual, intellectual and cultural “giving and receiving.”³¹ The physical element, however, is not left behind in Christian hospitality; to do so would be to “bury the geistige with it.”³² What criteria are there, then, for discerning a balance? Schleiermacher provides only one criterion, what he calls “die große Regel des christlichen Lebens” (“the great rule of the Christian life”), namely: “that each person should have something in order to share with the needy.”³³ Now, this great rule of Christian life that Schleiermacher cites here in his sermon on hospitality happens to be a quotation of Eph 4,28, the sermon text for the following sermon on benevolence. This suggests Schleiermacher still sees an intrinsic connection between the two, their differentiation notwithstanding. Indeed, Schleiermacher argues that hospitality is “ein Recht” (“right”) that someone earns only with the satisfaction of the demands of benevolence to help the needy.³⁴ The basic idea of benevolence, as commonly understood, is simply giving to someone in need. But for Schleiermacher that is not a Christian practice of benevolence. Schleiermacher argues that Christian benevolence is empowering others to themselves be in a position of being able to give to others. The argument may be summarized as follows: Schleiermacher grounds his theory of Christian benevolence by reciting his standard opening axiom, namely, that all humans live in mutual interde-

 Schleiermacher 1910, Gastfreundschaft, 365 (n. 12). It is interesting to compare on this point Schleiermacher’s comments, penned at the young age of twenty, in the notes he took while translating Aristotle’s Nichomachean Ethics from Greek into German for his professor in Halle, Eberhard. In considering whether Wohltätigkeit suffices to supply the sociable needs of humanity, Schleiermacher writes: “The question is whether in this way [i. e., through acts of benevolence] sociable feeling and sensitivity can be nourished to a higher level, and whether the enjoyment obtained in this benevolence fulfils the need for closer connection with similar beings? I don’t think so.” Friedrich Schleiermacher [1788], Anmerkungen zu Aristoteles: Nikomachische Ethik 8 – 9, KGA I/1, ed. by Günter Meckenstock, Berlin /New York 1984, 1– 43, here 4. For the contemporary reader, the question might be whether the older Schleiermacher who preached the sermon on benevolence in 1818, if re-reading Aristotle then, would have shared Aristotle’s conviction that the need for “closer connection with similar beings” excludes a sense of mutual belonging to one another, across economic status and other social divisions. My answer: “I don’t think so.”  Schleiermacher 1910, Gastfreundschaft, 368 (n. 12).  Schleiermacher 1910, Gastfreundschaft, 364 (n. 12).  Schleiermacher 1910, Gastfreundschaft, 360 (n. 12).  Friedrich Schleiermacher, “Über die christliche Wohltätigkeit”, in: Predigten über den christlichen Hausstand, Schleiermachers Werke III, ed. by Otto Braun / Johannes Bauer, Leipzig 1910, 377– 398, here 377.

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pendence on one another, “denn keins besteht dermalen für sich und durch sich allein” (“for nothing for itself and of itself alone”).³⁵ But, he observes, human beings live as though they might be independent, self-sustaining individuals, resulting in gross inequality. Therefore, he argues, müssen wir nicht gestehen, daß, wenn wir nicht auf eine so erfreuliche Weise genug und übrig hätten, nicht so viele unsere Brüder zu wenig haben würden? Da wurzelt also in der bloßen Gerechtigkeit das Bestreben zu helfen und auszugleichen; wir machen den göttlichen Segen im äußeren uns selbst dadurch genießbarer, daß wir das peinliche Gefühl derer lindern, welche durch dieselbe Verbindung der Menschen, durch dir wir gesegnet worden sind, an ihrem Teile scheinen verkürzt worden zu sein. Daher ist nun diese Wohltätigkeit nicht etwas Zufälliges, sondern weil sie auf den unvermeidlichen Wirkungen des gemeinsamen Zustandes der Menschen beruht, ist sie etwas Wesentliches. ³⁶ mustn’t we confess that were we not so fortunate as to have enough and extra, then not as many of our brothers would have so little? The striving to help and even-out [this disparity] is rooted simply in justice itself. We make the divine blessing in external things more enjoyable to ourselves by suffering the distressing feeling of those who, through the same (inter)connectedness of human beings through which we are blessed, have themselves been shorted. So is it that this benevolence is not something coincidental but something essential, for it touches upon the unavoidable effects of our common condition.

How is the problem of inequality to be addressed in a way oriented toward the completion of humanity? Surely, simple redistribution, or? Schleiermacher does call for that; but he pushes for more than just that. He derives from the axiom of interdependence two necessary conditions for the practice of Christian benevolence which mirror his two-natures anthropology of humans that herrschen and bebauen: Benevolence requires, first, giving and, second, more specifically, providing for others in such a way that they themselves are able to provide for others. He delivers a cutting critique of both philanthropy and any charity given from the proceeds of wealth gained through selfish pursuits. The argument that an incredibly rich business person, whose wealth is made by means of the back-breaking labour of others, could help the needy more than many needy persons could collectively – this argument holds no water for Schleiermacher. Taking his lead from his sermon text – “Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr” (“Let the one who has stolen steal no more”) – he calls this bald stealing. The rich must bebauen (cultivate), not only herrschen (rule). And the poor must be able to rule, give, and provide, and not only till the soil. In no instance is benevolence any particular “blessing” to the giver (though he does grant it can feel fulfilling); rather, Schleiermacher calls it a work of emergency and shame. Why? “Daß die vorzüglich Begünstigten in der Gesellschaft es nur sein können auf Kosten anderer” (“Should the well-off in a society only be able to be

 Schleiermacher 1910, Wohltätigkeit, 378 (n. 34).  Schleiermacher 1910, Wohltätigkeit, 378 – 379 (n. 34).

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well-off at the expense of others”)?³⁷ For the existence of the poor, remember, is a sign of an uncompleted, imperfect, not yet redeemed humanity. Making, producing, and increasing the quality of life – herrschen – are all good products of the human calling to rule over nature. But human beings must also learn mutual cultivation – to cultivate that capacity and to hold its tendency to create inequalities “in gewissen Schranken” (“in certain limits”). In the end, Schleiermacher’s analysis comes down to the dependence, not only of the poor upon the goodwill of the rich, but the equally fundamental dependence of the rich on the poor.

6 Conclusion The end goal – the eschatological vision – when all things are redeemed and humanity is completed, is not the independence of all from every other. This is because, for Schleiermacher, even in a perfect world, individual human beings are not independent from one another. The very image of God in which humanity is created is a doubled nature: a consciousness of a certain amount of freedom formed communally in a reciprocal interplay with an awareness of our dependence on others, and, ultimately, the dependence of all things on their “gesetztes Woher”. ³⁸ We neither make nor sustain ourselves. We are in the end as we are in the beginning and even as we are now, mutually dependent upon the well-being of every other. Thus, the completion of humanity, the realization of redemption, in his view, will be the achievement of a perfected interdependence of all on one another. And in this striving, hospitality, in its most robust sense of mutually providing for one another’s “leibliches” and “geistliches” well-being is “etwas Wesentliches” (“something essential”), indeed, lying at the very centre of a Christian theology of redemption.

 Schleiermacher 1910, Wohltätigkeit, 389 (n. 34).  Schleiermacher 2003, §4.4, KGA I/13.1, 39 (n. 23).

Christian Rebert / Halle (Saale)

Ethisches Prisma Familie Von der Vielfalt der Orientierungsleistungen einer Sozialform Worauf kommt es im Leben an? Was gibt Ihrem Leben einen Sinn? Auf diese und ähnliche Fragen lautet eine der häufigsten Antworten, die in sozial-empirischen Untersuchungen zutage gefördert wird: die Familie.¹ Dieser Befund kann einen Theologen hellhörig machen, schon gar, wenn er Paul Tillichs Diagnose unterschreibt, dass die Aufgabe der Religion in der Moderne vor allem in der Sinnstiftung liege.² Nun landet die Religion in den entsprechenden Studien allerdings regelmäßig nur auf den hinteren Plätzen. Um jene Diskrepanz zu erklären, lassen sich Muster der Deinstitutionalisierung religiöser Vollzüge ins Feld führen, die eine Präsenz- und letztlich eine Bedeutungsabflachung religiöser Symbole und Orientierungen nach sich ziehen. Solche und andere Negativbefunde können durchaus aufschlussreich sein. Konstruktiver hingegen erscheint es mir, beim Positiven anzusetzen und die Frage zu stellen: Welche Bedeutungsdimensionen lassen die Familie zu einem so herausragenden Sinnstifter werden? Diese Frage zielt auf sozial- und kulturphilosophische, bewusstseinstheoretische und im weitesten, wie auch im engeren Sinne ethische Behandlungen. Es wird im Zusammenhang dieses Kongresses wenig überraschen, dass der Autor, der mir hierauf besonders aufschlussreiche Antworten zu geben verspricht, Friedrich Schleiermacher heißt. Er steht geschichtlich auf der Schwelle des prominenten Umbruchs vom Oikos, als einer groß- und überfamilialen Produktions- und Lebensgemeinschaft, zur bürgerlichen Kleinfamilie, die durch Emotionalitätsaufladungen und Exklusivitätsansprüche gekennzeichnet ist. Es ist freilich nicht allein der geschichtliche Ort Schleiermachers, der ihn in dieser Frage auszeichnet, sondern vor allem seine Form der Behandlung der Problematik. Anders als sein Freund der ersten Berliner Jahre Friedrich Schlegel setzte er nämlich nicht allein auf das Romantisierungsparadigma,³

 Vgl. Shell Deutschland Holding (Hg.), Jugend 2015. Eine pragmatische Generation im Aufbruch, Frankfurt a.M. 2015, 238 – 240. Rosemarie Nave-Herz, Ehe- und Familiensoziologie. Eine Einführung in Geschichte, theoretische Ansätze und empirische Befunde, Weinheim/Basel 32013, 72– 76. Michael Domsgen, Familie und Religion. Grundlagen einer religionspädagogischen Theorie der Familie, Leipzig 2004, 245 – 246.  Vgl. zur Debattenlage im 20. Jahrhundert zum Thema Religion und Sinn und zur Einbettung Paul Tillichs in selbige: Ulrich Barth, „Religion und Sinn. Betrachtungen zum frühen Tillich“, in: ders., Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 431– 451.  Gemeint sind die Gleichsetzung von Liebe und Ehe, die Dauerhaftigkeit der Liebe und Treue, die Integration der Elternschaft als emotionale Vertiefung der Paarbeziehung, die wechselseitige Steigerung der Individualität, überhaupt die Betonung der Wechselseitigkeit der Gefühle anstelle einer minneartigen einseitigen Verehrung und das Überstrahlen aller anderen Lebensbezüge durch die exklusive Liebesbeziehung. Zu jener an Schlegels Roman Lucinde angelehnten Charakterisierung vgl. https://doi.org/10.1515/9783110569520-029

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Christian Rebert / Halle (Saale)

sondern hielt auch institutionelle, ökonomische und sozialmilieuspezifische Aspekte präsent. Nach den qualvollen Jahren seiner vergeblichen Liebesmüh um Eleonore Grunow und in seiner bekanntermaßen auch nicht unbelasteten Ehe mit Henriette von Willich, geb. von Mühlenfels, wusste Schleiermacher auch biographisch um die Grenzen romantischer Emphase. In dieser Balance- bzw. Zwischenstellung, die er bekanntlich ebenso in anderen Theoriedimensionen anstrebte, erscheint Schleiermacher auch gegenwärtig als lohnender Autor für die Frage nach der hohen Bedeutsamkeit von Familie. Um ihr genauer nachzugehen, möchte ich im Folgenden zwei Schritte tun. Der erste besteht in kategorialen Verortungen der Sozialform Familie in kultur-, sozial- und handlungstheoretischer Perspektive. Der zweite Schritt zielt auf eine materiale Würdigung einiger Bedeutungsdimensionen familialer Geschlechter- und Generationenverhältnisse.

1 Kategoriale Verortungen der Sozialform Familie Zum ersten Schritt ist zunächst Schleiermachers als Güterlehre angelegter philosophischer Ethikentwurf zu nennen. Dessen Ideal ist klassischerweise bezeichnet mit dem Begriff des höchsten Guts, welches Schleiermacher allerdings nicht in transzendenter Unbestimmtheit belässt, sondern in einzelne Güter unterteilt, die er sodann koordiniert und in dieser Komplexgestalt wiederum als Ausdruck des höchsten Gutes proklamiert.⁴ Auf diese Weise gelingt es ihm, die aufgefundene bzw. aufgestellte leitende Struktur sowohl als objektive Kultur-⁵ bzw. Sozialphilosophie⁶ als auch als

Karl Lenz, „Romantische Liebe – Fortdauer oder Niedergang?“ in: „Liebe“ im Wandel der Zeiten. Kulturwissenschaftliche Perspektiven, hg.v. Klaus Tanner, Leipzig 2005, 237– 259, hier 241– 244.  Dies schließt nicht aus, dass eine der Sphären stärker in den Fokus genommen wird und die anderen sodann nur mit Bezug auf diese zur Darstellung kommen. Beispiele dafür führt Schleiermacher im Ethikkolleg von 1812/13 an: „Daher läßt sich die ganze Sittlichkeit unter jedem dieser einzelnen Punkte darstellen, wobei zwar alles andere mit in die Darstellung kommen muß, aber das Entgegengesezte nur verkürzt, welches eben die Einseitigkeit bildet. Sittlichkeit als Kultur, politische Ansicht; Sittlichkeit als Wissen, als Theorie, antike Ansicht; Sittlichkeit als Genialität, künstlerische Ansicht; Sittlichkeit als Gesezmäßigkeit, rechtliche Ansicht; Sittlichkeit als Vollkommenheit und Glückseligkeit, französische Ansicht; als Geselligkeit und Sympathie, englische Ansicht.“ (Friedrich Schleiermacher, „Entwürfe zu einem System der Sittenlehre“, Schleiermachers Werke, Bd. 2, hg.v. Otto Braun, Aalen 1967 [Nachdruck Leipzig 21927], 262.) Zur Übersicht sei die bekannte tabellarische Darstellung der Unterteilung beigegeben:

identisch

Organisieren

Symbolisieren

Tausch/Verkehr | Recht | Staat

Wissen/Sprache | Wissenschaft | Akademie

individuell Eigentum | Geselligkeit | Haus

Gefühl | Kunst und Religion | Kirche

 Vgl. Albert Reble, Schleiermachers Kulturphilosophie. Eine entwicklungsgeschichtlich-systematische Würdigung, Erfurt 1935.

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subjektive Handlungstheorie auszubuchstabieren und damit eine echte Verschränkung dieser Perspektiven zu leisten.⁷ Die Kultur- und Handlungsgebiete gliedert Schleiermacher zum einen nach der jeweiligen Dominanz des Individuellen oder Allgemeinen. ⁸ Zum anderen wird dies gekreuzt durch die Handlungsformen des Organisierens und Symbolisierens. Ersteres meint ein bildendes Handeln – von Geist auf Natur – letzteres ein abbildendes Handeln – von Natur mittels des Geistes.⁹ In der Christlichen Sitte spricht er analog von wirksamem und darstellendem Handeln. ¹⁰ Der systematische Ort für das häusliche Leben, das heißt, die freie familiale und freundschaftliche Geselligkeit und Eigentumsbildung ist das individuelle Organisieren. Alle Kulturgüter und Institutionen greifen im praktischen Leben über ihre Handlungs- und Kulturgrenzen aus auf andere Sphären.¹¹ So gibt sich etwa die Kirche als Institution des individuellen Symbolisierens auch ein Recht und sie formiert eine Wissenschaft. Die Familie geht über diese Anteilhabe kultureller Verschränkungen aber noch weit hinaus. So heißt es im Ethikkolleg von 1812/13: „Die Familie enthält die Keime aller vier relativen Sphären, welche erst in der weiteren Verbreitung aus einandergehen.“¹² Noch radikaler formuliert es Schleiermacher im Brouillon: „Die Familie wird auf diese Art eine Totalität alles dessen, was sonst nur zerspalten vorhanden ist, der Geschlechter sowol als der Alter. Und eben durch diese Totalität wird nun die Zeit und der Raum gleichsam aufgehoben und die Familie eine vollständige Repräsentation der Idee der Menschheit.“¹³ Die Familie erscheint hier als die basalste Sozialgestalt, die eine Zueignung der unterschiedlichen Kulturgüter zwar nicht fortwährend und exklusiv vermittelt – dies wäre eine der bürgerlichen Moderne unangemessene Beschreibungsweise –, aber doch in diese einführt, erste Berührungen bietet und einen bleibenden Horizont bereitstellt. Kulturevolutionär leuchtet die Metapher von der keimhaften Anlage ebenso ein, geht man von einer Komplexitätssteigerung aus, die von einer Sippen- über eine Stämme- zur Staatengemeinschaft mit  Gunter Scholtz, Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt a.M. 1995, 37.  Damit kann Schleiermacher als ein Vorfahre systemtheoretischer Ansätze des 20. Jahrhunderts, wie jener Talcott Parsons‘ oder Niklas Luhmanns, gelten. (Vgl. Talcott Parsons, The social system, Glencoe 1951; Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1987.)  Vgl. Schleiermacher 1967, 260 – 262 (Anm. 4).  Wilhelm Dilthey paraphrasiert: „entweder wird das Sein dem Bewußtsein eingegliedert oder das Bewußtsein dem Sein.“ (Ders., Leben Schleiermachers, Bd. II, hg.v. Martin Redeker, Berlin 1966, 291.)  Vgl. Friedrich Schleiermacher, Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt von Dr. Friedrich Schleiermacher. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, hg.v. Ludwig Jonas, Berlin 1843, Beilage 63: „§ 182. Das Resultat des verbreitenden Handelns verhält sich zu dem des darstellenden wie Organ zu Symbol.“ Auf 293 wird diese Parallelität anhand des Fleisch-Geist-Gegensatzes illustriert.  Vgl. Schleiermacher 1967, 259 (Anm. 4): „Die beiden Hauptfunctionen der Vernunft, die organisirende und die erkennende, sind in der Realität nicht getrennt, […] denn […] durch jedes Erkennen ist ein neues Organ gesezt, […] und jedes Organ ist zugleich ein Symbol.“  Schleiermacher 1967, 273 (Anm. 4).  Schleiermacher 1967, 134 (Anm. 4).

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entsprechender gesellschaftlicher Binnendifferenzierung führte; denn Vollzüge von sittlich-rechtlicher Regulation, Ökonomie, Wissensvermittlung und Religion gehören bereits zu den primitiven Formen der Gemeinschaftsbildung. Auch in der Christlichen Sitte kommt der Familie eine integrative Sonderstellung zu, insofern sie sowohl Anteil an der inneren (kirchlichen) Sphäre des christlichen Handelns hat – in Gestalt der „Geschlechtsgemeinschaft“, als auch an der äußeren (bürgerlich mitbestimmten) – in Gestalt der „Hauszucht“.¹⁴ Wenden wir den Blick auf die Kategorien der Güterlehre, so zeigen auch diese selbst wechselseitige Verschränkungen. Im Verhältnis von Individualität und Sozialität bestimmt Schleiermacher grundlegend, dass das Andere ohne Aneignung nicht präsent wird, während das Selbst ohne ein Anderes ebenfalls unbestimmt bleibt.¹⁵ Aber er geht bei seiner Einführung der Sozialformen, zu denen ganz basal die Familie gehört, noch einen Schritt weiter, denn er präsentiert sie nicht nur als Rahmen für Einzelpersonen, in denen sie ihre Individualität anhand der Alterität anderer ausbilden können und umgekehrt, sondern bezeichnet sie selbst als „Individuen“¹⁶ bzw. „Personen“¹⁷. Julius Richter paraphrasiert präzise: „Genau wie die Einzelperson neben ihrem universellen Charakter den der Individualität hat, so hat auch die Person der Familie ihre Individualität, durch welche sie sich unterscheidet von jeder anderen Familie, während die einzelnen Glieder der Familie darin als in einem Identischen übereinstimmen.“¹⁸ Individualität ist die Voraussetzung für eine Identifikationsvalenz und jene ermöglicht wiederum allererst eine Bezugnahme des Gefühls, die eine Bandbreite von Liebe über Geneigtheit, Distanz bis hin zu Hass aufweist.¹⁹ Schleiermacher stellt meines Erachtens so sehr auf die Individualitätsbestimmtheit der Sozi-

 Vgl. dazu übersichtlich Hans-Joachim Birkner, Schleiermacher Christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, Berlin 1964, 108.111.  Vgl. prägnant in den Monologen: „[…] nur durch Entgegensezung wird das Einzelne erkannt.“ (Friedrich Schleiermacher [1800], Monologen. Eine Neujahrsgabe, KGA I/3, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1988, 1– 61, hier 22.  Vgl. Schleiermacher 1967, 327 (Anm. 4): „Mann und Frau bilden eine gemeinschaftliche Eigenthümlichkeit […] Diese gemeinschaftliche Eigenthümlichkeit ist der Familiencharakter […].“ 95 – 96: „Die absolute Gemeinschaftlichkeit des Organisirens wieder individualisirt gibt die Idee des Staates. Denn es heißt: eine Masse davon soll eine Unübertragbarkeit an das Uebrige annehmen und eine besondere Bestimmtheit in sich.“  Vgl. Schleiermacher 1967, 604– 605 (Anm. 4): „Keineswegs aber ist der Begriff so beschränkt auf den einzelnen Menschen, daß er auf anderes nur in uneigentlichem Sinne könnte angewendet werden, sondern ganz auf dieselbe Weise ist eine Familie eine Person und ein Volk eine Person.“ Ebenso wie der Mensch sind auch seine freien Vergesellschaftungsformen selbstzwecklich. (Vgl. Friedrich Schleiermacher [1799], Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, KGA I/2, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1984, 163 – 184, hier 169.)  Julius Richter, Das Princip der Individualität in der Moralphilosophie Schleiermachers, Gütersloh 1901, 54.  Dieser Bogen ist ohne die angegebene Vermittlungsstufe als Bekenntnis ausgedrückt in den Monologen: „Wo ich Anlage merke zur Eigenthümlichkeit, […] da ist auch für mich ein Gegenstand der Liebe. Jedes eigne Wesen möcht ich mit Liebe umfaßen […].“ (Schleiermacher 1988, 25 – 26 [Anm. 15])

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alformen ab, weil er die Möglichkeit fundieren will, die Sozialformen selbst zu lieben. Das Besondere daran, eine Gemeinschaft zu lieben – und nicht nur in ihr zu lieben – ist, dass damit zugleich ein starkes Reflexivitätsmoment aufleuchtet. So bedeutet, die Familie zu lieben, nicht nur, die anderen Familienmitglieder zu lieben, sondern auch die Gemeinschaft mit ihnen, bzw. noch pointierter: sich in ihrer Gemeinschaft zu lieben. Diese Selbstapplikation ist unverzichtbar, wenn eine Sozialform als subjektiver Lebenssinn plausibilisiert werden soll. Sie wird als ein Drittes gegenüber der Summe ihrer Glieder präsent; ist als dieses sogar nochmals in besonderer Weise in deren weiteren sozialen Kontext eingebettet und ist doch zugleich Ausdruck und Produkt der Beziehung ihrer Akteure. Selbstperformanz und Alterisierung verschränken sich. Ebenso wie mit dem Verhältnis von Individualität und Sozialität verhält es sich mit jenem von Natur und Geist. Geist bzw.Vernunft weisen zwar über die Natur hinaus, sind allerdings unabhängig von ihr nicht denkbar und erst Recht nicht empirisch verifizierbar. So hält Schleiermacher fest, dass „die Vernunft nur gehandelt hat, wenn Natur mit ihr geeinigt worden ist“.²⁰ Mit dieser Würdigung des Naturalen steht Schleiermacher in grundprotestantisch-ethischer Tradition, welch letztere aus ihr eine erhebliche Aufwertung des geschlechtlichen und familialen Lebens generiert hat.²¹

2 Materiale Konkretionen Plastisch werden diese Verhältnissetzungen, wenn wir uns nun im zweiten Schritt einige von deren materialen Konkretionen vor Augen führen.

2.1 Das Attraktivitätsspiel Einsteigen möchte ich mit dem Beginn einer romantischen Paarbiographie: dem Attraktivitätsspiel. Anders als bei der ständischen Ehe,²² ist im Fall der romantischen

 Schleiermacher 1967, 546 (Anm. 4).  Vgl. Dietrich Rössler, „Grundlagen und Aspekte des gegenwärtigen lutherischen Eheverständnisses, in: Ehe – Institution im Wandel. Zum evangelischen Eheverständnis heute“, in: Zur Sache – Kirchliche Aspekte heute, Bd 18, hg.v. Günther Gaßmann im Auftrag der Bischofskonferenz der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, Hamburg 1979, 37– 65, hier 39. Schleiermacher geht in der Christlichen Sitte sogar so weit, den christlichen Missionsauftrag exklusiv auf das Familienleben zu verpflichten. Dass Paulus in 1Kor 7,7 allen den ehelosen Stand riet, findet Schleiermacher in der zeitgeschichtlichen Lage der Mission begründet, die sich primär an Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften richtete. Zur Verkündigung dort, wäre eine Familie hinderlich gewesen. In der Gegenwart eines sehr stark christlich geprägten Landes hingegen sei die Mission ein intergenerationelles Geschäft. Fortpflanzung und Erziehung seien der eigentliche Missionsmotor, der die Gehalte der Religion weitertransportiert, und die diesem angemessene Sozialform sei die Ehe. (Vgl. Schleiermacher 1843, 346 – 348 [Anm. 10]).  Eine vermittelnde Position zu dieser nimmt Schleiermacher 1843, 360 – 364 (Anm. 10) ein.

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Ehe die persönliche Wahlanziehung entscheidend, welche Schleiermacher bereits aus der aristotelischen Freundschaftstheorie geläufig war.²³ Mit ihr ist nicht allein gewährleistet, dass die Partner einander grundlegend in Liebe zugetan sind, sondern auch, dass sie des Fügungscharakters ihrer Ehe, der jene stabilisiert, emotional gewahr werden. In einem Brief an Henriette Herz behauptet er: das „Bestreben Männer an sich zu ziehen liegt in der weiblichen Natur und gehört zu ihr […] nicht etwa als ein Fehler sondern ganz nothwendig und wesentlich.“²⁴ Die Geschlechterzuordnung ist hierbei nicht austauschbar. In der Philosophischen Ethik nimmt Schleiermacher eine klare Trennung der „Geschlechtsfunction“ vor; so erblickt er „im Weiblichen Uebergewicht der Receptivität und im Männlichen der Spontaneität.“²⁵ Wenn nun der Erstimpuls zu einer Verbindung von dem ohnehin weniger spontaneitätsbegabten Geschlecht ausgeht, ist der Passivitäts- und Fügungscharakter herausgehoben. Interessanterweise wird nicht nur der Mann ermahnt, das göttliche Los nicht aus Kalkül oder Trieb zu übergehen – in der ersten Hausstandspredigt heißt es: „wehe ihm, wenn er willkürlich wählt, sei es daß irgend eine verständige Berechnung ihn leite, oder daß er sich mit der Ungeduld der Leidenschaft über seinen Gegenstand hinwerfe.“²⁶ Auch

 Vgl. Friedrich Schleiermacher [1789], Übersetzung von Aristoteles. Nikomachische Ethik 8 – 9, KGA I/ 1, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1984, 45 – 80, sowie Schleiermacher 1967, 324 (Anm. 4): „§ 21. Da jede persönliche Wahlanziehung Freundschaft ist, so kann es so viele Formen individueller Ehe geben, als es Formen der Freundschaft gibt.“ Die Ehe ragt allerdings darin über die Freundschaft hinaus, dass „in dem Act der Geschlechtsvermischung“ die „Vollständigkeit der gegenseitigen Wahlanziehung“ anerkannt wird. (Schleiermacher 1967, 325 [Anm. 4])  Friedrich Schleiermacher, Brief 1368, KGA V/6, hg.v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin/ New York 2005, 185.  Schleiermacher 1967, 322 (Anm. 4). Er folgert: „Daher: Eigenthümliches Erkennen: Gefühl weiblich, Fantasie männlich; Aneignung weiblich, Invention männlich.“ Mit dieser Zuordnung steht Schleiermacher in seiner Zeit keineswegs allein da. Selbst Schiller, der Dramatiker der starken Frauenfiguren, äußert sich hierin ganz ähnlich: „Zur Anmuth muß sowohl der körperliche Bau, als der Charakter beytragen; jener durch seine Biegsamkeit, Eindrücke anzunehmen und ins Spiel gesetzt zu werden, dieser durch die sittliche Harmonie der Gefühle. In beydem war die Natur dem Weibe günstiger als dem Manne.“ (Zit. n.: Maria C. Foi, „Spiel des Weiblichen. Bemerkungen zu Don Carlos“, in: Schiller, der Spieler, hg.v. Peter-André Alt u. a., Göttingen 2013, 45 – 65, hier 47.) – Diese Zuordnung verdankt sich sicherlich nicht nur der gesellschaftlichen Zuordnung der Wirkungsbereiche der Geschlechter, sondern auch der schlicht unterschiedlichen „Aufgabenverteilung“ im gemeinen Geschlechtsakt.  Friedrich Schleiermacher [1818/20], Der christliche Hausstand. Predigten, Schleiermachers Werke, Bd. 2, hg.v. Johannes Bauer, Aalen 21981 [Nachdruck Leipzig 21927], 223 – 398, hier 241. Ein Sonderproblem sei hier nur am Rande diskutiert: die abgewiesene „Ungeduld der Leidenschaft“ lässt sich schwerlich von der Sehnsucht abgrenzen, der Schleiermacher in den Lucindebriefen noch ihr Recht eingeräumt hatte. (Vgl. Friedrich Schleiermacher [1800], Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde, KGA I/3, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1988, 143 – 216, 199: „Wenn Du […] alle Deine Sehnsucht nach dem schönen Leben […] aushauchst: dann fühlen wir auch beide am tiefsten, wie einig wir sind.“; 204 [zu den Lehrjahren der Männlichkeit]: „Wie wunderschön und klar ist hier die Sehnsucht nach Liebe, die das Gemüth vernichten oder vollenden muß.“; 210: „Kennen wir doch beide den Zustand der Sehnsucht und des Liebenwollens, als das, was vor dem neuen Leben in uns war“.) Dieser Wandel erklärt sich m. E. am ehesten biographisch: Sprach in den Lucindebriefen noch der

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die Frau soll sich ihrer eigenen Wirkung gegenüber passiv verhalten. Der selbstbewussten Frau, die ihre Reize einzusetzen weiß, wird das Ideal der Unbedarften entgegengesetzt, in welcher „diese Kraft […], unwissend was sie tat, ihn [sc. den Mann – CR] zuerst anzog und fesselte“.²⁷ Die bewusste Koketterie tritt gleichsam unter den Korruptionsverdacht des göttlichen Fatums,²⁸ während die quasireligiöse rezeptivpassive Hingabe gepriesen wird. Schleiermachers Geschlechtercharakteristik mag – schon gar in dieser programmatischen Gestalt – gegenwärtig nur noch wenig überzeugen; das Konzept der Fügung hingegen entfaltet noch immer eine starke Wirkung auf das Selbstverständnis von Paaren. Die Überzeugung, dass man nicht nur kontingenterweise zusammengefunden hat, sondern gleichsam prädestiniert zusammengehört, wird kaum eine Heiratsansprache unterschlagen dürfen, selbst wenn den meisten bewusst ist, dass sie ihren Partner nicht aus Milliarden gewählt haben, sondern ein Exemplar bekommen haben, das eben vor Ort war. Wird hingegen der Radius der Partnerwahl nicht nur erweitert, sondern jene auch durch Passungsalgorithmen objektiviert und optimiert, so zeigt der beschriebene Aspekt seine Folgen im Negativ: das Offenhalten der partnerschaftlichen Orientierungen für mögliche „bessere“ Optionen verhindert die Ausbildung einer echten Beziehung. Generelle Bindungsangst ist nur die Spitze einer Entwicklung, die das romantische Versprechen auf die eine große Liebe quantifizierbar und damit unerreichbar gemacht hat, weil sie die Notwendigkeit des sich hinreißen Lassens, des mutigen Schritts, des sich ganz Einlassens, oder wie man es auch bezeichnen will, vergessen hat.

2.2 Sexualität Eng mit dem Raptus der Attraktivität verbunden ist die Kraft der Sexualität. Wie der Geist in den natural grundierten Attraktionswirkungen zum Ziel einer sittlichen Partnerschaftsanbahnung kommt, so vermittelt der Geschlechtsakt nach Schleiermacher nicht bloß Triebbefriedigung sondern auch das hochstufige Gut einer Eini-

Liebessuchende, so spricht sich in den Hausstandspredigten ein reiferer Mann aus, der bereits seine schmerzlichen Erfahrungen mit der Frau gemacht hat, zu der ihn nicht zuletzt die Sehnsucht nach Liebe überhaupt trieb.  Schleiermacher 1981, 241 (Anm. 26).Vgl. auch Schleiermacher 1988, 198 (Anm. 26), wo Eleonore an Friedrich schreibt: „Wie oft habe ich Dir aus dem innersten Herzen heraus gesagt, wenn Du irgend etwas an mir schön und gut findest, oder gar als etwas besonderes loben und bewundern wolltest, daß ich gar nichts könnte und wüßte als lieben“.  An seine Braut schreibt Schleiermacher: Die Frau kann sich, „wenn die Eitelkeit sie nicht besizt, reiner und mehr unbeflekt von der Welt erhalten […] als der Mann“. (Heinrich Meisner [Hg.], Friedrich Schleiermachers Briefwechsel mit seiner Braut, Gotha 1919, 311).

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gung des Bewusstseins der Partner.²⁹ In einem Brief bestimmt Schleiermacher: „Freundschaft geht auf gegenseitige Ergänzung und Unterstützung der Individualität […]. Liebe geht auf vollkommene Anschauung auf gänzliche Vereinigung des Bewußtseins […].“³⁰ Geistige Beziehungen sind wertvoll, aber sie umgreifen eben kaum den ganzen Menschen in seiner leib-seelischen Einheit. Wo dies nun geschieht – im Ehevollzug³¹ –, da ist eine neue Ebene des wechselseitigen Einverständnisses gegeben; in den Worten des Brouillon: „Die Freundschaft folgt auf die Liebe, weil erst nach der organischen Verschmelzung die Individualität unmittelbar im Gefühl kann gegeben sein.“³² Eine Konkretion erhält das momentane Einswerden des Bewusstseins des Weiteren im Brouillon, wenn Schleiermacher gewiss nicht zufällig die Zentralbegriffe aus den Reden einführt, um die ehekonstitutive Kraft des Koitus zu beschreiben. So sei „[d]es Mannes Gefühl in der Frau gegründet, die Anschauung der Frau im Manne gewurzelt.“³³ In seiner die Schlegelsche Figur des sexuellen Rollentauschs³⁴ überin-

 Vgl. Schleiermacher 1967, 132 (Anm. 4): „Der Act der Geschlechtsvereinigung ist eine absolute Verschmelzung des Bewußtseins, in welchem die Differenz aufgehoben wird und die entgegengesezten Factoren sich saturiren.“  Friedrich Schleiermacher, Brief 1317, in: KGA V/6, hg.v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin / New York 2005, 92. Vgl. dazu auch Friedrich Schleiermacher [1800 – 1803], Gedanken V, KGA I/3, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1988, 281– 339, hier Nr. 131, 315 – 316.  Ich greife hier bewusst auf jenen altertümlichen Begriff zurück, weil er in präziser Weise die Sexualität in der positiven Gegebenheit ihrer vieldimensionalen ethischen Einbettung ausdrückt.  Schleiermacher 1967, 132 (Anm. 4). Ganz in diesem Sinne schreibt er auch an seine Braut: „Wenn Du mir nun auf einmal sagen wolltest, Du wollest nur meine Frau heißen, süße Jette, ich mich schwer mehr würde darin finden können. Nein, Du bist und mußt ganz mein sein; wie mir nichts in Dir verborgen bleiben soll, und ein solches gänzliches Enthüllen des innern Wesens nur in der Ehe ist, so muß auch auf jede Weise unser Leben zusammenschmelzen in Eines und jedes dem andern ganz angehören. Ich darf Dir auch sagen, daß mich danach verlangt“ (Schleiermacher 1919, 177 [Anm. 28]).  Schleiermacher 1967, 133 (Anm. 4) [Hervorhebung C.R.]. Mit jener Zuordnung stellt Schleiermacher die Paarbeziehung nicht nur in die Nähe der Religion, sondern er nimmt auch eine geschlechtsspezifische Binnendifferenzierung vor, die noch in eine andere Richtung verweist. In Schleiermacher 1843, Beilage 4, § 6 (Anm. 10) nennt Schleiermacher „Zwei Formen des Erkennens, Anschauung und Gefühl.“ Aus der Erläuterung erhellt, dass bei der Anschauung das Objekt hervortrete, beim Gefühl hingegen das Subjekt. Auf obiges Zitat bezogen bedeutet dies, dass der Mann als das objektivere, vergeistigtere Geschlecht vorgestellt wird. Will die Frau zu jener Erkenntnisform Zugang gewinnen, muss sie sich an ihm orientieren, in ihm ‚wurzeln‘. Die Frau hingegen ist das ganzheitlichere, selbstidentischere Geschlecht. Will der Mann die ihm angestammte Sphäre der Zergliederung und rationalen Distanzierung überwinden, so muss er sich in der Frau ‚gründen‘. Vermittelt werden jene wechselseitigen Zueignungen hier nun durch den Koitus, wo zusammenfindet, was ohnehin zusammengehört. (Vgl. Schleiermacher 1843, Beilage 4, § 9 [Anm. 10]: „Jede Anschauung begleitet ein Gefühl, welches darauf bezogen und als gleichzeitig gesezt wird, und so auch jedes Gefühl eine Anschauung.“). Der alttestamentliche Euphemismus des ‚Erkennens‘ für den Sexualakt gewinnt aus dieser Perspektive eine ganz eigene – nämlich eine tatsächlich dezidiert epistemologische – Bedeutung.  Vgl. Friedrich Schlegel [1799], Lucinde. Ein Roman, KFSA I/5, hg.v. Hans Eichner, München u. a. 1962, 1– 92, hier 12: „Eine unter allen [Gestalten und Situationen der Freude – CR] ist die witzigste und schönste: wenn wir die Rollen vertauschen und mit kindischer Lust wetteifern, wer den andern täu-

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terpretierenden Würdigung hatte Schleiermacher diesen Vorgang bereits in den Lucindebriefen auf die Empathie zugespitzt beschrieben: „in den höchsten Momenten der Liebe ist das Vertauschen des Bewußtseins, das gänzliche Hineinversetzen in den Andern das Höchste und Nothwendigste.“³⁵ Das bedeutet, die höhere Einheit des Bewusstseins wird konkret in der Sozialität partnerschaftlicher Interaktion, nicht etwa bloß dadurch, dass der Partner dem Subjekt zur Erkundung seiner eigenen Lustquellen verhilft, sondern dadurch, dass er dessen Selbstbezüglichkeit aufbricht, indem er sich ihm zur umfänglichen Identifikation anbietet.³⁶ Der Solipsismus wird überwunden durch eine Transzendierung des Selbst, die jenes steigert und erweitert, ohne es zu zerbrechen. Auf die Länge der Beziehung gesehen handelt es sich beim Sexualakt nicht bloß um einen Initiationsritus (das sollte man zumindest für die Partner hoffen), sondern aus dem schöpferischen Ursprungsgeschehen erwächst eine Gemeinschaft, die erhalten werden will.³⁷ Schleiermacher geht davon aus, dass der Geschlechtstrieb zeitlebens gegeben ist und mithin nicht bloß an die jungen Jahre der Fruchtbarkeit gebunden.³⁸ Der Sexualvollzug gewährt fortwährend eine wechselseitige Erweiterung des Selbst und zugleich eine Vergewisserung, die ihn zu einem bedeutsamen Stabilisierungsfaktor macht und seine Selbstzwecklichkeit garantiert. Eng verknüpft mit der sexualvermittelten Einheit des Bewusstseins ist ein Gedanke, der auch bei Hegel – allerdings mit noch schärferer Pointe – prominent ist.³⁹ In seinen Bemerkungen von 1832 zur früheren Güterlehre bestimmt Schleiermacher: „Das Ethische des Actes ist Zusammenfließen zur Identität des Selbstbewußtseins“.⁴⁰ Gemeint ist an dieser Stelle nicht mehr das Bewusstsein der Paaridentität, sondern ein

schender nachäffen kann, ob dir die schonende Heftigkeit des Mannes besser gelingt, oder mir die anziehende Hingebung des Weibes.“  Schleiermacher 1988, 201 (Anm. 26).  Treffend ausgedrückt bei Walter Schubart, Religion und Eros, hg.v. Friedrich Seifert, München 1941, 226: „Unter Menschen darf der Geschlechtsakt kein bloßes Mittel zum Zwecke […] sein, sondern muß als Vorgang von symbolischer Bedeutung gelten, und die Lust der Umarmung sei dem der Tierheit entwachsenen […] Seligkeit der Selbstvollendung durch Entselbstung.“  Ich verwende bewusst die Begriff der Schöpfung und Erhaltung – in einer Reminiszenz an die Glaubenslehre, in der Schleiermacher bekanntlich den Schöpfungsgedanken dem Erhaltungsgedanken gegenüber nachordnet.  Vgl. Schleiermacher 1967, 325, § 29 (Anm. 4): „Da bei dem Menschen der Geschlechtstrieb nicht periodisch ist, so ist auch der Natur hierin ein so freier Spielraum gesteckt, daß man die Unfruchtbarkeit immer nur als etwas Temporäres ansehen kann.“  Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen in seinem Handexemplar und den mündlichen Zusätzen, Werke 7, hg.v. Eva Moldenhauer / Karl-Markus Michel, Frankfurt a.M. 1970, § 173, 325 – 326.  Schleiermacher 1967, 650 (Anm. 4). Ist an der zitierten Stelle auch mit der ‚Identität des Selbstbewusstseins‘ ein Kind gemeint, so verweist letzterer Begriff aus religionspsychologischer Perspektive doch in eine andere Richtung. Diese Interpretationslinie wird durch andere Stellen, denen wir uns in diesem Kapitel zuwenden, bestätigt.

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Bewusstsein, das aus dieser hervor- und über sie hinausgeht: jenes eines Kindes. 1812/ 13 hatte er dies folgendermaßen formuliert: „Das Eigenthümliche der Geschlechtsgemeinschaft ist das momentane Einswerden des Bewußtseins und das aus dem Factor der Erzeugung hervorgehende permanente Einswerden des Lebens.“⁴¹

2.3 Selbsttranszendierung im Kind Wenngleich im Zeugungsakt die unüberbietbar kreative Potenz des Menschen liegt, entzieht sich deren genauere Gestaltung, sowie ihr generelles Gelingen der menschlichen Verfügungsgewalt. In dieser produktiven Passivität steht sie in Analogie zum religiösen Erleben. 1832 bemerkt Schleiermacher: „Das religiöse Bewußtsein erwacht ursprünglich im Zusammensein beider Generationen, weil die erzeugende sich in der Erzeugung absolut abhängig findet als von aller Willkühr entblößt, und zwar abhängig nicht nur von dem Geschlechtsleben, sondern auch von dem dinglichen Sein, indem auch die äußere Natur auf die Fruchtbarkeit und ihre Bestimmungen Einfluß hat.“⁴² Etwas blumiger schrieb er bereits 1808 an seine Braut: „Das tiefste Geheimniß ruht auf der Erzeugung des Menschen“.⁴³ Trotz des gesteigerten Wissens der Gegenwart über die Konstitutionsbedingungen und Verläufe von Konzeption und pränataler Entwicklung und trotz des Ausbaus medizinischer Assistenzverfahren, wie der IVF, hat sich an dem Bewusstsein der meisten Eltern nichts geändert: Zeugung, Schwangerschaft und Geburt werden noch immer als Wunder erfahren, denen man in einer eigentümlich verantwortungsvollen Passivität gegenübersteht und die der Biographie und dem persönlichen Selbst- und Paarverständnis einen entscheidenden Eintrag tun. Mit dem Erwachen und der Entwicklung des kindlichen Selbstbewusstseins erfahren Eltern eine Transzendierung ihrer selbst; sowohl synchron, insofern ihre Kinder sich als eigene Personen ihnen gegenüber darstellen, als auch diachron, insofern sie doch einige Eigenschaften, Deutungsmuster und Erfahrungen der Eltern übernehmen und über deren Leben hinaustragen. Neben dem bekannten Gedanken der Reden, der die Unsterblichkeit des Menschen im religiös erfüllenden Momenterleben loziert,⁴⁴ scheint mir Schleiermacher am ehesten im Blick auf das familiale Leben für – freilich weltimmanent verbleibende – Jenseitsspekulationen bzw. Auferstehungshoffnungen des individuellen Lebens offen gewesen zu sein. Nach dem Tod seines Freundes Ehrenfried von Willich schreibt Schleiermacher an dessen Witwe, seine eigene spätere Frau:

 Schleiermacher 1967, 322 (Anm. 4) [Hervorhebung C.R.].  Schleiermacher 1967, 657 (Anm. 4).  Schleiermacher 1919, 181 (Anm. 28).  Vgl. den Schlusssatz der zweiten Rede: „Ewig sein in einem Augenblik, das ist die Unsterblichkeit der Religion.“ (Friedrich Schleiermacher [1799], Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, KGA I/2, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1984, 185 – 326, hier 247.)

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Liebe Jette was kann ich Dir sagen? Gewißheit ist uns über dieses Leben hinaus nicht gegeben. Verstehe mich recht ich meine keine Gewißheit für die Fantasie, die alles in bestimten Bildern vor sich sehen will. Aber sonst ist das die größte Gewißheit, und es wäre nichts gewiß wenn es das nicht wäre, daß es keinen Tod giebt, keinen Untergang für den Geist. Das persönliche Leben ist ja aber nicht das Wesen des Geistes es ist nur eine Erscheinung.Wie sich diese wiederholt das wissen wir nicht, wir können nichts darüber erkennen, sondern nur dichten. […] für dieses Leben begehrt Deine Liebe nur ihn im Herzen zu tragen unauslöschlich sein Andenken sein Bild als das lebendigste und heiligste um Dich zu haben und in Dir, ihn wieder zu erwecken und neu zu beleben in Euern süßen Kindern.⁴⁵

In Partnerschaft und Familie gewinnt der Mensch Anteil an etwas, das sein Selbst übersteigt, von dem seine Person aber zugleich konstitutiver Bestandteil ist. So erscheinen sie als Paradefall dessen, was Thomas Luckmann als ‚mittlere Transzendenzen‘ beschreibt. Zentral für Schleiermacher – im Anschluss an Platons Symposion ⁴⁶ und Aristoteles‘ Freundschaftstheorie⁴⁷ – ist, dass sich jenes Erleben mit ethischen Entwicklungsanmutungen verbindet.

2.4 Individual- und Sozialethische Entwicklungspotenzen Das familiale Leben hilft, wenn es nach Schleiermacher gelingt,⁴⁸ zur Herausarbeitung und Sublimation der Individualität und Persönlichkeit. So schreibt er auch an seine Braut: „Deine Liebe und unsere Ehe wird das rechte Mittel sein, das wahre Wesen immer reiner herauszuarbeiten zur Erscheinung.“⁴⁹ Und später: „von meinen Fehlern […] laß mir nur nichts durchgehn! schilt nur hübsch, erinnere und ermahne!“⁵⁰ Die Zielrichtung, des dem zugrundeliegenden Programms ist nicht allein individualethischer Natur. Wolfgang Trillhaas hält in seiner Interpretation von Schleiermachers Hausstandspredigten trefflich fest: „Die Ehe dient der Vollendung des Menschen und ist vollendet, wenn jeder Herd sich richtig einordnet in die größere

 Friedrich Schleiermacher, Brief 2435, KGA V/9, hg.v. Andreas Arndt und Simon Gerber, Berlin/New York 2011, 379.  Vgl. Platon, Das Gastmahl oder Von der Liebe, übers. v. Friedrich Schleiermacher, neu durchgesehen und hg.v. Ernst G. Schmidt, Leipzig 1963, 24: „Wenn jemand einem anderen ergeben sein will, weil er glaubt, durch ihn besser zu werden, sei es in irgend einer Weisheit oder in einem anderen Teile der Tugend, so ist ein solcher freiwilliger Dienst nicht häßlich oder Kriecherei.“  Vgl. Schleiermacher 1984, 50 f. 76 – 78. 80 (Anm. 23).  Traurig beobachtet er hingegen oft anderes. Vgl. Friedrich Schleiermacher 1988, 33 (Anm. 15): „Jeder hat und macht sich seinen Willen nach wie vor, abwechselnd herrscht der Eine und der Andere, und traurig rechnet in der Stille Jeder, ob der Gewinn wohl aufwiegt was er an baarer Freiheit gekostet hat. […] Es sollte jedes Haus der schöne Leib, das schöne Werk von einer eignen Seele sein, […] und Alle sind in stummer Einförmigkeit das öde Grab der Freiheit und des wahren Lebens.“  Schleiermacher 1919, 145 (Anm. 28).  Schleiermacher 1919, 205 (Anm. 28).

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Haushaltung einer bürgerlichen Gesellschaft.“⁵¹ Für die Profilierung der Familie als orientierendem und haltgebendem Sozialgefüge ist dieser Aspekt nicht unerheblich, erwachsen Lebensentwürfe doch nicht allein aus individuellen Bedürfnissen, sondern auch aus gesamtgesellschaftlicher Bereitstellung und Anerkennung. Die bürgerliche Gesellschaft im Umkehrschluss ist zugleich auf stabile Verhältnisse im sozialen Nahbereich ihrer Glieder angewiesen. Zumindest ist es faktisch noch keiner Gesellschaft gelungen, die Familie zu überwinden, wie es Platon in seiner Politeia empfiehlt,⁵² was Schleiermacher in seinen Erklärungen sowohl aus ethischen als auch aus pragmatischen Gründen ablehnt.⁵³ Ein Aspekt, der für familiale Beziehungen, deren alltägliche Gestaltung, sowie ihr Verhältnis zum gesellschaftlichen Leben ganz entscheidend ist, betrifft die Geschlechterdifferenz und die bei Schleiermacher und seinen Zeitgenossen aufs engste mit dieser verknüpfte Aufgaben- und Arbeitsteilung, die bis heute massiv nachwirken. Aufgrund der gebotenen Knappheit muss ich es bei diesem kurzen Hinweis belassen und kann es auch guten Gewissens, mit dem Verweis auf den Beitrag von Elisabeth Hartlieb.⁵⁴

2.5 Institutionalisierte Selbstzwecklichkeit Am Schluss möchte ich den Fokus auf einen anderen Punkt lenken: Partnerschaft und Familie erscheinen bei Schleiermacher zugleich als selbstzweckliche Verbindungen und als Zweckgemeinschaften. Meines Erachtens liegt nicht zuletzt in dieser Doppelstellung die Überzeugungskraft seiner familientheoretischen Erwägungen. Den frühromantischen Impuls der Innerlichkeit und der Würdigung des bedeutungsvollen Moments hat er aufgenommen, zugleich aber nicht vergessen, dass diese wertvollen Güter einer sozialen und psychischen Einbettung bedürfen, die sie vor der Überforderung einer nicht durchzuhaltenden Daueraktualisierung schützt. So wie Schleier-

 Wolfgang Trillhaas, Schleiermachers Predigt und das homiletische Problem, Leipzig 1933, 110.  Vgl. Platon, Politeia – Der Staat, übers. v. Friedrich Schleiermacher, bearb. v. Dietrich Kurz,Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, Bd 4, hg.v. Gunther Eigler, Darmstadt 21990, Fünftes Buch 449a– 466d.  Platons Staat ist aus familienethischer Perspektive ein „aus Unwahrheit und Leidenschaft zusammengekünstelte[s] Gemeinwesen“, das vielleicht im kleinen Rahmen möglich wäre zu errichten, niemals jedoch in größeren Dimensionen (Friedrich Schleiermacher [1804– 1828], Über die Philosophie Platons, hg.v. Peter M. Steiner, Hamburg 1996, 359 – 361, 361). Vgl. dazu auch Schleiermacher 1843, 341 (Anm. 10): „Wird aber so die Erzeugung ganz auf das höhere Leben bezogen [wie es im christlichen Sinne der Fall ist – CR]: so sind auch in sofern Erzeugung und Erziehung gar nicht zu trennen, sondern ein und derselbe Prozeß.“ Dazu ebd. aus der Vorlesung von 1826/27: „[…] wer soll nun erziehen? Freilich die Kirche; aber die Aeltern sind offenbar dazu die nächsten und natürlichsten Organe. Ein absolutes Aussetzen der Kinder darf also in der christlichen Gemeinschaft nicht vorkommen.“  Vgl. den entsprechenden Beitrag in diesem Band. Ausführlicher: Elisabeth Hartlieb, Geschlechterdifferenz im Denken Friedrich Schleiermachers, Berlin / New York 2006.

Ethisches Prisma Familie

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machers emphatische Beschreibung des „höchsten der Gefühle“ in der Religion ihn nicht dazu führte, die Kirche als Institution, ihre Ordnungen, Theologien und ethischen Entwürfe zu dispensieren, so erwies er sich auch als nüchterner Pragmatiker im Blick auf das familiale Leben. Friedrich Schlegels Ablehnung der bürgerlichen und besonders der kirchlichen Institutionalisierung der Ehe teilte Schleiermacher nicht.⁵⁵ Das dem zugrundeliegende Ideal der dauerhaften Frische der Liebe entlarvte er als unhaltbares Trugbild. In den Hausstandspredigten, heißt es: „Denn auch an der geliebtesten Seele können wir Freude und Lust auf die Länge nur haben, wenn wir sie in ihrer natürlichen Tätigkeit erblicken, und, hat die Zeit die ersten Blüten abgestreift, die Früchte des Lebens darunter reifen sehen!“⁵⁶ Bereits in den Monologen stellte er den innigen Verbindungen, die eine Ehe für ihn niemals missen sollte, die Notwendigkeit einer Ordnung der äußeren Verhältnisse zur Seite, sah diese geradezu als Darstellung jener: „Es bindet süße Liebe Mann und Frau, sie gehn den eignen Heerd sich zu erbaun. Wie eigne Wesen aus ihrer Liebe Schooß hervorgehn, so soll aus ihrer Naturen Harmonie ein neuer gemeinschaftlicher Wille sich erzeugen; das stille Haus mit seinen Geschäften, seinen Ordnungen und Freuden, soll als freie That sein Dasein bekunden.“⁵⁷ Gegenwärtig mag die Institution der Ehe an Bedeutung eingebüßt haben. Das bedeutet allerdings nicht, dass Paarbeziehungen überhaupt ihre Institutionalität verloren hätten. Der Mikrosoziologe Karl Lenz beschreibt dagegen ‚Selbstinstitutionalisierungstendenzen‘ von Partnerschaften, die sich bereits in der affirmativen Bezugnahme auf das eigene Paarsein und der öffentlichen Proklamation dieses Status ereignen.⁵⁸ Jean-Claude Kaufmann, der die Beziehungswirklichkeit ganz ähnlich einschätzt, legt darüber hinaus nahe, dass das Aktuellste an der soeben zitierten Monologen-Stelle vielleicht gerade der „Herd“ ist. Die Gründung eines gemeinsamen Haushalts, verbunden mit der Anschaffung gemeinsamer Möbel und Geräte von Bedeutung deutet er als den entscheidenden Institutionalisierungs- und Etablierungsschritt einer dauerhaften Paarbeziehung.⁵⁹

 Vgl. Schlegel 1962, 61 (Anm. 34): „Die Natur allein ist die wahre Priesterin der Freude; nur sie versteht es, ein hochzeitliches Band zu knüpfen. Nicht durch eitle Worte ohne Segen, sondern durch frische Blüten und lebendige Früchte aus der Fülle ihrer Kraft. Im endlosen Wechsel neuer Gestalten flicht die bildende Zeit der Kranz der Ewigkeit […].“ Dagegen Schleiermacher an seine Braut: „In Deinem Briefe darüber siehst Du mir diese Feier zu sehr als bloße Ceremonie an. […] Freilich als bürgerliche Handlung, als Bestätigung unseres Bundes ist sie nichts weiter, denn der ist geschlossen und besteht vor Gott und uns schon lange mit vollster Gültigkeit. Aber als kirchliche Handlung ist sie Dir doch gewiß auch viel werth, als Antheil der Gemeine an unserm Verein, als Gebet und Segen darüber. Und darum soll es bei Deiner lezten Bestimmung bleiben, daß diese Feier nicht soll so verstohlen begangen werden.“ (Schleiermacher 1919, 259 [Anm. 28]).  Schleiermacher 1981, 237 (Anm. 26).  Schleiermacher 1988, 32 (Anm. 15).  Vgl. Karl Lenz, Soziologie der Zweierbeziehung. Eine Einführung, Wiesbaden 32006, 192.  Vgl. Jean-Claude Kaufmann, Mit Leib und Seele. Theorie der Haushaltstätigkeit, übers. v. Daniela Böhmler, Konstanz 1999, 69 – 73: Das romantische Liebes- und Familienideal bliebe abstrakt und

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3 Schluss Ehe und Familie als öffentlich anerkannte Orte der Privatheit; als Zweckgemeinschaften mit selbstzwecklich-emotionaler Grundierung; als Integrationsfiguren von naturalen Bedürfnissen und Funktionen mit geistigen und ethischen Wertträgern; als Exklusivverhältnisse, die ihre gesellschaftliche Einbettung und Angewiesenheit nicht vergessen; als Rückhalt gebende Soziotope, die den Imperativ der Anerkennung des Andersseins ihrer Glieder präsent halten; all dies sind Beschreibungsmuster, die meines Erachtens sehr gut verständlich machen, warum die Sozialform der Familie nicht nur eine hohe gesellschaftliche Persistenz besitzt, sondern auch eine starke subjektive Bedeutung zu generieren vermag. Zugleich sind damit Grundkonstellationen benannt, die bei all den großen Veränderungen, die das familiale Leben seit Schleiermacher erfahren hat – und die hier keineswegs geleugnet werden sollen –, von bleibender Bedeutung sind und aus der Deskription heraus normative Potentiale freisetzen, die jenseits autoritativer Behauptungen als Korrektive mancher beobachtbarer Entwicklungen in Anschlag gebracht werden können.

würde kaum zu einer Verfestigung der Beziehung führen, wären da nicht die Dinge des Haushalts. „Die Dinge markieren eines nach dem anderen verschiedene Etappen der Produktion des Familialen.“ (71.) „[…] das Bett als Gründungsobjekt, die Waschmaschine als Indikator für eine wesentliche Integrationsetappe, der Fußabtreter als Symbol der Etablierung in einem neuen Wertesystem, und schließlich der Gegenstand aller Gegenstände: das Haus“. (Ebd., 73.) Detaillierter zur paarkonstitutiven Kraft der gemeinsamen Waschmaschine vgl. Jean-Claude Kaufmann, Schmutzige Wäsche. Zur ehelichen Konstruktion von Alltag, übers. v. Andreas Gipper / Mechtild Rahner, Konstanz 1994, 80 – 87.

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Schleiermachers Verständnis des Geschlechterverhältnisses im zeitgenössischen Kontext „Mir geht es überall so, wohin ich sehe, dass mir die Natur der Frauen edler erscheint…“¹

In der Zeit von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts vollzieht sich die Transformation der frühneuzeitlichen Geschlechterverhältnisse und -bilder zur bürgerlichen Geschlechterordnung mit ihren Vorstellungen vom naturgegebenen Wesen von Frau und Mann. So stellt die Historikerin Ute Frevert fest: „Das ausgehende 18. Jahrhundert stellt sich […] als ein historischer Zeit-Raum dar, in dem verschiedene Konzeptionen bürgerlicher Weiblichkeit miteinander konkurrierten.“² In diesem Prozess der Herausbildung des Konzepts des bürgerlichen Mannes als eines vernunftgeleiteten Individuums und verantwortlich handelnden Bürgers wie der bürgerlichen Frau als einer tugendsamen Gattin und Mutter sind Religion und Frömmigkeit produktiv gestaltende Faktoren.³ Friedrich Schleiermacher nimmt an zeitgenössischen Geschlechterdebatten intensiv Anteil und entwickelt im Rahmen dieses Diskurses ein umfassendes Verständnis des Geschlechterverhältnisses, das sich durch seine philosophische Ethik, seine Texte zur Psychologie und zur Pädagogik zieht, aber ebenso in seinen theologischen Texten zu finden ist. In Theologie und Kirche war sein Verständnis der Geschlechterthematik insbesondere in seiner Theologie der Ehe sowie über die theologische Legitimation der Vorstellung von Frauen als dem genuin religiösen Geschlecht wirksam. Schleiermachers Aufnahme der Geschlechterthematik wirkt auf kulturtheoretischer und theologischer Ebene. Er integriert zum einen das Konzept der Geschlechterdifferenz begrifflich und material in seine Ethik und baut dieses Theorem sowohl innerhalb seines Individualitätskonzepts wie über seine Philosophie der Ehe zu einem zentralen ethischen Konzept aus, das auch den späteren Texten zur Psychologie und zur Pädagogik zugrunde liegt. Schleiermacher hat damit seine Theorie des Geschlechterverhältnisses aufs Engste in seine Kulturtheorie eingebaut und diese

 Friedrich Schleiermacher, An Charlotte Schleiermacher (23. März 1799), KGA V/3, hg.v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin / New York 1992, 46.  Ute Frevert, „Menschenrechte und Frauenpflichten im ausgehenden 18. Jahrhundert. Das bürgerliche Projekt“, in: dies., Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt a.M. 1986, 15 – 62, hier 61– 62.  Vgl. dazu Rebekka Habermas, „Rituale des Gefühls. Die Frömmigkeit des protestantischen Bürgertums“, in: Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, hg.v. Manfred Hettling / Stefan-Ludwig Hoffmann, Göttingen 2000, 169 – 193; Lucian Hölscher, „Bürgerliche Religiosität im protestantischen Deutschland des 19. Jahrhunderts“, in: Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, hg.v. Wolfgang Schieder, Stuttgart 1993, 191– 215. https://doi.org/10.1515/9783110569520-030

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im Bereich von Psychologie und Pädagogik entsprechend entfaltet. Zum zweiten gibt die Verbindung von Liebe, Individualität und Sozialität mit der Religionsthematik ein Scharnier ab, über das die Theoriebausteine seines Geschlechterverständnisses in seine Theologie einfließen, insbesondere in seine Ehetheologie sowie in die Genderkodierung des religiösen Gefühls und des frommen Selbstbewusstseins. Im Folgenden skizziere ich Schleiermachers Konzeption der Geschlechterdifferenz von den Anfängen der frühromantischen Zeit bis zur Konzeption seiner philosophischen Ethik.⁴

1 Die Position Schleiermachers innerhalb der zeitgenössischen Debatte um die Frauenfrage und Konzepte der Geschlechterdifferenz Die kontroversen Diskussionen um das Wesen der Geschlechter und die Position der Frau kulminieren in Deutschland am Ende des 18. und in den allerersten Jahren des 19. Jahrhunderts, während in den folgenden Jahrzehnten die Verfestigung und Popularisierung der Geschlechterkonzepte zu konstatieren ist.⁵ Inhaltlich wird die Debatte um die „Frauenfrage“ von den drei Themenkreisen der Frauenbildung, der politischen Rechte für Frauen und der ontologischen Frage nach dem Wesen der Frau bestimmt und in der Regel von der letzten Frage her angegangen, indem die andere Wesensart der Frau ihren Ausschluss aus Bildung und politischer Partizipation begründen soll.⁶ Für Friedrich Schleiermacher werden die Freundschaft mit Friedrich Schlegel, Henriette Herz und die literarische Zusammenarbeit im Umfeld der von den beiden Schlegelbrüdern herausgegebenen Zeitschrift Athenäum zum Anstoß für seine theoretischen Auseinandersetzungen mit der Geschlechterfrage, deren Wogen kurz vor und nach der Jahrhundertwende hoch schlagen. Schleiermachers Position beruht auf einer breiten Kenntnis der relevanten Autoren sowie auf persönlicher Erfahrung. Er besaß die Werke Rousseaus in seiner Bibliothek und war gut vertraut mit den Schriften Kants und Fichtes, von denen insbesondere der letztere mit seiner Ehetheorie in Deutschland grundlegend wirksam wurde.⁷ Biographische Erfahrungen, vor allem Freundschaften bereiteten Schleiermachers intellektuelle Auseinandersetzung vor, motivierten und begleiteten sie. Schleiermacher wurde hineingezogen in die

 Für die gesamte Entwicklung bis in die späteren Werke s. Elisabeth Hartlieb, Geschlechterdifferenz im Denken Friedrich Schleiermachers, Berlin 2006.  Vgl. Volker Hoffmann, „Elisa und Robert oder das Weib und der Mann, wie sie sein sollten. Anmerkungen zur Geschlechtscharakteristik der Goethezeit“, in: Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß, hg.v. Karl Richter / Jörg Schönert, Stuttgart 1983, 80 – 97.  Vgl. Ruth Drucilla Richardson, The Role of Women in the Life and Thought of the Early Schleiermacher (1768 – 1806), Lewiston 1991, 2.  Vgl. Hartlieb 2006, 93 – 95 (Anm. 4).

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Debatten um die Frauenfrage wie in die Beziehungskonstellationen und -konflikte seines Freundeskreises. Dabei war die Wertschätzung von Weiblichkeit und das Eintreten für Frauenbildung und geselligen Umgang zwischen den Geschlechtern ein durchgehendes Motiv seines Denkens. Im Unterschied zu Friedrich Schlegel öffnete sich Schleiermacher nur in geringem Maß für die rechtlich-politischen Aspekte der Frauenfrage. Schleiermachers positive Wertung des Weiblichen und seine Hochschätzung von Frauen rührten aus einer Tendenz, eigene Charakterzüge mit den Stereotypen des Weiblichen zu identifizieren und deshalb besonders sensibel Abwertungen dieser Weiblichkeitszüge wahrzunehmen.⁸

2 Die Bedeutung der Freundschaftskonzeption Schleiermachers für die Geschlechterthematik Vorbereitet wird Schleiermachers Verständnis der Geschlechterthematik durch seine Überlegungen zur Freundschaft. Die Grundstruktur von Schleiermachers Freundschaftskonzeption besteht in wechselseitiger Kommunikation, Selbstmitteilung und Wahrnehmung bei bleibender Differenz, indem Gleichheit und Andersheit dergestalt ausbalanciert sind, dass die wechselseitige Steigerung der Individualität und Person des anderen, nicht aber die einseitige Funktionalisierung oder Instrumentalisierung intendiert sind. Dabei bezieht Freundschaft sich auf die Sphäre der privaten Geselligkeit, nicht auf den Bereich der Öffentlichkeit.⁹ Im Blick darauf, ob eine Freundschaft zwischen Frauen und Männern als möglich gedacht wird, ist entscheidend, ob die Voraussetzung der Gleichheit erfüllt ist oder ob die Geschlechterdifferenz als sittliche Differenz im Sinne eines qualitativen Unterschiedes des sittlichen Potentials von Frau und Mann gedacht wird. Bernd Oberdorfer hat herausgearbeitet, dass dem Zentrum der Freundschaftskonzeption im Sinn einer wechselseitigen Bereicherung und der Ablehnung von einseitiger Instrumentalisierung und Dominanz eine „Egalisierungsdynamik“ entspringt, die dazu tendiere „Wechselseitigkeit, Gleichheit, Koemergenz der Förderung von Individualität und von Relationalität“¹⁰ auch in andere soziale Zusammenhänge einzubringen. Schon Oberdorfer sieht in der Ehe die Sozi-

 Vgl. die brieflichen Selbstcharakterisierungen in Schleiermacher 1992 (Anm.1).  Es fällt auf, dass Schleiermachers Überlegungen zur Freundschaft im Rahmen privater Geselligkeit einen stark quietistischen Charakter tragen. Bernd Oberdorfer interpretiert Schleiermachers Festhalten an der Normativität der Freundschaft, ohne dass Schleiermacher eine Diskussion der unterschiedlichen Realisierungsmöglichkeiten führt, nicht als gesellschaftspolitischen Quietismus. Vielmehr sieht er in dieser Position einen Hinweis darauf, dass Schleiermacher eine Reformierbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse von innen heraus vertrete (vgl. Bernd Oberdorfer, Geselligkeit und die Realisierung von Sittlichkeit. Die Theorieentwicklung Friedrich Schleiermachers bis 1799, Berlin / New York 1995, 372).  Oberdorfer 1995, 88 (Anm. 9).

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alform, in die Schleiermachers „Prinzip ‚Freundschaft‘“¹¹ am deutlichsten ausstrahle.¹² So bemerkt der junge Schleiermacher in seinen Anmerkungen zu Aristoteles: „Wenn es nicht blos Convenienz oder Fantasie war was Eheleute zusammenbrachte, sondern nur etwas wahre Neigung des Herzens dabei im Spiel war, so werden sie sich mit der Zeit entweder hassen oder das innere Gefühl wie sehr Gleichheit die Freundschaft erhöhe wird am Ende über alle die Ungleichheit siegen welche diese Gesellschaft mit sich zu bringen scheint.“¹³ Die Beziehung der Eheleute sei also idealiter von Freundschaft bestimmt, die das Binnenverhältnis enthierarchisiere und egalisiere. Dabei gibt es keinen Hinweis darauf, dass die funktionale Differenzierung in Frage gestellt würde. Das Freundschaftsparadigma verbleibt im Raum der Privatheit und die äußere Sozialform bleibt unverändert, so dass die rechtsförmige Ungleichheit und Hierarchie nicht angetastet werden. So liegt es nahe, dass Schleiermacher seine Auffassung von der Ehe schon sehr früh vom Prinzip der Freundschaft her gedacht hat. Obwohl also Schleiermachers frühe Konzeption sittlicher Individualität die Geschlechterthematik als solche noch nicht wahrnimmt, enthält sie Elemente, die er in der Charité-Zeit in seine Debatte der Frauenfrage aufnimmt: Neben der Betonung von Wechselseitigkeit der Individuen und der Egalisierungsdynamik des Freundschaftsthemas zählt dazu auch die Hochschätzung der Phantasie als sittlich veredelnde Kraft und die Konzentration auf die Sphäre der privaten Geselligkeit.

3 Die Geschlechterthematik in den Schriften der Charité-Zeit 1796 – 1802 Erst die Berliner Zeit als Prediger an der Charité von 1796 bis 1802, in der Schleiermacher zum Freundeskreis um Friedrich Schlegel stößt, bringt im Blick auf die Geschlechterfrage die entscheidenden Impulse. Parallel zu der Entfaltung der Liebesund Freundschaftskonzeption, mit der die Geschlechterthematik unübersehbar präsent ist, arbeitet Schleiermacher an der Frage nach dem Ort der christlichen Religion. Die Verknüpfung beider Themen ist nicht zufällig, denn sowohl sein Konzept von Liebe und Geschlechterkomplementarität wie die Entwicklung seiner Religions- bzw. Frömmigkeitskonzeption sind eingebettet in sein Interesse an einer Theorie sittlicher Individualität, die sich in einer kausal determinierten, komplexen Welt generiert. Inhaltlich zeichne ich die Umrisse von Schleiermachers Verständnis des Geschlechterverhältnisses im Rahmen seiner Individualitätskonzeption und Ethik schlaglicht-

 Oberdorfer 1995, 89 (Anm. 9).  Vgl. Oberdorfer 1995, 90 (Anm. 9).  Friedrich Schleiermacher [1788], Anmerkungen zu Aristoteles. Nikomachische Ethik 8 – 9, KGA I/1, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 1– 44, hier 17.

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artig nach und lege den Akzent auf die Texte der Charité-Zeit sowie die philosophische Ethik.

3.1 Zur Politischen Existenz der Frauen Friedrich Schlegel trat entschieden auch für die bürgerliche Gleichstellung von Frauen ein. Schleiermacher formuliert dagegen die Sorge, es könne zu einem spezifischen Verlust in der Liebe und damit des „intelligible[n] Despotismus“ und der „formlose[n] Gewalt“ kommen. So die Botschaft von Fragment Nr. 38 aus den Vermischte[n] Gedanken und Einfälle[n] ¹⁴, das Aufschluss gibt über Schleiermachers zurückhaltende Einstellung im Blick auf gleiche bürgerliche Rechte und politische Beteiligung von Frauen: „Wenn die Weiber eine politische Existenz bekämen wäre nicht zu besorgen, daß die Liebe und mit ihr der intelligible Despotismus und die formlose Gewalt zu deren Darstellung die Weiber von Natur bestimt sind verloren gehen würde?“¹⁵ Offensichtlich nimmt Schleiermacher die beengte und bedrückte gesellschaftliche Situation der Frauen durchaus wahr, zumal er sie an anderer Stelle entsprechend deutlich anspricht.¹⁶ Aber er fürchtet um den Verlust des „intelligiblen Despotismus“, den er den Frauen in besonderer Weise zuschreibt. Unter „intelligiblem Despotismus“ ist die persönliche Einflusssphäre zu verstehen, die ein Mensch abgesehen und unabhängig von vorgegebenen gesellschaftlichen Positionen und juristischen Rechten als Person besitzt.¹⁷ Schleiermacher erkennt hellsichtig, dass das Fehlen jeglicher rechtlichen oder politischen Macht Frauen zur intensiven Ausbildung ihrer persönlichen Einflusssphäre drängt, die sie im privaten und halbprivaten Bereich von Familie und Geselligkeit entwickeln und ausüben. Diese Form des Aufbaus von Beziehungen, die er im Bereich der Geselligkeit und zu ihrer Ausbildung für unverzichtbar hält, bringen die Frauen in die Männergesellschaft ein, und sie leisten damit den ent-

 Diese „Werkstatthefte“ (Kurt Nowak, Nachwort, in: Friedrich Schleiermacher, Bruchstücke der unendlichen Menschheit. Fragmente, Aphorismen und Notate der früh-romantischen Jahre, hg.v. Kurt Nowak, Leipzig 2000, 100 – 116, hier 114) geben Aufschluss über Vorstadien von Schleiermachers Veröffentlichungen, über literarische Projekte und Themen, mit denen er sich in dieser Zeit auseinandersetzt.  Friedrich Schleiermacher [1796 – 1799], Vermischte Gedanken und Einfalle (Gedanken I), KGA I/2, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 1– 50, hier 15 (Nr. 38).  So kritisiert Ernestine in den Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde die Isolierung der Liebe von Lucinde und Julius von ihrer bürgerlichen Existenz: „Wenigstens nicht in einer solchen Welt, wo die bürgerlichen Einrichtungen die Frauen so sehr erdrücken, da muß derjenige, dem sich ein Weib ergeben hat, schon aus Selbstvertheidigung in das bürgerliche Leben hineingehen und da wirken.“ (Friedrich Schleiermacher [1800], Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde, KGA I/3, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1988, 139 – 216, hier 163).  So Claudia Simon-Kuhlendahl, Das Frauenbild der Frühromantik. Übereinstimmung, Differenzen und Widersprüche in den Schriften von Friedrich Schlegel, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Novalis und Ludwig Tieck, Diss. Kiel 1991, 153 – 154.

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scheidenden Beitrag zur Stiftung der „besseren Gesellschaft“, auf die Schleiermacher mit seiner Freundschaftskonzeption zielt. Die Frauen nämlich sind […] weit übler daran, als die Männer […]. Denn wenn der Mann auch von seinem Beruf spricht, so fühlt er sich doch von einer Seite noch frei, nämlich von der häuslichen; dagegen die Frauen, bei denen beides zusammenfällt, bei einer solchen Unterhaltung alle ihre Fesseln fühlen. Dies treibt sie dann weit weg unter die Männer, bei denen sie denn, weil sie mit dem bürgerlichen Leben nichts zu thun haben, und die Verhältnisse der Staaten sie nicht interessiren, jener Maxime nicht mehr folgen können, und eben dadurch, daß sie mit ihnen keinen Stand gemein haben, als den der gebildeten Menschen, die Stifter der besseren Gesellschaft werden.¹⁸

Frauen suchen demnach in der Geselligkeit mit Männern einen Raum der Freiheit von den Zwängen der häuslichen Sphäre. Dabei bleibt ihnen der Stand des „gebildeten Menschen“ als einzige Schnittmenge und gemeinsame Plattform der Begegnung, so dass sie nach Ansicht Schleiermachers die treibende Kraft in der Herausbildung der freien Geselligkeit darstellen. Anders gesagt, die Fremdheit der Frauen in der Männergesellschaft, die auf ihrem Ausschluss aus der politischen und beruflichen Öffentlichkeit beruht, bringt in eine gemischt-geschlechtliche Gesellschaft ein höchst kreatives Moment von Heterogenität. Er erkennt darin noch das Moment der Unfreiwilligkeit, wenn er schreibt: „Ich kann mich hiebei der Bemerkung nicht enthalten, ob nicht, wenn es anders wahr ist, daß die bessere Geselligkeit sich bei uns zuerst unter den Augen und auf Betrieb der Frauen bildet, dieses, wie so vieles andere Vortrefliche, in den menschlichen Dingen ein Werk der Noth ist?“¹⁹ Schleiermacher sieht also im Ausschluss der Frauen aus der bürgerlichen Öffentlichkeit einen wichtigen Gewinn für die Ausbildung des Menschen überhaupt, die, wie er befürchtet, mit der bürgerlichen Gleichstellung der Frauen in der Gesellschaft verloren ginge.²⁰ Diese Sicht wird noch unterstützt durch einen eher kritischen Blick auf die berufliche Sphäre und auf die politische Tätigkeit, angesichts derer der Ausschluss der Frauen als Freiheitsgewinn zu verstehen sei: „Der Staat muß immer angesehen werden als ein Ganzes aus Familien die unmittelbare Theilnahme nur als ein deputirtes Geschäft. Die Weiber sind daher mit Recht ausgeschlossen durch Freiheit.“²¹ In dieser Argumentation Schleiermachers ist sowohl seine kritische Wahr-

 Friedrich Schleiermacher [1799], Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, KGA I/2, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 163 – 184, hier 178.  Schleiermacher 1984, Versuch, 178 (Anm. 18).  Simon-Kuhlendahl führt nicht nur den „intelligiblen Despotismus“ als kulturell wichtige Fähigkeit besonders von Frauen an, sondern auch ihr Verhältnis zur Phantasie, das als Vermögen aufgrund ihrer zurückgezogenen Lebensweise stärker ausgeprägt sei (vgl. Simon-Kuhlendahl 1991, 173 – 14 [Anm. 17]). Diese Sicht des öffentlichen und politischen Ausschlusses von Frauen zugunsten der gesamten Gesellschaft stützt die feministische Defizit- bzw. Kompensationshypothese.  Friedrich Schleiermacher [1800 – 1803], Gedanken V, KGA I/3, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1988, 281– 340, hier 311 (Nr. 111). Vgl. dazu auch die Interpretation von Simon-Kuhlendahl 1991, 174– 176 (Anm. 17), die Schleiermachers ambivalente Haltung gegenüber dem Ausschluss von

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nehmung der Defizite zu erkennen, die die Rolle des bürgerlichen Mannes für diesen selbst wie für die Gesellschaft insgesamt produziert, als auch eine bewusste Zustimmung zu der Funktion der Frau, die Schleiermacher eher kreativ als rein kompensatorisch interpretiert. Diese Position Schleiermachers zieht sich durch bis in die relativ späten Äußerungen in seinen Psychologie-Vorlesungen, in der er den weiblichen Geschlechtscharakter durch ein Defizit an Leitungskompetenz im Staatswesen wie in der Kirche gekennzeichnet sieht.²²

3.2 Zur Frage der weiblichen Selbstentfaltung Der prominenteste Text Schleiermachers bei den Verfechterinnen und Verfechtern der Frauenbildung²³ wurde die Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen, der 1798 anonym im Athenäum veröffentlicht wurde.²⁴ Er stellt ein Plädoyer für die sittliche und geistige Selbstentfaltung der Frau dar und deutet eine entsprechende Vision der Beziehungen zwischen Frauen und Männern an. Die Zehn Gebote des Katechismus der Vernunft sind kein ungezügeltes Programm weiblicher Selbstverwirklichung. Zwar wird offensichtlich an die Handlungs- und Bildungsfähigkeit der Frauen appelliert und das eigene Herz zu einer Instanz, die absolute Entscheidungen fordert, doch die Autonomie des eigenen Herzens und seine Forderungen stehen unter dem allgemeinen vernünftigen Prinzip der Liebe zwischen den Geschlechtern. Die Liebe zwischen Frau und Mann, die nicht zugunsten eines anderen Zieles oder Zweckes instrumentalisiert werden darf, fordert, bisherige Einschränkungen weiblicher Existenz hinter sich zu lassen und auch bisherige weibliche Einfluss- und Selbstentfaltungsmöglichkeiten (wie bescheiden sie auch real aussehen mögen) aufzugeben, sofern sie einen Missbrauch der Liebe darstellen. Das bedeutet, dass das hier implizierte Geschlechterverhältnis Frauen Selbstwahrnehmung, Selbstreflexion, Handlungsfähigkeit und Verantwortung zuschreibt und deutliche Elemente einer egalitären Beziehung enthält. Dieses Geschlechterverhältnis weist voraus auf die Vertrauten Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde, in denen Schleiermacher seine Liebeskonzeption der Reziprozität und Anerkennung funktionaler Gleichheit bei bleibender Andersheit des Anderen entfaltet. Sofern die Liebe zwischen den Geschlechtern den Frauen aus der öffentlichen Sphäre differenziert darstellt und sowohl die persönlich-biographische Seite wie die theoretische Verankerung dieser Position erhellt.  Vgl. zu den entsprechenden Passagen der Psychologie und der Pädagogik bei Schleiermacher: Hartlieb 2006, 190 – 200 (Anm. 4).  Vgl. dazu die Hinweise von Richardson 1991, 61 (Anm. 6).  Friedrich Schleiermacher [1798], Fragment Nr. 364, KGA I/2, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 153 – 154. Die Verfasserschaft Schleiermachers wurde in der Schleiermacherforschung bestritten, meist aus Irritation über die progressiven Aussagen Schleiermachers im Vergleich zu seinen späteren Äußerungen über die Ehe, obgleich schon Dilthey den Text Schleiermacher zugeschrieben hat. Vgl. dazu Richardson 1991, 58 – 59 (Anm. 6), insbesondere den Hinweis auf eine briefliche Äußerung Friedrich Schlegels an seinen Bruder, der die Autorschaft Schleiermachers bekräftigt.

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inneren Fokus des Katechismus darstellt, folgt aus der ethischen Forderung des Vierten Gebotes, dass diese Liebe nur Frauen möglich ist, die ihre Individualität frei von den bedrückenden gesellschaftlichen Zwängen ihrer Geschlechtsrolle ausbilden. Insofern ist die Ausbildung der eigenen Person und Individualität der Frau eine notwendige Bedingung für die Liebe als Realisierung der „unendlichen Menschheit“. Der eigentliche Kern des Menschseins ist für das weibliche Individuum wie für das männliche identisch mit der Aufgabe, sich „dem Unendlichen wieder zu nähern“. Die Schranken sind geschlechtsspezifisch verschieden entsprechend der „Fesseln der Mißbildung“, die das weibliche Geschlecht prägen und halten.²⁵ Tugend ist im zeitgenössischen Kontext bereits geschlechtsspezifisch unterschiedlich gefüllt; im Zusammenhang des Katechismus ist damit eine für Frauen wie Männer gleichermaßen geltende Verpflichtung zur Ausbildung sittlicher Individualität zu verstehen.²⁶ Der Katechismus als Programmentwurf weiblicher autonomer Individualität ist eingebunden in eine universale Liebeskonzeption bzw. in eine „Religion der Liebe“²⁷, die die Entwicklung der Individualität fokussiert. Dieses Programm zur Entfaltung weiblicher Individualität war für zeitgenössische Weiblichkeitsvorstellungen herausfordernd und ebenso ist es die im Hintergrund stehende Vorstellung universaler Liebe, die Sinnlichkeit und Geistigkeit umfasst und in der liebenden Vereinigung des heterosexuellen Paares eine religiöse Dimension erschließt, wie sie dann in den Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde hervortritt.

3.3 Liebe als Schlüsselerfahrung In den Reden über die Religion (1799) verschränkt Schleiermacher seinen Individualitätsbegriff mit seiner Religionstheorie: Religion ist die Beziehung der Individualität zum Absoluten. Die Liebe nimmt einen zentralen Platz ein, sofern sie der Schlüssel des Individuums zur Menschheit ist, welche wiederum zur Religion führt. Liebe ist das „universale Band“ zwischen den Menschen und zugleich die spezifische Bindung zwischen den Geschlechtern. Schleiermacher interpretiert die Erschaffung des geschlechtlich differenzierten Menschenpaares aus dem geschlechtslosen Erdling in Gen 2,18 als Grunderfahrung der Selbstüberschreitung des Subjektes zur Gemeinschaft.

 Sie bestehen für Frauen im Gehorsam und in der Zerstreuung. Der dritte und letzte Bekenntnissatz benennt positiv die Güter, an denen die weiblichen Vernunftgebote ausgerichtet sind.  Zur Einzelinterpretation vgl. Hartlieb 2006, 112– 116 (Anm. 4).  Diese Argumentation fußt auf den Beziehungen zwischen dem Katechismus und den Vertrauten Briefen, auf die z. B. Erwin Quapp in seiner Auslegung mehrfach hinweist (vgl. Erwin Quapp, „Friedrich Schleiermachers Gebots- und Glaubensauslegung in seiner ‚Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen‘“, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg.v. Kurt-Victor Selge, Berlin / New York 1985, 163 – 193, hier 174).

Schleiermachers Verständnis des Geschlechterverhältnisses im zeitgenössischen Kontext

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In dem Fleische von seinem Fleische und Bein von seinem Beine endekte er die Menschheit, und in der Menschheit die Welt; von diesem Augenblik an wurde er fähig die Stimme der Gottheit zu hören und ihr zu antworten […] Unser aller Geschichte ist erzählt in dieser heiligen Sage. […] denn um die Welt anzuschauen und um Religion zu haben, muß der Mensch erst die Menschheit gefunden haben, und er findet sie nur in Liebe und durch Liebe.²⁸

Die Liebe zwischen Frau und Mann als sinnliche und geistige Beziehung ermöglicht die Gleichzeitigkeit von Selbstwahrnehmung und von der Wahrnehmung des Gegenübers im Gegenüber.²⁹ Mit seiner Auslegung von Gen 2– 3 formuliert Schleiermacher den engen Zusammenhang von Sozialität und Religion, wobei für ihn die liebende Paarbeziehung die Kraft darstellt, die jede zwischenmenschliche Beziehung und damit Sozialität und Menschheit überhaupt konstituiert. Heterosexuelle Liebe wird menschheitsgeschichtlich die treibende Kraft zur Ausbildung von Individualität und Religion, weil sie im Sinn einer elementaren Verwandtschaft („Fleisch von meinem Fleisch“) eine Einheitserfahrung darstellt, die zugleich Pluralität und Differenz in sich schließt und so die Öffnung des Einzelnen zum Anderen und darin zur Welt, die Etablierung einer entsprechend komplexen Beziehung zwischen Individuen und so zwischen Individuum und Totalität und damit Religion überhaupt ermöglicht.

Die Liebesehe als Menschheitsband In den Ende 1799 entstandenen Monologen ³⁰ wird deutlich, wie sehr die Entwicklung sittlicher Individualität auf den Austausch der Freundschaft und der Liebe angewiesen ist. Diese Wechselseitigkeit ist unverzichtbar.³¹ Die Liebe ist wie in den Reden die treibende und verbindende Kraft, die die eigene Vollendung und das allgemeine Ganze zusammenhält, das universale Band.³² Ja Liebe, du anziehende Kraft der Welt! Kein eignes Leben und keine Bildung ist möglich ohne dich, ohne dich müsst alles in gleichförmige rohe Masse zerfließen! […] Uns aber bist da das Erste wie das Lezte: Keine Bildung ohne Liebe, und ohne eigne Bildung keine Vollendung in der Liebe; Eins das Andere ergänzend wächst beides unzertrennlich fort. Vereint fühl ich in mir die beiden höchsten Bedingungen der Sittlichkeit!³³

 Friedrich Schleiermacher [1798], Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, KGA I/2, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 185 – 326, 228.  Die Unterscheidung von Verschmelzung der Personen unter Beibehaltung der Individualität ist hier noch nicht reflektiert.  Zur Entstehung sowie zum biographischen Hintergrund vgl. Günter Meckenstock, Historische Einführung, KGA I/3, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1988, XV–XL.  Vgl. Friedrich Schleiermacher [1800], Monologen. Eine Neujahrsgabe, KGA I/3, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1988, 1– 62, hier 21– 22.  Schleiermacher 1988, Monologen, 22 (Anm. 31).  Schleiermacher 1988, Monologen, 22 (Anm. 31).

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Doch wird nicht die Liebe selbst zum Thema wie in den Vertrauten Briefen, sondern die Sozialform der Ehe „das schönste Band der Menschheit“³⁴. Die Ehe, die auf der Liebe von Frau und Mann basiert, führt zur einer neuen Einheit der Personen und befördert wechselseitig die Ausbildung der Individualität: „Verschmelzen muß ich mich zu Einem Wesen mit einer geliebten Seele, daß auch auf die schönste Weise meine Menschheit auf Menschheit wirke […].“ ³⁵ Als naturwüchsige Frucht erwächst daraus eine neue personale Einheit. Es bindet süße Liebe Mann und Frau, sie gehn den eignen Heerd sich zu erbaun.Wie eigne Wesen aus ihrer Liebe Schooß hervorgehn, so soll aus ihrer Naturen Harmonie ein neuer gemeinschaftlicher Wille sich erzeugen; das stille Haus mit seinen Geschäften, seinen Ordnungen und Freuden, soll als freie That sein Dasein bekunden. […] Macht sie ihn glüklich, lebt sie ganz für ihn? macht er sie glüklich, ist er ganz Gefälligkeit? Macht beide Nichts so glüklich, als wo Einer dem Andern sich aufopfern kann?³⁶

Liest man das Eheideal der Monologen auf dem Hintergrund des in den Reden entfalteten Liebesbegriffs zeigt sich ein Ansatz der Verschmelzung der liebenden Gatten zu einer neuen Einheit wie Schleiermacher ihn in seiner Ethik der Ehe im Brouillon 1805/06 entfaltet. Die Verschmelzung der beiden Personen zu einer neuen personalen Einheit bedeutet keine Aufgabe der Individualität. Plausibel wird die personale Einheit der Ehegatten mittels des Gedankens der Geschlechterkomplementarität, den Schleiermacher allerdings erst später im Brouillon zur Ethik ausführt, der aber im Kontext der Geschlechterdebatte um 1800 vorausgesetzt werden kann. Die wechselseitige Ergänzung zweier in Liebe verbundener Personen, die sich nicht beliebig unterscheiden, sondern in präziser Komplementarität, d. h. gewissermaßen in spiegelverkehrter Symmetrie verschieden sind, bringt diese spezifische Einheit zustande und erweist sich so als Grundlage für eine neue soziale Einheit, die in den Monologen indes rein als liebende Verbindung zweier heterosexueller Individuen imaginiert und ausdrücklich gegen jegliche Fremdbestimmung der Bindung aufgrund von Eigeninteressen, Nützlichkeitserwägungen oder gesellschaftlicher Konventionen abgrenzt wird.

3.4 Liebe als religiöse Ekstase-Erfahrung Während Schleiermacher in den Monologen (1800) sein Eheideal entwirft und damit – wenn auch unter einem rein individualitätstheoretischen Blickwinkel – die Sozialform thematisiert, unter der er später in der philosophischen Ethik die Geschlechterthematik theoretisch einbindet, bewegt sich die Liebeskonzeption in den Vertrauten

 Schleiermacher 1988, Monologen, 32 (Anm. 31).  Schleiermacher 1988, Monologen, 47 (Anm. 31).  Schleiermacher 1988, Monologen, 32– 33 (Anm. 31).

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Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde (1800) in ihrem eigenen Raum der Liebe, jenseits gesellschaftlicher Konventionen. Schleiermacher entwirft das Ideal einer Liebe zwischen Frau und Mann, die Geistigkeit wie Sinnlichkeit beinhaltet und über die komplementäre Polarität der Geschlechterdifferenz in den Liebenden eine produktive Dynamik initiiert, die beide zu einer Einheit zusammenführt und die Liebenden selbst transzendiert. Gerade in der Zusammengehörigkeit von Geistigem und Sinnlichem ist diese Liebe das Medium, in dem die Erfahrung des Absoluten möglich wird: „Der Gott muß in den Liebenden sein, ihre Umarmung ist eigentlich seine Umschließung, die sie in demselben Augenblicke gemeinschaftlich fühlen, und hernach auch wollen. Ich nehme in der Liebe keine Wollust an ohne diese Begeisterung […].“ ³⁷ Die sinnlich-geistige Vereinigung der beiden Liebenden ist ein Moment göttlicher Präsenz.³⁸ Damit erhält die Geschlechterdifferenz als Grundlage dieser Liebe religiöse Bedeutsamkeit. In der Entwicklung und Entfaltung der heterosexuellen Liebesfähigkeit gelten für Frauen und Männer unterschiedliche Wege – dies ist ja das Thema von Schlegels Lucinde, und so sehen es auch die Akteure und Akteurinnen der Vertrauten Briefe. Den Frauen komme es in besonderer Weise zu, die Liebe zu pflegen: „Edle Frauen“ haben die Liebe „als Beruf“³⁹, während Männer offensichtlich angeregt durch die Kompetenz der Frauen ihre eigene Liebesfähigkeit vertiefen. In den Vertrauten Briefen verknüpft Schleiermacher das kosmisch-universale Moment seines Religionsbegriffs aus den Reden mit individual- und sozialphilosophischen Aspekten des Liebesbegriffs⁴⁰. Die Geschlechterdifferenz stellt dabei gewissermaßen den Kreuzungspunkt dar, sofern sich die universalen Polaritäten von Geist und Natur, von Spontaneität und Rezeptivität in einem Modell differenter Einheit darstellen lassen, wie es das Modell der Freundschaft (auch zwischen Frau und Mann) nicht vermag: „denn in den höchsten Momenten der Liebe ist das Vertauschen des Bewußtseins, das gänzliche Hineinversetzen in den Andern das Höchste und Nothwendigste.“⁴¹ Die Liebesvereinigung von Frau und Mann beinhaltet ein Totalitäts Schleiermacher 1988, Vertraute Briefe, 165 (Anm. 16).  So schließt Schleiermacher seine Rezension der Lucinde im Berlinischen Archiv der Zeit und ihres Geschmacks mit dem Urteil: „Durch die Liebe eben wird das Werk nicht nur poetisch, sondern auch religiös und moralisch. Religiös, indem sie überall auf dem Standpunkte gezeigt wird, von dem sie über das Leben hinaus ins Unendliche sieht […].“ (Friedrich Schleiermacher, Rezension von Friedrich Schlegel: Lucinde, KGA I/3, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1988, 217– 223, hier 223).  Schleiermacher 1988, Vertraute Briefe, 155 (Anm. 16).  Die religiöse Dimension des romantischen Liebesverständnisses, wie sie sich in den Reden und den Vertrauten Briefen manifestiert, hat ihre Wurzeln schon in der Herrnhuter Frömmigkeit. Darauf weist bereits Heidemarie Bennent hin (Heidemarie Bennent, Galanterie und Verachtung. Eine philosophiegeschichtliche Untersuchung zur Stellung der Frau in Gesellschaft und Kultur, Frankfurt a.M. / New York 1985, 75), auch mentalitätsgeschichtliche Forschungen zur Kultur des Bürgertums verweisen auf die Wurzeln im Pietismus (vgl. Anne-Charlott Trepp, „Emotion und bürgerliche Sinnstiftung oder die Metaphysik des Gefühls. Liebe am Beginn des bürgerlichen Zeitalters“, in: Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, hg.v. Manfred Hettling / Stefan-Ludwig Hoffmann, Göttingen 2000, 23 – 55, hier 35).  Schleiermacher 1988, Vertraute Briefe, 201 (Anm. 16).

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moment, das der Freundschaft fehlt und auf der polaren Symmetrie der Geschlechter beruht. Ekstatische Sinnenlust und Unendlichkeitserfahrung fallen zusammen „wie ein göttlicher Blitz, der mich fast verzehrt, eine unendliche, zusammenhängende Reihe von gleichen Gedanken und Gefühlen, die vom höchsten Himmel bis in den Mittelpunkt der Erde reicht, und mir Vergangenheit und Zukunft, und Dich und mich und Alles erleuchtet und erklärt.“⁴² So rückt über den religiös besetzten Liebesbegriff die Geschlechterdifferenz, die in den Jahren kurz vor 1800 zu einer zentralen kulturellen Kategorie wird, bei Schleiermacher in den Bereich der Religion. Die Liebe zwischen Frau und Mann und ihre soziale Lebensform, die Liebes-Ehe, stehen im Zentrum dieser frühromantischen Religion der Liebe, die zugleich Überschreitung und Kritik der realen Eheverhältnisse beinhaltet. In der Liebesvereinigung verschmelzen Mann und Frau zu einer Einheit, die Himmel und Erde,Vergangenheit und Zukunft verbindet, kurz: die Welt und Ich in der Anschauung des Universums zusammenhält.

4 Von der erlösenden Liebe zur christlichen Ehe: Liebe und Geschlechterdifferenz in Schleiermachers ethischen Texten nach 1805 Inhaltlich sind damit alle Elemente präsent, deren sich Schleiermacher bedient, um seine Konzeption des Geschlechterverhältnisses als integratives Moment seiner Theorie der Reifezeit zu entfalten. Allerdings unterliegt die Konzeption der Geschlechtsdifferenz und der Geschlechtscharaktere, wie er sie in der Ethik, der Psychologie und Pädagogik darlegt, nicht allein einer begrifflichen Konzentration, sondern auch einer inhaltlichen Veränderung: Die Geschlechterdifferenz avanciert zu einer anthropologischen Grundbestimmung der Individualität, deren Triebkraft die Liebe ist. Diese allerdings wird ausgerichtet auf die Sozialform der Ehe und deren kulturbildende, sittliche Bedeutung, während die ekstatisch-religiöse Dimension verblasst. Die Liebe dient als das notwendige Pendant zur Individualität, die einer Gegenkraft bedarf, um ihre Unzugänglichkeit und Unübertragbarkeit für das Bezogensein der Person auf die Gemeinschaft zu vermitteln.⁴³ Schleiermacher thematisiert nun nicht mehr die Liebe als grenzüberschreitende Ekstaseerfahrung der Einzelnen im Sinn einer kritischen Kraft, die einengende Konventionen sprengt.Vielmehr tritt die

 Schleiermacher 1988, Vertraute Briefe, 199 – 200 (Anm. 16).  Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher [1805/06], Brouillon zur Ethik, hg. u. eingel. v. HansJoachim Birkner, Hamburg 1981, 49: „Dieser Trieb die unzugängliche und unübertragbare Individualität anzuschaun ist, was man im engeren, aber noch nicht engsten Sinne Liebe nennt.“ Diese Liebe im weiteren Sinn ist auf wechselseitige Anschauung und Erkennen ausgerichtet und insofern die Triebfeder von Geselligkeit und Freundschaft und dann natürlich auch von erotischer Liebe als Liebe im engeren Sinn.

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Liebe als eine universale Gestaltungsmacht in den Blick, die die Natur mit der Vernunft so vermittelt, dass die konkrete Vielfalt des Einzelnen überhaupt erst entsteht und sich zugleich in Harmonie mit der einheitsstiftenden Vernunft befindet. In diesem Zusammenhang entwickelt Schleiermacher sein Konzept des „Geschlechtscharakters“ als spezifische Struktur der Individualität und seine Theorie der Ehe als die entsprechende elementare Sozialform.

4.1 Geschlechtscharakter Im Brouillon zur Ethik von 1805/05 führt Schleiermacher seine Definition des Geschlechtscharakters ein,⁴⁴ in der Ethik 1812/13 verwendet er synonym dafür den Terminus „Geschlechtsdifferenz“⁴⁵. Damit führt er konzeptionell sein bisher erarbeitetes Verständnis des Geschlechterverhältnisses terminologisch zusammen und transformiert zugleich die ekstatische Liebesreligion der frühromantischen Texte im Rahmen seiner Kulturtheorie in eine Ethik der Ehe. Der Geschlechtscharakter ist eine spezifische Struktur der Individualität, die sich in der Person als unverwechselbares interdependentes Relationsgefüge von Vermögen, Organen und Kräften, als dialektische Kombination in spezifischen Graden und Quantitäten fassen und so als partikulare und damit unter den Bedingungen der Geschichtlichkeit mögliche Gestalt der Vernunft darstellen lässt. „Die Vereinzelung der Vernunft in der Persönlichkeit erscheint uns aber noch zerspalten im Geschlechtscharakter. Wenn also die Vernunft mit der Bestimmtheit des Einzelnen durch die Natur eins werden muß, so muß sie es auch mit dem Geschlechtscharakter. Dies muß nothwendig mit angeschaut werden, wo die Bildung zur Individualität und die Gemeinschaft derselben soll ethisch dargestellt sein.“ ⁴⁶ Der Geschlechtscharakter ist durch „absolute Einseitigkeit“⁴⁷ gekennzeichnet, d. h. er ist eine binäre, auf komplementäre Ergänzung angelegte Struktur.⁴⁸ Sofern der Ge-

 Vgl. Schleiermacher 1981, 54– 55 (Anm. 43).  Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Ethik 1812/13 mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre, hg. u. eingel. v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg 21990, 80. Der Wechsel der Begrifflichkeit zeigt keine inhaltliche Veränderung an, sondern eine Präzisierung. Der Begriff Geschlechtsdifferenz stellt den Zusammenhang her mit dem Schleiermacherschen Grundgedanken der „Duplicität […] des Lebens“, von der Schleiermacher bereits in den Reden 1799 spricht.  Schleiermacher 1981, 54– 55 (Anm. 43).  Schleiermacher 1981, 55 (Anm. 43).  Binarität, präziser Komplementarität, ist eine unhinterfragte Prämisse aus der zeitgenössischen Debatte, die sich in Schleiermachers Denken in der Struktur oszillierender Polaritäten auf gleicher Ebene einfügt, die sich zu einem komplexen „Fachwerk“ ergänzen. Die absolute Gespaltenheit ist jedoch ein für Schleiermacher auffälliges Charakteristikum, da er in der Regel von relativen Gegensätzen im Rahmen eines Minimum-Maximus-Prinzips ausgeht. Die absolute Gespaltenheit scheint in Spannung zum Konzept der Individualität als „Repräsentation des Universums“ zu stehen (Schleiermacher 1981, 55 [Anm. 43]). Diese Spannung ist m. E. ein Hinweis auf die Sonderstellung des Geschlechtscharakters als Strukturelement von Individualität, der damit in sich, stärker als andere

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schlechtscharakter ein Element der Partikularisierung der Vernunft unter der Bedingungen der Natur und also ein Element der der Natur einwohnenden Vernunft darstellt, hat er eine physische Basis. Schleiermacher setzt wie seine Zeitgenossen bei den körperlichen Geschlechtsorganen und ihren Funktionen an und stellt eine vom Physischen über das Psychische ins Intellektuelle aufsteigende duale Reihe auf, um den Geschlechtsunterschied als eine den gesamten Körper durchziehende und bestimmende und ebenso die psychischen und intellektuellen Vermögen prägende Struktur zu beschreiben. Männlicher wie weiblicher Geschlechtscharakter bestimmen die Individualität einer Person, die ethisch ausgebildet werden soll. Gleichzeitig liegt in der postulierten komplementären Verfasstheit der Geschlechtscharaktere das Moment der Überschreitung des individuellen Einzelnen hin zu Sozialität und Gemeinschaft in der Ehe. Die binäre anthropologische Differenzstruktur in den idealen Polen Weiblichkeit und Männlichkeit erweist sich inhaltlich den zeitgenössischen Vorstellungen verhaftet, die progressive Verfechter von Frauenrechten wie konservative Vertreter eines bürgerlichen Frauenbildes teilen. Schleiermachers Geschlechtscharaktere partizipieren mit ihrem materialen Gehalt, als Theorieelement und über die Sprach- und Bildmetaphorik an einem Geschlechter-Diskurs, der so verschiedene Bereiche wie Religion und Biologie oder so unterschiedliche Vermögen wie Gefühl und Gebären miteinander in einen unterschwelligen Zusammenhang bringt.

4.2 Ehe als „absolute Vereinigung“ von Frau und Mann Schleiermacher baut seine Ehetheorie im Brouillon zur Ethik auf seine ganzheitliche Auffassung der Liebe und den Gedanken des Koitus als der „absoluten Vereinigung“⁴⁹ auf: „Der Act der Geschlechtsvereinigung ist eine absolute Verschmelzung des Bewußtseins, in welchem die Differenz aufgehoben wird und die entgegengesezten Factoren sich saturiren.“⁵⁰ Dies wird zum Angelpunkt des Eheverständnisses, indem Schleiermacher aus der Absolutheit der Verschmelzung die sittliche Notwendigkeit und Unauflöslichkeit dieser Verbindung folgert. Zugleich leistet er eine begriffliche Deduktion der Ehe mittels des neu eingeführten Terminus der Geschlechtsdifferenz, die den sachlichen Gehalt seiner Konzeption egalitär-komplementärer Geschlechtscharaktere zusammenfasst.⁵¹ Schleiermacher thematisiert im Brouillon die „absolute Vereinigung“ von Frau und Mann von vornherein im Kontext der Ehe. Liebe und Ehe fallen zusammen: „Dies [die Aufhebung der Differenz der Geschlechtscharaktere in Identität, EH] geschieht nun durch die Liebe in derselben Function, worin zugleich das

Strukturelemente, die Tendenz zur Selbstüberschreitung hin zur Gemeinschaft enthält. Davon zu unterscheiden ist die Erscheinungsform des Geschlechtscharakters, die sehr wohl relative Gegensätze von Männlichkeit und Weiblichkeit bei empirischen Personen, d. h. bei Frauen und Männern, erlaubt.  Schleiermacher 1981, 56 (Anm. 43).  Schleiermacher 1981, 56 (Anm. 43).  Vgl. Schleiermacher 1981, 56 – 57 (Anm. 43).

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Geschlecht erhalten wird. Hieraus also die Identität des Physischen und Ethischen, wodurch eben der Geschlechtstrieb zur Liebe wird und die Befriedigung deselben zur Ehe.“⁵² Die Liebe ist weiterhin die Voraussetzung der „absoluten Vereinigung“ und erfüllt sich in der Liebesehe.⁵³ Allerdings erscheint die Liebe nicht mehr als das Medium der zweckfreien, unmittelbaren Teilhabe am Universum, sondern wird eingebunden in die sittliche Aufgabe, der Entwicklung der Familie und des Staates zu dienen. Ihre ekstatisch-religiöse Dimension tritt zugunsten ihrer Ethisierung zurück: Liebe wird zur Tugend. So verschiebt sich auch der Fokus weg von der erotisch-religiösen Ekstase, die die kosmische Unmittelbarkeitserfahrung des Universums repräsentiert, hin zur Befriedigung und Freude am gemeinsamen ehelichen und familiären Leben von Frau und Mann, die darin einen nur gemeinsam zu vollbringenden Anteil an der Entwicklung ihrer individuellen Menschlichkeit wie der Menschheit als ganzer leisten. Schleiermacher formuliert sein Verständnis von der Hochschätzung des Weiblichen zu einer Theorie der Geschlechterdifferenz und der Ehe aus, die m. E. innerhalb seiner Ethik zwar in der Selbstentfaltung der Individualität von Männern und von Frauen ein hohes Freiheitsmoment⁵⁴ entwickelt, diese jedoch gleichzeitig einbindet in eine Theorie der Ehe als kulturschaffender Lebensform.⁵⁵ Die kosmisch-erotische Erlösungskraft der Liebe wird zum Fundament einer Lebensform, die Mann und Frau klare Rollen und Aufgaben zuweist und darin dem größeren Ganzen dient. Die Legitimation dafür bildet die Theorie der Geschlechtsdifferenz. Das bürgerliche Ehe- und Familienkonzept, das Schleiermacher mit dem romantischen Liebesideal verbindet, stünde ohne den Komplementaritätsgedanken in wesentlich stärkerer Spannung zum Gedanken der Individualität der Einzelnen wie zum Gedanken einer allgemeinen menschlichen Natur. Schleiermacher führt diese im Brouillon angelegte Theorie der Ehe in den späteren Texten fort, sowohl in der philosophischen Ethik, wo er sie als grundlegende Kultur schaffende Lebensform entwickelt, wie in den theologischen Texten, vor allem in den zwei Ehepredigten von 1820, in denen die christliche Ehe zur vollendeten Konkretion der Ehe avanciert.

 Schleiermacher 1981, 56 (Anm. 43).  Schleiermacher 1981, 56 (Anm. 43).  Zumal man sich unter Aufnahme von Schleiermachers eigenen Äußerungen über seine Affinität zur Frauen individuell die Geschlechtergrenzen sehr fließend vorstellen könnte.  Die neue Kontextualisierung von Schleiermachers Modell der Geschlechterdifferenz entspricht seiner persönlich-biographischen Veränderung: der Auflösung des Berliner Freundeskreises und der Neuorientierung nach dem „Exil“ in Stolp sowie dem Ende der Beziehung zu Eleonore Grunow im Oktober 1805. Nicht unerheblich dürfte zu dieser Verschiebung auch Schleiermachers Professur in Halle beigetragen haben, die ihm als akademischem Lehrer eine öffentliche Rolle in einer staatlichen Einrichtung gibt.

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4.3 Rezeptivität und Spontaneität als Leitdifferenzen im Konzept der Geschlechtsdifferenz Schleiermacher integriert mittels seiner Konzeption der Geschlechtsdifferenz die zeitgenössische Debatte der Geschlechterkomplementarität in seine philosophische Ethik. Während er mit seiner Ehetheorie die sozialtheoretische Dimension entfaltet, vermittelt er den individualitätstheoretischen Aspekt über den Begriff des „Geschlechtscharakters“⁵⁶ mit dem Grundgerüst seiner ethischen Begrifflichkeit, vor allem mit dem Konzept der Vermittlung von Natur und Vernunft. Die Grundzüge dafür sind bereits im Brouillon angelegt, doch in den Vorlesungen zur philosophischen Ethik seit 1812/13 wird material sichtbar, wie stark sich Schleiermacher die zeitgenössische Zuordnung von männlicher Spontaneität und weiblicher Rezeptivität und deren biologischer Basis in den Geschlechtsorganen zu eigen gemacht hat. Aus heutiger Perspektive naturalisiert er damit die Geschlechterdifferenz: Schleiermacher nimmt, ganz im Einklang mit der zeitgenössischen Theoriebildung, einen zugleich mit der einzelnen Person gegebenen, die ganze Physis durchziehenden „Geschlechtscharakter“ an, der sich in den psychischen und geistigen Vermögen fortsetzt. Dabei nehmen die Geschlechtsorgane eine hervorgehobene Position ein: Vorgegebenheit und Wesen des männlichen und weiblichen Geschlechtscharakters lassen sich, so Schleiermacher, am deutlichsten an den Organen und an deren Funktion erkennen, denn diese stellen ja ein ursprüngliches Sein der Vernunft in der Natur dar. Hier ist eine bemerkenswerte Verschiebung zu konstatieren: Die Phantasie wird von einer weiblichen zu einer männlichen Domäne. Während in Aussagen Schleiermachers vor und bis kurz nach 1800 die Phantasie den Frauen zukommt, da diese im Gegensatz zu den berufstätigen Männern die Muße und innere Freiheit für die Entfaltung dieses Vermögens zur Verfügung stehe⁵⁷, liegt knapp zehn Jahre später der Akzent auf dem kreativen, spontanen Moment der Phantasie, das nach dem Grundprinzip des Geschlechtermodells ein Kennzeichen des Männlichen sein muss. Hier zeigt sich meines Erachtens der Einfluss der Leitunterscheidung von Spontaneität und Rezeptivität für die inhaltliche Entfaltung der Geschlechtscharaktere.⁵⁸ Schleiermacher setzt nun die konventionelle Konnotation von weiblicher Rezeptivität und männlicher Spontaneität im Sinn einer festen Zuweisungsregel, als kulturellen Code, ein. Seine früheren Überlegungen, dass  Schleiermacher 1990, 81 (Anm. 45); vgl. auch Schleiermacher 1981, 54– 55 (Anm. 43).  Vgl. seinen Brief an Eleonore Grunow vom 12. August 1802 und an Charlotte von Kathen vom 4. August 1804 (beides in: Wilhelm Dilthey (Hg.), Aus Schleiermachers Leben. In Briefen, Berlin 21860, 313 – 314 bzw. 402– 404).  Im Einzelnen ordnet Schleiermacher im Bereich des individuellen Symbolisierens Gefühl und Aneignung als weiblich, Phantasie und Erfindung als männlich, im Bereich des individuellen Organisierens die Entfaltung innerhalb von Herkommen und Sitte als weiblich, die Überschreitung (und insofern auch Neubildung) als männlich ein. Im Bereich des identischen Symbolisierens schreibt Schleiermacher dem weiblichen Geschlechtscharakter entsprechend „mehr Aufnehmen als Fortbilden“ zu und im Bereich des identischen Organisierens eine Dominanz des Individuellen im Unterschied zum männlichen, der sich mehr auf das Objektive beziehe.

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der soziale Freiraum des Privaten, der insbesondere den Frauen offen stehe, der Ausbildung der Phantasie dienlich sei, scheint obsolet geworden.

5 Schleiermachers Modell der egalitären Geschlechterkomplementarität: Die Ehe als Telos der Geschlechterdifferenz Rückblickend lässt sich sagen: Schleiermacher hat die zeitgenössische Debatte um die Geschlechterfrage aufgenommen und zu einem integralen Bestandteil seiner Kulturtheorie entwickelt. Die Vereinseitigung in der Geschlechtsdifferenz provoziert die Bewegung hin zur Vereinigung in der Geschlechtsgemeinschaft. Die Geschlechtsdifferenz bildet darin die Naturbasis für die Liebe, die im Fall der geschlechtlichen Liebe als freier Wahlanziehung zwischen Ehegatten die harmonische Verschmelzung von Natur und Vernunft und die schöpferische Einheit von Differenz ohne Verlust der Individualität darstellt. Der Charakter der Geschlechtsdifferenz, ihre Komplementarität und die Einheit des Sinnlichen und Geistigen, die die Liebe zwischen Frau und Mann auszeichnen, sind das Movens zur Selbsttranszendierung des Individuums in die neue Einheit von Ehe und Familie. Daraus speist sich die soziale Dynamik und kulturbildende Funktion der geschlechtlichen Liebe. Als Grundlage der ehelichen Wahlanziehung bildet sie zusammen mit der Freundschaft als gleiche und freie Liebe deren höchste zwischenmenschliche Erscheinungsform. Schleiermachers Darlegungen über die Ehe basieren auf einem komplementäregalitären Geschlechtermodell, das keine interne Hierarchie zwischen Frau und Mann etabliert. Im gesellschaftlichen Außenverhältnis betont er jedoch eine geschlechtsspezifische Zuordnung, die Männern Leitungsfunktionen zuschreibt und Frauen davon ausschließt. Diese offensichtliche Spannung lässt sich nicht nur mit Verweis auf externe biographische Einflüsse erklären, sie hat auch ein theorieinternes Moment. Schleiermachers Theorie der Ehe steht im Rahmen seines gesamten ethischen Ansatzes, der auf die Überwindung des Partikularen gerichtet ist und Sittlichkeit als Vergesellschaftung autonomer Subjekte konzipiert. Ein Individuum kann sich nur innerhalb eines sozialen Gefüges sittlich bilden und erfüllt zugleich eine entsprechende Funktion für andere, wird also gewissermaßen zum Organ unter dem Gedanken der Arbeitsteilung. Die Leitidee der vernünftigen Entwicklung der Gesamtheit begründet für Schleiermacher diese Arbeitsteilung.⁵⁹ Potentiell entsteht zwischen der freien, ungehinderten Entfaltung des Individuums und der Entwicklung der gesamten Menschheit eine Spannung, es sei denn, man geht von der Prämisse einer prästabilisierten Konvergenz und Harmonie aus. In dieser Perspektive erscheint die Geschlechterdifferenz als Basis einer grundlegenden Arbeitsteilung innerhalb der

 Vgl. Schleiermacher 1990, 40 – 41 (Anm. 45).

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zweigeschlechtlichen Menschheit, die sich in der Ehe realisiert. Die freie, ungehinderte Entfaltung der Frau muss dann als Entfaltung eines natürlichen Geschlechtscharakters verstanden werden, welcher sich mit dem des Mannes ergänzt, so dass die individuellen und die universalen Ziele harmonisch konvergieren. Im Blick auf die Geschlechtsdifferenz, die eine absolute ist, liegt die harmonische Auflösung beziehungsweise der Indifferenzpunkt nicht mehr innerhalb der Einzelperson und wird auch nicht in ihr angestrebt.⁶⁰ Nicht in der Einzelperson ergänzen sich die komplementären Geschlechtseigenschaften, sondern in der Ehe. Die Einzelperson wird zugunsten der Entwicklung der Gattung und der größeren sozialen Lebensformen transzendiert. Die Konsequenz dieses Gedankens zeigt sich dann in der Psychologie, indem das Wesen der Geschlechterdifferenz auf das Verhältnis von öffentlicher und privater Sphäre abgebildet wird. So bildet die Zuordnung von Familie und freier Geselligkeit zur Privatsphäre als dem dominierenden Bereich der Frau einerseits und die Zuordnung der übrigen Handlungsbereiche sowie ihrer Institutionen Staat, Kirche, Akademie als dem dominierenden Bereich des Mannes zur Sphäre der Öffentlichkeit andererseits eine Auslegung der in der Ethik entwickelten Geschlechtscharaktere. Die in den frühen Texten artikulierten Freiräume weiblicher Selbstentfaltung engt Schleiermacher letztlich, darin vielen seiner Zeitgenossen ähnlich, auf den Wirkungsbereich der bürgerlichen Ehefrau und Mutter ein.

 Ein solcher Lösungsversuch wäre das Androgynie-Modell, für das Schleiermacher jedoch wenig Interesse zeigt.

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Der Individualisierungsprozess der Moderne und der Protestantismus Theologie- und kulturgeschichtliche Überlegungen

1 Einleitung Die Debatten um Luther, die die Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum in der Theologie begleitet haben, waren kontrovers. Zwei methodische Ansätze standen sich gegenüber. Der eine war die ältere Auffassung einer konstitutiven Bedeutung Luthers für die Entstehung der modernen Welt. Diese Sicht ist insbesondere durch Hegels Deutung der Reformation für den modernen Protestantismus leitend geworden, er hat noch die Gegenwartsdiagnosen der Lutherrenaissance am Anfang des 20. Jahrhunderts bestimmt und darüber hinaus weite Teile der kirchengeschichtlichen Forschung bis heute. Gegen diese Sicht ist versucht worden, eine „objektive“, also nicht auf das moderne Luthertum beziehungsweise den modernen Protestantismus hinauslaufende Lutherinterpretation zum Leitbild des Jubiläums zu machen. Inhaltlich haben die Vertreter dieser Sicht vorgeschlagen, Luther im Kontext der religiösen und theologischen Entwicklung des Spätmittelalters zu interpretieren. Versucht man, diese beiden Interpretationsansätze auf eine konkrete Fragestellung zu übertragen, wie in diesem Fall die Bedeutung Luthers und des Protestantismus für das moderne Individualitäts- beziehungsweise Personalitätsbewusstsein, so ergibt sich, dass beide Zugänge keine kulturgeschichtlich befriedigende Auskunft geben können. Denn setzt man einen kulturgeschichtlich abgelaufenen Prozess an, der zur Entstehung eines besonderen modernen Verständnisses von Selbst und Individualität geführt hat, dann ist auf der einen Seite die Einordnung Luthers in das Spätmittelalter keine zureichende Antwort, weil damit der Prozess gar nicht erklärt wird. Denn entweder wird eine Beteiligung Luthers an weiterführenden Entwicklungsprozessen nicht durchsichtig gemacht, indem der Prozess und seine Initiation erst später datiert wird, zum Beispiel in die Aufklärungszeit. Oder die Entstehung von Individualitätsbewusstsein wird in andere kulturelle Strömungen, wie zum Beispiel den Renaissancehumanismus delegiert. Setzt man andererseits im alten Sinn eine konstitutive Funktion Luthers für individuelle Autonomisierung und ein neues Personkonzept, dann wird zwar eine Entwicklung hin zur Moderne aus dem Luthertum möglich, aber nur um den Preis altbekannter Probleme, wie zum Beispiel die strikte Differenz zwischen dem „eigentlichen“ Luther und seiner „zeitgenössischen“ Außenseite beziehungsweise dem späteren Luthertum. Außerdem ergibt sich, dass der Zusammenhang von moderner Sicht des Individuums und anderen Strömungen des

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Spätmittelalters beziehungsweise der beginnenden Neuzeit unterbelichtet werden muss. Dies führt zu der Überlegung, ob nicht eine andere Zugangsweise für die Sicht auf die Entstehung der modernen Welt sinnvoller ist. Diese würde nicht auf bestimmte Personen und Ansätze als Initiationen von Entwicklungen setzen, sondern eine breitere Sicht auf kulturelle Entwicklungen ermöglichen. Verschiedene Denkweisen nebeneinander können Reaktionen auf Probleme enthalten, die gleichberechtigt als Grundideen für Späteres anerkannt werden. Zeitlagen sind immer offen für viele Entwicklungsmöglichkeiten. Dass sich eine davon auf Dauer durchsetzt, heißt nicht, dass nicht auch andere, alternative Ansätze aufgenommen worden sind. Insofern führt die Anerkennung vielfältiger synchroner Ansätze für bestimmte Probleme zur reicheren Erkenntnis der Folgegeschichte. Parallel zu dieser kulturgeschichtlichen Fragestellung ergibt sich allerdings gerade im Kontext des Problems „Luther und moderne Individualität“ eine weitere Verkomplizierung. Diese hängt an dem unklaren Verhältnis von Religion und Kultur, das bereits in der Problemstellung verborgen ist. Gerade bei dem in Frage stehenden Problem der Individualitätsentwicklung muss konstatiert werden, dass Luthers Konzept der Person nur dann als „modernisierungsfähig“ angesehen werden kann, wenn Luthers Beharren auf der Differenz von religiöser Selbstsicht und vernünftiger (kultureller) Sicht auf das Individuum außer Acht gelassen wird. Erst durch die Ausweitung von Luthers Freiheitsverständnis über den Bereich der religiösen Innerlichkeit hinaus wird sein mittelalterliches Verständnis von politischer und gesellschaftlicher Unfreiheit des Einzelnen verallgemeinerbar und zur Grundlage der Kultur der Moderne. Eine kultur- und theologiegeschichtliche Betrachtung des Problems „Luther und moderne Individualität“ muss also nicht nur das synchrone Problem einer Initialisierung lösen, sondern auch das diachrone Problem des Verhältnisses von Religion und Kultur insgesamt offener angehen. Die Funktion religiöser Einsichten für kulturelle Entwicklungen ist selbst ein kulturgeschichtliches Problem. Religion kann spätestens in der Moderne auch für antimoderne Tendenzen benutzt werden und einstehen. Die Sicht religiöser Individualität kann gegenläufige Elemente wie den Gehorsam oder die gesellschaftliche Bindung profilieren. Die Funktion der Religion für die Gesellschaft und die Kultur ist jeweils erst zu klären. Historische Allgemeinheitsansprüche oder unklare Grundlagenbehauptungen dürfen nicht zu einer einlinigen Entwicklungsgeschichte aus religiösen Motiven führen. Daraus ergibt sich insgesamt, dass das Verhältnis von Luther und modernem Personalitätsverständnis beziehungsweise von Protestantismus und individueller Freiheit nur über offene Stufen rekonstruiert werden kann, die die Funktion und die Absicht theologischen Denkens für die gesamte Kultur immer wieder neu mitdarstellen. Nur so können die jeweiligen – kontingenten – Wendungen der europäischen Kulturgeschichte verstanden werden. Es gilt, einen Gesamtrahmen zu konzipieren, innerhalb dessen die Entwicklungsgeschichte, die zweifellos geschehen ist, – abgesehen davon, dass sie nicht als notwendig oder teleologisch bestimmt gesehen werden

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kann – als inhaltlich offen und aufnahmefähig für verschiedene Elemente beschrieben wird. In einem ersten Schritt werden verschiedene Konzepte einer auf Luther und den Protestantismus eingehenden Kulturgeschichte der Individualität vorgestellt. In einem zweiten soll ein Versuch unternommen werden, Luthers Verständnis vom Menschen einzuordnen in parallele Entscheidungen der Zeit, die auf einen freien Umgang des Einzelnen mit sich selbst hinauslaufen können. Ein dritter und vierter gehen auf theologische Theorien ein, zunächst bei Schleiermacher, dann bei Bultmann. Hier gilt es, die Differenzen hinsichtlich der Funktion theologischer Theoriebildung im Kontext der Kultur herauszuarbeiten.

2 Religion und Kulturgeschichte 2.1 Heinz Kittsteiner Bereits 1991 hat Heinz Kittsteiner¹ die Entstehung des modernen Gewissens untersucht, und zwar in religionskritischem, gegen die protestantische Entwicklungsidee gerichtetem Interesse. Ausgangspunkt ist Luthers Gewissensverständnis, Endpunkt Kants Moralphilosophie. Die Idee dieser Kulturgeschichte besteht darin, dass nicht allein theologische und ethische Theorien benutzt werden, sondern dass die Entwicklung der Ideengeschichte eingestellt wird in die Geschichte der Weltsicht, der Naturanschauung und insbesondere der sozialen Bildungsgeschichte. Ziel der Darstellung ist zu zeigen, dass die Moderne in der Abschaffung externer Bezüge von Innerlichkeit besteht.Welt und Gott gelten Kittsteiner gleichermaßen als solche externen Bezüge. Infolgedessen ist die areligiöse Auffassung der Innerlichkeit und des Gewissens der eigentliche Endpunkt; bleibende Reste von religiöser Sprache werden hier – nämlich bei Kant – einfach als Bilder und Projektionen verstanden.² Zudem ergibt sich damit ein Zirkel aus Projektion und äußerer Entwicklungsgeschichte, wenn „die Freisetzung eines aus sich selbst gestellten Gewissens […] aus dem Zusammenbruch von äußeren Normen und Strafinstanzen“³ erfolgt. Damit aber wird die Intention der Kulturgeschichte unbeweisbar: Soll sie zeigen, dass am Anfang religiöse Bilder des Gewissens vorherrschen (die sich als religiös gerade durch die Berufung auf eine äußere Strafinstanz erweisen) und am Ende die Freiheit des Menschen zu sich selbst erreicht ist, so kann sie dies nur, indem sie am Anfang die religiösen Bilder sachhaltig liest, während am Ende ihre bildhafte Funktionalität für die Innerlichkeit behauptet wird. Die gesellschaftliche Durchsetzung der Innerlichkeit macht so, nach dem Aufkommen des freien selbstbezogenen und innerlichen Gewissensbegriffs, die Religion  Heinz D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a.M. 1991.  „Kant liefert das untrügliche Zeichen dafür, daß ein Verinnerlichungsprozeß abgeschlossen ist: Himmel und Hölle werden zu Projektionen erklärt“ (Kittsteiner 1991, 150 [Anm. 1]).  Kittsteiner 1991, 115 (Anm. 1).

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überflüssig, wenn sie gerade in der Aufrichtung einer äußeren Strafinstanz gegen den Menschen besteht. Die Kritik speist sich aus der neuen Natursicht und der aufkommenden technischen Beherrschung der Natur, aus der wissenschaftlichen Erforschung der Bibel sowie der Abschaffung beziehungsweise Eingrenzung der Höllenvorstellung und der Endgerichtsvorstellung. Mit letzterem ist jedoch bereits eine Wandlung des Religionsverständnisses selbst angedeutet. So erlaubt Kittsteiners Sicht also gerade kein entwicklungsbezogenes Verständnis der Religion im Kontext einer Kultur, die sich insgesamt Richtung Modernisierung, Individualisierung, Verinnerlichung bewegt. Eine Entwicklung ist vielmehr nur gegen die statisch bleibende Religion anzunehmen. Allerdings geht er überhaupt nicht davon aus, dass es eine tatsächliche, reale Entwicklung von Innerlichkeit hin zur Moderne gegeben habe. Vielmehr sei der Sachverhalt selbst, also das innerliche Gewissen, um die Zeitenwende herum erfunden, beziehungsweise bestimmt, beziehungsweise zuerst als existent gedacht worden. Die Differenzen hinsichtlich der religiösen Benennung des Sachverhalts bei Luther und der anthropologisch-ethischen bei Kant beziehen sich nicht auf das gemeinte Objekt, sondern nur auf die Art und Weise, wie es zur Sprache gebracht und insbesondere im Bildungskontext mit den unteren Bildungsschichten kommuniziert wird. Die geschichtliche Entwicklung wird weitergetrieben durch die gleichbleibende Notwendigkeit, den Unterschichten und ihrer immer wieder vormoralischen Selbst- und Handlungssicht die Innerlichkeit überhaupt erst zu vermitteln. Religion ist hier unter den modernen Bedingungen abständig, ihre transzendenz-, welt- beziehungsweise schöpfungsbezogenen Aussagen sind naturwissenschaftlich falsch und als Hintergrund der Moralisierung der Innerlichkeit untauglich. So ist das Gewissen gleichsam nur der sprachliche Ort, an dem sich die Moderne ihrer Freiheit von übergeordneten Mächten, ihrer Selbstbestimmung und Transzendenzlosigkeit bewusst wird. Es gibt keine Entwicklung der Kultur, sondern nur Aufklärung der unterdrückten Unterschichten in Richtung auf einen bereits vorliegenden Sachverhalt, es gibt keine Geschichte der Religion in der Moderne, weil die Moderne sich selbst ohne Religion erfasst. Wiederum zeigt sich, dass Entwicklung nur als das andere der Religion gedacht werden kann, oder umgekehrt, dass die Entwicklung überhaupt nur beschrieben werden kann, indem sie gegen die Religion profiliert wird, die als das überholte, alte, unmoderne Wissen betrachtet wird. Das ist als Modell unbefriedigend.

2.2 Charles Taylor Eine umfassende Kulturgeschichtsschreibung des modernen Selbst findet sich bei Charles Taylor.⁴ Seine Versuche, die grundlegende anthropologische Struktur des

 Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a.M. 1994 (engl. Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, Cambridge 1989).

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sozialen Handelns herauszuarbeiten, führen ihn dazu zu fragen, wie die moderne Weise der Sicht auf Selbstbestimmung durch Handeln entstanden ist. Diese Suche nach den Quellen des Selbst – besser: der Herkunft der modernen Normen und Methoden der Selbstbestimmung – setzt eine umfassende Geschichte der Entstehung des modernen Subjekts, seiner Individualität, seiner Sozialität und seiner Einbettung in Welt und Natur frei. In Schüben der tieferen Bestimmung von Erkennen, der Verinnerlichung von Moral und der Individualisierung von Geschichte beziehungsweise geschichtlicher Existenz, die seit der Reformation in Philosophie und Kultur sich ereignen, wird schließlich eine expressive, Deutungshorizonte herstellende und anwendende Interpretation der modernen Subjektivität herausgearbeitet. Wichtig ist, dass Ordnungen metaphysischer, transzendenter und moralischer Art auch hier in interne Selbst-Bestimmungen übersetzt werden, insofern kommt Taylor an vielen Stellen mit Kittsteiners Ansichten überein. Allerdings geht Taylor davon aus, dass sich tatsächlich das Subjekt ändert. Der Mensch beziehungsweise das Menschsein ist für jeden einzelnen heute anders als vor 500 Jahren. Kulturgeschichte erarbeitet insofern einen abstrakten Blick von außen auf einen Prozess, der dem einzelnen gar nicht zugänglich ist. Philosophie, Naturbetrachtung, gesellschaftliche Öffentlichkeit, Familienleben, Kunst und Literatur, aber auch Religion sind parallele Entwicklungsschienen, auf denen sich für den Kulturhistoriker sichtbar übergeordnete strukturelle Prozesse ereignen. Einzelergebnisse der internen Entwicklung in diesen Bereichen werden eingezogen, soweit sie passen, die interne Entwicklungslogik wird aber nicht vollständig mit aufgerollt. Die gesamte Kulturgeschichte wird auf die Erklärung eines Punktes, nämlich die Entstehung des modernen Selbst, zugespitzt. In der sozialmoralischen Philosophiehistorie der Quellen des Selbst wird die Religion noch wenig beachtet. Bedingt durch Taylors soziologischen Ausgangspunkt und die Rezeption der alten Weber-These wird als ihre Funktion (in ihrer reformierten Ausprägung) bestimmt, auf die Selbständigkeit des Alltagslebens gegenüber übergeordneten Prinzipien hinzuweisen. Umfassend wird aber in A Secular Age die Religion zu einem eigenen Durchgangsort von Säkularisierung gemacht, die Taylor handlungsbezogen umdeutet in Optionalisierung des Lebens, wodurch sie zu einem Pluralisierungsphänomen von Individualität wird. Gleichwohl finden sich immer wieder alte Muster der Ablösung der modernen Welt von der alten religiös-transzendent-metaphysischen Auffassung. Einerseits weist Taylor also der Religion eine interne Funktion hinsichtlich der Modernisierung des Selbstbildes des Menschen zu, andererseits bleibt fraglich, ob sich damit nicht die Veränderung der Religion auch in seiner Sicht immer gegen das richtet, was Religion eigentlich ist. Die Funktionalisierung ist davon abhängig, dass ein Gesamtdeutungsrahmen für die Kulturgeschichte aufgerichtet wird, der als Durchsetzung des modernen, in sich komplexen Selbst gesehen wird. Wo sich Religion gegen diese Sicht sperrt, wird sie unmodern. Es zeigt sich damit, dass ein eigenes, in sich bestimmtes Bild der Religion nicht gegeben wird. Eine Kulturgeschichte verschiedener Ausgänge, in denen sich die Deutungssprachen voneinander entfernen und ein eigenständiges Feld der Wirklichkeit und ihrer Deutung herstellen, ist nicht intendiert. Trotz aller bewundernswerten Komplexität im einzelnen ist die

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Kulturgeschichtsschreibung Taylors in dem Grundverständnis der Religion deshalb noch zu einlinig angelegt. Wenn es die Aufgabe der Theologie ist, ein inneres Bild des Funktionierens und der Bedeutung der christlichen Religion für die religiös kommunizierenden Subjekte in der Moderne zu entwerfen, dann muss die Frage nach der Verbindung von Religion und Individualitätsentwicklung von ihr noch einmal anders gestellt werden.

2.3 Jörg Lauster Als letztes Modell sei ein kurzer Blick auf Jörg Lausters aus dem Blickwinkel des systematischen Theologen geschriebene große imponierende Kulturgeschichte des Christentums geworfen.⁵ Sein Schlusskapitel über das 20. Jahrhundert führt das vervielfältigte Christentum im Titel. Im Wesentlichen geht es ihm darum, die Naturbetrachtung – also gleichsam gegen die Sicht Kittsteiners – wieder in den Bereich religiöser Deutung zu überführen. Aber das ist nur eines der religiös sich vervielfältigenden Felder, auch die Politik, die Kunst oder die Literatur werden nicht in autonome Selbständigkeit entlassen. Alle nämlich sind einer falschen säkularen Selbstauffassung zugänglich, mit der sie nur der Banalität und Oberflächlichkeit des Lebens verhaftet bleiben. Religion vervielfältigt sich dagegen deshalb, weil sie in allen Bereichen des humanen Lebens eine Tiefe bewusst hält, ohne welche dieses seine eigentliche Bedeutung verliert. Damit wird wie bei Tillich eine kritische Sicht auf die traditionelle Religion und ihre Aussagen, Symbole, Gehalte und Normen installiert und eine Modernisierung von Religion gegen ihre überlieferte Gestalt möglich. Es bleibt allerdings zu fragen, ob sich so Religion nicht notwendig verflüchtigt und zu einer eigenen Sinnkonstruktion nicht mehr fähig ist. Das vervielfältigte Christentum teilte dann das Schicksal der unsichtbaren Religion – zugleich überall zu sein wie auch überall unsichtbar zu bleiben – oder noch schlimmer, nur in der theologischen Wissensbehauptung zu existieren. Zugleich ist schwierig, dass diese Konstruktion eine wirkliche Autonomie der säkularen Welt nicht erlaubt und damit, entgegen ihrer Intention, nicht richtig pluralismusfähig ist – nämlich im Sinne der Anerkennung einer bewusst und gewollt unreligiösen Lebensart. (Hält man dagegen an der religiösen Grundierung des Lebens auch unabhängig von dem Wissen und Anerkennen der Einzelnen fest, zeigt das erst recht, dass man die pluralen Gestaltungen des Lebens inhaltlich nicht legitimieren kann.) Als Fazit lässt sich festhalten, dass die Entwicklung hin zur Individualitätsauffassung der Moderne theologisch zu analysieren ist im Zusammenhang mit der Berücksichtigung der zunehmenden Eigenständigkeit der Religion. Individualität ist keine Erfindung der Religion, aber auch keine Erfindung gegen die Religion. Die Aufgabe lässt sich in mehreren Teilen formulieren. Zunächst: Nicht nur die Kultur

 Jörg Lauster, Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, München 2014.

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macht einen Prozess der Modernisierung durch, sondern auch die Religion. Sie ist – jedenfalls für Theologen, die von der Umformungsmöglichkeit auch der Religion überzeugt sind – in dem Prozess der Modernisierung nicht bloß das Alte, Überholte, die Folie, von der sich die Entwicklung hin zur modernen Individualität absetzt. Sondern indem sie sich von sich selbst in ihrer alten Gestalt zugleich mitabsetzt, erlaubt sie eine substantielle Umformung ihrer selbst und damit ein neues, modernes Verständnis des Individuums in ihr selbst. Sodann aber: Die Entwicklung der Religion sollte nicht bloß als Beispiel und Durchgangspunkt einer übergeordneten Entwicklung gesehen werden. Vielmehr entwickelt sich zugleich das, was Religion eigentlich als ein für sich eigener Teil der Kultur ist. Die Funktion der Religion differenziert sich möglicherweise gerade dadurch aus, dass andere Teile der Kultur sich weiterentwickeln. Man muss ja die Religion nicht gerade auf kämpferischen Antimodernismus ausrichten, es reicht völlig, ihr eine Aufgabe zuzugestehen, die sie früher so nicht gehabt hat und die sich als eigene Entwicklung innerhalb ihrer und zugleich in ihrem Verhältnis zur Kultur ereignet. Und das heißt schließlich, dass zunächst die Funktion der Religion im Gesamtzusammenhang der Kultur und die Entwicklung dieses Zusammenhangs kulturgeschichtlich mitreflektiert werden muss. Dabei darf die Bestimmung dieses Zusammenhangs nicht auf unkontrollierbaren Setzungen beruhen, auf ihrem Hören auf das Wort, ihrem Ausgerichtetsein auf Höheres oder, ebenso beliebt wie unbegründbar, der Zuschreibung einer unkritisierbaren Kritikfunktion. Vielmehr muss sich auch die eigene Rolle der Religion, die ihr im Prozess der Ausdifferenzierung der Sprachen der modernen Welt zukommt, im Kontext dieser Sprachen und ihrer Funktionen sowie des kulturgeschichtlichen Prozesses dieser Ausdifferenzierung selbst sinnvoll – kulturgeschichtlich – aufzeigen lassen.

3 Reformation und Individualisierung Nach der alten Lesart hat Luther die Individualität der Moderne dadurch hervorgerufen, dass er die Freiheit des Einzelnen gegenüber der kirchlichen Lenkungsgewalt über das Gewissen herausgestellt hat. Freilich ist inhaltlich die Möglichkeit, daran die modernen Freiheitsrechte jedes Menschen anzuknüpfen, kaum erkennbar. Denn entgegen der modernen Deutung der Freiheit beharrt Luther darauf, dass der einzelne zwar einerseits im Gewissen frei sei von der Welt, sein Inneres also unentlastbar selbstempfunden und selbstverantwortlich ist, dass aber andererseits die Struktur dieser religiösen Innerlichkeit gerade in ihrer Unfreiheit, weil Besetztheit durch Gott oder Teufel, bestehe. Innerlichkeit als Glaube und Gnade des Heilsgeschehens entsprechen sich. Dem steht der weltliche Bereich gegenüber, in dem Luther einerseits ethisch die Gebundenheit und Gehorsamspflicht des einzelnen betonen kann, andererseits aber auch vernunftbezogen die Hoheit und Autonomie des Menschen zur rationalen Durchdringung von Leben und Welt hervorheben kann. Beides – also sowohl die ethische Unfreiheit als auch die vernünftige Freiheit – sind Gegensätze zur religiösen Stellung des einzelnen vor Gott. Hier definiert sich der Mensch über die

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Notwendigkeit der Sündenvergebung und die Rechtfertigung durch Christus. Die widersprüchlichen kulturgeschichtlichen Folgen dieser Sicht im Luthertum zwischen intensivierter individueller Bildungs- und Frömmigkeitspflege und politisch-sozialer Untertanengesinnung sind bekannt. Wie Luthers Streit mit Erasmus über den freien Willen zeigt, ist die Frage, was Freiheit ist und wie sie das Menschsein definiert, zwischen Humanismus und Reformation umstritten. Insbesondere wenn man diese Frage um den Aspekt erweitert, ob das moderne Freiheitsverständnis seit der Aufklärung sich über den Pietismus aus der Reformation und ihren Folgen herleitet oder eher doch auf eine untergründige Fernwirkung des Humanismus zurückzuführen ist. Es scheint mir notwendig, diese alte Frage dadurch aufzubrechen, dass Reformation und Renaissance als parallele Möglichkeiten auf dem Hintergrund der spätmittelalterlichen Entwicklung angesehen werden. Natürlich ist dies, mit Blick auf den dreifachen Ausgang der christlichen Dogmenentwicklung, auch nicht neu. Es geht aber darum, einen kulturgeschichtlichen Rahmen zu bestimmen, innerhalb dessen beide (oder, nimmt man die katholische Reform mit hinzu, alle drei) Theorien als äquivalente Möglichkeiten der Weiterbestimmung von Innerlichkeit und Selbstverhältnis erscheinen.⁶

3.1 Pico de la Mirandola Die Rede über die Würde des Menschen von 1486⁷ gilt als Grundtext der humanistischen Anthropologie. Pico postuliert, dass der Mensch dadurch ausgezeichnet sei, sich im Handeln erst in seiner Natur zu bestimmen, während allen anderen Lebewesen ihr Handeln durch die Natur vorgegeben sei. Dadurch wird in den Handlungsbegriff eine grundlegende Unterscheidung eingetragen, die jede Handlung des Menschen von einer solchen von Tieren trennt. Die Freiheit und Würde des Menschen besteht gerade darin, dass ihm Gott in der Schöpfung keine „Natur“ vorgegeben hat, sondern dass er diese selbst bestimmen muss, indem er handelt. Wenn also ein Tier zwischen zwei Handlungsmöglichkeiten „wählt“, sind beide als Möglichkeiten bereits in seiner Natur angelegt, die Wahl selbst muss insofern als kontingent angesehen werden, sie kann die jeweilige Natur des Tieres nicht alterieren.Wenn aber der Mensch zwischen alternativen Handlungsmöglichkeiten steht, dann steht immer zugleich im Raum, dass damit auf einer anderen Ebene etwas über sein Wesen entschieden wird. Pico bindet also das Wesen des Menschen an das Handeln in doppelten Wertungen, gleichsam erster und zweiter Ordnung. Über die Schöpfungsaussagen versucht Pico, seine Theorie in die alten theologischen Vorstellungen vom Menschen zu integrieren.  Vgl. dazu jetzt die kontroverstheologischen Beiträge in: Christian Danz / Jan-Heiner Tück (Hg.), Martin Luther im Widerstreit der Konfessionen. Historische und theologische Perspektiven, Freiburg 2017.  Giovanni Pico della Mirandola [1486], Oratio de hominis dignitate. Rede über die Würde des Menschen, hg.v. Gerd von der Gönna, Stuttgart 1997.

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Die von Gott geschaffene Natur des Menschen ist es gerade, seine „Natur“ erst selbst bestimmen zu sollen. Damit wird die Freiheit des menschlichen Handelns von Umwelt und innerem Wesen hervorgehoben. Sie besteht gerade nicht darin, tun zu können, was einem beliebt, sondern sie besteht in dem Würdebewusstsein, dass jedes einzelne Handeln über das, was der Mensch sein soll, entscheidet. Der Wahlfreiheit auf der Handlungsebene steht eine reflexive innere Freiheit gegenüber, die gleichwohl eng mit dem Handeln verbunden ist – denn erst, indem der Mensch sich in und mit den einzelnen Handlungen bestimmt, wird sichtbar, was er ist beziehungsweise sein will. Allerdings wird das Modell der inneren Bestimmung des Selbst von Pico im platonischen Rahmen asketischen Verhaltens angelegt – der Aufstieg zu Gott scheint dem möglich, der sich vernunftgemäß verhält und sein sinnliches Bestimmtsein verleugnet.

3.2 Martin Luther Luthers Gegensatz gegen das humanistische Freiheitsmodell bezieht sich nur auf die inhaltliche Bestimmung der inneren Reflexivität. Damit ist gesagt, dass er die Grundannahmen von Pico teilt: Luthers Religionsphilosophie, seine Sündenlehre und Bußtheologie sind auf die Idee der doppelten Wesensfunktion von Handlungen zu beziehen.⁸ Es geht also nicht nur um die Trennung von innerlich und äußerlich, um die Aufrichtung von Gewissen und um die moralisch-religiöse Bewertung von Handlungen überhaupt. Sondern es geht um die Bedeutung für die Natur beziehungsweise das Wesen des Menschen, um die Deutungshoheit über das, was die reflexive Innerlichkeit für den Menschen bedeutet, um die Freiheit, sich anhand der Normen, die selbstgesetzt werden, als das Wesen, das diese Normen setzt und anerkennt, zu bestimmen. Was im religiösen Gottesverhältnis bewusst wird, und zwar als ein Bewusstsein, das alle realen Handlungen begleitet, ist die Entscheidung des Menschen über sein Wesen. Luther hat durch die Einbeziehung der Erbsünde eine eigene Theorie zur Struktur der Verantwortung gegeben. Alle einzelnen Handlungen sind deshalb zurechenbar, weil sie nicht bloß Entscheidungen zwischen Handlungsmöglichkeiten fällen, sondern weil sie als Ausdruck der eigenen Verantwortung bewusst werden. Ethische Normen werden bei Luther zu kontingenten Wahlentscheidungshilfen, sie betreffen nur die Wahl zwischen dem einen oder dem anderen Handeln, sie können aber nicht über das Wesen des Menschen entscheiden. Die Nichteinhaltung von Normen betrifft nicht die innere Ausrichtung des Menschen. Hier ist gerade von einer Gleichbedeutung von guten und schlechten Handlungen auszugehen. Denn auch die guten Handlungen im Sinne der Normerfüllung betreffen nicht

 Vgl. Christian Danz, Einführung in die Theologie Martin Luthers, Darmstadt 2013; Ulrich Barth, „Die Entdeckung der Subjektivität des Glaubens. Luthers Buß-, Schrift- und Glaubensverständnis“, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 3 – 27.

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die innere Entscheidung des Menschen für sein Wesen. Erst die religiöse Tiefensicht, die in der Erbsündenreflexion als Bußbewusstsein entsteht, spricht das notwendige Bewusstsein der Verantwortlichkeit für das Menschsein an. Luther hat sowohl das Erreichen und Entstehen dieser Tiefenreflexion als auch ihr inhaltliches Gelingen, das den Wechsel von Scheitern an der Verantwortung und ihrem Gelingen beschreibt, nicht als Handeln im Sinne der Wahl interpretiert. Es handelt sich um ein kontingent auf der zweiten, reflexiven Stufe entstehendes, mich meiner unentlastbaren Verantwortung für mein Sein als Mensch versicherndes Bewusstsein. Luther kommt es darauf an, den doppelten Freiheitsbegriff strikt zu differenzieren. Innere Bedeutung für die Selbstbestimmung ist nicht als Folge möglichen Handelns zu denken. Zwar sind alle Handlungen Ausdruck der Verantwortung, aber sie können auf der Ebene der Wahlmöglichkeit nie über sie bestimmen. Vielmehr geschieht die Bestimmung über mein Wesen in der Rechtfertigungserfahrung. Damit kann von Luther aus gesehen die Differenz zum humanistischen Freiheitsbegriff mit dem Hinweis auf die Doppelverwendung von freiem Handeln bestimmt werden. Luther versucht, beide Ebenen des Handelns strikt zu trennen und eine Strukturbeschreibung derjenigen reflexiven Innerlichkeit auszuarbeiten, in der erst über das alles Handeln (aus)richtende Wesen des Menschen befunden wird. Die schöpfungstheologische Grundlegung darf nicht zu einer Ausschaltung der religiösen Deutung der Selbstbestimmung zweiter Ordnung führen. Oder umgekehrt – weil das Verhältnis Gottes zum Menschen ein soteriologisches ist, deshalb wird von Luther ein Modell der Wesensselbstbestimmung ausgearbeitet, welches über die Rechtfertigung und den Glauben funktioniert. Das Geschehen, in welchem der Mensch über sein Wesen bestimmt, ist die gläubige Annahme des Gerechtfertigtseins durch Gott in Christus.

3.3 Zusammenfassung Nur angedeutet werden kann die Bedeutung der katholischen Theologiereform für die Durchsetzung des Freiheitsverständnisses. Sie hat das zeitgenössische Bestreben, die Religion als eine Reflexionsinstanz des Menschseins im Sinne eines Bewusstseins des Handelns zweiter Ordnung zu betrachten, im Wesentlichen bestätigt. Im Bußdekret des Trienter Konzils werden die in der vorigen Ablasstheologie missverständlicherweise vorgenommenen Versuche, den Menschen vom innerlichen Vollzug zu entlasten, zurückgewiesen.⁹ Die Reue wird zum notwendigen Reflexionsort der Freiheit. Zwar wird gegen Luther an der Bindung der Reue an die Handlungen festgehalten, sie wird nicht zur Erbsündenreflexion und dadurch zur Grundlage für alles, auch das moralische Handeln, sondern sie wird weiterhin als Tatsündenreflexion unter dem

 Vgl. Gunda Werner, Die Freiheit der Vergebung. Eine freiheitstheoretische Reflexion auf die Prärogative Gottes im sakramentalen Bußgeschehen, Regensburg 2016.

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Beichtspiegel kirchlicher Gerichtsbarkeit gesehen. Aber sie begleitet potenziell alles Handeln des Menschen und stellt es unter die Frage seiner Normangemessenheit. Indem die Reue aber diese Frage dauerbewusst hält und mit jeder vollzogenen Handlung verknüpft, zudem auf die innere Intention des jeweiligen Handelns abhebt, nimmt sie auf ihre Weise die religiösen Individualisierungstendenzen des Spätmittelalters auf und vergrundsätzlicht sie in der Frage nach dem, was Religion überhaupt ist. Als Ergebnis kann damit festgehalten werden: Gedacht wird in allen drei Theorien das doppelte Selbstverhältnis des Menschen in seinem Handeln. Neben die Normbeobachtung und die Angemessenheitsfrage tritt die der inneren Verantwortung und des Selbstbewusstseins als verantwortliches Subjekt. Alle Modelle bleiben im Bereich der Religion, finden aber verschiedene Wege – schöpfungstheologisch, erbsündenreflexiv, reue- und handlungsbezogen –, die angestrebte Verinnerlichung auszusagen und damit ein vertieftes, vor-existenzialistisches Freiheitsverständnis zu etablieren. Individualität ergibt sich durch die Forderung, dass die Weise des Menschseins als ein eigenes Bewusstsein im Leben präsent sein soll. Individualität wird also nicht selbst gedacht – auch nicht bei Luther –, sondern ergibt sich erst als Folge der Vertiefung des Modells davon, wie sich der Mensch zu sich selbst verhält. Denn es ist deutlich, dass alle Menschen ein Bewusstsein ihres Menschseins in sich entwickeln sollen. Das Bewusstsein der Selbstbestimmung zweiter Ordnung muss gefordert werden, es muss biographisch gefestigt werden und das Leben prägen. Für die Durchsetzung dieses Bewusstseins werden alte Muster religiöser Lebensbestimmung aufgenommen, nur bei Luther führt die Trennung zu einem neuen Konzept von Religion beziehungsweise einem neuen Konzept der Unterscheidung von (moralischem) Handeln und (religiöser) Reflexion. Der Ordnungsrahmen hat sich noch nicht individualisiert, es geht vielmehr um die allgemeine Grundstruktur von menschlichem Selbstverständnis im Handeln. Die Religion ist von dem allgemeinen historischen Entwicklungsschritt der Verallgemeinerung von der Selbstzuschreibung zweiter Ordnung noch nicht zu trennen. Sie bietet ein inhaltliches Integral um alle Versuche einer autonomen Bestimmung des Menschseins. Insofern entsprechen sich die humanistischen, reformatorischen und reformkatholischen Wege der Beschreibung der Freiheit des Menschen zur Selbstbestimmung. Alle bieten zudem als Rahmenkonstrukte einer Bewusstheit des Menschen über sich selbst auch Möglichkeiten und Tendenzen zu einer Individualisierung, wie sie ja bereits die religiösen Individualisierungstendenzen der spätmittelalterlichen Frömmigkeit aufnehmen. Auch insofern lässt sich also nicht behaupten, dass die Reformation die entscheidende Grundlage der modernen Individualisierung ist. Damit ist natürlich nicht bestritten, dass in der historischen Umsetzung der reformatorischen Frömmigkeit eine größere Affinität zur Realisierung und Herausarbeitung der Individualisierungstendenzen lag. Hier können also die Ergebnisse zum Beispiel der Studie von Kittsteiner (lässt man ihre religionskritische Grundstimmung einmal beiseite) problemlos in eine breitere Sicht integriert werden.

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4 Religion und Individualisierung in und nach der Sattelzeit der Moderne 4.1 Aufklärung und Individualisierung – kulturgeschichtliche Modelle Im Blick auf den kulturellen Individualisierungsprozess im 18. und 19. Jahrhundert ist die Bedeutung der protestantischen Religion und Theologie umstritten. Charles Taylor zum Beispiel sieht die Grundlagen für den letzten Schritt hin zum modernen Selbst, nämlich die Gewinnung eines Ausdrucks- beziehungsweise Darstellungsverständnisses, mehr in den ästhetischen Entwicklungen des späten 18. Jahrhunderts. In soziologischer Beerbung der Weber-These bleibt der Reformation (in ihrer reformierten Gestalt) die Funktion, die Einbettung des Selbst in die wirkliche Welt des Lebens und des Alltags vorbereitet zu haben. Künstlerisch hingegen ist der Zug, in welchem das Selbst zum Produkt seiner eigenen Performance erklärt wird. Damit wird einerseits das allgemeine Selbstbestimmungsmodell der Renaissance individualisierend weiterentwickelt. Andererseits wird Religion, wegen ihrer Eigenschaft als normativer, hart orientierender und bewertender Faktor, in ihrer Bedeutung für das Selbstverständnis des modernen Individuums herabgesetzt. Religiöse Sinnstiftung für den Einzelnen stellt dessen autonome Selbstbestimmung und -darstellung in Frage; hingegen der Vollzug einer solchen lässt entweder die Religion zu einem beliebigen Element dafür werden, oder aber macht sie gerade unmöglich, weil alte überindividuelle Werte angeeignet werden sollen. Modernisierung der Religion wäre dann nur um den Preis eines eklatanten Selbstwiderspruchs des individuellen Subjekts zu haben, das nicht versteht, dass die (behauptete) Orientierung an der (allgemeinen überindividuellen) göttlichen Norm in der Moderne nur ein Moment der dauernden Selbstdarstellung sein kann. Nicht nur Taylor, auch das neuere kulturgeschichtliche Werk des Literaturhistorikers Steffen Martus¹⁰ beschreibt die Aufklärungszeit und insbesondere ihre Spätphase als eine Zeit umfassender Individualisierungstendenzen. Bereits Taylor hatte auf die Literaturgeschichte und die von dorther bekannte Durchsetzung des Romans als Gattung des Bürgertums verwiesen. Martus verbreitert das kulturgeschichtliche Panorama und revidiert dadurch unter der Hand die ästhetische Modernisierungsthese Taylors. Die Durchsetzung des spätaufklärerischen, an die Lebensgeschichte als Ganzes gekoppelten Individualitätsverständnisses ist in ein ganzes Set von Entwicklungen in Ästhetik, Recht, Medizin, Psychologie, Pädagogik und Gesellschaftstheorie eingebettet. Martus macht mit Hilfe seines Quellenmaterials zugleich wahrscheinlich, dass der Hintergrund der Individualisierung in dieser Zeit noch nicht theoretisch begriffen ist. Vielmehr halten sich die aufklärerischen Verfechter der Individualität an

 Steffen Martus, Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert. Ein Epochenbild, Berlin 2015.

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eine Popularphilosophie aus sensualistischen, empiriebezogenen Einzelheiten, rationalistischen Allgemeinplätze und eine unklare leib-seelische Personeinheitsvorstellung. Dies wird einbezogen in eine übergreifende Entwicklungstheorie, die die Grenzen von Gott und Welt, Schöpfer und Geschöpf, Natur und Geist, Körper und Seele sowie Individuum und Gattung überspannt. Hintergrund ist die Frage nach der Bestimmung des Menschen als eines eigenen Geschöpfs; das Individuum wird dabei als Realisationspunkt der Gattungsbestimmungen begriffen. Diese teleologische Durchsetzung geht soweit, dass die auf Erden nicht mögliche Angleichung zur Not in eine Welt nach dem Tod verschoben wird. Mit der Formel einer naturangelegten und zugleich teleologischen „Bestimmung des Menschen“ wird das naturbezogene Selbstbestimmungsmodell, welches die Innerlichkeit des Gewissens anthropologisch verschärft hatte, aufklärerisch modernisiert. Die Forderung nach einer individuellen Dauerpräsenz des normativ Allgemeinen wird selbst verallgemeinert, von der Religion auf das Leben angewendet (wobei die Religion als selbstverständlicher Bestandteil dieses Lebens erhalten bleibt) und in den lebensweltlich-biographischen Rahmen des Bürgertums und seiner Sozial-, Rechts-, Erziehungs- und Bildungsinstitutionen eingespannt. Martus zielt, wie bereits Kittsteiner, in seinem Epochenbild am Ende auf Kant. Doch entgegen der üblichen Auffassung, Kant habe den Sinn der Aufklärung nur zusammengefasst und auf den Punkt gebracht, will er zeigen, dass Kant im Kontext des beschriebenen humanistisch-pädagogischen Aufklärungsprogramms gerade ein Fremdkörper ist. Denn Kants philosophische Absicht gilt einer geltungsbezogenen Logik der Selbstbegründung im Kontext der reinen Vernunft, die gerade gegen den einfach angenommenen und vorausgesetzten Zusammenhang von Individualität und Geist, von Körper und Geist, von Natur und Geist gerichtet ist. Entsprechend hat auch Charles Taylor in seiner Entstehungsgeschichte des modernen Selbst drei inhaltliche Eckpunkte der Innerlichkeitsreflexivität markiert: das desengagierte oder distanzierte Selbst, das sich als Begründungspunkt der Ordnung der Welt und des Handelns setzt; das poietische Selbst, das die Natur und das Handeln als Darstellungsmittel der Innerlichkeit, der Einbildungskraft, der kreativen Kräfte auffasst; und das in die Alltagswelt eingelassene Selbst, das sich als von Gott in seinem naturhaften, alltäglichen – im Gegensatz zu asketisch-religiösem – Leben bejaht und gewollt versteht. Das allgemeinaufklärerische Programm einer Realisierung der Bestimmung des Menschen kann als Verbindung der beiden letzten Punkte aufgefasst werden. Kant hat dagegen, so Taylor, die naturalistischen Zumutungen dieser Sicht kritisiert. Er setzt auf eine neue Form der Begründung des Selbst im Kontext eines radikalen Selbstbewusstseins der Freiheit und knüpft damit weiterführend an Descartes′ philosophische Beschreibung des desengagierten Selbst an. Es gilt, bevor eine allgemeine Entwicklungsgeschichte des Individuums im Kontext von Natur und Geist alle Grundsatzfragen vernachlässigt, überhaupt erst einmal zu denken, was das Selbst konstituiert. Kant habe deshalb wegen der Suche nach einer Begründung der Moral die aufklärerischen Tendenzen zu einer Individualisierung der Anthropologie nicht aufgenommen. Religion wird ihm zu einem – zwar im individuellen Bewusstsein sich realisierenden, aber

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in der Struktur strikt allgemeinen – Folgephänomen des in sich selbst begründeten rationalen Geistes.

4.2 Moderne und christliche Religion beziehungsweise Theologie Damit ist in einem weiteren Feld danach zu fragen, welche Bedeutung Kants Theoriebildung und der Idealismus für die moderne Kulturgeschichtsschreibung haben und welchen Einfluss dies auf eine theologische Erfassung der Bedeutung der Religion in der Moderne hat. Dazu sei kurz auf ein ausgeführtes theologisches Modell hingewiesen, nämlich Emanuel Hirschs Gliederung seiner großen Theologiegeschichte der Moderne.¹¹ Nach seiner Beschreibung ist im westeuropäischen Raum zwischen dem Denken vor und nach der französischen Revolution zu unterscheiden. Dabei kritisiert er, dass die Revolution (im Westen) nur ein politisches Ereignis gewesen sei und keine modernefähigen neuen Ansätze hinsichtlich des Denkens und insbesondere hinsichtlich des theologischen Denkens hervorgebracht habe. Nach der Revolution scheidet für Hirsch deshalb die französische und englische Philosophie und Theologie (die er im Blick auf das 17. und 18. Jahrhundert breit referiert hat) aus dem Blickfeld der Suche nach einem der modernen Gesellschaft angemessenen (und gleichwohl auf religiösem Grund stehendem) Begreifen und Bearbeiten der Situation aus. Ganz anders sei, so Hirsch, die Situation in Deutschland – hier erfüllen Klassik und Idealismus die Funktion der revolutionären Wende zur Moderne, aber gerade so, dass der im Westen fehlende religiöse Ernst aufgenommen und in das revolutionäre Denken integriert wird. Lässt man einmal die Sonderwegskonstruktion beiseite, so wird man im Bezug auf die deutsche Theologie des 19. Jahrhunderts sagen können, dass Hirsch im Idealismus eine denkerische Begründung der Aufklärung sieht, durch welche diese überhaupt erst gesellschafts- und modernefähig gemacht worden ist. Die Aufklärungskritik des Idealismus wird sowohl aufgenommen wie auch entschärft. Weder ist die Aufklärung und die Moderne als Ganze ein Abweg, noch auch werden antimoderne Strömungen wie die konservative Romantik als Ausweg aus der Moderne stilisiert. Wichtig ist, dass die Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts (und natürlich auch die Theologie dieser Zeit) im idealistischen Denken ihren Anker und ihren Anhalt hat und von daher sich die Sehnsucht wie auch die Zuversicht einer Versöhnung von Christentum und Moderne mit Hilfe einer durch die Schule des Idealismus gegangenen Theologie herschreibt. Dafür waren sowohl entschiedenes Anknüpfen an die Modernisierungseffekte der Aufklärung als auch entschiedene Kritik an der Aufklärung im Sinne einer Suche nach besserer Begründung gleichermaßen notwendig.

 Vgl. die Einleitung in den Band III der Theologiegeschichte: Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie. Im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Dritter Band, Gütersloh 1951, 13 – 18, bes. 14– 16.

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Dichtung und Philosophie in Klassik und Idealismus sind also für die kulturgeschichtliche Betrachtung der Moderne als Bewusstseinsgestalten einer alles entscheidenden Achsenzeit zu verstehen. Die Frage wird sein, wie sich dies im Hinblick auf die Frage nach der Bedeutung der protestantischen Religion für den Prozess der Individualisierung auswirkt und wie dies in der Theologie reflektiert wird. Doch kann diese Frage erst dann beantwortet werden, wenn in einem Zwischenschritt überlegt wird, welche Bedeutung der sogenannten Sattelzeit für die Religion und Theologie zukommt. Hirsch ist der Überzeugung, dass die Grundlegung der Theologie in einer Religionsphilosophie zu suchen ist, die sich im Umkreis der Philosophie des Idealismus bewegt. Dadurch wird die Religion eng an die Umwälzungen in Klassik und Idealismus herangerückt, ihre Funktion in der Moderne besteht darin, die neue gedankliche Grundlegungsarbeit aufzunehmen und die Grundlegung der Subjektivität und des Geistes – also den absoluten Grund für das Funktionieren des Bewusstseins – bewusst zu machen und zu halten. In dieser Weise ist die Rückbesinnung auf den Idealismus auch bei Tillich und von dort aus in der Theologie des 20. Jahrhunderts verstanden worden. Es fragt sich aber, ob dieser neoidealistischen Grundlagenreflexionszuschreibung der Religion im Kontext der Kultur von theologischer Sicht aus wirklich zugestimmt werden sollte. Es ist ersichtlich, dass damit der Religion theologisch ein Thema zugeschrieben wird, welches sie kulturgeschichtlich gesehen möglicherweise gar nicht bedient hat oder bedienen wollte. Es ist zu fragen, ob es eine kulturgeschichtliche Alternative gibt, welche der Religion größere Bedeutungsfreiheit in der modernen Kultur lässt und welche die vielfältigen Versuche einer theologischen Bestimmung der Religion im 19. Jahrhundert integrieren kann. Denn die Vereinnahmung der Theologie für eine philosophische Grundlagenreflexion des Geistes, wie sie bei der referierten Lesart geschieht, führt die Theologie einer normativen Deutung zu, die im Hinblick auf die konservativen, neupietistischen, bibeltheologischen und auch religionsgeschichtlichen Theologien im Anschluss an den Idealismus nicht unbedingt überzeugt – beziehungsweise umgekehrt, sie anhand einer Forderung liest und kritisieren muss, der sie möglicherweise gar nicht nachkommen wollten. Hier soll deshalb für die sattelzeitliche Bedeutung des Idealismus und der bewusstseinsbezogenen Religionsphilosophie die These aufgestellt werden, dass es besser ist, die Grundlagenreflexion nicht sofort religiös und/oder theologisch zu lesen oder jedenfalls nicht nur. Auch wenn es die Funktion der Klassiker, Kants und des Idealismus gewesen ist, eine neue Sicht des Humanen auf der Grundlage absoluter autonomer Freiheit zu entwickeln und von dort her zu überlegen, welche Normen und Gestaltungsweisen des Lebens sich als legitimiert erweisen, dann soll dies nicht direkt auf die Theologie übertragen werden. Denn es scheint offensichtlich, dass die Theologie als Reflexionsinstanz der Religion und ihrer ausdifferenzierten kulturgeschichtlichen Bedeutung zu dienen hat und nicht umgekehrt der Religion aufgrund einer vermeintlichen wissenschaftsbezogenen Erwartung vorschreiben soll, welche Funktion sie hat. Damit soll nicht bestritten werden, dass es möglich ist, die Grundlagenreflexion religiös zu deuten. Aber daneben soll die Möglichkeit eingeräumt werden, dass Religion auch

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andere, auf „angewandte“ Funktionen des menschlichen Lebens bezogene Bedeutungen haben kann und als solche in gleichberechtigten Theologien gedeutet wird. Damit kann die bekannte Positionalität der Theologie im 19. Jahrhundert umfassender gewürdigt werden als unter strikt grundlagenbezogenen, wahrheitstheoretischen Kriterien.

4.3 Zur kulturtheoretischen Einordnung der Religion im Idealismus Eine Theologie, die sich auf den Idealismus stützt, begreift Religion als eine Grundlagenreflexion des Geistes beziehungsweise des menschlichen Bewusstseins. Dies ist aber bereits eine bestimmte Vorentscheidung für die Bedeutung der Religion, auf die es aufmerksam zu machen gilt und deren mögliche Alternativen kulturgeschichtlich zu berücksichtigen sind. Dies ist auch notwendig, um die grundverschiedenen Positionen der Theologie im 19. Jahrhundert angemessen verstehen zu können. Für die Frage nach der Individualität ist dies schon deshalb wichtig, weil manche spekulative Theologien, wie besonders die bekannte Position David Friedrich Strauß′, zu einer entschiedenen Abwertung der Bedeutung des Individuums in der Religion gekommen sind und auch die Realisierung des absoluten Geistes in die Entwicklung der menschlichen Gattung und damit eine allgemeine Idee des Humanen verschoben haben. Dagegen gibt es die bekannte Kritik und die Bestimmung der Religion als einer Reflexionsinstanz individueller Innerlichkeit wie bei Kierkegaard. Aber auch im Hinblick auf die Erweckungstheologie ist, trotz vermittelnder Denker wie August Tholuck und Wilhelm Herrmann, die Differenz deutlich, besonders wenn man bedenkt, dass sich Herrmann als Ritschl-Schüler verstand, aber dessen aus dem Hegelianismus übernommene Reich-Gottes- und Gemeindeorientierung gerade nicht rezipiert hat. Geht man noch einmal von der beschriebenen Situation in der Aufklärungszeit aus – stark zunehmende Individualisierung in verschiedenen Lebensbereichen und verschiedene theologische Versuche zur Übernahme und Anwendung dieser Entwicklung, aber keine zureichende Theorie zur Legitimierung dieses Prozesses – dann besteht die Funktion von transzendentaler und idealistischer Philosophie darin, ein allgemeines und begründungsfähiges Konzept des menschlichen Geistes einzufordern, innerhalb dessen begründungsbedürftige Teilansichten moderner Funktionen ein- und zugeordnet werden können. Die Religion, egal wie ihre Deutung im einzelnen ausfällt, erfährt eine Einordnung in den allgemeinen Geist. Dies macht den Unterschied zur Aufklärungszeit aus. Hier war es unklar, auf welcher Basis eine inhaltliche Funktions- und Aussagenbestimmung der Religion erfolgen soll. Deshalb konnten viele Vorschläge (Moral, Individualität, Geschichte und Erziehung, Kunst und vernünftiges Selbstbewusstsein) nebeneinanderstehen, ohne dass es eine überzeugende Argumentation für die jeweilige Zuschreibung gegeben hätte. Diese inhaltlichen Vorschläge tauchen auch im 19. Jahrhundert immer wieder auf. Zugleich aber werden

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sie auf einer neuen Ebene verhandelt, nämlich der Frage, welche Bedeutung eine so verstandene Religion für den humanen Geist überhaupt haben kann. Insofern gibt es eine übergeordnete und rekonstruierbare Leitfrage für die Theologie des 19. Jahrhunderts, nämlich die Frage nach der Funktion der Religion für das menschliche Bewusstsein überhaupt. Die Grundlagenreflexivität ist gleichwohl nur eine der möglichen Antworten auf die Frage. Andere Antworten sind im Bereich mehrerer nebeneinandergeordneter (und gegenüber der klassischen Lehre erweiterter) Vermögensfelder denkbar. In der Kunst, in der Politik, in der Gesellschaft und im Recht, in der Öffentlichkeit oder der Pädagogik und der gemeinschaftlichen Entwicklung kann Religion gesehen werden, wie umgekehrt Religion an ästhetische, kosmologische, soziologische oder individualistische Erfahrungen herangerückt werden kann. Daneben können alte Konzepte als Eigenerfahrungen der Religion, wie im Gehorsam gegen Tradition und Schrift, in Bußerfahrung und Sündenbewusstsein, ausgegeben werden. Der Idealismus als Erbe der Aufklärungsphilosophie hat dabei mitgewirkt, die zunehmend auseinanderfallenden Teilbereiche gesellschaftlichen Lebens in einem übergeordneten Konzept des Geistes gedanklich zusammenzuhalten. Dieses Konzept hat im 19. Jahrhundert auch die antimodernistischen Proteste eingebunden in eine solche Form kultureller Anteilhabe an der Modernisierung, die die Brüche und sozialen Verwerfungen überwinden half.

4.4 Zur theologischen Behandlung der Religion nach dem Idealismus Die Frage nach der Grundlegung des Geistes hat zugleich die Auffassung der Religion substantiell und strukturell verändert. Was Religion ist, lässt sich, zumal nach Kants Kritik, nicht mehr über die Bestimmung des Gegenstands religiöser Erkenntnis bestimmen. Vielmehr wird der Gegenstand der Religion doppeldeutig. Denn er ist selbst nur Ausdruck für einen Gegenstand oder eine Funktion des Geistes. Man kann das Augenmerk auf beide Teile der Bestimmung richten. Man kann wie Schleiermacher betonen, dass die Inhalte der Religion keine gegenständliche Wahrheit besitzen, weil sie immer nur Ausdruck für das religiöse Grundgefühl und seine interne Struktur sind. Man kann andererseits betonen, dass die Inhalte zwar nicht für die Religion selbst, aber doch innerhalb der Struktur des menschlichen Geistes eine gegenständliche Wahrheit beziehungsweise eine sachbezogene Grundlage besitzen. Man kann deshalb an der Wahrheitsbindung der Religion trotz der Einsicht in den prinzipiellen Ausdruckscharakter aller religiösen Rede festhalten. Und drittens ist noch zu sagen, dass die neue Struktur der Religion als einer Darstellung von Grundwahrheiten des Geistes eine neue symbolische Qualität aufweist, weil die Religion nicht mehr bloß sprachliche Zeichen für einen Gegenstand artikuliert, sondern eine Ebene zwischen Sprache und inhaltliche Objekte stellt, die selbst eine eigene Symbol- und Bildwelt bedeutet. So kommt insgesamt ein romantisches Schweben in die Auffassung der Religion, indem einerseits von der Wahrheitsfrage auf die Darstellungsfunktion verwiesen werden

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kann (wie es Schleiermacher mit seiner schon in den Reden vorgeschlagenen Ersetzung des Gottes- durch den universumsbezogenen Religionsbegriff beziehungsweise dem in der Glaubenslehre vollzogenen Verweis von Gott zum Gottesbewusstsein tut), andererseits an einer „tieferen“ Wahrheit der Religion und ihrer substantiellen Funktion für das Menschsein festgehalten wird. Auch die Erkenntnis der symbolischen Redeweise der Religion trägt dazu bei, indem sie die Wahrheit der symbolisch aufgerichteten Welt als Bestätigung der produktiv-kreativen Art des Weltumgangs des Menschen sieht. Damit ist ein weites Feld kulturgeschichtlich einsichtiger Möglichkeiten des Umgangs mit der Religion zu entwerfen und auf die Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts anzuwenden. Einerseits ist ihre verschiedene Stellung im Kontext einer Theorie des allgemeinen Geistes zu berücksichtigen, andererseits ihre komplexe innere Verweis- und Gegenstandsstruktur. Beides muss jeweils aufeinander bezogen werden, so dass sich ein dichtes Netz an theologischen Positionen ergeben kann, welche dann noch in einer chronologischen Darstellung der theologischen Entwicklung jeweils zeitbezogenen mit verschiedenen gesellschaftlich-politischen Problemen zu füllen wäre. Mit dieser umfassenden Einbettung theologischer Denkweisen in ein kulturgeschichtlich orientiertes und bewährtes Religions(‐entwicklungs)verständnis kann dann zu der Frage nach der Individualisierung und ihrer Bearbeitung in der Theologie zurückgekehrt werden. Man kann die Religion im direkten Bezug auf die Individualisierung thematisieren und Religion als Eigenerfahrung des sich selbst darstellenden romantischen Subjekts konzipieren. Man kann auch auf die Religion im Kontext allgemeiner Grunderfahrung von Subjektivität setzen. Schleiermachers Bedeutung als Theologe für das 19. Jahrhundert besteht vor diesem Hintergrund darin, dass er beide Positionen vertreten und den Übergang bewusst als Übergang von poetisch-ästhetischer zu wissenschaftlich-kirchlicher Theologie gestaltet hat. Denn Schleiermacher hat zunächst, so lässt sich auf dem Hintergrund der Kulturgeschichte Taylors ausführen, die ethisch-cartesianische Begründung Kants aufgenommen, sie aber versucht, mit der aufgeklärten Idee der Individualisierung des Innern zu verknüpfen. Dafür steht das zweite Kapitel der Monologen, in dem die allgemeinheitsbezogene Ethik verbunden wird mit einer strikt individualitätsbezogenen Konstitutionstheorie. Das Ich versucht nicht, eine allgemeine Idee des Guten zu realisieren, sondern es konstituiert eine individualitätsbezogene Idee des Guten. Die Menschheit gibt es nur als das Ganze der verschiedenen individuellen Realisierungsweisen, für die es aber kein Subjekt gibt. Die philosophiegeschichtlichen Hintergründe dieses Schrittes sind von Ulrich Barth herausgearbeitet worden.¹² Die Religion, wie sie die Reden Über die Religion beschreiben, hat an dieser individualistischen Sicht Anteil, indem sie die Bedeutung Jesu auf die Soteriologie bezieht und Erlösung nur als Sammelbegriff für

 Ulrich Barth, „Das Individualitätskonzept der Monologen. Schleiermachers ethischer Beitrag zur Romantik“, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 291– 327.

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viele Varianten des Heilsbewusstseins gelten lässt. Auch und gerade der Kirchenbegriff in den Reden verdeutlicht ein kommunikationstheoretisches, noch gleichsam untheoretisches Programm der Gemeinschaft der Individuen, welche Gemeinschaft nur das Ganze möglicher kommunikativer Beiträge der Individuen zur Darstellung ihrer religiösen Eigenart bezeichnet. Nach der frühen, durch die Aufklärung und die Romantik inspirierten Phase hat Schleiermacher das umfassende religionsphilosophische Individualisierungsprogramm jedoch aufgeteilt.¹³ In der Ethik wird der konstitutiven Funktion der Individualität für den allgemeinen Geist gedacht, indem die Kulturfunktionen auf der Voraussetzung menschlicher Individuen in der Geschichte aufbauen und von dort her sowohl als Strukturbeschreibungen der menschlichen Bewusstseinsvermögen wie auch der geschichtlichen Güter beziehungsweise der menschlichen Sozialformen gedacht werden können. Die Religion ist zwar einerseits auch eines dieser Güter beziehungsweise Sozialformen, andererseits aber wird die Religion zunehmend zum Repräsentationsort für die allgemeine Struktur dieser Individualität. In den Reden schwankt Schleiermacher hinsichtlich dieser Zuordnung noch, wie er auch die Religion offenhält für stärker individualitätsbezogene Varianten des Kirchenbegriffs. In der späteren Weihnachtsfeier wird hinsichtlich des Verhältnisses von Biographie und Religion eine doppelte geschlechtsspezifische Bestimmung vorgenommen.¹⁴ Während die Frauen die spätere ekklesiologische Stetigkeit des christlichen Gemeingeistes auch biographisch repräsentieren, gilt für die Männer, dass sie erst auf biographischen Umwegen und über eine moralische Umwendung zur Religion kommen. Die von Sophie hinsichtlich der Geschichte bemerkte Bedeutung der religiösen Subjekte – am Choral veranschaulicht durch die Gleichwertigkeit der Töne in den Stimmen – betont aber nicht die Individualität der religiösen Subjekte, sondern mehr die Funktion der religiös-christlichen Gesinnung für den Bestand der Kirche in der Geschichte, also die Strukturgleichheit des individuellen Glaubens. Die Sündenlehre der späteren Dogmatik verallgemeinert den Durchgang durch die Sündenerkenntnis hin zum gemeinsamen Christusgeist – sie scheint aber genau deshalb auch nicht die biographischen und individuellen Elemente der moralischen Identität zu meinen, sondern gerade die Abkehr von allen biographischen Momenten, wenn es zum Glauben und zu Christsein kommt.¹⁵  Vgl. die resümierenden Bemerkungen zu den Interpretationsproblemen der Monologen von Christian Albrecht, „Die Monologen“, in: Schleiermacher Handbuch, hg.v. Martin Ohst, Tübingen 2017, 118 – 128, hier 127– 128 mit Hinweis auf den Aufsatz von Barth sowie auf Jörg Dierken, „Individualität und Identität. Schleiermacher über metaphysische, religiöse und sozialtheoretischen Dimensionen eines Schlüsselthemas der Moderne“, ZNThG 15 (2008), 183 – 207.  Vgl. Folkart Wittekind, „Das Gespräch über die Weihnachtsfeier“, in: Schleiermacher-Handbuch, hg.v. Martin Ohst, Tübingen 2017, 178 – 188.  Hirsch hat seine Schleiermacher-Darstellung in der Theologiegeschichte in zwei Kapitel aufgeteilt, das erste behandelt die Zeit bis kurz nach der Weihnachtsfeier. Sie leite „die Annäherung an den christlich-dogmatischen Ausdruck der religiösen Wahrheit ein“ (Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie. Im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen

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Was ist damit gewonnen hinsichtlich der sattelzeitlichen Durchsetzung des Individualitätsgedankens? Es ist klar, dass Individualität nicht nur eine Anwendung des Allgemeinen ist, sondern dass sie eine grundlegende, konstitutive Funktion für dieses Allgemeine hat. Indem der einzelne sein Leben wählt, realisiert er nicht nur die Weise und den Grad, wie er am Menschsein teilhat, sondern er bestimmt dieses Menschsein mit. Damit wird das Verständnis von Individualität entscheidend vertieft. Trotzdem bleibt auch danach das Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem im letzten ungeklärt: Denn dass dies so ist, ist selbst ein allgemeiner Sachverhalt. Kulturgeschichtlich gilt für die folgende Zeit: Die gedankliche Durchsetzung eines konstitutionstheoretisch vertieften Individualitätsverständnisses erlaubt noch lange keine realen Differenzen in der lebensweltlichen Selbstdarstellung. Die bei Schleiermacher (zunächst) romantisch beschworene Pluralität und die nur je eigene Darstellung des Menschseins, die erst im Hinblick auf alle anderen Darstellungen vervollständigt wird, wird im 19. Jahrhundert bald zurückgenommen. Disziplinierung und allgemeine Angleichung von berufsfunktional geleiteten Biographien wird die Leitidee, die kulturgeschichtlich nach dem Ende des Biedermeiers zum Tragen kommt. Wobei zugleich die Idee des Reiches Gottes als eine Leitidee der Religion in eine geschichtliche Entwicklungstheorie überführt wird und die erwünschte Stromlinienförmigkeit der Lebenszuschnitte bürgerlich-moralisch verstanden wird. Der Vermittlungsbegriff wird dann zunehmend der der Geschichte. Kultur- und Religionsgeschichte werden als Ort der Verwirklichung der Bestimmung des Menschen in Form von Verwirklichung sittlicher Selbstbestimmung und Individualität verstanden. Damit wird am Ende des 19. Jahrhunderts das konstitutionsbezogene vertiefte Verständnis der Individualität wieder problematisch. Denn wie verhält sich der individuelle Vollzug des Lebens zu dem Ziel der Geschichte, wie lässt sich das eine mit dem anderen begründungsbezogen verbinden? Troeltsch hat in seiner Dogmatik die Sündenlehre als Ort der Individualisierung und lebensgeschichtlichen Besonderung benutzt. Geschichtliche Lebensführung individualisiert für ihn so, dass in jedem Moment des Lebens Hinwendung zum Guten und Ewigen im Selbst möglich ist.

5 Kultur, Religion und Theologie im 20. Jahrhundert Bei der Bewältigung – besser: Begleitung – des Prozesses der Individualisierung des Lebens im 19. Jahrhundert, so sollte gezeigt werden, hat die Theologie mit ihrer Deutung der Funktion der Religion in diesem Prozess eine Vielfalt von Positionen eingenommen. Wie der soziologisch betrachtet gespaltene Fortgang des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, zwischen Freiheitsversprechen und -beanspruDenkens, Bd. 4, Gütersloh 1952, 492). Zur Sicht auf die Funktion der Individualität innerhalb der Theologie und Religionsphilosophie der beiden Phasen vgl. auch die entsprechenden Beiträge auf dem Kopenhagener Schleiermacher-Kongress: Niels Jörgen Cappelörn u. a. (Hg.), Schleiermacher und Kierkegaard. Subjektivität und Wahrheit, Berlin / New York 2006.

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chung einerseits und fortschreitender Disziplinierung und Verpflichtung andererseits, kann auch die Theologie mit ihrer Einordnung der Religion sowohl auf der Seite der Realisierung individueller Selbstbesinnung als auch dem Geltendmachen überindividueller Bindungen stehen. Zusammengehalten wird die Entwicklung jedoch zunächst durch die geist- beziehungsweise bewusstseinsgestützte Einheitsannahme, die die Kultur insgesamt prägt, die philosophisch in den idealistischen Konstruktionen begründet ist und von der Theologie der Zeit geteilt wird. Als Leitfigur dazu kann die Konjunktur des Reich-Gottes-Begriffs in der zweiten Jahrhunderthälfte angesehen werden, insbesondere in seiner geschichtstheologischen Anwendung, mit der die (protestantische) Religion, die Geschichte der Menschheit, die individuelle Bildungsgeschichte wie auch die nationale deutsche Einigungsgeschichte oder die soziale Arbeit an den Zuständen im Innern der Nation übereinandergelegt und ineinander geblendet werden können. Es ist diese Gesamtkonzeption, die am Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend kritisiert und bestritten wird und zumal nach der Kulturkatastrophe des Ersten Weltkriegs als erledigt betrachtet wird. Die Theologie versucht die Religion zu retten, indem sie aus ihrer Verantwortung innerhalb der Konkursmasse der bürgerlich-fortschrittsorientierten Einheitskultur herausgelöst wird. Die bereits vorher realen zentrifugalen Kräfte des modernen Lebens zwischen technischem Fortschritt, ökonomischer Eigengesetzlichkeit, gegensätzlichen kulturellen Deutungsansprüchen, politischer Zerstrittenheit, konfessionellen Identitäten und sozialer Ungleichheit werden anerkannt, indem die Religion als etwas eigenes – und zwar nicht als eine Provinz im Ganzen des Gemüts, sondern ganz für sich – behauptet und gedeutet wird.¹⁶ Individualität wird dadurch in einer ganz neuen Weise Gegenstand der theologischen Bearbeitung. Denn wenn die in der Theologie verstandene und gedeutete Religion nicht im Gesamt der Funktionen kultureller Einheit gesehen wird, stellt sich die Frage nach der Bedeutung von Individuum (ebenso wie von Gesellschaft) innerhalb der Religion ganz neu. Bekannt ist die Abgrenzung der Theologie von Individuum, Geschichte, Psychologie, personaler Identität, selbstgesetzter Freiheit und bürgerlicher Moral. Der theologische Antihistorismus ist zugleich ein Antiindividualismus wie auch ein Antipsychologismus, aber er ist im Grunde genommen genau so auch ein Antisoziologismus. Die Theologie der Krise (verstanden als Gesamttitel für die neue Theologie) ist der Versuch, in eigener Hoheit und ohne Bezug auf allgemeine (philosophische oder soziologische oder kulturgeschichtliche) Grundlagensetzungen sich selbst und von da aus auch „humane“ Begriffe wie Individualität zu bestimmen. Die Theologie bezieht sich dazu auf „theologische“ Grundlagen eigener Art, die zugleich als christlich-religiöse Grundannahmen hingestellt werden. Die Geschichte der Theologie des 20. Jahrhunderts vor diesem Hintergrund als eine zusammenhängende,

 Vgl. zum Folgenden Friedrich Wilhelm Graf, Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011.

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mit der kulturellen Entwicklung parallelisierte Geschichte zu begreifen, bleibt als Aufgabe. Trotz des Verlustes einer übergeordneten anthropologischen Einheitsgrundlage hat sich die Angst der Troeltsch-Generation vor dem Zerfall weder kulturell noch auch wissenschaftlich-theologisch bewahrheitet. Im Gegenteil erscheint im Rückblick und auf das Ganze gesehen die Theologie des 20. Jahrhunderts weniger vielfältig und gegensätzlich als die im 19. Jahrhundert. Gerade weil es nicht mehr eine direkte, über einen einheitlichen Begriff für alle verbindliche Funktionalität der Religion für das Leben gibt, wird es die Aufgabe der Theologie im 20. Jahrhundert, diesen Weltbezug mit religiösen Mitteln erst wieder zu konstruieren. Großbegriffe der Wirklichkeit, der Universalgeschichte, der Welt, der Sprache und der globalen sozialen Verantwortung sichern den theologisch gedachten Bezug der autonom gewordenen Religion zum Leben der Menschen. Die stärkere Einheitlichkeit der Theologie im 20. Jahrhundert liegt auch daran, dass sich eine bestimmte Sicht auf die Funktion der Religion in der Kultur aus dem Erbe des Idealismus durchgesetzt hat: Religion erscheint den meisten Theologen selbstverständlich als Reflexion einer absolutheitsbezogenen Letztbegründung, so dass die Grundlagenfunktion „für alles“ zu einer unbezweifelten Basis der theologischen Rekonstruktionen wird. Das zeigt sich auch daran, dass entsprechende Autonomisierungsentwicklungen in anderen kulturellen Teilbereichen, insbesondere in der Kunst, mit Hilfe der Benutzung religiöser Sprache und Symbole inszeniert werden konnten. Die Behandlung des Themas Individualität durch die protestantische Theologie im 20. Jahrhundert kann (noch) nicht überblickend dargestellt werden, auch deshalb, weil eine kulturgeschichtliche Ordnung der verschiedenen Theologietypen des 20. Jahrhunderts noch nicht zu sehen ist. Die Behauptung einer eigenständigen Orientierung der Theologie bei der Behandlung allgemeiner Themen kann nicht das Ende der Analyse derjenigen gedanklichen Bedingungen bedeuten, mit denen innerhalb der Theologie realiter hantiert wird. Die Behauptung einer Deutung von Individualität aus einer trinitarischen Offenbarung oder einer christologisch-eschatologischen Perspektive oder einer rechtfertigungstheologischen Grundlage heraus, verbunden mit der Versicherung, damit werde Individualität überhaupt erst möglich oder wahr gedacht, kann in einer kulturgeschichtlichen Perspektive auf die Arbeit der Theologie nicht übernommen werden, und zwar gerade dann, wenn die Behauptung der Eigenständigkeit des Religionssystems und seiner theologischen Deutung anerkannt wird.

5.1 Rudolf Bultmann – Glaube und Individualität Bultmann sei hier als Beispiel herangezogen, da bei ihm das Thema der konkreten Subjektivität auf dem Hintergrund der Heidegger-Rezeption eine deutlich erkennbare

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und prominente Rolle spielt. Es seien einige Stationen der theologiegeschichtlichen¹⁷ Konstellationen, aus denen heraus Bultmann sein Programm entwickelt, genannt.¹⁸ Bultmann überlegt bereits früh, wie er die Theologie Wilhelm Herrmanns, besonders ihren Kernkomplex lebendiger, je subjektiv empfundener und bejahter Innerlichkeit, verknüpfen kann mit dem durch die Religionsgeschichtliche Schule erarbeiteten Wissen um die wechselhafte Geschichte der Inhalte des Christentums. Der Religionsbegriff wird zunächst in Abwehr der psychologisch gedeuteten Ottoschen Theorie des Heiligen mit Hilfe der Religionstheorie Schleiermachers transzendental-individualistisch angelegt. (Der Begriff sei hier nur als Beschreibungsversuch genommen!) In Zusammenarbeit mit Heidegger werden dann Kierkegaard und Luther rezipiert und es werden die Elemente der Sünde und des Heils als Tat Gottes in den Religionsbegriff aufgenommen. Abschließend wird Karl Barths eschatologische Ausrichtung der Theologie aufgenommen. Nachdem Bultmann dabei zunächst Barths Differenz von Glaube und Bewusstsein als unmöglich beurteilt hatte, stimmt er dieser Trennung später zu. Glaube ist danach ein Selbstverhältnis, welches unabhängig von aller bewussten Identität des Einzelnen in ihm frei und kontingent entsteht (durch Gottes Tat geschaffen wird). Das Neue Testament hat darin seine religionstheoretische Einheit, dass die wechselnden Gehalte als verschiedene Beschreibungsversuche der Struktur des Glaubens eingesetzt werden, und zwar derjenigen Struktur, die genau das Moment freier Kontingenz in dem Vollzug von Glaube beschreibt. Die Eschatologie wird zum bevorzugten theologischen Sprachmittel für diese Struktur, sie wird allerdings mit der Christologie, die die Faktizität des Vollzugs beschreibt und bestätigt, direkt verknüpft. Zwei verschiedene Sichtweisen werden also miteinander verbunden. Individualität wird zum einen zum Ort der Beschreibung dessen, welchen eigenständigen Inhalt die Theologie in der Religion verwaltet. Das Selbstverhältnis im Glauben ist nicht ein anthropologisch allgemein gegebenes und als Zustand abrufbares Selbstverhältnis. Vielmehr beschränkt sich seine Geltung allein auf seine religiöse Erfahrung und ihre theologische Reflexion. „Selbstverhältnis“ als Glaube ist der konstruktive Gegenstand, an dem die Theologie ihre Wissenschaftlichkeit demonstriert. Diese Konstruktion wird dabei auf die Religion als ihren „eigentlichen“ Gegenstand übertragen, was die freie Benutzung religiöser (historischer, neutestamentlicher) Aussagen möglich macht. Zum anderen wird über Herrmann hinaus ein inhaltlicher Schritt bei der Bestimmung der Innerlichkeit vorgenommen. Denn es gibt keinen Grund des Glaubens, auf den dieser sich beziehen könnte (und dessen Bestimmung Herrmanns Theologie gilt), sondern es gibt nur den freien Vollzug des Glaubens selbst. Die Be-

 Vgl. Konrad Hammann, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, Tübingen 32012. Zu den einzelnen Bezügen Bultmanns vgl. auch die entsprechenden Artikel in Christof Landmesser (Hg.), Bultmann Handbuch, Tübingen 2017.  Vgl. auch Christoph Herbst, Freiheit aus Glauben. Studien zum Verständnis eines soteriologischen Leitmotivs bei Wilhelm Herrmann, Rudolf Bultmann und Eberhard Jüngel, Berlin / Boston 2012, 159 – 284. Herbst deutet allerdings Bultmanns theologisches Freiheitsverständnis als gegen die Moderne und die moderne Lebenswelt gerichtet. Dem wird unten widersprochen.

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zugnahme auf den Grund ist für Bultmann eine Funktion der Selbstdarstellung des Glaubens als gänzlich unabhängig. Damit wird die reale Individualität des Glaubens zwar aufgenommen, denn es wird ja gerade davon ausgegangen, dass es Glaubende und Nichtglaubende gibt. Aber dies wird zugleich in die unkenntlichen Voraussetzungen abgeschoben, die die Kontingenz ausmachen. Analysiert wird unter der Sigle des individuellen Selbstverhältnisses die allgemeine Vollzugsstruktur des Glaubensaktes. Damit wird die Orientierung der Theologie des 19. Jahrhunderts an allgemeinen Grundlegungsfragen auf ihre Weise aufgenommen und auf die neue Situation der freien Selbstbezüglichkeit der Religion übertragen. Auch die Aufnahme traditioneller Begriffe kann entsprechend gedeutet werden. „Sünde“ ist in der Theologie des 19. Jahrhunderts als anthropologisch allgemeine, durch die Schöpfung Gottes und den Sündenfall für alle Menschen geltende Zustandsbeschreibung gelesen worden. Gerade aus der Differenz von Schöpfung und Soteriologie ergeben sich theologische Grundprobleme der Sündenlehre und ihrer (un)möglichen Modernisierung. Für Bultmann ist Sünde der Gegensatz zum Glauben. Der glaubende Mensch ist der Mensch vor Gott. Damit gilt Sünde nicht moralischen oder anthropologischen Normen, sie ist nicht Abweichung vom allgemeinen Guten und Ewigen. Sondern sie ist allein der aktuelle Nichtvollzug von Religion. Religiöse Individualisierung wird über die Antwort des Glaubens erreicht, hier ist aber keine lebensgeschichtliche Individualität gemeint, sondern eine religiöse, die in der aktualen Anteilhabe an der religiösen Vollzugsmöglichkeit besteht. Sünde bleibt damit der Hintergrund für die religiöse Abzweckung des Individualitätsverständnisses, insofern dieses an das je individuelle Vollzogenwerden im Glauben gebunden wird. Nicht die Unentlastbarkeit des Einzelnen ist das theologische Thema, sondern die Aufrichtung des bestimmten, nämlichen religiösen Aktes. Bultmann hat über die Faktizität und Kontingenz des Glaubensaktes im Selbstverhältnis hinaus noch ein weiteres Moment in seine Theologie eingebaut, dass ihre Eigenständigkeit gegenüber philosophischen Grundlagentheorien gewährleistet. Es handelt sich dabei um die Einbindung des Glaubensaktes in die Verkündigung der Kirche beziehungsweise um das Kerygma. Das Kerygma bezeichnet eine historisch gegebene, faktische Gesprächssituation, innerhalb derer Glaube entstehen kann. Glaube ist Rezeption einer vollmächtigen (religiösen) Anrede. Damit wird die faktische Disparatheit der modernen Kultur und die Eigenständigkeit und Eigenbezüglichkeit der Religion theologisch aufgenommen. Das religiöse Individuum ist nicht mystische Selbstbeschau, es entsteht nicht aus sich selbst heraus, sondern es ist Bestandteil einer religiösen Kultur beziehungsweise der Religion als Subsystem der Kultur, ohne dessen Bestand es sich nicht selbst verstehen könnte, ja noch nicht einmal denkbar wäre. Damit wird vollends deutlich, dass das religiöse Selbstverhältnis – selbst wenn es real vollzogen wird und so existiert – nicht als ein anthropologisch allgemeines gedacht werden kann. Es bleibt an die Kirche und die Gesprächssituation religiöser Verkündigung sowie deren entsprechende individuelle Rezeption in hermeneutischer Entschlüsselung der religiösen Sprache gebunden.

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In der theologischen Rezeption von Bultmanns Theologie werden häufig die Passivitätsaussagen für den Glauben als die wesentlichen Kernthesen dargestellt, die die Differenz von christlichem Glauben und anderen menschlich-kulturellen Aktivitäten bezeichnen. Theologie und Religion werden damit als Gegeninstanzen gegen das moderne, seiner selbst mächtige Subjekt inszeniert. Hier soll dagegen gezeigt werden, dass die Funktion der Bultmannschen Konstruktionen auf dem Hintergrund der Differenz von Religion und Kultur zu lesen ist. Es geht nicht um einen inhaltlichen Gegensatz. Dieser würde vielmehr wieder die Vergleichbarkeit von bewussten Akten im Individuum, zwischen Bewusstsein und Glaube, voraussetzen. Religiöse Glaubensakte wären passiv, andere aktiv. Damit wird aber viel zu viel behauptet. Von der bis heute nicht befriedigend gelösten theologischen Frage, wie passive Rezeptionsakte zum Besitz des vollziehenden (oder vollzogenwerdenden?) Subjekts werden können bis zur notwendigen gegensätzlichen Konstruktion anderer kultureller Deutungssprachen als aktiv, autonom und selbstgesteuert (die ja zum Beispiel innerhalb der modernen Ästhetik in dieser Einseitigkeit gar nicht bestätigt wird) reichen die Probleme. Es geht Bultmann dagegen darum (beziehungsweise sollte er so verstanden werden), dass Theologie so zu treiben ist, dass die Religion nicht als eine Betätigung des allgemeinen Geistes verstanden und abgeleitet wird, sondern dass zunächst ihre von sich selbst her gegebene Unabhängigkeit betont wird. Religion ist eine ganz in sich begründete und eigenständige Sprache des Menschen von seinem Leben. Dann gilt, dass der Einsatz des lebendigen Herrn Jesus Christus nur für eine solche Form der Individualität steht, die der Religion eigen ist. Religion ist Anrede, ist Kommunikation, die ein Geschehen in subjektiver Innerlichkeit erzeugt, von dem sie redet. Deshalb spricht Bultmann von Verkündigung – sie markiert das auf sich selbst bezogene Sprachfeld der Religion. Individualität ist so nicht mehr ein allgemeiner kulturgeschichtlicher Sachverhalt. Jedenfalls kann er in der Theologie nicht mehr als ein solcher beschrieben werden, wenn es ihre Aufgabe sein soll, das spezifisch in der Religion zu beobachtende Individualisierungsgeschehen zu analysieren. Nur durch ihre Vereinzelung und Abkoppelung hat die Theologie damit an dem allgemeinen, aber radikal pluralisierten Prozess der Individualisierung des Lebens in der Moderne teil. Sie ist nicht, wie im 19. Jahrhundert, eine Funktion dieses Prozesses. Es geht gerade nicht darum, wie sich der allgemein vorauszusetzende persönliche Selbstbezug des Einzelnen im Bereich der Religion ausdrückt. Das ist vielmehr die falsche Fragestellung, die die Religion unterordnet unter allgemeine kulturgeschichtliche Bewegungen. Dagegen ist die Theologie des 20. Jahrhunderts unter die kulturgeschichtliche Aufgabe zu stellen, ihre verschärfte reflexive und sprachfeldbezogene Autonomieposition darzustellen. Vor diesem Hintergrund ist die Theologiegeschichte zu schreiben und sind innerhalb ihrer thematische Auskünfte über einzelne übergreifende Probleme der modernen Kultur (wie die Individualisierung) zu erwarten.

Martin Fritz / Gießen

Realisierung des eigenen Selbst Schleiermachers Ethik der Individualität und ihre Rezeption bei Lotze, Dilthey und Herrmann „Was hilfft dichs / dz gott / gott ist / wan er dier nit eyn gott ist?“¹ Mit diesem Wort hat Luther 1519 trefflich zum Ausdruck gebracht, dass die Gottesbeziehung die je einzelne Person betrifft. Ein anderes Zeugnis dieser Einsicht sind die berühmten Erläuterungen zum Apostolischen Glaubensbekenntnis in Luthers Kleinem Katechismus (1529), wo die im symbolon behaupteten objektiven Glaubenswahrheiten durchgängig aus Sicht des frommen Ich reformuliert werden. „Ich gläube, daß mich Gott geschaffen hat sampt allen Kreaturn, mir Leib und Seel, Augen, Ohren und alle Gelieder,Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält“.² „Ich gläube, daß Jesus Christus […] sei mein Herr, der mich verlornen und verdammpten Menschen erlöset hat, erworben, gewonnen“.³ „Ich gläube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christ, meinen Herrn, gläuben oder zu ihm kommen kann, sondern der heilige Geist hat mich durchs Evangelion berufen“.⁴ Der Glaube ist wirklich allein in der individuellen Aneignung des Heils kraft des Heiligen Geistes, in der Erfüllung meines Ich mit dem Vertrauen auf meinen Schöpfer und Erhalter und auf meinen Heiland und Herrn Jesus Christus. Protestantismus ist Individualitätsreligion. Aber als solche ist das protestantische Christentum sich selbst nicht gleich geblieben. Mit dem Aufkommen der Neuzeit hat sich das Verhältnis des Ich zu seinem Eigensein in vielfacher Hinsicht verändert. Soll man diese Veränderungen auch nicht allzu radikal fassen⁵ – dass sich nicht zuletzt durch die Wirkung protestantischer Frömmigkeit und Sittlichkeit, im Zuge von Pietismus, Empfindsamkeit und Aufklärung eine neue Kultur der Pflege und des Ausdrucks individueller Innerlichkeit herausgebildet hat, wird kaum zu bestreiten sein. Insofern trennt unser „Ich“-Sagen, -Denken und -Empfinden, auch unser „Ich glaube“-Sagen, -Denken und -Empfinden manches vom Ich des Reformators. Gegenstand dieser Untersuchung ist die ethisch-religiöse Thematisierung der Individualität unter den Vorzeichen der aufziehenden Moderne. Schleiermacher nimmt in der Geschichte dieser Thematisierung einen herausgehobenen Platz ein. Grundzüge seiner Position, klassisch niedergelegt in den Monologen, sind daher in  Martin Luther [1519], Ein Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi, in: WA 2,Weimar 1884, 136 – 142, hier 137 (Hervorhebung M.F.).  Martin Luther [1529], Der kleine Katechismus, in: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen 121998, 501– 542, hier 510 (Hervorhebung M.F.).  Luther 1998, 511 (Anm. 2) (Hervorhebung M.F.).  Luther 1998, 511– 512 (Anm. 2) (Hervorhebung M.F.).  Vgl. Volker Gerhardt, Individualität. Das Element der Welt, München 2000. https://doi.org/10.1515/9783110569520-032

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Erinnerung zu bringen, um daraufhin das Weiterwirken der Schleiermacher’schen Individualitätsidee in der Philosophie und Theologie des „langen 19. Jahrhunderts“ an exemplarischen Autoren zu verfolgen. Dabei wird sichtbar werden, dass das individuelle Selbstsein in einer Weise zum Problem wird, die Luther noch weitestgehend fremd gewesen ist. – Es handelt sich im Folgenden in erster Linie um einen theologieund philosophiehistorischen Beitrag zur Erforschung der Wirkungsgeschichte der Monologen. Leitend ist dabei das systematisch-theologische Interesse an der vom Reformator intonierten Frage nach der Rolle der Individualität für die Konstitution religiöser Subjektivität.

1 Schleiermachers individualitätsethisches Manifest Bereits ein Jahr nach seinem „theologischen Modernisierungsprogramm“⁶, den Reden über die Religion (1799), veröffentlicht Schleiermacher seine zweite, ethische Programmschrift: die Monologen (1800). Sie sind das „Manifest einer Ethik der Individualität“⁷, formuliert in Opposition zum herrschenden Kantianismus in der Moral.⁸ Denn Schleiermacher, selbst tief kantisch geprägt, ist mittlerweile „ein anderes und höheres Ziel“ der Sittlichkeit „aufgegangen“ als die von Kant und Fichte propagierte Freiheit, in der sich das Vernunftwesen Mensch über seine sinnlichen Bestrebungen erhebt und sein Handeln dem allgemeinen und für alle Personen identischen Gebot der Pflicht unterstellt.⁹ „Lange genügte es auch mir“, schreibt er, „nur die Vernunft gefunden zu haben, und die Gleichheit des Einen Daseins als das Einzige und Höchste anbetend, glaubte ich es gebe nur Ein Rechtes für jeden Fall, es müße das Handeln in Allen daßelbe sein“¹⁰. Aber dieses Ideal einer „moralische[n] Allgemeinheit und

 Vgl. Ulrich Barth, „Die Religionstheorie der ‚Reden‘. Schleiermachers theologisches Modernisierungsprogramm“, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 259 – 289.  Hans-Joachim Birkner, Einleitung, in: Friedrich Schleiermacher, Brouillon zur Ethik (1805/06), hg.v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1981, VII–XXVIII, hier VII.  Vgl. zum Folgenden Ulrich Barth, „Das Individualitätskonzept der ‚Monologen‘. Schleiermachers ethischer Beitrag der Romantik“, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 291– 327; ferner Kurt Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik. Eine literaturgeschichtliche Studie zum romantischen Religionsverständnis und Menschenbild am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland, Weimar 1986, 229 – 295; speziell zu den Fichte-Bezügen der Monologen Peter Grove, Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, Berlin u. a. 2004, bes. 211– 217.  Friedrich Schleiermacher [1800], Monologen. Eine Neujahrsgabe, KGA I/3, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 1– 61, hier 37. Die Seitenangabe erfolgt nach der Originalpaginierung. – Die Individualitätsidee bleibt, mitsamt ihrer Kant-kritischen Stoßrichtung, auch in der wenig später nachfolgenden zweiten ethischen Schrift Schleiermachers als bisher in der Sittenlehre vernachlässigtes und endlich zu realisierendes Prinzip der Sittlichkeit präsent: vgl. Friedrich Schleiermacher [1803], Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre , KGA I/4, hg.v. Eilert Herms u. a., Berlin / New York 2002, 27– 357, hier z. B. 90 – 99; vgl. zum Stellenwert dieses Prinzips innerhalb der späteren Schleiermacher’schen Ethik: Poul H. Jørgensen, Die Ethik Schleiermachers, München 1959, 84– 102.  Schleiermacher 1984, 38 (Anm. 9).

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Universalhumanität“¹¹ hatte der pietistischen Prägung und dem weiteren Bildungsgang Schleiermachers auf die Dauer nicht standzuhalten vermocht. Im Geiste Herrnhuts zu eindringlicher Selbsterforschung erzogen, durch Leibniz-¹², Spinoza-¹³ und Goethe-Lektüre¹⁴ weiter für die Bedeutung des Individuellen und seiner Bildung sensibilisiert, schließlich in romantischen Zirkeln in der Wahrnehmung der innersten Eigentümlichkeiten der Freunde und Freundinnen geübt sowie mit der eigenen Sehnsucht nach authentischer Wahrnehmung der eigenen Persönlichkeit konfrontiert¹⁵ – in alledem war dem Verfasser der monologischen „Neujahrsgabe“¹⁶ der ethische Wert der Individualität deutlich geworden. „So ist mir aufgegangen, was jezt meine höchste Anschauung ist: daß jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll, in einer eignen Mischung ihrer Elemente“¹⁷. Nicht die Erhebung des Einzelnen zum „Bewußtsein der allgemeinen Menschheit“¹⁸ gilt Schleiermacher nun als der Grundakt „höchster Sittlichkeit“¹⁹, sondern die Erhebung zum Bewusstsein eines „eignen Wesens“²⁰, in dem die allgemeinen „Elemente“ von Humanität in einer unverwechselbaren Konstellation verbunden sind. Diese Auszeichnung der Individualität hat mehrere Intentionen. Sie sucht im Modus der „Selbstbetrachtung“²¹ eine bestimmte Dimension von Subjektivität aufzuweisen – eben deren Individualitätsdimension, die in der theoretischen und praktischen Subjektivitätstheorie kantianischer Provenienz untergeht. Mit diesem Aufweis appelliert sie zugleich an den Leser, im Nachvollzug solcher Selbstbetrachtung selbst ebenfalls des „eignen“²² „inneren Lebens“²³ gewahr zu werden. Dieser Appell zur Selbstbesinnung mündet dann in den Appell zur „Selbstbildung“²⁴: „Immer mehr zu werden was ich bin, das ist mein einziger Wille“²⁵, bekennt der Autor der Monologen und sinnt ihrem Leser damit den Imperativ der freien Ausbildung der eigenen Individualität als neue sittliche Forderung an. Individualität ist nicht nur Faktum inner-

 Barth 2004, Individualitätskonzept, 301 (Anm. 8).  Vgl. Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers. Bd. 1, GS XIII/1, hg.v. Martin Redeker, Göttingen 1970, 175 – 178; Nowak 1986, 88 – 90 (Anm. 8).  Vgl. Dilthey 1970, 174– 179 (Anm. 12); Nowak 1986, 89 – 92 (Anm. 8); ausführlich zu Schleiermachers über Jacobi vermittelte Spinoza-Rezeption: Christof Ellsiepen, Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva. Die spinozistischen Grundlagen von Schleiermachers früher Religionstheorie, Berlin / Boston 2006.  Vgl. Dilthey 1970, 179. 264– 265 (Anm. 12); Nowak 1986, 146. 168 (Anm. 8).  Vgl. Schleiermacher 1984, XXX (Anm. 9).123 – 125.  So der Untertitel der Monologen.  Schleiermacher 1984, 39 – 40 (Anm. 9).  Schleiermacher 1984, 38 (Anm. 9).  Schleiermacher 1984, 50 (Anm. 9).  Schleiermacher 1984, 41.47.48.50.51.62 u. ö. (Anm. 9).  Schleiermacher 1984, 37.58 (Anm. 9).  Schleiermacher 1984, 50 (Anm. 9).  Schleiermacher 1984, 75 – 76.79.88.116 (Anm. 9).  Schleiermacher 1984, 57 (Anm. 9) (Hervorhebung M.F.).  Schleiermacher 1984, 104 (Anm. 9).

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halb konkreter Subjektivität, sondern auch normativ-ethisches Ideal. Demnach besteht die zentrale ethische Aufgabe des Ich darin, sich mit offenem Sinn allem Menschlichen zuzuwenden, um sich dabei in freier Abgrenzung und Anverwandlung von begegnenden Zügen des Humanen über den „Grundriß des eignen Wesens“²⁶ immer klarer zu werden, sich Äußerungen fremder Individuen, sofern sie zu „meines Wesens Natur“ stimmen, als „neuen Stoff“ „zu seiner innern Bildung […] an[zu]eignen“,²⁷ auf dass „mein inneres Wesen“²⁸ durch solches „Wachsthum“²⁹ immer reicher und durchgeklärter werde. Ziel der fraglichen Prozesse der „Anreicherung“ des Ich durch Aneignung kongenialer „Stoffe“ und Ausbildung charakteristischer Züge ist die „Vollendung seiner Eigenthümlichkeit“³⁰. Wie jede Vollendung hat dieses Ziel freilich den Status eines letztlich unerreichbaren Ideals – stets bleiben gewisse Aspekte oder Dimensionen des „eigenen inneren Lebens“ undurchsichtig und ungeformt. Zweierlei will ich zu dieser Skizze noch hinzufügen. Erstens stellt sich die Frage nach dem Status dessen, was in jener Selbstanschauung angeschaut und in besagter Selbstbildung gebildet wird. Klar ist vor allem, was dieses je eigene „Gemüth“³¹ oder „Innere“³² oder „Selbst“³³ oder „Wesen“³⁴ oder „Leben“³⁵ oder „Sein“³⁶ nicht ist. Gemeint ist nicht die substanzontologisch gefasste „Seele“ der alten Metaphysik, der Kant den Garaus gemacht hat – wenngleich Schleiermacher die fragliche Entität durchaus als „eigne Seele“³⁷ ansprechen kann. Es ist auch nicht der schlechthin leere „Ich“-Punkt der Reflexionssubjektivität oder das schlechthin allgemeine Subjekt der praktischen Vernunft. Von ihnen hebt Schleiermacher das qualitative Selbst ja gerade ab, indem er ihm einen spezifischen „Inhalt“, eine bestimmte „Ausdehnung“ zuschreibt. Dieser Inhalt ist aber wiederum nicht identisch mit dem Gehalt des empirischen Ich; er ist nicht die einfache Summe der durch das „Ich“ zusammengehaltenen Vorstellungen, Willenshandlungen und Gefühle, die der „innere Sinn“ in sich wahrnimmt. Wer „nur im Wechsel flüchtiger Empfindungen und einzelner Gedanken, die die Wirklichkeit erzeugt, sich selbst zu finden weiß […] und niemals tiefer in sein eignes Wesen dringt“³⁸, ist vielmehr zutiefst zu bedauern. Denn ein derartiges „Oberflächenselbstbewusstsein“ vermag dem Ich keinen Standpunkt außerhalb von Zeit und Schicksal zu verschaffen. Solches vermag erst die Besinnung auf das ei-

            

Schleiermacher 1984, 81 (Anm. 9). Schleiermacher 1984, 104– 105 (Anm. 9). Schleiermacher 1984, 57 (Anm. 9). Schleiermacher 1984, 60. 105 (Anm. 9). Schleiermacher 1984, 128 (Anm. 9). Schleiermacher 1984, 51. 56 (Anm. 9). Schleiermacher 1984, 43. 48. 59. 61 (Anm. 9). Schleiermacher 1984, 43 (Anm. 9). Schleiermacher 1984, passim (Anm. 9). Schleiermacher 1984, 50.75 – 76.79.88. 116. (Anm. 9). Schleiermacher 1984, 62.63. (Anm. 9). Schleiermacher 1984, 82; vgl. 129. (Anm. 9). Schleiermacher 1984, 100 – 101 (Anm. 9).

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gentliche Selbst. Als Resultat freier Selbstbestimmungsakte stellt es das überempirische, geistig-innerliche, aber gleichwohl qualitativ bestimmte Zentrum der empirischen Zustände des Ich dar. Und diese Zustände wiederum gehören teils mehr dem Zentrum selbst zu, teils mehr der Peripherie, je nachdem, wie „innig“ sie sich mit ihm „verbinden“.³⁹ Ein wunderlich Ding, „mein inneres Wesen“⁴⁰ – substanzielle individuelle Innerlichkeit, aber ohne manifeste Substanzialität. Der zweite Punkt, der noch anzusprechen ist, betrifft die religiösen Implikationen von Schleiermachers Individualitätsidee.⁴¹ In der wahrhaften Selbstanschauung sieht sich das Ich nicht nur dem unmittelbaren zeitlichen Wechsel enthoben. Als individuelle Darstellung der unendlichen Menschheit weiß es sich aus dem Unendlichen entsprungen und mithin als „Werk der Gottheit“⁴² – hier berühren sich die Monologen aufs engste mit den Reden. Aber diese religiöse Selbstansicht ist bei Schleiermacher keineswegs mit einer Art Unsterblichkeitsglauben verbunden. Im Gegenteil: Der Selbstanschauung im Horizont des Unendlichen, dem Wissen um die vielfache Verschlungenheit der eigenen Individualität mit dem Ganzen der Welt und der Menschheit, entspricht vielmehr ein Aufgehen des Endlichen im Unendlichen: Am Ende „schlägt“ dem Individuum „die Stunde […], der Unendlichkeit sich wieder zu geben, und in ihren Schooß zurükzukehren aus der Welt“.⁴³

2 Die prominente Stellung des Individualitätsideals in Diltheys Schleiermacher-Darstellung Avancierten die Monologen neben den Reden buchhändlerisch zu Schleiermachers größtem Erfolg,⁴⁴ scheint ihre Wirkung in der akademischen Welt zunächst begrenzt gewesen zu sein.⁴⁵ „In die ethischen Untersuchungen haben die Monologen nicht eingegriffen. Die Form, in der sie die weittragenden Gedanken der bildenden Ethik aussprachen, war nicht geeignet, ihnen einen wissenschaftlichen Einfluß zu verschaffen.“⁴⁶ So urteilt Wilhelm Dilthey (1833 – 1911) in seinem Leben Schleiermachers.

 Schleiermacher 1984, 111 (Anm. 9).  Schleiermacher 1984, 57 (Anm. 9).  Dazu ausführlich Constantin Plaul, „Die Performanz der Spannung des bewussten Lebens. Zum Wechselverhältnis der individuellen Darstellung von Selbst und Universum beim frühen Schleiermacher“, in: Der Mensch und seine Seele. Bildung, Frömmigkeit, Ästhetik, hg.v. Arnulf v. Scheliha / Jörg Dierken, Berlin / Boston 2017, 117– 129.  Schleiermacher 1984, 40 (Anm. 9).  Schleiermacher 1984, 66 (Anm. 9).  Vgl. Kurt Nowak, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2002, 122.  Eine eingehendere Untersuchung zu ihrer Wirkungsgeschichte fehlt. Auch in dem wirkungsgeschichtlichen Überblick in Kurt Nowaks großer Schleiermacher-Biographie finden die Monologen nur am Rande Erwähnung: vgl. Nowak 2002, 457– 524 (Anm. 44).  Dilthey 1970, 477 (Anm. 12).

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Das Dilthey’sche Opus von 1867/70, das eine wissenschaftliche Schleiermacher-Forschung eigentlich erst begründete und das mit seinem Porträt des jungen Theologen und Philosophen einen beträchtlichen Einfluss auf das Schleiermacher-Bild der Folgezeit geübt hat, brachte dann freilich einen neuen Rezeptionsanstoß. Denn in Diltheys Darstellung, die biographisch lediglich bis ins Jahr 1802 reicht, nehmen die Monologen als eines der beiden Hauptwerke dieser Lebensphase nicht nur aus zufälligen werkbiographischen Gründen eine zentrale Position ein. Auch für die Erhebung von Schleiermachers essentiellem „Lebensgehalt“⁴⁷ mitsamt seiner „Lebensund Weltansicht“⁴⁸, welcher die geistesgeschichtliche Biographie maßgeblich gewidmet ist, kommt den Monologen in Diltheys Sicht eine Schlüsselrolle zu, durchaus gleichrangig mit der Bedeutung der Reden. Gerade der junge Schleiermacher – im Gegensatz zu dem bis dato die Rezeption beherrschenden „Kirchenvater des 19. Jahrhunderts“, dem Autor der Glaubenslehre – repräsentiert für Dilthey eine epochale Gestalt der neueren Geistesgeschichte. Denn in ihm gelangen die mit den Sammelnamen „Romantik“ und „Idealismus“ bezeichneten Gärungsprozesse, die über die Aufklärung hinausdrängen, in eigentümlicher, aber zugleich paradigmatischer Weise zu zukunftsweisender Einheit. Als epochal hat diese Lebens- und Denkgestalt in zweierlei Hinsicht zu gelten. Zum einen steht sie in Diltheys Augen für die Neuformierung einer Religiosität, die, im Durchgang durch die in Kant gipfelnde Aufklärung sowie in kritischer Aufnahme der pantheistischen Strömungen und in Abgrenzung von den spekulativen Systemen der Zeit gewonnen, dem Christentum einen Weg in die Moderne weist. Der Titel des späten Dilthey für diese durch Schleiermachers Denken, Erleben und literarisches Verdichten etablierte, von den unhaltbar gewordenen Dogmen der christlichen Tradition befreite „neue Weltfrömmigkeit“⁴⁹, worin Ansätze bei Herder und vorzüglich bei Goethe zu voller Durchklärung kommen, lautet „pantheistische Mystik“⁵⁰. Ihr klassisches Dokument sind natürlich die Reden über die Religion – mit ihnen ist Schleiermacher für Dilthey zum „großen Reformator des ‚Christlichen‘ für die moderne Menschheit“⁵¹ geworden. Von diesem religiösen Aspekt, der zumeist im Fokus der theologischen Lektüren von Diltheys Buch gestanden hat, ist nun aber ein zweiter Gesichtspunkt im Dilthey’schen Wesensbild Schleiermachers deutlich zu unterscheiden, wenn selbiger auch in sachlich enger Verknüpfung zu Ersterem steht. Den „ganzen Lebensgehalt

 Dilthey 1970, XXXV (Anm. 12).  Dilthey 1970, XXXV u. passim (Anm. 12).  Martin Redeker, Vorwort des Herausgebers zur 3. Auflage, in: Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers. Bd. 1, GS XIII/1, hg.v. Martin Redeker, Göttingen 1970, IX–XXV, hier XXV; vgl. zum Begriff: Helmuth Plessner, Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche (1935; seit 1959 unter dem Titel: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Frankfurt a.M. 1974), bes. Kap. 4.  Vgl. Dilthey 1970, 337.550 (Anm. 12). Die Formel findet sich nur in Diltheys Aufzeichnungen für die geplante, aber nicht mehr vollendete zweite Auflage.  Redeker 1970, XXIV (Anm. 49).

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Schleiermachers“⁵² kann nur ergreifen, wer neben der neuen pantheistisch-christlichen Weltanschauung auch die neue Lebensanschauung in den Blick nimmt, die, ebenfalls mit entsprechendem geistesgeschichtlichem und werkbiographischem Vorlauf, in den Monologen ihren klassischen Ausdruck gefunden hat. Dieses Werk Schleiermachers erst enthält die volle „Offenbarung seines Lebensideals“⁵³, des ethischen Ideals eines in steter Selbstbetrachtung und Selbstbildung begriffenen individuellen Lebens. Dem „Verkündiger der großen Lehre von der Individualität“⁵⁴ aber gebührt ein ebenso herausragender Rang wie dem Verkündiger christlicher Weltfrömmigkeit. Unbeschadet des Umstandes, dass beide Momente, die individualitätsethische Lebens- und die christlich-pantheistische Weltansicht, bei Schleiermacher auch nach der Dilthey’schen Interpretation eine lebendige (wenn auch nicht ohne weiteres durchsichtige) Einheit bilden, ist damit zu rechnen, dass Diltheys prominente Thematisierung des Schleiermacher’schen Individualitätsgedankens, welche die religiösen Bezüge streckenweise ganz in den Hintergrund treten lässt, einen eigenständigen Faktor in der Wirkung des fraglichen Werkes darstellt. Vor allem bei Lesern außerhalb der Theologie dürfte das Dilthey’sche Leben Schleiermachers in den nachfolgenden Jahrzehnten neue Aufmerksamkeit auf die Monologen gelenkt haben, und dies wohl auch (mehr oder weniger) unabhängig von genuin religiösen Interessen. Die Schlüsselbedeutung von Schleiermachers Individualitätsidee liegt für Dilthey darin, dass sie den ethischen Idealismus Kants (und Fichtes) aus einer inneren Aporie führt. Nach Kant gewinnt das Subjekt in der autonomen Erhebung zur Pflicht Selbständigkeit gegenüber dem äußeren Lauf von Natur und Geschichte: „Aus den tiefsten Bedürfnissen unseres zwischen Geburt und Tod und die ungeheuren Wechsel und Gegensätze des Geschickes eingewachsenen Lebens entspringt dieser Wille, selbständig zu sein gegenüber dem Schicksal. Durch das Nebelmeer und die wechselnden Wogen des Lebens sucht der starke Mensch einen gerade durchschneidenden Pfad“⁵⁵ – und findet ihn eben im autonomen Gehorsam gegenüber der Pflicht. Kraft solcher Autonomie weiß sich der „starke kantische Mensch“ dem übersinnlichen Reich der Freiheit zugehörig. Diese Selbständigkeitskonzeption hat laut Dilthey jedoch zwei schwere Defizite (hiermit folgt er im Wesentlichen Schleiermachers Kant-Kritik): Kant kann keine subjektiven „Beweggründe“⁵⁶ dafür angeben, warum man die eigenen sinnlichen Strebungen im Namen der Pflicht begrenzen sollte. Die Erhebung zum Vernunftgebot selbst kann für das individuelle Subjekt kein Motivator sein, eben weil es dabei von sämtlichen individuellen Motiven gerade abzusehen hat. Der Gewinn von Selbständigkeit ist mit dem Verlust der konkreten Persönlichkeit erkauft. Das Subjekt gerät     

Dilthey 1970, XXXV (Anm. 12) (Hervorhebung M.F.). Dilthey 1970, 260 (Anm. 12). Dilthey 1970, 261 (Anm. 12). Dilthey 1970, 467 (Anm. 12). Dilthey 1970, 466; vgl. 261 (Anm. 12).

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gewissermaßen „vom Regen in die Traufe“: Um qua Sittlichkeit der Natur- und Schicksalsverfallenheit zu entfliehen, muss es sein individuelles Ichsein ablegen – keine allzu verlockende Aussicht für ein pflichtgemäßes Leben. Schleiermachers Individualitätsethik löst diese Motivationsaporie. Auch sie rechnet mit einer Erhebung des Subjekts über seine bloße Empirie und folglich mit dem Gewinn von überempirischer Selbstständigkeit gegenüber Natur und Geschick. Aber diese Erhebung erfolgt nicht nach dem Diktat eines allgemeinen Gesetzes, sondern in Orientierung an dem „innerste[n] Gesez meines Lebens“⁵⁷, so Schleiermacher. In Besinnung auf sein inneres Selbst und das Idealbild von ihm rafft sich das Schleiermacher’sche Subjekt zur Einheit einer individuellen Lebensrichtung zusammen, und weil dabei die Realisierung seiner selbst auf dem Spiel steht, gibt es hier kein Motivationsproblem. Erst in dieser individualitätstheoretischen Modifikation kann der ethische Idealismus seine ganze erlösende Wirkung an dem natur- und schicksalsverfallenen Menschen entfalten: Vermöge dieser Anschauung meines ewigen Selbst trete ich in einen umfassenden Zusammenhang, in ein Reich der Ewigkeit. Denn dies Selbst gehört einer Welt an, die der Zeit und ihrem Wechsel entnommen ist. So ist die Selbstbetrachtung unabtrennbar von dem Leben im Ewigen und Unendlichen, von der Religion. Sie ist mitten im Ablauf der Zeit, mitten im handelnden Leben, als die stetige Besonnenheit unseres höheren Wesens gegenwärtig. Und damit sind wir vermöge ihrer ewig mitten in der Zeit.⁵⁸

Wie das Zitat zeigt, nimmt Dilthey auch im individualitätsethischen Zusammenhang ausdrücklich die religiösen Töne der Monologen auf. Gemäß der Abkehr vom überkommenen christlichen Theismus bedeutet Religion im Schleiermacher’schen Sinne nicht mehr primär das Bewusstsein und die Verehrung eines „höchsten Wesens“, sondern die „stetige Besonnenheit unseres höheren Wesens“⁵⁹. Sofern ich mich „im handelnden Leben“ auf mein eigenes „höheres Wesen“, mein eigentliches individuelles Selbst besinne, mich aus dem Vielerlei jenes äußeren Lebens in „mein inneres Leben“ sammle und wiederum „im handelnden Leben“ nach äußerer Realisierung jenes Inneren, nach „Verwirklichung meines wahren Seins“ strebe,⁶⁰ bin ich religiös. Verstanden als „dies stetige höhere Selbstbewußtsein“⁶¹ ist Religion mithin das Medium ethischer Selbstverwirklichung, Medium der Ausbildung und Realisierung meines unverwechselbaren „Charakters“, welcher allein „Zusammenhang“ innerhalb

 So Friedrich Schleiermacher im Brief an Charlotte von Kathen vom 10. 8.1803 (Dilthey, 1970, 465 – 466 [Anm. 12]). Vgl. das weitere Briefzitat: „Ein heiliges Bild schwebt jedem Bessern vor, In dessen Züg’ er strebt sich zu gestalten.“ (466).  Dilthey 1970, 468 (Anm. 12).  Dilthey 1970, 468 (Anm. 12) (Hervorhebung M.F.).  Dilthey 1970, 468 (Anm. 12).  Dilthey 1970, 468 (Anm. 12).

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meiner „Beweggründe“ zu stiften und mich damit vor dem Zerfließen im Ungefähr der natürlichen Strebungen und schicksalhaften Widerfahrnisse zu bewahren vermag.⁶² Selbigen Konvergenzpunkt von Religion und Ethos, welcher der Schleiermacher’schen Betrachtung des individuellen Selbst als Darstellung des Universums entspricht, kann Dilthey auch mithilfe des Bedeutungsbegriffs beschreiben. Religion, das ist die große Entdeckung Schleiermachers, von der die Reden und die Monologen gleichermaßen künden, ist demnach „Innewerden der Gegenwart des Unendlichen im Endlichen, Innewerden der dem Individuum dadurch gegebenen tieferen Bedeutung“⁶³ oder „tiefere Einsicht in die Bedeutung des Lebens“⁶⁴. Nimmt man die beiden Beschreibungsvarianten zusammen, lässt sich sagen: Gemessen an der traditionellen Gestalt der Religion als Gottesverehrung rückt das Religiöse beim Dilthey’schen Schleiermacher in die Latenz einer „Ewigkeitsdimension“ des Selbstverhältnisses bzw. einer „Tiefendimension“ der Lebensdeutung. Auch in Diltheys späterer „Lebensphilosophie“ werden die angesprochenen Motive wiederkehren. „Jedes Leben hat einen eigenen Sinn“, heißt es im Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), aber dieser „Sinn des individuellen Daseins“⁶⁵ ist aufgrund der „Lebensrätsel“⁶⁶ wie Tod und Kontingenz prinzipiell unsicher – und nur in Akten religiöser oder quasireligiöser Besinnung und Erfahrung festzuhalten. In einer Tiefenschicht des Lebens berühren sich Religion und Ethik, nach dem Vorbild des jungen Schleiermacher, im „Erlebnis“ einer letzten Sinn- und Selbstbestätigung.⁶⁷ Überblickt man Diltheys Aneignung der Schleiermacher’schen Individualitätsidee, ist eine gewisse Akzentverschiebung gegenüber Schleiermacher zu registrieren, eine Veränderung mindestens im Ton der Darstellung. Dilthey legt den teils pathetischen Akzent auf die Selbständigkeit des Ich gegenüber Natur und Schicksal – ich erinnere an den „starken Menschen“ im „Nebelmeer“ des Daseins.⁶⁸ Man kann den Eindruck gewinnen, dass die Bedrohung durch Vergänglichkeit und Kontingenz ein anderes Gewicht hat als bei Schleiermacher selbst, der erst zu konzentrierter Selbstbesinnung ermahnen muss, um überhaupt die Verlorenheit des empirischen Ich an Zeit und Welt aufzurufen. Dilthey scheint demgegenüber direkt ein allgemeines Bewusstsein anzusprechen, etwa wenn er an anderer Stelle schreibt:

 Dilthey 1970, 468 (Anm. 12).  Dilthey 1970, 395 (Anm. 12).  Dilthey 1970, 466; vgl. 467 (Anm. 12): „Daher ist der Endzweck all unserer Handlungen die stetige Herrschaft des sittlichen Bewußtseins, nicht aber irgendein äußerer Erfolg noch das unzuverlässige Glück, und darum sind wir mit der wahren Bedeutung unseres Daseins von allem Schicksal gänzlich unabhängig.“  Wilhelm Dilthey [1910], Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt a.M. 1970, 246.  Wilhelm Dilthey [1907], Das Wesen der Philosophie, GS V, hg.v. Georg Misch, Stuttgart / Göttingen 2 1957, 339 – 416, 379.  Vgl. dazu Martin Fritz, Menschsein als Frage. Paul Tillichs Weg zur anthropologischen Fundierung der Theologie, Habil. Neuendettelsau 2016, 230 – 233.  Dilthey 1970, 467 (Anm. 12).

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Im Wandel der Zeit findet sich der Mensch; sein Dasein ist ein Auf- und Niedergang bis zur Nacht der Vernichtung; sein inneres Leben ein ärmerer oder reicherer Wechsel von Vorstellungen und Empfindungen, die nicht in seiner Macht sind. Wenn er alsdann aus diesem Ablauf auf einen Augenblick heraustritt, um ihn zum Gegenstand seiner Betrachtung zu machen, so erfaßt er nur die Berührungspunkte seiner selbst und der Welt. […] Das Selbstbewußtsein […] ist so in dem Menschen untergegangen. […] Und, in der Sinnenwelt allein lebend, findet der Mensch sein schwankendes Selbst zwischen den ungeheuren Massen der Körperwelt unbedeutend, unsicher, gedrückt.⁶⁹

Der zitierte Abschnitt bietet eine Reformulierung von Eingangspassagen von Schleiermachers Monologen ⁷⁰ – und lässt doch den geistesgeschichtlichen Abstand zwischen dem Interpreten und seinem Helden spürbar werden. Dilthey spricht es mit Blick auf die geschilderte Not einer bloß empirischen Welt- und Selbstauffassung selbst aus: „Der Idealismus befreit den Menschen von der Last dieser Weltansicht. Denn er lehrt, daß der Geist das Erste, daß er allein frei und unbedingt ist.“⁷¹ Unter den Bedingungen eines „idealistischen“ Glaubens an die ontologische Priorität des Geistigen lebt auch selbstverständlich ein Bewusstsein von der Realität des Selbstseins und nimmt dem Gedanken, „in der Sinnenwelt allein“ zu leben und als „schwankendes Selbst“ in „den ungeheuren Massen der Körperwelt“ unterzugehen, seine Macht. Selbiger Gedanke, den Dilthey zur kardinalen Bedrohung des Menschseins erhebt, ist zwar auch bei Schleiermacher, jedenfalls in Annäherung, auszumachen.⁷² Aber es fehlt ein vergleichbares Bedrohungspathos. Am Ende scheint es bei Schleiermacher kein übergroßer Schritt zu sein vom „Vernichtungsgefühl“⁷³ zum Glauben an die Realität des Selbst – der rhetorische Glanz taucht die „Selbstgespräche“ durchweg in idealistisches Licht. Anders bei Dilthey: Mögen einige Strahlen jenes Lichtes auch auf seine Darstellung gefallen sein, zeugt das Pathos menschlicher Ungeborgenheit, das bei ihm stellenweise hörbar wird, von einer anderen Hintergrundstimmung. Es scheint, als sei, was in den Monologen erst anklingt, mit dem Brüchigwerden der religiösen und idealistischen Weltansichten zum allgemeinen Lebensgefühl geworden. So hat die Frage nach dem eigenen Selbst und dem „eigenen Sinn“ eine andere Dringlichkeit und einen deutlicher „kontrafaktischen“ Zug gewonnen. Deutlicher als zuvor muss die Besinnung auf die Innerlichkeit des Selbst gegen die herrschenden Zeittendenzen von der „Last“ einer naturalistischen Lebensanschauung befreien.

 Dilthey 1970, 467 (Anm. 12).  Dilthey verweist auf Passagen in: Schleiermacher 1984, 5 – 15.31– 35 (Anm. 9).  Dilthey 1970, 467 (Anm. 12).  Vgl. Schleiermacher 1984, 15 (Anm. 9): „Welt [ist] ihnen stets das erste, und der Geist ein kleiner Gast nur auf der Welt, nicht sicher seines Orts und seiner Kräfte.“  Schleiermacher 1984, 10 (Anm. 9).

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3 Die Akzentuierung der Fraglichkeit des Selbstseins bei Hermann Lotze Offenkundiger noch sind die Verschiebungen der Geisteslage bei einem etwas älteren Autor, der ebenfalls als Exponent der Wirkungsgeschichte von Schleiermachers Individualitätsidee gelten kann⁷⁴ – und zugleich als wichtiger Impulsgeber für Dilthey.⁷⁵ Ich gehe also historisch einen Schritt zurück, wenn ich mich nun Hermann Lotze (1817– 1881) zuwende, einer heute nicht mehr allzu bekannten „Schlüsselfigur der Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts“⁷⁶. In seinem einst vielgelesenen Mikrokosmus, in erster Auflage zwischen 1856 und 1864 erschienen,⁷⁷ spielt der Individualitätsgedanke eine zentrale Rolle, freilich ohne ausdrückliche Nennung Schleiermachers (anders als in einschlägigen Vorlesungen Lotzes)⁷⁸.

 Lotzes Verhältnis zu Schleiermacher ist, soweit ich sehe, in der (relativ schmalen) Lotze-Literatur bisher nicht näher untersucht worden. Vgl. die summarische Einschätzung bei William R. Woodward, Hermann Lotze. An Intellectual Biography, Cambridge 2015, 195: „Lotze himself had only an elusive connection to Schleiermacher through his friends“; ähnlich summarisch, wenn auch positiver Frederick C. Beiser, Late German Idealism. Trendelenburg and Lotze, Oxford 2014, 138: Lotze „was one of the last great romantics, the heir of Novalis, Schlegel, Schleiermacher and Schelling“; vgl. ferner Reinhardt Pester, Hermann Lotze: Wege seines Denkens und Forschens. Ein Kapitel deutscher Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte im 19. Jahrhundert, Studien und Materialien zum Neukantianismus 11, Würzburg 1997, wo der Name Schleiermacher gelegentlich fällt; vgl. aus der älteren Literatur z. B. Max Wentscher, Fechner und Lotze, München 1924.  Vgl. Ernst W. Orth, „Das Verhältnis von Ernst Cassirer und Wilhelm Dilthey mit Blick auf Georg Misch“, in: Dilthey-Jahrbuch 12 (1999/2000), 120 – 131, hier 121: „Für Dilthey war er [sc. Lotze; M.F.] ohnehin neben Trendelenburg eine der entscheidenden und zukunftsweisenden Figuren des 19. Jahrhunderts.“ Siehe auch Ders., „Dilthey und Lotze. Zur Wandlung des Philosophiebegriffs im 19. Jahrhundert“, in: Dilthey-Jahrbuch 2 (1984), 140 – 158.  Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, Frankfurt a.M. 21985, 206.  Hermann Lotze, Mikrokosmus: Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie, Leipzig 1856/58/64.  Schleiermacher wird von Lotze in seiner Philosophiegeschichtsvorlesung vom Sommersemester 1879 behandelt (Hermann Lotze, Geschichte der deutschen Philosophie seit Kant. Diktate aus den Vorlesungen, Leipzig 21894, § 58), und zwar mit entschiedener Fokussierung auf die Ethik. Der fragliche Abschnitt setzt ein mit Schleiermachers Fichte-kritischer Konzeption einer Ethik der Individualität: Es „hat Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher diese [sc. von Friedrich Schlegel nicht überwundene; M.F.] Leerheit des Fichte’schen Ich empfunden und sie durch sein außerordentliches tiefes Interesse an religiösem Inhalte zu erfüllen gesucht, von der Überschätzung des Ich [sc. bei Fichte und Schlegel; M.F.] aber nur den richtigen Gedanken beibehalten, daß allerdings die charakteristische Individualität auf allen Gebieten mehr wert sei als ein bloßes Beispiel allgemeiner Gesetze. Wenn also gewöhnliche Moral [sc. insbesondere kantianischer Provenienz; M.F.] die Beobachtung dieses Allgemeinen von dem einen grade in derselben Weise verlangt, wie von dem andern, so ist nach Schleiermacher vielmehr jede Persönlichkeit berufen, durch das, was ihrem Charakter nach eben nur sie und keine andre thun kann, die Summe des Guten und Schönen in der Welt zu vermehren. – Dabei ist zuzugestehen, daß dieser Wert der Eigentümlichkeit etwas einseitig betont wird, und daß z. B. in der ‚Sittenlehre‘ von allgemein verpflichtenden Schranken, die für alles Handeln gelten, weniger die Rede ist, als von der

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Grundlegend sind die Ausführungen im zweiten Buch des Mikrokosmus über „Die Seele“.⁷⁹ Nach Lotze besteht „in unserem wirklichen“, lebensweltlichen „Selbstbewußtsein“ eine unmittelbare Selbstvertrautheit,⁸⁰ in der wir uns nicht nur als Subjekt von der Welt, sondern „als dieses einzelne Ich von jedem andern unterschieden“⁸¹ wissen. Mit diesem ursprünglichen „Selbstgefühl“⁸² ist ein mehr oder weniger bestimmtes „Bild“ vom „Inhalt unseres Ich“ verbunden.⁸³ Gemeint ist nicht etwa das zusammenfassende Bewusstsein der akkumulierten Gedanken, Handlungen oder Erfahrungen, die unser „empirisches Ich“ ausmachen, sondern eine Vorstellung vom „wahren Gehalt unseres Wesens“, unserer unverwechselbaren „Individualität“:⁸⁴ Nicht durch das mithin, was wir wissen, was wir gethan und erlebt haben, glauben wir […] unser Ich zu erschöpfen, sondern indem wir ausdrücklich die ganze Mannigfaltigkeit dieser Entwicklung nur für eine der vielen möglich gewesen Ausbildungen unseres Wesens halten, finden wir uns selbst vielmehr in der allgemeinen Stimmung unserer Gefühle, in dem Temperament, das wir mit Niemand vollkommen ähnlich teilen, in der ganzen Manier und Gewohnheit, der Gewandtheit oder Schwerfälligkeit unseres Verhaltens, in der eigenthümlichen Weise, in der wir mit dem Inhalte unseres Erkennens schalten und walten.⁸⁵

Analog zur Schleiermacher’schen Fassung der Individualität als eigentümlicher Konstellation der allgemeinen Elemente von Humanität finden wir „unser wahres Ich“⁸⁶ nach Lotze in einer eigentümlichen „Gestimmtheit“ oder Modalität allgemeinmenschlich möglicher Akte und Erlebnisse. Und selbst wenn wir uns darauf besinnen,

Erhabenheit des genialen Geistes über allgemeine Konvenienz“ (79 f). Innerhalb von Lotzes systematischer Ethikvorlesung vom Sommersemester 1880 (Hermann Lotze, Grundzüge der praktischen Philosophie. Dictate aus den Vorlesungen, Leipzig 1882) ist der skizzierte Schlüsselgedanke Schleiermachers, wiederum ohne dessen Erwähnung, in die Lehre von den „Grundsätzen des Handelns“ (Kap. 2) eingegangen. Handeln im eigentlichen Sinne ist ihr zufolge immer Handeln einer menschlichen ‚Persönlichkeit‘. Persönlichkeit zu sein bzw. zu werden aber ist „nicht so zu verstehen, als wenn die Individualität ausgelöscht werden und jeder dasselbe sein und thun sollte, was der Andere ist und thut. Anstatt gleichartige Normalexemplare des sittlichen Menschen zu sein, soll Jeder vielmehr seine Eigenthümlichkeit so ausbilden, daß er durch sie sittliche Güter und sittliche Schönheit producirt, welche ganz ebenso durch keinen Andern in die Wirklichkeit gebracht werden könnten“ (13 f). Innerhalb des Mikrokosmus kommt die genuin ethische Bedeutung des Individualitätsgedankens vor allem in Kap. V von Buch V zur Geltung („Das Gewissen und die Sittlichkeit“). In diesem Zusammenhang wird von Lotze auch der Begriff des Wertes als zentrale ethische Kategorie eingeführt.  Ich zitiere im Folgenden aus: Hermann Lotze, Mikrokosmus: Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie, Bd. 1, Leipzig 31876 und Bd. 2, Leipzig 31878.  Lotze 1876, 280 (Anm. 79).  Lotze 1876, 283 (Anm. 79).  Lotze 1876, 281 (Anm. 79).  Lotze 1876, 281 (Anm. 79).  Lotze 1876, 283 (Anm. 79).  Lotze 1876, 283 – 284 (Anm. 79).  Lotze 1876, 283.284 (Anm. 79).

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dass vieles von dem konkreten „Bestand unserer individuellsten Persönlichkeit“⁸⁷ nicht von uns selbst hervorgebracht ist, sondern sich wesentlich den „äußeren Umständen“ von Natur und Schicksal verdankt, so verbürgt uns doch jenes Selbstgefühl, „daß in der Mitte aller dieser gesetzlichen Nothwendigkeit ein Punkt der Freiheit wenigstens vorhanden sei, von dem aus unsere Thätigkeit diesen uns dargebotenen Stoff des Daseins zu einem uns allein angehörigen Besitzthum gestalten könne“.⁸⁸ So ist mit dem Ichbewusstsein unauslöschlich der Gedanke an „das wahre und tieffste Wesen unserer Persönlichkeit“⁸⁹ verbunden, das sich vom Gesamtumfang des empirischen Ich abhebt, das aber dennoch einen gewissen Umfang, einen mehr oder weniger gehaltvollen Charakter hat. Es ist – insbesondere hier kommt Lotze der Schleiermacher’schen Konzeption des konkreten Selbst überaus nahe – gleichsam das Zentrum mehr oder weniger eng mit ihm verknüpfter, von ihm in Akten freier „Wahl“⁹⁰ angeeigneter Gehalte. Jahrzehnte vor der Existenzphilosophie von Jaspers oder Heidegger ist damit, in großer Nähe zu Schleiermacher, im Kern die Idee eines sich in seiner gegebenen Lage durch existenzielle Entscheidung selbst wählenden Selbst ausgesprochen. Nun eignet dem Menschen zwar eine gefühlte Gewissheit eigenständiger Individualität und, damit verbunden, ein Sinn für den ureigenen Wert, die ureigene Würde der eigenen Person.⁹¹ Wie Lotze im letzten Kapitel von Band II des Mikrokosmus über „Das innere Leben“ des Menschen ausführt, ist jenes Bewusstsein indes massiven Anfechtungen ausgesetzt. Besagtes Selbstgefühl mag sich „in der stillen Zurückgezogenheit speculativer Betrachtung“ in hohen „Meinungen über unsere eigne menschliche Natur und Bestimmung“ aussprechen.⁹² Jedoch: Es ist ein harter Zusammenstoß, mit dieser Ehrfurcht vor dem Begriffe der Humanität seinen einzelnen Trägern auf der Straße zu begegnen. Wohl finden wir die allgemeinen physischen und geistigen Hülfsmittel, welche dem Menschen zur Erfüllung jener hohen Bestimmung gegeben sind, überall wieder, aber so wenig im Dienste dieser Bestimmung verwendet, daß Menschenliebe im Allgemeinen und Menschenverachtung im Einzelnen zwei nur allzu verträgliche Gefühle werden.⁹³

Die Begegnung von Menschen, die keinerlei Verwirklichung individuellen Geistes an sich erkennen lassen, untergräbt nicht nur die generelle Achtung vor dem Humanen,  Lotze 1876, 284 (Anm. 79).  Lotze 1876, 285 (Anm. 79).  Lotze 1876, 285 (Anm. 79).  Lotze 1876, 285; vgl. 1878, 461 (Anm. 79): Die „endliche Persönlichkeit […] erscheint […] sich gar nicht als ein gleichgültiges vergängliches und bedeutungsloses Element des Weltlaufes, das von diesem geformt und wieder aufgelöst wird, sondern als ein unauflösliches reales Wesen, das mit Wahl und Freiheit auf die verfänglichen Fragen desselben antwortet und im Stande ist, durch seine Wahl ewige Verschuldungen auf sich zu laden.“  Vgl. Lotze 1878, 451– 453 (Anm. 79).  Lotze 1878, 448 – 449 (Anm. 79).  Lotze 1878, 449 (Anm. 79).

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sondern zugleich den Glauben an die generelle Wirklichkeit individuellen Selbstseins – was notwendig auf das eigene Selbstbewusstsein zurückschlägt. Insbesondere in der Erfahrung der Masse verdichten sich derlei Zweifel an der hohen Bestimmung zur Individualität, so sehr sie auch, abgesehen vom unmittelbaren Selbstgefühl, in einer spekulativen Metaphysik vom Menschen oder dem beschaulichen Bild der Urgeschichte der Menschheit beschworen werden mag: Wie schnell verändert sich der Glanz auch dieses Bildes, wenn wir auf das Gewimmel der inzwischen zahllos angewachsenen Menschheit blicken! Wie schwer fällt es unserer Phantasie, in diesem tausendfach gemischten Lärm des prosaischesten Verkehrs noch denselben Eindruck zu bewahren, den so natürlich jene kleine vertraute Gemeinde der Urwelt und die poetische Großartigkeit ihrer einfachen Lebensverhältnisse hervorrief! Gewiß sprechen wir nur ein Allen wohlbekanntes Gefühl aus, wenn wir an die demüthigende und verwirrende Wirkung erinnern, die auf uns der lebendige Anblick der unermeßlichen Menge der Menschen ausübt, in deren Gewühl unsere Persönlichkeit wie verloren zu gehen scheint.⁹⁴

Je mehr das Wissen um das massenhafte Vorhandensein von Menschen „unmittelbar dem Bewußtsein gegenwärtig wird, um so zaghafter wird der Mensch über den Werth seines eignen Daseins zu denken beginnen, und der Glaube, nichts Anderes, als eine der vergänglichen Erscheinungen zu sein, die eine ewige, in Schaffen und Wiedervernichten schwelgende Urkraft zwecklos hervorbringt und wieder verschwinden läßt, wird sich allmählig des Gemüthes bemächtigen.“⁹⁵ Wesentlich befördert und befestigt werden solche Nivellierungserfahrungen durch die Ausbreitung naturalistischer bzw. „materialistischer Meinungen“ über das Menschsein, welche „der individuellen Persönlichkeit als einem sterblichen und hinfälligen Scheine“ zwangsläufig nur einen äußerst „geringen Werth“ beimessen.⁹⁶ Solchermaßen durch eine wissenschaftliche Weltanschauung fundiert konnte das „Gefühl der eignen Niedrigkeit und Gewöhnlichkeit“⁹⁷ nach Lotze geradewegs zur „Grundstimmung“⁹⁸ des Zeitalters werden. Allerdings wird die fast allgemein gewordene Ansicht vom „Verschwinden des persönlichen Daseins in den Schooß der allgemeinen Natur“⁹⁹ umgekehrt konterkariert durch jenes „unüberwindliche“ Selbstgefühl, das „unmittelbare Gefühl unserer persönlichen Realität“¹⁰⁰ mit ihrem „räthselhaften Funken von Selbständigkeit“¹⁰¹. Es kommt gleichsam zu einer Pattsituation im Selbstbewusstsein, zu einer dauernden Spannung gegenläufiger Vorstellungen über „unser eignes Selbst“¹⁰²,

 Lotze 1878, 450 – 451 (Anm. 79).  Lotze 1878, 451 (Anm. 79).  Lotze 1878, 453 (Anm. 79).  Lotze 1878, 452 (Anm. 79).  Lotze 1878, 452 (Anm. 79).  Lotze 1878, 456 (Anm. 79).  Lotze 1878, 456 (Anm. 79).  Lotze 1878, 455 (Anm. 79).  Lotze 1878, 456 (Anm. 79).

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mit denen wir uns durch das Leben schlagen; unsere Reflexionen werden nie der Ahnungen eines Uebersinnlichen ganz ledig. Sie sind anderseits eben so wenig im Stande, diese Ahnungen anders als durch einen gewaltsamen Entschluß des Glaubens zu unbestrittener Geltung zu erhöhen; der natürliche Zustand der Menschheit ist das Schwanken zwischen dem Bewußtsein eines ewigen Weltberufes und der immer wieder aufquellenden Angst, gleichgültiges und aussichtsloses Erzeugniß des allgemeinen Naturlaufes zu sein, beide Gefühle gemildert [sc. nur; M.F.] durch den Leichtsinn der Gedankenlosigkeit.¹⁰³

Mit dieser Diagnose vom unauflöslichen „Zwiespalt“¹⁰⁴ im inneren Leben des (modernen) Menschen lässt Lotze den zweiten Band seines Mikrokosmus enden, nicht ohne selbigen Zwiespalt als den Grundimpuls des Gesamtprojektes seiner „Anthropologie“ zu erkennen zu geben.¹⁰⁵ In Form eines Ausblicks wird freilich auch noch eine „dritte Form des Lebensgefühls“¹⁰⁶ ins Auge gefasst, in der jene Zwiespältigkeit zwar nicht aufgelöst, aber immerhin befriedet ist. Lotze nennt sie „Religiosität“¹⁰⁷. „Aber“, so fügt er hinzu, „es sind in der That nur Augenblicke, in denen dieser Friede des Lebensgefühls in uns zur Wirklichkeit kommt.“¹⁰⁸ Wie für Schleiermacher so ist für Lotze das Bewusstsein, ein eigenständiges individuelles Selbst zu sein, ein uneinholbares Faktum konkreter Subjektivität. Und was sich bei Schleiermacher nurmehr andeutet, wird bei Lotze – noch vor und deutlicher als bei Dilthey – als fundamentales Lebensproblem herausgekehrt: dass dieses Individualitätsbewusstsein, Kern allen inneren wie äußeren Lebens und Basis alles Bedeutungs- und Werterlebens,¹⁰⁹ unter den sozialen und wissenschaftlichen Bedingungen der Moderne wankend und haltlos zu werden droht, mit fatalen Folgen für das Leben der Seele. – Diese Diagnose hat sich einer der bedeutendsten protestantischen Theologen des Wilhelminischen Deutschland zu eigen gemacht.

 Lotze 1878, 457 (Anm. 79). Mit „Gedankenlosigkeit“ meint Lotze die von ihm zuvor erwähnte „leichtsinnige Vergeßlichkeit, mit welcher die menschliche Seele gar verschiedene Gedankenkreise, einen nicht wissend vom andern, nebeneinander beherbergt, und die uns befähigt, mit dem Hinterhalt einer so geringen Meinung von dem Werthe unsers ganzen Lebens gleichwohl uns voll und ganz der vergänglichen Lust einzelner Momente hinzugeben“ (453).  Lotze 1878, 462 (Anm. 79).  Vgl. Lotze 1878, 462 (Anm. 79): „… ist es doch dieser Zwiespalt gewesen, aus dessen lebhafter Empfindung unser ganzer Versuch hervorging, Klarheit zu gewinnen über die Stellung und Bestimmung des Menschen“.  Lotze 1878, 461 (Anm. 79).  Lotze 1878, 461 (Anm. 79).  Lotze 1878, 462 (Anm. 79). Vgl. auch Hermann Lotze, Grundzüge der Religionsphilosophie. Dictate aus den Vorlesungen, Leipzig 1882, §§ 89. 91. Demnach ist es eines der drei notwendigen Elemente religiöser Welt- und Lebensauffassung, „die einzelnen endlichen Geister nicht als Naturproducte, sondern als Kinder Gottes“ (92) anzusehen. Darin liegt zum einen die „Anerkennung der Endlichkeit“ und die Ablehnung jeder (unter modernen Bedingungen ohnehin haltlosen) metaphysischen Überhöhung des menschlichen Personseins; zum anderen „der ebenso lebhafte Gegensatz gegen die Geringschätzung der Persönlichkeit, welche in ihr blos ein vorübergehendes Product des Naturlaufs sieht“ (94). Religion ist notwendig Glaube an die unbeweisbare Selbständigkeit des eigenen Selbst.  Vgl. dazu Lotze 1878, 306 – 340 (Anm. 79).

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4 Die Fraglichkeit des Selbstseins beim späten Wilhelm Herrmann Hermann Lotze war für Wilhelm Herrmann (1846 – 1922) wie für dessen Lehrer Albrecht Ritschl¹¹⁰ der große Held der Gegenwartsphilosophie: Retter idealistischer Lebensansicht in nachidealistischer Zeit. Im April 1877 schreibt Ritschl an Herrmann über den Jenenser Theologen-Kollegen Richard A. Lipsius: „Der Mann […] ist von Hause aus veraltet, und hat kein Recht, sich als das wissenschaftliche Haupt der Gegenwart aufzuspielen, da er keine Ahnung von Lotze hat.“¹¹¹ Der große Held der vergangenen Philosophie ist wie für Ritschl so für Herrmann natürlich Kant, der freilich unter anderem von Lotze her interpretiert¹¹² – und mit Schleiermacher (und Lotze) kritisiert wird. Schon als Student bezieht sich Herrmann in zwei Kant-Preisschriften von 1868 und 1870 zustimmend auf Schleiermachers (und Lotzes)¹¹³ Kritik am Individualitätsdefizit der kantischen Ethik,¹¹⁴ und er tut dies unter Berufung auf Diltheys Leben Schleiermachers. ¹¹⁵ Dass Herrmann in diesem Zusammenhang neben den von ihm zitierten Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803)¹¹⁶ Schleiermachers auch dessen Monologen rezipiert hat, ist anzunehmen.¹¹⁷ Insgesamt kann man jedenfalls sagen, dass die bisher nachgezeichnete Linie der Schleiermacher-Rezeption für das Herrmann’sche Denken in gewisser Weise die Ausgangskonstellation darstellt.¹¹⁸  Siehe dazu Matthias Neugebauer, Lotze und Ritschl. Reich-Gottes-Theologie zwischen nachidealistischer Philosophie und neuzeitlichem Positivismus, Frankfurt a.M. / New York 2002.  Albrecht Ritschl / Wilhelm Herrmann, Briefwechsel 1875 – 1889, hg.v. Christophe Chalamet u. a., Tübingen 2013, 111.  Vgl. Rainer Mogk, Die Allgemeingultigkeitsbegrundung des christlichen Glaubens. Wilhelm Herrmanns Kant-Rezeption in Auseinandersetzung mit den Marburger Naukantianern, Berlin / New York 2000, 53 – 56.82– 86.100 – 101.121.  Vgl. Mogk 2000, 126 – 127.129 (Anm. 112).  Vgl. Mogk 2000, 122 – 132 (Anm. 112).  Vgl. Mogk 2000, 65 – 67.114.117.129.131 (Anm. 112); vgl. zum möglichen Einfluss des Buches, das in erster Lieferung 1867, in zweiter Lieferung 1870 erschien, auf Herrmanns Kant-Interpretation auch 102. 104.  Vgl. Mogk 2000, 113 – 114.129.136.236 (Anm. 112).  Hermann zitiert in der Preisschrift von 1870 unmittelbar aus Diltheys Darstellung der Monologen (nämlich eine Stelle aus Dilthey 1970, 469 [Anm. 12]; vgl. Mogk 2000, 131 [Anm. 112]); und er bezieht sich in seiner Examensarbeit von 1871 zum Glaubensbegriff bei Paulus und Kant neben Schleiermachers Grundlinien auf die der ersten Auflage von Diltheys Leben Schleiermachers angehängten Denkmale der innern Entwickelung Schleiermachers (vgl. Mogk 2000, 136 [Anm. 112]), die auch Auszüge aus den Monologen enthalten. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass er bei diesen intensiven Studien die Monologen nicht (wenigstens in diesen Auszügen) herangezogen haben sollte.  Es ist die Schwäche der hochinstruktiven Arbeit von Mogk, dass sie die mit dieser Konstellation angesprochene Sachproblematik, die Fraglichkeit des fundamentalen Selbst-Bewusstseins, nicht plastisch herausarbeitet. Dies liegt auch daran, dass die entsprechenden Bezüge zu Schleiermacher, Lotze und Dilthey sachlich nicht ausreichend konkretisiert werden.

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Schon Herrmanns Religionsschrift von 1879¹¹⁹ setzt systematisch mit der von Lotze herausgestellten Instabilität der gefühlten Realität des eigenen Selbst ein: Seine Stabilisierung gilt Herrmann von Anfang an als ethisch-religiöses Schlüsselproblem. Ansonsten verläuft die Argumentation noch recht „kantisch“. Die gefühlte Einheit des Selbst kann das Subjekt nur stabilisieren, indem es sich zum Sittengesetz erhebt und „Persönlichkeit“ wird. Die Orientierung am Sittengesetz aber erfordert den Glauben an einen göttlichen Garanten eines ihm entsprechenden Weltlaufs.¹²⁰ In einer zweiten Entwicklungsstufe, greifbar etwa ab der Mitte der 1880er-Jahre, rückt dann die Unfähigkeit des Einzelnen zum Tun des Guten und die Ertüchtigung durch die Kraft Jesu ins Zentrum von Herrmanns Religionstheorie.¹²¹ Was hier eigentlich interessiert, ist deren dritte und letzte Entwicklungsstufe,¹²² die etwa ab 1905 anzusetzen ist, dokumentiert z. B. in der vierten und fünften Auflage der Herrmann’schen Ethik (1909 und 1913),¹²³ besonders gut greifbar indes in den Schriften zur Auseinandersetzung mit den Vertretern des Marburger Neukantianismus, Hermann Cohen und Paul Natorp, von 1907 und 1909.¹²⁴ Immer noch dreht sich Herrmanns Denken um das Problem der Vergewisserung über die Realität des Selbstseins: Wie kann sich das Bewusstsein eines eigenen „inneren Lebens“¹²⁵, angesichts des Mechanismus der physischen und psychischen Natur und angesichts des Vielerlei seiner zufälligen Lebensgehalte vor dem „Verdacht“ behaupten, bloße „Illusion“ zu sein?¹²⁶ Diese Frage nach der „Wahrheit“ der „Vorstellung eines eigenen Lebens“, eines „eigenen Selbst“,¹²⁷ ist für Herrmann die „intimste Angelegenheit des menschlichen Individuums“¹²⁸. Dabei sieht er selbiges Individuum in einer unvermeidlichen Spannung zwischen dem unmittelbaren „Selbstgefühl“¹²⁹ und dem Fraglichwerden des Selbst, welche direkt an Lotzes Beschreibung des „Zwiespalts“ im „inneren Leben“ des Menschen denken lässt, wobei Herrmann vornehmlich die dro-

 Wilhelm Herrmann, Die Religion im Verhältniss zum Welterkennen und zur Sittlichkeit. Eine Grundlegung der systematischen Theologie, Halle/S. 1879.  Vgl. dazu Mogk 2000, 161– 292 (Anm. 112).  Vgl. Mogk 2000, 293 – 344 (Anm. 112); vgl. zum Ganzen auch die grundlegende Darstellung von Joachim Weinhardt, Wilhelm Herrmanns Stellung in der Ritschlschen Schule, Tübingen 1996, wo allerdings die religionstheoretischen Werkphasen bei Herrmann noch nicht völlig trennscharf voneinander geschieden werden.  Vgl. zum Folgenden Mogk 2000, 345 – 418 (Anm. 112); Fritz 2016, 201– 206 (Anm. 67).  Wilhelm Herrmann, Ethik, Tübingen 41909; Ethik, Tübingen 51913.  Wilhelm Herrmann [1907], Hermann Cohens Ethik, in: ders., Schriften zur Grundlegung der Theologie II, hg.v. Peter Fischer-Appelt, München 1967, 88 – 113; ders. [1909], Die Auffassung der Religion in Cohens und Natorps Ethik, in: Ders., Schriften zur Grundlegung der Theologie II, hg.v. Peter FischerAppelt, München 1967, 206 – 232.  Herrmann 1967, Cohens und Natorps Ethik, 229 u.ö (Anm. 124).  Herrmann 1967, Cohens Ethik, 100. 107 (Anm. 124).  Herrmann 1967, Cohens und Natorps Ethik, 217 (Anm. 124).  Herrmann 1967, Cohens und Natorps Ethik, 215 (Anm. 124).  Herrmann 1967, Cohens Ethik, 100 (Anm. 124).

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hende „Zerstreuung“¹³⁰ durch die Erfahrungsmannigfaltigkeit in den Vordergrund rückt: Der unerschöpfliche Inhalt, der uns geschenkt wird, droht uns uns selbst zu entfremden. Wir scheinen dann nicht mehr ein eigenes Leben zu haben; denn, was wir unser Selbst nennen, wird zum Schauplatz von Vorgängen, die wir nicht schaffen, sondern erleiden. Trotzdem bleibt die Vorstellung eines eigenen Lebens bestehen; die, die solches leiden, sind wir selbst; die Unvertilgbarkeit und die beständige Bedrohung des Selbst bilden die Pole, zwischen denen sich die menschliche Existenz, wie wir sie erleben, bewegt. In demselben Moment, wo wir sehr energisch ein Selbst zu betätigen meinen, entsteht der Eindruck, daß wir in dem Begehren und Bekämpfen der Dinge in fremden Gewalten sind. Wenn wir in dieser Stellung zu dem, was unserem Leben seinen besonderen Inhalt gibt, verbleiben, so wird uns dieses Leben zu einem rätselhaften Schein. Wir können es nicht aufgeben, aber auch nicht festhalten.¹³¹

In dem beschriebenen Zwiespalt zwischen „unvertilgbarer“ Selbst-Vorstellung und drohendem Selbst-Verlust durch Zerstreuung und Entfremdung steht das elementarste Selbstbewusstsein und damit die elementarste „Lebenszuversicht“¹³² des Individuums auf dem Spiel, sofern sich alle bedeutsamen Lebensgehalte überhaupt nur im Bezug zu jenem angefochtenen Selbst konstituieren. Die Frage nach der Realität des Selbst ist daher in der Tat die innerste Lebensfrage des Menschen. Bricht sie aber in der „Selbstbesinnung“¹³³ auf, ist nach Herrmann der wesentliche Schritt in Richtung Religion getan.¹³⁴ Denn nur dort kann eine befreiende Antwort auf jene „Grundfrage unserer individuellen Existenz“¹³⁵ vernommen werden, kann unser Selbst seiner selbst versichert werden. Somit gilt: „Das Erwachen des Individuums zu einem für es selbst begründeten Bewußtsein eines […] eigenen Lebens ist die Religion.“¹³⁶ Oder kürzer: Religion ist „Beseelung des Menschen“.¹³⁷ Religion vollzieht sich authentisch also allein vom „Standpunkt des individuellen Lebens“¹³⁸ aus. Damit ist die frühere Lösung, sich seiner Eigenständigkeit gegenüber dem Naturlauf und gegenüber den mannigfaltigen Erlebnissen durch die Erhebung zum Sittengesetz zu vergewissern, obsolet. Denn dabei wird ja, wie Herrmann nun in Konvergenz mit der Dilthey-Schleiermacher’schen Kant-Kritik gegenüber den Marburger Neukantianern vorbringt, die Individualität des Selbst, die es zu behaupten

 Herrmann 1967, Cohens und Natorps Ethik, 231 (Anm. 124).  Herrmann 1967, Cohens und Natorps Ethik, 230 – 231 (Anm. 124).  Herrmann 1967, Cohens und Natorps Ethik, 229. 231 u.ö (Anm. 124).  Herrmann 1967, Cohens und Natorps Ethik, 215 (Anm. 124).  Herrmann spricht terminologisch vom „Weg zur Religion“ (z. B. Herrmann 1967, Cohens und Natorps Ethik, 216 [Anm. 124]; Herrmann 1909, § 18 [Anm. 123]; der Paragraph ist in der vierten Auflage neu eingefügt).  Herrmann 1967, Cohens und Natorps Ethik, 231 (Anm. 124).  Herrmann 1967, Cohens und Natorps Ethik, 228 – 229 (Hervorhebung M.F.; Anm. 124).  Herrmann 1967, Cohens und Natorps Ethik, 219 (Anm. 124).  Herrmann 1967, Cohens und Natorps Ethik, 214 (Hervorhebung M.F.; Anm. 124).

Realisierung des eigenen Selbst

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gilt, gerade verleugnet.¹³⁹ Die Befreiung vom fraglichen Illusionsverdacht könnte nur in einem individuellen Erleben gefunden werden, worin dem Ich ein ureigener Lebensinhalt zum Bewusstsein käme, in dem es sich gleichsam innerlich sammeln und seiner selbst gewiss werden könnte.¹⁴⁰ Dazu müssten wir darin einer Wirklichkeit begegnen, der „wir selbst uns rückhaltlos hingeben“¹⁴¹ könnten, um damit einen unbedingt verpflichtenden, aber selbstgewählten Lebensinhalt zu gewinnen. Und eine solche Wirklichkeit begegnet uns nach Herrmann im „inneren Leben“ Jesu. Wie Lotze geht Herrmann davon aus, dass der innere Zweifel an der eigenen Selbständigkeit, der in den Zerstreuungen des Lebens erwacht und von der mechanistischen Weltsicht sowie insbesondere von der empirischen „Psychologie ohne Seele“¹⁴² genährt wird, nur auf religiösem Wege überwunden werden kann. Ähnlich wie bei Dilthey wird die von Schleiermacher klassisch dargestellte Besinnung des Subjekts auf das unbegreifliche Faktum des individuellen Selbst-Seins unter den verschärften weltanschaulichen Bedingungen des späten 19. Jahrhunderts bei Lotze und Herrmann zum Schlüsselthema, von dem her das Religiöse fundamentale existenzielle Plausibilität und Relevanz erhält (und demgegenüber etwa die überkommene Frage nach der Sünde in die zweite Reihe rückt). Aber anders als bei Lotze wird die fragliche Religiosität nach Herrmann durch ein Erlebnis begründet, worin das neutestamentliche Bild der Person Jesu zur Wirkung kommt. An diesem Bild allein ist laut Herrmann jene Selbstgewissheit und „Beseelung“ zu finden, die uns die basale Zuversicht zurückgibt, in unserer fundamentalen Ich-Perspektive auf das Leben nicht einer großen Täuschung zu unterliegen.¹⁴³

 Vgl. z. B. Herrmann 1909, 88 (Anm. 123): „Das ist die religiöse Frage, die nur den Einzelnen etwas angeht und deshalb nicht aus allgemeingültigen Gedanken, sondern nur aus dem, was dem Einzelnen gehört, oder aus dem Individuellen ihre Antwort gewinnen kann. – Wir dürfen nicht nach einem Allgemeingültigen fragen, woraus uns diese bei der Unterwerfung unter die sittliche Aufgabe immer schon vorausgesetzte Selbständigkeit des menschlichen Individuums verständlich wird. Denn was an diesem Individuum allgemeingültig ist, ist entweder Natur oder sittliche Aufgabe. Mit der nachweisbaren Gesetzmäßigkeit der Natur und dem nachweisbaren Ziel eines wahrhaftigen Wollens ist aber die uns anschauliche Wirklichkeit des Menschen […] noch nicht vollständig bezeichnet. Es gehört dazu noch das, was jeder für sich selbst erlebt.“ Deutlicher noch heißt es in der fünften Auflage der Ethik, 92: „Was an dem Menschen wissenschaftlich faßbar oder allgemeingültig ist, ist entweder Natur oder sittliche Aufgabe, und die Erkenntnis unserer sittlichen Verpflichtung sowohl wie die Erkenntnis unserer Naturbestimmtheit löst den Gedanken eines eigenen Lebens in uns auf“ (Hervorhebung M.F.).  Vgl. Herrmann 1909, 88 – 89 und Herrmann 1913, 92 (Anm. 123): „Die Vorstellung eines eigenen Lebens wäre inhaltlos, wenn darin nicht ein Lebensinhalt zum Bewusstsein käme, von dem wir keinem andern Rechenschaft geben könnten als uns selbst. In einem solchen Lebensinhalt, der dem einzelnen Menschen für sich gehört, oder sein individuelles Erlebnis ist, muß das Recht der Vorstellung eines eigenen Lebens gefunden werden können, wenn es überhaupt zu finden ist.“  Herrmann 1967, Cohens und Natorps Ethik, 231 (Anm. 124).  Herrmann 1879, 42 (Anm. 119).  Obgleich in der Beschreibung der ethisch-religiösen Ausgangsfrage mit seinem Lehrer im Wesentlichen einig, wird schon dem Herrmann-Schüler Rudolf Bultmann diese geistchristologische Konstruktion nicht mehr einleuchten. Vgl. dazu Fritz 2016, 206 – 213 (Anm. 67).

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5 Historischer Ausblick und systematischer Schluss Mit Wilhelm Herrmanns Programm einer Religionstheologie vom „Standpunkt des individuellen Lebens“ aus hat sich der Kreis geschlossen: Den Zusammenhang von Individualitätsbewusstsein und religiösem Erleben hatte ja in klassischer, wenn auch abweichender Weise Schleiermacher in seinen Zwillingsschriften der Jahrhundertwendejahre 1799 und 1800 hergestellt, auf den sich Herrmann dafür auch ausdrücklich beruft.¹⁴⁴ Der junge Autor der Reden und der Monologen erweist sich als Begründer einer Linie moderner Konzeptionen protestantischer (oder protestantisch geprägter) Individualitätsreligion. Diese Linie ließe sich auch noch weiterverfolgen (und es wäre philosophie- und theologiegeschichtlich äußerst aufschlussreich und reizvoll, dies zu tun). Zuerst wäre hier an Georg Simmel zu denken, der in Berufung auf Schleiermacher eine Ethik des „individuellen Gesetzes“ propagiert, wobei er die Konfrontation des Ich mit dem Ideal seiner selbst mit der religiösen Sehnsucht nach dem „Heil der Seele“ in Verbindung bringt.¹⁴⁵ Nach dem Ersten Weltkrieg wandelt sich die Frage nach dem inneren Leben und Gehalt des eigenen Selbst, nicht zuletzt unter Einfluss Søren Kierkegaards, zur Frage nach der „konkreten Existenz“ des Selbst – wobei sachlich viele Kontinuitäten bleiben. In Karl Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen von 1919, gleichsam die Gründungsurkunde der deutschen Existenzphilosophie, wird nicht zufällig Diltheys Schleiermacher als Vorbild genannt.¹⁴⁶ Von Kierkegaard und Nietzsche heißt es da: „Es kommt ihnen auf das Leben der gegenwärtigen Individualität, auf die ‚Existenz‘ an. In

 Vgl. über das oben Gesagte hinaus zum insgesamt ambivalenten Verhältnis Herrmanns zu Schleiermacher: Martin Evang, „Rudolf Bultmanns Berufung auf Friedrich Schleiermacher vor und um 1920“, in: Rudolf Bultmanns Werk und Wirkung, hg.v. Bernd Jaspert, Darmstadt 1984, 3 – 24, hier 7– 10; Weinhardt 1996, 205 – 206.241– 242 (Anm. 121).  Vgl. vor allem Georg Simmel [1902], Das Heil der Seele, GSG 7, hg.v. Rüdiger Kramme u. a., Frankfurt a.M. 1995, 109 – 115; ders. [1913], Das individuelle Gesetz. Ein Versuch über das Prinzip der Ethik [1918], GSG 12, hg.v. Klaus Latzel, Frankfurt a.M. 2001, 417– 470; ders., Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, GSG 16, hg.v. Georg Fitzi / Otthein Rammstedt, Frankfurt a.M. 1999, 209 – 425. Einen Überblick über die fraglichen Zusammenhänge gibt: Friedemann Voigt, „Das individuelle Gesetz und das Heil der Seele. Eine Erinnerung an die Ethik Georg Simmels“, in: Dogmatik im Diskurs. Mit Dietrich Korsch im Gespräch, hg.v. Cornelia Richter u. a., Leipzig 2014, 193 – 204. Schleiermacher ist neben Goethe und Nietzsche Simmels Hauptgewährsmann für einen ethischen Individualismus („germanischer“ Art); vgl. Johannes Schwerdtfeger, Das Individualitätskonzept Georg Simmels, Heidelberg 1999, 62: „Schleiermacher ist für Simmel vornehmlich einer der Kronzeugen für seine Bestimmung des Individualitätsbegriffs.“ Siehe z. B. Georg Simmel [1901], Die beiden Formen des Individualismus, GSG 7, hg.v. Rüdiger Kramme u. a., Frankfurt a.M. 1995, 49 – 56, hier 52– 53; Ders. [1913], Das individuelle Gesetz. Ein Versuch über das Prinzip der Ethik, GSG 12, hg.v. Klaus Latzel, Frankfurt a.M. 2001, 417– 470, hier 464; Ders. [1917], Individualismus, GSG 13, hg.v. Klaus Latzel, Frankfurt a.M. 2000, 299 – 306, hier 301; Ders. [1917], Grundfragen der Soziologie, GSG 16, 59 – 149, hier 145. Ein unmittelbarer Reflex von Simmels Individualitätsethik findet sich in dem Essay des Simmel-Schülers Herman Schmalenbach, „Individualität und Individualismus“, Kant-Studien 24 (1920), 365 – 388.  Karl Jaspers [1919], Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 31925, 12.

Realisierung des eigenen Selbst

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grenzenloser Selbstreflexion prüfen sie jede Stellung, die sie in ihrem Innern erringen, erfassen die Problematik des Ich, die Dialektik des subjektiven Daseins. Dabei wird ihnen ganz von selbst die Frage der Echtheit des seelischen Lebens und Daseins zum Problem.“¹⁴⁷ Die Schleiermacher-, Lotze- und Herrmann-Assoziationen drängen sich angesichts solcher Sätze förmlich auf. Weiter ist die Rede von der „Eigentlichkeit“ und „Entschlossenheit“ des Daseins in Martin Heideggers Sein und Zeit (1927) selbigen problemgeschichtlichen Zusammenhängen zuzurechnen.¹⁴⁸ Und theologischerseits sind Rudolf Bultmann und Paul Tillich zu nennen, die, unter dem Einfluss Diltheys und Herrmanns sowie des Dilthey- und Herrmann-Verehrers Heidegger, zur selben Zeit (1925) am selben Ort (in Marburg) eine Religion der „konkreten Existenz“ ins Auge fassen.¹⁴⁹ Noch Tillichs Lehre von den Grundkräften individuellen Lebens in Band III der Systematischen Theologie ist als ein Nachhall dieser existenzphilosophischen Thematisierung des Individuums zu lesen.¹⁵⁰ Zieht man die angedeuteten Rezeptionsbeziehungen in Betracht, dann repräsentieren die in diesem Beitrag traktierten Autoren die Vorgeschichte jener „Tendenz zu emphatischer Exposition des Individuums“¹⁵¹, die als eines der zentralen Kennzeichen der „antihistoristischen Revolution“ nach dem Ersten Weltkrieg identifiziert worden ist.¹⁵² Allerdings wird im Lichte jener Vorgeschichte auch deutlich, dass die

 Jaspers 1925, 13 (Anm. 146).  Die Bezüge der Heidegger’schen „Daseinsanalytik“ zu der hier nachgezeichneten individualitätsethischen Traditionslinie sind m.W. noch nicht eingehender dargestellt worden. Im einschlägigen Handbuch etwa wird ein Einfluss Schleiermachers auf Heidegger nur an drei Stellen sichtbar: einmal in einer summarischen Aufzählung (Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg.v. Dieter Thomä, Stuttgart 22013, 36), einmal mit Bezug auf Schleiermachers Hermeneutik (44) und einmal in der übersichtsartigen Chronik zu Heideggers Leben und Werk (545: „Seminar über das Problem des Religiösen bei Schleiermacher“ im Jahre 1917). Lotze wird nur im Hinblick auf Logik (6, 41) und Werttheorie (15) erwähnt. Der Name Wilhelm Herrmann fehlt ganz.  Rudolf Bultmann [1925], „Das Problem einer theologischen Exegese des Neuen Testaments“, in: Anfänge der dialektischen Theologie II, hg.v. Jürgen Moltmann, München 1967, 47– 72, hier 57; Ders. [1925], Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, in: Ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 1954, 26 – 37, 28.30.31; Paul Tillich, Dogmatik-Vorlesung Dresden 1925 – 1927, EN XIV, Berlin / New York 2005: Im Prolegomena-Teil der Vorlesung, die Tillich im Sommersemester 1925 in Marburg und Dresden gehalten hat, ist die Rede „von unserm schlechthin Individuellen, unsrer konkreten Existenz“ (22).Vgl. dazu Fritz 2016, Kap. II.B.3, bes. 249 – 287 (Anm. 67).  Siehe Paul Tillich [1963], Systematische Theologie. Bd. 3, Berlin / New York 41987, Teil IV./Kap. I.B.  Kurt Nowak, „Die ‚antihistoristische Revolution‘. Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg“, in: Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs, hg.v. Friedrich W. Graf / Horst Renz, Gütersloh 1987, 133 – 171, hier 139.  Herrmanns große Prominenz innerhalb der Theologie des wilhelminischen Deutschland war vermutlich ein bedeutsamer Faktor für die entsprechenden Bewegungen innerhalb der protestantischen Theologie; vgl. Friedrich W. Graf, „Die ‚antihistoristische Revolution‘ in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre“, in: Ders., Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2010, 111– 137; „Rettung der Persönlichkeit. Protestantische Theologie als Kulturwissenschaft des Christentums“, in: Kultur und Kulturwissen-

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fragliche Tendenz zur Neuakzentuierung des Individuums nicht allein auf bestimmte irrationale und antiwissenschaftliche Zeitgeistaffekte zurückgeführt werden kann. Offenbar kommen darin vielmehr in neuer Weise fundamentale philosophische und nicht zuletzt religionsphilosophische Anliegen zum Austrag, was gerade die theologische und philosophische Anknüpfung an die einschlägigen Grundmotive bei Lotze, Dilthey und Herrmann nach dem Ersten Weltkrieg bezeugt. Ihren Ausgang nimmt die dargestellte Vorgeschichte wiederum bei der romantischen Neuentdeckung der Individualität, als deren philosophisch-theologischer Klassiker Schleiermacher anzusehen ist. Lotze, Dilthey und Herrmann bilden demzufolge, neben und in Verbindung mit (dem hier beiseitegelassenen) Kierkegaard,¹⁵³ in individualitätstheoretischer Hinsicht eine Art Scharnier zwischen Romantik und Existenzphilosophie (respektive -theologie). Das Existenzdenken entpuppt sich im Kern als verdeckte Neukonjunktur der romantischen Individualitätsidee. Das alte Anliegen aber, das in dieser Konjunktur neu zur Geltung gebracht wird, ist eben die Berücksichtigung einer konstitutiven Individualitätsdimension innerhalb der menschlichen Subjektivität, von der in philosophischer Ethik und Religionsphilosophie allzu leicht abstrahiert wird. Eine Theorie der Sittlichkeit und der Religion, die dem „wirklichen Menschen“ (Dilthey) gerecht werden will – so haben Philosophie und Theologie immer wieder von Schleiermacher gelernt und haben es bis heute immer wieder von ihm zu lernen –, muss bei der konkreten Subjektivität ansetzen, der es in ihrem Sein „um“ ihr je individuelles Selbstsein „geht“ (Heidegger).¹⁵⁴ Denn nur sofern darin das zu gewinnende und zu verlierende Selbst betroffen ist, berührt die Sittlichkeit die innersten Motive des je eigenen Lebens; und nur sofern darin die Substanz dieses unseres individuellen Lebens auf dem Spiel steht, begegnet in der Religion „das, was uns unbedingt angeht“ (Tillich).¹⁵⁵ Der Protestantismus ist Individualitätsreligion. Im Rückblick auf den rezeptionsgeschichtlichen Durchgang will ich zu guter Letzt noch drei thesenartige Schlussfolgerungen zu diesem Stichwort formulieren: 1. Im Lichte ihrer Wirkungsgeschichte rückt das essentielle religiöse Moment von Schleiermachers Individualitätsidee deutlich in den Blick. Die Monologen sind

schaften um 1900. Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft, hg.v. Friedrich W. Graf u. a., Stuttgart 1989, 103 – 131.  Es ist eine m.W. bislang unbeantwortete Frage für sich, in welchem Ausmaß Schleiermachers Individualitätsidee auch für die Kierkegaard’sche Existenzkonzeption Pate gestanden hat. Sie wird in der primär an der genuinen Religionskonzeption ausgerichteten Arbeit von Andreas Krichbaum, Kierkegaard und Schleiermacher. Eine historisch-systematische Studie zum Religionsbegriff. Kierkegaard studies. Monograph series 18, Berlin/New York 2008, nicht behandelt.  Vgl. die berühmte Formel aus Martin Heidegger [1927], Sein und Zeit, Tübingen 171993, 12, wonach das Dasein „dadurch ontisch ausgezeichnet [ist], daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht“.  Vgl. zum Zusammenhang der berühmten Tillich’schen Religionsformel mit der Individualitätsthematik Fritz 2016, Teil II, bes. Kap. B (Anm. 67).

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von daher nicht nur als „Manifest einer Ethik der Individualität“ zu lesen, sondern auch als „Manifest einer Religionstheorie der konkreten Subjektivität“. Eine subjektivitätstheoretisch angelegte Religions- und Christentumstheorie muss der konkreten Subjektivität und ihrer Individualitätsdimension gerecht werden. Das menschliche Streben nach Bewahrung und Erfüllung des je eigenen Selbstseins ist der tiefste Punkt der religiösen Ansprechbarkeit des Menschen. Unter den Bedingungen eines dominanten naturwissenschaftlichen Weltbildes droht dem Subjekt eine dauernde Schizophrenie im Selbstverhältnis: Das unmittelbare Erleben wurzelt im Gefühl eigenen Selbstseins, die naturwissenschaftlich gelenkte Selbstdeutung aber entlarvt dieses Selbst-Bewusstsein als Vorspiegelung des Gehirns.¹⁵⁶ Zu den Grundmomenten der Religion in der Moderne gehört das Gewisswerden des eigenen Selbst, der Glaube an die eigene Seele.¹⁵⁷

„Was hilfft dichs / dz gott / gott ist / wan er dier nit eyn gott ist?“, hat Luther gefragt. „Und wie soll Gott dir ein Gott sein, wenn du ohne Selbst und Seele bist?“, so werden wir heute weiter fragen. Unter modernen Bedingungen gilt: Kein Gottesverhältnis ohne Beseelungserlebnis.

 Vgl. zur Präsenz derartiger Selbstauslegungen des Menschseins in der populären Weltanschauungsphilosophie der Gegenwart als zufällig aufgelesenes Beispiel: Michael Schmidt-Salomon, Hoffnung Mensch. Eine bessere Welt ist möglich, München 2015: Dem dort propagierten „Monismus“ zufolge „ist das ‚Ich‘, das uns so ungeheuer wichtig erscheint, bloß ein virtuelles Theaterstück, das von einem blumenkohlförmigen Organ in unseren Köpfen inszeniert wird. Diese Inszenierung ist so überzeugend, da sie sich im Verlauf der Evolution als nützliches Instrument für das Überleben des Individuums in komplexen Gruppen erwiesen hat“ (321).  In einem Seminargespräch über Kunst und Religion meldete sich vor Jahren eine Studentin zu Wort: „Das Erlebnis des Erhabenen ist, wenn ich eine Musik höre und auf einmal spüre, dass ich eine Seele habe.“ Solche Momente der Andacht und inneren Sammlung sind wesentliches Element moderner Individualitätsreligion. – Vgl. zur Relevanz des Seelenbegriffs zur Artikulation der fraglichen Subjektivitätsdimension: Roderich Barth, Seele nach der Aufklärung. Studien zu Herder und Harnack, Tübingen 2018 (in Vorbereitung).

Anne-Maren Richter / Hamburg

Das Paradigma des Physisch-Organischen bei Friedrich Schleiermacher Stichproben vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Ausdifferenzierung im Begriff organisierter Wesen der Natur und Kultur auf der Basis einer „Technick der Urteilskraft“ Wenn nun das πνεῦμα das einzige Agens ist: so ist ihm doch der νοῦς, der Organismus der Intelligenz, viel näher, als der mehr sinnlich psychische Organismus und der mit demselben verbundene leibliche.¹

Das Paradigma des Organischen oder der Organisiertheit physischer Natur stand in der Zeit vor und nach 1800 in Blüte.² Davon ist auch Friedrich Schleiermachers Denken nicht unbeeinflusst.³ Und dies gilt nicht nur vom Großbegriff dieses Paradigmas selbst, sondern kann auch im Blick auf dessen begriffliche Teilcharakteristika bei Schleiermacher beobachtet werden. Mit einem neu angereicherten Begriff der Organisiertheit konnten erfahrbare Zusammenhänge in natürlichen oder auch kulturellen Gebilden als individuelle Einheiten beschrieben werden, die sich durch flexible und nach außen durchlässige interne Ausdifferenzierung und Wechselwirkung auszeichnen. Das Paradigma ermöglichte es zudem, eine Trennung der Beschreibungen physischer Prozesse gegenüber der Beschreibung kulturell-vernünftiger Prozesse als jeweils in sich organisierten vorzunehmen und zugleich die gemeinsamen Wurzeln beider Beschreibungsfelder in Beurteilungsleistungen aufzuzeigen. Das Anliegen dieses Beitrags, nach der Ausdifferenzierung von Begriffen oder Motiven des Physisch-Organischen bei Schleiermacher zu fragen, kann sich auf keine explizite Auseinandersetzung Schleiermachers mit einem Begriff organisierter Natur oder des Organischen beziehen. Diejenigen systematischen Stellen in Schleierma-

 Friedrich Schleiermacher, Die Christliche Sitte, nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche in ihrem Zusammenhange dargestellt, hg.v. Ludwig Jonas, Berlin 1884, 306.  Aus darstellungspragmatischen Gründen wird im Beitrag nicht überall zwischen Begriffen der Organisiertheit, des Organischen oder des Organismus unterschieden. Begriffsgeschichtlich früher sind Begriffe der Organisiertheit, wie sie noch bei Immanuel Kant ausschließlich Verwendung finden; die terminologische Verwendung eines Begriffs des „Organismus“ entwickeln sich kurze Zeit später über eine mehr empirisch-naturtheoretische und eine mehr spekulativ-naturphilosophische Linie. Zusammenfassend dazu Georg Toepfer, „Art. Organismus“, in: ders., Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Bd. 2, Darmstadt 2011, 777– 842, hier insbesondere 794– 795.  Vgl. zu entsprechenden Wirkungslinien von Kant zu den Idealistischen und Romantischen Philosophien und zur Organismusmetaphorik in Schleiermachers Güterlehre: Michael Moxter, Güterbegriff und Handlungstheorie. Eine Studie zur Ethik Friedrich Schleiermachers, Kampen 1992, insbesondere 137– 193. https://doi.org/10.1515/9783110569520-033

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Anne-Maren Richter / Hamburg

chers Wissenschaftssystematik, an denen eine sortierende Reflexion von Begriffen physischer Organisiertheit ihren Ort gehabt hätte, also vor allem die Physik⁴ als mögliches Pendant der Ethik, und die ebenfalls nicht ausgeführte, wissenschaftssystematisch darunterliegende, Physiologie⁵ als mögliches Pendant der Psychologie, lagen nicht in Schleiermachers zentralem Interesse – beziehungsweise wurden sie in den Entwürfen und Ausarbeitungen Schleiermachers, über knappe Strukturvorgaben und Hinweise auf eine mögliche Bedeutsamkeit solcher Theorieteile hinaus, von ihm nicht ausgeführt. Dennoch begegnen entsprechende beschreibende Termini ebenso wie metaphorische Verwendungen neben spekulativen Begriffen für natürlich Organisiertes in ganz verschiedenen Textarten, angefangen bei den Grundlagendisziplinen wie der Ethik bis hinein in die theologischen Schriften mit ihrem jeweiligen kirchlichen Handlungsbezug. Eine Thematisierung von Motiven des Organisch-Physischen wird sich insofern, wenn auf Schleiermacher geschaut werden soll, zunächst mit einem relativ weiten Ansatz, sowohl beschreibenden Begriffen als auch metaphorischer Begriffsanwendung bei Schleiermacher gleichermaßen nähern müssen. Der Beitrag wird im zweiten Teil dazu kurze Textstichproben in Schleiermachers Ethik und Christlicher Sittenlehre durchführen. Vorangestellt wird den Stichproben aber ein Umriss derjenigen zeitgenössischen Differenzierung des Begriffs organisierter physischer Prozesse, die schon kurz vor 1800 brennpunktartig durch Immanuel Kant gebündelt wurde und die grundsätzlich auch Schleiermacher als Debattenhorizont möglicher Differenzierung im Begriff organisierter Natur zur Verfügung gestanden hat.

 Als Vorgaben für eine mögliche Physik finden sich in Schleiermachers Texten zur Ethik einige wenige konkrete Strukturhinweise, so z. B. in: Friedrich Schleiermacher, Ethik 1812/13, hg.v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1990, 18.221. Daneben können verstreute, direkte und indirekte, Strukturvorgaben aus den Beschreibungen der Ethik und ihrer Gegenstände gezogen werden, vgl. z. B. Friedrich Schleiermacher [1805/06], Brouillon zur Ethik, hg.v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1981, 3 – 15; und Schleiermacher 1990, 8 – 15 (Anm. 4). Zum Verhältnis zwischen Ethik und Physik vgl. Sarah Schmidt, Die Konstruktion des Endlichen. Schleiermachers Philosophie der Wechselwirkung, Berlin 2005, 324– 339. Bekanntlich, verweist Schleiermacher mit Blick auf die seiner Ethik gegenüberliegende Physik selbst auf Henrich Steffens‘ Naturphilosophie. Den Ausführungen Sarah Schmidts zufolge stellt sich das m. E. mit Blick auf Schleiermachers Naturbegriff insgesamt als zwiespältig dar: So verweist Schmidt zum einen auf eine Vielzahl konkreter Anlehnungen an Steffens‘ naturphilosophische Schriften; andererseits wurden in grundlegenden Weichenstellungen der Grundlagendisziplinen von Schleiermacher andere Entscheidungen getroffen. Dazu vgl. Sarah Schmidt, „Naturbegriff und Naturerkenntnis bei Steffens und Schleiermacher“, in: System und Subversion. Friedrich Schleiermacher und Henrik Steffens, hg.v. Sarah Schmidt/ Leon Midonski, Berlin 2018, 93 – 117, hier 106 – 109. Um die nicht ausgeführte Physik thematisieren zu können, müsste ihre mögliche Funktion vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Naturtheorie und -philosophie insgesamt betrachtet werden.  Vgl. Friedrich Schleiermacher, Psychologie, hg.v. Ludwig George, Berlin 1862, 23 – 24.

Das Paradigma des Physisch-Organischen bei Friedrich Schleiermacher

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1 Immanuel Kants Ausdifferenzierung der Beurteilung und Deutung „organisierter Wesen der Natur“ und ihre Ermöglichung durch ein „technisch“ genanntes Prinzip reflektierender Urteilskraft Ein Rückgriff auf Kant bietet sich aus einem systematischen Grund zur Sortierung an, ist aber auch aus einem generellen wirkungsgeschichtlichen Grund zulässig: Denn die Entfaltung der Begriffe einzelner „organisierter Wesen der Natur“ und einer Organisiertheit der Natur insgesamt in Kants Urteilskraftschriften, das heißt in der Kritik der Urteilskraft ⁶ und der (allerdings viel später vollständig veröffentlichten) Ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft ⁷, ist ideengeschichtlich sicherlich ein Brennpunkt der begrifflichen Bündelung⁸ und Ausdifferenzierung der Idee natürlicher Organisiertheit.⁹ Für Kant bedeutet die eigene Ausarbeitung des Begriffs organisierter Wesen eine Zusammenstimmung seiner Interessen am Zweckbegriff mit dem Bedarf empirischer Naturforschung der Zeit. Das von ihm in den Urteilskraftschriften erhobene begriffliche Instrumentarium passt auf den ihm bekannten veränderten Bedarf der Naturforschungsmethodologie.¹⁰ Kants Text wird von Ernst Cassirer insofern später rückblickend als die Theoriegrundlage einer entstehenden modernen Biologie bezeichnet, und Cassirer zeichnet seine Wirkungsgeschichte als ein Ausstrahlen in die streitenden Theoriestränge der Biologietheoriegeschichte nach.¹¹ Ebenso lassen sich  Immanuel Kant [1790/93], Kritik der Urteilskraft, Kants gesammelte Schriften, Bd. V, hg.v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1908, 165 – 485.  Immanuel Kant [1794/1914], Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, Kants gesammelte Schriften, Bd. XX, hg.v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1942, 195 – 252. Zu Bedeutung und Werkgeschichte der Ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft vgl. Heiner Klemme, „Einleitung“, in: Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, hg. und eingel. von Heiner Klemme, Hamburg 2009, 474– 483; daneben Manfred Frank / Véronique Zanetti, „Erste Einleitung in die ‚Kritik der Urteilskraft‘“, in: Immanuel Kant, Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie, hg.v. Manfred Frank / Véronique Zanetti, Frankfurt a.M. 1996, 1158 – 1205.  Zur Vorgeschichte des Begriffs vgl. Toepfer 2011, 777– 794 (Anm. 2).  Exemplarisch für verschiedene gegensätzliche Interpretationsrichtungen z. B. Reinhard Löw, Philosophie des Lebendigen. Der Begriff des Organischen bei Kant, sein Grund und seine Aktualität, Frankfurt a.M. 1980; und Renate Wahsner, Der Widerstreit zwischen Mechanismus und Organismus. Kant und Hegel im Widerstreit um das neuzeitliche Denkprinzip und den Status der Naturwissenschaften, Stuttgart 2006. Für eine Auseinandersetzung seitens der Ev. Theologie vgl. Matthias Neugebauer, Konzepte des „Bios“. Leben im Spannungsfeld von Organismus, Metaphysik, Molekularbiologie und Theologie, Göttingen 2010, 21– 93.  Vgl. z. B. Peter McLaughlin, Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, Bonn 1989, 9 – 49.  Vgl. z. B. Ernst Cassirer, „Kant und die moderne Biologie“, in: ders., Geist und Leben. Schriften zu den Lebensordnungen von Natur und Kunst, Geschichte und Sprache, hg.v. Ernst Wolfgang Orth, Leipzig 1993, 61– 93.

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die aus geisteswissenschaftlicher Perspektive bekannteren Wirkungslinien in die frühromantische und idealistische Natur- und Kulturreflexion ausmachen. Insofern ging von Kants Entfaltung eine durchaus doppelgesichtige Wirkungsgeschichte aus.¹² Diese Vielseitigkeit des von Kant entfalteten Begriffs wird dadurch möglich, dass er ihn in den Reflexionsvollzug der Urteilskraft einbettet. Dort ist „organisierte“ Natur ein gesetztes Äquivalent für „technisch“ reflektierend beurteilte Natur.¹³ Von dieser Basis des Organisationsbegriffs aus (die vor allem in der zunächst unveröffentlichten Ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft und somit nicht an zentraler Stelle im Haupttext zu sehen ist) differenziert Kant zwischen einer ganzen Reihe von Ebenen im Umgang mit Naturdingen und Naturzusammenhängen. Die Rückbindung an die Urteilskraftleistung macht es möglich, sehr verschiedene Naturzugänge zu würdigen und doch zu entkoppeln. Die systematische Leistung dieser Konzeption sei in vier Punkten kurz aufgerufen: Erstens leistet Kant eine Subjektivierung der an Naturdingen (in ihrer Naturgesetzlichkeit) zusätzlich beschreibbaren Organisiertheit. Statt der Naturorganisation selbst Beseeltheit, organisierende Kräfte oder eine intern zentral vorgestellte oder aber auch externe Teleologie zuzusprechen, verlegt er sie in die Urteilskraftleistung zurück.¹⁴ Aber auch das vermeintlich in der Natur enthaltene „Schöne“¹⁵ oder „Erhabene“¹⁶, welches sich am Naturerleben entzündet, verlegt Kant als subjektives Geschmacksurteil in die Urteilskraftleistung zurück. Auch religionsähnliche Gefühle¹⁷, die durch Wirkungen des Umgangs mit Naturphänomenen und dabei mitschwingende Analogien zur Moralität ausgelöst werden, kennt die Kritik der Urteilskraft. Sie bezieht somit Naturreligiosität ebenso wie physikotheologische Vorstellungen, die mit erfahrungsbezogenen Naturauffassungen möglicherweise parallel auftreten beziehungsweise mit ihnen nachvollziehbarer Weise verwickelt werden können, auf Arten der Beurteilung von Natur zurück. Zweitens: Der Grund für diese methodische Zurückverlegung der Organisiertheit, ebenso wie benachbarter Naturbeurteilungen, ist ein Verfahren der Urteilskraft, welches „technisch“¹⁸ verfährt. Insofern ist der Status jedes Begriffs organisierter Wesen

 Vgl. zu Wirkungen auf biologische Theoriebildung z. B. Timothy Lenoir, „Teleology without regrets. The transformation of physiology in Germany 1790 – 1847“, Stud. Hist. Philos. Sci. 12 (1981), 293 – 354.  Zum „Technizism der Natur“ im Haupttext vgl. Kant 1908, 410 – 416 (Anm. 6); aber zur „Technick der Urtheilskraft als Grundlage der Idee einer Technick der Natur“ vor allem die ursprüngliche Einleitung: Kant 1942, 219 – 221 (Anm. 7).  Vgl. v. a. die Typologie der von ihm abgelehnten Naturmodelle: Kant 1908, 389 – 397 (Anm. 6).  Kant 1908, 203 – 244 (Anm. 6).  Kant 1908, 244– 293 (Anm. 6).  „Die Bewunderung der Schönheit sowohl als die Rührung durch die so mannigfaltigen Zwecke der Natur, […] haben etwas einem religiösen Gefühl Ähnliches an sich. Sie scheinen daher zuerst durch eine der moralischen analoge Beurteilungsart derselben auf das moralische Gefühl […] und also durch Erregung moralischer Ideen auf das Gemüt zu wirken“; so Kant 1908, 482 (Anm. 6); hier in Kants Anmerkung.  S. Anm. 13.

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physischer Natur ein „heuristischer“ – so sehr diese Heuristik eine Beurteilung von Organisiertheit als eine dem Beurteilten scheinbar selbst inne liegende „Technick der Natur“¹⁹ zu beschreiben ermöglicht. Kant führt die Methodologie organologischer Beurteilung auf der Basis eines gedoppelten (und insofern von Kant im Grunde neu besetzten) Begriffs des Technischen durch:²⁰ „Also ist die Urteilskraft eigentlich technisch; die Natur wird nur als technisch vorgestellt, sofern sie zu jenem Verfahren derselben zusammenstimmt und es nothwendig macht.“²¹ Also stellt sich „Technick der Urteilskraft als Grund der Idee einer Technick der Natur“²² dar. In dieser Neubesetzung des Begriffs ist Technik kaum mehr deckungsgleich mit dem älteren Kunstbegriff oder einem allgemeinen Kulturbegriff.²³ Drittens: Ohne die Erklärungsleistung mechanischer Naturgesetzlichkeit oder die erweiternd-deutende zusätzliche Leistung einer Teleologie zu verabschieden, vermittelt Kants Modell zwischen diesen beiden. Dadurch leistet die Urteilskraft am Ort des Modells der Organisiertheit eine Erweiterung der Verstandeserkenntnis mittels mechanischer Gesetzmäßigkeit einerseits – eine Erfahrungsrückbindung teleologischer (durch Vernunftleistung eingebrachter) Deutungsanteile an Naturgesetzlichkeit andererseits. Organisierte Wesen kommen als Ganzheiten in den Blick, die ein mechanisches Modell allein nicht als Einheiten integrierter Teilprozesse erfassen könnte.²⁴ Aber das erweiterte Modell hat eingeschränkte, nur regulative, Reichweite.²⁵ Mechanische Teil-Erklärungen werden ergänzt, behalten aber ihren allein erklärenden und erfahrungsgemäß verifizierbaren Status. Viertens führt das zu einer formalen inhaltlichen Ausgestaltung des Organismusbegriffs, die über einen komplexen wechselseitigen Zweck-Mittel-Zusammenhang – also Näherbestimmung des Zweckbegriffs, sofern dieser auf mechanische Kausalität bezogen ist und bleibt – durchgeführt werden kann. Denn schaut man mehr auf den Inhalt dieses neu gewonnenen Begriffs organisierter Wesen der Natur, so wie es der  S. Anm. 13.  Technikbegriff und Begriff der Organisiertheit werden wie folgt verknüpft: „Diese Technick der Natur könnte man daher plastisch nennen, wenn man diese [!] Wort nicht schon […] für Naturschönheit so wohl als Naturabsichten, in Schwang gebracht hätte, daher sie, wenn man will, die organische Technick derselben heißen mag“; Kant 1942, 234 (Anm. 7).  Kant 1942, 220 (Anm. 7).  Kant 1942, 219 (Anm. 7).  Vgl. aber auch Ulrike Santotzki, „Kants ‚Technik der Natur’ in der Kritik der Urteilskraft“, ABG 47 (2005), 89 – 121; daneben Jörg Dierken, „Technik als Kultur. Theorieingredienzien aus dem Begriffslaboratorium“, in: Technik und Transzendenz. Zum Verhältnis von Technik, Religion und Gesellschaft, hg.v. Katharina Neumeister u. a., 21– 38. Den Kantischen Technikbegriff mit einem allgemeinen Kulturbegriff gleichzusetzen, würde die Pointe Kants m. E. verfehlen. Eher ist sie eine spezifische Form der Kulturausübung, die sich in heuristisch-analogiebildenden Verfahren mittels regulativer Zweck-MittelModellierungen am Modell mechanischer Naturgesetzlichkeit abarbeitet. Ein entsprechender gegenwärtiger Technikbegriff wäre etwa zu finden bei Christoph Hubig, Die Kunst des Möglichen, Bd. I. Technikphilosophie als Reflexion der Medialität, Bielefeld 2006, 71– 74.107– 142.  Vgl. Kant 1908, 410 – 415 (Anm. 6).  Vgl. z. B. Kant 1908, 398 (Anm. 6).

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Haupttext der Kritik der Urteilskraft tut, dann lässt sich das „organisierte Wesen“ als regulativ angewandte (teleologische) Zweck-Idee der Vernunft sehen, die auf verstandesgemäß erkennbare (wirkkausale) Abläufe angewandt wird. In Kants Haupttext wird entsprechend eine „innere“ und eine „äußere“²⁶ Zweckmäßigkeit an Natur als in sich wechselseitig zweckabhängig²⁷ beschrieben. Diese vielschichtige Fassung des Begriffs physischer Organisiertheit macht es möglich, erwartbare Verselbständigungen einer der beteiligten Verfahrenskomponenten, regelmäßige Missverständnisse und verwechselbare Naturkonzepte voneinander zu differenzieren. Die Kantische Konzeption trennt somit neben der schon genannten Heuristik innerer Zweckmäßigkeit einzelner organisierter Naturdinge und deren Ausweitung zu Deutungen einer systemhaften Organisiertheit von Natur als ganzer, auch noch die folgenden fünf Ebenen voneinander: Einem ersten Missverständnis nach wird Organisiertheit in Natur als Erklärung aufgefasst. Sie wird so begriffen, als habe man mit der Beurteilungsperspektive eine belastbare konstitutive Aussage vorgenommen. Das legt sich pragmatisch ständig nahe, denn jede Beurteilung so „als ob“ ein Naturding eine wechselseitige innere Zweckmäßigkeit habe, verfährt zugleich so, „als ob“ diese Organisiertheit ohne unser Zutun in der der Natur läge.²⁸ Zweitens kann die Idee der Organisiertheit von einzelnen Wesen eine für unser Fassungsvermögen der Beurteilung überschwängliche Ausweitung erfahren, bis hin zu einem Begriff von der gesamten Natur als in ihrer Ganzheit und allen Teilmomenten organisiertes „System“.²⁹ In diesem Modus einer Überschwänglichkeit der Systembildung mittels der Idee zweckhafter Organisiertheit kann jede Rückbindung an Erfahrbarkeit einzelner organisierter Naturwesen aus dem Blick geraten. Drittens gibt es die Möglichkeit, eine Deutung des physischen Natur-Organismus als Ganzheit, oder aber eine Heuristik individueller physischer Organisiertheit, metaphorisch auf kulturelle Phänomene und Institutionen zu übertragen. Es kommen dabei zu der beschriebenen Komplexität des Organisiertheitsbegriffs weitere Analogiebildungen hinzu, welche jeweils einzeln auf Passgenauigkeit zu hinterfragen wären. Viertens: Die Analyse der Naturbeurteilung nutzt Kant auch für eine breite Würdigung und abgrenzende Kritik physikotheologischer Anliegen und Ansätze. Denn an Modelle der Naturorganisiertheit knüpfen sich, irreführender Weise, Ideen organisierender beziehungsweise zwecksetzender Instanzen – seien diese personal oder auch im Sinne allgemeiner Beseeltheit vorgestellt; seien sie intern oder extern der Organisiertheit von Naturdingen vorgestellt.³⁰ Eine letzte und fünfte Ebene regelmä-

 Diese für die spätere Rezeption in Biologie und Naturphilosophie in zwei parallelen Rezeptionssträngen grundlegende Unterscheidung findet sich in: Kant 1908, 376 – 381 (Anm. 6).  Vgl. z. B. Kant 1908, 370 – 371 (Anm. 6).  Die von Kant im gesamten Text der Urteilskraftschriften verwendete Bezeichnung der heuristischen Perspektive, nach der die Beurteilung der Organisiertheit von Natur so verfährt, „als ob“ diese in der Natur läge, ist die wohl pointierteste und bekannteste.  Kant 1908, 379 (Anm. 6).  Vgl. Kant 1908, 434– 467 (Anm. 6).

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ßiger Missverständnisse wären Vermengungen einer erfahrungsbezogenen Naturbeurteilung mit den rein subjektiven Geschmacksurteilen,³¹ welche Natur als mit Lust und Unlust verknüpft und insofern als schön oder erhaben erleben. Denn dass physische Naturphänomene auch des menschlichen Körpers als in sich schön und mit spielerischer Lust verknüpft, oder aber als bedrohlich und anziehend zugleich, weil chaotisch-mannigfaltig, erlebt werden können, läuft als Negativfolie in Kants Theorie organisierter Naturbeurteilung immer mit. Sofern diese Geschmacksurteile des Naturschönen und der Erhabenheit von Natur bereits vor der Naturtheorie durchleuchtet wurden, sind sie danach am Ort des Begriffs organisierter Natur ausgeklammert. Interessant ist nun im Blick auf die Entwicklung des Paradigmas zeitlich nach der Kantischen kritischen Ausdifferenzierung, dass all diese getrennten Aspekte, mitlaufenden Missverständnisse und benachbarten Naturbegriffe dann unter dem Dach des Organismusbegriffs vielfach vermengt auftreten. Zusätzlich zu diesen Mischungen vermengen sich bekanntlich die Ebenen physiologisch-organischer Beurteilungsheuristik im engeren Sinn mit organologischen Deutungen von Kulturphänomenen als Organismen. Eine metaphorische Nutzung, die Kant nur beiläufig als Möglichkeit erwähnt, um vor überbordender Analogiebildung³² zu warnen. Um solche Verwicklungen am Ort des Begriffs physischer Organisiertheit nachvollziehen zu können, mag die eben beschriebene Folie der Ausdifferenzierung nun für einen Blick auf Friedrich Schleiermacher hilfreich sein.

2 Termini und Metaphern des Physisch-Organischen in Schleiermachers Ethik und Sittenlehre Nach der Kantischen Entfaltung des Begriffs physischer organisierter Wesen der Natur splittert die Nutzung des Paradigmas auf. Auf der einen Seite entwickelt sich ein mehr empirisch-pragmatischer Gebrauch. Auf der anderen Seite entwickelt sich der mehr spekulativ-konstruktive Gebrauch im Rahmen von komplexen Naturphilosophien und Metaphoriken der Kulturhermeneutik.³³ Schleiermacher bewegt sich deutlich in der letztgenannten Linie. Naturforscher ist er bekanntlich (trotz vereinzelter naturwissenschaftlicher Interessen)³⁴ gar nicht. Andererseits bleibt seine Verwendung entsprechender Termini aber nicht spekulativ-metaphorisch beziehungsweise im Bereich allgemeiner Kulturhermeneutik. Sondern als Theologe mit einem Horizont gemeindlich-seelsorglicher Konstellationen und in christlich-kirchlich orientierten Schriften

   

S. Anm. 15 und 16. Vgl. z. B. Kant 1908, 464– 465 (Anm. 6). S. Anm. 11 und 12. Schmidt 2018, 93 – 94 (Anm. 4).

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kommentiert Schleiermacher die physische Organisiertheit menschlicher Körper – einschließlich normativer und religiös-theologischer Implikationen. Der stichprobenartigen Veranschaulichung, wie weit bei Schleiermacher eine zeitgenössische Ausdifferenzierung des Paradigmas physischer Organisiertheit wieder rückgängig gemacht wurde – und zu welchen konstruktiven Zwecken –, dienen nun zwei kurze Text-Stichproben in die Ethik und die Sittenlehre Schleiermachers. Mit dem Brouillon zur Ethik kommt ein relativ früher und kulturtheoretischer Text in den Blick; mit dem vergleichsweise späten Text der Sittenlehre hingegen kirchlich-theologische Anwendungsdimensionen für Termini und Metaphorik der Organisiertheit. Neben diesen Stichproben in Schleiermachers Texte hinein verweise ich zum Schluss auf eine Interpretation Walter Jaeschkes zu Schleiermachers Charakterisierung der Staatstheorie.³⁵

2.1 Zum Begriff des „Organs“ in Friedrich Schleiermachers Brouillon zur Ethik Schleiermachers Texte zur Ethik zeichnen ihr Viererschema kultureller Funktionshinsichten in eine Spannung zwischen einem spekulativen Begriff der Natur einerseits und der Vernunft andererseits ein. Ethik betrachtet dieses Spannungsverhältnis in der einen Wissensperspektive, während Naturwissenschaft beziehungsweise Physik diese gleiche Spannung aus genau entgegengesetzter Wissensperspektive betrachten würde. Beide, Natur- und Vernunftbegriff, werden auf einer ideellen Ebene als „Ineinandersein“ oder auch „Ineinander von Vernunft und Natur“³⁶ vorgestellt. Daneben gibt es aber eine zweite, überwiegende Darstellungsebene des Gegensatzes von Vernunft und Natur, die den Gegensatz als stetig wachsenden Vernunftwerdungsprozess der Natur nach- und vorzeichnet und dabei explizit Herrschaftsmetaphorik für die Gestaltung (bewusster und unbewusster) organisierter Gestaltungsprozesse wählt: „Vernunft soll die ganze Natur in ihre Gewalt bringen. […] Knechtschaft der ganzen Natur“³⁷, so Schleiermacher zum Beispiel im frühen Brouillon zur Ethik von 1805/06. Vernunft ist dabei strukturgebend gedacht, Natur hingegen als das nur graduell niedriger oder höher durch Vernunft Strukturierte beziehungsweise geordnet Organisierte: „denn man beherrscht nur seine Organe, und alles Beherrschte wird Or-

 Walter Jaeschke, „Schleiermachers Geschichtsverständnis im Kontext klassisch-philosophischer Debatten, in: System und Subversion. Friedrich Schleiermacher und Henrik Steffens, hg.v. Sarah Schmidt/ Leon Midonski, Berlin 2018, 175 – 190 (Anm. 4).  Explizit ist diese Idee des „Ineinander“ besonders in späteren Texten zur Ethik, z. B. in der vermutlich von 1816/17 stammenden Fassung der Güterlehre formuliert; vgl. Schleiermacher 1990, 231– 233 (Anm. 4).  Schleiermacher 1990, 29 (Anm. 4); dabei explizit bezugnehmend auf antike Gottesvorstellungen; wobei „Organbildung“ des Menschen grundsätzlich als „Herrschaft“ beschrieben wird, 16.

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gan“.³⁸ Auf dieser im Text des Brouillon deutlich überwiegenden Darstellungsebene Schleiermachers stellt sich der Kulturprozess als eine zunehmende und zunehmen sollende Vernunftwerdung der Natur dar. Interessant für die hier vorgelegte Frage nach der Ausdifferenzierung von Organismus- oder Organisiertheitsbegriffen bei Schleiermacher, sofern man diese vor den Horizont der Ausdifferenzierung im zeitgenössischen Paradigma organisierter Natur stellen will, ist der im Brouillon zur Ethik zwischen die Vernunft-Natur-Spannung eingezeichnete Begriff des „Organ[s]“.³⁹ Insofern sei exemplarisch auf diesen geschaut. Der Organbegriff tritt in den vier Bereichen zwischen den aufgemachten Koordinaten des Viererschemas wiederholt im Sinne menschlich-physischer und kulturell-institutioneller „Organe“ gleichermaßen auf. An verschiedenen Textstellen stellt Schleiermacher explizit fest, es sei für die Ethik ein Fehler, zwischen körperlichen Organen und kulturellen Organen zu unterscheiden: Eine strenge „Scheidung zwischen der Bildung der mittelbaren und unmittelbaren Organe "! ! !! ist aber nicht natürlich“⁴⁰. Die Ethik kennt stattdessen eine begriffliche Differenzierung im Organbegriff nur im Sinne des „Unmittelbaren“ und „Erworbenen“⁴¹ – so dass sie nur eine Differenzierung in unmittelbare und „erweiterte "! ! !! aus der umgebenden Natur“ hinzugenommene⁴² Organe zulässt. Letztere „Organe“ stellen auch komplexe Kulturformen in organisiertem Gebrauch vor, bis hin zu hochstufigen Institutionen, die aber alle nur „erweiterte“ physische Organe sind: „Von dem Mittelpunkt eines menschlich animalischen Lebens bildet sich die Vernunft Organe an. Zuerst die unmittelbaren, den Leib. "! ! !! Dann das erweiterte Physische.“⁴³ Der dabei gewählte Begriff der Organe greift bewusst auf den Werkzeugbegriff zurück, wie Schleiermacher in einem deutlich späteren Text zur Ethik dann explizit anmerkt.⁴⁴ Mit dem in antiker Tradition stehenden Organbegriff kann insofern Körperteil und künstliches Werkzeug gleichermaßen umfasst werden. Wenn man entsprechend nach den Ursachen interner Form beziehungsweise nach dem inneren physischen Aufbau körperlicher Organe fragt, so müsste vermutet werden, dass sowohl externe Organisation physischer „Organe“ als auch interne (sofern diese überhaupt in den Blick kommt) von Schleiermachers Text spekulativ in der Weise modelliert werden, dass beiderlei Organe, also auch Organisiertheit des menschlichen Körpers als Organ, in einer starken Teleologie für die „Vernunft“ gebildet werden: „Denn Organe können nicht anders gebildet werden als durch den Gebrauch "! ! !! und

 Schleiermacher 1981, 16 (Anm. 4).  Vgl. v. a. Schleiermacher 1981, 12– 40 (Anm. 4); der Begriff des Organs, der Organbildung u. a. begegnen allerdings im gesamten Text.  Schleiermacher 1981, 30 (Anm. 4).  Schleiermacher 1981, 28 (Anm. 4); ähnlich auch 35.  Schleiermacher 1981, 17 (Anm. 4).  Schleiermacher 1981, 17 (Anm. 4).  Vgl. Schleiermacher 1990, 232 (Anm. 4); hier in Schleiermachers Randbemerkung von 1824 zur Güterlehre von 1816/17.

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mit dem vermehrten Wissen im Gebrauch entstehen auch neue Aufgaben der Organbildung“.⁴⁵ Spekulativ kann dieser extrem weit gefasste Organbegriff also so weit ausgreifen, dass auch Organe des Körpers im engeren Sinn als von Beginn ihrer physischen Entwicklung an bereits für ihren kulturellen Gebrauch werkzeuggleich von der Vernunft gebildet vorgestellt werden. Das „Anorganische“ ist im Gegensatz zum Organischen nur graduell stärker „bildungsbedürftig (also den Gebrauch als Mittel erleichternd)“.⁴⁶ Das auf antike Traditionen zurückverweisende Werkzeugmodell, das hier für die Beschreibung auch „leiblicher“ beziehungsweise „physischer“ Organisiertheit herangezogen wird, führt die Schwierigkeit einer starken Teleologie-Vorstellung mit, welche der organisierten Struktur alle, auch interne, Zweckhaftigkeit verleiht. Organisiertheit einzelner Körper würde sich danach nicht als eine dem Physischen interne, sondern als eine für den Gebrauch in Kultur strukturierte darstellen. Das wirft allerdings Fragen nach genauer Art und Verortung der Instanz einer entsprechenden Zweckstrukturierung auf. Denn alle diese „Organe selbst“ sind „gebildete Objecte“⁴⁷, gleich ob man von Teilen des menschlichen Leibes oder von Kulturorganen spricht – so Schleiermacher im Text der Ethik von 1812/13, der den Organbegriff ähnlich weiterführt. Unklar und unverortet bleibt jedoch das Subjekt solcherart teleologischer Objektbildung. Physische Natur ebenso wie kulturelle Natur strukturieren beide (ohne dass zwischen ihnen differenziert würde) ihre Organe oder Werkzeuge, am Maßstab einer spekulativen Teleologie der Nutzbarkeit im Gebrauch, durch und für „Vernunft“. Oder unmittelbare und erweiterte Organe strukturieren sich einer ortlosen Zielvorgabe entsprechend. Schleiermacher wendet sich also erstens nicht nur zufällig, sondern bewusst, gegen Differenzierungen in künstlich hergestellte Organisiertheit und eine als dem Naturwesen selbst inne liegend beurteilte Organisiertheit. Und zweitens lässt das in die spekulative Konstellation zwischen Verstand und Vernunft eingezeichnete Modell des Organs oder Werkzeugs im Grunde kaum die Modellierung einer dem physischen Einzelwesen intern eignenden Strukturiertheit oder Ausdifferenziertheit zu. Durch den Rückgriff auf den doppeldeutigen Organbegriff der Antike, das Fehlen einer Differenz zwischen künstlich organisierten Organen und physischen Organen, sowie die Einbettung dieses Motivs in eine spekulative Kulturentwicklung, greift Schleiermacher in der darin implizierten Körpervorstellung ideengeschichtlich im Prinzip weit hinter mechanistische und organologische Körpervorstellungen⁴⁸ gleichermaßen zurück. Er schließt sich in jedem Fall mit dieser Begriffswahl und Teleologieform nicht den fortschrittlichen Linien der Begriffsentwicklung zeitgenössischer Naturbeurteilung an. Sondern vernunftdurchwirkte einzelne physische „Organe“ werden speku-

 Schleiermacher 1981, 14 (Anm. 4).  Schleiermacher 1981, 28 – 29 (Anm. 4).  Schleiermacher 1990, 25 – 26 (Anm. 4).  Vgl. z. B. aus Sicht einer Kulturgeschichte der Körperkonzepte auch Martina Heßler, „Maschinenund Menschenbilder im historischen Wandel“, in: dies., Kulturgeschichte der Technik, Frankfurt a.M. 2012, 142– 174.

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lativ-metaphorisch im Modus bereits (höherstufiger) organisierter Naturhaftigkeit geformt gedacht; höhere unterwirft ihrerseits niedrigstufiger organisierte kulturelle oder physische „Natur“. Das dabei unterzuordnende Organische wird erstaunlicherweise nicht im gleichen Maß wie der metaphorisch gedeutete und zugleich normativ vorgezeichnete Naturaneignungsprozess der Vernunft insgesamt als sich in sich selbst strukturierend vorgestellt. Der Wert der bei Schleiermacher absichtlich ausgelassenen oder zurückgenommenen Differenzierungen zeigt sich kulturhermeneutisch daran, dass sich – spekulative – Zusammenhänge zwischen metaphorischer Naturhaftigkeit von Kulturgebilden und vorgestellter Künstlichkeit von Naturgebilden in beide Richtungen herstellen lassen, die andernfalls (das heißt kritisch aufgeschlüsselt) nur über viele einzelne Vermittlungsschritte in den Blick kommen würden. Ein, wenn auch einfacher und nicht als solcher reflektierter, Technizismus wird in Kultur- und Naturperspektiven gleichermaßen eingezogen, mit Folgen für Schleiermachers Bestimmung auch des gesamten Kulturumfangs in seinen verschiedenen Bereichen. Denn in einem späteren Zusatz schreibt Schleiermacher im Brouillon zur Ethik: „Umfang der Kultur ist, was geleistet wird durch Gymnastik "! ! !!, Mechanik, "! ! !! Agrikultur, "! ! !! Sammlung des wissenschaftlichen Apparates“.⁴⁹ Das heißt, Kultur ist technischer Prozess im Sinne eines jeweils niedriger- oder höherstufiger betrachteten, leiblichen und künstlichen Werkzeuggebrauchs. Dies gilt vom eigenen Körper angefangen, der in Übung und Gewöhnung beispielsweise der „Gymnastik“ als Organ zum Organ gebildet wird. Und die Beschreibungsperspektive nach technizistischem Modell reicht bis hin zur Wissenschaft als Sammlung entsprechender Apparate im weitesten Sinn. Dies aber würde bedeuten: Technizismen sind bei Schleiermacher für Natur- und Kulturdeutung als in einander verwickelte zwar durchweg prägend. Sie werden allerdings nicht bewusst (oder kritisch geleitet) eingesetzt. Zudem wird der Technizismus der Kulturdeutung gezielt am antiken Organbegriff orientiert, der zum einen die von Aristoteles bekannte Doppeldeutigkeit als technisches Werkzeug und Körperteil mitführt, der beiderlei Organen aber auch wesentlich eine Form teleologischer Vernunft-Beseelung als zusätzliche Ebene unterlegt.⁵⁰ Der Körper als Gesamtgebilde ist Werkzeug dieser Beseelung – ohne dass der Binnendifferenzierung natürlicher Körper (als physisch individuellen Körpern) eine rein interne (intern wechselseitig zweckabhängige) Organisiertheit zugesprochen würde. Eine Nähe zwischen Schleiermachers „Organen“ – im engeren sowie erweiterten Sinn – wäre auch vor Kantischem Hintergrund in ähnlichen technizistischen Beschreibungen von Kulturprozessen einerseits und pragmatischen Perspektiven auf Natur andererseits nachvollziehbar. Sie wäre aber dann, kritisch betrachtet, eine Nähe aufgrund wechselseitiger heuristischer Analogiebildungsprozesse zwischen Begriffen der Kultur und der Natur; oder anders ausgedrückt eine Nähe der zwischen ihnen

 Schleiermacher 1981, 29 (Anm. 4).  Vgl. Toepfer 2011, 778 – 780 (Anm. 2).

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zustande kommenden Beurteilungstechniken. Auf dieser Grundlage käme die oben für Kant beschriebene⁵¹, technisch genannte, Reflexion der Urteilskraftleistung zutage – welche wiederum den Grund dafür abgibt, dass sowohl organisch-physisch reflektierte Natur als auch in organisch-physischen Metaphern reflektierte Kultur als Techniken der Natur darstellbar sind, die sich begrifflich als Mittelglied zwischen kultureller Zwecksetzung und Naturgesetzlichkeiten aufschlüsseln ließen.

2.2 Drei Organismen: Der Ebenenreichtum in den Naturkategorien der Christlichen Sittenlehre Während Schleiermachers Nutzung des Organ- und Organisiertheitsbegriffs in den Texten zur Ethik überwiegend abstrakt bleibt, reichen ähnliche Verschränkungen in der Christlichen Sittenlehre ⁵² in Anwendungsgebiete hinein. Ihr Charakter als Themenfeld zwischen Schleiermachers eigener Ethik oder Kulturtheorie, angewandten Topoi christlicher Sittenlehre und der Aufnahme christlich-kirchlicher Motive einschließlich der Darstellung praktischer Richtlinien im kirchlichen Leben macht den Blick auf die Sittenlehre schwierig.⁵³ Denn sie mischt in teils spekulativen und teils erfahrungsbezogenen Brechungen eine ganze Palette von Motiven des Physisch-Natürlichen, setzt diese Kategorien und Metaphern aber nicht explizit reflektiert zueinander in Beziehung. Auf drei eigentlich sehr divergenten Organisationsebenen verwendet Schleiermacher in der Sittenlehre Begriffe des Organismus: Der erste wäre „der νοῦς, der Organismus der Intelligenz“. Darunter steht „der mehr sinnlich psychische Organismus“, und wiederum darunter „der mit demselben verbundene leibliche.“⁵⁴ Diese drei Dimensionen, Arten oder Kreise des „Organismus“ werden zwar getrennt benannt, aber dann in der Umsetzung als funktional differenzlose Kreise ineinander verwoben. Nur erwähnt sei, dass die Sittenlehre neben diesen drei Kreisen des Organismus beziehungsweise drei Organismen zur Beschreibung physischer Körperprozesse und ihrer Einbettung in Kultur zusätzlich den Begriff des „Körpers“, den Begriff des „Leibes“, den aus der biblischen Texttradition übernommenen Ausdruck des „Fleisches“, sowie den Begriff der „Sinnlichkeit“ mit einbezieht. Sie werden von Schleiermacher teilweise äquivalent zu den genannten Organismus-Ebenen für niedrigere Grade physischer Organisiertheit eingesetzt. Äquivalent zu jeweiligen Organisiert-

 S. Anm. 20 – 23.  Schleiermacher 1884 (Anm. 1).  Vgl. zu Aufbau und Eigenart der Sittenlehre Hans-Joachim Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, Berlin 1964, 93 – 112.  Schleiermacher 1884, 306 (Anm. 1).

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heitsebenen werden teils auch die am stärksten changierenden Großbegriffe des Lebens⁵⁵ und der Natur⁵⁶ besetzt. Ein kurzer Blick auf Begriffe der Organisiertheit in Schleiermachers Darstellung von Ehe und Familie⁵⁷ lässt exemplarisch anreißen, was es bedeutet, wenn in einem Anwendungsgebiet der Sittenlehre nicht zwischen physischen und kulturellen Organismus-Begriffen und entsprechenden Metaphern- oder Beschreibungsebenen ausdifferenziert wird. Die Thematisierung von Ehe und Familie fällt unter der Form als „Naturprozeß der Fortpflanzung“⁵⁸ in das Gebiet des verbreitenden Handelns der Kirche. „Die Geschlechtsgemeinschaft ist ihm [dem Christentum; A.-M.R.] heilig als eine göttliche Ordnung zur Erhaltung des Stoffes für den göttlichen Geist.“⁵⁹ Träger des kulturellen Organismus Familie, der als solcher ein gebildetes Organ der Vernunft (oder des christlichen Geistes) ist, ist der physische Organismus zweier leiblicher Erzeuger. Für die Kirche stellen „die Aeltern, ihre [der Kirche; A.-M.R.] natürlichen Organe“ dar. Thematisiert wird mittels Organismusbegriff also zunächst die physische Geschlechtergemeinschaft zwischen Mann und Frau als zweier physischer, sich vermehrender Organismen. Sofern beide ihrer „natürlichen“ Form entsprechen, fügen sie sich mit den gemeinsam erzeugten physisch zugehörigen Nachkommen zu der (kulturellen) Form eines ehelichen und familiären Organismus zusammen. Dabei macht nur die Einheit als ehelicher Organismus, also die zweite organismische Ebene, physische Organismen und ihre physischen Nachkommen zu Organen für höhere Organisationsebenen. Deshalb sind Geschlechtsgemeinschaft, Ehe, Familie und Erziehung gar nicht voneinander trennbar, „sondern ein und derselbe Prozeß“.⁶⁰ Christliche Kirche ist: „Die organische Verbindung […] derer, die als Personen schon Organe des verbreitenden Prozesses sind“.⁶¹ Als Modell naturgemäßer Ordnung des seelisch, physisch und zugleich kulturell organisierten Organismus kommt daher nur eine biographisch einmalige Monogamie zweier Erzeuger mit ihren Nachkommen infrage.⁶² Denn durch ihre organisch-werkzeuggleiche Form als Teil des kulturellen (näher bestimmt christlichen) Organismus Familie sind geschlechtliche und physischverwandtschaftliche Verhältnisse unmittelbar ein Teilmoment des kirchlichen Organismus. Monogamie der physischen Organismen, die als familiärer Organismus in den Kreisläufen der höheren Organismen liegen, bleibt daher beispielsweise im Todesfall eines Ehepartners prinzipiell in Geltung. Entschluss zur Ehelosigkeit hingegen wird

 Zum Lebensbegriff vgl. Christoph Ellsiepen, „Der Begriff des Lebens bei Friedrich Schleiermacher“, in: Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Bd. 1, hg.v. Petra Bahr / Stephan Schaede, Tübingen 2009, 487– 507.  Zum Naturbegriff vgl. Schmidt 2018 (Anm. 4).  Schleiermacher 1884, 336 – 364 (Anm. 1); vgl. dazu auch Birkner 1964, 127– 129 (Anm. 53).  Schleiermacher 1884, 331 (Anm. 1).  Schleiermacher 1884, 344 (Anm. 1); Anmerkung aus der Vorlesung 1826/27.  Schleiermacher 1884, 341 (Anm. 1).  Vgl. Schleiermacher 1884, 331; ähnlich 365 (Anm. 1).  Vgl. Schleiermacher 1884, 340 – 346 (Anm. 1).

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als lediglich noch nicht zustande gekommener natürlicher Wille zur Ehe vorgestellt. Was vom Modell abweicht, wird als „abnorme“ oder „unsittlich“⁶³ genannte Form zwar erwähnt; fällt aber aus dem Prinzipiengefüge der Sittenlehre vollkommen heraus. Zwischen allen Organismen-Ebenen wird mittels Überblendung der Organismusmetaphorik nicht getrennt, sondern sie werden – teils in naturalistischer, teils in kulturalistischer Brechung, ineinander eingeblendet und miteinander verwickelt. Die Perspektive der von Schleiermacher implizierten Zwecksetzungen oder Zweckorientierungen ist dabei zwischen den Ebenen der Anwendung des Organismusparadigmas ebenso verschieblich wie die Zuordnung der (teils leiblich-physisch, teils physisch, und teils kulturell gefassten) Träger einer jeweils beschriebenen Organisiertheit – beziehungsweise werden die Träger jeweils naturnäherer Organismen durch die jeweils vernunftnäheren Organismen gebildet. Dies läuft vermittelt über den zwischen Leib und Geist in der Mitte verorteten „gesamten psychischen Organismus“.⁶⁴ In jedem Fall wird durch implizite Stufung, die auch in der Sittenlehre durch die Rahmenkonzeption einer Vernunftwerdung in die Natur eingezeichnet ist, die Ebene physischer (menschlicher) Organismen der Ebene kultureller Organismen strikt untergeordnet, sofern nur die in den kulturellen Organismen wirksame Vernunft die Natur zu organisieren vermag. Physische Organismen sind Stoff für intelligente Formbildungsprozesse der Vernunft. „Geschlechtsgemeinschaft ist aber eine Natursache, die Naturbedingung des menschlichen Daseins auf der Erde, auf die Fortpflanzung des menschlichen Geschlechts berechnet […]; denn sie producirt neue Verbindungen der Intelligenz mit der Materie in der Form des Organismus“⁶⁵ – in solchen Formulierungen erhält der Organismusbegriff zum einen die größtmögliche Mehrdeutigkeit; zum anderen wird er mit erfahrbarer Körperlichkeit verbunden. Blendet man dazu den für die Ethik oben beschriebenen und hier ähnlich wiederkehrenden Organbegriff mit ein, bedeutet dies zum Beispiel für die Familie und ihre Erziehung, dass wo immer organische Geschlechtergemeinschaft ist, organische Nachkommen beziehungsweise „Resultate“⁶⁶ erzeugt werden, welche werkzeuggleich durch die schon vollkommeneren Organe, zu denen sich die physischen Eltern bereits im Organismus kultureller Institutionen herangebildet haben, der entsprechenden Strukturierung zugeführt werden. In diesem Sinn wird an anderer Stelle für die familiäre Erziehung „Gymnastik“ nahegelegt; welche schon im Brouillon als die basale Ebene des Kulturbegriffs angeführt wurde. Was als spekulative Erzählung einer (metaphorischen) physiologisch-organologischen Entwicklung der Kultur hin zu ihrer vollständigen vernünftigen Durchklärung entworfen wird, kommentiert insofern auch Ebenen konkreter Fortpflanzung, Vermehrung, Körperkultivierung – allerdings ohne physisch-organische Körper als solche intern so ausdifferenziert zu modellieren, wie  Schleiermacher 1884, 306 (Anm. 1); hier in Schleiermachers Anmerkung aus der Vorlesung von 1826/27.  Schleiermacher 1884, 333 (Anm. 1).  Schleiermacher 1884, 338 (Anm. 1).  Schleiermacher 1884, 338 (Anm. 1).

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es für den Gesamtorganismus des Kulturkörpers als vollständig gedachtes Organismensystem durchgeführt ist.

2.3 Schlechthinnig mannigfaltiges „Fleisch“ unter der Herrschaft des „christlichen Geistes“? Neben drei „Organismen“ fällt in der Sittenlehre vor allem das der biblischen Tradition entnommene Symbol des „Fleisches“⁶⁷ ins Auge, das von Schleiermacher als tiefster (am wenigsten von Vernunft organisierter) Punkt des spekulativen Naturbegriffs eingesetzt wird: „Das Fleisch […] ist in seinem ganzen Umfange das schlechthin mannigfaltige.“⁶⁸ Auf der quasi gegenüberliegenden Seite wird Vernunft im „christlichen Geist“ als ihrem höchsten Punkt zugespitzt.⁶⁹ Die spekulativen Eckpunkte der Sittenlehre sind nun also nicht mehr Natur und Vernunft; sondern Fleisch und christlicher Geist. Als „schlechthinnig mannigfaltig“ vorgestellt hat die Idee des Fleisches noch weniger interne Struktur als die Vorstellung eines physischen Organs im Sinne des vernunftgeleitet-geformten, aber noch unterkomplex organisierten, werdenden Werkzeuges. Wenn sich der Sittlichkeitsprozess zwischen reiner Mannigfaltigkeit und christlichem Geist als höchstem Punkt kultureller Organisiertheit abspielt, wird durch die Wahl dieses Motivs des „Fleisches“ als tiefstem beziehungsweise niedrigstem Punkt möglicher Versittlichung das Paradigma des Organisiertheitsbegriffs für physische natürliche Körper letztlich vollständig aufgelöst. Fleisch ist „schlechthinnig“ unorganisierte Körperlichkeit. So wird am Motiv des Fleisches als einem spekulativen Extrempunkt explizit, wie weit das nicht durch Vernunft Organisierte als strukturlos beziehungsweise als intern differenzlos modelliert wird. Fleisch als reine Mannigfaltigkeit ist, gemessen an der Schleiermacher zeitgenössischen Ausdifferenzierung des Naturbegriffs, zum anderen auch deshalb problematisch, weil der der biblischen Tradition entnommene Ausdruck letztlich konzeptionell Platz lässt für den christlichen Geist als Strukturierungsinstanz physischer Natur überhaupt, sofern der Naturbegriff in (christlich‐)sittlicher Perspektive steht. Damit findet sich zwar bei Schleiermacher keine Physikotheologie im engeren Sinn, aber ein durchaus physikotheologisch anmutendes Grundmuster. Physische Organisiertheit erhält teleologisch durch den christlichen Geist ihre basale interne Funktionalität und Ausdifferenzierung – wenn letztere auch sehr komplex und über einen gesamten (christlichen) Kulturprozess vermittelt gedacht wird. Schleiermacher modelliert, bezieht man nun noch die christologischen Motive mit ein, Versittlichung fast als schon vorbewussten Selbst-Züchtungs-Prozess des christlichen Geistes für sich  Besonders häufig z. B. in der Einleitung zum „verbreitenden Handeln“: Schleiermacher 1884, 291– 329 (Anm. 1).  Schleiermacher 1884, 305 (Anm. 1).  In dieser Entgegensetzung als „σάρξ“ gegenüber entweder πνεῦμα oder νοῦς z. B. Schleiermacher 1884, 316 (Anm. 1); hier in Schleiermachers Anmerkung aus der Vorlesung von 1826/27.

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selbst. Denn christlicher Geist ist, was „in den Menschen hinein gepflanzt ist oder gepflanzt werden soll, um alles in ihm […] sich zu seinem Organe anzubilden“.⁷⁰ Christlicher Geist ist als höchster Punkt von Vernunft zugleich „einziges Agens“ und insofern alles durchprägendes „Centralorgan“.⁷¹ Dieses zentrale Agens ist wiederum, so die Sittenlehre, von Christi Weise der Beharrlichkeit gegen die „Renitenz“⁷² des Fleisches angestoßen worden. Und die christologische Verflechtung des Organismusbegriffs verbindet sich zuletzt mit einer normativen, die ja bereits in der Fassung des Kulturprozesses im Brouillon als zunehmende Beherrschung anklang: Denn Natur als Fleisch kann mittels des Sündenbegriffs charakterisiert werden. Christus wird gegenteilig vorgestellt, als in durchgängiger „Beharrlichkeit“ der „Anstrengung“ zur organischen Versittlichung stehend. Insofern symbolisiert die Christusfigur in der Sittenlehre die vollständige Überwindung der „Renitenz“ niedrigstufiger Organisiertheit. In kritisch differenzierter Perspektive würde Schleiermachers Begriff des Fleisches als schlechthinniger Mannigfaltigkeit am Ort des Physischen, vermutlich eher einer Naturauffassung im Modus des Geschmacksurteils korrelieren. Im Geschmacksurteil des Erhabenen wird bei Kant das Chaotische oder Unberechenbare an körperlicher Natur als erschreckend und anziehend zugleich beurteilt. Natur als schlechthinnig unorganisierte Mannigfaltigkeit, zudem mit dem Sündenbegriff assoziiert, insofern also ein mit Lust und Unlust verknüpftes Erleben, fiele in den Kantischen Urteilskraftschriften gerade nicht unter die Beurteilung physischer Naturkörper als organisiert. Eine erfahrungsbezogene, pragmatische Beurteilung von Naturkörpern als organisiert, sich fortpflanzend, vermehrend, sich physisch erhaltend stünde auf einem völlig anderen, wenn auch methodologisch gesehen benachbarten, Blatt. Beide, physische Organisiertheit einerseits und Lust-Unlust-Erleben mit den daran hängenden ästhetischen oder auch religiösen Deutungen andererseits, würden getrennt betrachtet werden müssen.

2.4 Eine Physiologie der Kirche in der Sittenlehre? Über die Metaphorik von Wachstum, Krankheitszuständen, Reinigung und Vermehrung der christlichen Kultur Am klarsten ist Schleiermachers Verwendung des Organismus-Paradigmas auf der Ebene, auf der es metaphorisch für nur eine einzige Organisationsebene von Kultur

 Schleiermacher 1884, 301 (Anm. 1).  Schleiermacher 1884, 306 (Anm. 1); hier in Schleiermachers Anmerkung aus der Vorlesung von 1826/27.  Die „Renitenz“ des Überwiegens des Fleisches wäre mehr Dominanz rein mannigfaltigen „Stoffs“ und insofern weniger durch Intelligenz des Vernunftorganismus erzielte Strukturierung. Dazu insgesamt: Schleiermacher 1884, 393 – 394 und 299 – 300 (Anm. 1).

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genutzt wird. Das organische Leben der Kirche⁷³ wird in der Sittenlehre als ein wachsendes, reifendes, sich reinigendes, von Krankheitszuständen regenerierendes physisches Wesen vorgestellt. Auch Fortpflanzung einzelner gemeindlicher Organismen im Fortlauf bestimmter Prozesse der Reifung und Teilung, ist durchweg in dieser physiologischen Metaphorik gehalten. Ein Beispiel organischer Selbst-Reinigung (im Sinne der Regeneration) bei Krankheit bietet bei Schleiermacher die Reformationszeit. Auf dieses kreativ eingesetzte Metapherngeflecht soll nun aber nicht mehr im Einzelnen eingegangen werden. Von dem als physisch-organisch modellierten Kirchenbegriff aus ist ein Verweis auf Parallelen zu Schleiermachers Fassung der Staatslehre als einer „Physiologie des Staates“ interessant. Darin, dass Schleiermacher seine Staatslehre ausdrücklich als Physiologie bezeichne und bis in die Wortwahl hinein entsprechend herauskristallisiere, bilde Schleiermacher, so schreibt Walter Jaeschke, eine damals „provokative“⁷⁴ Staatstheorie aus: „‚Physiologie’ und nicht ‚Geschichte’: Mit diesem mehrfach verwendeten Ausdruck ‚Physiologie des Staates’ grenzt Schleiermacher das Programm seiner Staatslehre terminologisch prägnant, anschaulich und konstant zugleich von allen früheren Unternehmungen ab.“⁷⁵ Bei aller Konstruktivität des genutzten physiologisch-organischen Paradigmas werfen beide, Staatstheorie und Kirchenbegriff, aber auch die gleichen von Jaeschke für die „Physiologie des Staates“ benannten und offen bleibenden Fragen⁷⁶ auf: Die Frage nach Schleiermachers Vorstellung von dem physischen Stoff, aus dem der Körper des Staates (beziehungsweise ähnlich der Kirche) dann eigentlich zusammengesetzt vorzustellen sei; sowie die Frage nach der möglichen Zuordnung von Normativität, „weil dieser Körper insgesamt aus einem sowohl natürlichen als auch geistigen ‚Doppelleib’ gebildet“⁷⁷ dargestellt sei; und zuletzt die Frage nach Art und Ort eines eigenen reflexiven Steuerungspotentials dieses Körpers.

3 Vermischtes Ungleichgewicht: Schleiermachers organisierte Natur und Vernunft Überraschend und irritierend scheint mir angesichts dieser letztgenannten enormen konstruktiven Bedeutung physiologischer Metaphorik bei Schleiermacher vor allem – und dies sei zugleich das Fazit der Stichproben zur Differenzierung organisch-physiologischer Termini und Metaphern –, dass Schleiermacher zwar Kulturwesen mit

 Vgl. dazu den Kirchenbegriff unter der Form des Reinigenden Handelns: Schleiermacher 1884, 178 – 205 (Anm. 1).  Jaeschke 2018, 184 (Anm. 35).  Jaeschke 2018, 186 – 187 (Anm. 35).  Vgl. Jaeschke 2018, 187 (Anm. 35).  Jaeschke 2018, 187 (Anm. 35).

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zeitgenössisch innovativen physiologischen Modellierungen als individuell organisierte Natur darstellt. Dass aber am Ort von Schleiermachers Kommentierung physischer Naturkörper (im engeren Sinn) dieser neue Begriff individueller interner Organisiertheit, den obigen Stichproben zufolge, gar nicht zum Tragen kommt. Angesichts der zeitgenössischen methodologischen Ausdifferenzierung des Organismus-Paradigmas fiel Schleiermachers Entscheidung zugunsten einer an den antiken Begriff des Organs angelehnten Variante aus; nicht zugunsten einer anderen der damals möglichen Konzeptionen physischer Organisiertheit. Und die Entscheidung fiel für das Gegenteil möglicher Ausdifferenzierung von Perspektiven auf Naturkörper. So sehr die produktiven Aspekte des damals innovativen Paradigmas für Kulturprozesse (bis ins Detail ihrer quasi physisch-individuellen Organisation) durchgespielt wurden, so sehr scheint Schleiermachers Art der Nutzung des Paradigmas einen Verzicht auf das Modell körperlich intern organisierter Differenzierung zu bedeuten. Das heißt aber auch Verzicht auf eine zeitgenössisch gegebene Möglichkeit, religiöse, ästhetische, metaphysische und entsprechende normative Implikationen aus der Vermengung mit dem Begriff organisierter Natur dort auszuklammern, wo dieser als erfahrungsbezogenes Beurteilungsmodell für Naturkörper Anwendung finden könnte. Aber inwiefern eine solche Entscheidung für ein konkretes Modell der Organisiertheit und für den Verzicht auf dessen methodische Ausdifferenzierung als günstig einzuschätzen ist, wird man heute vermutlich ohnehin anders beurteilen als mit Blick auf damalige Zusammenhänge. Das bei Schleiermacher prinzipiell angekündigte „Ineinandersein“⁷⁸ der VernunftNatur-Einbildung würde nun aber nur darin bestehen, dass der zunehmenden Beherrschung der Natur als Gegenmodell eine weit ausgreifende Übertragung von Naturmetaphorik auf kulturelle Gebilde gegenübergestellt ist, ohne dass dem Naturprozess als solchem – in individuell begrenzten physischen Körpern – eine rein interne Eigendynamik heuristisch zugesprochen würde. Dann würde Schleiermachers Anlage einer Wechselseitigkeit zwischen Natur und Vernunft und den entsprechenden Wissensbereichen lediglich bedeuten können, dass Kultur zunehmend im Medium naturalisierend-organologischer Metaphorik interpretiert würde. Demgegenüber wird eine, durchaus auch konkrete erfahrbare Prozesse deutende, zunehmende Durchformung von Natur durch vernunftgeleitete Organisationsstrukturen als Kulturprozess vor Augen gestellt. Insofern wäre das Ineinandersein oder eine Wechselseitigkeit der Vernunft-Natur-Einbildung allerdings eine Wechselseitigkeit zweier sehr ungleicher Partner. Die Kantische Ausdifferenzierung bietet demgegenüber die Möglichkeit, Naturkörper pragmatisch als organisierte zu beurteilen und sie parallel dazu auch als religiös-moralische Implikationen oder ästhetisches Erleben anregende Phänomene zu betrachten. Der Blick auf organisierte Natur und deren physische Lebensäußerungen wird dadurch insgesamt aufgeklärt, weil ausdifferenziert. Das hat auch erhebliche

 S. Anm. 36.

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Auswirkungen auf die Beurteilung menschlicher organisierter Naturkörper, sofern Menschen dann, mit einer Formulierung aus Kants Pädagogik, beides zugleich in verschiedener Perspektive sind: „organisierte, vernünftige Wesen“.⁷⁹

 So die Formulierung entsprechend Kants Pädagogikvorlesung: Immanuel Kant [1803], Über Pädagogik, Kants gesammelte Schriften, Bd. IX, hg.v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1923, 437– 499, hier 463.

Kritik

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Kritik als Projekt der Moderne? Zur Reichweite und Aktualität der Schleiermacherschen Kritikkonzeption mit einem Blick auf Michel Foucault

1 Einführende Überlegungen Das Aufrufen derart großer Begriffe wie „Moderne“ und „Kritik“, wie es hier im Titel geschieht, ist eigentlich hoch problematisch: Meinen wir eine spezifische Epoche und wenn ja welche? Gilt sie gleichermaßen für Gesellschaft und Wissenschaft, tritt sie möglicherweise in den einzelnen Disziplinen zeitversetzt auf und wo, in welchem Land, welchem Kontinent ist sie zu verorten? Ist die Kritik das Projekt der Moderne oder unterhält sie in ihrem Verlauf vielleicht auch noch eine ganze Reihe anderer Projekte, die wir eher ungern mit dem Begriff der Moderne in Verbindung bringen (Eurozentrismus, Rassismus, Misogynie, Nationalismus, Technokratie …)? Oder ist Kritik ein Projekt, deren Charakteristik und deren Wirken es an unterschiedlichen Orten und durch die Zeiten hindurch in ihrem kontextbedingten je anderen Auftreten in dieser Welt zu identifizieren gilt? Macht dann aber die Rede von Kritik als Projekt der „Moderne“ noch Sinn? Bezieht man sich auf einen gängigen Modernebegriff innerhalb der Philosophie, der mit der europäischen Aufklärung ansetzt und eng mit einem methodischen Kritikbegriff verbunden ist, dann könnte man folgende Zusammenfassung wagen: Sie ist zunächst eine Gegenbewegung, ein Sich-Absetzen gegen eine als autoritär erlebte alte Struktur; damit verbunden ist ein Krisenbewusstsein und die Aufgabe einer Krisenbewältigung¹, daraus langsam erwachsend ein Bewusstsein für Geschichte und Geschichtlichkeit des eigenen Denkens und Handeln und damit wiederum verbunden die Etablierung einer spezifischen Vorstellung der Zeitlichkeit des Menschen, sein Teilhaben an einem dynamischen Prozess menschlicher, geistiger und sprachlicher Entwicklung, deren mögliche Unendlichkeit und Unüberschaubarkeit zu einer großen Herausforderung wird. Zum Orientierungspunkt in dieser sich historisch relativierenden Welt wird das Selbst, zum Motor und Modus der Moderne die spezifische Haltung der Kritik, die in einer Reflexion der Reflexion schließlich auch die Erfahrung  Diese enge Verbindung von Kritik als eine Form dieser Krisenbewältigung – Krise und Kritik haben immerhin denselben etymologischen Ursprung – betont auch Judith Butler. Zur Kritik komme es, weil sich im epistemologischen Feld bereits Risse zeigen und sich eine Krise anberaumt: „Und von dieser Bedingung, vom Riss im Gewebe unseres epistemologischen Netzes her, entsteht die Praxis der Kritik mit dem Bewusstsein, dass hier kein Diskurs angemessen ist oder dass unsere Diskurse in eine Sackgasse geführt haben.“ (Judith Butler, „Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend“, in: Was ist Kritik?, hg. v. Rahel Jaeggi / Tilo Wesche, Frankfurt a. M. 2009, 221– 246, hier 226 – 227). https://doi.org/10.1515/9783110569520-034

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der Selbstermächtigung des Subjektes und die damit verbundenen Subjektkonstruktionen in Frage stellt. Im Folgenden wird es um eine doppelte Perspektive gehen: zum einen um das historisch zu verortende Kritikprojekt der europäischen Aufklärung, wie es noch in Friedrich Schleiermachers Philosophie zum Tragen kommt und zum anderen um die Frage nach der Kritik als einem grundsätzlichen Reflexionsmodus des Menschen, der in seinem Kern revolutionär und zugleich konservativ ist, insofern er etwas (zu bewahren) sucht, was dem Menschen als Menschen eigen ist. Letzteres fasst Friedrich Schleiermacher bereits mit Abstand zur klassischen europäischen Aufklärung im Duktus einer Aufklärung der Aufklärung als „potenzierte Kritik“ oder „Kritik der Kritik“. Um Reichweite und Aktualität von Schleiermacherschers breit angelegter, sich über alle wissenschaftlichen Disziplinen und philosophischen Teilbereiche erstreckende Kritikkonzeption zu prüfen, werde ich keine Ideengeschichte des Kritikbegriffs vornehmen, wie sie beispielsweise Kurt Röttgers vorgelegt hat², und ich werde auch keine ideengeschichtlichen Bezüge Schleiermachers zu aktuellen Positionen nachzuzeichnen versuchen. Vielmehr wähle ich ein kontrastives Verfahren, in dem ich Schleiermacher von einem Denker aus befrage, der Subjekt- und Vernunftkritik ab dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wesentlich mitbestimmt hat: Michel Foucault. „Ausgerechnet Foucault?“, so könnte man fragen, gilt er doch gemeinhin als „Vater“ der sogenannten Postmoderne, die das Ende der Moderne schon im Namen verkündet. Aber es ist Foucault, der in zwei Vorträgen in den letzten Jahren seines Wirkens an den Reflexionsmodus und den Freiheitsimpuls der Kritik als Erbe der Aufklärung erinnert und sich mit diesem Apell zugleich in ihre Traditionslinie stellt. Dabei wird insbesondere der von Foucault gesetzte Akzent auf den Nexus von Macht und Erkenntnis für Schleiermachers Kritikkonzeption zu einer Herausforderung, die, wie ich zeigen möchte, eine Re-Lektüre der Schleiermacherschen Ethikvorlesungen auf der Suche nach einer praktischen Kritik anleiten kann. Auf die Skizze von Foucaults Überlegungen zum Erbe der Aufklärung folgt eine Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Facetten des Schleiermacherschen Kritikbegriffs, Foucaults Bedenken immer wieder aufnehmend.

2 Kritik als Projekt der Moderne? Was ist Kritik? (1978) und Was ist Aufklärung? (1983) – zwei späte Vorträge von Michel Foucault Würde man heute die Preisfrage stellen, „Was ist moderne Philosophie?“ behauptet Michel Foucault 1983, so würde man vielleicht im Echo antworten: „moderne Philo-

 Vgl. Kurt Röttgers, Kritik und Praxis. Zur Geschichte des Kritikbegriffs von Kant bis Marx, Berlin / New York 1975.

Kritik als Projekt der Moderne?

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sophie ist die Philosophie, die versucht, die vor zwei Jahrhunderten so unvorsichtig aufgeworfene Frage zu beantworten: Was ist Aufklärung?“³. Dieses Statement stammt aus dem Vortrag „Was ist Aufklärung?“ am College de France im Januar 1983, also ein Jahr vor Foucaults Tod. Einige Jahre zuvor, 1978, hielt Foucault auf Einladung der Société française de philosophie bereits einen ähnlichen Vortrag mit dem Titel „Was ist Kritik?“⁴. Mit den beiden Essays stellt er sich und sein eigenes Denken ausdrücklich in die Traditionslinie einer Moderne, deren „früheste Wurzeln“ er historisch im Widerstand gegen die christliche Pastorale verortet und das ist für ihn – dem Kontext des Schleiermacher-Kongresses in Halle entsprechend – die Reformation. Reformation sei, „die erste kritische Bewegung als Kunst, sich nicht regieren zu lassen“⁵, bei dem ein anderes Verhältnis zur Schrift und die daraus erwachsende kritische „historischphilosophische Praxis“⁶ einen wichtigen Motor darstelle, der sich über Recht und Wissenschaft ausbreitet. Trotz der historischen Feststellung dieses Anfangspunktes geht es Foucault eben nicht um eine historische Epoche, auch nicht um einzelne Inhalte, wie man sie zum Beispiel unter dem Schlagwort der Humanität versammeln könnte, sondern um eine spezifische Haltung, er nennt sie sogar etwas irritierend „Tugend“⁷, deren charakteristisches Erbe er auch in seiner eigenen Philosophie wirksam sieht. Es geht um „die ständige Reaktivierung einer Haltung – das heißt eines philosophischen Ethos, das als permanente Kritik unseres historischen Seins beschrieben werden könnte“⁸. Einen Kulminationspunkt der Aufklärung sieht Foucault in Kants populärer Schrift Was ist Aufklärung?, mit der „eine Frage in die Geschichte des Denkens getreten ist, die die moderne Philosophie zwar nicht hat beantworten können, die sie ande-

 Vgl. Michel Foucault, „Was ist Aufklärung?“, in: Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, hg. v. Eva Erdmann u. a., Frankfurt a. M. 1990, 35 – 54, hier 35.  Erstmals publiziert unter dem Titel „Qu’ést-ce que la critique?“, in: Bulletin de la Société francaise de Philosophie, Bd. LXXXIV, April-Juni 1990; in deutscher Übersetzung: Michel Foucault, Was ist Kritik?, Berlin 1992. Dem Vortrag voran gehen seine Vorlesungen zur Gouvernementalität, ihm folgt im WS 1979/80 am College de France die Vorlesung „Die Regierung der Lebenden“, die sich mit der Frage des Regierens und der Verbindung von Wahrheit und Regierungspraxen beschäftigt. Sie markiert den Einstieg in Foucaults Spätwerk, in dem er sich mit Praktiken der Konstruktionen des Selbst auseinandersetzt.  Foucault 1992, 21 (Anm. 4). Vgl. ebd. auch 44: „Zum andern will ich noch […] bemerken, das ihr [der Kritik, S. Sch.] Ursprung in den religiösen Kämpfen und geistlichen Haltungen der zweiten Hälfte des Mittelalters zu suchen ist. […] Alle Auseinandersetzungen um die Pastoral in der zweiten Hälfte des Mittelalters haben die Reformation vorbereitet und waren sozusagen die geschichtliche Schwelle, auf der sich jene kritische Haltung entwickelt hat.“  Foucault 1992, 13 (Anm. 4): „[…] es hieß zur Heiligen Schrift zurückkehren; es hieß sich fragen, was in der Schrift authentisch ist, was in der Schrift tatsächlich geschrieben worden ist, welche Art der Wahrheit von der Schrift gesagt wird, wie man den Zugang zu dieser Wahrheit der Schrift in der Schrift und vielleicht trotz des Geschriebenen findet; schließlich hieß es sogar zu der einfachen Frage vordringen: Ist die Schrift wahr?“  Foucault 1992, 9 (Anm. 4) sowie Butler 2009, 227 (Anm. 1).  Foucault 1990, 45 (Anm. 3).

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rerseits aber auch nie loswerden konnte“⁹. Mehr noch als auf der selbstgesetzten Aufgabe der Aufklärung durch Kritik, die Grenzen des eigenen Wissens auszuloten, insistiert Foucault auf dem Moment des Austritts aus der Unmündigkeit, für den es nach Kant Mut braucht, der Impuls, so formuliert Foucault, zu einer „Entunterwerfung“. Foucaults Essays stehen im Kontext seiner späteren Werke, in denen er insbesondere der Verbindung von Macht und Wissen und der Praxis der Selbstkonstruktionen eine große Aufmerksamkeit widmet. Ein Widerstand gegen eine Autorität ist so nie zutreffend als Widerstand gegen ein bloßes Wissen beschrieben, sondern gegen ein Wissen, dass durch Normen und Reglementierung als Wissen auftritt und Macht ausübt. Und dieser Nexus von Wissen und Macht, die Wahrheitsregime oder die „Politik der Wahrheit“¹⁰ ist es, die daher im Visier der kritischen Haltung stehen muss: Denn nichts kann als Wissenselement auftreten, wenn es nicht mit einem System spezifischer Regeln und Zwänge konform geht […]. Umgekehrt kann nichts als Machtmechanismen funktionieren, wenn es sich nicht in Prozeduren und Mittel-Zweck-Beziehungen entfaltet, welche in Wissenssystemen fundiert sind. Es geht also nicht darum, zu beschreiben, was Wissen ist und was Macht ist und wie das eine das andere unterdrückt oder mißbraucht, sondern es geht darum, einen Nexus von Macht-Wissen zu charakterisieren, mit dem sich die Akzeptabilität eines Systems – sei es das System der Geisteskrankheit, der Strafjustiz, der Delinquenz, der Sexualität usw. – erfassen läßt.¹¹

Da sich dieser Nexus grundsätzlich nicht aufheben oder neutralisieren lässt, geht es darum, gegen ihre spezifische Form aufzubegehren, die Alternativmodelle unterdrückt¹² und Kritik ist für Foucault daher auch der Impuls „sich nicht mehr oder nicht mehr so regieren zu lassen“¹³.

 Foucault 1990, 35 (Anm. 3).  In ihrer Auseinandersetzung mit Foucaults Kritik-Vortrag bezeichnet Judith Butler den Zusammenhang von Wahrheit und Macht als „Politik der Wahrheit“: „Die Politik der Wahrheit gehört zu jenen Machtbeziehungen, die von vorneherein eingrenzen, was als Wahrheit zu gelten hat und was nicht, als Wahrheit, die die Welt auf eine bestimmte Regelhaftigkeit und Regulierbarkeit hin ordnet und die wir dann als das gegeben Feld des Wissens hinnehmen.“ (Butler 2009, 236, [Anm. 1]).  Foucault 1992, 33 (Anm. 4). Vgl. 31: „Man möchte wissen, welche Verbindungen, welche Verschränkungen zwischen Zwangsmechanismen und Erkenntniselementen aufgefunden werden können, welche Verweisungen und Stützungen sich zwischen ihnen entwickeln, wieso ein bestimmtes Erkenntniselement – sei es wahr oder wahrscheinlich oder ungewiß oder falsch – Machtwirkungen hervorbringt und wieso ein bestimmtes Zwangsverfahren rationale, kalkulierte, technisch effiziente Formen und Rechtfertigungen annimmt.“ Weiterhin heißt es, es gehe um die Aufgabe, die „Akzeptabilitätsbedingungen eines Systems herausarbeiten“ (35), die „Positivitäten“ als „reine Singularitäten“ zu verstehen (36 – 37), die sich nicht auf letzte Prinzipien, auf Ursprünge, auf ein letztes Prinzip oder Wesenheiten zurückführen lassen.  Vgl. Butler 2009, 225 (Anm. 1): „Welches Verhältnis besteht zwischen Wissen und Macht, sodass sich unsere epistemologischen Gewissheiten als Unterstützung einer Strukturierungsweise der Welt herausstellen, die alternative Möglichkeiten des Ordnens verwirft.“

Kritik als Projekt der Moderne?

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Foucault weist dabei auch auf die Gefahr der Kritik oder kritischen Vernunft hin, sich in ihrer Funktion der Entlegitimierung zugleich immer auch in das Unternehmen einer Legitimierung zu begeben, mit der sich neue Autoritäten installieren („es wurde kritisch geprüft also ist es wahr“). Es bedarf also einer Kritik, die die „Anmaßungen der Wissenschaft“ aufzeigt inwiefern sie „mit den eigentümlichen Herrschaftsformen der zeitgenössischen [Ge]sellschaft verknüpft ist“¹⁴ und in diesem Sinne ist sie „die Kritik der anmaßenden Vernunft und ihrer spezifischen Machtwirkungen“¹⁵. Im Sinne einer Entlegitimierung mit dem gleichzeitigen Bestreben einer „Neutralisierung in Sachen ‚Legitimität‘“ überhaupt wird auch Kants Anliegen einer transzendentalen Grundlegung, einer ein für alle Mal kritisch festzulegenden Grenze des Erkennens und der Bestimmung der Bedingungen ihrer Möglichkeit hinfällig.¹⁶ Insofern die kritische Betrachtung der Akteptabilitätsbedingungen des Systems, der Funktionsmechanismen von Wissen und Macht Interaktionsbedingungen sind, sind sie immer in Bewegung und der Kritiker immer auch Teil des Systems. Das bedeutet, dass Kritik ein fortwährendes Unternehmen ist, dass sie ihre Maßstäbe nur aus dem historischen Prozess selbst gewinnen, erneut verlieren und in Frage stellen kann.

3 Kritik als Verschränkung von Form und Inhalt und als unendlicher intertextueller Verweiszusammenhang Schleiermachers Reflexionen auf den Begriff der Kritik und seine kritische Praxis sind umfangreich, sie umfassen fast alle Disziplinen und sind über alle Phasen seines wissenschaftlichen Schaffens präsent. Sie wird thematisch und praktiziert als Kunstkritik, philologische Kritik, historische Kritik (mithin auch eine kirchenhistori-

 Foucault 1992, 12 (Anm. 4): „Als Gegenstück zu den Regierungskünsten, gleichzeitig ihre Partnerin und ihre Widersacherin, als Weise ihnen zu mißtrauen, sie abzulehnen, sie zu begrenzen und sie auf ihr Maß zurückzuführen, sie zu transformieren, ihnen zu entwischen oder sie immerhin zu verschieben zu suchen, als Posten zu ihrer Hinhaltung und doch auch als Linie der Entfaltung der Regierungskünste ist damals in Europa eine Kulturform entstanden, eine moralische und politische Haltung, eine Denkungsart, welche ich nenne: die Kunst nicht regiert zu werden bzw. die Kunst nicht auf diese Weise regiert zu werden und um diesen Preis regiert zu werden. Als erste Definition der Kritik schlage ich vor: die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden.“  Foucault 1992, 20 – 21 (Anm. 4).  Foucault 1992, 21 (Anm. 4).  Vgl. Foucault 1990, 49 (Anm. 3): „Das hat offensichtlich zur Konsequenz, daß Kritik nicht länger als Suche nach formalen Strukturen mit universaler Geltung geübt wird, sondern eher als historische Untersuchung der Ereignisse, die uns dazu geführt haben, uns als Subjekte dessen, was wir tun, denken und sagen zu konstituieren und anzuerkennen. In diesem Sinne ist die Kritik nicht transzendental, und ihr Ziel ist nicht die Ermöglichung einer Metaphysik: sie ist in ihrer Absicht genealogisch und in ihrer Methode archäologisch.“

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sche Kritik), erkenntnistheoretische Kritik und mit Einschränkungen, diesen Punkt gilt es hier hervorzuheben, auch als sittliche, praktische Kritik beziehungsweise als Gesellschaftskritik. In seiner Akademievorlesung Das Wesen der Kritik, eng verwandt mit den kaum ausgebauten Einleitungen seiner Vorlesungen zur Kritik, unternimmt Schleiermacher den Versuch einer Wesensbestimmung der Kritik, die Umfang und Idee benennen soll und in der er (zunächst als empirischen Befund und nicht als systematische Unterscheidung) eine doktrinale, eine historische und eine philologische Kritik unterscheidet. Von diesen drei Kritikbegriffen ist die doktrinale Kritik, die das Werk mit seinem „Urbild“ oder seiner Idee vergleicht, die umfassendste, denn das „Werk“ ist nicht nur als Kunstwerk zu verstehen, sondern meint, wie Schleiermacher in der Vorlesung von 1832/33 in der Nachschrift Calows zu bedenken gibt „alle menschlichen Productionen vom Mechanischen an durch die Gebiete der Kunst und Wissenschaft“ sowie explizit auch Handlungen.¹⁷ Gleichwohl findet die doktrinale Kritik, die, insofern sie sich sowohl auf Handlungen, auf Denken und auf Kunstwerke bezieht und eine erkenntnistheoretische, praktische Kritik und Kunstkritik umfasst, an dieser Stelle keine Ausführung. Festzuhalten bleibt jedoch, dass Schleiermacher auch in seinen späteren Jahren einen Kritikbegriff vor Augen hat,¹⁸ dass die unterschiedlichen Formen der Kritik wechselseitig aufeinander angewiesen sind, dass sie sich in wechselseitiger Unter- und Überordnung nur in und miteinander vollenden und dass sie sich in ihrer technischen Ausführung, nicht aber in ihrer eigentlich kritischen Arbeit voneinander unterscheiden. Damit wäre zumindest ein erster Anspruch markiert.

 Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, KGA II/4, hg. v. Wolfgang Virmond, Berlin / Boston 2012, 1007– 1008. Die aufschlussreiche Passage sei hier umfänglich zitiert: „Nun fragen wir, wie stehts mit der doctinalen oder recensirenden Kritik? Deren Geschäft besteht darin, Werke von Männern in Beziehung auf ihren Werth richtig zu schätzen; nun möchte ich sagen, ist auch der Ausdruk Werk vielleicht zu eng, denn sieht man auf die Differenz, die der Sprachgebrauch zwischen Werk und Handlung sieht, so kann es auch eine Kritik von Handlungen geben, und sofern sie auf Principien zurückgebracht sind, so sind sie wissenschaftlich, und das müssen wir nun auch noch hineinnehmen. Der Ausdruck Werke schließt aber literarische Werke in sich wie Werke der Kunst in allen verschiedenen Beziehungen, ja wir werden sagen müssen, wenn wir die Sache vollständig auffassen wollen, so können wir auch die mechanischen Künste nicht ausschließen, ebenso wie auf der andern Seite nicht die bloße Anordnung; also alle menschlichen Productionen vom Mechanischen an durch die Gebiete der Kunst und Wissenschaft ihrem Werthe nach zu schätzen und dieses demnächst auf die Handlungen zu übertragen, wenn sie auch nicht Werke seien, sofern sie die Elemente eines gemeinsamen Werks sind.“  So wird z. B. in den späten Ethikvorlesungen diese Einheit betont, wie in der anonymen Nachschrift der Vorlesung von 1827 (ich stütze mich auf eine noch unveröffentlichte Transkription von Andreas Arndt): „Jenes Kritische ist dasselbe auf allen Gebieten der Sittenlehre, dieses Technisches wird ein Andere für jede einzelne Aufgabe und vermannigfaltigt sich immer mehr, wo die Totalität der sittlichen Aufgabe mehr in ein Mannigfaltiges aufgelöst wird.“ (Nachschrift Ethikvorlesung, Anonymus 1827, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (ABBAW), Schleiermacher Nachlass (SN) 586, Bl. 188).

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Zu Schleiermachers frühster kritischen Praxis aber auch seiner frühsten Reflexion über Kritik gehören seine Beiträge im Rahmen der Zeitschrift Athenäum, die ganz im Modus Schlegelscher Kritik funktionieren und deutlich machen, dass Friedrich Schlegels künstlerisch-philologisch-philosophischer Kritikbegriff zu einer Initialzündung für Schleiermacher wurde. An die Bestimmung des frühromantischen Kritikbegriffs Schlegelscher Prägung, der in Auseinandersetzung mit Kant aber auch und in starkem Maße in Auseinandersetzung mit der emanzipierten Literaturkritik der Aufklärung (Lessing, Herder, Klopstock, Moritz) entsteht, sei hier nur in einigen Stichwörtern kurz erinnert: Vor dem Hintergrund einer Ablehnung einer Philosophie aus erstem Grundsatz, einer als unendlich vorgestellten menschlich-vernünftigen Tätigkeit und einer grundsätzlichen Sprachbedingtheit des Vernünftigen, kann Kritik nicht zu einem einmaligen Gerichtsakt werden. Sie ist keine Propädeutik zukünftiger Wissenschaft und als Mit- und Durcheinander von Sprach- und Denkkritik kein an ihren Gegenstand herangetragenes externes Instrument. Dieses grundsätzliche Involviert-Sein erhebt Friedrich Schlegel zum Programm und fordert eine Grenzüberschreitung zwischen Gegenstand und Methode: Alle Kritik soll produktiv, werkvollendend, alle Produktion selbst kritisch werden. Zunächst orientiert und ausgerichtet auf das Individuelle – sie „soll die Werke nicht nach einem allgemeinen Ideal beurtheilen, sondern das individuelle Ideal jedes Werkes aufsuchen“¹⁹ – muss sie um des Individuellen willen, das sich nur in einem Ganzen als Individuelles erweist, auch auf das Ganze gehen und ist in diesem Sinne universal.²⁰ In dieser Zirkelhaftigkeit ist sie notwendig divinatorisch und künstlerisch, denn der Zusammenhang zwischen Indi-

 Friedrich Schlegel, Fragmente zur Poesie und Literatur, Teil 1, KFSA XVI, hg. v. Hans Eichner, Paderborn / München u. a. 1981, 270, Nr. 197. Als der ‚Prototypʽ dieser neuen Literatur, die erst nach noch zu findenden Regeln beurteilt werden muss, gilt Goethes Wilhelm Meister, vgl. auch die LyceumsFragmente, Friedrich Schlegel, KFSA II, hg. v. Hans Eichner, Paderborn / München / u. a. 1967, 162, Nr. 120. Ästhetische Urteile folgen keinen allgemeinen Regeln, sondern sind vielmehr „Machtsprüche“, die sich nicht beweisen jedoch legitimieren lassen müssen: „Alle eigentl.[ichen] aesthet.[ischen] Urteile s[ind] ihrer Natur nach Machtsprüche und können nichts andres sein. Beweisen kann man sie nicht, legitimieren aber muß man s.[ich] dazu. —“ (Schlegel, 1981, 91, Nr. 71 [Anm. 19]).  Da das individuelle Ideal des Kunstwerkes nicht immer zur vollen Entfaltung gekommen ist – denn auch Kunstwerke sind immer nur auf dem Weg ihrer eigenen Vollendung –, muss die Kritik selbst produktiv und mithin auch poetisch werden: „Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden. Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk ist, entweder im Stoff, als Darstellung des notwendigen Eindrucks in seinem Werden, […] hat gar kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst.“ (Schlegel 1967, 162, Nr. 117 [Anm. 19]). Vgl. auch Friedrich Schlegel Lessings Gedanken und Meinungen, in: ders., Charakteristiken und Kritiken II (1802 – 1829), KFSA III, hg. v. Hans Eichner, Paderborn / München / u. a. 1975, 82: „Einer Kritik, die nicht so wohl der Kommentar einer schon vorhandnen, vollendeten, verblühten, sondern vielmehr das Organon einer noch zu vollendenden, zu bildenden, ja anzufangenden Literatur wäre. Ein Organon der Literatur, also eine Kritik, die nicht bloß erklärend und erhaltend, sondern die selbst produzierend wäre, wenigstens indirekt durch Lenkung, Anordnung, Erregung.“

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viduellem und Allgemeinen ist ein noch zu schaffender. Somit wird der wahre Kritiker zum Autor „in der 2 t Potenz“²¹, wahre Kritik sei eine sich selbst potenzierende Kritik.²² Dass dieser Ansatz produktiver Literaturkritik (die gattungsauflösende Reflexion über Kunst als Bestandteil künstlerischer Produktion zu begreifen und Kritik und Werk ineinander fließen zu lassen) für die Literatur selbst bahnbrechend und eine Vorwegnahme moderner Literatur (gemeint ist die Wende zum 20. Jahrhundert) war, hat bekanntlich Walter Benjamin in seiner Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1919) erkannt und steht nach wie vor in der Literaturwissenschaft außer Frage. Auf philosophischer Seite findet sie ein Fortleben frühromantischer Kunst- und Textkritik unter anderem in den dekonstruktiven Strategien der Postmoderne. In dieser Fluchtlinie analysiert auch Judith Butler Foucaults Aufsatz Was ist Kritik? als inszeniertes kritisches Denkens, als literarische Formreflexion. Zu Schleiermachers Beiträgen im Athenäum gehören neben den bekannten Athenäumsfragmenten auch vier philosophische Rezensionen Schleiermachers,²³ die sich in ihrer kritisch-romantischen Gangart von Mal zu Mal steigern und in der letzten, der Fichte-Rezension eine gewisse Meisterschaft finden, die auch Schlegel ausgesprochen gefiel und die er als noch nie dagewesen lobte.²⁴ Schleiermachers Rezension von Fichtes Die Bestimmung des Menschen (1800) im vierten Heft des Athenäums erscheint als eine Art formaler Spiegel, insofern Schleiermacher mit der Struktur des

 Friedrich Schlegel, Philosophische Lehrjahre 1796 – 1806, Teil 1, KFSA XVIII, hg. v. Ernst Behler, Paderborn / München u. a. 1963, 106, Nr. 927.  Zum Schlegelschen Kritikbegriff als potenzierte Kritik vgl. Bärbel Frischmann, „Friedrich Schlegels frü hromantische Kritikkonzeption und ihre Potenzierung zur ‚Kritik der Kritikʽ“, Archiv fü r Begriffsgeschichte 43 (2001), 83 – 111.  Eine erste Rezension schrieb Schleiermacher zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (Athenäum 1799, 2. Bd., 2. St.; abgedruckt in: KGA I/2, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 363 – 370.), eine zweite über „Garve’s letzten von ihm selbst herausgegebe Schriften“ (Athenäum 1800, 3. Bd., 1. St.; abgedruckt in: KGA I/3, Günter Meckenstock, Berlin / New York 1988, 63 – 72), die ein scharfer und deutlicher Verriss dieses Populärphilosophen ist. Eine dritte, wesentlich kunstvollere hingegen, den Schlegelschen Vorstellungen einer wechselseitigen Reflexion von Form und Inhalt entsprechend, über Johann Jakob Engels Der Philosoph für die Welt (Athenäum 1800, 3. Bd., 2. St.; abgedruckt in: KGA I/3, Günter Meckenstock, Berlin / New York 1988, 225 – 234). Wie Engels verwendet auch Schleiermacher in seiner Rezension die Form des Briefes; anders aber als sein Rezensionsgegenstand ist die Form des Briefes nicht aufgesetzt, er schöpft sie aus und führt so vor, was er selbst nicht bei Engels findet.  Dieser letzten Rezension über Fichte (abgedruckt in: KGA I/3, Günter Meckenstock, Berlin / New York 1988, 235 – 248) zollt Schlegel in einem Brief an Schleiermacher vom Anfang August 1800 großen Respekt. Vgl. Brief von F. Schlegel und Dorothea Veit Anfang August 1800, KGA V/4, hg. v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin / New York 1994, 179, Br. 922, Z. 18. Zur frühromantischen Praxis der Kunst- und Literaturkritik vgl. Manuel Bauers überzeugende Darstellung: Manuel Bauer, „Hermeneutische ‚Teufeleyen’? Schleiermacher und die frühromantische Kritik.“, in: Der Begriff der Kritik in der Romantik, hg. v. Ulrich Breuer / Ana-Stanca Tabarasai-Hoffmann, Paderborn / München u. a. 2015, 174– 198 sowie ausführlicher in der Monographie: Manuel Bauer, Schlegel und Schleiermacher. Frühromantische Kunstkritik und Hermeneutik, Paderborn / München u. a. 2011.

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Fichteschen Textes spielt und die formale Darbietung in Vorrede, Monolog, Dialog und Monolog performativ reflektiert.²⁵ Eine ähnliche komplexe intertextuelle Reflexion findet sich in den Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde von 1800, mit der sich Schleiermacher bewusst in eine Geschichte intertextueller Verweise stellt, insofern Schleiermacher über Schlegels Roman Lucinde (1799), dieser über Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) und dieser wiederum an Shakespeares Hamlet (1601/02) poetisch reflektiert.²⁶ Das Moment einer quasi ins Unendliche weisenden Intertextualität der kritischen Kunstproduktion, wird in der Postmoderne zu einem Signum der Schrift überhaupt, mit der positivistisch verstandene Kategorien von „Werk“ und „Autorschaft“ in Frage gestellt werden. Schleiermachers Weggefährtenschaft mit Schlegels, für die Kunst und Literatur so aktuellen und wirkungsträchtigen Kritikbegriffs ist kurz. Zwar hört Schleiermacher nicht auf, Rezensionen zu schreiben, wohl aber diese Art von Rezensionen. Der Bruch ist zumindest auffällig und wird auch dadurch besiegelt, dass diese kritische Praxis in Schleiermachers späteren Ästhetikvorlesungen keine Rolle spielt. Schleiermachers Ästhetik ist keine Werkästhetik, sondern eine Produktionsästhetik, in der der im Fokus stehende einzelne künstlerische Akt nicht zwangsläufig Kunst hervorbringen muss, sondern jedem Menschen als sein ureigenes Vermögen zukommt. Im Kontext einer solchen Produktionsästhetik wäre eine Zusammenführung von Rezeption und Produktion in der Art einer Schlegelschen „Charakteristik“ des Werkes als ihre kritisch-produktive Vollendung jedoch durchaus zu platzieren gewesen.²⁷ Anstatt den Weg des Künstler-Kritikers geht Schleiermacher immer mehr den Weg eines mit akribischer Genauigkeit prüfenden Philologen. Ist die Abkehr in der Schreibpraxis auffällig, so ist sie doch weniger ein Bruch auf systematischer beziehungsweise philosophischer Ebene. Denn wesentliche Züge des romantischen Kritikbegriffs bleiben in den philosophischen Vorlesungen, insbesondere der Dialektikvorlesung präsent, auch wenn sie dort nicht mehr in einer poetisierenden Verschränkung von Form und Inhalt, sondern in einer nüchternen philosophischen Reflexion geboten werden.

 Vgl. Bauer 2015, 182– 184 (Anm. 24).  Vgl. Bauer 2015, 186 – 187 (Anm. 24).  Einen Hinweis auf einen Grund für diese Abkehr findet man möglicherweise in Schleiermachers Rezension der Charakteristiken und Kritiken der Brüder Schlegel von 1801, in der Schleiermacher zumindest indirekt auf die Gefahr verweist, dass der frühromantische literaturkritische Ansatz auch zu einer Manier und zur Selbstdarstellung des Kritikers verkommen kann (KGA I/3, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1988, 401–411).

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4 Kritik und Krise – Legitimationsverfahren und das Unternehmen einer Kritik der Kritik Einen ersten Ansatz für einen erkenntnistheoretischen Kritikbegriff bei Schleiermacher liefert die 1803 erschienene Schrift Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. Als Projekt steht sie noch ganz im frühromantischen Kontext, insofern sie als „Kritik der Moral“ 1799/1800 als Beitrag für das Philosophische Journal geplant worden war, sich jedoch mehr und mehr zu einem selbstständigen Werk entwickelte. Im Namen Kritik tragend geht es um eine kritische Prüfung einzelner ethischer Positionen aber ebenso über eine Reflexion über Bedingungen und Möglichkeiten eines solchen kritischen Unternehmens und der Möglichkeit einer Begründbarkeit erster Grundsätze schlechthin. Grundlegend wird für Schleiermacher jedoch kein Grundsatz, sondern die Einsicht einer Rekursivität oder Zirkelhaftigkeit: denn eine oberste Wissenschaft, die einzelwissenschaftliche Grundsätze legitimieren könnte, muss sich selbst erst aus den Einzelwissenschaften ergeben. Da das ethische Werden als unendlich anzusehen ist, besteht der einzige Ausweg für Schleiermacher daher darin, eine Wissenschaft als Methodenlehre zu entwerfen, die das Prinzip der Dynamik des Denkens und Handelns aus den konkreten geschichtlichen Erscheinungsformen dieses Handelns entwickelt. Ausgangslage der Dialektik – als eben jener Methodenlehre oder Wissenschaftslehre, über die Schleiermacher erst mit seinem Weggang aus Halle nach Berlin ab 1811 beginnt vorzutragen – ist das ewig in Streit verstrickte Denken. Als „Kunst der Gesprächsführung“²⁸ hat die Dialektik nun die Aufgabe, diesen ewigen Streit zu orientieren und Regeln der Vermittlung zu entwerfen, sodass wir hoffen können, dieses streitende Denken wenigstens einem Wissen anzunähern. In einem ersten transzendentalen Teil unterzieht Schleiermacher den Anspruch des vermeintlichen Wissens oder Denkens, ein Wissen zu sein, einer Analyse. Darin werden die Wechselwirkungen der Formen des Wissens freigelegt und begründet, warum alles Denken, das nach Schleiermacher immer „aus der Mitte“²⁹ beginnt und sich weder auf einfachste noch auf höchste Wahrheiten beziehen kann, immer nur ein individuelles Denken sein kann. In der Vermittlung dieser Streitschlichtung kommt nun der Kritik oder dem kritischen Verfahren eine fundamentale systematische Rolle zu, auch wenn Schleiermacher diese Rolle rhetorisch viel zu wenig unterstreicht. Ein erster Schritt zur Streitschlichtung, und vielleicht auch eine erste Streitregel, ist die Einsicht in die unhintergehbare Geschichtlichkeit oder Kontingenz des Denkens selbst. Nur wer weiß, dass er noch nicht weiß und einen Gesprächspartner braucht, um streitend, wenn nicht zum absoluten Wissen, so doch zu „mehr“ Wissen zu ge-

 Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen über die Dialektik. Teilband 1, KGA II/10,1, hg. v. Andreas Arndt, Berlin / New York 2002, 221.  Schleiermacher 2002, Teilband 1, 186 (Anm. 28).

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langen, kann sich überhaupt erst ernsthaft auf ein Streitgespräch einlassen.³⁰ Kritik als eigentlich Streit schlichtende Verfahren setzt für Schleiermacher das Wissen um die Relativität des vermeintlichen Denkens voraus (die prinzipielle Bereitschaft zum Streitgespräch) und hat ein Wissen der Relativität zur Aufgabe. Um zwei miteinander streitende Positionen miteinander zu vermitteln, muss nun geklärt werden, inwiefern ein Denken relativ oder nur von individueller Geltung ist. Der individuelle Geltungsbereich eines vermeintlichen Wissens kann jedoch nur dann beurteilt werden, wenn sich die Kritik dem Kontext zuwendet, aus dem heraus sich ein relatives Denken als Wissen behauptet.³¹ Oder anders formuliert: Die Kritik muss die Genese der Bildung oder Begriffsbildung des vermeintlichen Wissens (re)konstruieren und in diesem Sinne bezeichnet Schleiermacher die philosophische Kritik auch als ein „geschichtliches Erkennen“³². Dabei ist die Kritik auf zweierlei Weise mit der Philologie verbunden. Zum einen ist – hier folgt Schleiermacher dem von Herder und Hamann vorgezeichneten Weg einer Metakritik der reinen Vernunft – ein unhintergehbar sprachlich konstituiertes Denken und eine erkenntnistheoretische Kritik muss daher erstens auch immer philologische Kritik sein oder eine philologische Kritik integrieren. Und zweitens findet diese erkenntnistheoretische Kritik bei der Frage, wie sie bei dieser Aufgabe eigentlich vorgehen soll, in der Hermeneutik eine Anleitung. Auch das Verstehen in seiner strengeren Praxis wird von Schleiermacher als eine Rekonstruktion der Genese beschrieben – es ist die Umkehrung eines Aktes des Redens. Denn erst, wenn wir wissen, wie die Rede aus der Totalität der Sprache und aus der Totalität des Redenden entstanden ist, können wir behaupten, dass wir verstehen. Dazu ist auf grammatischer Seite keine möglichst allgemeine, sondern eine möglichst genaue lokale Kenntnis der Sprache nötig, wie sie dem ursprünglichen Redner und Hörer eigen war.³³ Auf der technischen oder psychologischen Seite, die sich nicht dem Sprachsystem sondern dem individuellen Redner oder dem Denken zuwendet, geht es um eine idealtypische  Diese „skeptische Innehaltung“, wie Schleiermacher diese erste Voraussetzung nennt (Schleiermacher, 2002, 275 [Anm. 28]), wird im technischen Teil der Dialektikvorlesungen in einer Reflexion auf den Irrtum ausgeführt, die Schleiermacher in den Notizen zur Vorlesung von 1818 sogar als „Theorie des Irrthums“ bezeichnet, welche als das „Allgemeinste“ der Wissenskombination und Konstruktion vorangehen soll (Schleiermacher 2002, Teilband 1, 24, Nr. 131 [Anm. 28]).  „Woher kommt denn diese Verschiedenheit? Die Antwort ist, weil jeder auf einem andern Wege, in einem andern Zusammenhange zu seinen Vorstellungen gekommen ist als der andre. […] Betrachten wir aber 2 verschiedene Vorstellungen über dasselbe natürliche Phänomen, so werden sich diese wohl nicht auf einen Rechenfehler zurückführen lassen, sondern wir werden den Grund der Differenz in einem verschiedenen Zusammenhange der Vorstellungen suchen müssen. […] In einem gewissen Sinne können 2 Parteien nie zugleich Recht haben, in einem verschiedenen Zusammenhange wohl beide.“ (Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen über die Dialektik. Teilband 2, KGA II/10,2, hg. v. Andreas Arndt, Berlin / New York 2002, 406, Std. 3).  Friedrich Schleiermacher, Ethik (1812/13), hg. v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1990, 192, § 19.  Vgl. Schleiermacher 2012, 132 (Anm. 17): „1. Erster Kanon. Alles was noch einer näheren Bestimmung bedarf in einer gegebenen Rede, darf nur aus dem dem Verfasser und seinem ursprünglichen Publikum gemeinsamen Sprachgebiet bestimmt werden.“

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Gedankengenese und deren Ablenkung durch die individuellen Lebensumstände des Redners. Streitende Positionen werden also miteinander vermittelt, indem ihr Anspruch, ein allgemeines Denken zu sein, begrenzt wird. Die Grenze ihres Geltungsanspruches zeigt sich, indem ihr jeweiliger (sprachlicher und historischer) Kontext ermittelt und somit deutlich wird, dass die einzelnen Positionen gar nicht miteinander in Streit liegen. Der einzelne Zusammenhang oder die Zusammenhänge des streitenden Denkens werden jedoch auch erst wieder aus größeren Zusammenhängen einsichtig, diese wiederum aus noch größeren Zusammenhängen, sodass, da alles Wissen in einem „Totalzusammenhang“ verbunden ist, für die kritische Vermittlung die Ermittlung des „Totalzusammenhanges“ zur Aufgabe wird und ohne die vollständige Einsicht in den ganzen Zusammenhang niemals zu einem Ende gelangen kann.³⁴ Somit wird zur Voraussetzung der Streitschlichtung, was eigentlich aus ihr hervorgehen sollte: Der Totalzusammenhang oder die Totalität des Wissens. Das kritische Verfahren kann so nie als abgeschlossen³⁵ gelten, denn erst durch Kritik entsteht approximativ, was selbst zur Streitvermittlung vorausgesetzt werden muss.³⁶ Sie muss ihr Ergebnis daher jeder Zeit selbst wieder zum Gegenstand der Kritik machen, sie ist ein unendliches Unternehmen.

5 Kritik und der Nexus von Wissen und Macht – Kritik und Wechselwirkung Foucault insistiert in seinen Essays über Kritik und über Aufklärung auf den von Kant veranschlagten Mut sich aus seiner Unmündigkeit zu befreien und reformuliert den

 Vgl. Schleiermacher 2002, Teilband 2, 411, Std. 5 (Anm. 31): „Ohne Vollkommenheit [des Wissens, S. Sch.] im Zusammenhang kann man aber unmöglich zu einem guten Ende des Gesprächs gelangen, denn es wird immer noch eine neue Differenz übrig bleiben, deren Auflösung zugleich eine Aufgabe für ein künftiges Gespräch ist, bis endlich durch anhaltendes Gesprächführen die Totalität des Wissens mit den Principien und dem Zusammenhang aller Erkenninis gegeben ist.“ Vgl. auch Schleiermacher 2002, Teilband 2, 428, Std. 10 (Anm. 31): „jedes Bestreben, sich über streitige Gegenstände zu verständigen“, setzt „die Vorstellung von einem zusammenhangenden Wissen voraus“.  Vgl. Schleiermacher 1990, 192, § 19 (Anm. 32): „Denn die einseitigen Versuche müßten alle vorhanden sein, um durch Zusammenstellung die Vollkommenheit der Wissenschaft zu ersezen, oder die mangelnden müßten wissenschaftlich können gefunden werden. Aber das lezte könnte man nur, und das erste wüßte man nur, wenn der vollkommene Begriff der Wissenschaft schon anderwärtsher gegeben wäre, und nur aus diesem Begriff könnte auch ihre nothwendige Beziehung auf einander erkannt werden.“  Vgl. Schleiermacher 2002, Teilband 1, 60, Std. 40 (Anm. 28): „Das reale Wissen ist aber auch deshalb ein nie völlig zu Stande zu bringendes weil wenn das Princip des eigenthümlichen als ein eignes Sein dessen einzelne Actionen die Vorstellungen erkannt werden soll dies nur durch Identität von Induction und Construction geschehen kann und also das spätere schon beim früheren vorausgesezt wird.“

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Impuls der Aufklärung als den Impuls „sich nicht bzw. nicht so regieren zu lassen“. Dies schließt zum einen eine Kritik ein, die sich auch auf gesellschaftliche Prozesse richtet und in der Lage ist, Machtmissbrauch und Machtexzesse zu denunzieren, geht jedoch noch eine Ebene weiter, indem sie einen grundsätzlichen Nexus von Macht und Wissen behauptet. Gibt es eine praktische, ethische oder sittliche Kritik in Schleiermachers Ethik und wann und wenn ja wie käme das Verhältnis von Macht und Wissen in Schleiermachers Philosophie ins Spiel? Das in den Dialektikvorlesungen entwickelte kritische Verfahren als historisches Erkennen und Vermittlung zwischen Individuellem und Allgemeinen ist eine erkenntnistheoretische Kritik. Sie gilt, indem die Dialektik die Methodenlehre aller Wissenschaften ist, für alle Wissenschaften also auch für die Ethik und in dieser Form findet sie auch Eingang in die Ethikvorlesungen – insbesondere in den anonymen Nachschriften von 1805/06 und 1827³⁷ finden wir einen solchen Rückgriff auf das erkenntnistheoretische kritische Verfahren.³⁸ Als Methode vermittelnder Streitschlichtung zwischen Handlungen oder Haltungen oder auch Gütern im Sinne einer Institutionenkritik findet sie innerhalb der Ethikvorlesungen jedoch keine Erwähnung. Dass eine solche Kritik nach Schleiermacher durchaus ihren Platz im System findet, gab uns bereits der eingangs erwähnte Hinweis in den späten Einleitungen zur Kritikvorlesung (1833), dass unter die doktrinale Kritik auch eine Kritik der Handlungen fallen müsste. Einen systematisch brauchbaren Hinweis auf eine praktische Kritik liefert jedoch wiederum die Dialektik und zwar in der Vorlesung von 1822. Analog zum ewigen Streit der Meinungen, der den Ausgangspunkt der Überlegungen in der Dialektik bildet, formuliert Schleiermacher auch Grundkonflikte für die praktische Philosophie: Wir sind im Zustande streitiger Vorstellungen, – der muß gelößt werden. Wir finden uns aber auch beständig im Zustande eines streitigen Wollens, jeder mit andern und mit sich selbst (Zustände von Unge[wiß]heit und Unschlüssigkeit). Diese Zustände müssen auch geschlichtet werden, wenn sich das Leben erhalten soll. So haben wir auch hier das Interesse, die Construction eines übereinstimmenden Wollens zu Stande zu bringen. Ein rein übereinstimmendes kann es aber nicht eher geben, als bis in beiden streitenden Theilen die Totalität alles Menschlichen Wollens gesetzt ist. Wenn wir also dies ansehen als reine Aufgabe für sich, so ist es offenbar eine, die eben so viel Recht hat, für sich behandelt zu werden, als die bisherige.³⁹

Ein solcher Konflikt der verschiedenen, aufeinander prallenden Interessen und Willen ist in den Ethikvorlesungen beispielsweise in der Freiheit-Notwendigkeits-Problematik präsent, die Schleiermacher vor allem in den Einleitungen thematisiert. Dennoch

 Ich stütze mich hier auf die noch nicht publizierten Transkriptionen der Nachschriften von Andreas Arndt.  Z. B. Nachschrift der Ethikvorlesung 1805/06, Anonymus, Bibliothek der Evangelisch-reformierten Gemeinde Lübeck, KIII26, Bl. 231, Bl. 235 f.; Nachschrift der Ethikvorlesung von 1827, Anonymus, ABBAW, SN 586, Bl. 43 – 48, Bl. 186 – 189 u. Bl. 537.  Schleiermacher 2002, Teilband 2, 558 – 559, vgl. auch ebd. 564– 565 (Anm. 32).

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wird dieser Konflikt dort, anders als in den Dialektikvorlesungen, nicht zum Ausgangspunkt der anschließenden Argumentation genommen. Überträgt man die in der Dialektik formulierten Grundregeln der Streitschlichtung auf den für die Ethik relevanten Interessenkonflikt, so ergeben sich folgende „Leitplanken“: Eine Voraussetzung der Kritik oder eine erste Grundregel der sittlichen Konfliktschlichtung besteht aus der Einsicht in die eigene Bedingtheit oder die prinzipielle Bereitschaft zum Interessensausgleich, was mit der Einsicht verbunden ist, dass der Geltungsanspruch jedes Interesses auf einen konkreten sittlichen Kontext begrenzt ist. Das Wie sittlicher Konfliktschlichtung würde durch eine sittliche Kritik oder (Schleiermachers breiten Kulturbegriff voraussetzend) eine Kritik der Kultur angeleitet werden, die nicht nur davon ausgeht, dass alles Wollen und Handeln partikulär ist, sondern als „geschichtliches Erkennen“ auftritt, das die „Eigentümlichkeit des Handelns“ in ihrer Verankerung in den kulturellen Manifestationen als institutionalisiertes Handlungsmuster erkennt und seine Genese nachzuzeichnen versucht. Eine Schlichtung des Interessenkonfliktes ist dann in Sicht, wenn in dieser Rekonstruktion des sittlichen Kontextes die Geltungsansprüche der einander widerstrebenden Interessen neu bestimmt werden können. Eine Voraussetzung, die wie eine regulative Idee diesen Schlichtungsprozess antreibt, ist die Annahme eines grundsätzlich vermittelbaren, jedoch im Bereich konkreter Sittlichkeit nie zu verwirklichenden, allgemeinen Willens, oder, gesprochen auf der Ebene der Objektivationen oder Güter, die eines im unendlichem Werden der Vernunft zu realisierenden „höchsten Gutes“. Entscheidend für den von Foucault fokussierten grundsätzlichen Nexus zwischen Macht und Wissen sind in Schleiermachers System nun die erst mit der Ethik umfassend in den Blick kommenden Wechselverhältnisse zwischen den einzelnen Tätigkeiten und ethischen Formen. Handeln und Erkennen, auch wenn sie sich ihrer Intention oder Ausrichtung nach abstrakt voneinander trennen lassen, stehen in unmittelbarer Wechselwirkung und sind in jedem konkreten Akt immer mit- und aneinander anzutreffen. Wir wissen nicht, was etwas ist, wenn wir nicht auch wissen, wofür es ist; und ohne zu wissen, was etwas ist, können wir es nicht zu etwas einsetzen. Jedes Erkennen setzt ein GehandeltHaben, ein Mit-etwas-umgegangen-Sein voraus, so wie jedes Handeln als der Umgang mit Etwas, die Erkenntnis dieses Etwas voraussetzen muss. Jedes Erkennen impliziert so immer auch ein Handeln, jedes Handeln ein Erkennen. Dieses grundsätzliche Aneinander-Sein der verschiedenen Tätigkeiten – Handeln, Kunstschaffen und Wissen wollendes Denken – nimmt sogar einen prominenten Platz in der zum Druck geplanten Einleitung der Dialektik von 1833 ein. Hier wird „reines“ „geschäftliches“ und „künstlerisches Denken“ in den Vor- und Nachteilen ihrer Wechselwirkung ansatzweise diskutiert. So ist alles Denken immer auch und in seiner genetischen Entwicklung an erster Stelle ein bedingtes, geschäftliches Denken und

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ohne diese Ausrichtung des Denkens wären wir gar nicht überlebensfähig⁴⁰ und würde kein Streitgespräch einen pragmatischen Abschluss finden.⁴¹ Zugleich geht von dem geschäftlichen Denken eine Hemmung des „reinen Denkens“ aus, denn auf einen konkreten Zweck ausgerichtete ist es dann befriedigt, wenn dieser erreicht ist, anders als das „reine Denken“, das in keinem Moment seiner historischen Realisierung stillstehen kann. Von Machtmissbrauch und Machtexzessen ist bei Schleiermacher keine Rede, seine um Neutralität bemühte Formulierung des geschäftlichen Denkens würde diesen Aspekt aber durchaus auch umfassen könne. Trotz des grundsätzlichen Aneinander-Seins von Handeln, reinem Denken und Kunstschaffen und der punktuellen Diskussion ihrer „Mittelzustände“⁴², geht es Schleiermacher in der Dialektik und in jeder anderen Einzeldisziplin mit Ausnahme der Ethik, die ja einen umfassenden Blick auf das ganze Leben des Geistes werfen soll, um eine möglichst reine Betrachtung der jeweils einzelnen Tätigkeit, also gerade nicht um ihren Nexus, sondern um die Frage, wie man einen relativ isolierte Betrachtungsweise realisieren kann, obgleich sie real immer aneinander auftreten. Diese Problematik der Wechselwirkung lässt sich auch auf der Ebene der Institutionen, der „Objektivationen“ oder „Güter“ untersuchen, also jenen zu gesellschaftlichen Strukturen verfestigten Handlungsmustern, die aus einzelnen Handlungen hervorgehen und diese selbst wiederum anleiten und konfigurieren. Obgleich von einer unhintergehbaren Wechselwirkung dieser „Güter“ auszugehen ist, findet eine systematische Analyse dieser Wechselwirkung der Güter innerhalb der Ethikvorlesungen nicht statt. Auch die Staatslehre kommt als Plattform einer solchen Analyse nicht in Frage. Gerade weil der Staat bei Schleiermacher nicht als „totaler Staat“ angelegt ist, der alle gesellschaftlichen und sittlichen Formationen umfasst, bietet, wie Walter Jaeschke auf dem letzten Berliner Schleiermacher-Kongress zu Recht bemerkt hat, die Staatslehre keinen theoretischen Ansatz, um Wirtschafts-, um Kultur-

 Vgl. Schleiermacher 2002, Teilband 2, 595 – 596 (Anm. 31): „Wenn wir uns in einem bedingten Denken vorstellen, und uns bewußt sind, daß das bewußte Wissen eine unendliche Aufgabe ist, so werden wir sagen müssen, daß wir eine Kenntniß zum praktischen Wissen nicht immer aus dem Wissen überhaupt rein herannehmen können. Wir werden daher eilen müssen, hier unsre Gedanken abzuschließen um [dort] danach handeln zu können. […] Der Zustand der richtigen Meinung ist eigentlich das Eigenthum des bedingten Denkens, und hat hier eine Nothwendigkeit – das bedingte Denken ist stets durch ein reales Wollen bedingt, und da ist der eigentliche Werth des Denkens die Übereinstimmung des Denkens mit dem Gedachten. Den ganzen Gegenstand will ich nicht denken, sondern nur das vom Gegenstande, was sich auf mein Handeln bezieht. […] Nun sind es dieselben Gegenstände beim Denken und beim Handeln, z. B. die ganze Natur. Dieselben Vorstellungen können gut sein für das bedingte Denken, nachtheilig für das reine, und dies kommt beständig vor. […] Das Übertragen jener Vorstellungen wäre dem reinen Denken höchst verderblich“.  Vgl. Schleiermacher 2002, Teilband 2, 597 (Anm. 31): „Wollten wir das künftige Geschlecht für das reine Denken bilden, so würde dies unmöglich sein, oder wir könnten seine Selbstständigkeit im Leben nicht garantiren. Das reine Denken muß durchaus erst eine solche Grundlage haben.“  Schleiermacher 2002, Teilband 1, 160 (Anm. 28).

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oder auch Wissenschaftspolitik – also jene Bereiche, in denen sich die ethischen Formen überschneiden und interagieren, angemessen zu erfassen.⁴³ Diese blinden Flecken im Schleiermacherschen System sind umso auffälliger, als dass Wechselwirkung die bestimmende Grundstruktur seines Systems darstellt und mithin die Notwendigkeit einer „Kritik der Sitte“ oder „Kritik der Kultur“ aber insbesondere eine „Kritik der Wechselwirkung“, die diesen Grenzverkehr zwischen den einzelnen ethischen Formen und Tätigkeiten untersucht, ins Auge springt.

6 Gewalt der Kritik, Kritik der Gewalt: Revolution und/oder Reform und der Modus des Spiels Wenn wir im Zedler Lexikon – einem der großen Wörterbuchprojekte im 18. Jahrhundert, die wie seine englischen und französischen Pendants, den Geist der Aufklärung verpflichtet sind – unter dem Eintrag „Widerlegungsmethode“ nachschlagen, so stoßen wir auf eine Art Politik oder Ethik der Widerlegung bzw. Kritik, die eine korrekte Behandlung der „Feinde“ fordert. Wer eine Wahrheit vor den „Feinden“ „retten“ will, so heißt es dort, der müsse dafür sorgen, dass 1) die Feinde namhafft gemacht werden, 2) ihre Argumente aus richtigen Quellen aufrichtig angeführet, derselben anscheinende Krafft entdecket und auf das höchste getrieben werden; endlich aber 3) dieselben mit tüchtigen Gründen widerleget werden. Dabey aber hat man mit allem Fleisse dahin zu sehen, daß man nicht den Zanck-Geist herrschen, und ihm die Direction der Feder überlasse: gleichwie man auch dahin zu sehen hat, daß man nicht mit denen Personen, sondern mit denen Sachen selbst zu thun habe.⁴⁴

Deutlich wird hier, dass ein Bewusstsein für den Machtmissbrauch von Wissen bestand, die Kritik oder „Widerlegungsmethode“ sich jedoch gerade dadurch auszeichnen solle, dass sie selbst nicht auf Autorität, Diffamierung und Polemik beruhe und sozusagen eine herrschaftsfreie Streitkultur, eine political correctness zum Ideal der Gelehrtengemeinschaft erhebt. Wie ganz anders lesen sich vor diesem Hintergrund die programmatischen Aussagen der Frühromantik zur literarischen Kritik, die ein aggressives, gewaltvolles Moment der Kritik verbal zur Schau stellen: An Lessing, so schreibt Schlegel, bewundere er seine „bösen Kritiken“ und seine „zermalmende Kraft der Beredsamkeit“⁴⁵  Vgl. Walter Jaeschke, „Schleiermacher als politischer Denker“, in: Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006, hg. v. Andreas Arndt u. a., Berlin /New York 2008, 303 – 315, hier 310: „Gerade wenn man den Staat so begrenzt, erfordert diese Begrenzung des Begriffs des Staates das Komplement einer Entgrenzung des Begriffs des Politischen [Herv. i. O.].“  „Methode (Widerlegungs‐)“, in: Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste (1731 – 1754), Bd. 20 (Mb-Mh), Sp. 1337.  Friedrich Schlegel 1967, 106 (Anm. 19).

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und „Die Kritik ist die Kunst, die Scheinlebendigen in der Literatur zu töten“⁴⁶. Das Athenäum soll einen „kritischen Terrorismus“⁴⁷ ausüben und auch Schleiermacher schlägt für eine kurze Zeit in diese verbale Kraftmeierei ein, wenn er für den Namen des neuen kritischen Journals den Namen „Parzen“ vorschlug, „weil“ wie Friedrich Schlegel an seinen Bruder August und Frau Caroline schreibt, „doch wohl mancher literarische Lebensfaden darin würde abgeschnitten werden“⁴⁸. In seinen späteren Überlegungen zur Kritik scheint bei Schleiermacher Gewalt als konstitutiver Aspekt der Kritik jedoch vollkommen zu verschwinden, ja auch ihr negierender Modus tritt in den Hintergrund. Sie soll den Irrtum vermeiden helfen, dies aber, indem sie als geschichtliches Erkennen gerade um eine angemessene Anerkennung des Individuellen bemüht ist. Dies bedeutet: Für jede Meinung und jede Position gibt es eine gewisse Daseinsberechtigung, die es kritisch zu finden gilt und nur so lassen sich Individuelles und Allgemeines vermitteln. Dazu passt auch die, wie ich finde, eigentlich sehr schöne Formulierung aus dem Vorlesungsheft Brouillon zur Ethik von 1805/06, die Kritik sei „die einzig mögliche Bescheidenheit“ des „wissenschaftlichen Verkehrs“⁴⁹. Voraussetzung der Kritik im Sinne einer gelingenden Streitschlichtung ist jedoch die grundsätzliche Einsicht in die Relativität jeder Position, somit die Bereitschaft zur Schlichtung. Gerade aus der mangelnden Einsicht erwächst nun jedoch die Frage nach einer notwendigen und legitimen Funktion der Gewalt als Moment der Kritik. Eine Kritik, die Sprengkraft besitzt, das heißt einen radikalen und revolutionären Charakter hat, richtet sich dabei nicht zwangsläufig nur gegen Andere, sondern ebenso gegen sich selbst, insofern die Fangnetze alter Strukturen auch das eigene Denken beherrschen. Der Austritt aus der eigenen Unmündigkeit – verstanden als ein Sich-Aufhalten in gewohnten Denkstrukturen – ist ein revolutionärer Akt, er bedarf des Mutes. Dieser destruktive und in seiner Destruktion möglicherweise notwendig Gewalt ausübende Charakter der Kritik, den auch der Romantik-Forscher Walter Benjamin für seinen Kritikbegriff in Anschlag bringt,⁵⁰ scheint in Schleiermachers idealtypisch

 Friedrich Schlegel 1967, 404 (Anm. 19).  Vgl. Friedrich Schleiermacher, Brief A. W. Schlegels an F. Schleiermacher vom 16.6.1800, KGA V/4, hg. v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin / New York 1994, 99, Br. 890, Z.50.  Friedrich Schlegel, Brief vom 28. 11. 1797, KFSA XXIV, hg. v. Raymond Immerwahr, Paderborn / München u. a. 1985, 43.  Friedrich Schleiermacher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, Werke Bd. 2, hg. v. Otto Braun, Leipzig 1927 [ND Aalen 1981], 175 – 176.  Vgl. z.B. „Die Technik des Schriftstellers in dreizehn Thesen“ in Walter Benjamins Denkbildsammlung Einbahnstraße, dort heißt es in der IX. These: „Polemik heißt, ein Buch in wenigen seiner Sätze vernichten. Je weniger man es studierte, desto besser. Nur wer vernichten kann, kann kritisieren.“ (Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. IV/1., hg. v. Tillman Rexroth, Frankfurt a. M. 1991, 108.Vgl. auch Benjamins komplexe Argumentation in seinem Essay „Zur Kritik der Gewalt“ von 1921 (Gesammelte Schriften, Bd. II/1., hg. v. Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1999, 179– 204.

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vorgestellten, konsensorientiertem Streitgespräch wie ausgeblendet und markiert eine Leerstelle in seinen Überlegungen zur Kritik. An dieser Stelle mag ein kurzer Blick auf andere Stellen im Werk Schleiermachers erlaubt sein, in denen er ohne Rekurs auf Kritik über gewaltvolle oder radikale Transformationen nachdenkt. So zum Beispiel in dem geschichtlichen Entwicklungsmodell der Programmschrift Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen von 1811, welches sich abgesehen von den Vorlesungen zur Enzyklopädie in Abwandlung auch in den Vorlesungen zur Ästhetik und zur Hermeneutik finden lässt. Geschichte spielt sich in diesem Modell als Alternieren einer Phase kontinuierlicher Entwicklung („Periode“) und einer Phase plötzlicher Umgestaltung („Epoche“) ab.⁵¹ Der Moment ihrer höchsten Blüte, der „Culminationspunkt“⁵² ist zugleich der Moment ihres Absinkens und im „revolutionäre[n] Entwiklungsknoten“⁵³ kündigt sich der Epochenbruch an. Dieses Entwicklungsmodell des Alternierens von Perioden und Epochen, von Phasen der Ausdifferenzierung und Momenten des Umbruchs oder der Revolution, betrifft nicht nur die Theologie als Teilgebiet der Geschichtskunde, sondern kennzeichnet die gesamte Geschichtskunde, beispielsweise die Geschichtskunde der Kunst oder Kunstgeschichte, wo sich der Gegensatz von Ausdifferenzierung und Revolution in dem Gegensatz von Virtuosität und Genialität wiederspiegelt.⁵⁴

 „Eine Reihe von Momenten, in denen ununterbrochen die ruhige Fortbildung überwiegt, stellt einen geordneten Zustand dar und bildet eine geschichtliche Periode; eine Reihe von solchen, in denen das plötzliche Entstehen überwiegt, stellt eine zerstörende Umkehrung der Verhältnisse dar und bildet eine geschichtliche Epoche.“ (Friedrich Schleiermacher [1830], Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Zweite umgearbeitete Ausgabe, KGA I/6, hg. v. Dirk Schmid, Berlin / New York 1998, 319–446, hier 355, § 73).  Schleiermacher 1998, 362, § 93 (Anm. 51), vgl. ebd., 388, § 175. Für Nowak ist der Begriff des Kulminationspunktes bei Schleiermacher mit dem der Epochenschwelle vergleichbar (Kurt Nowak, „Theorie der Geschichte. Schleiermachers Abhandlung ‚Über den Geschichtsunterricht‘ von 1793“, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1991, 417–437, hier 431). Für Jordan nimmt Schleiermacher mit diesem Begriff den Begriff der „Idee eines Zeitalters“ in der Geschichtstheorie des 19. Jahrhunderts vorweg (Stefan Jordan, „Schleiermachers Geschichtswissenschaft und seine Bedeutung für die Geschichtswissenschaft“, in: Dialogische Wissenschaft. Perspektiven der Philosophie Schleiermachers, hg. v. Dieter Burdorf / Reinold Schmücker, Paderborn / München / u. a. 1998, 187–205, hier 197).  Schleiermacher 1998, 356, § 76 (Anm. 51).  So z. B. in den Vorlesungen zur Ästhetik: Während Genialität überall dort vorliegt, wo mit einer alten Form gebrochen und eine neue gefunden wird, zeichnet sich Virtuosität durch die Beherrschung und Ausdifferenzierung einer bereits bestehenden (Kunst)Form aus – und kann, wenn die Erfindung gegen Null geht, zum rein Mechanischen verkommen. Zum Gegensatz von Genialität und Virtuosität vgl. Friedrich Schleiermacher, Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst, hg. v. Thomas Lehnerer, Hamburg 1984, 44, zur Virtuosität vgl. ebd. 13, 15, 26 u. 53.) Ebenso findet sich in der Akademierede Über den Begriff der Hermeneutik (1829) dieses Entwicklungsmodell wieder, auch wenn Schleiermacher hier nicht von Periode und Epoche, sondern von dem Wechsel zweier Perioden der Literaturgeschichte spricht, die ein je unterschiedliches Verhältnis zur Form zum Ausdruck bringen: Zeiten, in denen der Autor für den auszudrückenden Inhalt über keine Form verfügen kann und formschöpfend wird – und

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Kennzeichnend für Schleiermacher (und mit ihm für viele deutsche Denker in unmittelbarer geschichtlicher Berührung zum weltgeschichtlichen Ereignis der französischen Revolution) ist jedoch – so gerne er das Wort revolutionär in Bezug auf Denkprozesse verwendet – dass er der Idee einer gesellschaftlichen Revolution auf deutschem Boden zögerlich gegenübersteht. Schleiermacher vertritt in seiner Staatslehre ein eindeutiges Bekenntnis zur Monarchie und seine politischen Äußerungen zeichnen sich durch eine große Loyalität gegenüber der preußischen Monarchie aus. Die allerdings muss vor dem Hintergrund eines starken Reformwillens und auch vor dem Hintergrund einer reformerischen Aktivität Schleiermachers gesehen werden.⁵⁵ Denn als politischer Akteur und Reformer war Schleiermacher – gemessen an vielen Kollegen und Denkern seiner Zeit – durchaus prominent und Zeit seines Lebens engagiert.⁵⁶ Erinnert sei hier an seine geheime politische Mission nach Königsberg im Spätsommer 1808 noch vor seiner Heirat, seine Tätigkeit als Herausgeber der Zeitschrift Preußischer Correspondent ab 1813 oder seine Mitarbeit an der Bildungsreform unter der Leitung Wilhelm von Humboldts. Als Direktor der wissenschaftlichen Kommission bei der Sektion des öffentlichen Unterrichts saß Schleiermacher hauptverantwortlich an wissenschaftspolitischen Schanierstellen, unter seiner Leitung entstanden Lehrpläne und Standards für die Qualitätskontrollen bei Prüfungen.⁵⁷ Das in Schleiermachers Staatslehre zugrundeliegende Verhältnis von Untertan und Obrigkeit muss für Schleiermacher als ein Partizipationsverhältnis verstanden werden, an dem alle, die regiert werden, auch Teilhabe ausüben können müssen. Als diese Partizipationsrechte nach den Karlsbader Beschlüssen massiv eingeschränkt werden, geht Schleiermacher innerhalb der Schranken der Idee einer partizipativen Monarchie verbal in die Opposition.⁵⁸

Zeiten, in denen der Autor sich einer vorhandenen Form bedient, welche er ausdifferenziert (vgl. Friedrich Schleiermacher, Akademievorträge, KGA I/11, hg. v. Martin Rössler, Berlin / New York 2002, 615).  Matthias Wolfes betont, dass der „vaterländische“ Schleiermacher, d. h. die These, Schleiermacher hätte dem preußischen Nationalstaat unreflektiert zugeredet, der Rezeptionsgeschichte im 19. Jahrhundert im Fahrwasser des nationalen Selbstbewusstseins geschuldet sei, vgl. Matthias Wolfes, „Sichtweisen. Schleiermachers politische Theorie zwischen dem autoritären Nationalstaatsethos der Befreiungskriegszeit und dem deliberativen Konzept einer bürgerlichen Öffentlichkeit“, in: Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006, hg. Andreas Arndt u. a., Berlin / New York 2008, 375–393, hier 376 – 380.  Nach Walter Jaeschke, vgl. Jaeschke 2008, 304 (Anm. 43), sei Schleiermacher „Fraglos […] derjenige unter den ‚Denkernʻ aus der Zeit der Klassischen Deutschen Philosophie, der sich am meisten zugleich als ‚politischer Akteur’ hervorgetan hat“.  Die Voten zur Schulamtsreform, an der Schleiermacher maßgeblich beteiligt war, wurden jüngst zusammen mit Schleiermachers Pädagogikvorlesungen in der KGA veröffentlicht (Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen über die Pädagogik und amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht, KGA II/12, hg. v. Jens Beljan u. a., Berlin / Boston 2017).  Vgl. dazu Wolfes 2008, 384– 385 (Anm. 55).

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Revolution ist, wie Schleiermacher in seinen Ethikvorlesungen unterstreicht, durchaus eine Möglichkeit, ein gestörtes oder stagnierendes politisches Partizipationsverhältnis wiederherzustellen bzw. neu zu installieren. Die Französische Revolution, für die sich der junge Schleiermacher wie viele seiner Generation begeisterte,⁵⁹ deren Verlauf er unter anderen in den Briefwechsel mit Carl Philipp Spener thematisiert, findet auch in den späteren Jahren, in denen ihre Auswüchse und ihr partielles Scheitern deutlich war, bei Schleiermacher eine Würdigung.⁶⁰ Anders als in seinem geschichtlichen Entwicklungsmodell ist die gesellschaftliche Revolution innerhalb der Ethikvorlesungen jedoch keine alternierend immer wiederkehrende Option und schon gar keine Option für die preußische Monarchie. Zum einen sei, so erklärt Schleiermacher, die Revolution auch vom Nationalcharakter abhängig, zum anderen sei sie wie er in der anonym notierten Ethik-Vorlesung von 1805/06 ausführt, einer „früheren Epochen“ zugewiesen und eine weiter vorangeschrittene Staatsform lasse die revolutionäre Tendenz hinter sich.⁶¹ In der ebenfalls anonym überlieferten Vorlesung von 1827 untersucht Schleiermacher sogar die Sittlichkeit revolutionärer Umwälzungen und seine Antwort zeigt zum einen eine große Nähe zu Kant, insofern Opposition im Privaten (nach Kantscher Definition also durchaus im Sinne einer öffentlich geäußerten Meinung) sich zu formieren habe. Andererseits zeigt sich aber auch, dass Schleiermacher mit dieser Antwort offenbar nicht ganz zufrieden war. Als einseitige Störung des Interessenausgleiches zwischen Gemeinschaft und Individuum sei Revolution, also wenn „die Opposition nicht bloß in dem Urtheil bleibt, sondern daß sie störend in den Zustand der Gesellschaft eingreift“, unsittlich beziehungsweise „eine pflichtwidrige Veränderung der allgemeinen Verhältnisse der Gesellschaft“⁶². Und sie können – wenn die „Selbstthätigkeit“ des Individuums, sprich: der Revolutionäre – nicht entwickelt sei, in Anarchie, Fivolität und Barbarei verfallen.⁶³ Zugleich bemerkt Schleiermacher je-

 Brief z. B. Friedrich Schleiermachers Brief an den Vater vom 10. bis 14. Februar 1793 (KGA V/1, hg. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond, Berlin / New York 1985, 280 Br. 209, Z. 106–153).  Vgl. dazu den Beitrag von Andreas Arndt in diesem Band.  „Wir sehn daß in allen früheren Epochen der Geist als revolutionär erscheint, wo sich Sittlichkeit nur im Einzelnen offenbart; die gleichförmige Ruhe der Sittlichkeit ist erst ihrer Formation letzte Epoche.“ (Nachschrift der Ethikvorlesung 1805/06, Anonymus, Bibliothek der Evangelisch-reformierten Gemeinde Lübeck, KIII26, Bl. 319).  Nachschrift Ethikvorlesung, Anonymus 1827, ABBAW, SN 586, Bl. 716.  Vgl. dazu eine an Schillers Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen erinnernde Stelle in der Ethikvorlesung von 1827: „So besteht die Sittlichkeit derer auf der niederen Stufe darin, daß der Gehorsam mit einer durch Scheu gehaltenen Selbst-Thätigkeit verbunden ist, und dann daß in diesem Zusammenseyn soviel Gehorsam bleibt, als sie sich nicht einer durch Scheu gehaltenen Selbst-Thätigkeit bewußt sind; denn wo dieses aufhört, da ist eine sittliche Revolution, denn die Sittlichkeit ist nur so lange, als die Willigkeit herrscht, sich der leitenden Thätigkeit hinzugeben.Wo die Scheu nicht das Prinzip ist, aber die Selbst-Thätigkeit noch nicht entwickelt, daraus geht die Anarchie auf dem ersten, die Frivolität auf dem zweiten, die Barbarei auf dem dritten Gebiet hervor, und nur in dem Maße, als sich nach und nach die Ungleichheit mindert, ist Tugend und Sittlichkeit in dem

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doch ohne Ausführung, „kann es sich ereignen, daß eine revolutionäre Handlung sittlich ist, aber immer ist sie verbunden mit einer Subsumption, die einen Irrthum an sich trägt.“⁶⁴ Interessanterweise bekennt sich in der Wahl zwischen radikaler und partieller Veränderung Foucault in seinem Essay Was ist Aufklärung? auch zu einer Politik der kleinen und lokalen Schritte: „In der Tat wissen wir aus Erfahrung, daß der Anspruch, dem System der gegenwärtigen Realität zu entkommen, um allgemeine Programme einer anderen Gesellschaft, einer anderen Weise zu denken, einer anderen Kultur, einer anderen Weltanschauung hervorzubringen, nur zur Rückkehr zu den gefährlichsten Traditionen geführt haben.“⁶⁵ Er misstraut allen radikalen und globalen Lösungsvorschlägen der Kritik und setzt auf „spezifische Transformationen“: „ich ziehe selbst diese partiellen Transformationen, die in dem Verhältnis von historischer Analyse und praktischer Haltung gemacht wurden, den Versprechungen eines neuen Menschen vor, die die schlechtesten politischen Systeme während des 20. Jahrhunderts wiederholt haben.“⁶⁶ Foucault betont dabei, dass die von ihm vertretene gewünschte aktuelle Form der historischen Kritik auch eine experimentelle sein müsste, das heißt eine, die nicht allein im Modus der Negation, der Absetzung oder des forcierten Andersmachens vor sich geht. Die Idee eines anderen experimentellen Transformationsmodells, jenseits von Reform und Revolution, findet sich auch bei Schleiermacher im Modell der freien Geselligkeit. Ähnlich wie Schiller, der sich unmittelbar auf die Französische Revolution bezieht und in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung die reale Entgleisung oder Barbarei großangelegter vermeintlich vernünftiger Gesellschaftsentwürfe vor Augen hat, entwirft Schleiermacher mit der freien Geselligkeit 1799 eine Art „dritten Ort“, den es immer wieder neu zu besetzen gilt. Die freie Geselligkeit, die Schleiermacher in seiner fragmentarischen Abhandlung Versuch einer Theorie des geselligen Betragens von 1799 erstmals ausführt und die als ethische Form in die Güterlehre der Ethikvorlesungen eingeht, wird entworfen als Gedankenlabor, als Ideenschmiede, als Nische jenseits gesellschaftlicher Zwänge und vorgeschanzter Identitäten.⁶⁷ In seinen Ausführungen wird sehr schnell klar, dass dieser Raum, der als herrschaftsfrei vorgestellt wird, nicht ohne Gesetze funktionieren kann (zum Beispiel das der „Schicklichkeit“) und in der Vollkommenheit des reinen Spiels, wie sie Schleiermacher in seiner Theorie vorstellt, eigentlich nicht realisierbar ist. So waren die Sa-

Gebiet einer solchen Erscheinung.“ (Nachschrift Ethikvorlesung, Anonymus 1827, ABBAW, SN 586, Bl. 625).  Nachschrift Ethikvorlesung, Anonymus 1827, ABBAW, SN 586, Bl. 716.  Foucault 1990, 49 (Anm. 3).  Foucault 1990, 50 (Anm. 3).  Vgl. dazu Sarah Schmidt „Zum Denkmodell der Wechselwirkung als Dialektik von Grenzauflösung und Grenzziehung. Freie Geselligkeit bei Friedrich Schleiermacher mit Blick auf Friedrich Schillers Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen“, in: Grenzziehungen und Grenzüberwindungen. Philosophische und interdisziplinäre Zugänge, hg. v. Bärbel Frischmann, Hannover 2004, 91–109.

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lons zu Beginn des 19. Jahrhunderts sicherlich keine idealtypischen freien Geselligkeiten, sie waren Bühnen für Eitelkeiten und Moden, wurden dominiert von einzelnen, sich als geistreich empfindenden Protagonisten, waren oft genug christliche Männerrunden, die Frauen und Juden und so oder so Menschen ungebildeter Schichten ausschlossen. Vielleicht geht es aber auch weniger darum, ob es „reine“ Geselligkeiten, „reine“ Spiele gibt, sondern ob es Orte gibt, in denen auch ein spielerischer Modus möglich ist. Interessant ist nun, dass Schleiermacher – wohl aufgrund des Entwurfscharakters, ihrer kreativen Qualität, der und die der Kritik eigen sein müssen, damit sie zwischen Individuellem und Allgemeinem vermitteln kann, die Kritik in der Ethikvorlesung von 1805/6 ebenso wie im Brouillon zur Ethik auch als „Analogon“ der freien Geselligkeit bezeichnet.⁶⁸

7 Schließende Überlegungen Die für die Literatur des 20. Jahrhunderts so fruchtbare und die philosophische Praxis der Dekonstruktion in vielerlei Hinsicht vorwegnehmende Kunstkritik der Frühromantik hat Schleiermacher nur in seinen Anfängen praktiziert. In seinen Ästhetikvorlesungen finden sie keinen Platz mehr. Zugleich bleibt Schleiermachers systematische Kritikkonzeption wesentlichen Merkmalen des Schlegelschen Kritikbegriffs treu: Kritik ist keine Propädeutik kommender Wissenschaft sondern muss aus dem Prozess des kritischen Unternehmens selbst gewonnen werden. Sie ist ebenso Wissen des Individuellen (als solches ist sie ein „historisches Erkennen“) wie sie Wissen des Allgemeinen sein muss. In ihrer kritischen Vermittlungsleistung des Individuellen und Allgemeinen vor dem Hintergrund eines ewig aufgegebenen Gesamtzusammenhanges ist sie immer divinatorisch, auf einen Entwurf angewiesen. Sie ist ein unendliches Unternehmen, eine Kunst, Wechselwirkung aller kritischen Unternehmungen, potenzierte Kritik, progressiv universal. Diese Bestimmung der Kritik droht in der Ausführung einzelner kritischer Disziplinen – wie zum Beispiel der philologischen Kritik – in der Fülle technischer Details unterzugehen. Hier scheint die Radikalität des frühromantischen Ansatzes, an dem  Vgl. Schleiermacher 1927, 169–170 (Anm. 49): „Die Kritik repräsentirt die Anschauung in der freien Geselligkeit, welche das Individuelle durch comparative Anschauung finden will aber erst vollendet werden kann durch ein hinzukommendes unmittelbares Gegebensein. Dieses Verkehr des individuellen Wissens unter einander ist also auch ganz das der freien Geselligkeit. Es ist die Idee des Publicums in wissenschaftlichem Sinne. Hier tritt auch die darstellende Kunst nur so auf wie sie auch für den Laien ist, als ein einzelner Act in der Reihe von Darstellungen der Individualität.“ Vgl. die Ethiknachschrift Anonymus 1805/06, Bl. 211– 214: „Sehen wir auf das 2te der Kritik, so bildet sich dadurch ein Analogon der freien Geselligkeit ein Anschauen der verschiedenen Individualitäten wodurch jedes für das andre Objekt der Anschauung wird und dies ist nun eigentlich das was wir unter dem Ausdruck des gelehrten Publikums verstehen freier Verkehr des individuellen Wissens unter einander. –“

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Schleiermacher mit Abstrichen bis zum Schluss festhält und den er wohl wie kein anderer Mitstreiter zu systematisieren suchte, in der Anwendung domestiziert. Wie nah Schleiermachers Entwurf – der ja Wahrheit, Erkenntnis, das sittlich Gute und Schöne nicht aufgibt, sondern als Zielbegriffe eines unendlichen Prozesses entwirft und ihre Möglichkeit in der Einheit absoluter Natur und absoluter Materie begründet sieht – an Foucault heranrückt, hängt unter anderem davon ab, wie sehr man auf der Unendlichkeit des Prozesses insistiert. Denn was in unendlicher Ferne steht, kann sich unendlich oft in unzähliger Form modifizieren. Eine kritische Perspektive, die einer Neutralisierung von Legitimierung gleichkommt, wie sie Foucault fordert, bietet Schleiermacher nicht, denn es geht ihm in seiner Dialektik um die Legitimierung einer möglichen Annäherung an Universalität. Ob und inwiefern die Dialektik als formale Methodenlehre radikal selbst wiederum dem kritischen Prozess unterworfen werden muss, ist eine offene Frage. Schleiermachers Vorlesung geben Anlass für mindestens zwei Lesarten – eine radikale und eine konservative. In einer konservativen Lesart scheint sie als Methodenlehre vom Prozess unendlicher Modifikation ausgeschlossen. In einer radikaleren Lesart ist auch die Methodenlehre selbst wider streitbar und mir ihr eine möglichen Annäherung an eine Vermittlung aller streitenden Formen gefährdet. Eine markante Leerstelle in Schleiermachers System ist die praktische oder sittliche Kritik und mit ihr eine Gesellschaftskritik. Allerdings ließe sich mithilfe einzelner Hinweise aus den Dialektik- und Ethikvorlesungen eine solche praktische Kritik mit Schleiermacher über Schleiermacher hinaus durchaus in sein Denken integrieren.⁶⁹ Ein Nexus von Wissen und Macht, der nach Foucault für seine und wohl auch unsere Gegenwart so dringend der Kritik unterzogen werden muss, ist bei Schleiermacher in der grundlegenden Wechselwirkung von Handeln und Wissen und der ihnen zugehörigen ethischen Formen beziehungsweise gesellschaftlichen Institutionen zumindest systematisch angedacht. Ein blinder Fleck der Schleiermacherschen Philosophie ist jedoch, dass er dieses Potential nicht ausbaut, diese sittlichen „Mittelzustände“ nicht ausführlich diskutiert und ihnen ein eigenes kritisches Verfahren zur Seite stellt. Vom Standpunkt seiner Philosophie der Wechselwirkung aus würde Schleiermacher allerdings einwenden, dass die Untersuchung und Analyse von Wechselwirkungszusammenhängen nur dann sinnvoll ist, wenn man mit der Idee „reiner“ Tätigkeiten operiert; das heißt um den Nexus von Wissen und Macht zu untersuchen, muss man wenigstens eine Idee haben, was unter Wissen zu verstehen sei, ohne dass dies zugleich bedeutet, dass irgendwo in der endlichen Welt „reines Wissen“ anzutreffen wäre. Vielleicht ist es gerade in unserer postfoucaultschen Gegenwart wichtig, dieses Ideal eines „reinen Wissens“ – und sei es auf Probe – hochzuhalten und gegen eine feingliedrige Verstrickung des Wissens und der wissenschaftlichen Infrastruktur

 Vgl. dazu Sarah Schmidt, Die Konstruktion des Endlichen. Schleiermachers Philosophie der Wechselwirkung, Berlin / New York 2005, insbesondere Kapitel 5.4.

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mit neoliberalen Marktgesetzen, ihre Ausrichtung auf Kalkulierbares, Quantifizierbares, Konkurrierbares und schließlich Verwertbares ins Feld zu führen. Und vielleicht hilft auch nur eine Rückbesinnung auf das Ideal einer „reinen Information“ und einer „Tatsachentreue“ – auch wenn wir wissen, dass sie nur sehr begrenzt Gültigkeit haben, um uns im Wald der fake news zu orientieren. Denn auch Orientierungslosigkeit im Wissen ist ein zentraler Faktor eines möglichen Machtmissbrauches. Schließlich bleibt die Frage nach dem Verhältnis von Gewalt und Kritik in Schleiermachers Philosophie unreflektiert. Sein produktiver, in historischem Rückgang Geltungsansprüche vermittelnder Kritikbegriff scheint fast frei von Konfrontation und er kann auch nur dann seine Arbeit vornehmen, wenn die erste Streitregel, die Einsicht in die eigene Bedingtheit, von allen Teilnehmenden akzeptiert wird. Obgleich Schleiermacher das Modell der Revolution kennt, sich selbst jedoch für Reform ausspricht, werden Revolution und Kritik nicht enggeführt. Dafür bietet Schleiermacher wieder einen anderen Gedanken, dessen Aktualisierung sich meines Erachtens sehr lohnt: Es ist der Hinweis auf das Spiel als einen Modus jenseits des bestimmten Widerspruchs, den wir bei Schleiermacher prototypisch in der freien Geselligkeit, aber auch in der Kunst, der Gastfreundschaft, der Freundschaft schlechthin und in der Liebe finden. Jene geselligen Freiräume, Gedankenlabore oder Experimentierfelder böten Raum für die von Foucault geforderte experimentelle Kritik oder die von Judith Butler im Anschluss an Foucault entworfene spielerische gesellschaftskritische Praxis. Solche „dritten Räume“ sind in unserer fremdbestimmten Freizeitlandschaft, seit der Bologna-Reform in unseren Schulen, aber auch in der Begegnung unterschiedlicher Kulturen immer seltener.

Georg Neugebauer / Leipzig

Die Vernunft der Kritik

Anmerkungen zur Transformation kritischen Denkens um 1900 Die Entdeckung der Vernunft als einer Wahrheit und Allgemeinheit beanspruchenden Ordnungs- und Begründungsinstanz liegt in der antiken griechischen Philosophie.¹ Als Prinzipiierungs- und Regulierungsvermögen menschlichen Wissens und menschlicher Erkenntnis stellte sie innerhalb der europäischen Geistesgeschichte bis ins 19. Jahrhundert hinein eine der unangefochtenen Grundlagen diskursiver Verständigung dar. Und nicht zuletzt dieser Eigenschaft und Funktion wegen schälte sich ein Grundsatz philosophischer und wissenschaftlicher Reflexion heraus, der sich in der Formel Rationalität ist Kritik zusammenfassen lässt. Einen Höhepunkt stellte hier bekanntlich die Aufklärung dar, die sich als ein Zeitalter der Vernunft und damit einhergehend als ein Zeitalter der Kritik verstand. Aber hier galt nicht allein der Grundsatz, dass Rationalität Kritik ist. Vielmehr wurde der Kritikmaßstab selbst zum Gegenstand der Kritik beziehungsweise anders formuliert: Die Vernunft war Subjekt und Objekt der Kritik geworden, was Nietzsche bekanntlich zu der wiederum kritischen Anfrage veranlasste: „Wie sollte das Werkzeug sich selbst kritisieren können, wenn es eben nur sich zur Kritik gebrauchen kann?“² Trotz der enormen Prägekraft der kantischen Vernunftkritik innerhalb der akademischen Welt setzten sich spätestens mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Modelle empirisch ausgerichteter Wissenschaften sowie Weltanschauungslehren durch, die im Effekt eine Depotenzierung der Vernunft als Integral philosophischer und fachwissenschaftlicher Reflexion mit sich brachten. Diese Tendenzen verfestigten sich bis an die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Allerdings führte die Depotenzierung der Vernunft keineswegs zu einer Verabschiedung des Anspruchs, kritisch zu denken und zu verfahren. Während das Zeitalter der Vernunft auszuklingen schien, lebte das Zeitalter der Kritik weiter. Das aber wirft die Frage auf, anhand welchen Maßstabs Kritik geübt wurde und falls sich ein solcher bestimmen lässt, inwiefern dieser plausibilisierbar und verallgemeinerbar ist. Die folgenden Ausführungen werden keine abschließenden Antworten auf diese Fragen geben können. Das Ziel ist bescheidener. Es soll hier nur darum gehen, stichprobenartig die angesprochenen Fragen zu illustrieren und deren Stichhaltigkeit ansatzweise zu reflektieren. Zu diesem Zweck werden verschiedene Vertreter der Philosophie und der Einzelwissenschaften berücksichtigt, anhand derer jene Pro-

 Vgl. Ulrich Barth, „Die Geburt der Vernunft bei den Griechen. Epistemologische und theologische Motive“, in: ders., Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005, 3 – 32; Herbert Schnädelbach, Vernunft, Stuttgart 2007, 15 – 55.  Friedrich Nietzsche, Aus dem Nachlass der Achtzigerjahre, Werke, Bd. III, hg. v. Karl Schlechta, München 1956 [Lizenzausgabe 1997 für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft], 415 – 925, hier 499. https://doi.org/10.1515/9783110569520-035

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blemkonstellation exemplarisch veranschaulicht werden soll: 1. Wilhelm Dilthey (1833 – 1911), 2. Heinrich Rickert (1863 – 1936), 3. Max Weber (1864– 1920) und 4. Karl Mannheim (1893 – 1947).

1 Wilhelm Dilthey Berühmt geworden ist Dilthey durch den eindrucksvollen Versuch einer erkenntnistheoretischen und logischen beziehungsweise methodologischen Neubegründung der Geisteswissenschaften.³ Die epistemologischen Prinzipien seiner Wissenschaftslehre sind aber weniger in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) dokumentiert, die zu den Schlüsselwerken philosophischer Reflexion um 1900 gehört. Einschlägiger ist in dieser Hinsicht das opus postumum. Dilthey entfaltet die Epistemologie im Medium der Bewusstseinstheorie und bewegt sich damit in den Spuren der nachkantischen Problementwicklung. Allerdings geht sein Denken über das kantische Paradigma philosophischer Reflexion hinaus, nicht zuletzt, weil es von ganz unterschiedlichen Einflüssen bestimmt ist, zu denen allen voran die historische Schule, die klassische deutsche Philosophie, die empirisch ausgerichtete Psychologie und Physiologie sowie die im Entstehen begriffene Lebensphilosophie gehören. Das verleiht seiner Philosophie im Allgemeinen und seiner Erkenntnistheorie im Besonderen einen charakteristischen Zug, die zwischen – grob gesagt – idealistischen und realistischen Tendenzen changiert. Von den vielfältigen Theoriebausteinen, die den philosophischen Ansatz des Berliner Gelehrten auszeichnen, seien hier zwei zentrale Grundsachverhalte herausgestellt, die gleichsam das Gebiet seiner Erkenntnistheorie abstecken. Der erste ist mit dem „Satz der Phänomenalität“⁴ verbunden. Danach existiert für den Menschen alles, was ist, nur als Tatsachen des Bewusstseins und diese Bewusstseinstatsachen werden im Medium innerer Erfahrungen repräsentiert.⁵ Die prinzipielle Bedeutung dieser Bestimmungen lässt sich bereits daran ermessen, dass mit ihrer Einsicht der „Anfang aller […] Philosophie“⁶ bezeichnet sei. Neben diesen Grundsatz, der die erkenntnistheoretische Unhintergehbarkeit des Bewusstseinslebens betont, tritt ein zweites epistemologisches Grunddatum hinzu.  Vgl. dazu Hans-Ulrich Lessing, Die Idee einer Kritik der historischen Vernunft. Wilhelm Diltheys erkenntnistheoretisch-logisch-methodologische Grundlegung der Geisteswissenschaften, Freiburg / München 1984 sowie Constantin Plaul, Verstehen und Religion. Theologische Dimensionen auf kulturphilosophischer Grundlage im Werk Wilhelm Diltheys (voraussichtlich Tübingen 2018).  Wilhelm Dilthey [um 1880], „Die Tatsachen des Bewußtseins (‚Breslauer Ausarbeitung‘)“, in: ders., Texte zur Kritik der historischen Vernunft, hg. u. eingel. v. Hans-Ulrich Lessing, Göttingen 1983, 93 – 150, hier 93.  Das mit dem Satz der Phänomenalität verbundene und von Dilthey ausführlich traktierte Problem, ob sich unter diesen Voraussetzungen die Realität der Außenwelt beweisen lasse, kann hier außen vor bleiben.  Dilthey 1983, Tatsachen, 93 (Anm. 4).

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Dilthey spricht zunächst in einem ganz weiten Sinne von den „Bedingungen unseres Bewußtseins“.⁷ Zur Kennzeichnung dieser transzendentalen Bestimmung werden verschiedene Ganzheits- beziehungsweise Totalitätsausdrücke veranschlagt,⁸ die ihre Letztgestalt im Lebensbegriff finden. Auch wenn dieser von Ferne an den kantischen Begriff des transzendentalen Ideals erinnert, rekurriert Dilthey mit ihm auf einen „reale[n] Lebensprozeß“.⁹ Erscheinungsformen der menschlichen Natur beziehungsweise genauer des menschlichen Seelenlebens sind Ausdrucksgestalten dieses Prozesses und müssen innerhalb desselben analysiert und aus diesem heraus verstanden werden. Das Leben besitzt in Diltheys Denken binnensystematisch betrachtet nicht nur eine transzendentale, sondern auch eine hermeneutische Funktion.¹⁰ Diese prinzipielle Vorordnung des Lebens macht vor dem Denken und dessen Gesetzen nicht halt. Dilthey ist der Überzeugung, selbst „hinter die logischen Formen“¹¹ zurückgehen, diese in den psychischen Gesamtprozess der Menschennatur einbetten und aus diesem heraus verständlich machen zu können. Geistiges Leben sei an jedem Punkt seines Vorkommnisses „ein geschichtliches“.¹² Das Denken ist ein „Ausdruck“¹³ des Lebens. Genau das hätten Kant und weite Teile der Aufklärungsphilosophie übersehen.¹⁴ Ihnen gegenüber hält er eine „Kritik der historischen Vernunft“¹⁵ für das Gebot der Stunde.

 Wilhelm Dilthey [1883], „Vorrede zum Ersten Band der ‚Einleitung in die Geisteswissenschaften‘“, in: ders., Texte zur Kritik der historischen Vernunft, hg. u. eingel. v. Hans-Ulrich Lessing, Göttingen 1983, 29 – 34, hier 32.  Dilthey spricht vom „Ganzen unserer Natur“, vom „ganzen Menschen“ (Dilthey 1983, Vorrede, 32 [Anm. 7]), von der „Totalität der Menschennatur“ (Dilthey 1983, Tatsachen, 113 [Anm. 4]), von der „Totalität des Seelenlebens“ (Dilthey 1983, Tatsachen, 114 [Anm. 4]).  Dilthey 1983, Vorrede, 33 (Anm. 7).  Vgl. etwa Wilhelm Dilthey [1894], Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, Gesammelte Schriften, Bd. 5, hg. v. Georg Misch, Göttingen 81990, 139 – 240, hier 172.  Wilhelm Dilthey [1882], „Aus den Konzepten zum sogenannten ‚Althoff-Brief‘“, in: ders., Texte zur Kritik der historischen Vernunft, hg. u. eingel. v. Hans-Ulrich Lessing, Göttingen 1983, 25 – 29, hier 26.  Dilthey 1983, Vorrede, 30 (Anm. 7).  Wilhelm Dilthey [ca. 1892/93], „Leben und Erkennen. Ein Entwurf zur erkenntnistheoretischen Logik und Kategorienlehre“, in: ders., Texte zur Kritik der historischen Vernunft, hg. u. eingel. v. HansUlrich Lessing, Göttingen 1983, 186 – 230, hier 191.  Für deren Beitrag zur Erkenntnistheorie findet Dilthey drastische Worte: „Das a priori Kants ist starr und tot; aber die wirklichen Bedingungen des Bewußtseins und seine Voraussetzungen, wie ich sie begreife, sind lebendiger geschichtlicher Prozeß“ (Wihelm Dilthey [um 1880], „Voraussetzungen oder Bedingungen des Bewußtseins oder der wissenschaftlichen Erkenntnis“, in: ders., Texte zur Kritik der historischen Vernunft, hg. u. eingel. v. Hans-Ulrich Lessing, Göttingen 1983, 91– 92, hier 91). Vgl. auch Dilthey 1983, Vorrede, 32 (Anm. 7).  Wilhelm Dilthey [1883], „Erstes einleitendes Buch der ‚Einleitung in die Geisteswissenschaften‘: Übersicht über den Zusammenhang der Einzelwissenschaften des Geistes, in welcher die Notwendigkeit einer grundlegenden Wissenschaft dargetan wird“, in: ders, Texte zur Kritik der historischen Vernunft, hg. u. eingel. v. Hans-Ulrich Lessing, Göttingen 1983, 35 – 88, hier 84. In einem Tagebucheintrag des Jahres 1860 spricht Dilthey davon, „eine neue Kritik der reinen Vernunft auf Grund unserer

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Diese hochgradig komplexen erkenntnistheoretischen Grundsätze können hier nicht weiter verfolgt werden. Entscheidend ist an dieser Stelle vielmehr, dass sie, wie Dilthey immer wieder betont, auf dem Boden eines „kritischen“ Standpunkts formuliert sind. Eine der Pointen dieses Begriffs der Kritik besteht darin, dass letztere ihren Grund gerade nicht in der Vernunft hat. Die Vernunft ist zwar ein Gegenstand, aber nicht mehr das Subjekt der Kritik. Vielmehr beansprucht Dilthey, noch hinter die Vernunft treten und diese kritisch sondieren zu können. Die „Denkgesetze“ seien kein „unvordenkliches Faktum über unser geistiges Leben“ und darum sei auch nicht die Logik die „Richterin“¹⁶ über die Wirklichkeit und das Denken über das Erleben. Diese Kritik erfolgt letztlich im Namen des Lebens. Indem der Lebensbegriff zum Grundprinzip philosophischer Reflexion und Kritik avanciert, trat, zugespitzt formuliert, das Andere der Vernunft an ihre Stelle.¹⁷ Damit aber weichte auch der eingangs eingeführte Grundsatz auf, wonach Rationalität Kritik sei. Angesichts dieser weitreichenden Verschiebungen in der Tektonik der Erkenntnistheorie und -kritik nimmt es nicht Wunder, dass sich an Diltheys Philosophie die Geister schieden. Denjenigen, die das Programm einer Kritik der historischen Vernunft schon vom Ansatz her für einen Irrweg erachteten, erschien Dilthey letztlich als ein Denker, der dem Relativismus und der Irrationalität das Wort redete.¹⁸ Einer seiner schärfsten Kritiker war der Philosoph, dem wir uns nun zuwenden.

2 Heinrich Rickert Rickerts systematische Selbstdarstellung Die Heidelberger Tradition und Kants Kritizismus (1934) steht unter dem den Schlussabschnitten der Kritik der reinen Vernunft entnommenen Leitwort: „‚Der kritische Weg ist allein noch offen.‘“¹⁹ Damit stellt er sich ganz bewusst in die Tradition des kantischen Kritizismus. Diese Formulierung dient aber nicht nur der Profilierung des eigenen Standpunkts. Sie richtet sich auch gegen neuere lebensphilosophische und weltanschauliche Strömungen innerhalb der zeitgenössischen Philosophie, zu deren Exponenten Dilthey gehöre.²⁰ Der Berliner

historisch-philosophischen Weltanschauung“ anfertigen zu wollen (Clara Misch [Hg.], Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern 1852 – 1870, Stuttgart 21960, 120).  Dilthey 1983, Tatsachen, 122 (Anm. 4).  Vgl. Ulrich Barth, „Kontingenzmomente und Vermittlungsbedingungen von Rationalität. Das Schicksal des Vernunftbegriffs im 19./20. Jahrhundert“, in: ders., Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005, 339 – 357, hier 339.  Vgl. dazu Matthias Wunsch, „Lebensphilosophie und Irrationalismus. Dilthey – Bergson – Plessner“, in: Irrationalität, hg. v. Christoph Asmuth / Simon Gabriel Neuffer, Würzburg 2015, 201– 218.  Heinrich Rickert [1934], „Die Heidelberger Tradition und Kants Kritizismus (Systematische Selbstdarstellung)“, in: ders., Philosophische Aufsätze, hg. v. Rainer A. Bast, Tübingen 1999, 347– 411, hier 347.  Heinrich Rickert [1933], „Wissenschaftliche Philosophie und Weltanschauung“, in: ders., Philosophische Aufsätze, hg. v. Rainer A. Bast, Tübingen 1999, 325 – 346, hier 328.

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Philosoph ist aus dem Blickwinkel Rickerts betrachtet vom kritischen Weg abgekommen, weil er nicht streng genug zwischen dem, was wissenschaftlich erkennbar, und dem, was wissenschaftlich nicht erkennbar ist, unterschieden habe. Damit meint Rickert allen voran Diltheys Rede vom ganzen Menschen,²¹ die postuliert, aber nicht wissenschaftlich begründet sei und damit als unkritisch apostrophiert werden müsse. Denn – wie es in einer allgemeineren Perspektive heißt –: „‚Kritisch‘ bedeutet schon dem Wortlaut nach, daß man stets ‚scheidend‘ verfährt, also nicht die quaestio facti¸ sondern die quaestio juris stellt, und zu scheiden ist zunächst auf theoretischem Gebiet das logisch Begründete und Begründbare vom logisch Unbegründeten und Unbegründbaren.“²² Unter letzteres fallen jedoch Ausdrücke wie ganzer Mensch, Leben und Existenz.²³ Gerade zu deren wissenschaftlicher Bearbeitung bedürfte es einer „kritischen Theorie“.²⁴ Rickerts eigenes Denken ist von dem Grundsatz getragen, dass „Werthprobleme […] das eigentliche Arbeitsgebiet der Philosophie“²⁵ seien. Hierin artikuliert sich bekanntlich das Markenzeichen des südwestdeutschen Neukantianismus, Wertphilosophie zu sein. Philosophie sei keine Wirklichkeitswissenschaft, sondern eine Wissenschaft von den Werten. Eine der bahnbrechenden Erkenntnisse Rickerts besteht darin, den Werten einen eigenen ontologischen Status beizumessen. Werte sind nicht, sondern sie gelten. Dementsprechend unterscheidet er zwischen dem – wie er sagt – Reich der Wirklichkeit und dem Reich der Werte.²⁶ Ersteres umfasse die physische und die psychische Wirklichkeit gleichermaßen. Rickert wird jedoch nicht müde zu betonen, dass der Wert nicht mit den Erscheinungsformen der Wirklichkeit identifiziert werden darf. Dementsprechend grenzt er auch die psychischen und mentalen Akte vom Begriff des Werts ab. Nicht zuletzt auch gegen Dilthey gerichtet betont er die qualitative Differenz zwischen dem Wert und dem psychischen Sein,²⁷ weswegen seine Erkenntnistheorie auch „nicht Psychologie“²⁸ sein könne.²⁹  Rickert 1999, Wissenschaftliche Philosophie, 328 (Anm. 20).  Rickert 1999, Kants Kritizismus, 356 (Anm. 19).  Dieses hier angerissene Problem sieht Rickert in der Philosophie Heideggers fortgeführt, nur dass dieser sich nicht des Diltheyschen Terminus, sondern des Kierkegaardschen der Existenz bediene. „Mit solchen Schlagworten kommen wir ebenfalls nicht weiter.“ (Rickert 1999, Wissenschaftliche Philosophie, 331 [Anm. 20]).  Vgl. Rainer A. Bast, „Einleitung“, in: Heinrich Rickert, Philosophische Aufsätze, hg. v. Rainer A. Bast, Tübingen 1999, XI–XXXI, hier XVII.  Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, Tübingen / Leipzig 1902, 706. Vgl. auch Heinrich Rickert [1910], „Vom Begriff der Philosophie“, in: ders., Philosophische Aufsätze, hg. v. Rainer A. Bast, Tübingen 1999, 3 – 36, hier 17.19.  Vgl. Rickert 1999, Vom Begriff, 13 (Anm. 25). Rickerts Ausführungen zum „dritten Reich“ (21) des Sinns können hier ausgeklammert werden.  Rickert 1999, Vom Begriff, 13 (Anm. 25). Es sei am Rande bemerkt, dass sich Dilthey an dieser Stelle vollständig missverstanden sah: „Der Einwand Rickerts ist so formuliert: In der Erkenntnistheorie handelt es sich um die Objektivität der Leistungen des Erkennens, aber nicht um psychologische Genesis. Nur die Fähigkeit des Denkens zu objektiver Erkenntnis soll hier untersucht werden. Es ist nun

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Der – wenn man so will – Entdeckungszusammenhang des Wertbegriffs ist die Urteilstheorie, die Rickert im Interesse der Epistemologie entwirft. Von diesem Verfahren ist bereits seine Habilitationsschrift Der Gegenstand der Erkenntnis (1892) bestimmt. Eine der entscheidenden Pointen dieser Untersuchung besteht darin, den Gegenstand der Erkenntnis nicht mit den vorgestellten Bewusstseinsinhalten und ihrer Verknüpfung zu identifizieren.³⁰ Vielmehr liege der Erkenntnisgegenstand in den Urteilen. Rickert versucht die Annahme zu plausibilisieren, dass jedes Urteil die Anerkennung eines Sollens ist, das sich in einem „Gefühl der Urtheilsnothwendigkeit“³¹ artikuliert. Niemand könne sich dieser Notwendigkeit entziehen und sich in lebensweltlichen Bezügen des Urteils enthalten, worin sich wiederum die dem Bewusstseinsleben eingestiftete Anerkennungsstruktur artikuliert. In der Anerkennung des Sollens erblickt Rickert die Anerkennung eines Werts, und zwar des Wahrheitswerts, die in jedem Urteil liege.³² Diese hier nur ganz grob skizzierten Überlegungen implizieren schließlich einen „Willen zur Wahrheit“,³³ der auf den „Primat des Willens“³⁴ und damit der praktischen Vernunft innerhalb der Erkenntnistheorie führt. Von Rickerts Erkenntnistheorie aus wäre es möglich, Fäden zu seiner „Wissenschaftslehre“,³⁵ zum System der zeitlos geltenden Werte sowie zu seinem kultur- und schließlich lebensphilosophischen Ansatz zu ziehen. Das kann hier aber nicht erfolgen. Entscheidend ist für uns, dass Rickert in der Überzeugung denkt, den von Kant inaugurierten kritischen Weg konsequent weiter beschritten, ja sogar dogmatische

eine völliges Mißverständnis anzunehmen, daß ich […] hiervon abgewichen wäre.“ (Wilhelm Dilthey [nach 1904], Kritik des Erkenntnis- und Wertproblems bei H. Rickert und in der Phänomenologie, Gesammelte Schriften, Bd. 24, hg. v. Gudrun Kühne-Bertram, Göttingen 2004, 267– 309, hier 282).  Rickert 1902, 14 (Anm. 25).  In seiner Untersuchung Vom Begriff der Philosophie (1910) bringt er diese Überlegungen auf den Punkt: „Wir müssen daher mit allem Nachdruck hervorheben, daß die Werte von den psychischen Akten des wertenden Subjekts, wie überhaupt von jeder Wertung und jedem Willen, begrifflich ebenso streng zu scheiden sind, wie von den Objekten, an denen sie haften, oder den Gütern. Es ist zwar sicher, daß die Werte für uns immer mit Wertungen verbunden sind, aber sie sind eben verbunden mit ihnen und sind gerade deswegen nicht dasselbe wie die wirklichen Wertungen. Der Wert gehört als Wert in eine ganz andere Begriffssphäre als die wirkliche Wertung, und er enthält daher auch ein ganz anderes Problem.“ Rickert 1999, Vom Begriff, 14 (Anm. 25).  Hier stimmt Rickert der Erkenntnistheorie Diltheys ausdrücklich zu. Allerdings wendet er sich gegen dessen Annahme, dass der Erkenntnistheorie der „ganze Mensch in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte“ (Heinrich Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis. Ein Beitrag zum Problem der philosophischen Transcendenz, Freiburg i.B. 1892, 59) zugrunde gelegt werden müsse. Dilthey setzte sich seinerseits ebenfalls ausführlicher mit den Grundsätzen der Rickertschen Erkenntnistheorie auseinander, vgl. Dilthey 2004, 267– 309 (Anm. 27).  Rickert 1892, 69 (Anm. 30).  Rickert 1892, 89 (Anm. 30).  Rickert 1892, 76 (Anm. 30).  Rickert 1892, 77 (Anm. 30).  So nannte Rickert sein Werk über Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, vgl. Rickert 1902, 15 (Anm. 25).

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Reste der Kantischen Philosophie überwunden zu haben,³⁶ indem er die Erkenntnistheorie von materialen Implikationen ihrer Zweistämmigkeit befreit und logisch formalisiert hat. „Was bei Kant ‚reine Vernunft‘ heißt, erscheint nur noch als Gegenstand einer strikt formalen Erkenntnislogik.“³⁷ Die formal-logische Sondierung der Vernunft und ihrer Tätigkeit führt ihn zum Begriff des Werts, der als Gegenstand der Erkenntnis im Mittelpunkt seiner Epistemologie steht. Die Werte bilden, allen voran der Wert der Wahrheit, die apriorischen, zeitlos geltenden Prinzipien der Erkenntnis.³⁸ Damit bilden sie zugleich einen Kritikmaßstab der Erkenntnis, von dem aus es möglich sei, die quaestio iuris zu beantworten. Rickerts Philosophie versucht auf diesem Wege relativierenden Tendenzen der zeitgenössischen Philosophie entgegenzutreten und ein sturmfreies Gebiet der Vernunft zu umreißen, um davon ausgehend den sicheren Gang der Wissenschaft zu gehen. Dementsprechend hält er es im Unterschied zu Dilthey nicht für erforderlich, im Rahmen der Erkenntnistheorie und damit -kritik auf das Andere der Vernunft abzustellen. Ganz im Gegenteil, er lässt keinen Zweifel daran, dass es, um den kritischen Weg einschlagen zu können, erforderlich ist, das „erkennende Subjekt zu isolieren und abgesondert zu betrachten“³⁹. „Es schadet nichts“, heißt es direkt auf Dilthey gemünzt, „wenn in seinen [sc. des erkennenden Subjekts, G.N.] Adern nicht ‚wirkliches Blut‘, sondern nur ‚der verdünnte Saft von Vernunft als blosser Denktätigkeit‘ rinnt.“⁴⁰ Neben Dilthey gehört Rickert zweifelsohne zu den einflussreichsten Philosophen um 1900, die weit über das Gebiet der Philosophie hinaus zu wirken vermochten. Im Falle des Letzteren ist das in dieser Hinsicht berühmteste Beispiel sicherlich mit dem Namen Max Webers verbunden. Die frühen methodologischen Schriften Webers sind im Gespräch mit der Wertphilosophie und Wissenschaftslehre des Philosophen entstanden. Wenn wir uns nun Weber zuwenden, dann aber nicht des ausgesprochen schwer zu taxierenden Einflusses wegen, den der Neukantianer auf ihn hinterlassen hat, sondern vielmehr deswegen, weil Weber selbst als ein „Klassiker der Rationalitätstheorie“⁴¹ angesehen werden kann.

 Rickert 1892, 40 (Anm. 30).  Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1833 – 1933, Frankfurt a.M. 1983, 77.  Vgl. dazu Christian Krijnen, Nachmetaphysischer Sinn. Eine problemgeschichtliche und systematische Studie zu den Prinzipien der Wertphilosophie Heinrich Rickerts, Königshausen 2001, 86.  Rickert 1892, 59 (Anm. 30).  Rickert 1892, 59 (Anm. 30).  Vgl. Rainer Adolphi, „Drei Thesen zum Typus einer Rationalitätstheorie nach Weber: Begriffsdifferenzierung, Pluralität, Konflikte“, in: Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten, hg. v. Karl-Otto Apel / Matthias Kettner, Frankfurt a.M. 1996, 91– 138, hier 93.

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3 Max Weber Webers Werk gab entscheidende Impulse für die Transformation der Vernunfttheorie im 20. Jahrhundert. Das gilt in erster Linie für die – grob gesagt – Ablösung des Vernunftbegriffs durch den Rationalitätsbegriff.⁴² Dieser Prozess ist maßgeblich durch den Juristen und Nationalökonomen angestoßen worden. Sein Umgang mit dem Thema Vernunft beziehungsweise Rationalität ist ausgesprochen unübersichtlich und lässt sich in ganz verschiedenen Bereichen seines Œuvres identifizieren.⁴³ Schwerpunktmäßig verhandelt er dieses Thema in seinen methodologischen, religions- und wirtschaftssoziologischen Studien. Wir müssen uns an dieser Stelle auf erstere beschränken und rücken drei Sachverhalte in den Fokus. Zunächst ist Webers allgemeine Bestimmung des Verhältnisses von Logik und empirischer Forschung kurz anzusprechen. Sodann ist auf dessen Konstruktion von Begriffen der Handlungsrationalität einzugehen. Schließlich ist in den Blick zu nehmen, wie Weber Rationalität als Gegenstand empirischer Forschung thematisiert. Was den ersten Gesichtspunkt betrifft, so lässt Weber keine Zweifel daran aufkommen, dass die Logik, in diesem Fall i.S. der Denkgesetze, der Vorhof der Wissenschaften sei. Er bezeichnet sie – neben der Mathematik – ausdrücklich als das a priori aller empirischen Wissenschaften.⁴⁴ Der zweite Gesichtspunkt verweist auf Webers berühmte Handlungstypologie, die er in der soziologischen Kategorienlehre seines späten Hauptwerks Wirtschaft und Gesellschaft (1919/1920) entworfen hat. Er konstruiert darin den handlungstheoretischen und methodologischen Prämissen seines sozialwissenschaftlichen Ansatzes entsprechend den Begriff des zweck- und den Begriff des wertrationalen Handelns.⁴⁵ Es handelt sich hier wie dort um ein Konzept rationaler Handlungsbestimmtheit, deren jeweils konkrete Gestalt hier nicht weiter verfolgt zu werden braucht. Entscheidend ist an dieser Stelle, zunächst deren idealtypischen Charakter zu unterstreichen. Es handelt sich um Begriffe, die auf der einen Seite einen empirischen Anknüpfungspunkt besitzen, aber keinesfalls als ein Spiegelbild tatsächlicher Verhältnisse angesehen werden dürfen.Vielmehr werden sie letzteren gegenüber bewusst verfremdet, indem einzelne empirische Elemente einseitig gesteigert oder auch weggelassen werden. Isolation und Abstraktion, wie Weber diese Teilverfahren nennt, erfolgen um der Eindeutigkeit der Begriffe wegen. Die

 Vgl. Schnädelbach 2007, 130 (Anm. 1).  Ulrich Barth identifiziert in Webers Rationalitätsbegriff acht Bedeutungskomponenten, vgl. Barth 2005, 347 (Anm. 17).  Max Weber [1917], „Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften“, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 41973, 489 – 540, hier 532.  Max Weber [1990 – 20], Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie. Unvollendet, Max Weber-Gesamtausgabe I/23, hg. v. Knut Borchardt u. a., Tübingen 2013, 175 – 177. Zu den methodologischen und handlungstheoretischen Grundsätzen des Weberschen Denkens vgl. Georg Neugebauer, Die Religionshermeneutik Max Webers, Berlin/Boston 2017, 30 – 162.

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Methode idealtypischer Begriffsbildung steht sodann im Dienste hermeneutischer Interessen, weswegen Weber die idealtypischen Begriffe auch als Deutungsschemata bezeichnet.⁴⁶ Die unwirklichen idealtypischen Begriffe dienen dem Verständnis des wirklichen Handelns. Daher wäre es ein grobes Missverständnis, verwechselte man idealtypische Begriffe mit normativ-ethischen Begriffen.⁴⁷ Vielmehr sind es heuristische Begriffe der verstehenden Soziologie. Das gilt auch für die Begriffe des wert- und des zweckrationalen Handelns, die auch unter den Begriff einer „heuristischen Rationalität“⁴⁸ rubriziert werden könnten. Dass damit zugleich im strengen Sinne des Wortes kritische Implikationen angesprochen sind, sei ausdrücklich herausgestellt. Denn mittels des Vergleichs dieser idealtypischen Begriffe der Handlungsrationalität mit tatsächlichen Hergängen ist die Möglichkeit an die Hand gegeben, rationale und nicht-rationale Elemente im Aufbau des empirischen Handelns zu identifizieren und dieses auf diesem Wege verständlich zu machen. Die idealtypischen Begriffe stellen vor diesem Hintergrund betrachtet Instrumente der Kritik dar, indem sie das empirische Material prüfen und rationale von nicht-rationalen Elementen absondern.⁴⁹ Doch ist damit die Spannbreite von Webers Ausführungen zum Verhältnis von Wissenschaftspraxis und Rationalität noch nicht erschöpft. Hinzu kommt ein dritter Sachverhalt. In seinem berühmten Beitrag Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1917) reflektiert Weber ausdrücklich die „Stellung des Rationalen innerhalb empirischer Disziplinen“,⁵⁰ wobei er hier die empirischen Nicht-Naturwissenschaften im Blick hat. Gegenüber der bis hierhin angedeuteten Behandlung des Rationalitätsthemas tritt das Rationale in einer prinzipiell davon abweichenden Stellung auf den Plan. Weber setzt sich mit den Konsequenzen für den Theoriestatus des Rationalen auseinander, wenn dieses beziehungsweise „normativ gültige[] Wahrheiten“⁵¹ zum Gegenstand empirischer Forschungen werden. Unter dieser Voraussetzung verliere die Wahrheit ihren logischen Geltungsstatus. Die logisch allgemeine und notwendige Geltung wandelt sich perspektivierungsbedingt in

 Vgl. Max Weber [1906], „Roscher und Knies und die logischen Probleme der Nationalökonomie. III: Knies und das Irrationalitätsproblem (Forts.)“, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 41973, 105 – 145, hier 130.  In einem Brief an Heinrich Rickert vom 14. Juni 1904 schreibt Weber: „Wie man sie nennt[,] ist ja Nebensache. Ich nannte sie so, weil der Sprachgebrauch von ‚idealem Grenzfall‘, ‚idealer Reinheit‘ eines typischen Vorgangs, ‚idealer Construktion‘ etc. spricht, ohne damit ein Sein-sollendes zu meinen, ferner weil das, was Jellinek (Allg[emeine] Staatslehre) ‚Idealtypus‘ nennt, |:als| nur im logischen Sinn perfekt gedacht ist, nicht als Vorbild. Im übrigen muß der Begriff weiter geklärt werden, er enthält allerhand bei meiner Darstellung noch ungeschiedene Probleme.“ (Max Weber, Briefe 1903 – 1905, Max Weber-Gesamtausgabe II/4, hg. v. Gangolf Hübinger / M. Rainer Lepsius, Tübingen 2015, 230).  Lutz Danneberg, Methodologien: Struktur, Aufbau und Evaluation, Berlin 1989, 165.  Vgl. dazu auch Gerhard Hufnagel, Kritik als Beruf. Der kritische Gehalt im Werk Max Webers, Frankfurt a.M. u. a. 1971, 223 – 236.  Weber 1973, Sinn der Wertfreiheit, 530 (Anm. 44).  Weber 1973, Sinn der Wertfreiheit, 532 (Anm. 44).

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eine konventionelle Geltung. Es handele sich um eine „Metamorphose normativ gültiger Wahrheiten in konventionell geltende Meinungen“.⁵² Weber erläutert diesen Gesichtspunkt gerne am Beispiel des Einmaleins: „Für jede empirische, soziologische oder historische Betrachtung ist unser Einmaleins also, wo es als Objekt der Untersuchung auftritt, eine konventionell in einem Menschenkreise geltende und in mehr oder minder großer Annäherung befolgte Maxime des praktischen Verhaltens und nichts anderes.“⁵³ Werden mathematische und logische Rationalitätskonzepte unter den Bedingungen empirischer Forschung untersucht, treten diese nicht mehr als normative Prämissen des Denkens auf den Plan. Vielmehr verlieren sie ihren Geltungsstatus. Als Gegenstand empirischer Forschung wird deren normative Kraft gleichsam neutralisiert. Diese wenigen Andeutungen machen bereits kenntlich, dass Weber das Thema Rationalität auf ganz unterschiedlichen Explikationsebenen verhandelt. Innerhalb seiner methodologischen Schriften arbeitet er unterschiedliche Modelle von Handlungsrationalität heraus und leistet damit dem Gedanken eines Rationalitätspluralismus Vorschub.⁵⁴ Dieser Gesichtspunkt wird durch seine Reflexionen zur Verschieblichkeit dessen, was als rational und was als irrational gelten kann, verstärkt. So weist er in der überarbeiteten Neuausgabe der Protestantischen Ethik von 1920 darauf hin: „‚Irrational‘ ist etwas stets nicht an sich, sondern von einem bestimmten ‚rationalen‘ Gesichtspunkt aus. … Wenn zu irgend etwas, so möchte dieser Aufsatz dazu beitragen, den nur scheinbar eindeutigen Begriff des ‚Rationalen‘ in seiner Vieldeutigkeit aufzudecken.“⁵⁵ Als Paradebeispiele kann die wechselseitige Irrationalitätsunterstellung des zweck- und des wertrationalen Standpunkts angesehen werden. Schließlich ist die angedeutete Empirisierung von Rationalitätsstandards zu nennen, wodurch die Vernunft sowie ihre unterschiedlichen Einstellungen als nicht-normative Instanzen auf den Plan treten. Genau dieser Gesichtspunkt wurde innerhalb der Wissenssoziologie aufgegriffen und weiterverarbeitet.

 Weber 1973, Sinn der Wertfreiheit, 532 (Anm. 44). „Auch die mathematischen und logischen Sätze und Normen sind daher, wo sie Objekt soziologischer Forschung sind … für uns gerade ‚logisch‘ gar nichts als: konventionelle Gepflogenheiten eines praktischen Sichverhaltens – obwohl ihre Geltung doch andererseits ‚Voraussetzung‘ der Arbeit des Forschers ist.“ (Max Weber [1913], „Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie“, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 41973, 427– 474, hier 439).  Weber 1973, Sinn der Wertfreiheit, 531 (Anm. 44).  Darauf legt Rainer Adolphi das Augenmerk und erkennt darin das von Weber angetretene Erbe der Philosophie Kants, vgl. Adolphi 1996, 92– 93 (Anm. 41). Es sei zumindest am Rande bemerkt, dass auch schon Aristoteles mit einem Rationalitätspluralismus operierte und zwischen fünf später als „‚habitus intellectuales‘“ bezeichneten Vernunfteinstellungen unterschied (Alwin Diemer, „Wissenschaftsbegriff in historischem und systematischem Zusammenhang“, in: Der Wissenschaftsbegriff: Historische und systematische Untersuchungen, hg. v. Alwin Diemer, Meisenheim am Glan 1970, 3 – 20, hier 7).  Max Weber, „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, Max Weber-Gesamtausgabe I/18, hg. v. Wolfgang Schluchter, Tübingen 2016, 123 – 492, hier 159.

Die Vernunft der Kritik

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4 Karl Mannheim Im Mittelpunkt der Wissenssoziologie Karl Mannheims stehen erkenntnistheoretische Probleme. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die auf die eigene Gegenwart bezogene Diagnose einer „Pluralität von Denkstilen“,⁵⁶ die miteinander im Streit liegen. Dieser Zusammenstoß von Denkstilen, der demokratisierende Tendenzen innerhalb der Gesellschaft voraussetze,⁵⁷ evoziere eine – wie Mannheim im Medium zeittypischer Krisensemantik formuliert – tiefe „Unruhe unserer Tage“,⁵⁸ ja sogar eine „existentielle Aporie“.⁵⁹ Die Gleichzeitigkeit voneinander abweichender Denkrichtungen erodiere das Vertrauen in das menschliche Denken.⁶⁰ Diesen Tendenzen versucht Mannheim auf dem Boden wissenschaftlicher Reflexion entgegenzusteuern, was aber nur gelingen könne, wenn das Denken selbst prinzipiell neu perspektiviert werde. Das zu leisten, ist die Aufgabe der Wissenssoziologie, die – im weitesten Sinne formuliert – als das Programm einer Soziologisierung der Erkenntnistheorie bezeichnet werden kann. Mannheims „Hauptthese“ lautet, „daß es Denkweisen gibt, die solange nicht adäquat verstanden werden können, als ihr gesellschaftlicher Ursprung im Dunkeln bleibt.“⁶¹ Dementsprechend kann sich die soziologische Erkenntnistheorie nicht auf die vernunftimmanente Kritik der Vernunft beschränken, sondern sieht sich dazu angehalten, „kollektiv-unbewußte[] Motive“⁶² des Denkens und damit dessen „Seinsgebundenheit“⁶³ zum Vorschein zu bringen.⁶⁴ Denken, Wissen und Handeln setzen unbewusste Motive voraus und müssen als ein „kooperativer Gruppenprozeß“⁶⁵ begriffen werden, womit sich Mannheim gegen eine subjektivitätstheoretische Engführung der Erkenntnistheorie wendet, obgleich er zugleich betont, dass „nur das Individuum des Denkens fähig ist“.⁶⁶ Ein für die Interpretation der Mannheimschen Wissenssoziologie neuralgischer Punkt besteht in der Frage, ob die Hauptthese, wonach Denkweisen unzureichend verstanden sind, solange sie nicht wissenssoziologisch begriffen werden, für alle Denkweisen gilt. Während er in seiner Strukturanalyse der Erkenntnistheorie (1918/  Karl Mannheim, Ideologie und Utopie. Mit einer Einleitung von Jürgen Kaube, Frankfurt a.M. 92015, 36.  Mannheim 2015, 9 (Anm. 56).  Mannheim 2015, 13 (Anm. 56).  Mannheim 2015, 38 (Anm. 56).  Vgl. Mannheim 2015, 37– 38 (Anm. 56). „Die Tatsache, daß mehr und mehr Menschen in Skeptizismus und Irrationalismus flüchteten, ist nicht zufällig, eher unvermeidlich.“ (38).  Mannheim 2015, 4 (Anm. 56).  Mannheim 2015, 45 (Anm. 56).  Mannheim 2015, 73 (Anm. 56).  Mannheim spricht auch von den „irrationalen Grundlagen des rationalen Wissens“ (Mannheim 2015, 29 [Anm. 56]).  Mannheim 2015, 27 (Anm. 56).  Mannheim 2015, 4 (Anm. 56). Vgl. auch 44.

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1922) noch eine Grenze am Orte des Wahrheitsbegriffs einzieht,⁶⁷ scheint er in Ideologie und Utopie diese Grenzen überschritten zu haben. Die Begriffe Wahrheit, Logik und a-priori werden dementsprechend als seinsgebundene Größen ausgewiesen.⁶⁸ Entscheidend ist für uns in diesem Zusammenhang, dass der wissenssoziologische Standpunkt ein kritischer Standpunkt ist. Erst eingedenk der nicht-rationalen Bestimmungsgründe des Denkens ist die „Voraussetzung eines wissenschaftlichen kritischen Selbstbewußtseins“⁶⁹ erfüllt. Die psychogenetische, auf das Verstehen des Lebenszusammenhangs zielende Methode ermöglicht es Mannheims Auffassung nach, die Voraussetzungen des Denkens und Wissens neu zu sichten und zu sondieren. Im Ergebnis bedeutet das, die prinzipielle Vorgängigkeit des kollektiven Lebenszusammenhangs und der daraus erwachsenen faktischen Wissensformen sowie Erkenntnisweisen gegenüber der szientifisch begründeten Prinzipienreflexion auszuweisen.⁷⁰ Gleichwohl betont Mannheim, dass auch zum faktischen Wissen eine „es begründende prinzipielle Schicht“⁷¹ gehöre. Doch dürfe dieser Primat keine „Denkhemmungen“⁷² in dem Sinne evozieren, dass das prinzipiierende Fundament des Denkens als nicht revidierbar angesehen wird. Vielmehr müsse es als partikular und veränderbar durchschaut werden. Die Vorstellung, „daß die Erkenntnistheorie und Noologie sich (eingedenk ihrer prinzipiell fundierenden Relevanz) autonom unabhängig von den Fortschritten der Einzelwissenschaften zu entwickeln hätten, und von diesen her nicht erschüttert werden können“⁷³, sei nicht mehr haltbar.

 „Die letzte Konsequenz … wäre die Annahme einer ‚dynamischen Logik‘, wonach nicht nur der Stoff der Geschichte, sondern auch die Kategorien, mit denen man sich ihrer bemächtigt, sich verändern, sich entwickeln; so daß also […] auch unsere Strukturanalyse, hätte man sie in einer anderen geschichtsphilosophischen Phase gemacht, anders ausgefallen wäre. So sehr das tatsächlich stimmen mag […], so sehr wir auch dieser Auffassung geneigt und offen gegenüber stehen, glauben wir doch, daß man in prinzipielle Schwierigkeiten gerät […]: Man darf in diesem Falle die unbezweifelbare Tatsache, daß sich in der Geschichte alles ändert, nicht in die postulative Sphäre der Geltung hineintragen,– man gräbt die Grube unter seine eigenen Behauptungen. Es mag sein, daß in gewissen Zeiten so manche zeitlose Wahrheiten noch nicht oder nicht mehr sichtbar sind; die Wahrheiten selbst aber können nicht entstehen und vergehen.“ (Karl Mannheim, Strukturanalyse der Erkenntnistheorie, Berlin 1922, 36).  Vgl. Mannheim 2015, 38 sowie bes. 245 – 251 (Anm. 56).  Mannheim 2015, 42 (Anm. 56).  „Neue Wissensarten tauchen letzten Endes stets nur aus dem kollektiven Lebenszusammenhange auf und entstehen nicht erst, nachdem eine Prinzipienwissenschaft ihre Möglichkeit demonstriert hat, also nicht vorher durch eine Erkenntnistheorie legitimiert. Es ist vielmehr umgekehrt: Die Entwicklung der Prinzipienwissenschaft vollzieht sich im Element der Empirie, auch ihre Umwälzungen hängen ab von den Umwälzungen, die in den faktischen Erkenntnisweisen sich vollziehen. Die Revolution in der prinzipielleren Schicht des Bewußtseins setzt also stets später ein, als die Revolution in der Schicht des unmittelbar zugreifenden Erkennens […].“ Mannheim 2015, 248 (Anm. 56).  Mannheim 2015, 248 (Anm. 56).  Mannheim 2015, 249 (Anm. 56).  Mannheim 2015, 248 (Anm. 56).

Die Vernunft der Kritik

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Eine wissenssoziologische und damit – nach Auffassung Mannheims – allererst kritische Perspektivierung des Denkens nimmt damit wiederum Abschied von der Zeitlosigkeit und Apriorität rationaler Begründungsmuster. Erst wenn das rationale Wissen um seine irrationalen Grundlagen weiß und aus diesen heraus verstanden wird, handelt es sich um ein Wissen, das auf dem Boden der Kritik steht. Gegenüber der von ihm als dogmatisch apostrophierten Philosophie und Logik zielt Mannheim darauf, die strikte Trennung zwischen der Geltung und der Genesis des Denkens und des Wissens aufzubrechen und damit die Einsicht in die Kontingenz und Verschieblichkeit rationaler Begründungsleistungen durchzusetzen.

5 Schluss Mit Ausnahme von Rickert illustrieren die skizzierten Kurzportraits – freilich in jeweils unterschiedlichem Maße – die eingangs angedeutete Tendenz einer Depotenzierung beziehungsweise Dezentrierung der Vernunft.⁷⁴ Diesen Sachverhalt herauszustreichen, ist nun keineswegs neu und der hier eingeschlagene Reflexionsgang hat darin auch nicht seine Zielperspektive. Diese besteht vielmehr darin, dass mit der Relativierung der Vernunft ein klassischer Garant der Kritik in das Hintertreffen geraten ist und sich damit der nach wie vor bestehende Anspruch kritischen Denkens innerhalb der Wissenschaftspraxis neu ausrichten musste. Auffällig ist dabei der Sachverhalt, dass die Relativierung der Vernunft im Namen der Kritik erfolgte, was es wiederum erforderlich machte, alternative Maßstäbe der Kritik auf den Begriff zu bringen. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nahm diesbezüglich das „Leben“ eine Schlüsselstellung ein. Es wäre nun eine reizvolle Aufgabe, die hier in groben Umrissen entfaltete Fragestellung einer vertiefenden Betrachtung zu unterziehen und über die Zeit um 1900 hinaus in die weitere Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts hinein zu verfolgen, nicht zuletzt deswegen, weil der Kritikbegriff auch weiterhin zur Grundsignatur philosophischer Selbstverständigung gehört, die klassische Vernunft- und Erkenntnistheorie aber zugleich heftigen Frontalangriffen ausgesetzt ist. Vor dem Hintergrund einer kontinuierlichen Schwächung des alten Bündnisses zwischen Vernunft und Kritik erscheint auch die Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts in weiten Teilen als eine Suche nach Richtlinien kritischen Denkens. Als ein besonders anschauliches und prominentes Beispiel sei an dieser Stelle zumindest die Kritische Theorie der Frankfurter Schule genannt,⁷⁵ zu deren Hauptschwierigkeiten es Jürgen Habermas zufolge gehörte, „über ihre eigenen normativen Grundlagen Rechenschaft zu ge Vgl. Barth 2005, 337 (Anm. 17); Schnädelbach 2007, 120 (Anm. 1).  Das deutet auch Stefan Breuer an, wenn er bemerkt, dass die Kritik, die Horkheimer in Eclipse of Reason an der instrumentellen Vernunft übte, am Maßstab eines Vernunftbegriffs erfolgte, der „seine Kraft aus der Beschwörung der religiösen und philosophischen Tradition gewann.“ (Stefan Breuer, Kritische Theorie. Schlüsselbegriffe – Kontroversen – Grenzen, Tübingen 2016, 47).

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Georg Neugebauer / Leipzig

ben“⁷⁶. Die Anfänge dieser Entwicklung liegen natürlich nicht erst in der Zeit um 1900. Aber gleichwohl nimmt die klassische Moderne auch in dieser Hinsicht eine Sonderstellung ein, weil – mit Mannheim formuliert – das Vertrauen in das Denken und in die Vernunft auf breiterer Flur zu erodieren begann. Das stellte auch die Praxis der Kritik vor neue Herausforderungen.

 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. I. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M. 41987, 500. Insofern der Theoretiker des kommunikativen Handelns genau dieses Desiderat in Angriff nehmen möchte, artikuliert sich hierin wiederum auch die Suche nach einem Kritikmaßstab, der sich nur auf dem Wege einer „Theorie der Rationalität“ auf den Begriff bringen lasse und damit „die normativen Grundlagen einer kritischen Gesellschaftstheorie aufklärt.“ (Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II. Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 41987, 583).

Christian Danz / Wien (Österreich)

Kritik und Gestaltung

Das Protestantismusverständnis von Schleiermacher und Tillich Die Stichworte „Kritik und Gestaltung“ stammen bekanntlich von Paul Tillich. Er hatte sie zur Beschreibung der Eigenart des Protestantismus in dem zweiten von ihm herausgegebenen Kairos-Band Protestantismus als Kritik und Gestaltung aufgenommen, der im Jahre 1929 im Otto Reichl Verlag in Darmstadt erschien. In dem vom Herausgeber verfassten Vorwort des Bandes heißt es: Das zweite Kairos-Buch ist dem Protestantismus gewidmet. Das ist kein Zufall. Die Geisteslage, aus der heraus sich die Kairos-Schriften um Erkenntnis und Gestaltung bemühen, ist entscheidend bestimmt durch die Tatsache des Protestantismus; und die Kairos-Idee selbst ist geboren aus dem Ringen um eine protestantische Haltung gegenüber den gestalterischen Aufgaben der Zeit. Protestantische Haltung heißt aber: Eine Haltung, in der die unbedingte Kritik ihren Ausdruck findet, die vom Ewigen her über jede Gestaltung in der Zeit geht.¹

Die von Tillich angeführten Merkmale des Protestantismus, zugleich Kritik und Gestaltung zu sein, formulieren freilich einen Gedanken, der sich durch sein gesamtes Werk hindurch zieht, also nicht nur für die Schriften vom Ende der 1920er Jahre signifikant ist. Die Formel beinhaltet sowohl Zustimmung als auch Kritik an der Reformation und den zeitgenössischen Deutungen des Protestantismus. Dieser sei nämlich, so die These von Tillich, nicht einseitig als Kritik zu verstehen, sondern als Verzahnung von kritischer Negativität und reflexiver Gestaltung. Martin Luther rückte ausgehend von seiner Kritik des Bußsakraments, die seit der Hebräerbriefvorlesung von 1517/18 in den neuen Leibegriff des Glaubens überführt wird, den Rechtfertigungsgedanken in das Zentrum seiner Neudeutung der christlichen Religion.² Mit der iustificatio ist dem Protestantismus von Anfang an ein kritisches Prinzip eingeschrieben. Allein, der articulus stantis et cadentis ecclesiae ist von Hause aus lediglich ein Korrektiv. Mit dem Gesetz setzt er eine Gottesanschauung voraus, die durch die Rechtfertigung gleichsam durchkreuzt und negiert wird. Ohne den Hintergrund des Gesetzes, der göttlichen Forderung, unter der der Einzelne immer schon steht, ist der Rechtfertigungsglaube sinnlos. Zudem ist der Rechtfertigungsartikel rückgebunden an die Schrift als gleichsam objektive Größe. Sie hält die von dem Wittenberger Theologen in ihr prinzipielles Recht eingesetzte religiöse Individualität nicht nur im Zaum, die Schrift ist vor allem auch aufgrund der ihr eigenen göttlichen Dignität die einzige Richtschnur und Entscheidungsinstanz in religiösen, kirchlichen

 Paul Tillich, „Vorwort“, in: Protestantismus als Kritik und Gestaltung, hg. v. Paul Tillich, Darmstadt 1929, IX–XI, hier IX (im Original kursive).  Vgl. hierzu Bernd Hamm, Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, 1– 24. https://doi.org/10.1515/9783110569520-036

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Christian Danz / Wien (Österreich)

und theologischen Fragen.³ Die kritische Negativität des protestantischen Grundprinzips macht von Voraussetzungen Gebrauch, die in der Aufklärung unwiederbringlich zerbrochen wurden. Gotthold Ephraim Lessing löste in seinen Schriften zum Fragmentenstreit die Religion sowohl von der Bibel als auch von der Christologie. Die supranaturale Bibelautorität, der Beweis des Geistes und der Kraft, ist „zu menschlichen Zeugnissen von Geist und Kraft herabgesunken“.⁴ Die wahre Religion ist unabhängig von der Bibel und den Lehraussagen der Theologie. Sie lässt sich auch nicht begründen, was nicht nötig sei, da es das Christentum schon gibt. Die Befreiung der Religion vom Buchstaben der Schrift rückte der Wolfenbütteler Bibliothekar in Kontinuität zu dem Wittenberger Reformator.⁵ Denn die Anwendung der Kritik auf die Grundlagen der eigenen Religion entspricht der kritischen Negativität des religiösen Prinzips. Aber das führte zu einem völlig veränderten Selbstverständnis des modernen Protestantismus, den Ernst Troeltsch im Unterschied zu dem der Reformationszeit und den aus dieser hervorgegangenen Kirchenbildungen Neuprotestantismus nannte.⁶ Wie aber ist das Verhältnis von protestantischer Kritik und Gestaltung zu fassen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind, die von der Reformation noch umstandslos in Anspruch genommen werden konnten? Hebt sich die Kritik nicht auf, wenn sie auf Dauer gestellt wird? Und wie geht, um noch einmal an Tillich zu erinnern, aus der Negation der Form eine Form hervor, die die kritische Negativität des Prinzips in sich trägt?⁷

 Vgl. nur Martin Luther, „Assertio omnium articulorum Martini Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum“, LDStA, Bd. 1, hg. v. Wilfried Härle, Leipzig 2006, 71– 217, hier 78.80 = WA 7, Weimar 1897, 97: „Oportet enim scriptura iudice hic sententiam ferre, quod fieri non potest, nisi scripturae dederimus principem locum, in omnibus quae tribuuntur patribus, hoc est, ut sit ipsa per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius interpres, omnium omnia probans, iudicans et illuminans“.  Gotthold Ephraim Lessing, „Über den Beweis des Geistes und der Kraft“, in: ders., Freimäurergespräche und anderes. Ausgewählte Schriften, Leipzig / Weimar 1981, 29 – 34, hier 30.  Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, „Eine Parabel“, Werke, Bd. 3, hg. v. Herbert G. Göpfert, München / Wien 1982, 433 – 443, hier 442: „Wer bringt uns endlich ein Christentum, wie du es itzt lehren würdest; wie es Christus selbst lehren würde!“  Ernst Troeltsch, Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906/1909/1922), Kritische Gesamtausgabe, Bd. 7, hg. v. Volker Drehsen in Zusammenarbeit mit Christian Albrecht, Berlin / New York 2004, 193: „Als bei Lessing und Semler, Locke und Bayle der neue Begriff des Protestantismus formuliert wurde, da bedeutete er die Freiheit des Geistes und Gewissens, die persönliche Gefühlsreligion, die Unabhängigkeit von Dogma und Theologie, die Erprobung des Religiösen im Sittlichen, die ewige Gegenwart der religiösen Wahrheit und ihre Freiheit gegenüber allem Geschichtlichen. Alles das ist nicht lutherisch und nicht calvinistisch, auch nicht rein humanistisch, sondern trägt vor allem einen Einschlag des Täufertums, Spiritualismus und Independismus in sich.“  Vgl. Paul Tillich, Protestantische Gestaltung, Gesammelte Werke, Bd. VII, hg. v. Renate Albrecht, Stuttgart 1962, 54– 69, hier 54: „Gestaltung ist die Macht, eine Form zu schaffen. Der Protestantismus ist Protest gegen Form.“ Vgl. auch ders., „Rechtfertigung und Zweifel“, in: ders., Ausgewählte Texte, hg. v. Christian Danz u. a., Berlin / New York 2008, 124– 137, bes. 125.

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Mit dem eben angedeuteten Problemhorizont ist das Thema der nachfolgenden Überlegungen zur Deutung des Protestantismus bei Friedrich Schleiermacher und Paul Tillich benannt. Beide haben den kritischen Impetus des Protestantismus aufgenommen und – wenn auch auf unterschiedliche Weise – dessen Gestaltungskraft für die moderne, sich von der Religion emanzipierende Kultur herausgearbeitet. Die von Troeltsch diagnostizierte Differenz zwischen dem Alt- und dem Neuprotestantismus setzten beide voraus. Es geht in deren theologischen Konzeptionen um eine reflexive Deutung der Religion, die zur Grundlage eines Neuverständnisses des Protestantismus wird, nachdem seine alten biblischen und metaphysischen Grundlagen im Sperrfeuer der Kritik zerbrochen sind. Doch was leisten deren Umformungen der Idee des Protestantismus für dessen Selbstverständnis im 21. Jahrhundert? Die Gliederung meiner Ausführungen resultiert aus der angedeuteten Problemskizze. Einzusetzen ist mit Schleiermachers Deutung des Protestantismus als reflexiver Religion, wie er sie in den Reden sowie in der Glaubenslehre ausgeführt hat. Sodann ist Tillichs Interpretation des Protestantismus vor dem Hintergrund der sich im 20. Jahrhundert beschleunigten gesellschaftlichen Modernisierung in den Blick zu nehmen, die von diesem in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre explizit in den Stichworten Kritik und Gestaltung zusammengefasst wurde. Abschließen möchte ich mit einem kurzen Resümee, in dem die Beiträge Schleiermachers und Tillichs für die religiöse Deutung der modernen Kultur gewürdigt werden.

1 Der Geist der individuellen Religion, oder: Schleiermachers Neudeutung des Protestantismus In der Erstauflage seiner Reden Über die Religion arbeitet Schleiermacher vor dem Hintergrund der historischen Bibelkritik der Aufklärung und der erkenntnistheoretischen Kritik Immanuel Kants den Protestantismus als reflexive Religion aus und setzt ihn ab von, wie es in der ersten Rede heißt, „altgläubigen und barbarischen Wehklagen“.⁸ Schon hier, in den Reden, bindet Schleiermacher gegen Gotthold Ephraim Lessing die vollkommene Religion an deren Stifter Jesus Christus, und das, obwohl die Religion unableitbar bei dem Einzelnen entsteht. Wenn ich das heilige Bild deßen betrachte in den verstümmelten Schilderungen seines Lebens, der der erhabene Urheber des Herrlichsten ist, was es bis jetzt giebt in der Religion: so bewundere

 Friedrich Schleiermacher [1799], Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1999, 58. Zur Religionstheorie der Reden vgl. Ulrich Barth, „Schleiermachers Reden als religionstheoretisches Modernisierungsprogramm“, in: Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik, hg. v. Silvio Vietta / Dirk Kemper, München 1997, 441– 474; Folkart Wittekind, „Friedrich Schleiermacher. Kommunikative Individualität“, in: Religionsstifter der Moderne. Von Karl Marx bis Johannes Paul II., hg. v. Alf Christophersen / Friedemann Voigt, München 2009, 37– 48.

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Christian Danz / Wien (Österreich)

ich nicht die Reinigkeit seiner Sittenlehre, die doch nur ausgesprochen hat, was alle Menschen, die zum Bewußtsein ihrer geistigen Natur gekommen sind, mit ihm gemein haben, […] aber das wahrhaft Göttliche ist die herrliche Klarheit, zu welcher die große Idee, welche darzustellen er gekommen war, die Idee daß Alles Endliche höherer Vermittlung bedarf um mit der Gottheit zusammenzuhängen, sich in seiner Seele ausbildete.⁹

Der Protestantismus ist gerade aufgrund seiner christologischen Bindung eine kritische und selbstreflexive Religion. Das ist die Neubestimmung der christlichen Religion, die Schleiermacher sowohl in den Reden als auch in der späteren Glaubenslehre ausarbeitet. Es ist zunächst die Protestantismusdeutung der Reden in den Blick zu nehmen und im Anschluss daran die der Glaubenslehre. In den Reden nimmt Schleiermacher die Bibelkritik der Aufklärung sowie die erkenntnistheoretische Kritik an der theologia naturalis auf und versteht Religion als den individuellen Vollzug eines allgemeingültigen Selbstverhältnisses.¹⁰ Religion ist ein reflexives Bewusstsein, in dem das Allgemeine an das Individuelle gebunden ist. Die Reflexivität, die Religion als individueller Vollzug ist, zeigt sich in symbolischen Formen, in denen das Besondere zur Darstellung des Ganzen wird.¹¹ Das unterscheidet die Religion als eigene Provinz im Gemüt nicht nur von Denken und Handeln, sondern die mit ihr verbundene Reflexivität des Selbstverstehens, also das geistige Leben bzw. die Individualität, markieren die Bedeutung der Religion für die Kultur der Gegenwart, deren Bildung und Geselligkeit. Schleiermacher verknüpft mit der Religion das unableitbare Entstehen von Reflexivität im Selbstverhältnis, das sich in symbolischen Formen darstellt. Wie deutet Schleiermacher nun den Protestantismus in den Reden? Das Stichwort kommt im Text freilich nicht vor. Einschlägig für unsere Problemstellung ist die fünfte Rede, die insgesamt den geschichtlichen Religionen gewidmet ist. Gegen Lessing betont der Redner nicht nur die geschichtliche Einbindung der Religion, sondern auch deren notwendigen individuellen Vollzug. Religion entsteht in der Geschichte auf eine unerklärliche Weise. Sie ist also ein unableitbarer Akt, obwohl sie als geschichtliche Religion an einen Stifter gebunden ist.¹² In seiner Religionstheorie verbindet Schleiermacher die Individualität der geschichtlichen Religionen mit deren Identität. Beides entsteht zugleich „aus freier Willkühr“, indem eine bestimmte Deutung zur Darstellung des Selbstverhältnisses herausgegriffen wird. Allein durch eine solche symbo-

 Schleiermacher 1999, Reden, 189 (Anm. 8).  Zu Schleiermachers Verhältnis zur Theologie der Aufklärung vgl. Claus-Dieter Osthövener, „Schleiermachers Verhältnis zur theologischen Aufklärung“, in: Aufgeklärte Religion und ihre Probleme. Schleiermacher – Troeltsch – Tillich, hg. v. Ulrich Barth/Christian Danz/Wilhelm Gräb/Friedrich Wilhelm Graf, Berlin/Boston 2013, 513– 541.  Vgl. Schleiermacher 1999, Reden, 82 (Anm. 8): „und so alles Einzelne als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion“.  Religionsstiftung ist immer historisch, und an diese knüpft „die ganze Entwikelung dieser Religion in allen Generationen und Individuen sich eben so historisch“ an (Schleiermacher 1999, Reden, 181 [Anm. 8]).

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lische Selbstbeschreibung, die stets ein individueller Vollzug ist und durch diesen erst hergestellt wird, entsteht „ein bestimmter Geist“ und kommt „ein gemeinschaftlicher Charakter in das Ganze“.¹³ Religion ist damit die Weise, wie geistige Individualität in der Geschichte überhaupt erst zustande kommt und sich über sich selbst verständigt. Mit ihrem Hervortreten verbindet der Redner den „Geburtstag [… des] geistigen Lebens“.¹⁴ Das Christentum als geschichtliche Religion wird von Schleiermacher nicht nur bleibend an seinen Stifter gebunden, es ist zugleich eine selbstreflexive Form von Religion. In ihm wird die „Religion selbst als Stoff für die Religion verarbeitet“, so dass es „gleichsam eine höhere Potenz derselben ist“. Eben das, also selbstreflexive Religion zu sein, „macht das unterscheidendste seines Charakters, das bestimmt seine ganze Form“.¹⁵ Mit Jesus von Nazareth, dem Stifter der christlichen Religion, tritt Religion als ein reflexives Selbstverhältnis in die Geschichte ein. Auch das Auftreten der selbstreflexiven Religion in der Geschichte ist nicht herleitbar aus der Religionsgeschichte, ihr Anfang ist, wie der jeder „Religion geheimnißvoll“.¹⁶ Schleiermacher verzahnt beides, die geschichtliche Stiftung der Religion und deren unableitbares Entstehen beim Einzelnen. Genau dafür, also für das nicht ableitbare Entspringen von Reflexivität im Selbstverhältnis des Bewusstseins, steht der Stifter der christlichen Religion, und darin besteht seine bleibende Bedeutung für diese Religion. Mit ihm repräsentiert das Christentum sein eigenes geheimnisvolles Entstehen in der Geschichte. Die Bedeutung des Stifters erschöpft sich jedoch in Schleiermachers Religionstheorie nicht in der Anschauung des unableitbaren Entstehens der Religion in der Geschichte. Wichtiger für unsere Frage nach dem Protestantismusverständnis ist ein weiterer mit seiner Religionstheorie verbundener Aspekt. Er betrifft die kritische Funktion des Stifters für die Verwirklichung der christlichen Religion in der Geschichte. Mit Jesus von Nazareth tritt die Idee des Christentums, Erlösungsreligion zu sein, nicht nur in die Geschichte ein, in ihm ist sie auch vollkommenen verwirklicht. Das macht seine Bedeutung als Stifter aus.¹⁷ Damit verbindet Schleiermacher die Funktion des Christusbilds für die christliche Religion. Sie besteht in einer permanenten kritischen Selbstreinigung der Religion. Auch die christliche Religion ist wie andere Religionen verunreinigt durch außerreligiöse Elemente. Im Bild des Stifters

 Schleiermacher 1999, Reden, 171 (Anm. 8). Vgl. auch Schleiermacher 1999, Reden, 176 (Anm. 8): „Beides ist die Wirkung eines und deßselben Momentes, und kann also Eins vom Andern nicht getrennt werden.“  Schleiermacher 1999, Reden, 175 (Anm. 8). Vgl. hierzu Wittekind 2009, 43 f. (Anm. 8).  Schleiermacher 1999, Reden, 185 (Anm. 8).  Schleiermacher 1999, Reden, 189 (Anm. 8). Deshalb ist es vergebliche „Verwegenheit“, den „Schleier hinwegnehmen zu wollen, der ihre Entstehung verhüllt, und verhüllen soll“ (Schleiermacher 1999, Reden, 189 [Anm. 8]).  Der Stifter des Christentums ist Urheber des Herrlichsten, „was es bis jetzt giebt in der Religion“ (Schleiermacher 1999, Reden, 189]Anm. 8]).

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schaut die christliche Religion das religiöse Prinzip seiner eigenen Selbstreinigung an. Es, das Christentum, „wendet zuletzt seine polemische Kraft gegen sich selbst, immer besorgt durch den Kampf mit der äußern Irreligion etwas fremdes eingesogen, oder gar ein Princip des Verderbens noch in sich zu haben, scheut es auch die heftigsten innerlichen Bewegungen nicht um es auszustoßen“.¹⁸ Die christliche Religion stellt die Selbstkritik der Religion, die kritische Selbstreinigung ihrer selbst mit dem Christusbild auf Dauer.¹⁹ Die Geschichte des Christentums ist die Geschichte seiner Selbstkritik, der Ausscheidung aller irreligiösen Elemente.²⁰ Der Protestantismus als Kritik wird damit von Schleiermacher bereits in den Reden in den Stifter der christlichen Religion verlagert. In Jesus von Nazareth ist das Wesen des Protestantismus, Kritik der Religion an sich selbst zu sein, in die Geschichte eingetreten. Als vollkommene Verwirklichung der religiösen Erlösungsidee bleibt er unüberschreitbarer Bezugspunkt und Darstellung der „unendliche[n] Heiligkeit“, die „das Ziel des Christenthums“ darstellt. Aus der polemischen Selbstreinigung der christlichen Religion, die auf ein „Continuum“ der Religiosität im Menschen abzielt,²¹ resultiert eine kulturelle Gestaltungsaufgabe. Mit der protestantischen Religion ist nämlich diejenige Reflexivität der Individualität verbunden, welche die Grundlage der modernen Kultur ist. Eine solche reflexive Selbstdeutung zu stiften und sich darin überflüssig zu machen, ist die Intention, die der Redner in seinen Reden Über die Religion verfolgt. Ein wesentlich anderes Bild von der Christentumsgeschichte bietet die spätere Glaubenslehre nicht. Auch sie versteht die Geschichte der christlichen Religion als eine Geschichte der kritischen Selbstreinigung, die im Protestantismus gipfelt.²² Jesus von Nazareth, mit dem unableitbar die Idee des Christentums in die Geschichte eingetreten ist, enthält bereits die ganze christliche Religion. Als Urbild ist er wie in den Reden Stifter und Ziel des neuen Gesamtlebens.²³ In der parallelen Konstruktion von Soteriologie und Ekklesiologie erörtert die Glaubenslehre die Realisierung der Idee des Christentums in der Geschichte in der Spannung von Geist und Sinnlichkeit. Die

 Schleiermacher 1999, Reden, 187 (Anm. 8).  Vgl. Schleiermacher 1999, Reden, 187 (Anm. 8): „Ich bin nicht gekommen Friede zu bringen sondern das Schwerdt, sagt der Stifter deßelben, […] nur diese heiligen Kriege, die aus dem Wesen seiner Lehre nothwendig entstehen, hat er vorausgesehen, und indem er sie voraussah, befohlen.“  Vgl. Schleiermacher 1999, Reden, 187 (Anm. 8): „Dies ist die in seinem Wesen gegründete Geschichte des Christentums.“  Schleiermacher 1999, Reden, 188 (Anm. 8).  Das schlägt sich auch in Schleiermachers Vorlesungen zur Kirchengeschichte nieder, die als ein Selbstreinigungsprozess des von Jesus von Nazareth gestifteten neuen Gesamtlebens konstruiert sind und in der in ihm realisierten Idee des Christentums ihren Maßstab finden. Zu Schleiermachers Konzeption der Kirchengeschichte und ihrem problemgeschichtlichen Hintergrund vgl. Simon Gerber, Schleiermachers Kirchengeschichte, Tübingen 2015.  Vgl. Friedrich Schleiermacher [1830/31], Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. v. Martin Redeker, Berlin / New York 1999, 34– 43 (§ 93).

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Christentumsgeschichte zielt auf die Identität von Urbild und Erscheinung. Die Bindung des Heiligen Geistes an den Erlöser und sein „Geschäft“, „Christum in Erinnerung zu bringen und zu verklären“,²⁴ hat die doppelte Funktion, die Unableitbarkeit der Entstehung des Glaubens sowie den kritischen Maßstab der Selbstreinigung der Religion zu repräsentieren. Der Protestantismus wird von Schleiermacher als selbstreflexive und deshalb kritische Religion gedeutet. Mit seiner Entstehung in der Reformation, von der Glaubenslehre und der Christlichen Sitte als „reinigende[s] Bestreben“²⁵ bzw. reinigendes Handeln der Gemeinde gedeutet, bringt er nicht nur den neutestamentlichen Kanon wieder zur Geltung, sondern auch eine höhere Stufe in der Aneignung des Urbilds. Das Wesen des protestantischen Christentums besteht in einer religiösen Vertiefung und der Ausscheidung nichtreligiöser Elemente aus der Religion. Dadurch bildet der Protestantismus diejenige Reflexivität der Individuen, welche die Grundlage der Gestaltung der modernen Kultur darstellt.

2 Die Gestalt der Gnade, oder: Paul Tillichs Deutung des Protestantismus Schleiermacher hatte den Protestantismus als selbstkritische Religion gedeutet, mit der diejenige Reflexivität verbunden ist, welche die Grundlage und Voraussetzung der Kulturgestaltung darstellt. Um 1900 ist jedoch die kulturelle Einheit, die der Berliner Theologe in seiner Religionstheorie noch vorausgesetzt hat, aufgelöst. Das Nebeneinander höchst unterschiedlicher kultureller und gesellschaftlicher Systeme ohne eine diese übergreifende Einheit, von Georg Simmel mit der Metapher einer „Tragödie der Kultur“ beschrieben,²⁶ führte in den diversen Kulturwissenschaften zu einer vertieften Selbstreflexion der Kultur.²⁷ Das hat Konsequenzen für die Fassung des Religionsbegriffs. Vermögenstheoretische Konzeptionen, wie die Schleiermachers, ver-

 Schleiermacher 1999, Glaube, 267 (§ 124. 2) (Anm. 23).  Schleiermacher 1999, Glaube, 137 (§ 24. 1) (Anm. 23). Vgl. auch Friedrich Schleiermacher, Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt, hg. v. Wolfgang Erich Müller, Waltrop 1999, 97– 290. Vgl. hierzu auch Gerber 2015, 353 – 417 (Anm. 22).  Georg Simmel, „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“, in: ders., Philosophische Kultur, Leipzig 1911, 245 – 277.  Vgl. nur Ernst Troeltsch, Das Wesen des modernen Geistes, Gesammelte Schriften, Bd. IV, hg. v. Hans Baron, Aalen 1966 [Nachdruck Tübingen 1925], 297– 338. Vgl. Markus Fauser, Einführung in die Kulturwissenschaft, Darmstadt 42008, 12– 26; Ralf Konersmann, „Aspekte der Kulturphilosophie“, in: Kulturphilosophie, hg. v. Ralf Konersmann, Leipzig 32004, 9 – 24; Rüdiger vom Bruch u. a. (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft, Stuttgart 1989.

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fallen nun der Kritik.²⁸ Deutlich wird der eben angedeutete und gegenüber dem 19. Jahrhundert veränderte Problemhintergrund auch an der Theologie Paul Tillichs. Tillich widerspricht schon in seinen vor dem Ersten Weltkrieg ausgearbeiteten Texten Schleiermachers soteriologischer Deutung des Protestantismus. Die Rechtfertigung wird bereits in dem frühen Entwurf einer Systematischen Theologie aus dem Jahre 1913 gegenüber soteriologischen Engführungen wie bei Albrecht Ritschl und im Pietismus ausgeweitet und als absolutes Paradox bestimmt.²⁹ Dieses ist das theologische Prinzip, und es bezieht sich auf den „ganzen Weltzustand“,³⁰ hat also entsprechend dem absoluten Wahrheitsgedanken der Systemkonzeption von 1913 eine universal-kosmologische Dimension. Gott ist in der Welt zu finden, also auch außerhalb seiner Offenbarung in Jesus Christus. Diese universale Erweiterung der soteriologischen Protestantismusdeutung auszuarbeiten, ist die Funktion der Religionstheorie Paul Tillichs. Sie wird in den 1920er Jahren gegen Schleiermachers, aber auch gegen Karl Barths soteriologische Deutungen des Protestantismus gewendet.³¹ Barths Konzeption erscheint nun als Modernisierung von Luthers Theologie, die sich ebenso wie die Philosophie Immanuel Kants in der Kritik erschöpft.³² Die Stichworte „Kritik

 Wilhelm Windelband und Hermann Cohen unterziehen in ihren religionsphilosophischen Konzeptionen um 1900 vermögenstheoretische Religionsbegriffe der Kritik. Vgl. Wilhelm Windelband, „Das Heilige. Skizze zur Religionsphilosophie“, in: ders.: Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. 2, Tübingen 7/81921, 295 – 332; Hermann Cohen, Der Begriff der Religion im System der Philosophie. Hildesheim/Zürich/New York 1996. Das wird auch in der Theologie aufgenommen. In seiner philosophischen Dissertation von 1910 erklärt der junge Paul Tillich mit Schelling den Gottesbegriff zur Grundlage des Religionsbegriffs. „Nicht in irgendeiner Form der Geistestätigkeit ist das Wesen der Religion zu suchen, sondern in der Geistigkeit des Menschen als solcher.“ (Paul Tillich, „Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien (1910)“, in: ders., Frühe Werke, hg. v. Gert Hummel / Doris Lax, Berlin / New York 1998, 156 – 272, hier 233)  Vgl. Paul Tillich, „Systematische Theologie von 1913“, in: ders., Frühe Werke, hg. v. Gert Hummel/ Doris Lax, Berlin/New York 1998, 278 – 434, hier 318: „Das theologische Prinzip als allgemeines ist Rechtfertigung. Was gerechtfertigt werden muß, ist der Einzelstandpunkt, der Standpunkt der Reflexion; so fordert es das Paradox, denn so fordert es die Not der Reflexion, die ohne Rechtfertigung durch das Absolute der Vernichtung durch das Absolute preisgegeben wäre.“ Zur Protestantismustheorie der frühen Systematischen Theologie vgl. Folkart Wittekind, „‚Allein durch Glauben‘. Tillichs sinntheoretische Umformulierung des Rechtfertigungsverständnisses 1919“, in: Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919 – 1920), hg. v. Christian Danz / Werner Schüßler, Wien 2008, 39 – 65, bes. 40 – 46.  Tillich 1998, Systematische Theologie, 320 (Anm. 29).  Zu Tillichs Rezeption von Schleiermacher vgl. Michael Moxter, „‚Tote Schlaken inneren Feuers‘. Tillichs Kulturtheologie im Lichte der fünften Rede Schleiermachers“, in: Aufgeklärte Religion und ihre Probleme. Schleiermacher – Troeltsch – Tillich, hg. v. Ulrich Barth u. a., Berlin / Boston 2013, 293 – 309.  In seinem 1924 veröffentlichten Vortrag Rechtfertigung und Zweifel ordnet Tillich die Theologie Barths in die Geschichte des Protestantismus ein und versteht diese als Anschluss an Luther sowie die kritische Philosophie Kants, die in der soteriologischen Religionsdeutung des Reformators vorweggenommen ist.Vgl. Tillich 2008, Rechtfertigung und Zweifel, 124– 137 (Anm. 7). Auch der spätere Aufsatz Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip parallelisiert durchweg die Theologie Barths

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und Gestaltung“ richten sich gegen eine solche falsche, weil einseitige Auffassung des Protestantismus. Tillich benutzt die lutherische Rechtfertigungslehre als Strukturbeschreibung der Religion.³³ Es ist zunächst die Konstruktion von dessen Religionsbegriff kurz zu skizzieren. Dieser bildet die Grundlage seiner Protestantismustheorie, die anhand von Tillichs Aufsatz Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip erörtert werden soll. Auch Tillich versteht die Religion als einen Reflexionsakt im Selbstverhältnis des Bewusstseins. Im Unterschied zu Schleiermacher ordnet er jedoch die Religion keinem bestimmten Bewusstseinsvermögen mehr zu, sondern dem Selbstverhältnis des Bewusstseins als solchem.³⁴ Die werkgeschichtliche Entwicklung dieses Religionsbegriffs von der absolutheits- und wahrheitstheoretischen Fassung im Frühwerk hin zu dessen sinntheoretischer Umformulierung in den Schriften nach dem Ersten Weltkrieg kann im Folgenden auf sich beruhen.³⁵ Wichtiger für unsere Fragestellung nach dem Protestantismusverständnis ist dessen grundlegende Struktur. Die Grundlage allen Bewusstseins ist das Selbstverhältnis. Dessen Eigenart, zugleich Grund aller im Bewusstsein gesetzten Bestimmungen sowie das Wissen um deren Unangemessenheit zu sein, bezeichnet Tillich mit dem Begriff des Unbedingten. Das um sich selbst wissende Selbstverhältnis ist Grund und Abgrund aller Setzungen. Sich realisieren, also in der Geschichte wirklich werden, kann das so bestimmte Selbstverhältnis nur in und durch die vermögenstheoretischen Strukturen des Bewusstseins, also durch die

mit dem Kritizismus Kants versteht jene als Erneuerung von dieser. Vgl. Paul Tillich, „Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip“, in: ders., Ausgewählte Texte, hg. v. Christian Danz u. a., Berlin / New York 2008, 200 – 221, hier 206 – 207. Vgl. hierzu Folkart Wittekind, „Grund- und Heilsoffenbarung. Zur Ausformung der Christologie Tillichs in der Auseinandersetzung mit Karl Barth“, in: Jesus of Nazareth and the New Being in History. International Yearbook for Tillich Research, Vol. 6, Berlin/Boston 2011, 89 – 119.  Vgl. hierzu nur die bekannte Bestimmung der Religion in dem Kulturvortrag von 1919. Religion, so heißt es da, sei „Erfahrung des Unbedingten und das heißt Erfahrung schlechthinnger Realität auf Grund der Erfahrung schlechthinniger Nichtigkeit“ (Paul Tillich, „Über die Idee einer Theologie der Kultur“, in: ders., Ausgewählte Texte, hg. v. Christian Danz u. a., Berlin / New York 2008, 26 – 41, hier 30. Zu Tillichs Protestantismusdeutung vgl. auch Ulrich Barth, „Protestantismus und Kultur. Systematische und werkbiographische Erwägungen zum Denken Paul Tillichs“, in: Christian Danz / Werner Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur. Aspekte – Probleme – Perspektiven, Berlin/Boston 2011, 13 – 37.  Schon in seiner philosophischen Dissertation über die Religionsphilosophie Schellings löst Tillich den Religionsbegriff von der vermögenstheoretischen Bewusstseinsstruktur. Vgl. Tillich 1998, Die religionsgeschichtliche Konstruktion, 239 – 241 (Anm. 28). Vgl. hierzu Christian Danz, „Vom natura sua Gott setzenden Bewusstsein zum Meinen des Unbedingten. Überlegungen zu Paul Tillichs Religionsphilosophie“, in: Evangelische Theologie und urbane Kultur. Tillich-Lectures Frankfurt 2010 – 2013, hg. v. Hans-Günter Heimbrock, Leipzig 2014, 71– 103. Vorformen dieser Konstruktion des Religionsbegriffs am Leitfaden der Rechtfertigungslehre finden sich bereits in der Examensarbeit über den Monismus. Vgl. Paul Tillich, „Welche Bedeutung hat der Gegensatz von monistischer und dualistischer Weltanschauung für die christliche Religion“, in: ders., Frühe Werke, hg. v. Gert Hummel / Doris Lax, Berlin / New York 1998, 24– 93 (Urfassung), 94– 153 (Schönschrift).  Vgl. hierzu Danz 2014, 71– 103 (Anm. 34).

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theoretischen und praktischen Kulturfunktionen. Dabei geht Tillich davon aus, dass das Bewusstsein stets schon in eine inhaltlich bestimmte Geschichte eingebunden ist. Die Akte des Selbstverhältnisses, das sich als solches also bereits erschlossen sein muss, sind durchweg geschichtlich bestimmt.³⁶ Die Zuordnung von Religion und Kultur ergibt sich aus der eben skizzierten Struktur des Selbstverhältnisses des Bewusstseins bzw. des Geistes. Da das Unbedingte – also die reflexive Erschlossenheit des Geistes – die Grundlage aller kulturellen Tätigkeit darstellt, liegt es auch der Kultur zugrunde. Tillich bezeichnet diese Eigentümlichkeit des kulturschaffenden Geistes als ein substantiell religiöses Bewusstsein.³⁷ Davon unterschieden ist die Religion als Richtung auf oder Meinen des Unbedingten.³⁸ Diese Religionsformel aus den 1920er Jahren bezeichnet den Übergang von dem Kulturbewusstsein und seinen intentionalen Gehalten zu einem Bewusstsein, welches durch diese Gehalte hindurch das Unbedingte meint. Es geht also um einen Reflexionsakt in dem sich selbst bereits reflexiv erschlossenen Selbstverhältnis des Bewusstseins. Dieses wird sich dessen inne, als Grund aller inhaltlichen Setzungen selbst grundlos zu sein. Die spezifisch religiösen Formen bezeichnen diese reflexive Selbsterschlossenheit des Geistes durch die kulturellen Formen hindurch, die dadurch zu religiösen Symbolen werden.³⁹ Aus der genannten geistphilosophischen Struktur des Religionsbegriffs und seiner sinntheoretischen Durchführung ergibt sich noch eine wichtige Konsequenz, die für Tillichs Deutung des Protestantismus nicht unerheblich ist. Mit der Ablehnung von vermögenstheoretischen Religionsbegriffen und der Zurückführung der Religion auf das Selbstverhältnis des Geistes ist nämlich eine Auflösung der Religion als einer besonderen Form in der Kultur verbunden.⁴⁰ Die eigentliche und wahre Religion, also

 Tillich lehnt eine konstitutionstheoretische Fassung des Selbstverhältnisses ab. Zwar sind alle Bestimmungen des Bewusstseins von diesem gesetzt, es selbst ist jedoch für sich selbst ein Faktum. Der Geist als reflexives Selbstverhältnis ist in seinem Sich-Bestimmen stets schon in die Geschichte eingebunden, wenn er sich als solche erfasst.Vgl. nur Paul Tillich, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden, Gesammelte Werke, Bd. I, hg. v. Renate Albrecht, Stuttgart 1959, 111– 293, hier 217: „Es gibt keinen außergeschichtlichen Moment einer geschichtlichen Gestalt. Es gibt keinen Anfang des Geistes; denn jede geistige Schöpfung setzt Geist voraus.“  Vgl. Paul Tillich, Religionsphilosophie, Gesammelte Werke, Bd. I, hg. v. Renate Albrecht, Stuttgart 1959, 297– 364, hier 320: „Jeder kulturelle Akt enthält den unbedingten Sinn; er ruht auf dem Sinngrund; er ist, insofern er ein Sinnakt ist, substantiell religiös. Das kommt darin zum Ausdruck, daß er auf die Formeinheit gerichtet ist, daß er sich der unbedingten Forderung auf Sinneinheit unterwerfen muß.“  Vgl. Tillich 1959, Religionsphilosophie, 320 (Anm. 37).  Zu Tillichs Begriff des Symbols vgl. Christian Danz, „Symbolische Form und die Erfassung des Geistes im Gottesverhältnis. Anmerkungen zur Genese des Symbolbegriffs von Paul Tillich“, in: Das Symbol als Sprache der Religion. Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, Bd. 2, hg. v. Christian Danz/Werner Schüßler/Erdmann Sturm, Wien 2007, 59 – 75.  Ähnlich wie die dialektischen Theologen Karl Barth und Friedrich Gogarten löst Tillich den Religionsbegriff als Beschreibung einer autonomen Sphäre in der Kultur auf. Vgl. nur Paul Tillich, Die

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der Übergang zum Meinen des Unbedingten, ist in jeder Kulturform möglich. Eine besondere religiöse Sphäre in der Kultur ist damit aufgehoben, da Religion eine Art begleitende Reflexivität der kulturschaffenden Tätigkeit des Geistes darstellt.⁴¹ Mit den eben angedeuteten Aufbauelementen des Religionsbegriffs, seiner rechtfertigungstheologischen Struktur sowie der in ihm angelegten Verzahnung von Religion und Kultur ist bereits die Brücke zu Tillichs Protestantismustheorie geschlagen, wie er sie in seinen Aufsätzen aus der zweiten Hälfte der 1920er Jahre ausgeführt hat.⁴² Die Vorstufen der hier ausgeführten Deutung des Protestantismus als selbstreflexiver Religion in dem Vortrag Rechtfertigung und Zweifel von 1924, die hier eingeführte Unterscheidung von Grund- und Heilsoffenbarung,⁴³ müssen im Folgenden ebenso unberücksichtigt bleiben wie die cum grano salis existenzphilosophische Umformulierung der geistphilosophischen Grundlagen der Theologie seit Mitte der 1920er Jahre.⁴⁴ Die grundlegende Struktur des Religionsbegriffs bleibt von diesen Verschiebungen unberührt. In seinem Aufsatz Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, mit dem Tillich 1929 den zweiten Kairos-Band eröffnete, versteht er den Protestantismus als selbstreflexive Religion. Auch hier wird eine soteriologische Deutung des Protestantismus und seines Grundprinzips der Rechtfertigung abgelehnt.⁴⁵ Für eine solche Engführung steht in dem Text von 1929 die Dialektische Theologie. Dem setzt Tillich einen protestantischen Universalismus entgegen.⁴⁶ Die Grundlage hierfür stellt die Konstruktion des Religionsbegriffs dar. Das Verhältnis von Unbedingtheitsdimension im Selbstverhältnis des Geistes und den Kulturfunktionen des Bewusstseins paralle-

Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie, Gesammelte Werke, Bd. I, hg. v. Renate Albrecht, Stuttgart 1959, 367– 388.  Das ist der Gehalt von Tillichs Bestimmung der Religion als Haltung bzw. Richtung auf das Unbedingte. Vgl. Tillich 1959, System der Wissenschaften, 288 (Anm. 36): „Voraussetzung dieser Auffassung ist die Erkenntnis, daß Religion keine Sinnsphäre neben anderen ist, sondern eine Haltung [sc. ein Reflexionsakt] in allen Sphären: Die unmittelbare Richtung auf [sc. der Übergang zum Meinen] das Unbedingte.“  Neben dem bereits genannten Aufsatz aus dem Protestantismusband von 1929 sind für die Fragestellung einschlägig: Paul Tillich [1928], Die Protestantische Verkündigung und der Mensch der Gegenwart, Gesammelte Werke, Bd. VII, hg. v. Renate Albrecht, Stuttgart 1962, 70 – 83; ders. 1962, Protestantische Gestaltung, 54– 69 (Anm. 7); ders. [1931], „Protestantisches Prinzip und proletarische Situation“, Hauptwerke, Bd. III, hg. v. Erdmann Sturm, Berlin / New York 1998, 219 – 248. Bei den beiden Texten aus den Gesammelten Werken handelt es sich nicht um die Erstdrucke aus den 1920er Jahren, sondern um Rückübersetzungen der englischen Fassungen beider Texte.  Vgl. hierzu Wittekind 2011, 107– 114 (Anm. 32).  Vgl. hierzu Marin Fritz, Menschsein als Frage. Paul Tillichs Weg zur anthropologischen Fundierung der Theologie, Habil.-Schrift Neuendettelsau 2016.  Tillich nimmt damit Überlegungen aus dem Vortrag Rechtfertigung und Zweifel von 1924 auf. Zur Kritik an der soteriologischen Engführung des Protestantismus, für die Karl Barth steht, vgl. Tillich 2008, Rechtfertigung und Zweifel, 131 (Anm. 7). Vgl. auch oben Anm. 32.  So schon in dem Vortrag Rechtfertigung und Zweifel. Vgl. Tillich 2008, Rechtfertigung und Zweifel, 137 (Anm. 7).

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lisiert er mit der Unterscheidung von prophetischer und rationaler Kritik bzw. Gestaltung. Religion als Reflexionsakt im Selbstverhältnis, von Tillich als Jenseits der Gestalt bzw. Jenseits von Sein und Geist bezeichnet, kann sich allein im stets schon geschichtlich eingebundenen Bewusstsein verwirklichen. Denn die Religion steht für die reflexive Selbsterschlossenheit des Geistes, also den Übergang zum Meinen des Unbedingten durch die konkreten Formen hindurch. Die prophetische Kritik sowie die prophetische Gestaltung werden damit an die rationale Kritik und Gestaltung gebunden. Tillich schiebt jedoch nicht nur prophetische und rationale Kritik ineinander, er verknüpft ebenso Kritik und Gestaltung. Erst hieraus resultiert seine These von dem Protestantismus als selbstreflexiver, universaler Religion, in der kritische Negativität mit reflexiver Formsetzung verbunden ist. Eben das bezeichnet Tillich als Gestalt der Gnade.⁴⁷ In dem Begriff „Gestalt der Gnade“ verknüpft er Kritik und ihre Realisierung in der Geschichte. Gemeint ist also ein reflexiv gewordenes Selbstverhältnis. Die kulturellen Formen fungieren als Darstellungen der Selbsterschlossenheit des Geistes.⁴⁸ Das Allgemeine und das Besondere, Normativität und geschichtliche Besonderheit liegen im Geist verbunden vor. Das meint der Gestaltbegriff.⁴⁹ Eine Gestalt der Gnade ist eine reflexiv gewordene Gestalt. Die von dem Selbstverhältnis des Bewusstseins gesetzten konkreten Kulturformen werden in der Religion als notwendig konkrete und zugleich widersprüchliche Verwirklichungen des Geistes gewusst. Der Protestantismus realisiert sich damit in der Geschichte als ein reflexives Kulturbewusstsein, welches alle seine Gestaltungen der Selbstkritik unterstellt. Mit dieser Konstruktion des Protestantismus als einem reflexiven Kulturbewusstsein sind zwei Konsequenzen verbunden, die abschließend noch zu benennen sind. Zunächst löst Tillich auch in seinem Aufsatz von 1929 die Religion als eine besondere Kultursphäre auf. Der Protestantismus verwirklicht sich als ein reflexiv gewordenes Kulturbewusstsein, dem die kulturellen Formen zu Medien der Darstellung

 Vgl. Tillich 2008, Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, 206 (Anm. 32): „Das Gewicht des Protestantismus liegt von Anfang an in dieser Kritik. […] Und doch fehlt dem Protestantismus das gestaltende Prinzip nicht, kann ihm so wenig fehlen wie irgendeiner anderen Wirklichkeit. Denn die Gestalt ist das Prius der Kritik, die rationale Gestalt die Voraussetzung der rationalen Kritik, die Gestalt der Gnade die Voraussetzung der protestantischen Kritik.“  Vgl. Tillich 2008, Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, 210 (Anm. 32): „Die Gestalt der Gnade ist die Gestalt dessen, was jenseits von Sein und Freiheit liegt, sofern es in der Spannung von Sein und Freiheit erscheint. […] Aber sie ist als Erscheinung des Jenseits des Seins, und als solches ist sie unfaßbar, unfixierbar, ungegenständlich. Die Gestalt der Gnade ist Gegenwart, nicht Gegenstand. Sie ist wirklich in Gegenständen, aber nicht als Gegenstand, sondern als transzendentes Bedeuten eines Gegenstands. Die Gestalt der Gnade ist Bedeutungsgestalt.“ Vgl. hierzu auch die kritischen Anmerkungen von Barth 2011, 27– 29 (Anm. 33).  Zum Gestaltbegriff Tillichs vgl. Tillich 1959, System der Wissenschaften, 175 – 177. 213 – 215 (Anm. 36). Vgl. auch Hannelore Jahr, Theologie als Gestaltmetaphysik. Die Vermittlung von Gott und Welt im Frühwerk Paul Tillichs, Berlin / New York 1989.

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von religiöser Selbsterschlossenheit werden.⁵⁰ Aber gerade die Aufhebung des Gegensatzes von heilig und profan als gegenständliche Sphären, für die der Protestantismus steht, fordert eine religiöse Symbolisierung, „wenn die Gestalt der Gnade wirklich Gestalt“,⁵¹ also irgendwie anschaubar sein soll. Religion als besondere symbolische Form und soziale Gemeinschaft gibt es also in der Kultur nur als Hinweis einerseits auf die Aufhebung des Gegensatzes von Religion und Kultur und andererseits darauf, dass dieser Gegensatz in der Geschichte nicht überwunden werden kann.⁵² Sodann ist der Protestantismus wahres Geschichtsbewusstsein. Er weiß um die Wandelbarkeit aller geschichtlichen Gestaltungen.⁵³ Darin, im Wissen um die Geschichtlichkeit der Wahrheit und der Normen, besteht die Absolutheit des Protestantismus.

3 Protestantismus und die Kultur der Moderne Schleiermacher und Tillich verstehen, wie wir gesehen haben, den Protestantismus als reflexive Religion. Beide stellen mit dem Protestantismusbegriff die innerreligiöse Kritik der Religion an sich selbst auf Dauer. In der reflexiven Kritik an sich selbst bestehen die Modernität und die Bedeutung des Protestantismus für die moderne Kultur. Der Berliner Theologe arbeitet in seiner Religionstheorie die Autonomie der Religion gegenüber anderen Kulturformen aus. In ihr bildet sich diejenige Reflexivität im Selbstverhältnis des Bewusstseins aus, die von den anderen Kultursphären in Anspruch genommen wird. Die Grundlage hierfür stellt die vermögenstheoretische Struktur des Bewusstseins dar. Religion ist damit eine Anlage im Menschen, die diesem bereits von Natur aus mitgegeben ist. Im Unterschied zu Schleiermacher hat Tillich vor dem veränderten gesellschaftlichen und kulturellen Problemhorizont um 1900 einen vermögenstheoretischen Religionsbegriff aufgegeben. Dadurch wird auch die Religion als eine eigene Sphäre in der Kultur, also der Gegensatz von heilig und profan, aufgelöst. Die wahre Religion

 Vgl. Tillich 2008, Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, 218 (Anm. 32): „Sie [sc. die protestantische Reflexivität des Kulturbewusstseins] schaffen kein Sondergebiet, keine religiöse Sphäre, die gegenständlich abgegrenzt wäre, kein sanctum oder sanctissimum gegenüber dem profanum. Die Aufhebung des Gegensatzes von heilig und profan liegt im tiefsten Grund des protestantischen Prinzips und ist die erste und entscheidende Folge, die sich aus dem prophetischen Protest gegen die Vergegenständlichung der Gnade ergibt.“  Tillich 2008, Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, 218 (Anm. 32).  Religion ist die „Vorwegnahme“ (Tillich 2008, Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, 211 [Anm. 32]), also Ausrichtung auf die vollkommene Durchsichtigkeit des Selbstverhältnisses. Diese Konstruktion behält Tillich so auch in der Systematischen Theologie bei. Vgl. Christian Danz, „Ethik des ‚Reiches Gottes’. Moralität und Eschatologie bei Paul Tillich“, in: Ethics and Eschatology. International Yearbook for Tillich Research, Vol. 10, Berlin / Boston 2015, 1– 17.  Vgl. Tillich 2008, Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, 219 (Anm. 32): „Die Geschichte ist der Ort der Wesenheiten.“

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kommt auf diese Weise als ein Reflexionsgeschehen in den Blick, welches in allen kulturellen Formen möglich ist. Aber auch bei Tillich ist ein nicht-religiöses Bewusstsein eigentlich nicht möglich, da das Unbedingte allem Bewusstsein zugrunde liegt. Erklärungsbedürftig wird sowohl in Schleiermachers als auch in Tillichs Religionstheorie ein explizit nicht-religiöses Bewusstsein. Es ist eigentlich ein Selbstmissverständnis des Menschen. Jedenfalls kommt der Mensch ohne Religion nicht wirklich zu sich selbst. Er bleibt hinter seinen Möglichkeiten zurück. Zudem ist bei Schleiermacher und Tillich die Religion der Ort in der Kultur, in der diese erst zu einem wahren Verständnis ihrer selbst gelangt. Solche Konstruktionen der Religion, welche die Grundlage der Deutung des Protestantismus bilden, überzeugen vor dem Hintergrund der Kultur des 21. Jahrhunderts und des für diese konstitutiven Pluralismus nicht mehr. Sie schreiben den alten Sündengedanken sowie den Gottesbegriff der natürlichen Theologie mit anderen, nämlich bewusstseinstheoretischen, absolutheitstheoretischen oder geistphilosophischen Mitteln weiter. Theologische Religionstheorien, die von einem anthropologisch verankerten Religionsbegriff ausgehen, tendieren dazu, die Religion als die Sphäre in der Kultur anzusetzen, in der das eigentliche und wirkliche Wissen um die Struktur der Kultur zustande kommt. Die Theologie wird dann zu einer Art Universalwissenschaft, die das versteht, was in den anderen Kulturformen unbewusst bleibt.⁵⁴ Eine solche Auffassung der Theologie steht in einem merkwürdigen Kontrast zu ihrem zunehmend deutlicher werdenden Bedeutungsverlust in den akademischen Diskursen. Durch die steile Behauptung, man verfüge doch über die eigentliche Sicht der Wirklichkeit, lässt sich die Marginalisierung der akademischen Theologie gerade nicht verhindern. Zudem führt eine solche anthropologische Deutung der Religion zu einer Reduktion der pluralistischen Kultur der Gegenwart. Sie leistet mithin auch keinen Beitrag zu ihrer gedanklichen Analyse. Das wirft die Frage auf, wie vor dem veränderten kulturellen Hintergrund unserer Gegenwart an die Protestantismustheorien Schleiermachers und Tillichs angeknüpft werden kann. Beider Neubestimmung der Religion als ein reflexives Selbstverständnis ist unter Verzicht auf die Behauptung einer anthropologischen Notwendigkeit bzw. Grundlage der Religion aufzunehmen. Dadurch wird die von Tillich vorgenommene Ablösung der Religion von der vermögenstheoretischen Bewusstseinsstruktur nur noch weiter vorangetrieben. Allerdings ist mit Schleiermacher und gegen Tillich an der Autonomie der Religion festzuhalten. Letztere bildet eine eigene Sphäre in der Kultur. Von der protestantischen Theologie ist also Religion ohne die Behauptung einer anthropologischen Notwendigkeit neu zu verstehen. Religion fußt weder auf einer Anlage im Menschen noch auf irgendwelchen religiösen Gehalten, die es irgendwie in  Vgl. nur die Konzeption Wolfhart Pannenbergs, der in seiner Anthropologie von einem Religionsbegriff ausgeht, der für das Menschsein konstitutiv ist. Vgl. Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983. Entsprechend wird die Theologie als universale Wirklichkeitswissenschaft konstruiert.

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der Kultur gibt. Vielmehr ist Religion vor dem Hintergrund der modernen Debatten über deren angemessenes Verständnis als eine geschichtlich gewordene Weise menschlicher Selbstdeutung zu konstruieren, die an ihren Vollzug gebunden ist, der selbst schon in eine konkrete, inhaltlich bestimmte Religionskultur und deren symbolische Formen verstrickt ist. Religion entsteht durch den Gebrauch, den Individuen von symbolischen Formen machen. Das bedeutet aber auch, dass es keine spezifisch religiösen Erfahrungen gibt, die so nur in der Religion vorkommen. Ob ein Selbstverständnis als ein religiöses dargestellt und kommuniziert wird, hängt allein an seiner religiösen Deutung, dem Gebrauch von symbolischen Formen als religiösen und seiner Beschreibung als Religion. Menschliches Sich-Verstehen muss sich folglich nicht als ein religiöses darstellen und kommunizieren. Die Aufgabe der Theologie wäre es dann, solche religiösen Selbstdeutungen zu beschreiben und deren Aufbaulogik durch die dogmatischen Gehalte zu strukturieren. Diese deuten gleichsam die reflexive Struktur des Zustandekommens eines symbolisch hergestellten Selbstbilds in seiner Einbindung in eine geschichtlich gewordene Religionskultur.⁵⁵ Wie ist in ein solches Selbstverständnis des Protestantismus dessen – von Schleiermacher und Tillich herausgearbeitete – kritisches Gestaltungspotential aufzunehmen? Die Kritik der Religion an sich selbst ist in der Form durchzuführen, dass sie sich auf deren Selbstbegrenzung bezieht.⁵⁶ Weder der Begriff der Religion noch der religiöse Gottesbegriff oder der eschatologische Reich-Gottesgedanke beinhalten die eigentliche und wahre Deutung der Kultur.⁵⁷ In die religiöse Selbstbeschreibung ist die reflexive Autonomie der kulturellen Formen ebenso aufzunehmen wie die der Religion selbst. Weder diese noch andere Sinnformen der Kultur verfügen über eine Gesamtperspektive, welche eine Begründung oder angemessene Interpretation des kulturellen Lebens erlauben. Erst daraus resultiert eine Gestaltung der pluralen Kultur der Gegenwart, die anderes als solches, und das heißt, eben nicht bloß als Abweichung von der eigenen religiösen Perspektive, anerkennen kann.  Vgl. hierzu Christian Danz, Systematische Theologie, Tübingen 2016.  Auch Christoph Schwöbel, „Glaube und Kultur. Gedanken zu einer Theologie der Kultur“, NZSTh 38 (1996), 137– 154, hier 149, plädiert vor dem Hintergrund des kulturellen Pluralismus der Gegenwart für „Strategien der Selbstbeschränkung“ der Religion, damit in dieser eine Anerkennung von Andersheit möglich ist. Allerdings hebt Schwöbel den zugestandenen kulturellen Pluralismus, also das unreduzierbare Nebeneinander divergierender Deutungssysteme, in dem mit dem christlichen Wirklichkeitsverständnis verbundenen Reich-Gottesgedanken wieder auf. „Im Reich Gottes muß die ZweiReiche-Lehre nicht mehr gelten, die Spannung zwischen dem regnum gratiae und dem regnum naturae ist aufgehoben im regnum gloriae. Diese Hoffnung entzieht die Aufhebung dieser Differenz aber gerade dem menschlichen Handeln und überläßt sie dem Handeln Gottes.“ (Schwöbel 1996, 153) Damit ist es am Ende doch die Theologie und das von ihr explizierte christliche Wirklichkeitsverständnis, welches die eigentliche Sicht der Wirklichkeit darstellt. Vgl. hierzu auch die Kritik von Folkart Wittekind, „Kulturtheologische Überlegungen im Anschluss an Falk Wagner“, in: Spekulative Theologie und gelebte Religion. Falk Wagner und die Diskurse der Moderne, hg. v. Christian Danz / Michael MurrmannKahl, Tübingen 2015, 251– 277.  Vgl. hierzu den Vorschlag von Wittekind 2015, 251– 277 (Anm. 55), eine religiöse Deutung der modernen Kultur auszuarbeiten, die deren Pluralismus in die Konstruktion der Religion aufnimmt.

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Der ewige Kampf der vielen Götter¹ Erwägungen zur historistischen Verunsicherung von Absolutheitsansprüchen Ein so großkalibriges Jubiläum wie die 500. Wiederkehr der 95 Thesen Martin Luthers kann den Protestantismus der Gegenwart leicht zur Nabelschau verleiten. Dabei würde übersehen, dass unterhalb dieses Großdatums noch viele andere wichtige Erinnerungsdaten liegen. Geht man zum Beispiel 100 Jahre zurück, trifft man ebenfalls auf ein Epochenjahr: „Anspannung an den Heimatfronten, Meutereien in den Schützengräben, Hoffnungen auf neue energisch-charismatische Führer, Ende des Zarenreiches, Amerikas Eintritt in den Krieg – das vierte Kriegsjahr wurde zum Scharnier zwischen dem langen 19. Jahrhundert und einer neuen Weltordnung.“² So gedrängt beschreibt es der Freiburger Neuzeithistoriker Jörn Leonhard in seinem großen F.A.Z.-Artikel vom 30. Januar. 1917 beginnt mit der bolschewistischen Revolution in Russland und mit dem Eintritt der USA die entscheidende Wendung zum Weltkrieg, der zugleich die beiden künftigen Großmächte des 20. Jahrhunderts auf den Plan bringt. An beiden Prozessen war das Wilhelminische Reich ursächlich zumindest mitbeteiligt, indem es Lenin im April nach Russland schaffte und mit dem uneingeschränkten U-Boot-Krieg vom 1. Februar an die USA zum Kriegseintritt provozierte.³ Auch vor 100 Jahren gab es natürlich ein Reformationsjubiläum, und Martin Luther avancierte darin hauptsächlich zum geschichtspolitischen Symbol des bedrängten deutschen Nationalstaates; so wie der vergangene Luther meistens vornehmlich zur Projektionsfläche der Interpretationen der jeweiligen Gegenwart stilisiert wird. Insofern gibt es gewiss genügend Gründe sich mit der eigenen deutschen Geschichte zu beschäftigen, zumal das Kaiserreich immer auch als dominant protestantisch geprägt gilt. Mit dem Ersten Weltkrieg geht das lange bürgerliche 19. Jahrhundert unwiderruflich zu Ende. An den Verwerfungen, die dieser Krieg langfristig erzeugt hat, laboriert man noch heute. Der Rückbezug auf das Epochenjahr 1917 ist ein Reflex auf diese immer noch sehr gegenwärtige Vergangenheit.

 „Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.“ So bekanntlich Max Weber [1917], „Wissenschaft als Beruf“, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg.v. Johannes Winckelmann, Tübingen 71988, 582– 613, hier 605, vgl. 603 – 604.609.611.  Jörn Leonhard, „1917 – Relief eines Schlüsseljahres“, F.A.Z 25 (30.01. 2017), 6.  Zum Hintergrund vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Bd. II, München 1992, 815 – 832. https://doi.org/10.1515/9783110569520-037

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1 Eine Erinnerung Unterhalb dieses Datums – von „Jubiläum“ kann man da gewiss nicht reden –, lohnt es sich darum, an einen Historiker zu erinnern, der gerade diese für uns immer noch bestimmende Ära bis zum Ausgang des Krieges 1918 erforscht und vor allem zu einer Zusammenschau verdichtet hat, wie es kaum jemandem bis dahin und auch nicht nach ihm gelungen ist: an den zuletzt zwanzig Jahre in München lehrenden Thomas Nipperdey (1927– 1992). Kurz nach der Fertigstellung seiner monumentalen dreibändigen Deutschen Geschichte 1800 – 1918, die am Ende seiner schweren Erkrankung abgetrotzt wurde, verstarb er 1992. Im Abstand von einem Vierteljahrhundert und nachdem der Pulverdampf über dem Streit zwischen Historismus und Bielefelder historischer Sozialwissenschaft verzogen ist, sieht man viel klarer, welchen ungeheuer wertvollen Schatz Nipperdey hinterlassen hat. Das ist auch dadurch noch viel deutlicher sichtbar geworden, weil das erst 2008 abgeschlossenen Konkurrenzunternehmen Hans-Ulrich Wehlers (1931– 2014) einer fünfbändigen Deutschen Gesellschaftsgeschichte in bestimmter Hinsicht Nipperdey nicht das Wasser reichen kann.⁴ Schon in seiner Rezension von Nipperdeys erstem Band rühmt Wehler ausdrücklich als den Höhepunkt das Kapitel über die Kultur- und Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts⁵: „über Christentum und Entchristianisierung, über Schulen und Universitäten, über Wissenschaft, Musik, Architektur, Malerei und Literatur. Diese mit stupender Sachkenntnis und einem vehementen Engagement geschriebenen 190 Seiten macht ihm hierzulande so schnell keiner nach“, stellt zu Recht Wehler fest.⁶ Dabei ist es wohl auch geblieben, denn Wehlers eigene, konkurrierende Darstellung kann es hier mit Nipperdey in keiner Weise aufnehmen. Dazu ein kurzer Blick auf Wehlers eigene Darstellung: seine Deutsche Gesellschaftsgeschichte operiert mit den drei Dimensionen Wirtschaft, politische Herrschaft, Kultur und den daraus resultierenden Prozessen sozialer Ungleichheit. Schon dass unter „Kultur“ die Religion einfach subsumiert wird, ist eine Entscheidung, die Fragen aufwirft. Wehler aber beschreibt genau genommen nur die religiösen Institutionen,

 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 5 Bde., München 1987– 2008: I Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700 – 1815 (1987); II Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815 – 1845/49 (1987); III Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849 – 1914 (1995); IV Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914 – 1949 (2003); V Bundesrepublik Deutschland und DDR 1949 – 1990 (2008). Gesamtwürdigung: Paul Nolte, Hans-Ulrich Wehler. Historiker und Zeitgenosse, München 2015.  Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, 403 – 594. Die biographische Prägung dürfte dafür eine besondere Aufgeschlossenheit bedingt haben: Nipperdey studierte zunächst Philosophie und Geschichtswissenschaft und wurde 1953 beim Sprachphilosophen Bruno Liebrucks mit einer Arbeit „Positivität und Christentum in Hegels Jugendschriften“ promoviert; erst danach entschied er sich für eine Karriere innerhalb der Historikerzunft.  Hans-Ulrich Wehler, Aus der Geschichte lernen?, München 1988, 67– 74, hier 70.

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also die Kirchen, als ob es jenseits von ihnen keine Religion gäbe. Analog dazu erfährt man übers Wissenschaftssystem zwar viele Zahlen, etwa wie viel Prozent an Professoren und Studenten jeweils an welchen Orten zugange waren, aber man hört nichts davon, womit diese inhaltlich sich befasst haben. In all den Fragen, was denn die Menschen in Religion, Kirchen, Philosophie und Wissenschaft umgetrieben haben mag, muss man eine komplette Fehlanzeige feststellen.⁷ Das führt dann zu interessanten Verzeichnungen: Über den Nationalprotestantismus nach der Reichsgründung 1870/ 71 heißt es pauschal, er habe im Ersten Weltkrieg die Siegfriedenspolitik mitgetragen, in der Weimarer Republik das politische Leben vergiftet und die Hemmschwelle vor dem Nationalsozialismus gesenkt.⁸ Wehler zufolge habe es nach 1918 eine einheitliche „Politische Theologie“ des Protestantismus gegeben, die aus den drei Theologen, der „unheiligen Trias“ von Paul Althaus, Emanuel Hirsch und Friedrich Gogarten bestanden hätte, „die im Dunstkreis des Radikalnationalismus auf die völkische Bewegung setzte“.⁹ Für diese Zuordnung würden sich die drei Theologen, bei allen feststellbaren Ambivalenzen und problematischen Neigungen, gewiss bedankt haben, davon, dass Hirschs Vorname konsequent falsch mit „Emmanuel“ angegeben wird, ganz zu schweigen. Über den Kontrahenten Karl Barth findet sich der schöne Satz, den sich besonderes dessen Anhänger auf der Zunge zergehen lassen dürften: „Sein bibelgläubiger Fundamentalismus bestand auf der Ausscheidung jedweder Politik aus der protestantischen Lehre.“¹⁰ – Fundamentalismus? Und hatte ausgerechnet Barth etwa keine „politische Theologie“? Aus diesen Beispielen kann man ersehen, dass man auf diesem Feld bei der Bielefelder Geschichtsschreibung nicht allzu gut aufgehoben ist. Solche undifferenzierten Urteile wären Nipperdey gewiss nicht unterlaufen. Darum ist dessen Darstellung umso höher einzuschätzen. Für die Probleme, die uns hier beschäftigen, nämlich den Historismus und seine Wirkungen und Verunsicherungen, bleibt „der“ Nipperdey in drei Bänden nach wie vor die beste Adresse, wobei die Schilderung des Wissenschaftssystems und damit auch der Geschichtswissenschaft aus den beiden einschlägigen Bänden zusammenzunehmen ist.¹¹ Bei

 Wehler 1995, 377– 396.417– 429.1169 – 1191.1209 – 1224 (Anm. 4).  Wehler 1995, 1176 (Anm. 4). Die katholische Kirche kommt auch nicht besser weg. Zu Recht kritisch darum die Rezension: Lothar Gall, „Der Weg in die Moderne. Wehlers dritter Band einer ‚Deutschen Gesellschaftsgeschichte‘, HZ 263 (1996), 133 – 141.  Wehler 2003, 440, vgl. 444.506.802 (Anm. 4). Dieser 4. Band wird auch noch aus vielen weiteren Gründen eher kritisch gesehen: siehe dazu die Rezension von Ludolf Herbst, „Wehler, der Nationalsozialismus und die Sozialgeschichte“, in: auf H-Soz-Kult (23.10. 2003), online unter: www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-3400, zuletzt abgerufen am 27.11. 2017.  Wehler 2003, 441 (Anm. 4). Siehe als Überblick dazu: Alf Christophersen, „Das Schicksal – Chance oder Verhängnis? Gestaltete Geschichte in der Weimarer Republik“, in: Geschichte und Gott, hg.v. Michael Meyer-Blanck, Leipzig 2016, 592– 603.  Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983; Deutsche Geschichte 1866 – 1918. Bd. I Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990; Deutsche Geschichte

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aller Kritik an verengten Perspektiven und ideologischen Kontaminationen ist Nipperdey nämlich ein Vertreter des klassischen geschichtswissenschaftlichen Historismus geblieben, auch wenn er keineswegs die methodischen Debatten, die die Bielefelder zu Recht losgetreten hatten, ignorierte. Man kann vielmehr an seiner Geschichtsschreibung sehen, wie sich das klassische Paradigma auf den modernen Stand transformieren lässt.¹²

2 Ein Anfang Zunächst einmal beginnt Nipperdey seine Deutsche Geschichte mit dem pointierten Satz: „Am Anfang war Napoleon.“¹³ Dies wird dann noch einmal im Hinblick auf Bismarck aufgenommen und variiert.¹⁴ Das hat natürlich nach den Debatten der 1970er Jahre Irritationen und alle Befürchtungen hervorgerufen, hier würden wieder mal die „großen Männer, die Geschichte machen“ präsentiert. Davon kann aber keine Rede sein. Vermutlich sind solche Sentenzen auch mit einer gewissen Lust an der Provokation hingeschrieben. Natürlich weiß ein so reflektierter Historiker wie Nipperdey, dass auch solche großen Gestalten unter strukturellen Bedingungen handeln. Indes wird man ihm zugeben müssen, dass es das deutsche Kaiserreich ohne Napoleon und Bismarck eben nicht und vor allem nicht so, als „kleindeutsch-preußische Lösung“ gegeben hätte. Aber grundsätzlich steht natürlich jede große Gesamtdarstellung vor der Herausforderung, einen Anfang setzen zu müssen: denn jede Geschichte hat natürlich eine Vorgeschichte und so käme man zwangsläufig vom Hundertsten ins Tausendste an historischen Dependenzen. Insofern ist eine solche Sentenz vor allem ein literarischer Kunstgriff (siehe unten 6.), da es einen absoluten Anfang in der Geschichte 1866 – 1918. Bd. II Machtstaat vor der Demokratie, München 1992. Es gibt inzwischen eine neue Gesamtausgabe, München 2013 (mit einem Nachwort von Paul Nolte im letzten Band, 911– 933).  In den folgenden Ausführung wird also mit „Historismus“ die (bis heute geltende?) „disziplinäre Matrix“ der Geschichtswissenschaft (Jörn Rüsen) seit Ranke bezeichnet im Anschluss an Nipperdeys Darstellung – das ist aber keineswegs die einzig mögliche Begriffskonnotation! Unter „Historismus“ kann man mit Troeltsch und Oexle auch die fundamentale Historisierung der modernen Kultur und vieler Wissenschaften wie Nationalökonomie, Jurisprudenz, Philosophie (und ihre Folge: das Relativismusproblem) verstehen. Beide Perspektiven – die einer inneren Professionalisierung der Geschichtswissenschaft einerseits und die der fundamentalen Historisierung andererseits – schließen sich auch nicht aus, es gibt aber reichlich Überschneidungen und Konfliktzonen: vgl. Otto G. Oexle / Jörn Rüsen (Hg.), Historismus in den Kulturwissenschaften, Köln u. a. 1996, hier besonders die Aufsätze von Georg G. Iggers, „Historismus im Meinungsstreit“, 7– 27; Jörn Rüsen, „Historismus als Wissenschaftsparadigma“, 119 – 137; Otto G. Oexle, „Meineckes Historismus. Über Kontext und Folgen einer Definition“, 139 – 199 (zu Nipperdey, 143 – 144).Vgl. dazu auch Michael Murrmann-Kahl, „‚…wir sind der Herr Überall und Nirgends‘ (F. Th. Vischer)“. Historismusdebatten im letzten Jahrzehnt, ThLZ 126 (2001), 233 – 256.  Nipperdey 1983, 11 (Anm 11).  Nipperdey 1992, 11 (Anm. 11).

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nicht geben kann. Denn man könnte natürlich sofort versucht sein, die Geschichte Napoleons und der Französischen Revolution zu erzählen und so weiter. Für die deutsche Geschichte ist also der Einsatz um 1800 mit Napoleon eine zumindest plausible literarische Technik, weil man eben irgendwo mal anfangen muss und nicht alles erzählen kann. Darüber hinaus hat es erhebliche Irritationen ausgelöst, dass Nipperdey sofort in die historische Darstellung „hineinspringt“, ohne vorher eine (methodische) Einleitung verfasst zu haben, in denen er „über die zugrunde gelegte Konzeption“ Auskunft gibt, die „diese Synthese zusammenhalten soll“.¹⁵ Vielleicht liegt hier die Abneigung zugrunde, große methodische Einleitungskapitel zu verfassen, die für die Darstellung selber dann doch bedeutungslos bleiben.¹⁶ Aber es könnte genauso gut sein, dass die Rezensenten und Beobachter etwas Entscheidendes übersehen. Sie bemerken zwar das Fehlen eines eigenen Methodenkapitels einerseits und rühmen die Kulturgeschichte andererseits, machen sich aber keinen Reim darauf. Man könnte demgegenüber die These vertreten, dass beides miteinander ursächlich zusammenhängt! Dass Nipperdey auf eine eigene Erläuterung seiner Darstellungsprämissen verzichtet (verzichten kann), hängt damit zusammen, dass sie selbst Gegenstand seiner Darstellung werden: die Entstehung, Durchsetzung und schließlich auch Problematik des Historismus gehört zur deutschen Geschichte dieses Zeitraums konstitutiv dazu. Indem Nipperdey in seinen kulturgeschichtlichen Kapiteln die Herausbildung des Historismus beschreibt, wird seine Geschichtsschreibung selbstreflexiv¹⁷: sie schildert diejenige disziplinäre Matrix, die auch noch für die eigene Geschichtsschreibung grundsätzlich leitend bleibt. In seiner Darstellung holt er also sukzessive das ihn selbst bestimmende Paradigma reflektierend und kommentierend ein. Das vermisste Methodenkapitel steckt gewissermaßen in der Schilderung von Geschichtswissenschaft und Philosophie, es wird sozusagen „zwischen den Zeilen“ mitgeliefert. Es wäre auch kurios, wenn ein so hoch reflektierter Historiker sich nicht selbst Rechenschaft darüber geben würde, was er unternimmt und wie er es tut.

3 Historismus als Revolution Wer bei „Historismus“ vor allem an die Relativismusdebatten und an konservative Blockadehaltungen der deutschen Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert denkt, den überrascht Nipperdeys pointierte Formulierung einer „Revolution des Historismus“ im frühen 19. Jahrhundert. Tatsächlich ist in der Goethezeit überhaupt noch

 Wehler 1988, 70 (Anm. 6). Wiederholt von Volker Ullrich, „Ambivalenzen der Normalität. Der dritte Band von Thomas Nipperdeys großer Trilogie über die deutsche Geschichte von 1800 bis 1918“, Die Zeit 41 (1992).  Vgl. Horst Möller, „Bewahrung und Modernität. Zum historiographischen Werk von Thomas Nipperdey“, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 40 (1992), 469 – 482, hier 481.  Nipperdey 1983, 498 – 533, hier besonders 498 – 500.513 – 515 (Anm. 11).

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nicht ausgemacht, welches Konzept von Geschichte sich durchsetzen wird: die noch dominierenden Geschichtsspekulationen eines Hegel und Schelling, die Geschichtstheologie Schleiermachers und Ferdinand Christian Baurs oder die damalige eher Außenseiterposition Leopold (von) Rankes. Dessen Vorrede zu seinem Erstlingswerk von 1824 bietet gleichwohl trotz seines ironischen Understatements eine Kriegserklärung an philosophische und theologische Geschichtskonstruktionen: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blos zeigen, wie es eigentlich gewesen.“¹⁸ Worin besteht das Revolutionäre des geschichtswissenschaftlichen Historismus? Nipperdey zufolge verbindet er erstens eine neue Methode und zweitens eine neue Interpretation der Welt mit drittens einer normativen Ausrichtung. Die Methode der historischen Quellenkritik und des hermeneutischen Verstehens orientieren sich an den Leitbegriffen „Individualität“ und „Entwicklung“. Das Eigenrecht und die Andersartigkeit der Vergangenheit werden gewürdigt. Die Welt wird folglich jetzt neu insgesamt als Geschichte verstanden: „Der Zustand der Menschen und ihrer Institutionen in einer Gegenwart wird durch deren Geschichte, deren Herkunft definiert; die Erkenntnis der Gegenwart ist auf die der Geschichte angewiesen.“ Wenn aber die Herkunft die Zukunft bestimmt, dann begründet auch die Geschichte „die Normen unseres gemeinsamen, zumal politischen Handelns“. Kurzum: „Nicht Gott, nicht die Natur, nicht die Vernunft sind so einfachhin und überzeitlich die Gesetzgeber, die uns sagen, was wir tun sollen. Das wird vielmehr die Geschichte. […] Identitätsbildung und -stiftung geht nicht mehr ohne Geschichte.“¹⁹ Diese durchgängige Temporalisierung der Weltauffassung ist in der Tat revolutionär, weil sie eben alle anderen normativen Instanzen wie Gott, Natur, Vernunft oder Sein entthront. „Das ist wiederum neu, auch das macht das 19. Jahrhundert spezifisch zum Jahrhundert der Geschichte.“²⁰ Die realhistorische Wurzel dieser neuen Weltsicht erblickt Nipperdey in den Erfahrungen der Umbruchszeit um 1800, „der Erfahrung der beschleunigten und fundamentalen Veränderung der Welt, der Bewegtheit, der Auflösung des Dauernden, des Bruches

 Leopold (von) Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494– 1535.Vorrede, SW, Bd. 33/ 34, Leipzig 1885, VII.  Nipperdey 1983, 498 – 500, hier 499 (Anm. 11). Nipperdey stützt sich vor allem auf konservative Literatur zum Historismus, vgl. 819 – 820, den – umstrittenen – Klassiker von Friedrich Meinecke (1936), F. Rothacker, G. P. Gooch (1964), K.-H. Metz, Grundformen des historiographischen Denkens (1979), Jörn Rüsen zu Droysen (1969). Der Historismusband von Ernst Troeltsch fehlt übrigens!  Nipperdey 1983, 499 (Anm. 11). Insofern lässt sich „der“ Geschichte auch kein göttliches Handlungssubjekt mehr interpolieren, wie es Christian Polke versucht: vgl. Christian Polke, „Mit dem Rücken zur Wand? Von Schwierigkeiten und der Unausweichlichkeit personaler Rede von Gott im Horizont der Geschichte“, in: Geschichte und Gott. XV. Europäischer Kongress für Theologie, Leipzig 2015, hg.v. Michael Meyer-Blank, 780 – 798 (Anm. 10), hier 781.788.791. Die Frage, ob sich überhaupt ein „personaler Theismus“ in die moderne Geschichtsauffassung einfügen lässt, wird gar nicht gestellt.

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zwischen Gegenwart und Vergangenheit: Tradition als Überlieferung hört auf, selbstverständlich zu sein.“²¹ Ich schiebe an dieser Stelle in Klammern ein: wie konnte sich ein an sich so höchst unwahrscheinliches Wissenschaftsparadigma überhaupt durchsetzen? Auch im internationalen Vergleich des Werdegangs von Historikern fällt hier die Schlüsselstellung den historischen Seminaren namentlich Rankes und Droysens zu. Durch die Institutionalisierung des historischen Seminars an der Universität und die Selbstrekrutierungsmechanismen einer relativ homogenen, protestantisch geprägten „Historikerzunft“ gelingt die Durchsetzung dieser durchaus revolutionär zu nennenden Geschichtsauffassung gegenüber konkurrierenden Konzeptionen. „Fester Bestandteil dieser Unabhängigkeitsbewegung der Historikerschaft war die Gründung von Seminaren und Fakultäten, von nationalen Historikertagen und von überregionalen Fachzeitschriften, die wohl den nationalen Zusammenhang der Zunft sicherstellten als auch als Forum der internen Differenzierung der ‚Priester der Klio‘ dienten.“²² Wenn im 19. Jahrhundert die deutsche Geschichtswissenschaft international zeitweise als überlegen galt, dann führte man dies „vor allem auf die Ausbildungs- und Forschungssituation im Seminar zurück“.²³ Geschichtswissenschaft wird innerhalb einer scientific community getrieben, ist mithin ein sozialer Forschungsprozess, in dem der blinde Fleck des einen durch die anderen ausgeglichen wird. Deshalb wird über Theorien, Methoden, Quellen und Darstellungen von Geschichte permanent gestritten. Mit dieser Institutionalisierung als Forschungsprozess ist der geschichtswissenschaftliche Historismus allen konkurrierenden Geschichtsauffassungen etwa seitens der Philosophen und Theologen deutlich überlegen.

4 Ein Streit Zurück zu Nipperdeys Darstellung. Kronzeuge der eigenen Geschichtsauffassung ist zweifellos Leopold (von) Ranke. Nipperdey stellt zu Recht die religiösen Hintergrundannahmen und Residuen heraus, die für Rankes Geschichtsschreibung noch leitend sind – ein unexplizierter Schöpfungsglaube zumal.²⁴ Aber er hält dennoch

 Nipperdey 1983, 504 (Anm. 11).  Christoph Conrad / Sebastian Conrad, „Wie vergleicht man Historiographien?“, in: Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, hg.v. Christoph Conrad / Sebastian Conrad, Göttingen 2002, 11– 45, hier 27.  Gabriele Lingelbach, „Erträge und Grenzen zweier Ansätze“, in: Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, hg.v. Christoph Conrad / Sebastian Conrad, Göttingen 2002, 333 – 359, hier 347.  Nipperdey 1983, 427– 428 (Anm. 11), rückt in diesem Kontext Schleiermacher sehr nah – zu nah – an den deutschen Idealismus und die Romantik heran und übersieht dessen Abgrenzungstendenzen (gerade im Ansatz beim Gefühl); was der „gegenwartsbezogene Historismus“ (427– 428) bei Schleiermacher genau sein soll, hat sich mir nicht erschlossen. Die entscheidende Zäsur liegt aber für Nipperdey gar nicht beim Schleiermacher der Goethezeit, sondern nach 1830 bei David Friedrich

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jenseits solche Restbestände an zwei Errungenschaften fest, die spürbar auch für ihn selber gelten (sollen): Das Verhältnis zur Vergangenheit ist einmal durch den Individualitätsbegriff bestimmt, daher Rankes Postulat: „Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott.“ Institutionen, Lebenssysteme, Staat, Kirche, Recht und Volk, schließlich die Zeitalter selbst sind historische „Individualitäten“ und haben ein Eigenrecht gegenüber aller geschichtlichen Entwicklung. Individualität geht also deutlich vor Entwicklung: der Zusammenhang der geschichtlichen Erscheinungen ist sekundär, allenfalls der religiösen Ehrfurcht erahnbar, aber der „endliche Mensch verfügt nicht über einen Plan des Ganzen“.²⁵ Dadurch wird die philosophische Weltgeschichte mit ihrer teleologischen Ausrichtung hinfällig – das vor allem bildet die Hauptdifferenz zwischen Hegel und Ranke.²⁶ Daraus folgt sodann das Objektivitätspostulat, verbunden mit der normativen Stellung des Historikers zu seinem erforschten Gegenstand, nämlich ihn sine ira et studio darzustellen. Rankes erkenntnistheoretischer Traum, sein eigenes Ich auszulöschen und eben nur darzustellen, „wie es eigentlich gewesen“, richtet sich gegen das Besserwissen der Späteren gegenüber ihrem Gegenstand, also „gegen die Tendenz, Geschichte zum kritischen Prozeß gegen die Vergangenheit zu stilisieren und den Historiker zum Staatsanwalt und Richter“ zu erheben: „jede vergangene Wirklichkeit hat das gleiche Recht, und jede soll aus sich selbst (und nicht von unserer Klugheit her) verstanden werden.“²⁷ Dass für diese Richtung des „objektivierenden Historismus“ Nipperdeys Herz schlägt, leidet keinen Zweifel.²⁸ Die höchst aktuelle Konnotation dieser Rankedarstellung von 1983 lässt sich im Streit mit Hans-Ulrich Wehler belegen. Schon hier fallen fast identische Formulierungen. Nipperdey hat 1975 das Kaiserreichsbuch Wehlers von 1973, sozusagen den Erstentwurf und die Blaupause der späteren großen Darstellung in der Deutschen Gesellschaftsgeschichte, rezensiert.²⁹ Die strittigen Details in der Wahrnehmung des Strauß, dem „Mann der Epoche“ (430)! Denn jetzt werden die Streitfragen historisch und philologisch geführt, mit den Waffen der (positiven) Geschichtswissenschaft: „Das Problem Glaube und Verstand wird durch das Problem Glaube und Geschichte abgelöst.“(431)  Nipperdey 1983, 514 (Anm. 11). Vgl. ders. 1990, 636 – 637 (Anm. 11).  Der mögliche Einfluss von Schellings „Vorlesungen über die Methode des academischen Studiums“ (1803) auf die Herausbildung historistischer Hintergrundannahmen wird dagegen übergangen: vgl. Michael Murrmann-Kahl, „Spekulatives Denken und Historismus“, in: Schelling und die historische Theologie des 19. Jahrhunderts, hg.v. Christian Danz, Tübingen 2013, 63 – 83, hier 73 – 75.  Nipperdey 1983, 515 (Anm. 11). Zur Bedeutung dieses Themas für Nipperdey vgl. ders. [1979], „Kann Geschichte objektiv sein?“, in: ders., Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 21986, 218 – 234.  Übrigens arbeitet Nipperdey mit einem vielgestaltigen Historismus-Begriff. Er kennt den „gegenwartsbezogenen Historismus“ Schleiermachers (s.o., Anm. 24), den „philosophisch konstruktiven Historismus“ Hegels (507), den „reformerischen Historismus“ Thibauds (511) usf. – eine solche innere Pluralisierung ist auch nicht ganz unproblematisch.  Hans-Ulrich Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1871 – 1918, Göttingen 51983 [1973]; vgl. Ders. 1995 (Anm. 4). Thomas Nipperdey [1975], „Wehlers ‚Kaiserreich‘. Eine kritische Auseinandersetzung“, in: ders., Gesellschaft. Kultur. Theorie, Göttingen 1976, 360 – 389.

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Kaiserreichs können auf sich beruhen. Hier besteht in vielen Punkten sogar eher Übereinstimmung. Nipperdey stößt sich allerdings an der Grundtendenz des ganzen Buches, an der aufgrund des Ausblendens vieler Ambivalenzen erzeugten „Eindeutigkeit einer ‚bösen‘ Geschichte, mit den Bösen, vielen Schwachen und wenigen und zumeist schwachen oder sich verstrickenden Guten“, an dem kunstvollen Schwarzweißgemälde, „das Kaiserreich auf der Anklagebank mit einem selten scharfsinnigen Juristen als Ankläger (und zuletzt als Richter).“³⁰ Nicht weniger polemisch hat Nipperdey seine Rezension überschrieben mit „Wehlers ‚Kaiserreich‘“ was schön zweideutig klingt: man kann es verstehen als Wehlers Buch „Kaiserreich“, aber man kann genauso auch deuten: das Kaiserreich, so wie es Wehler sieht, eben „schwarzweiß“. Nipperdey kommt an dieser Stelle aus der Deckung, wenn er offen bekennt, und das ist der Springpunkt des gesamten Dissenses zwischen (nicht nur) diesen beiden Historikern: „Ich kann freilich […] nicht verhehlen, dass mir – obwohl doch der Generation von Wehler zugehörig – als skeptischem ‚Semihistoristen‘ und Antikritiker des ‚kritisch-emanzipatorischen‘ Ansatzes 30 Jahre nach dem Ende des ‚Dritten Reiches‘ das Rechten mit den Urgroßvätern etwas langweilig wird“. Und ausdrücklich: „Die mögliche moralische, Verzeihung: politisch-pädagogische Beurteilung oder Empörung klammere ich als Historiker, um zu gültigen Einsichten zu kommen, gerade ein.“³¹ Das ist in der Tat Neo-Rankeanismus³² und zwar durchaus von nicht weniger polemischer Natur als Wehlers Einlassungen: Nipperdeys böses Wort von Wehler als einem „Treitksche redivivus“ findet sich gleich zweimal.³³ Diese Frontstellung zwischen Geschichte als (hermeneutischer) Geistes- oder als (emanzipatorisch ausgerichteter) Handlungswissenschaft, zwischen Historismus und historischer Sozialwissenschaft, spaltet zum großen Teil die Historikerschaft der Bundesrepublik insgesamt.³⁴ An drei Schnittpunkten kehrt dasselbe Argumentationsmuster wieder: einmal im Gefolge von „1968“ bei der Frage nach dem Sinn von Geschichtswissenschaft, sodann im Historikerstreit 1986/87 und schließlich angesichts der Wiedervereinigung der deutschen Teilstaaten. Im Streit um die hessischen Rahmenrichtlinien für „Gesellschaftslehre“ in den Schulen, in der die Geschichte

 Nipperdey 1976, 388 (Anm. 29): „Die immer neue Entlarvung der Groß- und Urgroßväter […], der unermüdliche Prozeß gegen sie, ein Prozeß, in dem der Historiker Ankläger und Richter und Gesetzgeber in einer Person ist, ist immer noch die große Sache.“ Vgl. 364.383.  Nipperdey 1976, 371 (Anm. 29), vgl. schon 368.  Vgl. Nipperdey 1976 (Anm. 29), 366: „Es gilt, die Tatsache zur Geltung zu bringen, daß jede Zeit mehr und anderes noch ist als nur Vor- und Nachgeschichte; das ist sozusagen die methodologische und entmythologisierende Übersetzung dessen, was Ranke mit dem ‚unmittelbar zu Gott‘ meinte.“  Nipperdey 1976, 364.389 (Anm. 29). Boshaft ist dies insofern, als Treitschke die Atmosphäre des Kaiserreichs mit seinem Antisemitismus vergiftet hat – dessen ist Wehler nun wirklich ganz unverdächtig! Vgl. Wehler 1995, 924– 934, hier 925.927– 928 (Anm.4). Allerdings reproduziert Wehler in seinem 4. Band ausgerechnet zur NS-Zeit bedenklich das Muster „Große Männer machen Geschichte“: siehe dazu die Rezension von L. Herbst.  Der Streit ist also zugleich ein Machtkampf ums Deutungsmonopol der Vergangenheit: siehe dazu die Ausführungen von Sarah Schmidt zu Wissen, Macht und die Rolle der Kritik in diesem Band.

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integriert werden sollte, bezog Nipperdey 1973 als Vorsitzender des Bundes Freiheit der Wissenschaft gegen die geplanten Lernziele Stellung. Die einseitige Betonung von Konflikten und emanzipatorischem Interesse unterschlage die ebenso bestehende Tatsache des Konsenses und laufe auf ein „Freund-Feind-Modell“ von Gesellschaft hinaus.³⁵ Während Wehler geradezu eine Verpflichtung des Historikers zur politischen Pädagogik sieht, besteht Nipperdey auf seiner hermeneutisch-historistischen Position: „Diese Relativierung gegenwärtiger Absolutheitsansprüche an die Zukunft, auch wenn sie im Namen der menschlichen Freiheit auftreten, diese Skepsis gegen ein Totum von Wissen und Wißbarkeit, ist gerade die Bedingung dafür, die endliche und relative Freiheit des Menschen und die schöpferischen Möglichkeiten, die Kreativität, in einer offenen Zukunft aufrechtzuerhalten.“³⁶ Im von Jürgen Habermas 1986 losgetretenen „Historikerstreit“ über einen vermeintlichen konservativen „Revisionismus“ des Geschichtsbildes in der Bundesrepublik der Kohl-Ära und am Beispiel der problematischen Thesen Ernst Noltes zum Holocaust prägt sich diese Frontstellung entsprechend aus. „Die wissenschaftliche Lagerbildung, die durch die Auseinandersetzung zwischen den Vertretern einer linksliberal ausgerichteten ‚historischen Sozialwissenschaft‘ und ihren fachlich und hochschulpolitisch konservativ orientierten Gegenspielern seit den frühen siebziger Jahren vorgezeichnet war, wurde so noch einmal befestigt.“³⁷ Schließlich überrascht es nicht, dass der Fall der Mauer von Nipperdey mit einer Rede auf der Wartburg emphatisch begrüßt wird: „Das neue einig Vaterland entspricht der historischen und der moralischen, der politischen und praktischen Vernunft.“³⁸ Dagegen wehren sich Habermas und der Historikerkreis um Wehler (Kocka, Winkler) vehement gegen die Anmutung einer einfach Rückkehr zur neuen „Normalität“ des deutschen Nationalstaates und wollen den bisherigen „Verfassungspatriotismus“ der Bundesrepublik fortschreiben.³⁹

5 Historismus als Krisenphänomen Ich breche an dieser Stelle ab und übergehe auch weitere wichtige Stationen wie den Ranke-Antipoden Johann Gustav Droysen⁴⁰, um zum Problem des Historismus-Relativismus im Kaiserreich zu gelangen. Auch hier bietet der Autor eine kleine Überra Dazu Klaus Große Kracht, Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2005, 81– 89.  Thomas Nipperdey, „Über Relevanz“, in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, 12– 32, hier 26 (Hervorhebung von mir).  Große Kracht 2005, 100 – 114, hier 109 (Anm. 35).  Thomas Nipperdey, „Die Deutschen wollen und dürfen eine Nation sein. Wider die Arroganz der Post-Nationalen“, F.A.Z. (13.7.1990), zitiert bei Große Kracht 2005, 120 (Anm. 35). Vgl. schon Thomas Nipperdey [1985], „Die deutsche Einheit in historischer Perspektive“, in: ders., Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 21986, 206 – 217 (Anm. 27), hier besonders 216 – 217.  Vgl. Große Kracht 2005, 115 – 123 (Anm. 35).  Nipperdey 1983, 517– 520 (Anm. 11).

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schung: denn zunächst einmal ist festzustellen, dass sich der geschichtswissenschaftliche Historismus gewissermaßen „totgesiegt“ hat. Was die Krise auslöst, ist ausgerechnet der uneingeschränkte Erfolg des Paradigmas. „Geschichte war Wissenschaft und war Lebensmacht zugleich, die Historiker waren von einem entsprechenden Hochgefühl getragen.“⁴¹ Das leuchtet insofern ein, als Geschichte und Nation im 19. Jahrhundert eng miteinander verbunden sind, nicht nur in Deutschland. So kommt es zu einem problematischen Zirkelschluss, der auf die Dauer nicht gut gehen konnte: „Maßstäbe erschlossen die Vergangenheit, die Vergangenheit begründete und korrigierte die Maßstäbe.“ Von der Reichsgründung über das fin de siècle bis zum Krieg spezialisiert und professionalisiert sich die Geschichtswissenschaft weiter, und die Stimmung schlägt ins Pessimistische um.⁴² Es entsteht ein Krisengefühl, „ein Gefühl des Epigonentums – weil im Meer des Gewußten und Wißbaren sichere Linien und verpflichtende Ziele zu entgleiten schienen“. Daher ist die „Zeitstimmung […] nicht mehr „historistisch“; Nietzsches Kritik am Nachteil der Historie für das Leben ist jetzt […] für das Lebensgefühl kennzeichnend.“⁴³ Gleichzeitig wird auch die disziplinäre Matrix der Geschichtswissenschaft von Säkularisierungsschüben heimgesucht: alle substantialistischen Reste von Transzendenz werden aufgelöst, die bei Ranke und Droysen noch mit Händen zu greifen sind: „Geschichte bewegt sich in sich selbst.“ Der geschlossene historische Immanenzzusammenhang wird endgültig selbstreferentiell, Adornos „universaler Verblendungszusammenhang“ kündigt sich schon an. Gleichzeitig zieht dies alle absoluten Instanzen in die Vergänglichkeit, die „Anarchie der Werte“ scheint auszubrechen, das „Leiden am Historismus“ wird zum andauernden Krisenbewusstsein.⁴⁴ Geschichte wird in Deutschland vor allem als politische Geschichte gesehen, durch diese Verengung wandert das Interesse an Kultur und Gesellschaft aus der Historie zunehmend aus; die Entstehung der Soziologie verdankt sich nicht zuletzt dieser Blockadehaltung. Innerhistorisch schlägt sie sich im sogenannten LamprechtStreit seit 1890 nieder. Auffällig sind die Reaktionen: während die Öffentlichkeit die neuartige Synthese von Karl Lamprechts Deutscher Geschichte interessiert begrüßt, stößt sie „auf den wilden Protest der Zunft“.⁴⁵ Denn die Zunfthistoriker bemerkten sofort den grundsätzlichen Angriff „auf den Vorrang von Staat und Politik“, die Gefahr, „die Historie zu einer Sozialwissenschaft von Kollektiven, Strukturen, determinierenden Kausalitäten zu machen“. Am Ende findet sich das „Establishment der

 Nipperdey 1990, 633 – 634 (Anm. 11). Siehe schon ders., 1983, 447 (Anm. 11): Seit Mitte des 19. Jahrhunderts bewirkte die „Historisierung der Welt […], daß man anfing, das Christentum historisch zu sehen, […] ja überhaupt als eine historische Erscheinung unter anderen, distanzierend und relativierend […].“ vgl. 449 – 450.516.  Nipperdey 1990, 634 (Anm. 11). Zum Zirkelschluss vgl. auch 637: „Die deutschen Historisten haben schließlich auch ihre politischen Werturteile gern aus dieser Theorie hergeleitet.“  Nipperdey 1990, 635, vgl. 686 – 690 (Anm. 11).  Nipperdey 1990, 637 (Anm. 11).  Nipperdey 1990, 642 (Anm. 11).

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politischen Historie“ (vorläufig) gestärkt.⁴⁶ Über Nipperdeys Darstellung des Vorgangs hinaus wird man betonen müssen, dass durch den Lamprecht-Streit eine Dauerblockade innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft eingetreten ist, die sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg aufzulösen beginnt, jedenfalls bis auf die Ausnahmen von Hintze und Meinecke; im Vergleich dazu sind die Verläufe in der Geschichtswissenschaft Frankreichs und in den USA ganz anders. Darum wandert die eigentlich innerhalb der „Zunft“ zu führende Debatte über die Ausrichtung der disziplinären Matrix aus der deutschen Geschichtswissenschaft ab. Es sind unterschiedliche Leute wie Dilthey, Troeltsch und Weber, die auf jeweils ihre Art auf die Krise des Historismus und die innerhistorische Blockade reagieren. Ernst Troeltsch bleibt bei Nipperdey letztlich doch der große „Aporetiker“, der mit seinem Bemühen noch am weitesten dem klassischen Historismus verhaftet geblieben sei, wenn er eine historische Großerzählung – die Vergangenheit erleuchtet die Gegenwart – mit dezisionistischen Elementen zu verbinden sucht: „Sein Thema von der Überwindung des Historismus durch eine ‚Kultursynthese‘ traf den Nerv der intellektuellen Sehnsüchte dieser Zeit – ehe die neuen revolutionären Entschiedenheiten dergleichen als spät- und bildungsbürgerlich in den 20er Jahren hinter sich ließen.“⁴⁷ Weiter hinaus bewegt sich Wilhelm Dilthey über die Jahre hinweg durch seine strikt antimetaphysische und empirische Haltung mit seiner lebensphilosophischen Grundierung der Geisteswissenschaften und so auch der Geschichte. Leben entthront mit den anderen metaphysischen Begriffen auch die Absolutheit der selbstreferentiellen Geschichte. Deswegen gebe es auch nur relative „Weltanschauungen“ anstelle von wissenschaftlichen Wahrheiten, die metaphysischen Systeme sind eben nur Produkte des „Lebens“ unter bestimmten historischen Bedingungen. Dilthey versucht daher, „mit einer Typologie der Weltanschauungen den Verlust der Wahrheit zu kompensieren.“ Nipperdey bezieht sich hier auf Diltheys „Typen der Weltanschauung“ von 1911, in dem dieser die drei immer wiederkehrenden Typen von Naturalis-

 Nipperdey 1990, 643 (Anm. 11). Dieser Band von 1990 berücksichtigt deutlich mehr neuere Literatur zum Thema, vgl. 856.863 – 865, so u. a. die ersten vier Bände der Troeltsch-Studien (1982– 1987), die von Hans-Ulrich Wehler herausgegebene Bandreihe Deutsche Historiker (1971– 1982), Luise Schorn-Schüttes Buch über Karl Lamprecht (1984), Herbert Schnädelbachs Philosophie in Deutschland 1831 – 1933 (1983), Wolfgang J. Mommsens, W. Schluchters und Wilhelm Hennis‘ Werke zu Max Weber.  Nipperdey 1990, 691, vgl. 471– 472 (Anm. 11). Vgl. den Überblick bei Jan Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit. Bd. II: Das 20. Jahrhundert, Tübingen 1997, 344– 347; Friedrich Wilhelm Graf, Fachmenschenfreundschaft. Studien zu Troeltsch und Weber, Berlin / Boston 2014, zu beachten ist hier die neue Einleitung, 1– 79, wogegen die versammelten älteren Aufsätze zum Teil nicht mehr ganz auf der Höhe der Forschung sind. Differenziert auch Jörg Dierken, Ganzheit und Kontrafaktizität. Religion in der Sphäre des Sozialen, Tübingen 2014, 68 – 74.182– 185.227– 234; Dierkens Kritik an der absolutheitstheoretischen Figur des „All-Lebens“ bei Troeltsch (73.167.185.232) lenkt den Fokus auf die letztlich lebensphilosophische Grundierung, die nicht zum Individualitätsprinzip der Geschichte passt, aber wieder mit Diltheys Ansatz übereinstimmt. Ausführlich bin ich auf Troeltschs Historismusband eingegangen: Michael Murrmann-Kahl, „Die Ambivalenz des Historismus bei Ernst Troeltsch“, in: Mitteilungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft, Bd. 22, München 2011, 43 – 72.

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mus (Vorherrschaft des Verstandes), pantheistischem Idealismus (Ausdruck des Gefühls und Sinns) und Idealismus der Freiheit (Vorrang des Willens) aufstellt. Jede Weltanschauung wird durch eine spezifische Lebensstimmung konstituiert, keine kann aber darum die letztgültige Wahrheit für sich beanspruchen. Man könnte sagen: wenn schon die Wahrheit verloren gegangen ist, so räumt man doch wenigstens den geistesgeschichtlichen Haushalt ordentlich auf. Diese Neigung zu Typologien und Lebensformen, „das war in allen Geisteswissenschaften die Tendenz […]. Mit all dem ist Dilthey für die Lebensprobleme der Zeit und für die spätzeitlich pessimistische Stimmung bei einem Teil des Bildungsbürgertums sehr charakteristisch.“⁴⁸ Die Darstellung von Max Weber ist in diesem Zusammenhang eine Schlüsselstelle für das Selbstverständnis Nipperdeys, denn Weber ist zugleich der Kronzeuge der konkurrierenden historischen Sozialwissenschaft Bielefelder Provenienz. In seinem einleitenden Kapitel zu Wehlers Hauptwerk sind die Anregungen und Übernahmen Webers fürs eigene „Paradigma“ der „Gesellschaftsgeschichte“ unübersehbar. Wehler spricht ausdrücklich von einer weit ausgreifenden „Gesellschaftsgeschichte in der Nachfolge Webers“.⁴⁹ Auch Nipperdey kann Max Weber gar nicht hoch genug rühmen als „Genie“, Wissenschaftstheoretiker, Universalhistoriker und Soziologe, als „universalen Geist“, als „Gegen-Marx“ und „Gegen-Nietzsche“.⁵⁰ Er war bewegt „von den Krisen und Verlusten der Modernität: dem Schwinden der Religion, der Spezialisierung und Entfremdung, der Relativierung der Werte“.⁵¹ Er reagiert darauf mit den strengen Methoden der modernen Einzelwissenschaften, also gerade nicht als Philosoph oder Theologe. Das markiert die größte Differenz zu den ähnlichen Anstrengungen von Troeltsch und Dilthey. „Max Weber ist ein Produkt der deutschen, der wilhelminischen Bürger-Gesellschaft, gewiß, aber vor allem ist er ein Bahnbrecher von Einsichten in die gesellschaftliche Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts, ein Meister dieser Einsichten.“⁵² Nipperdey beginnt mit der berühmt-berüchtigten Protestantismus-KapitalismusThese und der „Entzauberung der Welt“. Das kann hier auf sich beruhen. Anschließend stellt er die systematische Soziologie des „späten“ Weber aus der Zeit relativ kurz vor seinem frühen Tod 1920 dar: soziales Handeln, die Typen des Handelns, die Herrschaftssoziologie. Trotz der strengen Beschränkung implizieren Webers Darle-

 Nipperdey 1990, 685 (Anm. 11). Vgl. Rohls 1997, 115 – 139, hier 118 – 119 (Anm. 47); ders., Philosophie und Theologie in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 2002, 512– 515; siehe auch den Beitrag von Constantin Plaul zu Dilthey in diesem Band.  Wehler 1987, Gesellschaftsgeschichte I, 6 – 30, hier 9 (Anm. 4). Dazu auch Hans-Ulrich Wehler [1986], „Was ist Gesellschaftsgeschichte?“, in: ders., Aus der Geschichte lernen?, 115 – 129, München 1988.  Nipperdey 1990, 671– 676, hier 671 (Anm. 11). Entsprechend mündet das Philosophiekapitel (679 – 691) charakteristischerweise in eine Darstellung Nietzsches (686 – 688)! Siehe auch schon Nipperdey 1983, 533 (Anm. 11).  Nipperdey 1990, 671 (Anm. 11).  Nipperdey 1992, 895 (Anm. 11). Einen wunderbaren und gut lesbaren Überblick vermittelt jetzt Jürgen Kaube, Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen, Berlin 2014, zu den hier verhandelten Sachverhalten besonders 175 – 189.336 – 394.

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gungen eine Existenzphilosophie und Gegenwartsdiagnose.⁵³ Hier nimmt nun die Darstellung – gemessen an seinem Konkurrenten Wehler – eine überraschende und charakteristische Wendung. Nipperdey schreibt zur Spätsoziologie, die von der menschlichen Handlung ausgeht: „Handeln hat für den Handelnden eine Bedeutung, es ist sinnvoll. Die Wissenschaft muß diesen Sinn […] ‚verstehen‘. Das ist Webers beharrlicher Historismus gegenüber dem Positivismus, der Gesetze erkennen oder anwenden will […], das ist Webers Wendung auch gegen alle Holisten, gegen Hegel und Marx und die Evolutionisten.“ Man mag im Geist ergänzen: auch gegen Wehlers historische Sozialwissenschaft, dem Nipperdey hier den Kronzeugen entwindet! Natürlich weiß Nipperdey auch, dass Webers Sinnverstehen kausale Erklärungen gerade mit ein- und nicht ausschließt, Stichwort „Idealtypus“: „Das ist die Logik von Webers historisch verstehender Soziologie, die schlüssige Verbindung von Geistes- und Sozialwissenschaft, jenseits von Idealismus wie Positivismus.“⁵⁴ Man liest an dieser Stelle gewiss nicht zu viel hinein, wenn man sich darin durchaus auch zugleich das Selbstverständnis des „Semihistoristen“ Nipperdey aussprechen sieht.⁵⁵ Man errät, worin wohl die andere „Hälfte“ besteht, auf die die Geschichtsschreibung Nipperdeys rekurriert. Zuletzt ist die ebenso berühmte wie umstrittene Werturteilsfreiheit zu skizzieren. Weber reagiert anders auf den durch den Historismus erzeugten Relativismus der Werte. Der Traum seines „Fachmenschenfreundes“ Troeltsch, „eine Wertetafel zuletzt doch aus der Geschichte oder einer Kultursynthese herleiten zu können, gilt ihm als Illusion.“ Genau aus diesem Grund, kann die Wissenschaft selbst eben nicht den „Kampf der Götter“ entscheiden. Sondern: „Dieser Streit wird im Gewissen des einzelnen und in der Praxis (der Politik etwa) entschieden. Objektivität ist darum nicht moralische Indifferenz, sondern die Basis existentieller Entschiedenheit.“ Nipperdey beschreibt sehr schön das Webersche Konfliktmodell, das aus dessen Dichotomisierung von Handeln (Werturteil) und Wissen (Wertbeziehung) entsteht. Wissenschaft kann über die Zweck-Mittel-Relationen des Handelns aufklären, aber gerade nicht sagen, was man tun soll. Daraus resultiert Webers (und Nipperdeys eigene!) Absage an alle, „die aus Leiden an Wissenschaft und Spezialisierung in Schau, in vorschnelle

 Nipperdey 1990, 671, vgl. 828 (Anm. 11).  Nipperdey 1990, 674 (Anm. 11) (Hervorhebung von mir). Mit dieser Auffassung steht Nipperdey nicht allein: vgl. M. R. Lepsius, „Max Webers soziologische Fragestellungen im biographischen und zeitgeschichtlichen Kontext“, in: ders., Max Weber und seine Kreise, Tübingen 2016, 143 – 158, hier 152– 154; und den Beitrag von Georg Neugebauer in diesem Band. Entsprechend könnte sogar Hans-Ulrich Wehler votiert haben, wenn er mit „Historismus“ nicht vor allem hermeneutische Perspektivverengung und Konservatismus verbunden hätte: vgl. dazu Thomas Welskopp, „Grenzüberschreitungen. Deutsche Sozialgeschichte zwischen den dreißiger und den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts“, in: Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, hg.v. Christoph Conrad / Sebastian Conrad, Göttingen 2002, 296 – 332 (Anm. 22), hier 318 – 330, besonders 326 – 330.  Explizit Nipperdey 1986, 224– 225.233.229 (Anm. 27): „Eine Perspektive, die sich bestätigt hat […], muß von allen späteren Historikern in ihre eigene Perspektive integriert werden: Nur dann können ihre Resultate in der Gemeinschaft der Historiker Geltung beanspruchen.“

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Synthesen des Ganzen, in endgültige Gewißheiten springen wollen“.⁵⁶ Wissenschaft „weiß um den Kampf der aus den Gräbern steigenden Götter, kann selbst aber nur eine asketische Diätetik im Umgang mit Sinnerwartungen empfehlen“, wie das Jörg Dierken treffend formuliert hat.⁵⁷ Wo stehen wir nach diesem fulminanten Abschnitt über Max Weber, den Nipperdey sozusagen dezidiert in den Horizont eines, man möge die Formulierung nachsehen, „elastisch gemachten Historismus“ einholt? Dazu werfen wir einen Blick auf die „Zwischenbilanz“ der Wissenschaft im Kaiserreich⁵⁸: Nipperdey stellt eine Gegenläufigkeit fest. Einerseits werden die Einzelwissenschaften vor allem in der technischen Anwendung für das Leben immer gewichtiger und damit der Bruch mit der Tradition, andererseits verlieren sie zugleich die klassische Sinnstiftungsfunktion. Denn Wissenschaft wird zu einem (auch sozial vermittelten) Forschungsprozess auf eine unendliche Zukunft hin. Sie wird professionalisiert und zerfällt in Spezialgebiete. „Wissenschaft ist das unübersehbare Meer der Wissenschaften geworden, sie bietet kein Ganzes mehr“ – daraus resultiert die Sehnsucht nach dem Ganzen, nach den Synthesen, nach Sinnstiftung. Aber Wissenschaft erzieht eben nur noch Fachmenschen. Für die Geschichte selbst ist diese fundamentale Veränderung zur Forschungswissenschaft zentral: denn im 19. Jahrhundert war sie lange Zeit die Führungswissenschaft. „Was sein soll und wie es mit der Wahrheit steht, das ist zwar an die geschichtliche Stunde gebunden, aber es ist in ihr aus der Kontinuität der Geschichte auch gültig herzuleiten.“⁵⁹ Solche universalen Erklärungsansprüche wandern jetzt von der Geschichtswissenschaft weiter, zunächst in die Psychologie (bei Dilthey) und Soziologie und in die vielen „Weltanschauungen“, auch der Gestaltbegriff im Stefan George-Kreis gehört dazu. Die Wissenschaft entmächtigt die Tradition – der Historismus historisiert konsequent die Welt: „An die Stelle des Göttlich-Absoluten, des von Natur Seienden, der überzeitlichen Vernunft tritt das Geschichtliche – geworden, werdend, sich verändernd, vergehend. Das greift tief, das revolutioniert die Gesamtkultur: Ewige Wahrheiten und Normen werden geschichtliche Wahrheiten und Normen, das Absolute und Unbedingte wird relativ und bedingt. Und: die normbegründende Rolle, die Geschichte beansprucht, löst sich auf.“⁶⁰ Aus dem Wissenschaftsproblem wird darum jetzt endgültig die „Krise des Historismus“, ein Lebensproblem, Troeltschs in einer Rezension von Dilthey („Anarchie des Denkens“) formulierte, berühmte „Anarchie der Werte“. „Neben den Wissen-

 Nipperdey 1990, 675 (Anm. 11).  Dierken 2014, 64– 68, hier 65 (Anm. 47). Vgl. auch Graf 2014, 353 – 373 (Anm. 47).  Nipperdey 1990, 676 – 679 (Anm. 11). Siehe dazu auch das Schlusskapitel „Schattenlinien“ des ganzen Bandes: 812– 834! Hier versucht Nipperdey besonders die Perspektive des Kaiserreichs als bloße Vorgeschichte von „1933“ zu vermeiden: 812.815.824.828, das ist sein Hauptanliegen. Entsprechend auch das Schlusskapitel des Gesamtwerks (1992, 877– 908 [Anm.11]) und das vorläufig zusammenfassende Kapitel (bis 1866) in 1983, 790 – 803 (Anm. 11).  Nipperdey 1990, 677 (Anm. 11).  Nipperdey 1990, 678 (Anm. 14).

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schaftsglauben tritt die Wissenschaftsskepsis – um 1900 wird das für das Lebensgefühl ganz wichtig.“⁶¹ Im Bildungsbürgertum breitet sich darum eine nur vermeintlich unpolitische „machtgeschützte Innerlichkeit“ (Thomas Mann) aus⁶², werden VulgärIdealismus und Vulgär-Romantik mit Rationalismus- und Fortschrittskritik, mit der Entgegensetzung von Kultur und Zivilisation, zu gängigen Münzen und Schattenlinien einer höchst problematischen Mentalität, die in den „Ideen von 1914“ und im Nationalismus kulminieren.⁶³ Nipperdey betont, dass der religiöse Sinn des Lebens zunehmend an den Rand rückt und damit politische Bewegungen wie Nationalismus und Sozialismus zu Glaubensbewegungen werden, also zu funktionalen Äquivalenten des einst religiös garantierten Lebenssinns.⁶⁴ Das Ergebnis dieser Entwicklung lässt sich so zusammenfassen: „Der unentrinnbare Prozeß der Verwissenschaftlichung hat den Optimismus seiner Anfänge aufgelöst. Es gehörte zur Größe der Wissenschaft der Zeit, dass sie in ihren herausragenden Vertretern diese Lage selbst reflektiert hat […]. Es ist die Wissenschaft selbst, die fortschreitend die Illusion auflöst, die sie selbst oder die Gesamtkultur über ihre Leistungen sich gemacht hatte.“⁶⁵

6 Ein Vergleich Die Schwierigkeit, das deutsche Kaiserreich angemessen zu würdigen, besteht in den unterschiedlichen und miteinander konfligierenden Perspektiven, die auf diese Zeit fällt. Einerseits: Der Historiker schreibt aus der Gegenwart im Rückblick auf die Vergangenheit. Für die Generation der Historiker, zu der Nipperdey und Wehler zählen, gehört das Grundproblem dazu, diese Geschichte im Blick auf 1933 und den Aufstieg des Nationalsozialismus beschreiben zu müssen.⁶⁶ Nipperdey ist daran gelegen, dass

 Nipperdey 1990, 678 (Anm. 14).  Nipperdey 1992, 896 – 897 (Anm. 14).  Vgl. Nipperdey 1990, 816 – 830. Klassisch Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher von 1890 (826 – 827) und H. St. Chamberlains Grundlagen des 19. Jahrhunderts von 1900 (830).  Vgl. Nipperdey 1992, 897– 898, 904 (Anm. 11). Siehe dazu auch das umfangreiche Religionskapitel in Nipperdey 1990, 428 – 530, hier besonders 507– 527 („Quasireligionen“), das zuvor als eigenständige Studie publiziert wurde: Thomas Nipperdey, Religion im Umbruch. Deutschland 1870 – 1918, München 1988.  Nipperdey 1990, 678 – 679 (Anm. 11). Entsprechend beginnt mit Nietzsche und seiner Wirkungsgeschichte für Nipperdey das 20. Jahrhundert, „eine neue Ära der Reflexion, eine neue Situation der Wissenschaften, der Kultur, des Lebens“ durch dessen fundamentale „Kritik der christlich-humanitären wie rationalistischen ‚ersten‘ Modernität“ des 19. Jahrhunderts: vgl. 512– 514.690.825.  Im Sinne des weiten Historismusbegriffs motiviert das (intellektuelle) Leiden am Historismus als Ausdruck des Leidens an der Moderne überhaupt den verbreiteten Sprung aus der Geschichte bei der Generation der Barth, Bultmann, Heidegger, Tillich und nicht zuletzt die Attraktivität der „deutschen Revolution“: vgl. Oexle 1996 (Anm. 12); Friedrich Wilhelm Graf, „Die ‚antihistoristische Revolution‘ in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre“, in: ders., Der heilige Zeitgeist, Tübingen 2011, 111– 137, hier besonders 121: „So wie der Historismus Identität durch Geschichte zu sichern suchte, sucht der Antihistorismus Identität als durch ein absolutes Jenseits der Geschichte verbürgt auszulegen.“ (Das ist

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deutlich wird: Das Kaiserreich ist gewiss auch die Vorgeschichte der NS-Diktatur, aber eben nicht nur.Von der Epoche des ausgehenden 19. Jahrhunderts her geurteilt gibt es keinen Automatismus, der zu Hitler und dem NS-Staat führt. Es gibt keinen zwingenden deutschen „Sonderweg“ von Luther über Bismarck zu Hitler, wie man sich das oft zurecht gelegt hat (siehe Thomas Manns „Doktor Faustus“). Das Kaiserreich bildet andererseits eben auch die Vorgeschichte zu unserer eigenen Modernität des Nachkriegsdeutschland gerade im Hinblick auf die Wissenschaften und Künste „in der leuchtenden Welt der Kultur vor 1914“, wie Nipperdey schreibt.⁶⁷ Diese unterschiedlichen, möglichen Wahrnehmungsweisen überschneiden sich, das macht die Historiographie kompliziert. Der Anspruch auf Objektivität der Darstellung erheischt, auch dem Kaiserreich zunächst seine eigene offene Zukunft wiederzugeben: Eine geschichtliche Zeit wie die des Kaiserreichs ist mehr als ein Ensemble von Vorgeschichten. Sie ist sie selbst. Das wollte Ranke mit der altertümlich religiösen […] Formel sagen, jede Epoche sei unmittelbar zu Gott. […] Deshalb auch geht es nicht darum, mit den Urgroßeltern vor dem Ersten Weltkrieg kritisch und besserwisserisch zu rechten, sondern darum, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Das ist die Tugend des Historikers […].⁶⁸

Dieser immer noch nationalgeschichtliche Fokus verbindet die Historiker der Bundesrepublik und bleibt bis in die 1990er Jahre im internationalen Vergleich Eigenart der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft.⁶⁹ Es gibt noch mehr Gemeinsamkeiten der konkurrierenden Projekte Nipperdeys und Wehlers, als man auf den ersten Blick natürlich für einen Historiker keine sinnvolle Option.) Siehe auch die für diesen Aufsatzband verfasst neue Einleitung: „Protestantische Universitätstheologie in der Weimarer Republik“, 1– 110, hier 12– 28.45 – 52.77– 88, bes. 51: „Das Interesse, aus dem Überlieferungszusammenhang der „Geschichte“ auszusteigen und so eine tabula rasa absoluten Neubeginns zu schaffen, war oft mit hoher Aggressivität verbunden, die durch persönliche Begegnungen nicht selten eher radikalisiert als entschärft wurde […].“  Nipperdey 1990, 834 (Anm. 11): „Das Kaiserreich ist auch Vorgeschichte von Weimar, ja auch von unserer Nachkriegswelt, denkt man an die Modernisierungsschübe in Lebensstilen und Kultur oder an Sozialverfassung und Interventionsstaat.“ Vgl. ders. 1992, 894.880 (Anm. 11).  Nipperdey 1992, 880 (Anm. 11) (Hervorhebung von mir). Vgl. schon Nipperdey 1983, 803 (Anm. 11). Vgl. Thomas Nipperdey [1978], „1933 und die Kontinuität der deutschen Geschichte“, in: ders., Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 21986, 186 – 205. In dem für die Selbstdeutung aufschlussreichen achten Abschnitt „Reflexive Historisierung“ liest man bei Friedrich Wilhelm Graf 2011, Universitätstheologie, 96 (Anm. 66) mit großem Interesse: „In Seminaren Thomas Nipperdeys begann ich die historistische Grundeinsicht zu verstehen, daß geschichtliche Prozesse offen, nicht determiniert sind, man also die Krisengeschichten der Weimarer Republik nicht auf ihren katastrophalen Ausgang, die Nationalsozialistische Revolution, hin teleologisch lesen und erzählen darf.“  So Paul Nolte, „Darstellungsweisen deutscher Geschichte. Erzählstrukturen und ‚master narratives‘ bei Nipperdey und Wehler“, in: Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, hg.v. Christoph Conrad / Sebastian Conrad, Göttingen 2002, 236 – 268, hier 238 – 239.244.263 – 264. Vgl. 262: „Es geht nur um Varianten desselben Typs einer westlichen, einer okzidentalen Fortschrittsgeschichte der Moderne im Gewand der Nationalgeschichte“! Sachlich ähnlich Welskopp 2002, 331 (Anm. 54). Vgl. auch die Zusammenfassung bei Große Kracht 2005, 162– 167 (Anm. 35).

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vermuten möchte. Zur Orientierung über die Gesellschaftsgeschichte des „langen“ 19. Jahrhunderts orientieren sich die Autoren dann doch wieder an den wichtigen politischen Wegmarken wie 1800, 1815, 1848/49, 1866 und 1870/71, Erster Weltkrieg.⁷⁰ Beide übernehmen als Prinzip der Großgliederung des gewaltigen Stoffs die von Jürgen Habermas formulierte Dreiheit aus Arbeit (Wirtschaft und Gesellschaft), Herrschaft (Politik) und Sprache (Religion, Bildung, Wissenschaft, Kunst).⁷¹ Man kommt so oder so gar nicht umhin, stärker struktur- und stärker ereignisgeschichtliche Kapitel sich abwechseln zu lassen. Sogar die Basis der Forschung und der Auswahl des Berichtenswerten deckt sich in hohem Maße. Der Berliner Historiker Paul Nolte, der die beiden Großwerke 1999 miteinander verglichen hat, spricht von einem „konformistischen Sog“, den die Erwartungen zumal der Experten an eine solche historische Synthese ausgelöst habe.⁷² Dennoch sind die Unterschiede in der Behandlung des gemeinsamen Stoffs nicht zu übersehen. Die Klassengesellschaft im Kaiserreich wird in der einen Darstellung durch die „Feudalisierungsthese“ beschrieben, also die Überformung einer an sich schon modernen bürgerlichen Gesellschaft (mit nur eingeschränkter politischer Teilhabe) durch einen Überhang traditionaler Herrschaftselemente (Adel), so dass eine Art „polarisierte Zwei-Klassen-Gesellschaft“ herauskam. Das Ganze wird in einem analytischen, diskursiven Stil vorgetragen, der das jeweilige Für und Wider abwägt.⁷³ In der anderen Darstellung wird über einen Zugriff auf zeitgenössische Beschreibungen ein Dreierschema von Ober-, Mittel- und Unterklassen geschildert, von den problematischen „Überformungen“ der bürgerlichen Gesellschaft ist kaum die Rede. Dagegen bietet die Möglichkeit, zeitgenössische Zitate einzumontieren, eine dramatische Erzählweise, so dass man auf einer imaginären Bühne die handelnden Personen zu sehen meint. Dadurch können selbst relativ abstrakte Vorgänge spannend erzählt werden, wie man besonders dann merkt, wenn man die Absatzanfänge einer größere Passage zusammenmontiert. Über den sog. Preußischen Verfassungskonflikt der 1860er Jahre heißt es dann zum Beispiel: Wider Erwarten übernahm 1858 mit Prinz Wilhelm einer der energischsten Verfechter der Heeresreform das höchste Staatsamt. […] Während Wilhelm noch in eine Prüfung des Vorschlags vertieft war, traf eine ausführliche Denkschrift Albrecht von Roons ein. […] Erwartungsgemäß

 Nolte 2002, 247 (Anm. 69).  Vgl. Nipperdey 1992, 883 (Anm. 11): „Trias von Politik, Deutung und Gesellschaft“. Solche voraussetzungsreichen Strukturbildungen müssten natürlich explizit diskutiert werden.  Nolte 2002, 251, vgl. 264 (Anm. 69). Nolte vergleicht vor allem die „literarische Modellierung“ (240.243) der beiden großen Synthesen Nipperdeys und Wehlers, also – im Anschluss an Hayden White – deren Historiographie.  Vgl. Nipperdey 1992, 902– 903 (Anm. 11).

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folgte die Kommission durchweg Roons Gesichtspunkten. […] Im Kreis der ultrakonservativen Militärs brach jedoch unverhüllt Empörung aus.⁷⁴

Und so weiter: „In kurzen, hammerartigen Sätzen wird die Handlung entschieden vorangetrieben.“⁷⁵ Wenn man nun diese Unterschiede sozusagen mit geschlossenen Augen hört, würde man vermutlich die letztere Darstellungsweise eher Nipperdey und die erstere Wehler zuschreiben. Das Urteil – „hier der sich in die Zeitgenossen, die ‚Großväter‘ versenkende Erzähler Nipperdey, dort der nüchterne, von der Gegenwart her analysierende Wehler“ – ist in der Tat weit verbreitet. Die schöne Pointe besteht aber darin, dass es sich genau umgekehrt verhält: Nipperdey ist nämlich „der Autor der polarisierten und politisch aufgeladenen Klassengesellschaft […], und Wehler bezieht sich gerne auf die Begriffe der Zeitgenossen“.⁷⁶ Der angeblich so theorielastige Wehler befleißigt sich eines dramatischen, letztlich viel konventionelleren Erzählstils aus der Theodor Schieder-Schule, wogegen der scheinbar so harmlos im Gestus des „Märchenonkels“ auftretende „Erzähler“ Nipperdey eine viel diskursivere, analytische und entpersonalisierte Darstellung bevorzugt. Man darf seiner Behauptung „davon haben wir schon erzählt“ bzw. „das müssen wir noch erzählen“ nicht trauen. Gewiss gibt es auch wirklich erzählende Passagen⁷⁷; aber über weite Strecken gibt Nipperdey gewissermaßen den modernistischen und strukturanalytischen Wolf im historistischen Schafspelz. Daran kann man merken, dass die programmatischen Selbstauskünfte und Theorieansätze nicht dasselbe sind wie die tatsächlich geleistete Historiographie. Bei der Geschichtsschreibung selbst geht es immer auch um literarische Darstellungsfragen. Hier erweist sich Nipperdey als derjenige, der den Lesern eine weit reflektiertere und sachlich dichte Argumentation, eine „parataktische Geschichte“⁷⁸, zumutet und sogar vom „Glück der begriffenen Geschichte“⁷⁹ sprechen kann, die zweifellos ein eigenständiges Mitdenken abfordert, wogegen es Wehler mit seinen scharfen Kontrastierungen einem doch wesentlich einfacher macht. Offenbar liegen die erzähltechnischen Präferenzen der Autoren weit vor aller Programmatik und Forschung schon längst fest; man kann eine gewisse vorbewusste Affinität zu einem bestimmten Erzählstil vermuten.⁸⁰ Nolte weist überdies darauf hin, dass man die

 Das Beispiel nach Nolte 2002, 256 (Anm. 69); vgl. Wehler 1995, 254– 258 (Anm. 4) (Absatzanfänge). Vgl. dazu auch die Darstellung bei Nipperdey 1983, 749 – 759 (Anm. 11).  Nolte 2002, 256 (Anm. 69).  Nolte 2002, 253.252 (Anm. 69).  Zum Beispiel Nipperdey 1992, 850 – 858 (Anm. 11).  Nolte 2002, 259 (Anm. 69). Nipperdey sei „von seiner Grundeinstellung, von seinem literarischen Temperament her ein ganz analytischer Historiker und im Gegensatz zu Wehler ein Strukturhistoriker par excellence gewesen“: 257– 258! Vgl. Nipperdey 1992, 893 (Anm. 11): „Wenn wir die beiden Bände dieser Geschichte zusammennehmen, so haben wir es erst recht mit einem Ensemble von Geschichten zu tun.“  Nipperdey 1983, 805 (Anm. 11) (Hervorhebung von mir).  So Nolte 2002, 254.258 (Anm. 69).

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Geschichtsschreibungen Nipperdeys und Wehlers auf die beiden Grundfiguren der deutschen Geschichtswissenschaft zurückbeziehen kann, nämlich auf die Linie Herder, Ranke und Sybel (Vorbild Herodot) einerseits und die Linie Schlözer, Droysen und Treitschke (Vorbild Thukydides) andererseits. Wir haben es also wohl mit überindividuellen Ausprägungen von Typen der Geschichtsschreibung zu tun, von denen es kaum beliebig viele geben dürfte.⁸¹ Zweifellos zielt eine solche historiographische Synthese auf eine Art von histoire totale. Für Nipperdey schießen aber die Partialgeschichten, die er auf über 2700 Druckseiten zusammenträgt, nicht zu einem Ganzen zusammen. Deshalb bleiben die Perspektiven von „1933“ und der eigenen Gegenwart unaufgelöst nebeneinander stehen. Denn diese „Teilwirklichkeiten einer Lebenswelt“ bestehen zunächst einmal auch „unabhängig voneinander“: Die Welt der exakten Wissenschaften oder die Welt der Kunst z. B. existieren zunächst und vor allem für sich, nebeneinander […]. Man muß sich der natürlichen Tendenz unseres Denkens […] widersetzen, ein einheitliches Prinzip auszumachen, das solche Welten im Innersten zusammenhält: einen Zeitgeist, einen Nationalcharakter, eine Klassensituation, ein Wirklichkeitsmuster, einen Systemzwang. Daß Nebeneinander natürlich auch Miteinander ist, ist erst ein zweiter, ein nachgeordneter Gesichtspunkt.⁸²

Das sind sehr grundsätzliche Erwägungen, und das bedeutet eben für die Leser einer solchen Zusammenschau, dass diese erhebliche Zumutungen des Selber- und Mitdenkens enthält. Denn: „Der historische Ort des Kaiserreichs läßt sich, alles in allem, als aufhaltsame, gebremste und widersprüchliche Modernisierung, als Zwiespalt der Modernität bestimmen.“⁸³ Natürlich kann man die historistische, soziologisch unterfütterte Geschichtsschreibung Nipperdeys auch in ein ganz anderes Theoriedesign transformieren und sagen: Hier wird mit den Mitteln der Geschichtsschreibung ausgeführt, was funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft heißt, und was es bedeutet, dass sich „die“ Gesellschaft in eine Pluralität von Subsystemen in der Gesellschaft auflöst, zu der es prinzipiell keinen privilegierten Zugang mehr gibt, weder von der Politik noch von der Religion her. Dass man mit einer solchen Transformation kein Unrecht tut, hat Paul Nolte noch einmal sehr schön zusammengefasst: Nipperdey geht es jedoch nicht wie Wehler um das genuin politische Problem von Demokratie und Sozialstaat, sondern um die Genese unserer modernen kulturellen Lebenswelt […]. Besonders in

 Nolte 2002, 267 (Anm. 69).  Nippderdey 1992, 893 (Anm. 11); vgl. das ganze Schlusskapitel 877– 905, hier 877. Man kann fragen, ob Nipperdey mit dieser Einstellung nicht weitaus mehr den Historismus Theodor Schieders beerbt hat als etwa Wehler: siehe dazu Theodor Schieder, Geschichte als Wissenschaft. Eine Einführung, München 2 1968, 26 – 27. Dazu Welskopp 2002, 306 – 317 (Anm. 54).  Nipperdey 1992, 882 (Anm. 11). Die Problematik dieser (über)angestrengten Objektivität ist freilich evident, weil nicht mehr deutlich wird, aufgrund welcher Strukturen und Ereignisse das deutsche Kaiserreich schließlich doch gescheitert und im Ersten Weltkrieg untergegangen ist.

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dem ersten der beiden Kaiserreich-Bände spürt man ständig, wie sehr diese Frage dem seinen Wesen nach ja gar nicht altmodischen, sondern ungeheuer modernen Menschen Thomas Nipperdey förmlich auf den Nägeln brennt, und man könnte hieraus den impliziten Entwurf einer Nipperdeyschen Geschichte des 20. Jahrhunderts rekonstruieren.⁸⁴

Letzte Sätze haben – analog zur Funktion des ersten Satzes – eine besondere Bedeutung, und so besteht Nipperdeys Vermächtnis an die Historikerzunft in einem Satz, der noch einmal eine Spitze gegen seinen Konkurrenten abschießt: „Die Grundfarben der Geschichte sind nicht Schwarz und Weiß, ihr Grundmuster nicht der Kontrast eines Schachbretts; die Grundfarbe der Geschichte ist grau, in unendlichen Schattierungen.“⁸⁵

7 Rückblick als Ausblick Am Ende kehre ich zum Anfang meiner Ausführungen und damit zum Epochenjahr 1917 noch einmal zurück. Jörn Leonhard beschreibt die dominierende Stimmung im ausgehenden Ersten Weltkrieg: Die Hoffnung auf einen Siegfrieden prägte auch das Reformationsjubiläum, das man 1917 beging. In zahllosen offiziellen Publikationen erschien Martin Luther als ‚Mann von Erz‘, als geschichtspolitisches Symbol des Nationalstaates von 1871 und des nationalen Zusammenhalts der Kriegsgesellschaft: ‚Du stehst am Amboß, Lutherheld, / umkeucht von Wutgebelfer. / Und wir, Alldeutschland, dir gesellt, / sind deine Schmiedehelfer‘, hieß es in einem Gedicht.⁸⁶

Wer meint, wir lebten gerade heute erst in „postfaktischen Zeiten“, der bezeugt damit nur seine eigene Geschichtsvergessenheit.⁸⁷ Ein gerütteltes Maß an soziologisch informiertem Historismus, Wahrheitsliebe und Objektivitätsideal würde in solchen Zeiten steriler Aufgeregtheiten allen Beteiligten gut tun. Thomas Nipperdey fasste ihn in den schönen Dreiklang aus Neugier, Skepsis und dem Sinn für das Erbe zusam-

 Nolte 2002, 265 (Anm. 69).  Nipperdey 1992, 905 (Anm. 11). Wehler hat darauf in 2003, XXI (Anm. 4) mit klarer, fast schon wütender Ablehnung reagiert: „Im Grunde kann man sich als Historiker den Rückzug in das Nirwana grauer Abschattierungen nie erlauben.“ Tatsächlich bleibt die Frage berechtigt, ob man etwa der Geschichte des Nationalsozialismus sine ira et studio gerecht werden kann. Witzig Noltes Zusammenfassung des Unterschiedes in der Letztbegründung bei Nipperdey und Wehler 2002, 262 (Anm. 69): „Der eine glaubt an Gott, der andere an die Rationalität.“  Leonhard 2017 (Anm. 2).  „Die Propagandaschlacht, die diesen Krieg wie keinen zuvor begleitet, entwickelt giftige Stereotype der jeweils anderen Nationen, denen als Kollektivperson abträgliche Charaktereigenschaften zugeschrieben wurden. Sie müssen deshalb niedergeworfen werden.“ So Richard Schröder, „1914 und 1989. Gedenkjahre als Herausforderungen an die Theologie“, in: Geschichte und Gott. XV. Europäischer Kongress für Theologie, Leipzig 2015, hg.v. Michael Meyer-Blank, 17– 34, hier 25.

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men.⁸⁸ Aktuell bleibt uns gegen Absolutheitsansprüche aller Art vor allem eines: Skepsis.⁸⁹

 Thomas Nipperdey, „Neugier, Skepsis und das Erbe. Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für das Leben“, in: ders., Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 21986, 7– 20, bes. 17– 20.  Hinter Nipperdeys „realistischer Skepsis“ steht im Wesentlichen die Endlichkeitserfahrung des Menschen durch die Beschäftigung mit der Vergangenheit, daraus resultiert eben „Skepsis gegen alles Überschreiten der Grenzen des Menschlichen, Vollendungsansprüche und -planungen, gegen den Absolutismus radikaler Idealisten […], den Absolutismus des Eigenen, gegen das Pathos der besseren Zukunft und […] der besseren Vergangenheit.“(Nipperdey 1986, Nutzen und Nachteil, 19 [Anm. 88]) Das ist eine gut protestantische Reflexion, sozusagen eine Form von temporal induziertem Endlichkeitsmanagement angesichts der Geschichte.

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How Critical is Schleiermacher’s Revisionist Dogmatics? Eschatology as Test Case To consider the theme of criticism in the thought of Friedrich Schleiermacher is to discover that the term “criticism” can refer to several very different operations. In his Lectures on Philosophical Ethics Schleiermacher places the “critical disciplines” in a mediating position between the speculative and the empirical disciplines. Whereas Ethics as a speculative discipline deduces “the fixed forms of moral existence” from the essence of reason, and the science of history provides empirical knowledge of what has actually appeared in human history, “there arises a need to link the empirical more closely with speculative depiction. […] This is the essence of criticism, and there is therefore a cycle of critical disciplines which build on ethics.”¹ The philosophy of religion is such a critical discipline. Turning to Schleiermacher’s lectures on Hermeneutics and Criticism, we discover another quite different use of the term criticism. Here criticism is differentiated into philological, historical, and doctrinal criticism. “Philological criticism concerns itself with texts […] with regard to their authenticity.”² Historical criticism is defined as “the art of establishing the real truth of a fact from available accounts.”³ Finally, doctrinal criticism is characterized as “correctly assessing works of men solely with reference to their value.”⁴ Both Schleiermacher’s 1830 lecture for the Prussian Academy of Sciences, Über Begriff und Einteilung der philologischen Kritik, and the extended discussion in Hermeneutics and Criticism present a detailed analysis of especially philological criticism and an understanding of the relation of the three types to each other.⁵ That Schleiermacher did not just have a programmatic understanding but actually practiced philological and historical criticism is evident in such works

 Friedrich Schleiermacher, Lectures on Philosophical Ethics, trans. by Louise Adey Huish, ed. by Robert B. Louden, Cambridge 2002, 8; see 149 – 151.161– 162; Ethik (1812/13), ed. by Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1990, 11– 12, see 202– 204.217– 218.  Friedrich Schleiermacher, Hermeneutics and Criticism and Other Writings, trans. and ed. by Andrew Bowie, Cambridge 1998, 158 – 159; Hermeneutik und Kritik, ed. by Manfred Frank, Frankfurt am Main 1977, 241.  Schleiermacher 1998, 161 (n. 2); Schleiermacher 1977, 243 (n. 2).  Schleiermacher 1998, 162 (n. 2); Schleiermacher 1977, 243 (n. 2).  Friedrich Schleiermacher, Über Begriff und Einteilung der philologischen Kritik, KGA I/11, ed. by Martin Rössler, Berlin / New York 2002, 645 – 656; Schleiermacher 1998, 158 – 171 (n. 2); Schleiermacher 1977, 239 – 257 (n. 2). https://doi.org/10.1515/9783110569520-038

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as Über den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos, Über die Schriften des Lukas. Ein kritischer Versuch, and Das Leben Jesu. ⁶ Of the third form of criticism discussed in Hermeneutics and Criticism, “doctrinal criticism”, Schleiermacher has the least to say. Philological criticism gets considerable attention in the Kurze Darstellung des theologischen Studiums,⁷ but doctrinal criticism does not appear under that name at all. Yet this third form of criticism is key to understanding Schleiermacher’s revisionist moves in his dogmatics The Christian Faith. ⁸ That Schleiermacher’s dogmatics engages in criticism and revision of the inherited doctrinal tradition is perhaps most obvious in his Christology, where one finds the only explicit discussion of his critical procedure in the Glaubenslehre. ⁹ Rather than examining criticism in Christology, however, I propose turning to a less frequently examined doctrinal locus, Eschatology, as a test case of Schleiermacher’s doctrinal criticism. The reason for this choice is that the central eschatological ideas (the Return of Christ, the Resurrection of the Dead, the Last Judgment, and Eternal Blessedness) pose particular challenges in the modern world. Can Eschatology be so formulated as not to collide with modern science, as Schleiermacher claims of “every dogma that truly represents an element of our Christian consciousness” in the second open letter to Lücke?¹⁰ How far does he go in reformulating the eschatological doctrines? I will explore the extent and limits of Schleiermacher’s doctrinal criticism of eschatology in order to answer the question: How critical is Schleiermacher’s revisionist dogmatics?

 See Friedrich Schleiermacher, Über den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos, KGA I/5, ed. by Hermann Patsch, Berlin / New York 1995, 157– 242; Friedrich Schleiermacher, Über die Schriften des Lukas ein kritischer Versuch, KGA I/8, hg.v. Hermann Patsch / Dirk Schmid, Berlin / New York 2001, 1– 180; Friedrich Schleiermacher, Das Leben Jesu. Vorlesungen an der Universität zu Berlin im Jahr 1832, Sämmtliche Werke, Bd. I/6, ed. by. Karl August Rütenik, Berlin 1864.  Friedrich Schleiermacher, Brief Outline on the Study of Theology, trans. by Terrence N. Tice, Richmond 1970; Kurze Darstellung des theologischen Studiums, ed. by Heinrich Scholz, Darmstadt 1973. See §§110 – 124.  Friedrich Schleiermacher, The Christian Faith, trans. and ed. by H. R. Mackintosh and J. S. Stewart, Edinburgh 1928. Citations will be given by proposition and (where relevant) section number, followed by the page number. I have checked my quotations against Schäfer’s critical edition (Friedrich Schleiermacher [1830/31], Der christliche Glaube: Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, KGA I/13, 1+2, ed. by Rolf Schäfer, Berlin / New York 2003), but I have quoted Mackintosh and Stewart’s translation.  See Schleiermacher 1928, §95, §95.2, 389 – 390 (n. 8).  Friedrich Schleiermacher, On the Glaubenslehre, trans. by James Duke / Francis Fiorenza, Chico, CA 1981, 64; Friedrich Schleiermacher, Über die Glaubenslehre. Zwei Sendschreiben an Lücke, KGA I/ 10, ed. by Hans-Friedrich Traulsen, Berlin / New York 1990, 307– 394, here 351.

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1 The Problem of Eschatology in Schleiermacher’s Dogmatics The foundations for Christian eschatology are laid in the New Testament and early (ecumenical) creeds. Both the Apostles’ and the Nicene creeds refer briefly to the return of Christ to judge “the living and the dead,” as well as to the resurrection of the dead and the “life of the world to come.” As for Protestantism, eschatology (other than the issue of Purgatory) did not become a focal point for disagreement at the time of the Reformation, so the Protestant confessions, both Lutheran and Reformed, do not add much to the ancient creeds. The Resurrection of the Body, Return of Christ, Last Judgment, and Eternal Life are common themes; the dual fate of the judged, eternal torment for the damned and eternal blessedness for the believers, are points that go beyond the ancient creeds.¹¹ In the era of Protestant Orthodoxy that followed the Reformation both Lutheran and Reformed dogmaticians developed more explicit eschatological scenarios.¹² The basic structure is the same for both: death is defined as the separation of soul and body, with the soul proceeding immediately upon death to heaven or hell. With the return of Christ the body is resurrected and souls and bodies are reunited. The Last Judgment results in eternal blessedness or eternal punishment; neither the Lutherans nor the Reformed have any problems with the idea of eternal torment. Although the orthodox dogmaticians are not Millenarians, they do hold that with the return of Christ and the Last Judgment the world is destroyed.¹³ But Christ’s return is for the purpose of the Last Judgment (not for setting up a millennial divine rule or defeating Satan). Consistent with their doctrine of scripture and theological method, the orthodox divines mine the scriptures for evidence from which they derive their eschatology. Schleiermacher’s basic methodological move to a theology of consciousness raises the question of how he can even have an eschatology in his Glaubenslehre. If “Christian doctrines [Glaubenssätze] are accounts of the Christian religious affec-

 For the Lutherans see, for example, the Augsburg Confession Article XVII, and Luther’s Large Catechism: Robert Kold / Timothy J. Wengert (Ed.), The Book of Concord. The Confessions of the Evangelical Lutheran Church, Minneapolis 2000, 50 – 51.384.434.439. For the Reformed, see the Second Helvetic confesson, Chapters XI and XXVI, and the Heidelberg Catechism, Questions 52, 57 and 58 (Book of Confessions Study Edition, Louisville 1999, 66.67.110 – 111.152).  See Heinrich Schmid (Ed.), Doctrinal Theology of the Evangelical Lutheran Church, Minneapolis 1899, 624– 663; Heinrich Heppe (Ed.), Reformed Dogmatics Set Out and Illustrated from the Sources, Grand Rapids,1978, 695 – 712; John W. Beardslee III (Ed.), Reformed Dogmatics, Grand Rapids 1977, 178 – 190 (Wollebius).  For the Lutheran rejection of “Chiliasm” see Schmid 1899, 650 – 653 (n. 12); for the end of the world, see 655 – 656 and Heppe, 1978, 706 (n. 12). As Markus Mühling has pointed out, the Augsburg Confession in its rejection of the Radical Reformers (Schwärmer) had already (in XVII) rejected Chiliasm ( see Markus Mühling, T & T Clark Handbook of Christian Eschatology, London 2015, 6).

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tions [christlich frommen Gemützustände] set forth in speech” ¹⁴, how can there be doctrines of the Return of Christ, the Resurrection of the Body, the Last Judgment, and Eternal Blessedness? They would appear to be excluded from Schleiermacher’s dogmatics on methodological grounds, for they are not matters of current religious experience. For Schleiermacher, the procedure of the Old Protestant dogmaticians (to argue for a doctrine solely on the basis of scripture passages deemed authoritative and epistemologically secure) is not viable. If the question of how Schleiermacher can have an eschatology is obvious, the question of why he should even attempt it is not far behind. Yet Schleiermacher eventually does discuss four eschatological doctrines: the Return of Christ, the Resurrection of the Flesh, the Last Judgment, and Eternal Blessedness.¹⁵ Only, it turns out that they are not doctrines in the strict sense, but “prophetic doctrines (prophetische Lehrstücke)”¹⁶. To properly understand Schleiermacher’s treatment of eschatological concepts, it is essential to observe the placement of eschatology in the Glaubenslehre and to understand his justification for eschatology and its unique cognitive status. Eschatological ideas appear in the second section of the explication of the consciousness of grace, “The Constitution of the World in Relation to Redemption.” What this means is that they appear within Schleiermacher’s doctrine of the Church. Why do they belong there? The doctrine of the Church is organized into three divisions: the Origin (Entstehen) of the Church, the Subsistence (Bestehen) of the Church alongside the World, and the Consummation (Vollendung) of the Church. Eschatology appears within the third division, so what is at stake in eschatological ideas is the consummation of the church. Why should the “consummation of the church” be derivable from the pious selfconsciousness? At the very outset of his discussion Schleiermacher admits that propositions concerning this topic are odd: “The affirmations of our self-consciousness […] about the consummation of the Church, if indeed there are any, are certainly only most unreliable ones”.¹⁷ Neither the personal experience of growth in sanctification, nor the corporate feeling that the Church is gradually growing out of the world, warrants confidence in consummation. Yet the presentiment (Vorgefühl) of consummation suffices, Schleiermacher holds, to justify eschatological thinking as “necessary and natural”.¹⁸ Yet we are here at the “limit of Christian doctrine”.¹⁹

 See Schleiermacher 1928, §15, 707– 720 (n. 8).  See Schleiermacher 1928, §§160 – 163, (n. 8). Eternal damnation is relegated to an appendix.  Schleiermacher 1928, §157.2, 697 (n. 8).  Schleiermacher 1928, §114.1, 529 (n. 8). “Aber über die Vollendung der Kirche können wir, wenn ja irgend welche, doch gewiß nur sehr unzuverläßige Aussagen unseres Selbstbewußtseins aufstellen.” (Schleiermacher 2003, KGA I/13,2, 235, 3 – 5 [n. 8]).  Schleiermacher 1928, §114.1, 530 (n. 8).  Schleiermacher 1928, §114.2, 531 (n. 8).

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A more robust theological justification for eschatological thinking is developed in the introductory propositions to the consummation of the Church.²⁰ To be sure, the first proposition does not appear to be very promising: “Since the Church cannot attain to its consummation in the course of human life on earth, the representation of its consummated state is directly useful only as a pattern [Vorbild] to which we have to approximate”).²¹ “Useful as a pattern” does not offer more than a pragmatic reason for the desirability of eschatology, and does not do anything to warrant its possibility. But suddenly in §157.1 a theological justification appears: “The Holy Spirit, as the common vital principle of the Church, is of itself the sufficient reason of this consummation”.²² The Christian consciousness of Redemption through Christ, with the doctrine of the Holy Spirit that derives from it along with convictions concerning the divine decree, warrant the belief that the Church will attain consummation, although not “in the course of human life on earth.” In other words, although there can be no present experience of consummation, belief in the consummation of the Church is the necessary and consistent consequence of the Christian consciousness of redemption. One major (although very general) eschatological idea, the consummation of the Church, is established by the argumentation of §157.1. Although the idea is warranted in the economy of the system as a whole, an epistemological reservation decisively qualifies it: “Strictly speaking […] we can have no doctrine of the consummation of the Church, for our Christian consciousness has absolutely nothing to say regarding a condition so outside our ken”.²³ Well, perhaps not absolutely nothing: the consummation of the Church must mean that all opposition to the activity of the Holy Spirit is overcome, sin will have no influence on the life of the Church (and thus procreation, the bringing into existence of new, sinful persons, will have ceased), and Christianity will have “spread over the whole world, in the sense that no other religion survives as an organized fellowship”.²⁴ Still, the status of the eschatological doctrines is unlike that of all the other doctrines in the Glaubenslehre, so Schleiermacher gives them a unique designation. They are “prophetic doctrines”: “their content (as transcending our faculties of apprehension) is not a description of our actual consciousness.”²⁵ §158 introduces a second major eschatological idea: belief in immortality. Why should belief in immortality have a place in a Christian Glaubenslehre? The discussion is rather intricate, as Schleiermacher considers and rejects various reasons for

 Schleiermacher 1928, §§157– 159 (n. 8).  Schleiermacher 1928, §157, 696 (n. 8).  Schleiermacher 1928, §157, 696 (n. 8).  Schleiermacher 1928, §157.2, 697 (n. 8).  Schleiermacher 1928, §157.1, 696 (n. 8). On this last theme, see also §13.1 (Christ “alone is destined gradually to quicken the whole human race into higher life”) and §93.1 (“all other religious communities are destined to pass over into this one”).  Schleiermacher 1928, §157.2, 697 (n. 8).

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believing in immortality, such as that there are good rational arguments for immortality, or that human immortality is intrinsic to the God-consciousness. Belief in immortality was a common feature of most forms of rational religion that emerged in the Enlightenment; consider Deists such as Matthew Tindal²⁶, or the role of immortality in Kant’s moral philosophy and rational religion.²⁷ Schleiermacher’s reasoning is quite different from theirs: the reason for Christian belief in immortality is Christological. “Belief in the immutabilty of the union of the divine essence with human nature in the Person of Christ contains in itself belief in the persistence of human personality.”²⁸ The Redeemer ascribes such survival [of personality] to Himself in everything that He says about his return or reunion with His people; and (since He can say these things of Himself as a human person, because only as such could he have fellowship even with His disciples) it follows that in virtue of the identity of human nature in Him and in us, the same must hold good of ourselves.²⁹

Jesus’ teaching contains his conviction of his own survival of death; given the identity of human nature in him and in us, human beings can all look forward to immortality. (Schleiermacher goes on to argue that various rebuttals, such as the argument that Christ’s immortality is by virtue of his divine nature, fall into the heresies of docetism or manichaeism.) What is significant here is that the introductory propositions to “The Consummation of the Church” have developed arguments to justify two central ideas: the consummation of the Church and human immortality. These are the ideas that matter to Schleiermacher. What, then, does he do with the four (or five) eschatological ideas that he has inherited from the tradition: the Return of Christ, the Resurrection of the Flesh, the Last Judgement, Eternal Blessedness (and Eternal Damnation)?

2 Schleiermacher’s Interpretation of the Eschatological Doctrines “The solution of these two problems, to represent [darzustellen] the Church in its consummation and the state of souls in the future life, is attempted in the ecclesiastical doctrines of the Last Things; but to these doctrines we cannot ascribe the same value

 Matthew Tindal [1730], “Christianity as Old as the Creation”, in: Deism and Natural Religion. A Source Book , ed. by E. Graham Waring, New York 1967, 118.  Immanuel Kant, Critique of Practical Reason, trans. by Lewis White Beck, New York 1956, 126 – 128; Immanuel Kant Religion within the Limits of Reason Alone, trans. by Theodore M. Greene / Hoyt B. Hudson, New York 1960, 62.117.119.125 – 126.149.  Schleiermacher 1928, §158, 698 (n. 8).  Schleiermacher 1928, §158.2, 700 (n. 8).

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as to the doctrines already handled.”³⁰ In the final introductory proposition to the eschatological doctrines, Schleiermacher shows how eschatology enters his Glaubenslehre. What is primary are the two problems or issues derived in §§157– 158, the consummation of the Church and the survival of the personality. The “ecclesiastical doctrine of last things” is how the tradition has dealt with those two issues. Thus Schleiermacher’s procedure will be to take up “those thought-forms [Vorstellungsweise] which early became prevalent in the Church and passed over into our confessions”.³¹ As pointed out above, he considers them under the title of “prophetic doctrines”, but here he clarifies what they are: “merely […] the efforts of an insufficiently equipped faculty of premonition” (nicht hinreichend unterstüzten Ahnungsvermögens).³² The thought-forms themselves, although found in the New Testament, are not (contrary to the views of Protestant orthodox theologians) themselves revealed; rather they are the products of the human “faculty of premonition.” The structure of Schleiermacher’s discussion of eschatology is common to other places in the Glaubenslehre and is the key to grasping his method of doctrinal criticism. First Schleiermacher develops his own distinctive constructive theological conceptuality and convictions based upon his analysis of the Christian self-consciousness. Then he takes up traditional creedal and doctrinal language and assesses it critically. For example, in the introduction to the doctrine of sin (§§66 – 69) Schleiermacher develops an analysis of sin articulated in his own distinctive conceptuality; in the doctrinal section (§§70 – 74) he comes critically to terms with traditional Church doctrines. Similarly, with respect to Christology, the introductory sections (§§86 – 95) develop Schleiermacher’s analysis in his distinctive conceptuality, then the doctrinal sections (§§96 – 99) make connections to the traditional doctrines. Schleiermacher explains his procedure in §95: “The task of the critical process is to hold the ecclesiastical formulae to strict agreement with the foregoing analysis of our Christian self-consciousness, in order, partly, to judge how far they agree with it at least in essentials, partly (with regard to individual points) to inquire how much, on the other hand, had better be given up.”³³ This characterization of Schleiermacher’s doctrinal criticism of Christology applies to his doctrinal criticism throughout the Glaubenslehre. Christian doctrines are measured against the analysis of the Christian self-consciousness. Doctrines that, although traditional, do not pass that test, had “better be given up.”³⁴ The same “critical procedure” is followed with respect to eschatology. “Hence there is nothing for it that we should bring up those thought forms [Vorstellungswe-

 Schleiermacher 1928, §159, 703 (n. 8).  Schleiermacher 1928, §159.2, 706 (n. 8).  Schleiermacher 1928, §159.2, 706 (n. 8).  Schleiermacher 1928, §95.2, 390 (n. 8).  Thus Schleiermacher’s own distinctive formula for the unique dignity of the Redeemer (§94) is connected to his harsh criticism of the traditional two-natures doctrine (§96) which he finds to be “unsuitable” and “difficult” and to lead to “subtle inanities” (Schleiermacher 1928, §96.3, 398 [n. 8]).

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ise] which early became prevalent in the Church and passed over into our Confessions without being submitted to fresh scrutiny […] adding reasons for and against”.³⁵ As already argued, Schleiermacher finds that in the doctrines of Last Things “something is being attempted here which cannot be secured by doctrines [Glaubenssätze] proper in our sense of the word”.³⁶ Hence the caveat in proposition §159 that the eschatological doctrines do not have the “same value” as other doctrines. Schleiermacher takes an additional clarifying step, however. The eschatological doctrines treat the two points (“personal survival and the consummation of the Church”) “in a picture appealing to the sensuous imagination [in einem sinnlich aufzufassenden Bilde]”.³⁷ Schleiermacher is clear that we have to do here with imaginative pictures. Notice the use of the terms imagination or fantasy (Fantasie) in §159.2 and picture (Bild) in §159.3. Further terms in §159.2 include “sensory power of imagination” (sinnliche Einbildungskraft) and “faculty of premonition” (Ahnungsvermögen), which point to the non-literal character of talk of “Last Things.” This placing of eschatological language will allow Schleiermacher the freedom not to interpret them literally, but nevertheless to find meaning in them. The sources of these eschatological images (Vorstellungen) are the New Testament and the Creeds/Confessions. Schleiermacher sorts them out in §159: “The survival of the personality […] is represented under the figure [unter dem Bilde] of the resurrection of the flesh.”³⁸ The consummation of the Church is represented under two images – the Last Judgment and eternal blessedness. Eternal damnation is also a representation developed in the tradition, but already in introducing it Schleiermacher indicates his critical stance: “as this last pictorial representation is not an anticipation of any object of our future experience, it cannot be given the form of a special doctrine […].”³⁹ “These separate pictures fit together into a single imaginative picture” through the fact that the “new form of existence is conditional upon the return of Christ;” hence that idea is treated first.⁴⁰ In setting up his discussion of the doctrine of Last Things, Schleiermacher has not only reinforced the point previously made in §157 that they are not doctrines in the strict sense. He has also insisted that they are figurative representations of the two ideas that matter–the consummation of the church and the survival of the personality. Given this set up, how does Schleiermacher carry out the hermeneutical and critical tasks with respect to each doctrine?

     

Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher

1928, 1928, 1928, 1928, 1928, 1928,

§159.2, 706 (n. 8). §159.1, 703 (n. 8). §159.3, 706 (n. 8). §159.3, 706 (n. 8). §159.3, 706 (n. 8). §159.3, 706 – 707 (n. 8).

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2.1 The Return of Christ (§160) Does Schleiermacher’s Glaubenslehre affirm in the literal return of Christ? The end of §160 states, “We teach ‘a return of Christ for judgment.’”⁴¹ In what sense does Schleiermacher teach a return of Christ? In the case of all four of the prophetic doctrines, Schleiermacher shows how the New Testament imagery and creedal language generate an impasse, technically an aporia.⁴² In three cases, Schleiermacher proceeds constructively by stating “the essential content” of the proposition; the essential content discards the literal meaning yet retrieves a non-literal meaning. If the traditional doctrines may rightly be termed “mythical,” in each case Schleiermacher may be said to be engaged in demythologizing the eschatological doctrines.⁴³ In considering the return of Christ Schleiermacher begins his discussion by pointing to passages in the Synoptic Gospels and John which he takes as words of Jesus promising his return. He also cites language in the epistles as evidence of the early Christians’ expectation of a return of Christ distinct from his resurrection. Finally, he adduces language from both ecumenical and Protestant confessions demonstrating the expectation of Christ’s return, e. g. “and from heaven the same Christ will return in Judgment” (2nd Helvetic Confession XI).⁴⁴ In §160.2 Schleiermacher very quickly reaches the conclusion that the New Testament passages are not to be taken literally. The argument is not developed in detail (his reasoning is summarized as “owing to the dates they fix” or “on account of their predominantly ethical tone”). If one tries to take them literally “there is much else in the context which cannot be taken literally on any terms.” Schleiermacher concludes that “all that might go to form a definite picture falls asunder.” Here is the first eschatological aporia: there is no way to consistently conceive of the return of Christ. It is surprising how abbreviated Schleiermacher’s argument to this conclusion is.  Schleiermacher 1928, §160, 707 (n. 8).  “A philosophical puzzle or a seemingly insoluble impasse in an inquiry, often arising as a result of equally plausible yet inconsistent premises.” Definition from the Wikipedia article “Aporia” (https://en.wikipedia.org/wiki/Aporia, accessed 1/8/2016). Other scholars have used the term “aporia” with respect to Schleiermacher’s eschatology. In his study, Nico F.M. Schreurs takes note of (and explicitly uses the term) aporias in Schleiermacher’s eschatology. See his article “‘Keine festbegrenzte und wahrhaft anschauliche Vorstellung’. Schleiermachers Schwierigkeiten mit dem Lehrstück von der Auferstehung des Fleisches”, Freiburger Zeitschrift für Theologie und Philosophie 38 (1991), 27– 56; see p. 35 and passim. In his detailed study of Schleiermacher’s eschatology, Martin Weeber also identifies aporias in Schleiermacher’s discussion; see Martin Weeber, Schleiermacher’s Eschatologie: eine Untersuchung zum theologischen Spätwerk, Gütersloh 2000, 172 and passim.  Schleiermacher of course does not use this word that Rudolf Bultmann later made current. But see his discussions of the “mythical” in the “Postscript to the Prophetic Doctrines,” to be discussed below. Schreurs (1991, 37 [n. 17]) uses the term “demythologized” in interpreting Schleiermacher’s conception of the resurrection of the dead. Martin Weeber (2000, 74– 77 and passim [n. 17]) also suggests (without using the term) that Schleiermacher is in effect demythologizing eschatology.  Book of Confessions 1999, 111 (n.11).

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“Apart from this literal exegesis we have no Biblical warrant for the position that the reunion of believers with Christ (which is the essential content of our belief in personal survival) is conditional on such a personal Return” of Christ.⁴⁵ It appears that a literal return of Christ is not required either by the biblical witness or by the inner dynamics of the Christian self-consciousness. The significance of the aporia is that it constitutes a kind of roadblock: Christian doctrine cannot proceed further down the path of a literal, bodily return of Christ to the spatial and temporal world. Significantly, the aporia is not grounded in problems of coherence with modern conceptions of history or with natural science, but by inner problems of coherence. After considering the various problems, Schleiemacher does undertake a constructive theological statement: “the essential content of our paragraph [Satz: more properly “proposition”] is that the consummation of the Church […] is possible only through a sudden leap to perfection […] and that, therefore, this leap to perfection must simply be regarded as an act of Christ’s kingly power.”⁴⁶ Schleiermacher’s constructive statement does not echo the language of the proposition. It turns out that “we teach ‘a return of Christ for judgment’” does not have the literal meaning of a physical Christ returning on the clouds at the end of time. (How Schleiermacher interprets “judgment” will be investigated below). A literal apocalyptic scenario is not at stake. Yet the consummation of the Church does entail a “leap to perfection” (rather than a gradual development) accomplished by the “kingly power” of Christ. If this is demythologizing of a sort, it is at best a partial demythologizing, for it presupposes the on-going existence of Christ (in some unclarified sense) and the exercise of divine power.

2.2 The Resurrection of the Flesh (§161) In §158 Schleiermacher already established belief in the survival of death as an essential component of the Christian faith. Proposition 161 makes a strong claim for the resurrection of the dead: Christ sanctioned it, and it is a “perfectly natural extension” of his teaching “ to say that the general awakening of the dead will in a sudden manner interrupt the usual course of human life on earth”.⁴⁷ Yet close attention to this second prophetic doctrine generates a number of aporias. The first step in Schleiermacher’s consideration of this doctrine takes a firm stand against the orthodox Protestant (and rationalistic) view of the immortality of the soul. In modern terminology, he argues for the psycho-somatic unity of human persons: “we really cannot form the idea of a finite spiritual life apart from that of

 Schleiermacher 1928, §160.2, 708 (n. 8).  Schleiermacher 1928, §160.2, 708 (n. 8).  Schleiermacher 1928, §161, 709 (n. 8).

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a bodily organism”.⁴⁸ In a few lines and without comment Schleiermacher has jettisoned the orthodox Protestant scenario of the separation of soul and body at death and the immediate transposition of the immortal soul to heaven or hell.⁴⁹ The survival of the personality must entail the resurrection of the flesh. But two problems swiftly emerge from a consideration of the idea of resurrection: the problem of the identity of persons and the consistency of the survival of persons and the consummation of the church. On the one hand, the survival of the personality after death requires the identity of the pre- and post-resurrection body, but the qualities of the resurrection body (as immortal and without sex) are inimical to that identity. On the other hand, the complete identity of pre- and post-resurrection persons is inimical to the consummation of the Church (which requires a break in continuity). “Hence the different ideas cannot be combined in an idea capable of clear representation.”⁵⁰ The second topic Schleiermacher takes up (in §161.2) concerns the question of the intermediate state of persons between their death and “the general and simultaneous resurrection of all men”⁵¹. Schleiermacher considers several possibilities: a “sleep of the soul” or a conscious state (which, given the Protestant rejection of purgatory would have to be conceived as fellowship with Christ). The latter option makes resurrection “superfluous”.⁵² Given the difficulties, “some have taken the simultaneous general resurrection in a merely figurative sense […] for each individual the future life begins immediately after death”.⁵³ The bottom line is that the issues are irresolvable: one ends up “wavering between the more Biblical idea […] and the less Biblical view.”⁵⁴ A third problem, more briefly treated (§161.3), concerns the nature of the resurrection body, whether it is identical for all, or differentiated between those destined for eternal blessedness and those destined for perdition, and how this differentiation relates to the Last Judgment. Again the problems are irresolvable: “Taking all these considerations together, we find that the various ideas of how the future life is attached to the present are incapable of being made perfectly definite.”⁵⁵ As was the case in the previous proposition, Schleiermacher’s discussion generates aporias. Again, it is noteworthy that the problems are all internal to the doctrines: they do not arise from a collision with natural science or from general considerations of credibility, but are generated by tensions internal to the classic teachings. Despite all the problems, Schleiermacher finds “the essential content of the doctrine” to be that “All […] human individuals too can look forward to a renovation of

       

Schleiermacher 1928, §161.1, 709 (n. 8). See, for example, the Second Helvetic Confession XXVI (Book of Confessions 1999, 152 [note 8]. Schleiermacher 1928, §161.1, 711 (n. 8). Schleiermacher 1928, §161.2, 711 (n. 8). Schleiermacher 1928, §161.2, 712 (n. 8). Schleiermacher 1928, §161.2, 712 (n. 8). Schleiermacher 1928, §161.2, 712 (n. 8). Schleiermacher 1928, §161.3, 713 (n. 8).

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organic life which has links of attachment to our present state.”⁵⁶ To say anything more about the future life would be unwarranted speculation from which, consistent with his method, Schleiermacher abstains. Yet he concludes, “the development of the future state must be posited on the one hand as dependent on Christ’s divine power and on the other hand as a cosmic event for which arrangements have been made in the universal divine order.”⁵⁷ This would seem to want to have it both ways: the first alternative apparently invoking the exercise of supernatural power, the second consistent with religious naturalism. At any rate, there are two basic convictions under this heading: human personality does survive death, and that future afterlife will be corporeal. More than this, Schleiermacher does not think one can conclude. Nor does he press the question of the credibility of this conclusion. The “essential content” of this doctrine remains in continuity with the notion that human personality survives death.

2.3 Last Judgment (§162) Schleiermacher’s discussion of the doctrine of the Last Judgment exhibits the same pattern as his discussions of the previous eschatological doctrines. He treats the Last Judgment as an image or representation (Vorstellung). A close examination shows it to be fraught with unresolvable problems (aporias). His own constructive statement of the doctrine in effect demythologizes it: its essential meaning is far removed from the image of each person standing before the judgment seat of Christ to be accepted into eternal blessedness or condemned to eternal damnation. Rather, the image of the Last Judgment is “meant to set forth the complete separation of the Church from the world”.⁵⁸ The first step in Schleiermacher’s argument takes up the notion of Last Judgment understood as the separation of believers from unbelievers and argues for the thesis that it “does not at all involve the consummation of the Church”.⁵⁹ If resurrected persons are in continuity with their old selves, they would still be influenced by sin. “The regenerated must discard those elements of sinfulness and carnality which still cling to them.”⁶⁰ This process can only occur through living fellowship with the Redeemer; an external separation won’t get the job done. Origin’s alternative interpretation, that the separation in question is an inner separation, entails further difficulties: if the completion of sanctification, which is what is at stake here, is instantaneous, then it is “something magical, which, had it only been applied to each individual earlier, would have made superfluous the whole redemption that depends     

Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher

1928, 1928, 1928, 1928, 1928,

§161.3, 713 (n. 8). §161.3, 713 (n. 8). §162, 713 (n. 8). §162.1, 714 (n. 8). §162.1, 714 (n. 8).

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on living fellowship with Christ”.⁶¹ He concludes, “one of these two things [i. e. sudden, unmediated, magical completion of sanctification or redemption through fellowship with Christ; W.W.] must exclude the other.”⁶² Nor does the third alternative implicit in 1 John 3:2 (“the perfect knowledge of Christ consequent upon his return”) provide a way out; it, too, is fraught with difficulties.⁶³ Thus whichever way one turns in interpreting the Last Judgment, irresolvable problems appear. Schleiermacher advances this line of argument in the next section (§162.2) by showing that the notion of “a separation between persons” is “better fitted to bring about the blessedness of believers in the new life than their perfection”.⁶⁴ The details of the argument need not detain us further. Schleiermacher’s conclusion is striking: “The separation contemplated at the Last Judgment remains, even from this point of view, both inadequate and superfluous”.⁶⁵ Theologically, Schleiermacher has brought his readers to an impasse: “The idea of the Last Judgment, then, we are unable to state in a final form which perfectly satisfies both demands”.⁶⁶ What, then, is the essential meaning of the doctrine of the Last Judgment? Schleiermacher finds two meanings: “Once our fellowship with Christ has been perfected, we are completely freed from evil.” Even though evil persons and evil things are present, “both as such are for us non-existent.” The consciousness of the believer “can embrace nothing but the untroubled and unimpeded fullness of divine grace”).⁶⁷ In short, the consummation of redemption is blessedness. Second, “if we conceive the Church as consummated, but at the same time suppose that there still exists a part of the human race which has not been captured and pervaded by its spirit, such a supposition is possible only on the assumption that the part in question is completely isolated from all influences issuing from the Church, which means shut off from all contact with it”.⁶⁸ Schleiermacher has found the idea of a last judgment in any literal sense (what we might call a mythological idea) to be untenable. His reconstruction on the one hand invokes his understanding of blessedness (a state of consciousness untroubled by evil) and, on the other hand, points to a state of the consummation of the Church where the only human beings who remain outside of the Church are those who never had any contact with it whatsoever.

 Schleiermacher 1928, §162.1, 714 (n. 8).  Schleiermacher 1928, §162.1, 714 (n. 8).  See Schleiermacher 1928, §162.1, 713 – 714 (n. 8).  Schleiermacher 1928, §162.2, 715 (n. 8).  Schleiermacher 1928, §162.2, 716 (n. 8).  Schleiermacher 1928, §162.3, 716 (n. 8). Presumably the two demands are for the consummation of the Church and the perfection of believers.  Schleiermacher 1928, §162.3, 717 (n. 8).  Schleiermacher 1928, §162.3, 717 (n. 8).

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2.4 Eternal Blessedness (§163) The last of the prophetic doctrines is Eternal Blessedness (Seligkeit): “From the resurrection of the dead onwards, those who have died in fellowship with Christ will find themselves, through the vision of God, in a state of unchangeable and unclouded blessedness.”⁶⁹ In discussing the concept of eternal blessedness, Schleiermacher considers two logical possibilities: either that state is a “sudden and unvarying possession of the highest,” or it is “a gradual ascent to the highest”.⁷⁰ Both alternatives are beset with irresolvable difficulties. A sudden consummation at the resurrection would break all continuity with previous life. Moreover, “a perfection incapable of any further increase” makes it “embarrassingly difficult to imagine how this being, now deprived of every object for its activity, could express its perfection”.⁷¹ In short, a life of such perfection (without anything to do) is inconceivable. The alternative, a gradual ascent to the highest, is no less objectionable. Since persons differ from one another, such a gradual ascent would entail “inequalities and variations,” a “sense of imperfection,” and the “antithesis of pleasant and unpleasant.”⁷² “This makes it clear that what we have conceived in this form is not the consummation of the Church, but merely a gradual self-amending and self-purifying repetition of the present life.”⁷³ As for the content of the state of eternal blessedness, “the usual answer is to say that eternal life will consist in the vision of God.”⁷⁴ Schleiermacher interprets this idea in his own characteristic conceptuality to mean “the completest fulness of the most living God-consciousness”⁷⁵. But once again this state is literally inconceivable. Schleiermacher constructs his argument by considering two alternatives: either that God-consciousness is mediated or unmediated. If unmediated, “this can scarcely be harmonized with the retention of personality”.⁷⁶ To opt for the alternative and to conceive of this condition as mediated must mean that “we should steadily have knowledge of all that wherein and whereby God makes Himself known”.⁷⁷ But again it is impossible to understand “how we are to find ourselves at this point just at the resurrection without thereby imperiling the continuity and identity of our existence”.⁷⁸

         

Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher

1928, 1928, 1928, 1928, 1928, 1928, 1928, 1928, 1928, 1928,

§163 (Leitsatz), 717 (n. 8). §163.1, 717 (n. 8). §163.1, 717– 718 (n. 8). §163.1, 718 (n. 8). §163.1, 718 – 719 (n. 8). §163.2, 719 (n. 8). §163.2, 719 (n. 8). §163.2, 719 (n. 8). §163.2, 719 (n. 8). §163.2, 720 (n. 8).

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At this point, after showing how the traditional conceptuality generates irresolvable problems, one would expect Schleiermacher to come forth with “the essential meaning” of the doctrine of eternal blessedness. Instead, he boldly states that the problems are irresolvable; he offers no constructive alternative. “We therefore always remain uncertain how the state which is the Church’s highest consummation can be gained or possessed in this form by individual personalities emerging into immortality.”⁷⁹ Dogmatic theology has reached a dead end. “Eternal blessedness” and “the vision of God” are not demythologized or reinterpreted, neither are they rejected. They are just left hanging there as affirmations of Christian faith that cannot be conceptually clarified or grasped. A brief appendix considers the opposite of eternal blessedness, eternal damnation. In a single sentence Schleiermacher claims that the biblical evidence is ambiguous. Examining the idea of eternal damnation itself, Schleiermacher puts forth a number of considerations to show that it cannot be coherently conceived. His coup de grâce is to argue that, due to human sympathy, if eternal damnation exists then eternal bliss cannot. The only consistent alternative is to posit that “through the power of redemption there will one day be a universal restoration of all souls”.⁸⁰

2.5 Schleiermacher’s Postscript (Zusatz) to the Prophetic Doctrines Schleiermacher’s concluding postscript to the prophetic doctrines strikes both a note of affirmation and a note of skepticism and epistemological reserve. The affirmation is that both “the consummation of the Church and personal survival” have a proper place in the Christian consciousness.⁸¹ The note of skepticism and epistemological reserve is that “the correlation and combination of these two elements yields no firmly outlined (fest begrenzte) or really lucid idea (wahrhaft anschauliche Vorstellung).”⁸² In short, “Prophetic thought […] makes no claim to furnish knowledge in the strict sense.”⁸³ The attempt to derive conclusions about the future life from the idea of the consummated Church leads readily into the “mythical,” which Schleiermacher defines as “the historical presentation of what is supra-historical”.⁸⁴ The attempt to derive conclusions about the consummated Church from the idea of the future life leads into the “visionary,” defined as “the earthly presentation of what is

     

Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher

1928, §163.2, 720 (n. 8). 1928, §163.2, 722 (n. 8). 1928, 722 (n. 8). 1928, 722 (n. 8). 1928, 722 (n. 8). 1928, 722 (n. 8).

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more than earthly”.⁸⁵ With these concluding reflections Schleiermacher comes surprisingly close to Bultmann’s definition of the mythological: the otherworldly is presented in this-worldly terms.⁸⁶ It is not the specific, traditional eschatological doctrines that matter, but the two notions of the consummation of the Church and the survival of the personality. How they are to be conceived lies beyond the limits of the Christian self-consciousness and theological science.

3 The Limits of Schleiermacher’s Doctrinal Criticism This investigation set out to answer the question: How critical is Schleiermacher’s revisionist dogmatics? This question has lead us into the question of how Schleiermacher understands “criticism,” and in particular, how he understands and carries out doctrinal or dogmatic criticism. Along the way, a number of subsidiary questions have been asked and answered: (1) How can there be an eschatology in Schleiermacher’s dogmatics, given his theological method? (2) What is the significance of the fact that his discussion of each of the four traditional eschatological doctrines ends in aporia? (3) How does Schleiermacher interpret the “essential meaning” of each of the eschatological doctrines? There can be an eschatology because two central eschatological ideas, the consummation of the Church and the survival of the personality after death, are, according to Schleiermacher, soundly rooted in the Christian self-consciousness. The traditional eschatological ideas, derived from the New Testament and embedded in the creeds and in orthodox dogmatics, both Lutheran and Reformed, enter into Schleiermacher’s dogmatics as “the efforts of an insufficiently equipped faculty of premonition”⁸⁷ to “represent the Church in its consummation and the state of souls in the future life”⁸⁸. As such, traditional eschatological ideas are, as all other doctrines, subject to the critical theological procedure as Schleiermacher understands it.⁸⁹ In holding the “ecclesiastical formulae to strict agreement” with his “analysis of our Christian self-consciousness,” Schleiermacher finds the imaginative, figurative language of the tradition to be seriously wanting. That the discussion of each of the “prophetic

 Schleiermacher 1928, 722 (n. 8).  “That mode of representation is mythology in which what is unworldly and divine appears as what is worldly and human or what is transcendent appears as immanent [das Jenseitige als Diesseitiges erscheint], as when, for example, God’s transcendence is thought of as spacial distance.” Rudolf Bultmann, “New Testament and Mythology,” in Schubert M. Ogden, trans. and ed., New Testament & Mythology and Other Basic Writings, Philadelphia, 1984), 42, endnote 5.  Schleiermacher 1928, §159.2, 706 (n. 8).  Schleiermacher 1928, §159, 703 (n. 8).  See Schleiermacher 1928, §95.2 (n. 8).

How Critical is Schleiermacher’s Revisionist Dogmatics?

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doctrines” generates aporias is not a weakness in or mere by-product of Schleiermacher’s discussion, but rather the whole point of the critical process. Certain hermeneutical and theological options are simply not open. In this way Schleiermacher develops a discussion of eschatology that both remains within the limits of his distinctive theological method and exemplifies his dogmatic criticism. How critical is Schleiermacher’s revision of eschatology? That is, how much does he accept, where does he reject or revise the tradition? In other words, what is the balance of continuity and change in Schleiermacher’s revisionism? Schleiermacher does not engage in a wholesale jettisoning of the eschatological doctrines. In three cases he uncovers an “essential meaning” which, I have argued, is a kind of demythologizing of the traditional pictures. That is, the interpretation recognizes the figurative character of the language, moves the interpretation away from apocalyptic and literal meanings, and translates the images into affirmations and ideas whose concrete content (or real meaning) is indeterminate. The “Return of Christ” is a symbol for the on-going exercise of the Redeemer’s power and the consummation of the Church as a “sudden leap to perfection”.⁹⁰ But neither the perfection (the on-going state of existence) nor the nature of the Redeemer’s on-going life are concretely imaginable. The “Resurrection of the Flesh” means that, however the future life is to be understood, it must entail a resumption of organic life; an immaterial soul is unable to make the continuity of personality credible. But this bare affirmation raises more questions than it answers. Certainly nothing in the understanding of nature suggests how organic life can continue to exist after death; supernatural power would have to be invoked. The Last Judgment is a trope for the consummation of the Church. It symbolizes the separation of the Church from the world and a state of consciousness of individuals after death that is free from evil. But again, what does this really mean and how is it conceivable? Eternal Blessedness excludes Eternal Damnation, but how it is to be conceived is, Schleiermacher admits, beyond human ken. What we see in Schleiermacher’s discussion of eschatology is both continuity and change. The most radical change is his argument that none of the four doctrines if taken literally can be coherently interpreted. Each leads one into aporia. There is no literal return of Christ. There is no eternal damnation, but rather the “universal restoration of all souls”.⁹¹ The way forward is to recognize that eschatological doctrines are tropes which must be demythologized if contemporary Christian meaning is to be retrieved from them. Yet it cannot be said that Schleiermacher’s attempted reinterpretations are clearly successful. Human consciousness endures after death in bodily form. Fellowship with Christ continues. The Christian Church alone attains perfection. Are these assertions credible? Emanuel Hirsch judges Schleiermacher’s discussion of eschatology very harshly: “Nothing is more painful than seeing a relentless and sincere thinker arrive at the

 Schleiermacher 1928, §160.2 (n. 8).  Schleiermacher 1928, 722 (n. 8).

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point where, because he lacks the firmness to say a clear ‘No,’ he seeks to make ideas and images, that he himself considers to be mythical and visionary, somehow acceptable by means of dialectics and torturous exposition hemmed in with reservations.”⁹² Schleiermacher’s demythologizing revisionism points the way to the possibilities of a dogmatic criticism that results in doctrines that are both credible and appropriate.⁹³ His conservative affirmations of the consummation of the Church and the survival of the personality suggest the limitations of his criticism, and point the way towards the desirability of more radically revisionist contemporary theologies. “In a few places [one] will have to ask whether Schleiermacher’s knife has cut deeply enough.”⁹⁴

 Emanuel Hirsch, Geschichte der neueren evangelischen Theologie, Bd. 3, Gütersloh 1964, 319. I find myself unable to improve upon John Wallhausser’s translation of this passage, and so have quoted it here: Martin Redeker, Schleiermacher. Life and Thought, trans. by John Wallhausser, Philadelphia 1973, 148.  Schubert Ogden argues for appropriateness and credibility as criteria of theological adequacy in On Theology, San Francisco 1986, 1– 21, esp. 4– 7.10 – 13.  Hirsch 1964, 330 (n. 92).

Marianne Schröter / Halle/ Lutherstadt Wittenberg

Der Begriff der Kritik bei Johann Salomo Semler

Dass zu einem Internationalen Schleiermacher-Kongress, der die Trias Pluralität – Subjektivität – Kritik in den Blick nimmt, auch Überlegungen zum Kritik-Begriff und der kritischen Methode bei Johann Salomo Semler, dem seiner Lehrer-Generation zugehörigen Hallenser Aufklärer, begegnen, hat Gründe in der Sache: Zum einen ist es interessant und für die Erfassung von Schleiermachers Verständnis von Kritik aufschlussreich, einen Blick auf die theologische Stimmung und das geistige Klima zu werfen, denen der junge Schleiermacher während seiner Studienzeit in Halle begegnete. Es ist kaum vorstellbar, dass er die theologischen Vorlesungen ganz gemieden und sich ausschließlich auf das philologische und philosophische Studium bei Friedrich August Wolf und Johann August Eberhard konzentriert hätte, wie es im Gefolge des pointierten Diktums Wilhelm Diltheys, Semler sei für den jungen Studenten uninteressant, weil alt und „in alchymistische Träumereien ganz versunken“¹ gewesen, vielfach weitergeschrieben wurde.² Zu nahe liegen nicht wenige thematische Schwerpunktsetzungen und methodische Prämissen. Ich nenne hier nur die Auffassung der biblischen Schriften als Produkte menschlicher Autoren, das Verständnis des kirchlichen Lehrbegriffs als eingebunden in einen geschichtlich-dynamischen Prozess oder das Einstellen von Exegese und Dogmatik in ein Konzept historischer Theologie. Zu diesen Parallelen gehört gerade auch der Stellenwert, den beide der Kritik als Grundverfahren theologischer Arbeit zumessen. Zum anderen ist Semler als Bezugsautor deswegen so interessant, weil er einer konsequenten kritischen Arbeit in allen theologischen Arbeitsfeldern entscheidende Bedeutung zumisst. In seiner Autobiographie von 1782, wo er auf seine akademischen Anfangsjahre zurückblickt, schreibt er: Hiebey, habe ich sehr oft ein grosses Misvergnügen darüber empfunden, daß doch in dem ganzen protestantischen Teutschland […] der so grosse Theil neuer schöner Kenntnisse und Beobachtungen, der unter dem Namen Critik begriffen ist, […] beinahe ganz felen muste; der doch allein das schwerfällige und unfruchtbare, das sich unter dem Namen eines theologischen Systems so sehr lange ausgebreitet und viele gute Köpfe und edle fromme Gemüter ganz niedergedrückt hat, zu hindern und zu schwächen im Stande gewesen wäre.³

 Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers, Bd. 1, Berlin 1870, 31.  Vgl. dagegen die Beschreibung eines positiven Beziehungsverhältnisses zu Schleiermacher bei Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 4, Gütersloh 1952, 88 – 89 und Gottfried Hornig, „Schleiermacher und Semler: Beobachtungen zur Erforschung ihres Beziehungsverhältnisses“, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß 1984, Bd. 2, hg.v. Kurt-Victor Selge, Berlin / New York 1985, 875 – 897.  Johann Salomo Semler, Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt, Bd. 2, Halle 1782, 124– 125. https://doi.org/10.1515/9783110569520-039

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Marianne Schröter / Halle/ Lutherstadt Wittenberg

Die kritische Methode gilt Semler – so wird hier deutlich – geradezu als Ermöglichungsbedingung einer Neuaufstellung der wissenschaftlichen Theologie, die er als Aufgabe seiner Zeit und auch seines eigenen Schaffens versteht. Und daher unternimmt er es, das kritische Verfahren auf alle theologischen Felder und Disziplinen anzuwenden. Ein erstes Indiz für ein solches Programm findet sich im Titel eines 1750 im Rahmen der sog. Englischen Welthistorie Siegmund Jacob Baumgartens veröffentlichten Aufsatzes, wo der erst 25-jährige die gerade unternommene Untersuchung methodisch als Historische und critische Erläuterung überschreibt⁴ – und damit weit über die evangelische Theologie hinaus sprachbildend wirkte. Ich möchte im Folgenden Semlers kritische Untersuchungen im Bereich von Exegese, Kirchengeschichte und Dogmatik knapp nachzeichnen und schließlich einen Begriff von Kritik skizzieren, der auf eine wissenschaftliche und praktische Selbstaufklärung der christlichen Religion fokussiert.

1 Die bibelkritischen Arbeiten Wiederum in dem biographischen Rückblick auf seine Anfangsjahre als Professor in Halle findet sich die grundsätzliche Prämisse: „Denn, daß die besondre Uebung und Geschicklichkeit, welche man Critik nent, durchaus bey der Bibel nicht solle und dürfe angewendet werden, so nützlich sie bey allen alten menschlichen Büchern immer seyn möge; habe ich mir durchaus nicht beibringen lassen.“⁵ Bezüglich der methodischen Herangehensweise zur Erschließung des ursprünglichen Textes unterscheidet sich die Bibel als religionsgeschichtliche Urkunde des Altertums für Semler also nicht von anderen dem Bereich der antiken Vorstellungswelt zugehörenden Schriften. Mit der aus dieser Einsicht folgenden Loslösung von jedweden dogmatischen Prämissen hat er der Exegese zum Status einer selbständigen Disziplin innerhalb des theologischen Fächerkanons verholfen. Eine genaue Sprachkenntnis begründet dabei die bibelkritische Kompetenz. Semler weist den vergleichenden philologischen Studien – hier ganz in den Bahnen des Halleschen Pietismus – eine Grundlagenfunktion für den Umgang mit den Offenbarungsurkunden zu. Natürlich fordert er das Beherrschen der biblischen Grundsprachen, aber auch weiterer verwandter Sprachen wie Aramäisch, Arabisch, Syrisch, Äthiopisch, Punisch, Persisch oder Koptisch.⁶ Dieser umfangreiche Katalog wird ergänzt durch Englisch, Französisch und Italienisch, um die aktuelle exegetische

 Johann Salomo Semler, „Historische und critische Erleuterung des so genannten Canons des Ptolemäus“, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Samlung von Erleuterungsschriften und Zusätzen zur algemeinen Welthistorie, Bd. 3, Halle 1750, 103 – 292, hier 103.  Semler 1782, 125 (Anm. 3).  Vgl. Johann Salomo Semler, Versuch einer nähern Anleitung zu nützlichem Fleisse in der ganzen Gottesgelersamkeit für angehende Studiosos Theologiae, Halle 1757, 115 – 116.

Der Begriff der Kritik bei Johann Salomo Semler

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und kanonkritische Literatur frei und selbständig rezipieren zu können.⁷ Semler empfiehlt zur Verbesserung der Sprachkompetenz, sich über lexikalische Verzeichnisse einen Überblick über die Bedeutungsvarianten bestimmter Wendungen oder Redensarten einer Sprache zu einer bestimmten Zeit zu verschaffen.⁸ Die Kontextualisierung eines Ausdrucks soll dabei mehrfach gestuft geschehen, zunächst im Zusammenhang der Stelle, dann des Buches, der Literaturgattung und schließlich auch unter Einbeziehung paganer Vergleichsschriften. Ziel dieser Vorgehensweise ist es, zwischen allgemeinen Ausdrucksformen, die die jeweilige Zeit prägten, und der spezifischen Sprachart eines Autors unterscheiden zu können. Eine solche sprachlich-philologische Erschließung des Textes wird sogleich eingebunden in die Wahrnehmung seiner Geschichtlichkeit gemäß Entstehung und Überlieferung. Es geht Semler um die Erhellung der „wirklichen Historie“⁹ eines Textes. Und so ist sein Oeuvre gekennzeichnet von einer Fülle von textgeschichtlichen und überlieferungsgeschichtlichen Detailstudien. Auch hier betritt er nach seiner Einschätzung Neuland, was den deutschen akademischen Diskurs angeht. Besonders sieht er dies für das Feld der Textkritik gegeben, wo dogmatische Bindungen oder glaubensdispositionale Prämissen ein freies Herangehen lange verhindert hätten: „Es felete unsern teutschen Gelerten geraume Zeit geradehin an allen Kentnissen, die sich auf Einrichtung und Beschaffenheit der Handschriften zu beziehen pflegten; das war immer ein Vorzug für Engländer, oder für italienische und französische Gelerten.“¹⁰ Wie aus diesem prägnant formulierten Votum hervorgeht, nimmt er für die eigene Arbeit Anregungen aus Schriften der westeuropäischen Frühaufklärung auf, die er bereits als Student zu rezipieren begonnen hatte. Unter denen, die seiner Auffassung nach zu einer historisch-kritischen Sichtung der biblischen Varianten beitrugen und so die Methode der Textkritik etablierten, nennt Semler neben Erasmus, Spinoza, William Whiston, Isaak Vossius oder Johann Clericus an prominenter Stelle den französischen Oratorianer Richard Simon. Auf textkritischem Gebiet ist vor allem Semlers Bestreitung der Echtheit des Comma Johanneum 1Joh 5,7, das der kirchlichen Trinitätslehre als dogmatische Beweisstelle galt, bedeutsam geworden. Auch zur kritischen Weiterarbeit am sogenannten Textes receptus, der dogmatisch in den Rang einer normativen Textgestalt geraten war, hat er vielfach Anregungen gegeben. Für den weiteren Fortgang der neutestamentlichen Wissenschaft maßgeblich war wohl die Durchsetzung der Literarkritik als grundlegende Methode der Exegese des

 „So leicht man denken möchte, daß die teutschen Federn fleißig genug seien, im Uebersetzen: so wenig kan man doch daneben eigne Fertigkeit in diesen Sprachen ganz und gar, ohne Schaden, entberen.“ (Semler 1757, 200 [Anm. 6]).  Vgl. Johann Salomo Semler, Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik, Bd. 1, Halle 1760, 164– 165.  Johann Salomo Semler, Neuer Versuch die gemeinnüzige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern, Halle 1786, 224.  Semler 1782, 127– 128. (Anm. 3).

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Corpus Paulinum. ¹¹ Für Semler sprechen etwa gewichtige Argumente für eine Abtrennung der Schlusskapitel 15 und 16 vom Grundbestand des Römerbriefes. Daneben äußert er Zweifel hinsichtlich der paulinischen Verfasserschaft des Hebräerbriefes – eine Infragestellung, die auch für die Authentizität des Ersten Petrusbriefes gilt. Für Semlers Arbeitsweise ist es dabei charakteristisch, dass die philologisch-kritisch begründeten Trennungen stets durch historische Argumentationen gestützt werden.¹² Mit dieser methodischen Prämisse und der von ihm vorgenommenen Differenzierung in äußere und innere Kritik hat Semler die Methode der Literarkritik bleibend geprägt, auch wenn im Bereich einzelexegetischer Entscheidungen man schon zu seinen Lebzeiten über seine Erkenntnisse hinausging. Die Abhandlung von freier Untersuchung des Canon, die einen mehrjährigen gelehrten Diskurs widerspiegelt und schließlich einen Umfang von über 1.700 Textseiten, verteilt auf vier Bände, erreichte,¹³ ist sicherlich die bekannteste kritische Untersuchung aus Semlers Feder. Hier gelangt er zu einer grundsätzlichen Infragestellung des orthodoxen Kanonverständnisses und der Verbalinspirationslehre, die er in gleichem Maße als theologische Vorurteile bezeichnet. Für den Prozess der Überlieferung des Bibeltextes ist laut Semler keine besondere providentia Dei anzunehmen; es gibt keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Überlieferung biblischer und profaner historischer Quellen. Dem Verständnis des Kanons als einer von Anfang an abgegrenzten, unveränderlichen, verbalinspirierten und daher verpflichtenden Glaubensregel wird durch den Nachweis seines relativ späten Entstehens, dem nach der geographischen Lage der Gemeinden und ihrer unterschiedlichen Glaubenstradition variierenden Umfang sowie durch dessen erst aufgrund apologetischer und organisatorischer Bedürfnisse erwachsenen Festlegung durch kirchliche Lehrinstanzen widersprochen. Für Semler darf aufgrund dieses kanonkritischen Befundes die überlieferte Sammlung Heiliger Schriften als solche nicht zum Maßstab für die heute lebenden Christen erhoben werden. Hier kommt seine scharfe Unterscheidung von Wort Gottes und Heiliger Schrift ins Spiel, die auch die Legitimität von Wertabstufungen innerhalb des biblischen Überlieferungsbestandes ermöglicht. Auf beide Sachverhalte kann im Rahmen dieses Beitrags nicht näher eingegangen werden.¹⁴ Vielmehr soll als Resümee zu Semlers bibelkritischen Untersuchungen festgehalten werden, dass für ihn die Exegese in ihrer historisch-kritischen Ausrichtung die Funktion einer Grundlagenwissenschaft einnimmt. Dabei haben sich weniger die

 Vgl. Otto Merk, „Literarkritik II. Neues Testament“, in: TRE, Bd. 21, 224– 225. Bemerkenswert erscheint, dass Semler seine literarkritischen Einsichten anhand der Exegese der Paulusbriefe und nicht etwa der Synoptiker gewinnt. Diese Beobachtung korrespondiert jedoch mit seiner generell kritischen Sicht der synoptischen Evangelien, die er demzufolge auch nicht eigens literarisch untersucht hat.  Vgl. zu diesem doppelten Begründungszusammenhang besonders Johann Salomo Semler, Paraphrasis II. Epistolae ad Corinthios, Praefatio, Halle 1776, 238, Anm. 264; 321, Anm. 366.  Vgl. zur Editionsgeschichte der Kanonschrift Marianne Schröter, Aufklärung durch Historisierung: Johann Salomo Semlers Hermeneutik des Christentums, Berlin / Boston 2012, 97– 100.  Vgl. dazu Schröter 2012, 115 – 121.148 – 154 (Anm. 13).

Der Begriff der Kritik bei Johann Salomo Semler

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einzelexegetischen Ergebnisse, als vielmehr das Programm einer konsequenten Historisierung des Überlieferungsbestandes für den Fortgang der Geschichte der Bibelwissenschaften als einschlägig erwiesen, eine Einschätzung, die August Hermann Niemeyer folgendermaßen formuliert: „Was er als Exeget geleistet, ist weit mehr aus historischer als linguistischer Forschung hervorgegangen. So hat er wenigstens in Deutschland den Grund zu der in der Folge weiter ausgebildeten historischen Interpretation gelegt.“¹⁵

2 Die kritische Bearbeitung der Kirchengeschichte Wie aus dem bisher Gesagten bereits hervorgeht, stellen kirchen-, frömmigkeits- und theologiegeschichtliche Sachverhalte die in Semlers Oeuvre bevorzugt behandelten Gegenstandsbereiche dar. Seine diesbezüglichen Untersuchungen fanden auch besondere Beachtung sowohl in der akademischen Theologie, als auch in der sich als eigenständige Disziplin etablierenden allgemeinen Geschichtswissenschaft. In den zeitgenössischen Rezensionen Semlerscher Werke wird besonders sein Beitrag zur Neubeurteilung der sogenannten historischen Hilfsdisziplinen als richtungsweisend gewürdigt. Daneben erfährt die von ihm etablierte Methode der Quellenkritik europaweit Beachtung. Sein Versuch, den Gebrauch der Quellen in der Staats- und Kirchengeschichte der mittlern Zeiten zu erleichtern von 1761 wird von maßgeblichen Historikern der Zeit als Standardwerk gewürdigt. So bespricht der Göttinger Johann Christoph Gatterer¹⁶ in seiner Bücherschau der Neuveröffentlichungen über deutsche Geschichte dieses Werk überaus positiv und schreibt über Semler: „Dieser fürtreffliche Critiker hat in einem kleinen Buche nicht nur über diese Materie [die Quellenkritik, Vfn.] ungemein viel gründliches gesagt, sondern auch einen schönen Anfang in der Arbeit selbst gemacht, daß weiter nichts fehlt, als den Fleiß, den er auf einige Schriftsteller gewandt hat, auf alle unsere Sammlungen auszudehnen.“¹⁷ Als Anwendungs- und Erprobungsgebiet dieser Methode dient Semler der Gesamtbereich des geschichtlich Überlieferten. Bevorzugt sind es jedoch die patristischen Studien, die seinen quellenkritischen Blick schärfen. Eine unbefangene Analyse der Lehrentscheidungen, Traditionen und Organisationsstrukturen in der Zeit der Anfänge der Christentumsgeschichte verbietet ihm eine jede Idealisierung altkirchlicher Überlieferungen als Maßstab gegenwärtigen christlichen Lebens. Zu dieser Erkenntnis findet er bereits am Beginn seiner akademischen Tätigkeit:

 August Hermann Niemeyer, Die Universität Halle nach ihrem Einfluß auf gelehrte und praktische Theologie in ihrem ersten Jahrhundert, Halle 1817, LXXXVII.  Semler hatte Gatterer während seiner Altdorfer Zeit unmittelbar vor dessen Berufung an die Göttinger Universität noch persönlich kennengelernt.Vgl. Johann Salomo Semler, Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt. Bd. 1, Halle 1781, 164.  Johann Christoph Gatterer, „Nähere Nachricht von der neuen Ausgabe der gleichzeitigen Schriftsteller über die Teutsche Geschichte“, Allgemeine historische Bibliothek 8 (1768), 17.

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Es ist ausgemacht, daß ich in den ersten Jahren noch wenig eigene Aufklärung mancher Gegenstände habe versuchen können; ich fing aber doch an, über die Vorstellungen von Märterern, und Verfolgungen; von Mirakeln, die zur Bestätigung der kirchlichen Lehrordnung der Einen Partey, zumal der katholischen, geschehen seyn solten; über das eingeschränkte Ansehen der Concilien, über die fast blos localen Canones, über die Ungewisheit der haeresium; und über den meist mittelmäßigen Werth der sogenanten patrum (sowol der Schriftsteller, als der Einsiedler, und der Heiligen,) was unmittelbaren Nutzen zur guten Erläuterung der Lehre betrift: ziemlich frey zu urtheilen; und das nicht frech oder geradezu, wozu meine Gemütsfassung ohnehin mich gar nicht verleitete; sondern mit einer merklichen Betrübnis und Misvergnügen.¹⁸

Diese Auflistung der von ihm kritisch gesehenen Erscheinungen und Einrichtungen bietet bereits denjenigen Themenkreis, der die späteren patristischen Studien Semlers bestimmen sollte. Den einzigen Weg des wissenschaftlichen Zugangs zur Geschichte der Alten Kirche stellt für ihn eine erneute, von bisherigen Affirmationen absehende und methodisch kontrollierte Lektüre der Quellen dar.¹⁹ Das zuletzt Gesagte kann natürlich auf den Gesamtbereich der Kirchengeschichte übertragen werden. Semler wiederholt unentwegt seine Forderung nach Historisierung sämtlicher Erscheinungen kirchlichen und religiösen Lebens. Die Einsicht in den dynamischen Charakter alles Geschichtlichen und in die zeitliche Gebundenheit des historischen Faktums, aber auch – als Moment der Selbsthistorisierung – des Geschichtsschreibers selbst, stellt sich für ihn zunehmend als die Grundvoraussetzung von wissenschaftlicher Beschäftigung mit der Geschichte heraus. Dies gilt nun ebenso für den Umgang mit dem dogmatischen Lehrbegriff.

3 Die dogmenkritischen Arbeiten Semlers Umgang mit der dogmatischen Tradition basiert auf der Grundthese, dass die Vorstellung, das Dogma sei eine überzeitliche Geltung beanspruchende Lehraussage, die eine auf ihren Wortlaut gründende Heilsrelevanz beanspruchen kann, unhaltbar ist. Für Semler sind Dogmen historisch-kontingente und prozesshaft gewachsene Größen. Jede Lehrfestlegung ist demnach durch bestimmte geschichtlich-kulturelle Bedingungen geprägt und generell auf spezifische Problemkonstellationen respektive theologische Streitfragen hin ausgerichtet. Diese Charakterisierung impliziert notwendig die Zeitgebundenheit und konfessionelle Partikularität dogmatischer Sätze, was eine Gleichsetzung mit dem Geltungsanspruch göttlicher Wahrheiten verbietet. Auch in dieser Beurteilung sieht sich Semler wieder als Vorreiter: „Ich kan mich nicht erinnern, daß Gelerte schon insbesondre auf die Historie und auf das Recht der Kir-

 Semler 1782, 158 (Anm. 3).  Vgl. Johann Salomo Semler, Versuch eines fruchtbaren Auszugs der Kirchengeschichte, Bd. 1, Halle 1773, Vorrede, unpag. [b5r].

Der Begriff der Kritik bei Johann Salomo Semler

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chensprache bisher gesehen und sie ins Reine gebracht hätten; desto furchtsamer bin ich lange Zeit gewesen, ob auch meine Beobachtung möge gehörigen Grund haben.“²⁰ Aus jener Neubestimmung des Dogmenbegriffs folgt ein veränderter Umgang mit der dogmatischen Tradition: es gilt, über eine unabhängige und kritisch verfahrende Erhellung des gesamten Konstellationsgefüges einer bestimmten Lehrfestlegung deren Motivation zu erhellen und ihre Einordnung in die Christentumsgeschichte vorzunehmen. Semler negiert dabei keinesfalls die Relevanz des Überlieferten. Vielmehr gilt ihm die genaue Kenntnis der Tradition gerade als Voraussetzung eigener dogmatischer Arbeit, denn anders als im Medium des Geschichtlichen sind die Gehalte ja nicht gegeben. So bilden kritische Analysen der Theologiegeschichte auch den Ausgangspunkt für die vorgenommene Revision der Materialdogmatik. Mit der Trinitätslehre, der Erbsündenproblematik und der Dämonologie sind drei zentrale Gegenstandsbereiche, die in besonderem Maße, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung Semlers Widerspruch hervorriefen, benannt. Gemeinsam ist dieser Kritik, dass ihre Genese auf der – Semlers Meinung nach – undifferenzierten Vermischung von theologischen Spezialkenntnissen und allgemeinen Beständen des christlichen Glaubenslebens beruht. Modifiziert ist jedoch die spezifische Fassung der von ihm vorgenommenen Revision, die von einer eher moderaten Forderung der Beachtung dieser Trennung bis hin – etwa im Falle der Dämonologie – zu einer Forderung nach Streichung des Satzes aus dem dogmatischen Lehrgebäude reicht. Semlers dogmenkritische Arbeiten knapp charakterisierend kann man wohl sagen, Dogmatik wird von ihm unter Verabschiedung des traditionellen Dogmenbegriffs in Dogmengeschichte überführt. Ähnlich werten das auch die Verfasser der ersten systematischen Darstellungen der Geschichte der Lehrentscheidungen, die ab dem Ende des 18. Jahrhunderts vermehrt erschienen – wie Christian Friedrich Rössler, Gottlieb Jakob Planck oder Wilhelm Münscher.²¹

4 Die Tragweite einer kritischen Theologie Dass die historische Kritik einen so breiten Raum in Semlers Denken einnimmt, gründet unmittelbar in seinem Protestantismusverständnis. Für ihn ist das Wesen des Protestantismus in erster Linie durch dessen konsequent historischen Ansatz bestimmt, was sich bereits in den mehrfach gestuften Absetzbewegungen der jungen reformatorischen Bewegung gegen die katholische Kirche in ihrer spätmittelalterlichen Gestalt zeigte. Semlers Anliegen ist es, das befreiende Potential dieser Kritik wiederum zur Geltung zu bringen und so an die Impulse der Reformationszeit anzuknüpfen.

 Semler 1782, 177 (Anm. 3). Semler redet auch von einer „Aengstlichkeit und Unruhe“, die ihm die Anfänge seiner eigenen kritischen Untersuchungen erschwerte. Vgl. Semler 1782, 273 (Anm. 3).  Vgl. Schröter 2012, 212– 215 (Anm. 13).

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Seine an der kritischen Methode orientierte und sich dezidiert als protestantisch verstehende Forschungs- und Publikationsstrategie resultiert dabei aus der Erwartung, die Aufklärung des Christentums von innen heraus vorantreiben zu können. Diese Strategie trägt im Wesentlichen methodologische Züge. Im Unterschied zum klassischen Rationalismus etwa vertritt Semler ein anderes Verständnis von aufgeklärter Vernunft. War dort das Historische lediglich als Wechselbegriff für das Kontingente aufgefasst und als solches von nachgeordnetem Interesse, stellt er den singulären Charakter historischen Wissens heraus. Die methodische Vorordnung des Historischen gründet in dem Interesse, das geschichtliche Faktum als solches in seinem Eigenwert wahrzunehmen. Für Semler sind es vor allem die kontingenten Umstände der Entstehung, die einen jeden historischen Sachverhalt als besonderes individuelles Vorkommnis ausmachen. Der Schwerpunkt der Vernunftätigkeit verlagert sich damit in eins zum abwägenden Prüfen des Vorfindlichen im Sinne des Vermögens zu urteilender Unterscheidung. Historische Kritik ist hier das methodische Synonym zu demjenigen Emanzipationsimpetus, den die Aufklärung allgemein programmatisch mit den Stichworten Unbefangenheit,Vorurteilsfreiheit, Unparteilichkeit und Selbsttätigkeit beschreibt. So verstanden ermöglicht sie die wissenschaftliche und praktische Aufklärung des Christentums.

Melanie Obraz / Osnabrück

Schleiermachers Reden über die Religion (1799) und die Ästhetik (1819/25) in Beziehung zum Neuplatonismus bei Plotin (204 – 270) 1 Einleitende Fragen Lassen sich Aspekte in der Ästhetik Schleiermachers wie auch in seinen Reden, mit Aspekten der neuplatonischen Philosophie vereinbaren, ja deuten sie auf einen direkten Zusammenhang hin und bezeugen, dass Schleiermacher, als der Übersetzer der platonischen Texte auch sich der Philosophie Plotins verbunden fühlte, wenn man davon ausgeht, dass im Besonderen der von Plotin – und erst recht durch die Interpreten jener philosophischen Richtung – der Neuplatonismus als solcher der Nachwelt dargebracht wurde. Das Neuplatonische – was ist das? Ein Aufleben der Ideenwelt des Platonismus? Wenn es nur zu 20 Prozent so ist, dann wird auch im Neuplatonismus kein System und kein vorgegebenes Modell richtungweisend sein. Der Geistbuchstabe, der die Einsicht und das intuitive Einleben fordert, lässt sich auch hier nicht in Buchstaben festhalten. Das Eine und der Nous als sogenannte Grundlage des Neuplatonismus lassen sich nur stufenweise erfahren und nicht mit Hilfe von Niederschriften erlernen. Wie sollte die Weltseele auch in Buchstaben zum Ausdruck kommen? Obwohl Schleiermacher in einem veränderten kulturellen Kontext, der Epoche des Deutschen Idealismus nahe stehend, lebte und Plotin in der Antike verwurzeltes Gedankengut zeigt, kann teilweise eine vergleichbare Sichtweise auf die Empfänglichkeit des Menschen hinsichtlich des Göttlichen und des Schönen, die sich als und in einer individuellen Ästhetik darstellt, nachvollzogen werden. Doch ist der Ausdruck Ästhetik in der Antike nicht anzutreffen. So stellt Thomas Lehnerer fest: „Den Ausdruck ‚Ästhetik‘ als Bezeichnung für eine selbstständige philosophische Disziplin kannte Aristoteles (und die gesamte Antike) nicht. Der Sache nach aber beschäftigte auch er sich mit der subjektiven Wirkung und Beurteilung von Kunst.“¹ In eben dieser Weise äußert sich auch Verena Olejniczak Lobsien: „So würden heute nicht wenige einwenden, das mit dem Wort ‚Ästhetik‘ angezeigte Spiel sinnlicher Wahrnehmung und jene auf Prozessen immer höherstufiger Abstraktion und entschiedenem Überstieg über alles Körperliche beruhende Philosophie des Aufstiegs, als welche sich der

 Thomas Lehnerer, Methode der Kunst, Würzburg 1994, 44, Anm. 29.; Vgl. zur Dichtkunst: Aristoteles, Poetik, übers. v. Otto Gigon, Stuttgart 1978, 23. https://doi.org/10.1515/9783110569520-040

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Neuplatonismus verstehen lässt“, seien unvereinbar.² Zudem sei der Begriff Ästhetik – „mindestens in der deutschsprachigen Diskussion – seit Baumgarten³ in spezifischer Weise besetzt.“⁴ Mit ihren Ausführungen verweist Olejniczak Lobsien auf Ritter und stellt fest, dass kein antiker Autor in dieser Weise der sinnlichen Wahrnehmung einen Stellenwert eingeräumt habe. Antiken Autoren sei es in dieser Hinsicht um den Begriff des Schönen zu tun. Auch weise sich die antike Auffassung dadurch aus, dass dort das Schöne von jeglicher Sinnlichkeit separat definiert werde.

2 Schleiermacher als Bewunderer Platonischen Gedankenguts Nun wäre es nicht treffend, wenn man nur darauf verweisen wollte, Schleiermacher als der Platon Übersetzer schlechthin lehne sich in geradezu grandioser Bewunderung aller Platon gewidmeten Sichtweisen an, und deshalb sei dies auch auf die Sichtweisen der im Neuplatonismus vertretenen Grundlagen auszuweiten. Die Beschäftigung mit den platonischen Dialogen sagt sicherlich nicht sogleich, dass Schleiermacher auch eine Inspiration aus dem Neuplatonismus empfing, der ja keine eigenständige und neue Entwicklung einer philosophischen Richtung ist, sondern lediglich Erklärungen zu Platonischen Sichtweisen liefern will, so vor allem durch Plotin. Bereits an dieser Stelle ist festzuhalten dass Schleiermacher nicht nur als PlatonÜbersetzer oder als Vertreter einer platonischen Tugendethik zu sehen ist. Bevor sich Schleiermacher der Übersetzung der platonischen Dialoge widmete, ging er zunächst davon aus, dass er sich mit den Werken des Aristoteles eingehend beschäftigen werde. So äußert Andreas Arndt, Schleiermacher sei, aufgrund seiner humanistischen Erziehung wie übrigens alle Gebildeten seiner Zeit schon von Jugend an mit der Lektüre Platonischer Dialoge vertraut. So war Platon auch am Gymnasium zu Niesky dem „Pädagogium“, das er 1783 – 1785 besuchte, eine beliebte Pflichtlektüre.⁵ Doch war Platonische Philosophie nicht allein von Interesse. So hatte sich Schleiermacher während seiner Studienzeit in Halle (1787– 1789) im Besonderen den Aristotelischen Schriften gewidmet. Aufgrund dieser Begeisterung für Aristotelisches Gedankengut

 Verena Olejniczak Lobsien, „Neuplatonismus und Ästhetik. Eine Einleitung“, in: Neuplatonismus und Ästhetik, Zur Transformationsgeschichte des Schönen, hg.v. Verena Olejniczak Lobsien / Claudia Olk, Berlin / New York 2007, 1– 17, hier 3.  Alexander Gottlieb Baumgarten, Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der Aesthetica (1750/1758), übers. und hg.v. Hans Rudolf Schweizer, Hamburg 21988, 3, § 1 der Aesthetica von 1750.  Olejniczak Lobsien 2007, 3 (Anm. 2).  Andreas Arndt, „Schleiermacher und Platon“, in: Friedrich Schleiermacher, Über die Philosophie Platons, hg.v. Peter M. Steiner, Hamburg 1996, VII–XXII, hier VIII.

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wollte er die Nikomachische Ethik und die Politik übersetzen und kommentieren.⁶ Andreas Arndt hebt hervor, dass Schleiermacher „als Schulamtskandidat am Gedikischen Seminar in Berlin um die Jahreswende 1793/94 eine (in Latein geschriebene) Abhandlung mit der Überschrift Philosophiam politicam Platonis et Aristotelis comparavit Schleiermacher“ verfasste.⁷ Hierzu sei festgestellt, dass Platon in dieser Arbeit nicht von herausragendem Interesse für Schleiermacher gewesen sein dürfte. Dies hat sich aber einige Jahre später deutlich geändert, wie eine Briefnotiz verdeutlicht, in welcher er Platon Bewunderung entgegen bringt und seine frühere Zurückhaltung damit erklärt, dass er noch kein rechtes Verständnis von Platonischer Philosophie habe finden können.⁸ Doch lässt sich daraus nicht ohne Weiteres schließen, Schleiermacher habe sich auch Plotin und des Neuplatonismus in ähnlicher Weise bewundernd verbunden gefühlt. Seine eigene philosophische Ausrichtung fand Schleiermacher im Besonderen bei Johann August Eberhard (1739 – 1809), in der Auseinandersetzung mit Kants Vernunftkritik und mit Friedrich Heinrich Jacobi, der sich eingehend Baruch Benedictus Spinoza widmete. Immer wieder aber ist es Aristoteles, der Schleiermachers philosophisches Interesse weckt. So sagt Andreas Arndt, „dass von Platon bis 1794, als Schleiermacher zu den Grundlagen seines Ansatzes fand, den er dann seit 1797 in die philosophische Gemeinschaft mit Friedrich Schlegel einbringt, kaum die Rede“ sei.⁹ „Während seines Aufenthaltes in Potsdam von Mitte Februar bis Mitte Mai 1799 wo er eine Hofpredigerstelle vertrat, und in dieser Zeit die Reden über die Religion vollendete, hatte sich Schleiermacher das Studium Platonischer Dialoge zur besonderen Aufgabe gemacht.“¹⁰ Infolge der konzentrierten Studien zur Platonischen Philosophie zeigt sich Schleiermacher auch zunehmend begeistert und bekundet eben solche auch in Briefen. So spricht er sogar von einer „göttlichen Idee“ den Plato zu übersetzen.¹¹

 Arndt 1996, VIII (Anm. 5). Vgl. dazu die Edition der Schleiermacherschen Aristoteles-Studien in KGA I/1, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1983.  Friedrich Schleiermacher [1794], Philosophia politica Platonis et Aristotelis, KGA I/1, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1983, 499 – 510, bes. 501– 509.  Friedrich Schleiermacher, „An Henriette Herz, 10.08.1802“, in: Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, Bd. 1, hg.v. Wilhelm Dilthey, Berlin 1861, 312.  Schleiermacher 1861, 312 (Anm. 8).  Arndt 1996, X (Anm. 5).  Vgl. Schleiermachers Brief an Carl Gustav von Brinckmann (22.04. 1800): „Ich fordere Deinen Glückwunsch und Deinen Segen zu einem großen Werk, zu welchem ich mich mit Friedrich Schlegel verbunden habe. Es ist die bereits angekündigte Uebersetzung des Plato […] Es begeistert mich: denn ich bin von Verehrung des Platon seit ich ihn kenne unaussprechlich tief durchdrungen – aber ich habe auch eine heilige Scheu davor, und fürchte fast über die Grenze meiner Kräfte hinausgegangen zu sein“ (KGA V/3, hg.v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin /New York, 1992, 486). Vgl. Schleiermachers Brief an Henriette Herz (29.04.1799): „Schlegel schrieb mir kurz vor meinem letzten Berlin von einem großen Coup den er noch vorhätte mit mir und das ist denn nichts geringeres als den Plato übersetzen. Ach! Es ist eine göttliche Idee, und ich glaube wol dass es wenige so gut können werden als wir, aber eher als in einigen Jahren wage ich doch nicht es zu unternehmen, und dann muss es so frei von jeder äußern Abhängigkeit unternommen werden als je ein Werk ward und Jahre die darüber hingehen

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Inwieweit Platonische Schriften von Gewicht waren und in welcher Weise sie eine besondere Einschätzung erfuhren oder auch nicht und wie kompliziert es war Platon einzuordnen, zeigt folgende Aussage: „Man muss sich immer wieder deutlich machen, dass bis ins späte 18. Jahrhundert Platons Philosophie ‚Platonismus‘ bedeutet und d. h. ein synkretistisch-eklektizistisch aus allen möglichen Quellen gespeistes neuplatonisch-kirchenväterliches Amalgam, das ‚Platon‘ für die christliche Dogmatik requiriert.“¹² Diese Anmerkung verdeutlicht auch, dass Neuplatonisches Gedankengut durchaus mit Platonischem vermischt wurde. Doch ist für Schleiermachers Tätigkeit als Übersetzer Folgendes bemerkenswert: Schleiermachers Übersetzung ist von hoher Reflexivität und von hohem Einfühlungsvermögen getragen. Er stellt sich in den Dienst des Autors der Dialoge und ‚weiß es nicht besser‘ als dieser. Schleiermacher versucht nicht, wie viele Übersetzer vor und nach ihm, den manchmal umständlich wirkenden Text Platons stilistisch – und inhaltlich – zu verbessern. Er folgt dem Philosophen in eine scheinbare Verworrenheit, die sich häufig als Gewand eines tieferliegenden Sinns zeigt, aber oberflächlicher Lektüre verborgen bleiben muss.¹³

3 Die Eigenständigkeit Schleiermacherschen Denkens Hier ist auf die herausragende Eigenständigkeit des Denkens bei Schleiermacher einzugehen, welcher der Versuchung nicht erliegen konnte, Plotinisches mit Platonischem zu vermischen oder gar zu verwechseln. Auch die Eigenständigkeit und Kritikfähigkeit hinsichtlich der Religion soll die folgende Briefstelle belegen, da er am 21.01.1787 seinem Vater Folgendes schrieb: Der Glaube ist ein Regale der Gottheit, schrieben Sie mir […]. Ich kann nicht glauben, dass der ewiger wahrer Gott war, der sich selbst nur den Menschensohn nannte, ich kann nicht glauben, dass sein Tod eine stellvertretende Versöhnung war, weil er es selbst nie ausdrücklich gesagt hat, und weil ich nicht glauben kann, dass sie nötig gewesen; denn Gott kann die Menschen, die er offenbar nicht zur Vollkommenheit, sondern nur zum Streben nach derselben geschaffen hat, unmöglich darum ewig strafen wollen, weil sie nicht vollkommen geworden sind.¹⁴ Hieran zeigt sich, dass „Schleiermachers Existenz als Theologe und Philosoph […] mit einem grundstürzenden Zweifel an der Wahrheit und damit an der Glaubwürdigkeit des christlichen

müssen nichts geachtet werden. Doch das ist ein Geheimnis und liegt noch sehr weit.“ (KGA V/3, hg.v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin /New York, 1992, 101).  Jörg Jantzen, „Schleiermachers Platon-Übersetzung und seine Anmerkungen dazu“, in: Friedrich Schleiermacher, Über die Philosophie Platons, hg.v. Peter M. Steiner, Hamburg 1996, XLV–LVIII, hier XLVII.  Peter M. Steiner, „Zur Kontroverse um Schleiermachers Platon“, in: Friedrich Schleiermacher, Über die Philosophie Platons, hg.v. Peter M. Steiner, Hamburg 1996, XXIII–XLIV, hier XXV.  Friedrich Schleiermacher, An J.G.A. Schleiermacher, Barby, 21. 1. 1987, KGA,V/1, hg.v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin / New York 185, 49 – 52, hier 50.

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Dogmas und dessen Entfaltung in der kirchlichen Lehre“ beginnt.¹⁵ Jene Eigenständigkeit des Schleiermacherschen Denkens zeigt sich auch in seinen Reden: Es gibt kein größeres Hindernis der Religion als dieses, dass wir unsere eignen Sklaven sein müssten, denn ein Sklave ist Jeder, der etwas verrichten muss, was durch tote Köpfe sollte bewirkt werden können. Das hoffen wir von der Vollendung der Wissenschaften und Künste dass sie uns die toten Kräfte werden dienstbar machen, dass sie die körperliche Welt, und alles von der geistigen was sich regieren lässt in einen Feenpalast verwandeln werde, wo der Gott der Erde nur ein Zauberwort auszusprechen nur eine Feder zu drücken braucht, wenn geschehen soll was er gebeut. Dann erst wird jeder Mensch ein Freigeborner sein, dann ist jedes Leben praktisch und beschaulich zugleich, über keinem hebt sich der Stecken des Treibers und jeder hat Ruhe und Muße in sich die Welt zu betrachten.¹⁶

Die Religion war ihm ein unumstößliches Ganzes, ohne das die Menschheit nicht bestehen könnte, wie ein Zitat aus den Reden zeigt: „Spekulation und Praxis haben zu wollen ohne Religion, ist verwegner Übermut, es ist freche Feindschaft gegen die Götter, es ist der unheilige Sinn des Prometheus, der freiherzig stahl, was er in ruhiger Sicherheit hätte fordern und erwarten können.“¹⁷ „Dies könnte so verstanden werden, als sei die Religion der Philosophie übergeordnet, und tatsächlich gibt es hier wohl auch eine Ambivalenz in der Argumentation der Reden, trotz der in der zweiten Rede proklamierten strikten Trennung von Metaphysik (Theorie) und Moral (Praxis) einerseits und Religion andererseits.“¹⁸ Die „höchste Anschauung“ ist für Schleiermacher Dreh- und Angelpunkt seiner Religionsauffassung und die macht sich dadurch so stark, da sie dem Menschen die Möglichkeit und auch die Verantwortung gibt, dass damit die Menschheit auf eine eigene Art dargestellt wird.

4 Schleiermachers Erwähnungen des Plotin Auf jeden Fall ist auch klar, dass Schleiermacher mit Textstellen von Plotin konfrontiert war und jene auch Gegenstand der Diskussion waren. Auch in Schleiermachers Kolleg in Berlin ist Plotin öfters erwähnt worden. An einer Stelle stehen sogar ausführliche Notizen über ihn. Schleiermacher studierte eingehend die Schriften Aristoteles‘, Xenophons und widmete sich der griechischen Geschichte. So ist auch

 So Eilert Herms, „Religion und Wahrheit bei Schleiermacher“, in: Religion und Religionen im Deutschen Idealismus. Schleiermacher – Hegel – Schelling, hg.v. Friedrich Hermanni u. a., Tübingen 2015, 85 – 106, hier 85.  Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg.v. Hans-Joachim Rothert, Hamburg 1958, 128.  Schleiermacher 1958, 30 (Anm. 16).  Andreas Arndt, „Fortschritt und Zukunft in Schleiermachers Philosophie“, in: Schleiermacher – Denker für die Zukunft des Christentums?, hg.v. Andreas Arndt / Kurt-Victor Selge, Berlin / New York 2011, 69 – 82, hier 70. Vgl. Phil. Bibl. Meiner, 29.

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Schleiermacher als Kirchengeschichtler erwähnenswert und die auf Plotin in besonderer Weise aufmerksam machenden Zitate seien hier verdeutlichend angeführt. Zum Problem des Gnostizismus schreibt er: Eine Quelle hierüber: Plotin, der eine Abhandlung hat […], die von Porphyr uns erhalten ist. Plotin wirft ihnen vor, sie hätten einiges von Platon übernommen, andres von selbst erdacht. Pophyr aber erklärt uns das Entstehen der Abhandlung so: Es seien auch unter den Christen viele gewesen welche aus der palaia philosophia gekommen wären, und unter diesen wären einige auf zoroastrische Bücher gestoßen, und diese hätten sie hervorgebracht, um zu zeigen, dass Platon noch nicht das höchste geleistet hätte, und ihn aus diesen zoroastrischen Büchern zu ergänzen. Gegen diese habe Plotin seine Abhandlung gerichtet. Gegen diese nun habe Plotin seine Abhandlung gerichtet […] Ob das also bloß eine Vermutung des Porphyr sei, müssen wir unentschieden lassen, ebenso auch, ob es häretische Gnostiker oder solche aus der alexandrinischen Schule. Plotin sagt z. B., dass sie die Tugend verachteten, und doch haben wir ethische Schriften der valentinischen Schule […].¹⁹

Im weiteren Zusammenhang und der Untersuchung zu Basilides findet sich nochmals eine Erwähnung zu Plotin. „Da finden wir die Ausdrücke nous und logos (confer Plotin).“²⁰ Ebenso in den Anmerkungen zu Origenes: Über seine früheren Schicksale sind die Nachrichten abweichend. Pophyr erwähnt seiner so, als ob er Notiz von ihm habe von der plotinischen Schule […] Daher ist die Meinung vieler, dass Plotin und Pophyr auf einen anderen Origenes Bezug nehmen. Wenn aber auch Origenes kein Schüler des Ammonius Saccas und Mitschüler des Plotin war, so lässt sich doch nicht leugnen, dass er in der griechischen Wissenschaft sehr bewundert und ein großer Freund derselben war.²¹

Auch die folgende Textstelle weist in diese Richtung: „Plotin soll gegen eine Art Gnostiker geschrieben haben. Ob dieses nicht wieder Manichäer waren, ist wieder nicht klar.“²² Den hier angegebenen Schriftstellen zufolge darf angenommen werden, dass Schleiermacher den Neuplatonismus reflektierend registriert hat. Nun lässt sich der Neuplatonismus – und hier gehe ich vornehmlich von Plotin aus – nicht als ein Neuansatz zu Platon verstehen, aber dennoch kann man in gewisser Hinsicht von einer Erweiterung des Platonischen Sichtfeldes sprechen. Ganz in dieser Hinsicht stellt Katharina Münchberg fest: Es ist einer der wichtigsten und folgenreichsten Gedanken des Neuplatonismus, die platonische Ideenlehre zu einer Metaphysik des Einen zu erweitern. Dem unvordenklichen Grund des Einen kommt bei Plotin die ontologische Priorität vor dem Sein und dem Denken zu. Daher kann das

 Joachim Boekels, Schleiermacher als Kirchengeschichtler. Mit Edition der Nachschrift Karl Rudolf Hagenbachs von 1821/22, Berlin / New York 1994, 206.  Boekels 1994, 208 (Anm. 19).  Boekels 1994, 229 (Anm. 19).  Boekels 1994, 286 (Anm. 19).

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Eine nur durch die zu einer mystischen Erfahrung gesteigerte geistige Schau erreicht werden, und dies setzt die Selbstaufhebung des Denkens voraus. Auch der in sich selbst zwischen Gedachtem und Denkendem gespaltene Akt der Selbstreflexion muss aufgehoben werden, um die Erfahrung des Einen zu ermöglichen.²³

In diesem Sinne ist der folgende Unterschied klar herauszustellen: Das Denken wird in einer inneren Offensichtlichkeit zu einer Einheit mit dem Selbst. Das Eine, der Geist und die Seele stehen im Mittelpunkt – stellen die prinzipiellen Hypostasen dar – und nicht nur mehr das Gute und seine Teilhabe wie im Platonischen.²⁴ Plotin redet von einem Überfließen, von einem Emanieren und beabsichtigt damit zu verdeutlichen, dass das Seiende aus dem ursprünglichen Einen emaniert und also hervorgeflossen sei:²⁵ „Es ist wichtig hinzuzufügen, dass die Quelle, aus der hier alles hervorgeht, nie versiegt und durch ihr Verströmen nicht abnimmt. Und dies lässt sich tatsächlich besser ausdrücken durch die Metapher des Lichts, das an einem andern Licht angezündet wird, ohne dass dieses dadurch an Kraft verlöre.“²⁶ Hier wird die Lichtmetapher eingeführt, die auch in der christlichen Mystik bedeutend sein wird. Es gilt nun zu untersuchen, inwieweit Schleiermachers Begriff des Schönen in seinen Reden und der posthum veröffentlichten Ästhetik mit dem Begriff des Schönen bei Plotin korrespondiert.

5 Das Schöne bei Plotin und Schleiermacher Woran und auf welche Weise wird Schönheit überhaupt erkannt? Gibt es Maßstäbe, die festlegen, was Schönheit ist? Sind Symmetrie und Gleichmaß für den Begriff der Schönheit grundlegend? „Sicher schon seit Platon wurde im Altertum Symmetrie als das Hauptmerkmal der Schönheit betrachtet. Platon schreibt im Philebos: ‘Denn Angemessenheit und Symmetrie manifestieren sich überall als Schönheit und Vollkommenheit.’ (Philebos 64 E)“²⁷ Nun äußert Plotin in Enneade I 6 die Ansicht, Schönheit lasse sich nicht auf Symmetrie zurückführen. Mit dieser Aussage könnte sich Plotin gegen seinen Meister

 Katharina Münchberg, „Platonismen in der Ästhetik der französischen Aufklärung. Diderot und Rousseau“, in: Neuplatonismus und Ästhetik. Zur Transformationsgeschichte des Schönen, hg.v. Veren Lobsien / Claudia Olk, Berlin 2007, 163 – 184, hier 175. Sie verweist auf: Jens Halfwassen, Geist und Selbstbewusstsein. Studien zu Plotin und Numenios, Stuttgart 1994, 55 – 57.  Vgl. Plotin, Enneaden in der deutschen Übersetzung von Hermann Friedrich Müller von 1878, hg.v. Karl-Maria Guth, Berlin 2015, 406 – 417 [= Enneade V 1].  Vgl. Michael Franz, Tübinger Platonismus. Die gemeinsamen philosophischen Anfangsgründe von Hölderlin, Schelling und Hegel, Tübingen 2012, 145. Franz verweist auf folgende Stelle bei Plotin: Enneade V 1, 6, Z. 7.  Franz 2012, 145 (Anm. 25) mit Verweis auf Enneade V.1,6, Z. 28 – 31.  Judith Omtzigt, Die Beziehung zwischen dem Schönen und dem Guten in der Philosophie Plotins, Göttingen 2012, 41.

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ausgesprochen haben.²⁸ Doch gibt es auch eine klare Gegenposition.²⁹ So ist davon auszugehen, dass Plotin in der Enneade I 6, sich gegen die Auffassung der Stoa wendet und seine Kritik sich eindeutig gegen den Schönheitsbegriff der Stoa wendet. Der Einwand stützt sich auf das Argument, die Forschung sei sich seit Creuzer einig, dass die Symmetrie-These auf die Stoa zurückgehe.³⁰ Auf jeden Fall findet Plotins Symmetriekritik seine Begründung dennoch auch bei Platon³¹ und bei Aristoteles³². Geht man davon aus, dass Symmetrie über Schönheit oder Nicht-Schönheit entscheidet, so können auch die noch nicht schönen Teile als schön gelten, soweit die Symmetrie hinzugedacht wird und auf diese Weise nicht die Einheit gewahrt bleibt, sondern das Vielheitliche nun zugelassen wird. Plotin fügt ergänzend hinzu, dass die Schönheit eben nicht in der bloßen Symmetrie zu sehen sei, sondern wenn, dann lediglich als Glanz, der über die Symmetrie hinweg strahle. Und eben dieser Glanz sei es, der den Reiz des Schönen bedinge.³³ Wichtig ist vor allem, dass das Schöne in der Einheit und eben nicht in Vielheitlichem liegt und dass das Schöne, welches die Schönheit bedingt, sich als Ausdruck der Einheit erkennen lässt. „Durch Teilhaben an der Idee, behaupten wir, ist das diesseitige schön.“³⁴ „Die Schönheit aber wird erkannt durch ein besonderes dazu bestimmtes Vermögen, welches vollkommen befähigt ist in seinem Bereiche zu urteilen […].“³⁵ Doch ist nicht das Eine schön und also entscheidet nicht die Einheit an sich schon über das Prädikat „schön“, sondern das aus dem Einen hervorgegangene Sein, kann als Grund der Schönheit angesehen werden. Somit ist das Eine als Verweis auf den Grund allen Seins anzunehmen. Auf dieser Grundlage findet sich das Schöne im Geistigen und gibt sich als intelligible Schönheit aus, ebenso befindet sich das Schöne in der Seele und dort ist es die sittliche Einstellung. In der Natur findet sich das Schöne als Harmonie und Gleichklang.³⁶ Damit ist die Problematik um das Schöne jedoch nicht gänzlich einer Lösung zugeführt, was das Schöne im Eigentlichen sei und wie man es eindeutig stets erkenne, wird hierdurch nicht festgelegt. Wichtig ist nur, dass die Symmetrie und alle  So geht Hildegard Schöndorf davon aus, Plotin habe sich mit dieser Feststellung eindeutig Platon gegen die Meinung Platos ausgesprochen (Hildegard Schöndorf, Plotins Umformung der platonischen Lehre vom Schönen, Bonn 1974, 90).  Thomas Leinkauf, „Der neuplatonische Begriff des ‚Schönen‘ im Kontext von Kunst- und Dichtungstheorie der Renaissance“, in: Neuplatonismus und Ästhetik. Zur Transformationsgeschichte des Schönen, hg.v. Veren Lobsien / Claudia Olk, Berlin 2007, 85 – 115.  So auch Leinkauf 2007, 88 (Anm. 29). Dort auch der Hinweis auf: Hans von Arnim (Hg.), Stoicorum veterum fragmenta tomi III, Stuttgart 1964, 83.278 – 279.471– 472; Hans-Jürgen Horn, „Stoische Symmetrie und Theorie des Schönen in der Kaiserzeit“, ANRW II, 36, 2 (1989), 1459 – 1466. Demnach gab es bereits in der römischen Kaiserzeit die Tendenz, Schönheit nicht unbedingt an einem symmetrischen Maßstab auszurichten.  Platon, Timaios 87 C–D.  .Aristoteles, Metaphysik 1078 a 36 – 40; Topik III 1, 116 b 17– 20; Nikomachische Ethik, IV 7, 1123 b 6/8.  Vgl. Plotin 2015, 653 – 654 [= Enneade VI 7, 22, Z. 25 – 26] (Anm. 24).  Plotin 2015, 46 [= Enneade I 6, 2] (Anm. 24).  Plotin 2015, 47 [= Enneade I 6, 3] (Anm. 24).  Vgl. Plotin 2015, 22 [=Enneade I 3, 1].47 [= Enneade I 6,3] (Anm. 24).

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Wohlgeordnetheit nur einen zu schwachen Abglanz, bis hin zur vollständigen Untauglichkeit für die Erfahrung und Erkenntnis dessen was schön ist geben kann. So entzieht sich die Grundlage der Schönheit – das Schöne – eben jeder Berechnung und zeigt sich in einem Intelligiblen, was letztlich auch die Öffnung zu allem Göttlichen hervorhebt. Im Schönen an sich wohnt also das Göttliche. Das Göttliche ist dem Schönen inhärent. An welchem Ort wird es sich vornehmlich zeigen? In der Natur oder in der Kunst – um auch dort nur den Hinweis auf das eigentlich und allem zu Grunde liegende Schöne zu geben? Fest steht, dass Symmetrie den gehobenen Bereich allen Intelligiblen nicht erfassen kann. Das Symmetrische ist zu sehr nur dem Sinnlichen zugeneigt³⁷ und wird durch die Sinne zuerst wahrgenommen. Das Intelligible verlangt mehr. Schönheit ist hier etwas Unteilbares und vollkommen Einheitliches. Ein bestimmtes Maß an Einheit kommt nun jedem Körper in irgendeiner Weise zu und in dieser Hinsicht ist ein bestimmtes Maß von Schönheit in der Welt wahrnehmbar. Hier zeigt sich eher ein Hilfsgedanke als eine wirkliche Lösung – die es nicht geben kann, wie bereits ausgeführt wurde. Es geht um das Teilhaben an der Schönheit.³⁸ Jeder Körper birgt den Hinweis auf etwas vollkommen Schönes, ohne es vollkommen zum Ausdruck bringen zu können. Die Teilhabe an der Idee des der Schönheit zu Grunde liegenden Schönen, stellt eben diesen Hinweis dar und verweist weiter in den Bereich des Geistes. Jenes vollkommene Schöne ist hier in dieser Welt in Reinheit mit den Sinnen nicht anzutreffen. Ebenso das vollkommen Hässliche auch nicht. Auf jeden Fall bestätigt sich die Annahme, dass der Schönheit bei Plotin und ebenso bei Platon eine Schlüsselrolle innerhalb der moralischen Entwicklung des Menschen zukommt. Also findet sich hier eine starke Verbindungslinie zwischen dem ethischen und dem ästhetischen Bereich. Ganz in diesem Sinne darf auch gesagt sein, dass der Neuplatonismus sogar von einer hohen ethischen Bedeutung des Ästhetischen und also auch des Schönen getragen wird und sich dadurch die stete Tendenz des Aufstiegs verdeutlicht. Die Trägerschaft des Schönen speist sich aus dem Ethischen, dem Guten und dem Wahren. In dieser Weise sind auch die Ausführungen von Werner Beierwaltes zu verstehen: „Schönheit ist im Sinne Plotins – und auch darin folgt er Platon – nicht primär eine ästhetische Kategorie, sondern, zusammen mit dem Konzept des Guten im Ideal der Kalokagathia verbunden, eine sittliche Norm.“³⁹ War die hinaufführende, weil erhebende Wirkung der Schönheit auf die menschliche Seele für den Neuplatonismus und im Besonderen bei Plotin bezeichnend, so lässt sich schon an dieser Stelle – wie die Zitate verdeutlichen mögen – auch eine diesbezügliche Besonderheit in den Reden und in der Ästhetik Schleiermachers ausmachen. Fraglich ist allerdings, ob eine solch erhebende Wirkung – Anagogie – in  Und es versagt selbst dort, wenn es darum geht einfache sinnlich wahrnehmbare Dinge als schön zu erfassen.  Plotin 2015, 474 [= Enneade V 8, 9, Z. 44– 45] (Anm. 24).  Werner Beierwaltes, Das wahre Selbst. Studien zu Plotins Begriff des Geistes und des Einen, Frankfurt am Main 2001, 54.

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der Seele ad hoc stattfindet, oder ob doch eine Übung/Einübung und Vorbereitung dazu erforderlich ist. Es gibt in der Fachliteratur allerdings keine Eindeutigkeit, inwiefern dieser Aufstieg anhand des Ästhetischen bei Plotin spontan stattfindet. Kann die Bewusstwerdung des wahren Selbst mittels Schönheit bei jedem beliebigen Menschen unverzüglich und unvorbereitet auftreten nach dem Erblicken von einem schönen physischen Objekt? Oder muss man sich dafür erst seelisch trainiert haben, vielleicht durch eine gebildetere Person in der Anerkennung von Schönheit unterrichtet sein?⁴⁰

Die Übersicht in der Fachliteratur macht deutlich, dass ein besonderes Training im Sinne einer Initiation vor allem dann nötig sein dürfte, wenn es um das höchstmögliche Erleben des der Schönheit zu Grunde liegenden Schönen gehe – dem Erleben der immateriellen Schönheit. Auf das Erleben des materiell Schönen ist diese Ansicht nicht anzuwenden.⁴¹ Überhaupt stellt sich also die Frage, ob die materielle Schönheit tauglich ist, ein vollwertiges und damit höchstmögliches Erleben des Schönen zu eröffnen. Wohl eher nicht, da die materielle Schönheit nur die Ableitung der immateriellen ist und damit das Materielle nicht den gleichen Stellenwert hinsichtlich einer vollwertigen Erfahrung und Erkenntnis hinsichtlich des der Schönheit zu Grunde liegenden Schönen aufbringt. Auch ist nicht zugleich dem Sehen – dem Gewahrwerden – materieller Schönheit die Kenntnis höherer Schönheit inhärent. Im Besonderen kann deshalb die Empfänglichkeit für die Aufnahme immaterieller Arten der Schönheit nur angenommen werden, wenn ein Training im Voraus stattgefunden hat. Oiva Kusima ist in der Arbeit Art or Experience aber der Meinung, dass auch die erhabene Reaktion auf Kunst völlig spontan und also ohne vorhergehendes Training stattfinden kann.⁴² Dies werde gerade dadurch verdeutlicht, dass Plotin der Schönheit eine dermaßen zentrale Rolle in seiner Platon auslegenden Philosophie zugestanden habe. Letztendlich geht aber die herrschende Literaturmeinung davon aus, dass solche Reaktionen auf das Wahrnehmen der Schönheit, obwohl sie laut Plotin spontan erfolgen mögen, dennoch als vollwertiges Erleben des der Schönheit zu Grunde liegenden Schönen eines vorbereitenden Trainings der Seele bedürfen. Es kann also nicht einfach automatisch ohne vorbereitendes reflektiertes Zutun geschehen. Abschließend sei hier nochmals Enneade I 6, 4 – 9 genannt, mit welcher Plotin verdeutlicht, dass um die Schönheit der immateriellen Ebene zu sehen und erfahren

 So die Fragestellung bei Judith Omtzigt 2012, 48 (Anm. 27). Dort auch der folgende Hinweis: „Margaret R. Miles sagt in On Body and Beauty: Ästhetische Reaktionen sind also nicht angeboren. Das Wahrnehmen von einem Objekt als schön ist die Folge widmenden Trainings.“ (Vgl. Margart R. Miles, Plotinus on Body and Beauty, Oxford 1999, 46).  Eine andere Ansicht vertritt: Eugénie de Keyser, La signification de l’art dans les Ennéades de Plotin, Louvain 1955, 97.  Oiva Kuisma, Art or Experience. A Study on Plotinus’Aesthetics, Helsinki 2003, 162. In vergleichbarer Weise argumentiert auch: Dimitrios N. Koutras, „The essence oft the work of art according to Plotinus“, Diotima 14 (1986), 147– 153, hier 152– 153.

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zu können, Training und Vorbereitung der Seele notwendig sind. Die in dieser Weise trainierte Seele hat dann auch eine Affinität zur immateriellen Schönheit. Plotin selbst, der sich ganz auf diese Weise erheben wollte, um alles rein Irdische hinter sich lassen zu können, gestand letztlich ein, dass auch der in dieser Weise gebildete Mensch die rein irdische Schönheit nie ganz vergessen wird. Bestenfalls wird er in jener irdischen Schönheit das Aufleuchten der intelligiblen Schönheit sehen oder auch nur vermuten dürfen.⁴³ „Plotins Denken vollzieht Satz für Satz diese Bewegung der transzendierenden Einswerdung mit dem höchsten Erkenntnisziel, das zugleich das Wahre, Gute und Schöne ist, nach und leitet zu ihrem transformierenden Nachvollzug an. Nicht die statische Jenseitigkeit einer Ideenwelt, sondern vielmehr die Dynamik einer denkend-fühlenden Selbstüberschreitung macht diese Denkweise über Jahrhunderte attraktiv und vielfältig anschlussfähig.“⁴⁴

6 Das Ethische im Schönen bei Schleiermacher An dieser Stelle möchte ich die Frage stellen, inwieweit auch Schleiermacher den Begriff der Schönheit in ethischer Weise in seinen Reden und der Ästhetik interpretiert und der Schönheit einen Charakter des ethischen Aufstiegs zugesteht. Das Empfinden und Fühlen des Schönen als mit einem Eingehen in das Universum Verbundenes, ist in diesem Sinne auch ein Aufstieg zum Verständnis des Göttlichen. Einige Zitate aus den Reden und der Ästhetik seien hier eingefügt. „Ja, wer nicht eigne Wunder sieht auf seinem Standpunkt zur Betrachtung der Welt, in wessen Innern nicht eigene Offenbarungen aufsteigen, wenn seine Seele sich nicht sehnt die Schönheit der Welt einzusaugen, und von ihrem Geiste durchdrungen zu werden; wer nicht hie und da mit der lebendigsten Überzeugung fühlt, dass ein göttlicher Geist ihn treibt […], der hat keine Religion.“⁴⁵ Schleiermacher setzt die Schönheit, die es in der Welt anzuschauen gilt (und gibt), in der Weise in den Vordergrund, dass sie als durchdringende Kraft dargestellt wird, die imstande ist, die Seele mit ihrem Geist zu erfüllen. Im gleichen Atemzug erfährt der göttliche Geist Erwähnung. Schönheit – selbst wenn es sich um die weltliche Schönheit handelt – wird in die Nähe des göttlichen Geistes gebracht, da sie in Anlehnung an jenen analog das Göttliche erahnen lässt. Hier kommt es auf die menschliche Empfindungsfähigkeit an: „In den Religionen sollt Ihr die Religion entdecken, in dem was irdisch und verunreinigt vor Euch steht die einzelnen Züge derselben himmlischen Schönheit aufsuchen, deren Gestalt ich nachzubilden versucht habe.“⁴⁶ Die Verbindung zum immateriell „angepeilten“ Schönheitsbegriff bei Plotin scheint hier wenn nicht offensichtlich, so doch zumindest erwägenswert. Die Religion als die Anbindung an das    

Plotin 2015, 148 – 149 [=Enneade II 9, 16, Zeile 7– 9] (Anm. 24). Olejniczak Lobsien 2007, 7 (Anm. 2). Schleiermacher 1958, 67 (Anm. 16). Schleiermacher 1958, 132 (Anm. 16).

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Göttliche ist durch den himmlischen Schönheitsbegriff in den Schleiermacherschen Reden im Wesentlichen definiert. Obwohl Schleiermacher nur die beiden Textstellen in den Reden dem Schönheitsbegriff widmet, sind sie doch als Quintessenz hinsichtlich des Einswerdens mit dem Universum zu sehen. Der reinen Intellektualität ist diese Ebene des Einswerdens verwehrt. In seiner Ästhetik widmet sich Schleiermacher ausführlich dem Begriff der Schönheit und entfernt sich auch von der Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens, da er die sinnliche Ebene nicht in der Weise wie Baumgarten beurteilt, sondern die Geistebene in den Vordergrund rückt, selbst wenn auch bei Schleiermacher die Empfindung angesprochen ist, die dennoch nicht auf purer Sinnlichkeit beruht. Der Name Aesthetik bedeutet Theorie der Empfindung und ist so der Logik gegenübergestellt. […] Das Wohlgefallen am Schönen […], ist also eigentlicher Gegenstand. Allein es war Unrecht die Sache von dieser Seite anzufassen. Wird das Schöne größtentheils durch menschliche Thätigkeit hervorgebracht, so ist auch Hervorbringen und Aufnehmen dasselbe, Produktivität und Receptivität nur dem Grade nach verschieden, und man sollte den Gegenstand in den größeren und stärkeren Zügen auffassen.⁴⁷

Das sogenannte Wohlgefallen am Schönen weist dem Menschen die Rolle zu, sowohl als Produzent wie auch als Rezipient dem Schönen, hinsichtlich der Erkenntnis des zu Grunde liegenden Schönen, gerecht werden zu können. Man kann nun sagen dieser Kreis entstehe daraus, dass man Künstler und Kenner in ihrem Verhältniß zu einander selbständig betrachte. Aber das Schöne sei ursprünglich in der Natur gegeben. […] Ist also das Schöne freie menschliche Production, so muss man […] nach der Theorie der Kunst fragen. Sieht man die Quelle des Schönen in der Natur, so muss man die Untersuchung mehr auf den Begriff des Schönen richten.⁴⁸

„Den Ausdruck mangelloses Dasein habe ich zuerst bei Schelling gefunden und mir angeeignet, wiewol er dort nicht so abgeleitet ist wie bei mir, und vielleicht also auch nicht ganz dasselbe gemeint. Aber das Wort für diese Formel ist bei Schelling das Schöne, bei mir das Ideale, beides also gleich.“⁴⁹ Schönheit ist in ihrem An-Sich also ein „Etwas“ ohne jeden Mangel und in diesem Sinne ein Ideal. Ein Ideal, was es so auch in den Plotinischen Enneaden gibt. Zum direkten Vergleich seien hier die detaillierten Äußerungen Plotins Über die intelligible Schönheit angegeben: Da wir behaupten, dass derjenige, welcher zum Anschauen der übersinnlichen Schönheit gelangt ist und die Schönheit des wahren Geistes empfunden hat, auch im Stande sei den Ursprung [Vater] dieser und den des göttlichen Verstandes mit seinen Gedanken zu erfassen, so lässt uns zu betrachten und für uns selbst auszusprechen versuchen […] wie jemand wohl die Schönheit des

 Friedrich Schleiermacher, Ästhetik (1819/24). Über den Begriff der Kunst (1831/32), hg.v. Thomas Lehnerer, Hamburg 1984, 3.  Schleiermacher 1984, 4 (Anm. 47).  Schleiermacher 1984, 4 (Anm. 47), 34 [100].

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Geistes und jener übersinnlichen Welt erschauen mag. Denken wir uns meinetwegen zwei Marmorblöcke neben einander liegen, den einen roh und ungestaltet, den andern bereits von der Kunst zum Bilde eines Gottes […] oder eines Menschen, aber nicht eines beliebigen, sondern eines von künstlerischer Hand sehr schön gestalteten geformt, so dürfte der von der Kunst zur schönen Gestalt erhobene offenbar schön sein, nicht weil er ein Marmorblock ist […], sondern von der Form [Idee] her, welche die Kunst ihm eingebildet hat.⁵⁰

7 Das Schöne und die Kunst Das der Kunst zu Grunde liegende Schöne ist es, was den Aufstieg zum Erschauen der übersinnlichen Welt erst möglich macht. Verachtet aber jemand die Künste, weil sie in ihren Schöpfungen die Natur nachahmen, so ist zuerst zu sagen, dass auch die Schöpfungen der Natur Nachahmungen sind; sodann muss man wissen, dass sie die Erscheinung nicht schlechtweg nachahmen, sondern aufsteigen zu den Gedanken, aus denen die Natur stammt; dann, dass sie auch aus dem Eigenen vieles hinzutun. Sie fügen nämlich als im Besitz der Schönheit allem Mangelhaften etwas hinzu, wie denn auch Phidias den Zeus nach keinem sichtbaren Gegenstände gebildet hat, sondern so wie Zeus aussehen würde, wenn er einmal vor unseren Augen erscheinen wollte. ⁵¹

Zum Vergleich sei eine Aussage Schleiermachers in der Ästhetik zitiert: Einmal ist schön bereits der Natur geweiht und begünstigt, auf die Kunst übertragen, zu leicht die falsche Meinung, daß die Kunst reproductiv und Nachahmerin der Natur sei. Die Natur liefere das Schöne nur zerstreut, die Kunst seze es zusammen. Allein das partielle Schöne kann gar nicht erkannt werden als nur in der Vergleichung mit dem Totalschönen. (Daher kennen die Alten einen Kanon, aber keine Idealnasen und Augen.) […] Schön sei, was in der Wirklichkeit mit dem Idealen übereinstimmt. Die zweite Ursache ist die, daß schön bei uns sich seiner Natur nach unmittelbar und ausschließend auf die Gestalt bezieht […].⁵²

 Plotin 2015, 465 – 466 [= Enneade V 8, 1] (Anm. 24).  Plotin 2015, 465 – 466 [= Enneade V 8, 1] (Anm. 24).  Schleiermacher 1984, 35 (Anm. 47). Dazu auch Lehnerer 1994, 77, Anm. 66 (Anm. 1): „Der Sachverhalt, dass Schönes auch außerhalb der Kunst zu finden ist, wird seit Kant und Hegel meist unter dem Stichwort des ‚Naturschönen‘ diskutiert. […] Dieser Diskussion haftet etwas Schiefes an. Für das Prädikat der Schönheit spielt es streng genommen überhaupt keine Rolle, ob ein Gegenstand ‚natürlich‘ oder ‚künstlich‘ ist, denn der Gegenstand wird im ästhetischen Urteil nicht als solcher (als bestimmter Gegenstand) bestimmt. Der Witz der transzendental-ästhetischen Argumentation besteht gerade darin, ein synthetisches Urteil a priori als möglich zu begründen, das von aller bestimmten Gegenstandsbestimmung völlig abzusehen vermag.“ Dazu auch Thomas Lehnerer, „Einleitung“, in: Friedrich Schleiermacher, Ästhetik 1819/24. Über den Begriff der Kunst, hg.v. Thomas Lehnerer, Hamburg 1984, VII–XXXIV, hier XVI, Anmerkung 17„Das persönlich wie wissenschaftlich eher distanzierte Verhältnis zwischen Schleiermacher und Hegel macht sich insofern auch in den Ausführungen der Ästhetik geltend, als Schleiermacher an keiner Stelle eine explizite Auseinandersetzung mit Hegel führt.“ Dennoch sei angemerkt, dass „in einer Randnotiz, die sich neben der Überschrift des Ästhetikmanuskripts (1819) befindet, Schleiermacher in knappen Worten die Geschichte der Ästhetik re-

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Ein Werk der Kunst steht stellvertretend für ein (das) Universum und das Sein des Kunstwerkes ist eine dieser Darstellungen. Das Sein der Kunst und die darin vorgetragenen Interpretationen des Schönen sind mannigfaltig und betören durch eine ebensolche Sprache, die aufgrund ihrer Vielschichtigkeit und der Experimentierfreudigkeit des schaffenden Künstlers und des aufnehmenden Rezipienten nie nur eindeutig sein kann. Mit einer eindeutigen, unmissverständlichen Sprache kann und konnte kein Kunstwerk je aufwarten. Hieran verdeutlicht sich auch von welch überragender Intensität der Begriff des Schönen in der Kunst, aber vor allem auch für den Bereich des Intelligiblen ist: „daß wir den Gebrauch des Ausdruckes Schön aus dem Gebiet der bildenden Kunst nicht mehr werden vertreiben können.“⁵³ Ganz in diesem Sinne sieht Schleiermacher, dass sich das Schöne aus der Kunst nicht tilgen lasse, obwohl es in der Jetztzeit von geringer Bedeutung zu sein scheint: Begriffe Schön, Wahr und Gut, worin auf gleiche Weise das erste der Kunst das zweite der erkennenden und das dritte der bildenden Thätigkeit zukommen soll. In dieser Parallele kann Schön nicht die elementare Vollkommenheit bedeuten, sondern man mußte es stempeln zum Ausdruck der Identität beider Vollkommenheiten. […] Daher überall in der Kunst nur der Schein des Wahren und Guten. In diesem doppelten Schein geht aber auch der Begriff des Schönen völlig auf. Denn die Kunst kann nichts andres darstellen als die Gegenstände der erkennenden und bildenden Thätigkeit.⁵⁴

Schleiermacher differenziert zwischen schön, wahr und gut und weist den Bereich des Schönen der Kunst zu, der allerdings an jenem Ort auch nur den Schein des Wahren und Guten zeigt. Die Kunst zeigt demnach nicht das Schöne,Wahre und Gute zugleich. „In der antiken Kunst finden wir ein größeres Bestreben der Künste sich zu vereinigen, und in der modernen ein größeres, für sich allein zu sein.“⁵⁵ „Alle Kunst hat auf der einen Seite eine religiöse Tendenz, auf der anderen verliert sie sich in das freie Spiel mit dem Einzelnen.“⁵⁶ Nur auf der einen Seite also hat die Kunst eine religiöse Tendenz, dies darf nicht vergessen werden, aber es ist sehr wichtig, jene religiöse Tendenz der Kunst stets in jede Betrachtung mit einzubeziehen. Die Kunst zeigt sich immer

sümiert. Dabei rechnet er Kant und Schiller zur ersten, Fichte und Schelling zur zweiten, Hegel aber zur dritten und höchsten Stufe.“ Die Hegelsche Ästhetik behandelt im dritten Kapitel des ersten Teils unter C. den Künstler. „Dieser Abschnitt von dem Hegel bemerkt, er sei ‚eigentlich eher […] aus dem Kreise philosophischer Betrachtung auszuschließen‘, erweist sich der Sache nach in vieler Hinsicht als eine Kurzfassung dessen, was Schleiermacher in seiner Ästhetik detailliert ausführt.“ (Vgl. dazu Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, Werke, Bd. 13, hg.v. Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Frankfurt 1970). Hier sei auch angefügt, dass Schleiermachers Verzicht auf eine vom individuellen Handeln zunächst unabhängige, spekulative Bestimmung der Idee der Schönheit, seine Konzentration auf die psychologisch-ethische Dimension des Kunsthandelns, das Spezifikum seiner Ästhetik gegenüber der Hegelschen ausmacht.  Schleiermacher 1984, 35 (Anm. 47).  Schleiermacher 1984, 41 (Anm. 47).  Schleiermacher 1984, 49 (Anm. 47).  Schleiermacher 1984, 21 (Anm. 47).

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doppeldeutig, darin besteht ihr bezeichnender Anspruch. Gerade hier verdeutlicht sich doch auch die Freiheit der Kunst, ja der einzelnen Künste. So sagt Andreas Arndt: „Schleiermacher ist – fast möchte man sagen: beinharter – Fortschrittstheoretiker (wie alle Frühromantiker), dessen Philosophie die Möglichkeit und Notwendigkeit einer durchgreifenden Humanisierung der Welt zu begründen versucht.“⁵⁷ Die von Schleiermacher in seinen Reden so oft propagierte Anschauung wird von Andreas Arndt als höchste Anschauung hervorgehoben und als absolutes Ideal gesehen – allerdings als ein Ideal für die Zukunft und also nie wirklich erreichbar.⁵⁸ Dreh- und Angelpunkt der Reden ist das Anschauen des Universums, um Sinn und Geschmack fürs Universum zu entwickeln. Diese hier propagierte Anschauung hat nichts mit einem sinnlichen Vollzug gemein, sondern spielt sich auf einer intelligiblen Ebene ab. Das Universum anschauen heißt auch, dass nur so der Mensch dem Göttlichen nahe kommen kann. Schleiermacher spricht hier auch deshalb kaum von Gott, sondern stets vom Göttlichen, da der Begriff Gott in seinem An-Sich nicht mit Sinn gefüllt werden kann, weil ihm keine organische Affektion entspricht.⁵⁹ „Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.“⁶⁰ „Alle Tätigkeit [muss] in ein staunendes Anschauen des Unendlichen“ aufgelöst werden.“⁶¹ Obwohl hier eine Passivität spürbar ist, ist dennoch nicht von einem „Sich-Hineingleiten-Lassen“ auszugehen. Auch hier ist eine Begeisterung und Hingabe notwendig, die es erst ermöglicht, dass es zu einem Verständnis dessen kommt, was Schleiermacher Anschauung nennt: „Anschauung ist und bleibt immer etwas einzelnes, abgesondertes, die unmittelbare Wahrnehmung, weiter nichts; sie zu verbinden und in ein Ganzes zusammenzustellen, ist schon wieder nicht das Geschäft des Sinnes, sondern des abstrakten Denkens.“⁶² Nur auf diese Weise lässt sich das Göttliche wenigstens annähernd erfahren: „Das Universum ist in einer ununterbrochenen Tätigkeit und offenbart sich uns jeden Augenblick.“⁶³ „Das Wesen der Religion kann sich auch deshalb nicht im Denken erfassen lassen.“ „Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen.“⁶⁴ Ebenso betont Schleiermacher: „Alles Anschauen gehet aus von einem Einfluß des Angeschaueten auf den Anschauenden […].“⁶⁵ Das Universum nimmt Einfluss auf den Anschauenden, womit in

        

Arndt 2011, 69 (Anm. 18). Arndt 2011, 72. (Anm. 18). Arndt 2011, 75 (Anm. 18). Schleiermacher 1958, 30 (Anm. 16). Schleiermacher 1958, 33 (Anm. 16). Schleiermacher 1958, 33 (Anm. 16). Schleiermacher 1958, 32 (Anm. 16). Schleiermacher 1958, 29 (Anm. 16). Schleiermacher 1958, 31 (Anm. 16).

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dieser Hinsicht die Tendenz der Passivität des Letzteren angedeutet wird. Der Anschauende setzt hier nicht das Universum durch seine Tätigkeit als Anschauender. Der Akt der Anschauung bringt nicht das Universum hervor, sondern jenes nimmt die aktive Rolle ein. Die Anschauung ist weder rein sinnlich noch intellektuell auf das Ich des Anschauenden bezogen, sondern steht in Beziehung zu dem Unendlichen an sich, das als ein Ganzes und als das All-Eine da ist. „Opfert mit mir ehrerbietig eine Locke den Manen des heiligen verstoßenen Spinoza! Ihn durchdrang der hohe Weltgeist, das Unendliche war sein Anfang und Ende […].“⁶⁶ Hier zeigt sich Schleiermachers Gegnerschaft zu Fichte. Schleiermacher handelt auch von der himmlischen Schönheit in seinen Reden⁶⁷ und ebenso auch von der Schönheit der Welt⁶⁸, womit angedeutet wird, dass auch in den Reden Begriffe der Schönheit Verwendung finden. Die himmlische Schönheit, die als immaterielle Einheit anzusehen ist und die weltliche – irdische – Schönheit, die der materiellen Ebene angehört. Kommt der Schönheit bei Schleiermacher auch die Rolle zu, dem Menschen eine Erfahrung des Intelligiblen zu ermöglichen? Ich bin geneigt diese Frage mit Ja zu beantworten und unternehme den Versuch den Begriff der Schönheit an Hand der Schleiermacherschen Ästhetik zu ergründen. Auf jeden Fall ist Schönheit als solche ein „Etwas“, das sich weder auf Grund der Natur ergibt noch auf die Kultur zurück verfolgen lässt. Schönheit ist immer auf das Empfinden angewiesen und entzieht sich aus diesem Grund der Regulierbarkeit, selbst wenn diesbezüglich viele Versuche unternommen wurden, die wie Thomas Lehnerer feststellt doch alle kläglich gescheitert seien.⁶⁹

8 Fazit Die Begeisterung allein (Gottbegeisterung) kann für sich nicht wichtig sein. Die Religion erscheint eben nie rein und einfach. Die Kunst auch nicht. In vergleichbarer Weise zeigt sich dies auch in den Plotinischen Enneaden. Die Erkenntnis ist und war höchst persönlich und einzeln. Es war das spezifisch Einzelne jedes Individuums, das sich dieser Schau hingab/hingibt. Diese Hingabe ist auch innerhalb des Neuplatonismus nur mit und in einer Begeisterung zu haben. Und so fordert Schleiermacher in den Reden, „dass ihr von allem, was sonst Religion genannt wird, absehend euer Augenmerk nur auf diese einzelnen Andeutungen und Stimmungen richtet, die ihr in allen Äußerungen und edlen Taten gottbegeisterter Menschen finden werdet.“⁷⁰

    

Schleiermacher 1958, 31 (Anm. 16). Schleiermacher 1958, 132 (Anm. 16). Schleiermacher 1958, 67 (Anm. 16). Lehnerer 1994, 76 (Anm 1). Schleiermacher 1958, 31 (Anm. 16).

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Begeisterung, Gefühl, Intuition sind die Worte, die Schleiermacher wählt, um den Menschen, der in einer Religion lebt, zu beschreiben. Es lässt sich lediglich schleierhaftet (mit einem Schleier behaftet) umschreiben, was das Spezielle ist, was eine Religion zur Religion macht und also den Menschen zu einem vertrauenden und glaubenden Wesen. Darum auch betont er: „Ihr Wesen [sc. der Religion; M.O.] ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl.“ Zusätzlich beschwört er seine Leser, sie sollen sich mit dem Gedanken nun endlich anfreunden: „Anschauen des Universums, ich bitte befreundet Euch mit diesem Begriff, er ist der Angel meiner ganzen Rede, er ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion […].“⁷¹ Doch besteht die Crux nun darin, dass die Religion (alle Religionen) nie in ihrer Essenz rein erscheint. Dies trifft auch auf die Kunst, vielmehr auf das der Kunst zu Grunde liegende Schöne zu. So geht es der Religion laut Schleiermacher auch nie darum, das Universum als Natur zu erklären und zu bestimmen, so macht es die Metaphysik – die aber eben nicht mit der Religion zu vermischen ist. Auch hier deutet sich eine direkte Parallele zu Platon und schließlich zum Neuplatonismus an. Gewiss ist für Schleiermacher die Kunst und zugleich jedweder Aspekt der Ästhetik das Fenster zur Phantasie. Die Ästhetik, respektive die Kunst ist imstande, dem Menschen das Tor zur Phantasie zu eröffnen. So entscheidend wie die Phantasie für das Erahnen des Göttlichen ist, so ist sie auch entscheidend für die Kunst. Schleiermacher zeigte auch hierdurch indirekt die starke Position des eigenverantwortlichen Menschen einmal als religiöses Wesen und einmal als kunstverständiger Mensch. Die Kunst im Allgemeinen kann hier als Fenster zum Universum gesehen werden. Erwähnt sei auch, dass sich Schleiermacher höchstpersönlich der Dichtung befleißigte. Die sogenannte ästhetische Betrachtungsweise ist für ihn bezeichnend, es ist eine Art der Betrachtung der Dinge, die von Winckelmann und Herder vorbereitend in die Phase der Romantik eingebracht wurde. Auch in diesem Zusammenhang ist nicht zu vergessen, dass Schleiermacher dem Aspekt der Freiheit seine Verbundenheit ausdrückt. Obwohl Spinoza in den Reden von Schleiermacher eine ungeteilte Verehrung genießt, so sieht er dennoch spinozistischen Determinismus als Problem und löst sich von jener Anschauungsart Spinozas, indem er Fichtesches Gedankengut bezüglich des Individuums reflektiert. Die Hochschätzung Spinozas aber sei an folgendem Zitat verdeutlicht: „Opfert mit mir ehrehrbietig eine Locke den Manen des heiligen verstoßenen Spinoza! Ihn durchdrang der hohe Weltgeist, das Unendliche war sein Anfang und Ende, das Universum seine einzige und ewige Liebe […], voller Religion war er und voll heiligen Geistes; und darum steht er auch da, allein und unerreicht, Meister in seiner Kunst, aber erhaben über die profane Zunft, ohne Jünger und ohne Bürgerrecht.“⁷²

 Schleiermacher 1958, 31 (Anm. 16).  Schleiermacher 1958, 31 (Anm. 16).

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Der sittliche Mensch, der sich in Freiheit erfährt und den Begriff der Individualität fühlt, ist für Schleiermacher ein Anziehungspunkt innerhalb seiner gesamten Ausführungen – inklusive auch der theologischen, philosophisch-ethischen, philosophisch-dialektischen und ästhetischen Ausführungen. Das auf das Universum Bezogene ist für Schleiermacher und auch für die am Neuplatonismus ausgerichtete Philosophie entscheidend, es sind die Eigenheiten des menschlichen Wesens, die es gilt mit dem Ganzen in Einklang zu bringen. Das, was wahrgenommen wird, ist nicht allein von der Außenwelt bestimmt, sondern die Phantasie, die im Besonderen hier bildende Funktion hat jene mit zu erschaffen, eben in der Weise, um die Außenwelt bereits interpretierend zu erfahren. So ist das Gemüt für die Schleiermachersche Phantasie so entscheidend, da nur im und durch das Gemüt, die Augen in dieser Weise empfänglich sind. Ganz in diesem Sinne zeigt es sich auch in seiner Ästhetik, dass die Beschreibung der Künste allein vom Herzen her zu erfassen ist. Seine Betrachtung der Künste weist sich eben auch aus diesem Grunde nicht als eine kunstwissenschaftliche Studie aus. Als Eckpunkte mögen auch hier einerseits die Aufklärung und andererseits die Schwärmerei gelten. Doch ein Problem bleibt letztendlich ungelöst. Es ist die ureigene Erschließung des Göttlichen, die auch bei Schleiermacher nur in Andeutungen angesprochen werden kann. Bewusst kann der Leser nicht vom Erschließen Gottes reden, sondern von dem Göttlichen. Die Essenz des Alleinigen und Ganzen ist bei Schleiermacher nicht auffindbar. Ein Streben zur Vervollkommnung „ist eher alles, nur nicht Annäherung zur Religion.“⁷³ In diesem Sinne fordert Schleiermacher zur Eigeninitiative und Kreativität auf – und ebenso zur Selbstverwirklichung. Wo alles nur auf ein verstandesmäßiges Argumentieren hinausläuft, da wird ein unbegreifliches Wesen nicht begriffen oder erfahren und auch nicht erkannt. Auch hier schimmert wieder das Argument jener Schleiermacherschen Systemfeindlichkeit durch, die ihm als „Pflanzstätte des toten Buchstabens“⁷⁴ gilt. Das Erleben und immer wieder Neuerleben der Anschauung des Universums zeichnet die Ästhetik der Reden aus und so auch zeigt es sich in vergleichbarerer Weise in dem Erleben des Aufstiegs durch das Wahrnehme des intelligiblen Schönen in der neuplatonischen Philosophie bei Plotin. Dies sollte nun an einigen grundsätzlichen Aussagen der Schleiermacherschen Reden und der Ästhetik evident zum Ausdruck gebracht werden. Schleiermachers Reden bieten eine in keiner Weise leichten Einstieg in seine Gedankenwelt, da er mit dieser Arbeit auch kein System vorstellt, zumal er ja die Systematik ablehnt. Die Religion passt zu keinem System, sie lässt sich nicht an Hand gewisser Gefüge eingrenzen und erklären. Ebenso steht es mit der Kunst. Auch sie verschließt sich letztendlich einer systematischen Erfassbarkeit. Ein Philosoph, der sich der Geschichte der Philosophie widmet, kann Schleiermacher und sein Werk nicht ignorieren und ebenso wenig die Enneaden des Plotin

 Schleiermacher 1958, 31 (Anm. 16).  Schleiermacher 1958, 31 (Anm. 16).

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und den Neuplatonismus als eine Phase der Philosophiegeschichte bei Seite lassen. Im Rahmen der Philosophiegeschichte hatte Schleiermacher aber lange Zeit keine ihm gebührende Erwähnung gefunden. Hans-Georg Gadamer allerdings widmete ihm, nicht nur, aber im Besonderen in seinem Werk Wahrheit und Methode, große Abschnitte und untersuchte en Detail seine Arbeiten zur Hermeneutik.⁷⁵ So steht Schleiermacher ja auch nicht etwa in einer Kantnachfolge, vielmehr zeigt er in seiner Auffassung der Sicht auf das Universum gedankliche Verbindungen zu Schelling. Hier darf festgestellt sein, dass sich bei Schleiermacher andeutende aber entscheidende Verbindungen zum Neuplatonismus zeigen. Obwohl Schleiermacher die Metaphysik in seinen Reden ganz und gar von der Philosophie scheidet, steht er in der Tradition Platons, da er seine Dialoge als Grund einer tragbaren philosophischen Reflexion sieht. Auch Schleiermacher entdeckt den Neuplatonismus des Plotin, dessen Philosophie maßgeblich durch Platon geprägt ist, den er als Denker verehrt und seine Lehre in einem metaphysischen System zusammenstellen wollte. Schleiermacher lässt sich so nicht einbinden, da er jeder Systematik hinsichtlich seines philosophischen Denkens ablehnend gegenübersteht. Die Sichtweise auf den göttlichen Grund im neuplatonischen Sinne, bezieht Schleiermacher als Anschauung des Universums und in diesem Sinne als ein Gegründetsein im Ursprung mit ein. Aus dem Einen – bei Schleiermacher wäre es das Göttliche – leitet Plotin nun nicht lediglich das Universum ab, sondern er legt eine Kosmogonie zu Grund, die es möglich machen soll, eine Selbstentfaltung des Einen in die Welt hinein zu garantieren. Die Welt ist bei Plotin das Bild der göttlichen Ordnung, an dieser der Mensch wiederum Teil hat, da er über Einsichten verfügt. Diese von Plotin propagierte Sichtweise ist dem Menschen immanent und soweit er als Vernunftwesen agiert auch wie ein sogenannter Automatismus zu begreifen. Das Eine, das sich in die Welt so entfaltet hat, wird in eben dem Akt der menschlichen Erkenntnis vollzogen, ebenso auch über die Reflexion der Schönheit. Die sinnliche Schönheit steht analog zur Harmonie des Göttlichen.Versteht Platon die sinnliche Schönheit als Mangel an Sein, so sieht Plotin darin die Materie, die durch Form bestimmt ist. Das Schöne ist bei Plotin in dem überragend großen Ausmaß wichtig, weil es gleichsam die Erkenntnis ermöglicht und so auch den Aufstieg zum Einen eröffnet. Das Schöne tritt hier direkt neben die Erkenntnis und ist ihr gleichrangig. Das ist sehr interessant, ist doch zu bedenken, dass Plotin für seine eigene Person lieber ganz Geist sein wollte und seine Körperlichkeit als Makel empfand, die es zu überwinden galt. Für Plotin ist der Unterschied zwischen der Anschauung, die sich im Geist und Intellekt vollzieht und der sinnlich erscheinenden Wirklichkeit konstitutiv. Ebenso ist für Plotin entscheidend, dass Natur wie auch Kunst – die Wirklichkeit – nur dann wahr ist, wenn auch das Urbild Gott durchscheint. So wird es von Schleiermacher weder in den Reden noch in seiner Ästhetik vertreten.  Hier sei aber auch erwähnt, dass Werner Beierwaltes in seiner groß angelegten Studie Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte (Frankfurt am Main 1985) und auch in der 2. Auflage (2016) wohl Schelling, Leibniz und Hegel (und viele mehr) mit einbezieht, aber Schleiermacher mit keinem Wort erwähnt.

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Schleiermacher spricht auch speziell nicht von Gott, sondern vom Göttlichen. Plotin versteht die Kunst – das Kunstwerk – nur als ein Vermittelndes, dessen Aufgabe darin besteht, zum Einen zu führen. Schleiermacher hingegen sieht eher auf das eigenständige Sehen und Hinsehen des Menschen innerhalb der vollziehenden Anschauung, mit welcher dann letztlich die Teilhabe und die Erkenntnis was das Universum ist, andeutungsweise erklärbar ist. Für die Kunst speziell ist zu sagen, dass Schleiermacher sie nicht nur als eine Nachahmung der Natur sieht, sie ist nie nur eine Reproduktion dessen, was der Mensch mit den Augen sieht oder auf eine andere Weise sinnlich wahrnimmt. So zeigt sich hier eine Übereinstimmung, da auch Plotin die Kunst als Erscheinung einer intelligiblen Idee sieht. Es ist eine Idee, die sich in der Kunst quasi zur Erscheinung bringt. Die Tätigkeit des Künstlers erfährt bei Plotin Hochachtung, da er den intelligiblen Ideen zufolge schafft (erschafft), da jene ihm der Vernunft zufolge immanent sind. Die Natur erfährt durch die Schaffenskraft oder Genialität des Künstlers eine Idealisierung, die sie in dieser Weise von sich nicht ausstrahlt. Das Moment der Kreation liegt jeder Kunst zugrunde – so bei Plotin und so auch bei Schleiermacher. Eine bloße Nachahmung des Gesehenen kann auch nie zur göttlichen Wahrheit führen – darin sind sich wiederum Schleiermacher und Plotin einig. Allerdings nimmt Schleiermacher eine göttliche Wahrheit nicht als Metaphysisches an. Eine bloße Nachahmung ist aber darüber hinaus für Schleiermacher erst gar keine Kunst, sie erfüllt nicht seine Anforderungen, Kunst zu sein. Plotin sieht die Kunst im Zusammenhang mit dem Schönen, als mit dem Guten verbunden, dass zur Vollkommenheit mit dem Einen führen soll. Und so stellt er die Frage: „Was ist es also, was auf die Augen der Beschauer einen Eindruck macht, was sie auf sich zieht, sie fesselt und sie an seinem Anblick Gefallen finden lässt?“⁷⁶ So darf festgestellt sein, dass für Schleiermacher von der plotinischen Sichtweise ein Faszinosum auszugehen schien, doch war er nicht grundsätzlich von ihr inspiriert. Ein Faszinosum dürfte Schleiermacher deshalb ergriffen haben, zumal Plotinisches weit von der sogenannten Vernunft der Aufklärungsphilosophie Kantischer Art wegführt. Hier wird der typisch romantische Gegenpol der Philosophie durch Plotin und Platon genährt. Allerdings bemerkt Plotin, dass in der Vernunft die Schönheit wohne.⁷⁷ Ebenso sei die reine Vernunft wie die Götter. Dieser Aspekt der Betonung alles Vernünftigen mag nun eine Trennlinie zwischen Schleiermacher und Plotinischem Gedankengut darstellen. Dennoch auch hier ist wieder auf die Nuancierung zu achten wenn Plotin bemerkt: „Also alle Produkte der Kunst wie der Natur bringt eine Weisheit hervor und die Werkmeisterin der schaffenden Natur ist überall die Weisheit. […] Kommen sie aber auf die Vernunft, so ist hier zu beachten, ob die Vernunft die Weisheit erzeugt. […] Die wahre Weisheit ist also Sein und das wahre Sein Weisheit

 Plotin 2015, 44– 46 [= Enneade I 6, 3] (Anm. 24).  Vgl. Plotin 2015, 465 – 466 [= Enneade V 8, 3] (Anm. 24).

Schleiermachers Reden über die Religion (1799) und die Ästhetik (1819/25)

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[…].“⁷⁸ Plotin spricht also von einer Vernunft, die sich ausschließlich wertvoll im Sinne der Weisheit zeigt. In diesem Sinne bleibt es bei einer Übereinstimmung mit Schleiermacher. Ebenso führt Plotin aus: „denn im Anschauen vergrößert sich das Schauen.“⁷⁹ Auch hier ist von einer zumindest grundsätzlichen und möglichen Annäherung auszugehen. Auch sieht Schleiermacher den Menschen eher in einer Empfänglichkeit, die sich aber nicht in einer ausschließlichen Ohnmacht und nur mit der Aufgabe betraut sieht, dass der Mensch ausschließlich angewiesen ist. Spricht Schleiermacher später in seiner Glaubenslehre auch von der schlechthinnigen Abhängigkeit (§4), so erläutert er in der Erklärung doch, dass der Mensch die besondere Gabe der Empfänglichkeit besitzt, also in der Weise kein Mängelwesen darstellt.

 Plotin 2015, 470 – 471 [= Enneade V 8, 5] (Anm. 24).  Plotin 2015, 470 [= Enneade V 8, 4] (Anm. 24).

Julia A. Lamm / Washington (DC, USA)

Schleiermacher’s Modern Platonism

This conference on Reformation and Modernity brings to the fore a meeting point of two neglected storylines – namely, that both Martin Luther and Friedrich Schleiermacher rejected Platonism and that in both cases this rejection was at the heart of their respective reformations.¹ Where Luther rejected the spiritual presumption of Dionysius’s Mystical Theology as well as the overreach of reason in Aristotle and Plato, Schleiermacher rejected the esoteric Platonic tradition and, by extension, recognizable forms of Platonism. While both storylines might be true at face value, they are also misleading and in need of closer examination. The narrative about Luther and Platonism achieved almost mythic status as it helped secure confessional alignments: The Middle Ages/Platonism/Catholicism versus Modernity/science/Protestantism. In the case of Schleiermacher, the storyline never rose to the status of myth since it was never that well known. Nevertheless, it too served confessional purposes: Schleiermacher’s Plato is not that of the tradition but of the text alone; his Plato was not an abstraction but Plato the person, and Schleiermacher’s aim was “to put it within the power of every one to have, through an immediate and more accurate knowledge of them alone, a view of his own of the genius and doctrines of the philosopher, quite new it may be, or at all events more perfect”². For the most part, Schleiermacher scholars, myself included, have been reticent to speak of Schleiermacher’s “Platonism”³. We refer to “Schleiermacher’s Plato,” his

 “One of the signal achievements of the nineteenth century, then, was the final disentangling of the many Neoplatonic ‘Platos’ from the ‘Plato’ of antiquity through the establishment of a ‘Plato’ text as distinct, for example, from a ‘Proclus’ text (foreshadowed already in Ficino’s great editions in the fifteenth century), and through the study of a ‘Plato himself’ on his own terms, as it were, by means of the critical standards of modern scholarship.” (Kevin Corrigan / John D. Turner, [Hg.], Platonisms. Ancient, Modern, and Postmodern, Boston 2007, 3 – 4). “The modern separation of Plato from Platonism begins with Friedrich Schleiermacher, who argued that the literary form of the dialogues produced a kind of firewall between Plato and the theoretical constructions of later Platonists.” (Lloyd P. Gerson, From Plato to Platonism, Ithaca 2014, 34).  Schleiermacher’s Introductions to the Dialogues of Plato, trans. by William Dobson, Cambridge 1836, 3 – 4. Vgl. Friedrich Schleiermacher [1804], “Einleitung”, in: Platons Werke. Erster Teil, Erster Band, KGA IV/3, ed. by Lutz Käppel / Johanna Loehr, Berlin / Boston 2016, 13 – 60, here 19: “[…] durch die unmittelbare genauere Kenntniß derselben allein jedem eine eigne, sei es nun ganz neue oder wenigstens vollständigere, Ansicht von des Mannes Geist und Lehre möglich zu machen.”.  Two notable exceptions are Albert Blackwell, Schleiermacher’s Early Philosophy of Life: Determinism, Freedom, and Phantasy, Chico 1982, 133 – 36; and Jan Rohls, “‘Der Winckelmann der griechischen Philosophie’ – Schleiermachers Platonismus im Kontext”, in: 200 Jahre “Reden über die Religion”: Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft, Halle 14.–17. März 1999, ed. by Ulrich Barth / Claus-Dieter Osthövener, Berlin 2000, 467– 496. https://doi.org/10.1515/9783110569520-041

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Platonic “roots”⁴ or “legacy”⁵ etc., but we carefully avoid the -ISM when it comes to Plato. This is an opportune time to reflect on this and to ask in what ways (if at all) we can talk about Schleiermacher’s Platonism. I view this as an experiment that inevitably must engage in two quite different tasks, which may seem at odds. First, it means looking for textual evidence that would demonstrate that Schleiermacher deliberately took up what he understood to be Platonic themes, which he then carried over into his own constructive thought in a sustained and systemic way. Are there specific warrants for attributing to Schleiermacher a “modern” form of “Platonism”, beyond some general Platonic affinities shared by the early Romantics? Second, it calls for stepping back and reviewing other forms of Platonism (pre-modern, modern, even post-modern) in the hope that the comparative task might also yield some insights. To be clear, I am not arguing for any line of influence of earlier Platonisms on Schleiermacher, but recalling the sheer variety of Platonisms may be instructive. Since other Schleiermacher scholars have argued convincingly that Schleiermacher’s hermeneutics and dialectics were directly influenced by his own translation and interpretation of Plato⁶, I want to look more specifically for Platonic influences on the content and tenor of his religious thought. Having already examined this with regard to his Weihnachtsfeier ⁷, here I focus on Schleiermacher’s revisions to his Reden, also published in 1806 while he was in Halle. A close comparison of the first two editions of the Reden, I suggest, provides us with an interesting test case, since Schleiermacher began his work on Platons Werke ⁸ shortly after he finished the first edition of the Reden in 1799, and he undertook his revision of the Reden in 1806, after having published the first three volumes of Platons Werke and while working on subsequent volumes. This task is an exploratory one, as I seek ways to track Schleiermacher’s revisions of the Reden and discern whether traces of his rather distinctive interpretation of Plato can be found there. Here I focus mainly on two blocks of revised text that occur early in the second speech. This essay begins with an orientation: a quick revisiting of the older storyline about Luther and Plato, and how that has been challenged in recent Luther scholarship (section 1); a consideration of the influential work of two intellectual historians of modern thought, Frederick Beiser and Charles Taylor, as they describe modern

 Frederick C. Beiser, The Romantic Imperative: The Concept of Early German Romanticism, Cambridge, Mass. and London 2003, 70.  Beiser 2003, 67 (n. 4).  See Rohls 2000, 479 – 485 (n. 3).  Friedrich Schleiermacher [1806], Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch, KGA I/5, ed. by Hermann Patsch, Berlin / New York 1995, 39 – 98; The Christmas Celebration: A Dialogue, trans. by Julia A. Lamm, in Schleiermacher: Christmas Dialogue, The Second Speech and Other Selections, New York / Mahwah 2014, 101– 151. See Lamm, “Schleiermacher’s Christmas Dialogue as Platonic Dialogue”, The Journal of Religion 92 (2012), 392– 420.  Platons Werke von F. Schleiermacher, Berlin: I/1 1804, I/2 u. II/1 1805; II/2 1807; II/3 1809; III/1 1828.

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strains of Platonism during Schleiermacher’s time (section 2). I then turn to Schleiermacher’s texts (section 3), reading the second edition of the Reden alongside his Introductions to Plato’s dialogues. I revisit Schleiermacher’s “organic monism” (subsection 1) and aspects of his “higher realism” (sub-section 2), and I briefly consider his notion of surrender (sub-section 3). Building on the work of Beiser, Taylor, and Blackwell, I argue that, yes, early German Romanticism was profoundly influenced by Plato in a distinctly modern way, but I would add that after 1804 we can detect in Schleiermacher’s thought a more specific presence of Plato than that exhibited in his earlier Romantic writings (e. g. in the first edition of the Reden in 1799), and that this might even rise to the level of a Platonism, albeit a distinctly modern form of Platonism.

1 Luther and Plato The older narrative of “Protestant triumphalism”⁹ insisted on discontinuity between Luther and the Middle Ages, with Platonism being one of the markers. Much was made, for instance, of Luther’s reference in his Lectures on Romans to the Pseudo-Dionysius’s Mystical Theology and the presumptuous spirituality it endorsed¹⁰, and not without good reason. Problematically, such skepticism came to be extended to philosophy and to the claims of reason overall. About a half-century ago, the discontinuity thesis began to be challenged by historians, who demonstrated Luther’s debt to trends in late medieval thoughts and practice, including the via moderna ¹¹, and by theologians, who argued for a subtler appreciation of the role of reason according to Luther.¹² In more recent literature on Luther, scholars have unearthed Luther’s positive assessment of Plato. For instance, Eric Parker has drawn attention to the fact that English translations of the Heidelberg Disputation do not include Luther’s proofs for the philosophical theses, among which is this positive evaluation of Plato by Luther: That the philosophy of Plato is better than the philosophy of Aristotle appears from this, namely, that Plato always depends upon the divine and immortal, separate and eternal, insensible and intelligible, from whence he also recommends that singulars, individuals, and sensible things be

 Heiko A. Oberman, The Two Reformations: The Journey from the Last Days to the New World, ed. by Donald Weinstein, New Haven / London 2003, xvi, 1, 19; cf. 65.  “This affects those who, following the mystical theology, exert themselves in the inner darkness and, leaving aside all picture of the suffering of Christ, desire to hear and contemplate the uncreated Word itself without first having had the eyes of their heart justified and cleansed by the Word incarnate.” (Luther: Lectures on Romans, Rom. 5:2, trans. by Wilhelm Pauck, Philadelphia 1961, 155 – 156).  For example, Heiko A. Oberman, Forerunners of the Reformation: The Shape of Late Medieval Thought, New York 1966, and The Dawn of the Reformation: Essays in Late Medieval and Early Reformation Thought, Edinburgh 1986.  For example, B. A. Gerrish, Grace and Reason: A Study in the Theology of Luther, Oxford 1962.

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abandoned because they cannot be known on account of their instability. Aristotle, being opposed to this in every way, ridicules the separable and intelligible things and brings in sensible things and singulars and thoroughly human and natural things.¹³

Such omissions as this have shaped assumptions about Luther in the English-speaking world. Similarly, scholars are also attending to Luther’s later, continued engagement with the Pseudo-Dionysius. In his fascinating study of Luther and Dionysian dialectics, Knut Afsvåg argues: “In my view, the most important contributors to this aspect of the renewal of Platonism were Meister Eckhart, Nicholas Cusanus and Martin Luther. Luther never rejected the dialectics of negativity as a fundamental aspect of Christian theology.”¹⁴ Afsvåg expands on the point: [Luther’s; J.L.] criticism of possible shortcomings of the tradition of Dionysian negativity is, however, not a one-sided rejection of it. The distinction between affirmative and negative theology remains, and with it the insistence that true human existence is established through participation in Christ’s. Luther thus remains convinced that Dionysian dialectics, if handled properly, is a meaningful approach to an appropriate exploration of the relationship between God and human. He therefore maintains a positive evaluation of authors of a Dionysian persuasion as long as he finds their approaches sufficiently experiential and theocentric. This is particularly the case with Bonaventure, who remained a positive point of reference in Luther’s thought, and, to an even greater extent, with John Tauler. Luther’s criticism of (some of) Dionysius’ interpreters in Operationes in Psalmos should therefore be considered as a contribution to this tradition, not a rejection of it.¹⁵

The story, therefore, is much more complex than previously thought, although the basic plot remains the case: Luther rejected Platonism. Nevertheless, his positive assessment of Plato is crucial here: it is based on an interpretation that insists on the chasm, the transcendental gap, between creator and creation. On both these scores ‒ Luther’s interpretation of Plato and his interest in negative dialectics ‒ Schleiermacher would be far from agreement. Thus, while both Luther and Schleiermacher left certain forms of Platonism behind, they did not reject the same things, or for the same reasons, or with the same attitude.

 Martin Luther, Heidelberg Disputation, trans. by Eric Parker, “The Platonism of Martin Luther”, The Calvinist International 20 (May 2013) (https://calvinistinternational.com/2013/05/20/the-platon ism-of-martin-luther/, accessed: 3/14/2018). (See WA 59, ed. by Ulrich Köpf et al., Heidelberg 2007, 405 – 426). Even the most recently translated text has omitted the proofs: see William R Russell (Hg.), Martin Luther’s Basic Theological Writings, Minneapolis 2012.  Knut Alfsvåg, “Luther as a Reader of Dionysius the Areopagite”, StudiaTheologica – Nordic Journal of Theology 65 (2011), 101– 114, here 110.  Alfsvåg 2012, 107– 108 (n. 14). See also Dennis Ngien, Fruit for the Soul. Luther on the Lament Psalms, Minneapolis 2015.

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2 Romanticism and Plato The renowned scholar of the history of modern German philosophy, Frederick Beiser, points to what he calls “two competing traditions of mysticism alive in German philosophy in the late eighteenth century”¹⁶. As he explains the difference: “Very crudely, there was the mysticism of the Platonic tradition, which understood mystical insight as hyperrational, and which made reason an intuitive power. There was also, however, the mysticism of the Protestant tradition, which saw mystical insight as suprarational, and which reduced reason to a strictly discursive power.”¹⁷ The problem is that people conflate the two, wrongly concluding “that the mysticism of Frühromantik has its source in the suprarationalism of the via moderna rather than the hyperrationalism of the Platonic tradition”.¹⁸ As evidence for the hyperrational Platonic mysticism of the early German Romantics, Beiser offers the following: “The object of their intellectual intuition is indeed the archetypes, the forms, or ideas underlying all phenomena. While the romantics are indeed skeptical of the powers of the intellect to know these forms, they still believe that they exist, and that we can have some intuition of them, however vague and fleeting.”¹⁹ Beiser intends this as an important corrective to the influential position of Manfred Frank, who failed to recognize the Platonic dimension of the early Romantics. The result has been the injection of “an unnecessary element of obscurantism into Frühromantik, which makes it vulnerable to all the old charges of antirationalism”.²⁰ According to Beiser, “the romantic doctrine of the primacy of aesthetic experience over the forms of discursive thinking was not meant as a rejection or limitation of reason in general but was intended to elevate intuitive forms of reason over discursive ones. It was never intended as a rejection of rationality as such”.²¹ When it comes to the influence of Plato on Schleiermacher in particular, Beiser makes the following case: Various aspects of Schleiermacher’s philosophy have much of their origins in his study of Plato: his conception of dialectic, his organic view of nature, his skepticism about foundationalism, and his theory of religious experience. It is this final aspect of Plato’s influence that is especially

 Beiser 2003, 63 (n. 4).  Beiser 2003, 63 (n. 4).  Beiser 2003, 64 (n. 4). According to Beiser, “The mysticism of the Protestant tradition ultimately had its roots in the via moderna, the nominalist tradition of late medieval thought, which traces its roots back to William of Ockham […]. It is indeed significant that the great reformers–Luther and Calvin–were schooled in the tradition of the via moderna; their distinction between the realms of reason and faith is the direct result of this schooling. For Luther and Calvin, the only access to the supernatural realm is through faith, which consists not merely in belief but also in inner experience” (63 – 64).  Beiser 2003, 64 (n. 4).  Beiser 2003, 66 (n. 4).  Frederick C. Beiser, “Romanticism and Idealism”, in: The Relevance of Romanticism: Essays on German Romantic Philosophy, ed. by Dalia Nassar, New York 2014, 30 – 43, here 37.

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relevant here, however. If we carefully read Schleiermacher’s analysis of religious experience in the second speech of the Reden, its Platonic roots soon reveal themselves.²²

Beiser cites three passages from the first edition of the Reden (1799) as evidence of these Platonic roots: In a remarkable passage Schleiermacher explains that the intuition of the universe consists in a feeling of love, a longing to become one with it, where “I am its soul … and it is my body.”[²³] Such a longing is, of course, the Platonic eros. Yet it is not only the act of intuiting the universe that is Platonic; its object is no less so. What we perceive when we intuit the universe, Schleiermacher later explains in the same speech, is its intelligible structure. Hence he says that “we intuit the universe most clearly and in a most holy manner” when we grasp “the eternal laws according to which bodies are themselves formed and destroyed.”[²⁴] “What actually appeals to the religious sense in its external world,” he further argues, “is not its masses but its laws”[²⁵].²⁶

Beiser’s insight here is spot on, but the weakness of his argument is that, although he gives a nod to Schleiermacher’s study of Plato, the only textual support he offers is from the first edition of the Reden (1799), written before Schleiermacher and Schlegel had begun their intensive study of Plato. In an earlier, penetrating study of the young Schleiermacher, Albert Blackwell identified many of the same elements of Schleiermacher’s “Platonism” as Beiser does. Pointing to “the reverence Schleiermacher felt for Plato’s ideal of the rational governance of life”, Blackwell wrote: “We have seen also how his agreement with the Socratic principle of Plato’s Apology – that wisdom consists in the acknowledgement of ignorance – contributes to Schleiermacher’s suspicion of philosophical systems claiming completeness and finality.”²⁷ He, too, underscored the importance of the Plato project, but he pointed out the potential that lies in a comparison of the two editions of the Reden for tracking Schleiermacher’s Platonism: “This immersion in

 Beiser 2003, 70 (n. 4).  The full sentence reads: “Ich liege am Busen der unendlichen Welt: ich bin in diesem Augenblik ihre Seele, denn ich fü hle alle ihre Krä fte und ihr unendliches Leben, wie mein eigenes, sie ist in diesem Augenblike mein Leib, denn ich durchdringe ihre Muskeln und ihre Glieder wie meine eigenen, und ihre innersten Nerven bewegen sich nach meinem Sinn und meiner Ahndung wie die meinigen” (Friedrich Schleiermacher [1799], Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, KGA I/2, ed. by Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 189 – 326, see 221). Translation: “I lie on the bosom of the infinite world. At this moment I am its soul, for I feel all its powers and its infinite life as my own; at this moment it is my body, for I penetrate its muscles and its limbs as my own, and its innermost nerves move according to my sense and my presentiment as my own” (Friedrich Schleiermacher, On Religion. Speeches to Its Cultured Despisers, trans. by Richard Crouter, Cambridge 1988, 113).  Beiser cites Schleiermacher 1984, 225 (n. 23).  Beiser cites Schleiermacher 1984, 227 (n. 23).  Beiser 2003, 70 – 71 (n. 4).  Blackwell 1982, 133 (n. 3).

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Plato separates the first edition of the Speeches from the second edition of 1806, and because of this, alterations in the latter provide a particularly sensitive index of Plato’s influence on Schleiermacher’s thinking.”²⁸ Blackwell did not, however, pursue this agenda except for one telling example from the second edition. While I agree with and stand indebted to Beiser’s and Blackwell’s basic arguments, I think a stronger case can be made for Schleiermacher’s Platonism by pursuing that comparison of the two editions in light of Schleiermacher’s Introductions to Plato’s dialogues. In what follows, I therefore build on and take further their work, but to do so I need the help of another intellectual historian, Charles Taylor, whose interest in modern philosophical and theological currents extends well beyond eighteenth- and nineteenth-century German thought. In his influential study, Sources of the Self: The Making of the Modern Identity, Charles Taylor identifies several currents of Platonism – some explicit – some implicit, some conscious, some unconscious. They separate and recombine in fascinating ways. Platonism originally, according to Taylor, was “self-mastery through reason”.²⁹ This manifestation of Platonism viewed the good life as “dominance of reason over desire.”³⁰ Another version of Platonism, at odds with this one, emerged in Christian Platonism, beginning with Augustine, and emphasized “transformation of the will”.³¹ These two combined and competed in various way, forming part of what Taylor calls “inescapable frameworks”.³² In the modern era, a new form of Platonism arose that was “based on vision and expressive power”.³³ In chapter 21, Taylor calls this the “Expressivity Turn”,³⁴ which he traces back to Herder: There is a set of ideas and intuitions, still inadequately understood, which makes us admire the artist and the creator more than any other civilization ever has; which convinces us that a life spent in artistic creation or performance is eminently worthwhile. This complex of ideas itself has Platonic roots. We are taking up a semi-suppressed side of Plato’s thought which emerges, for instance, in the Phaedrus, where he seems to think of the poet, inspired by mania, as capable of seeing what sober people are not […]. But there is also something quintessentially modern in this outlook. It depends on that modern sense […] that what meaning there is for us depends in part on our powers of expression, that discovering a framework is interwoven with inventing.³⁵

Whatever tensions might exist among these three strains of Platonism and their various manifestations in modernity, they stand together over against what Taylor calls “naturalism”, the aim of which is “to reject all qualitative distinctions and to con-

       

Blackwell 1982, 128 (n. 3). Charles Taylor, Sources of the Self: The Making of the Modern Identity, Cambridge, Mass. 1989, 21. Taylor 1989, 21 (n. 30). Taylor 1989, 21– 22 (n. 30).. Taylor 1989, title to Chapter 1, 3 – 24 (n. 30). Taylor 1989, 22 (n. 30). See Taylor 1989, 368 – 390 (n. 30). Taylor 1989, 22 (n. 30).

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strue all human goals as on the same footing, susceptible therefore of common quantification and calculation […]. My thesis here is that this idea is deeply mistaken”.³⁶ The weakness of Taylor’s argument is that, in recognizing the emergence of a new distinctly modern form of Platonism in Germany at the end of the eighteenth century, he speaks in too general terms and does not seem aware of the role here of the early German Romantics, much less of Schleiermacher. Nevertheless, what is particularly helpful for our present purposes is his analysis of strains of Platonism in modernity. Interestingly, Beiser, Blackwell, and Taylor all highlight the matter of which Platonic dialogues are stressed and how particular dialogues shape the form of Platonism. In particular, both Beiser and Taylor note the importance of the Phaedrus for the new German Platonists. Finally, both contrast this modern Platonism with views of reason that are strictly discursive or reductionistic.

3 Schleiermacher’s Modern Platonism For the sake of argument and to save time, let us assume that Schleiermacher’s first edition of the Reden is Platonic in the several senses laid out by Beiser, Blackwell, and Taylor. That is what I shall refer to as Schleiermacher’s “deep background Platonism”, which he shared with the other early Romantics. It both expressed and reflected the early Romantics’ love of Plato (and of Greek) which went back to their earliest days and which was a part of that store of ideas that shaped early German Romanticism. This background predated Schleiermacher’s full and sustained engagement with Plato in the Plato project, which had begun in collaboration with Friedrich Schlegel just after Schleiermacher had finished Reden in 1799.³⁷ By the time Schleiermacher wrote and published the second edition of the Reden in 1806, he had already published three volumes of Platons Werke (in 1804 and 1805) and was working on two others (published in 1807 and 1809). The first volume contained his famous General Introduction to Plato’s dialogues, which changed the course of Plato studies.³⁸ Schleiermacher’s revisions to the Reden are replete with new passages that bear traces of his Plato interpretation. The question before us right now is a focused one. It is not just a matter of pointing to certain similarities with Platonic thought but of

 Taylor 1989, 22– 23 (n. 30).  For details on the Plato project, see Julia A. Lamm, “Schleiermacher as Plato Scholar”, Journal of Religion 80 (2000), 206 – 239.  To date, the KGA has published the first volume of Platons Werke, and so references to the General Introduction (“Einleitung”) will be to that volume (n. 2). References to Schleiermacher’s Introductions to dialogues from other volumes of PW will be to Friedrich Schleiermacher, Über die Philosophie Platons, ed. by Peter M. Steiner, Hamburg 1996.

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determining whether his Plato interpretation directly influenced the argument he set forth in the Reden, especially in the second speech. In what follows, I revisit three aspects of Schleiermacher’s religious thought as he developed them in the first edition Reden: his “organic monism,” his “higher realism,” and his description of the pious life.³⁹ I give examples of how, if we attend carefully to the revisions of the Reden Schleiermacher made in 1806 and read them against his Introductions to Plato’s dialogues, we can indeed find a direct influence of the Plato project – and therefore of Plato – on his religious thought. It is not so much a major shift as a deepening, clarifying, and expansion of certain basic commitments. I conclude each sub-section with a brief reflection comparing Schleiermacher’s Platonism with other strains of Platonisms.

3.1 Schleiermacher’s Organic Monism and Platonism How can an organic monism, which elsewhere I have described as part of Schleiermacher’s post-Kantian Spinozism, possibly be Platonic? I suggest that we begin by examining the fortune of the following passage from the second Speech, which arguably is an expression of Schleiermacher’s organic monism and which remains in fairly stable form in the second edition: “Die Religion lebt ihr ganzes Leben auch in der Natur, aber in der unendlichen Natur des Ganzen, des Einen und Allen.”⁴⁰ (“Religion also lives its whole life in nature, but in the infinite nature of [the whole], the one and all.”⁴¹) In both editions, the passage appears early in the speech. In the first edition, it stood alone tucked in amidst a quick cascade of contrasts between religion, metaphysics, and morals; its purpose was to distinguish religion from metaphysics. Schleiermacher wrote: Metaphysics proceeds from finite human nature and wants to define consciously, from its simplest concept, the extent of its powers, and its receptivity, what the universe can be for us and how we necessarily must view it. Religion also lives its whole life in nature, but in the infinite nature of [the whole], the one and all; what holds in nature for everything individual also holds for

 For expanded discussion of the first two aspects, see Julia A. Lamm, The Living God: Schleiermacher’s Theological Appropriation of Spinoza, University Park 1996, 57– 94.  Schleiermacher 1984, 212 (n. 23). Working with the various editions of the Reden, and citing them, is a notoriously difficult task that has been greatly aided by a recent volume that places the texts of the first two editions (1799 and 1806) side-by-side on the page (and includes the shorter revisions of the third and fourth editions in footnotes): Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern 1799/1806/1821, ed. by Niklaus Peter, Zürich 2012. For the first edition (1799), I provide the text and page references from KGA I/2 (n. 23), and the English translation by Crouter (n. 23). For the second edition (1806), I provide the text from Schleiermacher; when relevant, the corresponding page(s) from KGA I/12 (Friedrich Peter, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. (2.–)4. Auflage, KGA I/12, ed. by Günter Meckenstock, Berlin / New York 1995, 1– 322), which prioritizes the fourth edition; and my own translation in Lamm 2014, 152– 223 (n. 7).  Crouter 1988, 102 (n. 23).

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the human being; and wherever everything, including man, may press on or tarry within this eternal ferment of individual forms and beings, religion wishes to intuit and to divine this in detail in quiet submissiveness.⁴²

In the second edition, the context of our passage changes considerably. It is set within the second major revision (let us call it “the second revised block”⁴³), which not only adds considerable length to, but also changes, the substance of the speech. In this revision, Schleiermacher alters how he conceives of the three basic categories that shape so much of the second speech: from the more static spheres of “metaphysics, morality, and religion” (1799) to the broader, gerundive categories of “thinking, acting, and religion/piety” (1806). This is not a mere substitution of terms but a reconceptualization. In the second edition, our passage in question still serves to help distinguish religion from ways of knowing, but in expanding his point Schleiermacher also intensifies it in a way that is reminiscent of his interpretation of Plato in Platons Werke. I offer here the comparable text from 1806: What I actually want to do is to translate for you, with clear words, what most of them only suspect but do not know themselves how to express. When you place God at the apex of your science as the ground of all knowing, they do honor and respect this, but this is not the same as their way of having and knowing about God – nay, neither science nor knowing arises out of their way. For indeed contemplation [Betrachtung] is essential to religion. You will never want to call anyone pious whose sense for the life of the world is not open, anyone who goes there in impenetrable obtuseness. This contemplation, however, does not attend to the essence of one finite thing in opposition to other finite things. It is, rather, simply the immediate perceiving of the universal existence of everything finite in the infinite and through the infinite, of everything temporal in the eternal and through the eternal. This seeking and finding in all that lives and moves, in all becoming and change, in all doing and suffering, and just having and knowing life itself in immediate feeling as this existence – this is religion. Religion is satisfied wherever it finds this; wherever this lies hidden, there is for religion inhibition and anxiety, necessity and death. And so religion is certainly a life in the infinite nature of the whole, in the one and all, and it sees everything in God and God in everything. It is not, however, knowledge and knowing, neither of the world nor of God – but it simply appreciates this without being it. To religion, knowledge is also a stirring and revelation of the infinite in the finite, which religion also sees in God and God in it.⁴⁴

 Crouter 1988, 102 (n. 23), emphases added. “Die Metaphysik geht aus von der endlichen Natur des Menschen, und will aus ihrem einfachsten Begriff, und aus dem Umfang ihrer Krä fte und ihrer Empfä nglichkeit mit Bewusstsein bestimmen, was das Universum fü r ihn sein kann, und wie er es notwendig erbliken muss. Die Religion lebt ihr ganzes Leben auch in der Natur, aber in der unendlichen Natur des Ganzen, des Einen und Allen; was in dieser alles Einzelne und so auch der Mensch gilt, und wo alles und auch er treiben und bleiben mag in dieser ewigen Gä hrung einzelner Formen und Wesen, das will sie in stiller Ergebenheit im Einzelnen anschauen und ahnden” (Schleiermacher 1984, 212 [n. 23], emphases added).  See Schleiermacher 2012, 43 – 46 (n. 40); Lamm 2014, 161– 164 (n. 7).  Lamm 2014, 162– 163 (n. 7); emphases added, translation slightly altered. “Ich will Euch sogar mit klaren Worten dolmetschen, wie die meisten von ihnen nur ahnen aber nicht von sich zu geben wis-

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Blackwell, too, highlights (a part of) this text and identifies three “Platonic aspects” in it: “Schleiermacher’s sense for the infinite”; his “emphasis upon life and motion, becoming and change”; and the “sense for ‘the organic whole’”.⁴⁵ Let us take it a step further by comparing Schleiermacher’s discussion here with its earlier version. Several things stand out. First, it is considerably longer than the 1799 version, about twice as long. Second, it arguably gives fuller expression to his organic monism (“the infinite nature of the whole, the one and all”) than did the comparable text in the first edition. In 1806, he adds more language about how the finite exists only in and through the infinite, the temporal in and through the eternal, underscoring its importance through repetition. Third, he speaks of the infinite differently at this point in the speech than he had at the same point in 1799. Not only does he refer to the infinite more in 1806, but he does so more directly and positively. In contrast, in the first edition, when he referred to the infinite at this early point in the speech, it was more in terms of what the moralists and metaphysicians had gotten wrong about the infinite, so that the reader had to infer what the correct stance towards the infinite is. In his revision, Schleiermacher ends with another strong, positive statement about the infinite that does not have a correlate in the first edition. Fourth, Schleiermacher employs the term contemplation (Betrachtung) twice here and in connection with the infinite and eternal. And fifth, he twice couples his language about the “one and all” and the finite in the infinite with language about God. The first four of these changes, I maintain, all reflect his work on Plato. In particular, Schleiermacher’s elaboration of what it means to live “a life in the infinite nature of the whole, in the one and all” picks up two Platonic themes that preoccupied him in his interpretation of the dialogues: the relationship of the finite and the infinite (the temporal and eternal, change and rest); and the role of contemplation (Betrachtung). For textual evidence, let us turn our attention to Platons Werke. sen, dass wenn Ihr Gott an die Spitze Eurer Wissenschaft stellt als den Grund alles Erkennens, sie dieses zwar loben und ehren, dies aber nicht dasselbige ist wie ihre Art Gott zu haben und um ihn zu wissen, aus welcher ja das Erkennen und die Wissenschaft nicht hervorgeht. Denn freilich ist der Religion die Betrachtung wesentlich, und wer in zugeschlossener Stumpfsinnigkeit hingeht, wem nicht der Sinn offen ist für das Leben der Welt, den werdet Ihr nie fromm nennen wollen; aber diese Betrachtung geht nicht auf das Wesen eines Endlichen im Gegensatz gegen das andere Endliche; sondern sie ist nur die unmittelbare Wahrnehmung von dem allgemeinen Sein alles Endlichen im Unendlichen und durch das Unendliche, alles Zeitlichen im Ewigen und durch das Ewige. Dieses Suchen und Finden in allem was lebt und sich regt, in allem Werden und Wechsel, in allem Tun und Leiden und das Leben selbst nur haben und kennen im unmittelbaren Gefühl als dieses Sein, das ist Religion. Ihre Befriedigung ist wo sie dieses findet; wo sich dies verbirgt, da ist für sie Hemmung und Ängstigung, Not und Tod. Und so ist sie freilich ein Leben in der unendlichen Natur des Ganzen, im Einen und Allen, in Gott, und sieht alles in Gott und Gott in allem. Aber das Wissen und Erkennen ist sie nicht, weder der Welt noch Gottes, sondern dies erkennt sie nur an ohne es zu sein; est ist ihr auch eine Regung und Offenbarung des Unendlichen im Endlichen, die sie auch sieht in Gott und Gott in ihr.” (Schleiermacher 2012, 45 [n. 40]; cf. Schleiermacher 1995, 52– 53 [n. 23]).  Blackwell 1982, 134 (n. 3).

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According to Schleiermacher, it was in the middle dialogues⁴⁶ that Plato turned his attention from philosophical method to the “object” of philosophy, namely “the true and perfectly existent”.⁴⁷ In his Introduction to the Gorgias, Schleiermacher explained that “the highest and most general problem of philosophy is exclusively this – to apprehend and fix the essential in that fleeting chaos, to display it as the essential and good therein, and so drawing forth to the full light of consciousness the apparent contradiction between those two intuitions [that of the true and existing, and that of the fleeting and changing], to reconcile it at the same time.”⁴⁸ Especially telling is how Schleiermacher reined in the more speculative moments in these middle dialogues, where Plato might seem to be separating the infinite from the finite, by insisting that certain dialogues be read together.⁴⁹ A case in point is how he read the Symposium first in relation to the Sophist and then in relation to the Phaedo. Here, I maintain, is where we can detect deep resonances between his interpretation of Plato and his revisions to the Reden. Here, too, we witness Schleiermacher curbing certain dualistic strains in Plato’s thought and aligning Plato instead with an organic monism. Schleiermacher argued that, whereas the Sophist enunciates “the nature of all true philosophy” and for the first time offers that “glance into that higher sphere of speculation”⁵⁰, the Symposium emphasizes the true philosopher as embodied in Socrates. Schleiermacher averred, it is not the abstract essence and nature of wisdom that is to be described, but its life and appearance in the mortal life of the visible man, in which wisdom herself, for this is manifestly Plato’s principal point in all his explanations respecting philosophy, has put on mortality, and displays herself subject to the conditions of time, as a progressive and expanding power,

 One of Schleiermacher’s contributions to the study of Plato was a new, modern ordering of the authentic Platonic dialogues. He argued that the dialogues were organized according to three main trilogies. Whereas the first and third trilogies were clearly defined, the second trilogy was complex since it includes more than three dialogues of the first rank. He identified it as comprising the Theaetetus; a sub-trilogy of the Sophist, the Statesman, and the Symposium; and, finally, the Phaedo (which, along with the Philebus, marks the transition to the final trilogy). For a detailed discussion of how Schleiermacher ordered and interpreted the dialogues constituting this middle trilogy, see Julia A. Lamm, “Reading Plato’s Dialectics: Schleiermacher’s Insistence on Dialectics as Dialogical”, ZNThG / JHMTh 10/1 (2003), 1– 25, especially 16 – 20.  Dobson 1836, 171 (n. 2). “[…] Anschauung des Wahren und Seienden […].” (Schleiermacher 1996, 178 [n. 38]).  Dobson 1836, 171 (n.2). “Daher den die höchste und allgemeine Aufgabe der Wissenschaft keine andere ist, als daß jenes Seiende, in diesem Werdenden ergriffen, als das Wahre und Gute dargestellt, und so der scheinbare Gegensatz zwischen jenen Anschauungen, indem er recht zum Bewußtsein gebracht wird, zugleich aufgelöst werde.” (Schleiermacher 1996, 179 [n. 38]).  Schleiermacher set forth his argument for the ordering of Plato’s dialogues in the General Introduction to Platons Werke (1804), but he argued the specific details of the what he considered to be the “natural and necessary connections” in the individual introductions to the dialogues.  Dobson 1836, 253. “[…] das Wesen aller wahren Philosophie […]”; “[…] der Blick in jenes höhere Gebiet der Spekulation […]” (Schleiermacher 1996, 250 [n. 38]).

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so that even the life of a philosopher is far from a repose in wisdom, but an endeavor to retain it, and … to create in the whole of time and the whole of space something upon which an immortality may arise in the mortal.⁵¹

In other words, as a counter-balance to any desire to be rid of the mortal body, Schleiermacher stressed Socrates’s desire to be with his friends and celebrate mortal life. The Phaedo, with its focus on the immortality of the soul, presented a special problem for Schleiermacher because of the “passionate desire [expressed therein] to become pure spirit, that wish for death in the wise man”⁵². He resolved the problem by stressing the natural, necessary relation between the Phaedo and the Symposium. When these two dialogues are read together, as he insisted they should be, the dualistic tendencies (immortal vs. mortal, soul vs. body) in Plato are subdued to the point of disappearance: Whoever then comprehends the connection of these two points in the sense in which Plato meant it, will certainly no longer hesitate to place the Phaedon and the Symposium together, and to recognise the reciprocal relation of the two. For, as the love there [in the Symposium] described exhibits the endeavour to connect the immortal with the mortal, that pure contemplation [reine Betrachtung] here [in the Phaedo; J.L.] is the endeavour to withdraw the immortal, as such, away from the mortal; and the two are manifestly in necessary connection with one another.⁵³

Notice here his reference to “pure contemplation” and his warning of the danger in separating mortality and immortality, body and soul.⁵⁴ Schleiermacher avoided this danger by connecting that pure contemplation to love, hence to sociability: For, as the description of love in the speech of Diotima could not exist at all without reference made to pure contemplation [reine Betrachtung], so also in this dialogue [the Phaedo], where, properly speaking, that contemplation is represented, we find manifold allusions throughout

 Dobson 1835, 279 – 80 (n. 2). “[…] also nicht etwa das absolute Sein und Wesen der Weisheit sollte dargestellt werden, sondern ihr Leben und ihre Erscheinung in dem sterblichen Leben des erscheinenden Menschen, in welchem sie selbst, denn dies ist offenbar die Hauptansicht des Platon in allen seinen Erklärungen über die Philosophie, das sterbliche angezogen hat und der Zeit unterworfen als ein werdendes und sich verbreitendes sich offenbart, so daß auch das Leben des Philosophen nicht etwa ein Ruhen in der Weisheit ist, sondern ein Streben sie festzuhalten und an jeden erregbaren Punkt anknüpfend der ganzen Zeit und dem ganzen Raume einzubilden, auf daß eine Unsterblichkeit werde in dem Sterblichen” (Schleiermacher 1996, 276 [n. 38]).  Dobson 1835, 292 (n.2). “[…] das Verlangen reiner Geist zu werden, das Sterbenwollen des Weisen […].” (Schleiermacher 1996, 288 [n. 38]).  Dobson 1835, 294 (n. 2). “Wer nun so den Zusammenhang dieser beiden Punkte im Sinn des Platon aufgefaßt hat, der wird wohl nicht länger Bedenken tragen, den ‘Phaidon’ zum ‘Gastmahle’ zu stellen, und die Verwandtschaft beider anzuerkennen. Denn wie die dort beschriebene Liebe das Bestreben ist, das Unsterbliche mit dem Sterblichen zu verbinden: so ist die hier dargestellte reine Betrachtung das Bestreben das Unsterbliche als solches aus dem Sterblichen zurückzuziehn. Und beide sind offenbar notwendig mit einander verbunden” (Schleiermacher 1996, 289 [n. 38]).  See Dobson 1836, 296 – 299 (n. 2); Schleiermacher 1996, 291, 294 (n. 38).

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to the passionate desire always to live with sympathetic minds, and to co-operate in creating truth within them, as a common task and profit; only, that as regards Socrates, in order as it were to secure him a tranquil departure, this is represented as already essentially completed in his own peculiar circle.⁵⁵

For Schleiermacher, what is quintessentially Platonic is not the separation of body/ spirit, mortal/immortal, unity/plurality, or constancy/change – but precisely their being held together, and the contemplating of the one through the other. In short, in his Introductions to the dialogues, Schleiermacher read Plato, at least in part, through the interpretive lens of previously held ontological commitments as shaped by Romanticism, and his interpretation of Plato then reinforced those same ontological commitments. His reading of Plato and his identification of (and with) what is properly “Platonic” confirmed what he had already said about the relationship between the finite and the infinite, as it also lent it greater depth of meaning. Further supporting evidence for how this holding together of being and becoming, the one and all, the infinite and the finite is evidence of Schleiermacher’s Platonism can be found in his Weihnachtsfeier, where Eduard, in the third speech, speaks of the “identity of being and becoming”⁵⁶. Schleiermacher explained to his friend Henriette Herz that, while the first speech exhibited only the form of a Platonic dialogue, this speech that contained the “Platonic spirit”.⁵⁷ Another interesting result from reading this revised and relocated passage from the Reden next to his Introduction to the Phaedo is Schleiermacher’s use of the term Betrachtung (contemplation) and his connecting it with Diotima’s speech in the Symposium. Although the term did occur in the first edition of the Reden, it occurs much more frequently in the second edition; indeed, it occurs three times in this second revised block alone, even though it did not occur in the comparable text from the first edition. Nor can it be said to be just incidental. Schleiermacher’s claim that “contemplation [Betrachtung] is essential to religion” is a striking one. Indeed, the

 Dobson 1836, 294– 295 (n. 2). “Denn wie die Darstellung der Liebe in der Rede der Diotima gar nicht bestehen konnte ohne Rückweisung auf die reine Betrachtung: so blickt auch hier in der Darstellung der Betrachtung auf mannigfaltige Weise das Verlangen hindurch, immer mit Gleichgesinnten zusammen zu leben, und in ihnen das Wahre mit zu erzeugen als gemeinsames Werk und Gut, nur daß es für den Sokrates gleichsam um ein ruhiges Hinscheiden zu gewähren, als im wesentlichen vollendet dargestellt wird” (Schleiermacher 1996, 290 [n. 38]).  Lamm 2014, 148 (n. 7). “[…] Einerleiheit des Seins und Werdens” (Schleiermacher 1995, 95 [n. 7]).  Schleiermacher to H. Herz, 17 February 1806: “Platonischen Geist kann ich der ersten Rede gar nicht zugestehen, da sie ja ihrer Natur nach eigentlich frivol ist. Platonische Form wohl, die ist aber eben so gut in der dritten. Bei einer flüchtigen Wiederlesung ist mir vorgekommen, als ob die zweite nicht eigenthümlich genug herausträte sondern sich zu sehr in die dritte hinein verlöre, was meine Absicht gar nicht war. Aber ich weiß wohl daß ich, als ich sie schrieb gerade am übelsten gestimmt war. Ueberhaupt muß man doch viel darauf rechnen, daß von dem ersten Gedanken bis zu dem letzten Buchstaben nur drei Wochen verflossen sind, während deren ich doch auch immer mit meinen Collegien zu schaffen hatte” (Brief 2145, KGA V/8, ed. by Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin / New York 2008, 469 – 470).

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use of Betrachtung here seems to have created a problem for him, since in the third edition (1821) he felt compelled to explain in a note that “the contemplation of the pious is only the immediate consciousness”⁵⁸ and to offer yet further qualification in one of his “Explanations”: “The connection shows that the expression contemplation is to be taken in the widest sense, not as speculation proper, but as all movement of the spirit withdrawn from outward activity.”⁵⁹ Therefore, there is a case to be made that Schleiermacher’s organic monism in the Reden, especially as he expanded upon it in the second edition, can indeed be considered a form of Platonism – not just because of certain affinities with Plato present already in 1799, but also and more especially because in 1806 it was informed and intensified by his study of Plato. What Schleiermacher found in Plato, as he described that in his Introductions to the dialogues, confirmed and deepened his organic monism; at the same time, it must be said that his post-Kantian Spinozism along with his Romantic predelictions shaped his distinctly modern Platonism. They were mutually reinforcing. That in itself makes his Platonism modern. But it is “modern” in at least two more specific ways. Schleiermacher’s is a modern Platonism in that it explicitly rejects any dualism, any separation of body and spirit, even of the finite and the infinite. Schleiermacher has rotated the vertical plane, so to speak, so that transcendence is not viewed hierarchically but in terms of wholeness, excess, livingness. Moreover, Schleiermacher’s Platonism, ontologically speaking, is also distinctly modern in that it allows for – it necessarily incorporates – history and change. While some pre-modern expressions of neo-Platonism were certainly dynamic, they still favored stability over instability and were not open to history in any modern sense. Indeed, they often served as metaphysical scaffolding to support entrenched hierarchical socio-political systems. It was no accident that the via moderna and its rejection of Platonism was linked to the disruptive, eschatological thrust of the Spiritual Franciscans in the thirteenth and fourteenth centuries. In his Reden and in the Weihnachtsfeier, both from 1806, not only does Schleiermacher’s Platonism incorporate history in the emerging modern sense, but it is also more democratic in nature. It should be noted, however, that in Schleiermacher’s organic monism historical movement is presumed to be progressive, moving toward a particular telos, and thus it belongs to a certain period within modernity.

 “sondern die Betrachtung des Frommen ist nur das unmittelbare Bewusstsein” (Schleiermacher 1995, 53 [n. 40]; Schleiermacher 2012, 45, note 109 [n. 40]).  Schleiermacher, Explanation 2 to the Second Speech (1821), trans. by John Oman, On Religion: Speeches to its Cultured Despisers, New York / Hagerstown / San Francisco / London 1958, 103. “Aehnliches dieser Stelle steht schon S. 42, wo nur dem Zusammenhange nach der Ausdruk Betrachtung in dem weitern Sinne genommen werden muß, wie nicht nur die eigentliche Speculation darunter zu begreifen ist, sondern alles von ä ußerer Wirksamkeit zurü kgezogene Erregtsein des Geistes” (Schleiermacher 1995, 131 (n. 23); Schleiermacher 2012, 116 [n. 40]).

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What can be gained by calling it “Platonism”? Perhaps it illuminates what the terms “post-Kantian Spinozism” and “organic monism” cannot quite capture alone: the character, so to speak, of the infinite. Beiser notes the role of eros – of desire – on the part of the religious person in the Reden. And he is right about that. We only have to recall to what Schleiermacher does with eros and desire (Sehnsucht) in his Introduction to the Phaedrus, especially. Yet the deeper ontological ground for that is the fact that, for Schleiermacher, the infinite is love. In both editions, Schleiermacher declared that “the occupation of the moment and the occupation of the centuries point to the great, always ongoing redemptive work of eternal love”.⁶⁰ That eternal love is, for Schleiermacher, more eros than agape. From a strictly comparative perspective, there are thus resonances here with a Proclian (as opposed to a Plotinian) form of neo-Platonism as developed by the Pseudo-Dionysius in in The Divine Names (708 A-B, 709C-D, 712 A-B), where the divine eros is described as going out of itself in yearning. Relatedly, there are resonances with earlier forms of Platonism that stressed the coincidence of opposites.

3.2 Schleiermacher’s “Higher Realism” as Platonic Again, for the sake of argument and to save time, let us accept that Schleiermacher’s early (pre-1800) thought is Platonic in the more general sense of “deep background”. This is captured by Beiser’s term hyperrationalism: the confidence the Romantics had in the knowability of the universe – its rational order – because it is rooted in the infinite. The question for us is, Is there specific evidence of a Platonism distinctive to Schleiermacher and traceable to his work on Plato when it comes to knowledge and knowing? For now, let us prescind from the thorny issue of changes Schleiermacher made regarding Gefühl and Anschauung in the second edition of the Reden, and instead simply look at what he says about knowing. On this score, Schleiermacher’s revisions of the second Speech are peppered with new passages that bear traces of his Introductions to Plato’s dialogues. Take, for example, the third major revision in the second speech, the first half of which is almost all new and so full of allusions to Plato that it might even be read as a tribute to him (the “third revised block”⁶¹). This revised block begins just a few lines after the end of the second revised block, which we have just discussed. The context now is Schleiermacher’s explanation of how religion is the “necessary and indispensable third” to knowing and acting. In the first edition, where he identified one of the three as metaphysics, Schleiermacher was concerned about the pretensions of speculation (Spekulation), towards which he took a negative stance (Fichte being the likely target). Metaphysics, he charged, too easily becomes disconnected

 Lamm 2014, 207 (n. 7); cf. Crouter 1988, 127 (n. 23).  See Schleiermacher 2012, 47– 49 (n. 40); Lamm 2014, 164– 167 (n. 7).

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from reality. In the second edition, as we have seen, Schleiermacher recasts that category in terms of “thinking” or “knowing,” towards which he now takes a decidedly positive stance, as long as proper limits and conditions are recognized. Thus, at one point, he drops the term Spekulation and replaces it with Wissenschaft. ⁶² In his revision, Schleiermacher is keen on establishing a positive relationship among the three categories (when each is understood correctly), on affirming the possibility and necessity of true knowing, and on rejecting the perceived opposition between knowing (hence, science) and religion. Plato helps him in this task. In this third revised block, Schleiermacher insists that it is impossible for someone to “be scientific without religion” and yet, just as strongly, he stipulates, “piety is not the measure of science”.⁶³ He explains: Yet just as a person can hardly be truly scientific without being pious, so as certainly the pious person can be truly ignorant, but never false-knowing. For the pious person’s own existence is not of that subordinated kind, which (according to the ancient principle that like can only be known by like) would have nothing recognizable except non-being under the deceptive appearance of existence. On the contrary, it is a true existence that also recognizes true existence. And where this is not encountered, the pious person also believes there is nothing to see. In my opinion, for someone still entangled by that false appearance, ignorance is a priceless nugget of science […].⁶⁴

In these few lines alone, we can detect reverberating echoes of his interpretation of Plato. Let me tease out just a few, offering evidence from his Introductions to Plato’s dialogues. First, Schleiermacher identified Socratic ignorance as a Platonic signature. In his General Introduction to Platons Werke, he criticized as “unplatonic” interpreters who presumed too much and who forgot the value that Plato himself had placed on “the consciousness of ignorance”.⁶⁵ Here in the second speech he holds ignorance up as a virtue of the pious. The pious will grant what they do not know and that there is much they do not know, but they do not cling to falsehoods. Not

 See Schleiermacher 2012, 47, note 122 (n. 40); Schleiermacher 1995 54, line 30 (n. 23).  Lamm 2014, 164 (n. 7). “Aber ebenso unmöglich, bedenkt es wohl, ist ja nach meiner Meinung, dass einer sittlich sein kann ohne Religion, oder wissenschaftlich ohne sie” (Schleiermacher 2012, 47).  Lamm 2014, 164 (n. 7). “Aber so wenig einer wahrhaft wissenschaftlich sein kann ohne fromm: so gewiss kann auch der Fromme zwar wohl unwissend sein, aber nie falsch wissend. Denn sein eigenes Sein ist nicht von jener untergeordneten Art, welche, nach dem alten Grundsatz, dass nur von Gleichem Gleiches kann erkannt werden, nichts Erkennbares hätte als das Nichtseiende unter dem trüglichen Schein des Seins. Sondern es ist ein wahres Sein, welches auch wahres Sein erkennt, und wo ihm dieses nicht begegnet, auch nichts zu sehen glaubt. Welch ein köstliches Kleinod aber nach meiner Meinung die Unwissenheit ist für den, der noch von jenem falschen Schein befangen ist …” (Schleiermacher 2012, 47 [n. 40]).  Dobson 1836, 5 (n. 2). “So daß jene Zufriedenheit etwas unreif zu sein scheint, welche behauptet, wir könnten den Platon jezt schon besser verstehen, als er sich selbst verstanden habe,und daß man belächeln kann, wie sie den Platon, welcher auf das Bewußtsein des Nichtwissens einen solchen Werth legt, so unplatonisch suchen will” (Schleiermacher 2016, 19 – 20 [n. 2]).

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ignorance but the conceit of knowledge is the opposite of knowledge.⁶⁶ Second, the “ancient principle” he notes here is given almost verbatim in his Introduction to the Phaedo. ⁶⁷ Third, and more broadly speaking, the issues Schleiermacher touches on here in his revision of the second speech reflect what he took to be one of the main tasks of the middle dialogues – namely, to distinguish being from appearance, truth from falsehood.⁶⁸ Fourth, this passage, in its reference to non-being and falsehood, brings this revised addition especially close to Schleiermacher’s interpretation of the Sophist. In his Introduction to that dialogue, Schleiermacher argued (in typical fashion) for the organic relation among the main parts. The subject matter of the outer part is “the question relative to the non-existent and error”.⁶⁹ This sets the stage for the higher dialectics at the “inner” part of the work: But what reader, when he looks to the tenor of this digression, will not be compelled to apprehend in it immediately the most valuable and precious core of the dialogue, and that the more certainly, as here for the first time almost in the writings of Plato, the most inward sanctuary of philosophy is opened in a purely philosophical manner, and as, generally, existence is better and more noble than non-existence.⁷⁰

In case the despisers of religion would not recognize the obvious allusion to Plato in this revision to the second speech, Schleiermacher adds: “You know this from my speeches, and if you have not yet figured it out for yourselves, then go and learn it from your Socrates.”⁷¹ Later in this same third revised block of the Reden, we can detect yet another clear echo of Plato. Schleiermacher writes: “And how can both [art/culture and science] flourish and come to life in you, other than insofar as the eternal unity of reason and nature – and insofar as the universal existence of everything finite in the infinite – lives immediately in you?”⁷² This explicit stress on the unity of reason and nature – and on the presupposition of that unity for our acting and knowing – is directly related to Schleiermacher’s work on Plato. In fact, it is one of the principles Schleiermacher uses to determine

 See Schleiermacher 2012, 47 note 128 (n. 40); Lamm 2014, 165 note 20 (n. 7).  See Schleiermacher 1996, 289 (n. 38); Dobson 1836, 293 (n. 2).  See Schleiermacher 1996, 179 – 180 (n. 38); Dobson 1836, 172 (n. 2).  Dobson 1836, 251 (n. 2). “… die Frage über das Nichtseiende und den Irrtum …” (Schleiermacher 1996, 248 [n. 38]).  Dobson 1836, 251 (n. 2). “… gerade hierin den edelsten und köstlichsten Kern des Ganzen um so gewisser erkennen, als sich hier fast zuerst in den Schriften des Platon das innerste Heiligtum der Philosophie rein philosophisch aufschließt, und als überhaupt das Sein besser und herrlicher ist als das Nichtsein…” (Schleiermacher 1996, 248 [n. 39]).  Lamm 2014, 164– 165 (n. 7). “…das wisst Ihr aus meinen Reden, und wenn Ihr selbst es fü r Euch noch nicht einseht, so geht und lernt es von Eurem Sokrates” (Schleiermacher 2012, 47 [n. 40]).  Lamm 2014, 166 (n. 7). “…und wie kann beides in Euch zum Leben gedeihen als nur sofern die ewige Einheit der Vernunft und Natur, sofern das allgemeine Sein alles Endlichen im Unendlichen unmittelbar in Euch lebt?” (Schleiermacher 2012, 48 [n. 40]).

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the ordering of the dialogues. In his General Introduction to Platons Werke, he argued that the third trilogy immediately presents itself because the two sciences, ethics and physics, find their fullest scientific presentations in the Republic and Timaeus, respectively.⁷³ All the other dialogues, he maintained, progress towards these two works as, by means of the dialectical method, they develop knowledge of the good and of being. Schleiermacher called this the pedagogical progression of ideas, and it served as one of his chief hermeneutical principles in trying to understand Plato. In his Introduction to the Gorgias, his language comes remarkably close to this passage from the second speech (albeit under the guise of a double negative): “Therefore the principal object for the second part of Plato’s works, and their common problem, will be to show, that science and art cannot be discovered, but only a deceitful semblance of both must be ever predominant, so long as these two are exchanged with each other, being with appearance, and good with pleasure.”⁷⁴ Likewise, notice this language regarding the unity of being and knowing from his Introduction to the Sophist: “The question arises as to the community of ideas, upon which all real thought and all life in knowledge depends; and the notion of the life of the existent, and of the necessary identity and reciprocality of existence and

 I offer two of many examples. From his General Introduction: “The others occupy the interval between these and the constructive, inasmuch as they treat progressively of the applicability of those principles, of the distinction between philosophical and common knowledge in their united application to two proposed and real sciences, that of Ethics, namely, and of Physics. In this respect also they stand in the middle between the constructive in which the practical and the theoretical are completely united, and the elementary, in which the two are kept separate more than any where else in Plato. These, then, form the second part, which is distinguished by an especial and almost difficult artificiality, as well in the construction of the particular dialogues as in their progressive connection, and which might be named for distinction’s sake, the indirect method, since it commences almost universally with the juxta-position of antitheses. In these three divisions therefore, the works of Plato are here to be given to the reader; so that while each part is arranged according to its obvious characteristics, the dialogues also of the second rank occupy precisely the places which, after due consideration of every point, seems to belong to them” (Dobson 1836, 45 [n. 2]; cf. Schleiermacher 2016, 56 – 57 [n. 2]; Schleiermacher 1996, 67 [n. 38]). Introduction to the Gorgias: “[…] the Gorgias appears exactly as the work that is to be placed at the head of the second division of the Platonic writings, with reference to which our general Introduction maintained, that the dialogues which it includes, occupying a middle position between the elementary and constructive ones, treat generally, no longer as the first did, of the method of philosophy, but of its object, aiming at a complete apprehension and right decision of it. Nor yet, as the latter, endeavour absolutely to set forth the two real sciences, Physics and Ethics, but only by preparatory and progressive steps to fix and define them; and that when considered either singly or in their community of mutual dependence, they signalize themselves by a less uniform construction than was in the first division, but one peculiarly articifial and almost perplexing” (Dobson 1836, 170 [n. 2]; cf. Schleiermacher 1996, 178 [n. 38]). Emphases added in both quotations.  Dobson 1836, 172 (n. 29), emphases added. “… daß Wissenschaft und Kunst nicht könne ausgefunden sein, sondern nur ein trügerischer Schein von beiden obwalten müsse, überall wo noch jene beiden, das Wesen mit der Erscheinung, und das Gute mit der Lust verwechselt werden” (Schleiermacher 1996, 180 [n. 38]). Emphases added in both quotations.

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knowledge is most regularly disclosed.”⁷⁵ Jan Rohls is referring to Schleiermacher’s Dialektik, but this could just as well be said about certain revised passages in the Reden: “Ebenso platonisch ist die Annahme eines transzendenten oder – wie Schleiermacher sagt – eines transzendentalen Grundes, des höchsten Seins als der Identität von Denken und Sein, die die Bedingung der Möglichkeit von Wissen ist.”⁷⁶ What needs further examination (but which lies beyond the scope of this paper) is whether what Schleiermacher did with “ethics” and “physics” in Platons Werke, and how he understood them to be rooted in the identity of being and knowing, can be detected in his reconfiguration of the three main categories in the second Speech. As I mention above and argue more fully elsewhere, Schleiermacher shifted from the categories of metaphysics, morals, and religion in 1799⁷⁷ to a much more complex typology in 1806.⁷⁸ Schleiermacher now talks about a way of thinking and a way of acting⁷⁹, with acting subdivided into life and art and thinking subdivided into theory about physics/metaphysics and theory about human behavior. This is a significant revision that shows signs of the influence of Schleiermacher’s interpretation of Plato. At the very least, it is Platonic in that it becomes much more dialogical as he presents the three to the cultured despisers: he asks them questions and challenges them, forcing them back to reflect on themselves and question their own preconceptions. Moreover, his new typology is specifically Platonic (as Schleiermacher understood it) in that – unlike morality and metaphysics, both of which are fields of study and spheres of influence beset with particular attitudes – acting and thinking are processes, and so better capture the asymptotic movement towards the good and truth. Yet it may also be the case that these two processes align well with

 Dobson 1836, 251 [n. 2], emphases added. “… die Frage über die Gemeinschaft der Begriffe, von welcher alles wirkliche Denken und alles Leben der Wissenschaft abhängt, und es eröffnet sich auf das bestimmteste die Anschauung von dem Leben des Seienden und von dem notwendigen Eins- und Ineinandersein des Seins und des Erkennens” (Schleiermacher 1996, 249 [n. 38]).  Rohls 2000, 485 (n. 3).  See Crouter 1988, 97 (n. 23); Schleiermacher 1984, 207 (n. 23).  See Julia A. Lamm “Schleiermacher’s Re-Writing as Spiritual Exercise, 1799 – 1806”, in Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik. Akten des Schleiermacher-Kongresses 2015, ed. by Arnulf von Scheliha, Berlin / Boston 2017, 293 – 302, here 300 – 301.  Schleiermacher, On Religion (1806): “Religion is to you, in one moment, a kind of thinking, a faith, a distinct manner of observing the world and of connecting whatever we encounter in it; in another moment, it is a manner of acting, a particular desire and love, a special kind of conducting and moving oneself inwardly. Without this separation of the theoretical and the practical, you can hardly think, and although religion belongs to both sides, you are nevertheless accustomed, every time, to looking at it selectively from one of the two sides” (Lamm 2014, 154 [n. 7]). “Die Religion ist Euch bald eine Denkungsart, ein Glaube, eine eigene Weise die Welt zu betrachten, und was uns in ihr begegnet in Verbindung zu bringen; bald eine Handlungsweise, eine eigene Lust und Liebe, eine besondere Art sich zu betragen und sich innerlich zu bewegen. Ohne diese Trennung eines Theoretischen und Praktischen könnt Ihr nun einmal schwerlich denken, und wiewohl die Religion beiden Seiten angehört, seid Ihr doch gewohnt jedesmal auf eine von beiden vorzüglich zu achten” (Schleiermacher 2012, 36 [n. 40]).

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what in his Introductions to the dialogues Schleiermacher called the two sciences, ethics and physics, and like them are rooted in a higher unity. If Schleiermacher’s account of knowing and of a “higher realism” in the second edition of the Reden is a form of Platonism, it is modern in that it is non-speculative and is post-Kantian, but that was true of the first edition as well. The account he offers in the second edition is modern in at least two more specific ways. First, Schleiermacher is concerned about the new sophists. He insists that nature can be known, that there are facts and falsehoods; at the same time, he stresses the asymptotic nature of knowing, the important role of misunderstanding, and the role of humility in acknowledging the possibility of misunderstanding. Schleiermacher’s modern Platonism resists what Taylor calls “naturalism”, by which Taylor means a reductionism – a modern type of sophistry. Second, it is also modern in representing – indeed, in helping to bring about – what Taylor calls the “Expressivist Turn”: “that what meaning there is for us depends in part on our powers of expression, that discovering a framework is interwoven with inventing.”⁸⁰ There is an aesthetic dimension to knowing, as exemplified by Plato, whom Schleiermacher famously described as “philosophical artist.” In wider comparative view, it strikes an interesting point of affinity with the via moderna. It is in a sense, however, the flip of the fifteenth-century competition between moderni and the Platonists. Then, the Platonists were the systematizers and it was the moderni who allowed for open and experimental pursuits of knowledge.⁸¹ For Schleiermacher (and the Romantics), Plato stands opposed to the systematizers, the new sophists, who erect systems and try to impose those onto the universe. Schleiermacher located the seeds of Plato’s philosophy in the Phaedrus: eros is the impulse animating all philosophizing, and dialogical (as opposed to speculative) dialectics is the method. Platonism for Schleiermacher was not system but connectedness, movement, and creativity in all existence, including human reason.

3.3 Pious Surrender and Platonism I hinted above that Schleiermacher’s non-speculative reading of Plato’s dialectics, and with it his emphasis on ignorance as opposed to false-knowing, points to an issue that is not just epistemological in nature but also spiritual: the role of humility. On this score, too, the revisions to the Reden reflect another aspect of what is not unrelated to his Platonism: it has to do with surrender. At the beginning of the first speech, Schleiermacher introduced “two opposing” or “two primal forces”⁸², which he described as two “original functions of spiritual nature”.⁸³ In 1799, he iden   

Taylor 1989, 22 (n. 29). See, e. g., Oberman 2003, 66 (n. 9). Crouter 1988, 79 – 80 (n. 23); Schleiermacher 1984, 191 (n. 23); Schleiermacher 2012, 10 (n. 40). Crouter 1988, 80 (n. 23); Schleiermacher 1984, 192 (n. 23); Schleiermacher 2012, 11 (n. 40).

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tified these as “the thirsty attraction and the expansion of the active and living self”.⁸⁴ In 1806, he redefines the second force or impulse as the “longing to surrender oneself to [the whole], and to feel oneself grasped and determined by it”⁸⁵. I do not mean to suggest that this change was a direct influence by his engagement with Plato. If anything, it was a certain matter of logic; the argument did not work in the first edition.⁸⁶ At the same time, both forces, as he redefines them in 1806, are compatible with his Plato interpretation. The theme of surrender, as a religious and specifically Christian gesture, occurs in at least three crucial moments in the Weihnachtsfeier, which was Schleiermacher’s attempt at a Platonic dialogue: the moment not just when gifts are given but when they are recognized as the possession of the other; Charlotte’s surrender of her dying baby in the third story; and the unsaying of Josef at the very end of the piece. All three surrenderings capture a moment of perfect equilibrium on the part of the character(s) involved, a sign of the pious Christian. A fuller and more systematic treatment of surrender in the Reden is needed, but given the importance of mystical surrender in certain forms of Christian Platonism (for example, at the end of Pseudo-Dionysius’s Mystical Theology and its Christomorphic instantiation at the end of Bonaventure’s Journey of the Mind to God), it may be interesting to offer some preliminary comparative observations. If Schleiermacher’s notion of pious surrender can be understood as a form of Christian Platonism, it is distinctly modern in two related ways. First, Schleiermacher casts surrender not in terms of the spiritual over the material, or as carrying any disdain for material existence. This fits with his organic monism. And it follows, second, that for Schleiermacher surrender is necessarily an affirmation of what Taylor calls “the affirmation of ordinary life”⁸⁷ rather than a rejection of the ordinary for something extra-ordinary. Once again, we find the rotation of the vertical plane, albeit now spiritually so: the discovery of the presence of the infinite, of the good, precisely in the moment now.

4 Conclusion If I might end on a contemporary political note. When I first began thinking about Schleiermacher’s modern Platonism for this conference, it was merely an intellectual exercise – a historical review and comparative exercise. But new political realities have made the matter of Platonism more urgent. David Brooks is a conservative col-

 Crouter 1988, 80 (n. 23). “[…] das durstige an sich ziehen und das rege und lebendige Selbst verbreiten, auf eine eigenthümliche Art vereinigt und festhält […].” (Schleiermacher 1984, 191 [n. 23]).  “Der andere hingegen ist die bange Furcht vereinzelt dem Ganzen gegenüberzustehen; die Sehnsucht hingebend sich selbst in ihm aufzulösen, und sich von ihm ergriffen und bestimmt zu fühlen” (Schleiermacher 2012, 10 [n. 40]).  See Lamm 2017, 300 (n. 78).  Taylor 1989, title to Part III, 211– 302 (n. 29).

Schleiermacher’s Modern Platonism

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umnist for The New York Times who by his own description underwent a type of spiritual conversion a few years ago. In the past year, he has written consistently and decidedly against Donald Trump. In a recent column, he wrote of myths in a way that reminded me of Schleiermacher and his interpretation of Plato’s myths: Myths don’t make a point or propose an argument. They inhabit us deeply and explain to us who we are. They capture how our own lives are connected to the universal sacred realities. In myth, the physical stuff in front of us is also a manifestation of something eternal, and our lives are seen in the context of some illimitable horizon. ⁸⁸

This has clear resonances with what Schleiermacher says of Plato’s myths and their propaedeutic purpose: they orient us towards the true and the good, towards some higher reality; moved and guided by eros, we progress through dialectical movements towards knowledge of the real, which includes necessarily recognizing what is false and seeing through the deceptions and delusions of the sophists. But Brooks reminds us of other kinds of myth – the anti-myth: And so along come men like Donald Trump and Stephen Bannon with a countermyth. Their myth is an alien myth, frankly a Russian myth. It holds, as Russian reactionaries hold, that deep in the heartland are the pure folk who embody the pure soul of the country – who endure the suffering and make the bread. But the pure peasant soul is threatened. It is threatened by the cosmopolitan elites and by the corruption of foreign influence.⁸⁹

In his recent book review of Gianni Vattimo’s book, Of Reality: The Purposes of Philosophy, David Vessey includes Schleiermacher in a lineage of “nihilistic” tradition according to “which hermeneutics is essentially a form of ‘nihilism’ – the abandonment of any claim to an independently existing reality”.⁹⁰ It is hard to think of anything further from the truth when it comes to Schleiermacher. There is false-knowing for him. There are no “alternative facts”. For the pious person there might be ignorance, but precisely because the pious soul contemplates the one and the eternal in the all and changing, she or he will not cling to falsehoods and will resist violent acts.

 David Brooks, “A Return to National Greatness”, New York Times (Feb. 3, 2017).  Brooks 2017 (n. 88).  Notre Dame Philosophical Review, Feb. 6, 2017 (http://ndpr.nd.edu/news/of-reality-the-purposesof-philosophy/, accessed 2/25/2017).

Lutz Käppel / Kiel

(Re‐)Konstruktion von Antike als (Neu‐)Konstruktion von Moderne Schleiermachers Auseinandersetzung mit Platon und Heraklit

Friedrich Schleiermachers Beschäftigung mit der paganen Antike konzentriert sich fast ausschließlich auf Prosatexte der griechischen Philosophie. Frühe Notizen beschäftigen sich vor allem mit Aristoteles.¹ Nur wenige andere Autoren finden Beachtung.² Einen zweiten großen Arbeitsbereich bildet Schleiermachers Platonübersetzung, zu der einzelne Vorarbeiten und wenige Parerga treten.³ Das dritte Themenfeld sind die Vorsokratiker.⁴ Das umfangreichste und bedeutendste Werk, das Schleiermacher auf diesem Gebiet vorgelegt hat, ist seine 1808 verfasste und 1809 erschienene

 Friedrich Schleiermacher [1788/1789], Anmerkungen und Übersetzung zu Aristoteles, Nikomachische Ethik 8 – 9, KGA I/1, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 1– 80; Exzerpt aus Aristoteles: Metaphysik (mit Übersetzung und Anmerkungen [1789], KGA I/1, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 165 – 175; Notizen zu Aristoteles: Politik [1793/94], KGA I/14, hg.v. Matthias Wolfes / Michael Pietsch, Berlin / New York 2003, 25 – 47; Citationes Aristotelicae [vermutlich 1802], KGA I/14, hg.v. Matthias Wolfes / Michael Pietsch, Berlin / New York 2003, 69 – 71; Über die Scholien zur Nikomachischen Ethik A und B [1816], KGA I/14, hg.v. Matthias Wolfes / Michael Pietsch, Berlin / New York 2003, 185 – 211 mit KGA I/11, hg.v. Martin Rössler, Berlin / New York 2002, 219 – 237; Zu Aristoteles Ethik [1816/ 17], KGA I/14, hg.v. Matthias Wolfes / Michael Pietsch, Berlin / New York 2003, 223 – 266 mit KGA I/11, Berlin / New York 2002, hg.v. Martin Rössler, 271– 308; drei weitere Texte zu Aristoteles [undatiert] finden sich in: KGA I/14, hg.v. Matthias Wolfes / Michael Pietsch, Berlin / New York 2003, 369 – 389.  Friedrich Schleiermacher [vermutlich 1793], Abschrift und textkritische Erörterung von Diogenes Laertius: De vitis philosophorum 2, 86 – 93, KGA I/1, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 473 – 485; Xenophon-Studien [vermutlich 1806/7], KGA I/14, hg.v. Matthias Wolfes / Michael Pietsch, Berlin / New York 2003, 79 – 85; Über den Wert des Sokrates als Philosophen [1815], KGA I/11, hg.v. Martin Rössler, Berlin / New York 2002, 199 – 217.  Friedrich Schleiermacher, Platons Werke I/1– 2, II/1– 3, III/1 [ Berlin 11804– 1828], I/1– 2, II/1– 3 [Berlin 21817– 1826], KGA IV/3 – 8, hg.v. Käppel, Lutz / Johanna Loehr, Berlin / New York 2016 ff.; Philosophia politica Platonis et Aristotelis [1794], KGA I/1, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 499 – 509; Zum Platon [1801– 1803]: KGA I/3, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1988, 341– 375; Rez. von F. Ast: De Platonis Phaedro [1802]: KGA I/3, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1988, 467– 483; Über Platons Ansicht von der Ausübung der Heilkunst [1825], KGA I/11, hg.v. Martin Rössler, Berlin / New York 2002, 459 – 478; Zu Platon, Republik Bekker p. 72, 3 sq. [1826], KGA I/11, hg.v. Martin Rössler, Berlin / New York 2002, 523 – 533.  Friedrich Schleiermacher [1811], Über Diogenes von Apollonia, KGA I/11, hg.v. Martin Rössler, Berlin / New York 2002, 9 – 29; Über Anaximandros [1811], KGA I/11, hg.v. Martin Rössler, Berlin / New York 2002, 31– 63; Text zu Demokrit [vermutlich 1814/15], KGA I/14, hg.v. Matthias Wolfes / Michael Pietsch, Berlin / New York 2003, 119 – 124; Über das Verzeichnis der Schriften des Democritus bei Diogenes Laertius [1815], mit Zum Demokritos und Democritus, KGA I/11, hg.v. Martin Rössler, Berlin / New York 2002, 147– 171; Über den Philosophen Hippon [1820] mit Hippo Rheginus? Metapontinus? Melius? (Exzerpte und Notizen zu Hippon), KGA I/11, hg.v. Martin Rössler, Berlin / New York 2002, 343 – 355. https://doi.org/10.1515/9783110569520-042

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Lutz Käppel / Kiel

Monographie über Heraklit.⁵ Von 1810 an hat Schleiermacher zudem (Überblicks‐) Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie gehalten, deren erster von zwei Teilen dezidiert der antiken Philosophie gewidmet war.⁶ Diese gleichermaßen ausgreifende wie fokussierte Beschäftigung mit der antiken griechischen Philosophie wirft die Frage auf, welches spezifisches Interesse Schleiermacher mit dieser Beschäftigung verband und welches die Methoden waren, die bei dieser Beschäftigung zur Anwendung kamen. Hält sich Schleiermacher sachlich und methodisch im Rahmen der zeitgenössischen philologischen und philosophiegeschichtlichen Forschung oder wählt er spezifische eigene Ansätze? Wie gestaltet sich der Zugriff des modernen Forschers auf das antike Material, wie erscheint das antike Material im modernen Verständnis? Sucht Schleiermacher sachliche Anregungen für seine eigene philosophische Agenda? Wie ist seine Arbeit an den Texten methodisch organisiert? Ist die Methode für ihn ein bloßes Werkzeug? Ist sie möglicherweise mehr als das und wird selbst zur Agenda? Mit diesen Leitfragen soll Schleiermachers Beschäftigung insbesondere mit Heraklit in den Blick genommen werden. Dies soll in folgenden Schritten geschehen: 1. Zunächst soll der Stand der Diskussionen der Fachphilologie beziehungsweise der Fachphilosophie der Zeit um 1800 zur Theorie und Methodik des Textverständnisses allgemein knapp rekapituliert und Schleiermachers (spätere) Antwort darauf resümiert werden. 2. Sodann soll in einem kurzen Zwischenschritt Schleiermachers Auseinandersetzung mit Texten am Beispiel seiner Platonübersetzung skizziert werden. 3. Schließlich soll im Lichte dessen Schleiermachers Heraklit-Buch eingehender behandelt werden.

1 Schleiermachers Hermeneutikentwurf ⁷ Schleiermachers eigener Hermeneutikentwurf ist eng mit der griechischen Antike, in diesem Fall mit der damaligen Klassischen Altertumskunde, verschränkt. Dies wird in seinen beiden Akademiereden Ueber den Begriff der Hermeneutik von 1829⁸ und Ueber

 Friedrich Schleiermacher, „Herakleitos, der dunkle, von Ephesos, dargestellt aus den Trümmern seines Werkes und den Zeugnissen der Alten“, in: Museum der Alterthums-Wissenschaft, Ersten Bandes Drittes und letztes Stück, hg.v. Friedrich August Wolf / Philipp Buttmann, Berlin 1808, 313 – 533 (KGA I/ 6, hg.v. Dirk Schmid, Berlin / New York 1998, 101– 241).  Friedrich Schleiermacher, Geschichte der Philosophie, Sämmtliche Werke III/4.1, hg.v. Heinrich Ritter, Berlin 1839 (Geschichte der alten Philosophie: 13 – 141).  Zum Folgenden vgl. Lutz Käppel, „Schleiermachers Hermeneutik zwischen zeitgenössischer Philologie und ‚Phaidros‘-Lektüre“, in: Schleiermacher-Tag 2005. Eine Vortragsreihe, hg. von Günter Meckenstock, Göttingen 2006, 65 – 74 [231– 240].  Friedrich Schleiermacher [1829], Ueber den Begriff der Hermeneutik, KGA I/11, hg.v. Martin Rössler, Berlin / New York 2002, 599 – 622 (Erste Abhandlung); 623 – 642 (Zweite Abhandlung).

(Re‐)Konstruktion von Antike als (Neu‐)Konstruktion von Moderne

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Begriff und Eintheilung der philologischen Kritik von 1830 deutlich.⁹ Denn diese entwickeln ihren Grundgedanken – wie der Untertitel der beiden ersten Reden angibt – „mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch“. Gemeint sind Werke der beiden bedeutenden Philologen Friedrich August Wolf (1759 – 1824) einerseits und Friedrich Ast (1778 – 1841) anderseits. Der erste ist der berühmte Begründer der modernen Homer-Philologie, der in seinen Prolegomena ad Homerum mit der Entdeckung der Mü ndlichkeit der homerischen Epen die sogenannte „homerische Frage“ aufwarf und die Kollektivität der Autorschaft zu dem Deutungsproblem schlechthin erklärte.¹⁰ Friedrich Ast ist auch den heutigen Philologen noch ein Begriff als Platonkenner und Autor des bis heute unersetzten Lexicon Platonicum. ¹¹ Wir haben es also mit zwei Klassischen Philologen zu tun, die im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert mitten im Leben ihrer Fachwissenschaften standen. Neben diesen genuinen Arbeiten entwarfen beide auch Gesamtdarstellungen der Altertumswissenschaft. Hier sind vor allem drei Bücher zu nennen: 1) Friedrich August Wolfs Darstellung der Alterthums-Wissenschaft, die 1807 erschienen ist, 2) Friedrich Asts Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik aus dem Jahr 1808, und 3) dessen Grundriß der Philologie aus demselben Jahr.¹² Was ist nun das Signifikante an diesen beiden zeitgenössischen „Kunstlehren“ der Klassischen Philologie? Ein wichtiges Moment bei Wolf und Ast ist zunächst einmal, dass der Gegenstand des Verstehens nicht mehr ein Text, sondern der Autor ist. Es geht nicht mehr um die Auslegung einer Schrift und die Offenlegung der ihr innewohnenden Wahrheit, sondern eben um einen Autor und das von ihm Gewollte. Hermeneutik ist damit nicht mehr ein Regelsystem. Und dadurch kommen der Akt des Verstehens selbst und die Problematik des Fremdverständnisses neu in den Blick. Eine wesentliche systematische Komponente für die weitere Entfaltung der Konzeption ist die Privilegierung des Griechischen: So sagt Ast: „Jedes Volk hat eine besondere Tugend […], die höchste und vollendetste aller Tugenden ist die Schönheit, und diese ist eben der Charakter der Völker des classischen Alterthums“, insbesondere der Griechen.¹³ In den nach Ast vier großen Sphären des Altertums (der politischen Ge-

 Friedrich Schleiermacher [1830], Ueber Begriff und Eintheilung der philologischen Kritik, KGA I/11, hg.v. Martin Rössler, Berlin / New York 2002, 634– 656.  Friedrich August Wolf, Prolegomana ad Homerum sive de Operum Homericorum prisca et genuina forma variisque mutationibus et probabili ratione emendandi, Halle 1795.  Friedrich Ast, Lexicon Platonicum sive vocum Platonicarum Index, 3 Bde. Leipzig 1835 – 1833. Zum Verhältnis zwischen Schleiermacher und Ast zu Fragen der Platondeutung s. Lutz Käppel, „Die frühe Rezeption der Platon-Übersetzung Friedrich Schleiermachers am Beispiel der Arbeiten Friedrich Asts“, in: Geist und Buchstabe. Interpretations-und Transformationsprozesse innerhalb des Christentums. Festschrift für Günther Meckenstock zum 65. Geburtstag, hg.v. Michael Pietsch / Dirk Schmid, Berlin / Boston 2013, 45 – 62.  Friedrich August Wolf, „Darstellung der Alterthums-Wissenschaft“, in: Museum der AlterthumsWissenschaft, Bd. 1, hg.v. Friedrich August Wolf / Philipp Karl Buttmann, Berlin 1807; Friedrich Ast, Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, Landshut 1808; Grundriß der Philologie, Landshut 1808.  Ast 1808, Grundriß, 11 (Anm. 12).

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schichte, dem öffentlichen, bürgerlichen und häuslichen Leben, der poetischen Sphäre und der wissenschaftlich-philosophischen Sphäre) sei eine Entwicklung zu beobachten von einer ursprünglichen Einheit zu einer Entzweiung und Differenzierung und schließlich wieder zu einer neuen Einheit im Aufheben der Entzweiung. Den eigentlichen Höhepunkt einer solchen Kurve sieht Ast in dem stark systematisch interpretierten Platon, dessen Ideenlehre beides, Vielheit und Einheit, Anschauen und Denken, Realismus und Idealismus, Zeitliches und Ewiges zu einem Leben verbindet;¹⁴ bereits mit Aristoteles löse sich „das unmittelbare Wechselleben der Geister und Herzen“ auf ¹⁵. Die wahre Philologie soll nun nach Ast (und analog auch nach Wolf) nicht tote Gelehrsamkeit und formalistische Sprachkenntnis sein, sondern „wahre und lebendige Anschauung und Erkenntnis des classischen Alterthums“ als „Muster der ächten Bildung“;¹⁶ „denn es ist das Altertum auch das Ziel und die Vollendung der neueren Welt“¹⁷. So schließt sich alles zu einem großen System zusammen: Die Menschheit war einmal geistig-lebendige Einheit und fand ihre höchste Ausprägung im Altertum, vor allem bei den Griechen, namentlich bei Platon. Aus den Relikten des Altertums ist die europäische Bildung entstanden, und die Beschäftigung mit dem als Muster verstandenen Altertum soll zu einer neuen Einheit führen. Ermöglicht wird dieser Prozess durch eine Art des Verstehens und Auffassens, die im „Geist“ gründet, dem Schlüsselwort der Astschen Hermeneutik. Dieser „Geist“ garantiert als gemeinsames Fundament die innere Beziehung zwischen Erkanntem und Erkennendem. Dabei geht es stets darum, den hinter der jeweiligen Einzelerscheinung liegenden Geist zu erkennen, aus dem diese jeweils ableitbar ist, und je mehr sich der Erkennende diesen ursprünglichen Geist aneignet, desto besser versteht er die Einzelerscheinung und desto mehr gewinnt sein Denken eine Einheit im Sinne eben dieses Geistes. Befähigt ist der Geist des Erkennenden dazu deshalb, weil eine Verwandtschaft zwischen diesem und jenem ursprünglichen Geist herrsche, sodass ganz im Sinne eines „Gleiches zu Gleichem“ der Geist gleichsam zu sich selbst in seiner Ursprünglichkeit findet. Was nun das Verstehen selbst angeht, so betonen sowohl Ast als auch Wolf, dass dieses durch ein Sich-Hineinversetzen in den zu erklärenden Autor vor sich geht. Dazu muss man nach Wolf außer der Sprachbeherrschung über den Umfang der Kenntnisse verfügen, die der Autor selbst besessen hat, während Ast im Verstehen die Wiederholung des Schaffensprozesses sieht. In Asts Worten: „So ist das Verstehen und Erklären eines Werkes ein wahrhaftes Reproduzieren oder Nachbilden des schon Gebildeten.“¹⁸ Hier hört man übrigens bereits einen Vorklang von August Boeckhs

    

Ast 1808, Grundriß, 317 (Anm. 12). Ast 1808, Grundriß, 533 (Anm. 12). Ast 1808, Grundriß, 6 (Anm. 12). Ast 1808, Grundriß, 11 (Anm. 12). Ast 1808, Grundlinien, 187 (Anm. 12).

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klassisch gewordener Formel von der Philologie als dem „Erkennen des Erkannten“¹⁹. Dieses sogenannte „geistige“ Verstehen ist bei Ast entsprechend seiner Vorstellung von der Einheit des Geistes und der Erkenntnismöglichkeit des geistig Verwandten auf den Geist des gesamten Altertums gerichtet, aus dem heraus ein Werk zu interpretieren sei. Dagegen habe es das grammatische Verstehen nur mit dem Buchstaben und das historische nur mit dem individuellen Einzelwerk zu tun. Fü r Ast – und analog fü r Wolf – ergibt sich nun das Problem, dass das Einzelne nur aus dem Ganzen zu verstehen sei, dieses jedoch seinerseits aus den einzelnen Teilen zusammengesetzt sei. Ast war offenbar der erste, der im hermeneutischen Kontext den Begriff „Zirkel“ verwendet hat, und zwar fü r genau diesen Zusammenhang. Gelöst wird der Zirkel durch die Auffassung, dass der Geist des Ganzen im Einzelnen enthalten und aus dem Einzelnen erkennbar ist. Ast wörtlich: „Das Grundgesetz allen Verstehens und Erkennens ist, aus dem Einzelnen den Geist des Ganzen zu finden, und durch das Ganze das Einzelne zu begreifen; jenes die analytische, diese die synthetische Methode der Erkenntnis.“²⁰ „Die Idee des Ganzen (wird) nicht erst durch die Zusammensetzung aller seiner Elemente, sondern schon mit der Auffassung der ersten Einzelheit geweckt.“²¹ Die „erste Auffassung der Idee des Ganzen durch das Einzelne“ nennt Ast „Ahndung“ als „noch unbestimmte und unentwickelte Vorerkenntnis des Geistes, welche zur anschaulichen und klaren Erkenntnis wird durch die fortschreitende Auffassung des Einzelnen“.²² Völlig unbeachtet bei den Überlegungen zum hermeneutischen Zirkel bleibt bei Ast das Subjekt des Verstehens. Nur daß es „der Idee […] fähig“²³ sein soll, wird vorausgesetzt. Mit Asts und Wolfs Entwürfen ist die historische, antiquarische und reine Sprachgelehrsamkeit, die die Philologie noch weit bis ins 19. Jahrhundert hinein beherrschen sollte, theoretisch überwunden, und es ist kein Zufall, dass Schleiermacher sich ausgerechnet mit ihnen auseinandersetzt, wenn er sein eigenes Konzept entfaltet; und in der Tat bezeichnet er ihre Arbeit in dem eingangs genannten Akademievortrag durchaus als „das Bedeutendste, was in dieser Sache erschienen ist“²⁴. Seine Auseinandersetzung mit ihnen erscheint zwar äußerlich als fundamentale Kritik, doch wird schnell klar, wie viel er ihnen verdankt. Was tut Schleiermacher im Wesentlichen? Man könnte sagen, er erweitert Ast und Wolf von ihrer Fixiertheit auf die griechisch-römische Literatur des Altertums auf alle Texte, geschriebene wie gesprochene, reduziert Ast um seinen rigiden platonischsystematischen Überbau auf sozusagen innerweltliche Verstehensprozesse und zerstört Wolfs regelhafte Kunstlehre zu einem zwangsläufig richtigen Verstehen.

 August Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, hg.v. Ernst Bratuschek, Leipzig 21886, 11.  Ast 1808, Grundlinien, 187 (Anm. 12).  Ast 1808, Grundlinien, 186 (Anm. 12).  Ast 1808, Grundlinien, 186 – 187 (Anm. 12).  Ast 1808, Grundlinien, 186 (Anm. 12).  Schleiermacher 2002, Erste Abhandlung, 603, 13 – 14 (Anm. 8).

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Ich resümiere thesenhaft anhand des Akademievertrages Schleiermachers Konzept, das sich vor der Folie seiner beiden Vorgänger in seiner Abhängigkeit wie auch in seinen Neuerungen schnell erschließt: 1. Die Identität des Geistes von Verstehendem und Verstandenem, die Ast postuliert, wird von Schleiermacher geleugnet: Zwar gibt ihm Schleiermacher zu, dass „wenn das zu Verstehende dem, der verstehen soll, ganz fremd wäre und es gar kein beiden Gemeinschaftliches gäbe: so gäbe es auch keinen Anknü pfungspunkt fü r das Verstehen. Aber ich darf doch wohl schließen, […] daß so wie in jenem Falle, wenn alles schlechthin fremd wäre, die Hermeneutik ihr Werk gar nicht anzuknü pfen wü ßte, ebenso in dem entgegengesetzten, wenn nämlich gar nichts fremd wäre zwischen dem Redenden und dem Vernehmenden, sie es dann gar nicht erst anzuknü pfen brauchte, sondern das Verstehen wäre mit dem Lesen und Hören zugleich oder vielleicht divinatorisch schon vorher immer gegeben und verstände sich also vollkommen von selbst.“²⁵ 2. Was bei Ast der Geist als Quelle der Einzeläußerung erscheint, wird bei Schleiermacher zum Lebenskontext der zu verstehenden Äußerung: „die unmittelbare Gegenwart des Redenden, der lebendige Ausdruck, welcher die Teilnahme seines ganzen geistigen Wesens verkündigt, die Art, wie sich hier die Gedanken aus dem gemeinsamen Leben entwikkeln, dies alles reizt weit mehr als die einsame Betrachtung einer ganz isolierten Schrift dazu, eine Reihe von Gedanken zugleich als einen hervorbrechenden Lebensmoment, als eine mit vielen anderen auch anderer Art zusammenhängende That zu verstehen.“²⁶ 3. Es komme jedoch nicht allein auf die beweisende „Zusammenstellung und Abwägung minutiöser geschichtlicher Momente an“,²⁷ sondern der Ausleger müsse sich „divinatorisch“ „in die ganze Verfassung des Schriftstellers“ hineinversetzen.²⁸ Dies werde „auch dem gewandtesten Ausleger nur bei den ihm verwandtesten Schriftstellern, nur bei den Lieblingen, in die er sich am meisten hineingelebt hat, am besten gelingen, wie es uns auch im Leben nur mit den genauesten Freunden am besten vonstatten geht, bei andern Schriftstellern aber wird er sich auf diesem Gebiet weniger genü gen […]“.²⁹ 4. Neben dem divinierenden Verstehen aufgrund geistiger Verwandtschaft ist aber durchaus auch das Wissen um die Regeln der Sprache notwendig: Der „Einsicht in das Verhältnis eines Schriftstellers zu den in seiner Literatur schon ausgeprägten Formen ist ein so wesentliches Moment der Auslegung, daß ohne dasselbe weder das Ganze noch das Einzelne richtig verstanden werden kann […]“.³⁰ So „steht […] dem divinatorischen Verfahren das komparative gegenüber“.³¹

     

Schleiermacher 2002, Erste Abhandlung, 607, 13 – 23 (Anm. 8). Schleiermacher 2002, Erste Abhandlung, 610, 9 – 15 (Anm. 8). Schleiermacher 2002, Erste Abhandlung, 611, 19 (Anm. 8). Schleiermacher 2002, Erste Abhandlung, 612, 2 (Anm. 8). Schleiermacher 2002, Erste Abhandlung, 612, 13 – 18 (Anm. 8). Schleiermacher 2002, Erste Abhandlung, 616, 12– 15 (Anm. 8).

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5.

6.

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Das komparative Verfahren, das stets etwas noch nicht Verstandenes durch etwas Verstandenes erklärt, hat jedoch auch seine Grenzen, wenn nämlich „ein genialer Autor eine Wendung, eine Zusammenstellung in der Sprache zuerst ans Licht bringt. Hier gibt es kein anderes als divinatorisches Verfahren von dem Zustand der Gedankenerzeugung, in welchem der Autor begriffen war, ausgehend jenen schöpferischen Akt richtig nachzubilden […]; und auch hier wieder wird es keine Sicherheit geben ohne Anwendung eines comparativen Verfahrens […].“³² Dieser ständige Rü ckkoppelungsprozeß zwischen komparativ Verstandenem und divinatorisch Erfasstem charakterisiert das Verstehen der „Seele“ als eines ahnenden Wesens: „dieses Geschäft des Verstehens und Auslegens ist ein stätiges, sich allmählich entwikkelndes Ganze, in dessen weiterem Verlauf wir uns immer mehr gegenseitig unterstü tzen, indem Jeder den Uebrigen Vergleichspunkte und Analogien hergibt, das aber auf jedem Punkt immer wieder auf dieselbe ahnende Weise beginnt. Es ist das allmähliche Sichselbstfinden des denkenden Geistes.“³³ Ganz entsprechend löst sich fü r Schleiermacher der Astsche Zirkel. Es ist nicht der ständige Griff nach dem vorausgesetzten Ganzen in jedem einzelnen seiner Teile als ein immer wieder neu ansetzender großer Wurf, der das Verfahren des Verstehens ausmacht, sondern ein allmählicher, kontinuierlicher, stets noch provisorischer Prozeß vom Einzelnen hin zum Komplexen, der aber ständig von einer jeweils provisorischen „Ahndung“ des Ganzen divinatorisch gesteuert wird. Schleiermacher nimmt also die starren Schemata von Ast und Wolf und dynamisiert beziehungsweise prozessualisiert sie, indem er die idealistisch-platonistisch begründete Affinität von Verstehendem und Verstandenem im sogenannten „Geist“ in den Kommunikationsprozess hinein verlagert, sozusagen als immanente Prädispositionen der Kommunikationspartner.

2 Die Platonübersetzung³⁴ Als „frühromantisches“ Projekt war diese Übersetzung bereits 1798 von Friedrich Schlegel für eine Gemeinschaftsarbeit mit Schleiermacher angeregt worden. Zur Ostermesse 1801 sollte der erste Band einer Gesamtübersetzung beim Verlag Frommann unter Schlegels Namen vorliegen, mit einer besonderen Abhandlung Schlegels als Einleitung sowie – neben den Übersetzungen – einer „Erklärung des Gedanken-

 Schleiermacher 2002, Erste Abhandlung, 616, 19 – 20 (Anm. 8).  Schleiermacher 2002, Erste Abhandlung, 618, 27– 33 (Anm. 8).  Schleiermacher 2002, Erste Abhandlung, 620, 35 – 621, 1 (Anm. 8).  Vgl. zum Folgenden: Lutz Käppel / Johanna Loehr, Einleitung der Herausgeber, KGA IV/3, hg.v. Lutz Käppel / Johanna Loehr, Berlin/Boston 2016, VII–XCVIII, hier XV–XLII und Lutz Käppel, „Schleiermachers Platon-Übersetzungen“, in: Schleiermacher Handbuch, hg.v. Martin Ohst, Tübingen 2017, 157– 165.

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ganges und Zusammenhanges“ sowie „begleitende(n) Anmerkungen“³⁵. Trotz leichter Verstimmung über den Alleingang Schlegels machte sich Schleiermacher unter der Bedingung, bei Erscheinen als Mitautor auf dem Titel genannt zu werden, an die Arbeit. Der Philologe Ludwig Friedrich Heindorf, der eine kritische Edition des griechischen Originaltextes vorbereitete, war in die Entstehung der Übersetzung von Anfang an einbezogen. Schleiermacher verwendet sogar bereits 1801 die Entwürfe seiner Ausgabe. Doch das Projekt scheitert wegen Schlegels anhaltender Säumigkeit. Allerdings findet Schleiermacher in Georg A. Reimer schnell einen neuen Verleger, um die Übersetzung nunmehr allein ohne Schlegel zu machen. Die Philologen Heindorf (1774– 1816) und Georg Ludwig Spalding (1762– 1811) unterstützten Schleiermacher nunmehr tatkräftig mit Korrekturen der Manuskripte und des Satzes. Die ersten fünf Bände erschienen alsbald in rascher Folge zwischen 1804 und 1809, von 1817 an in einer zweiten, von Schleiermacher überarbeiteten und erweiterten Auflage. Als sechsten Band fügte er 1828 noch die Politeia hinzu. Im Kern war der Plan der Gesamtübersetzung also ein Produkt der Frühromantik. Die neue Qualität des Umgangs mit Platon bestand dabei darin, dass die Betrachtung des Einzelnen im Verhältnis zum Ganzen und des Ganzen in seiner Bedeutung für das Verständnis des Einzelnen zum leitenden hermeneutischen Prinzip erhoben wurde. Dies machte zunächst einmal eine Beschäftigung mit der Ordnung des Gesamtkorpus nötig. Im Vordergrund stand dabei zunächst die Chronologie der Dialoge, eine Verbindung von Systematik und Chronologie trat allmählich hinzu. Zwar hatte Wilhelm Gottlieb Tennemann in seinem System der platonischen Philosophie bereits eine Chronologie der platonischen Dialoge aufzustellen versucht,³⁶ doch war diese dort nicht interpretatorisch wirksam geworden. In dem neuen Projekt sollte eine chronologische Herangehensweise verbunden werden mit „einer solchen welche mehr darauf berechnet wäre, der gegenwärtigen Zeit den Platon am besten und schnellsten aufzuschließen“.³⁷ Hier waren sich Schlegel und Schleiermacher zunächst im Ansatz einig: Phaidros wurde – der alten Tradition gemäß – an den Anfang gesetzt und bildete mit Protagoras, Parmenides und anderen eine systematisch einführende Gruppe; Euthydem, Lysis, Theaitet, Sophistes, Politikos und andere kamen in die mittlere Gruppe; Politeia und Timaios gehörten ans Ende. Schlegel hatte am 8. Dezember 1800 seine Einteilung mit äußerst spekulativen Anmerkungen zum Charakter der drei Gruppen zugeschickt.³⁸ Doch schon in der Detailargumentation, besonders in Echt-

 Friedrich Schlegels Annotation, aus der die Zitate stammen, wurde im Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung (43 [1800]) veröffentlich und ist bei Käppel / Loehr 2016, XVII, Anm. 8 (Anm. 34) abgedruckt.  Wilhelm Gottlieb Tennemann, System der platonischen Philosophie, Bd. 1, Leipzig 1792, 115 – 125.  Friedrich Schleiermacher, Brief an August Boeckh (Ende April bis 18. 6. 1808), KGA V/10, hg.v. Simon Gerber / Sarah Schmidt, Berlin / New York 2015, 117.  Friedrich Schlegel (mit einem Zusatz von Dorothea Veit), Brief an Friedrich Schleiermacher (8. 12. 1800), KGA V/4, hg.v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin / New York 1994, 353 – 359; vgl.

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heitsfragen, schieden sich die Wege. Schleiermachers eigener Ansatz zum Verständnis der Dialoge ist aus der Einleitung zum Gesamtwerk ersichtlich: Diese natürliche Folge nun wieder herzustellen, dies ist, wie jeder sieht, eine Absicht, welche sich sehr weit entfernt von allen bisherigen Versuchen zur Anordnung der Platonischen Werke, als welche theils nur auf leere Spielereien hinauslaufen, theils ausgehen auf eine systematische Sonderung und Zusammenstellung nach den hergebrachten Eintheilungen der Philosophie, theils auch nur hie und da einen Ansatz nehmen, und nichts Ganzes im Auge haben.³⁹

Die Herstellung der „natürliche(n) Folge“ der Dialoge bestand dabei offensichtlich in einer Verbindung von chronologischer und gleichsam leserorientiert-didaktischer Anordnung, die dem Leser im Durchgang durch das platonische Oeuvre gleichsam half, mit zu philosophieren. Schleiermachers Entwurf konzentriert sich dabei ganz auf die Dialoge. Eine „esoterische“ mündliche Lehre, wie sie die Platon-Rezeption vom Neuplatonismus bis hin zu Tennemann im Anschluß an antike Zeugnisse voraussetzt, lehnte er (wie Schlegel) ab. Stattdessen werden die Dialoge in ihrer Gesamtheit in den Blick genommen. Sie dokumentieren – wie jedes Gespräch in sich – für Schleiermacher eine Entwicklung. Daher ist zum Verständnis jedes Dialogs ein Erfassen der „eigenthümlichen Natur des Ganzen“ nötig.⁴⁰ Dies war – unbeschadet der die Dialoge systematisierenden Versuche von Tennemann, auf den sich Schleiermacher auch beruft – ein neuer Ansatz, insofern das Dialogwerk selbst als „Körper“ im Sinne eines Organismus’ betrachtet wird, und die Ausgangsfrage nach der Reihenfolge der Dialoge nun hermeneutische Relevanz erhält. Inhalt und Form werden dadurch zueinander in Beziehung gesetzt, und Platon erscheint als „philosophischer Künstler“.⁴¹ Die Dialogform rege – wie das mündliche Gespräch entsprechend der Schriftkritik im Phaidros 275c ff. – den Gesprächspartner respektive Leser zum eigenen Mit- und Weiterdenken an. In diesem Sinne sei der Dialog nicht nur äußere Form, sondern der Philosophie als gleichsam sokratische Methode inhärent. Die Selbsttätigkeit des Lesers ist laut Schleiermacher nachgerade das wesentliche Moment des platonischen Konzeptes. Dieses Konzept der Selbsttätigkeit im Philosophieren macht den platonischen Dialog damit zum genuin philosophischen Kunstwerk. Für Schleiermacher ist der Vollzug des Philosophierens das Wesentliche, nicht die philosophische Aussage als mitgeteilter Inhalt. Letzterer kann nur vom Philosophierenden respektive Leser selbst gefunden werden.

Friedrich Schlegel, Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, hg.v. Jean-Jacques Anstett, Paderborn 1964, 207– 226, bes. 212– 213.  Friedrich Schleiermacher, „Einleitung“, in: Platons Werke. Erster Teil, erster Band, KGA IV/3, hg.v. Lutz Käppel / Johanna Loehr, Berlin/Boston 2016, 13 – 60, 33. (Vgl. Friedrich Schleiermacher, Platons Werke Bd. I/1, Berlin 1804, 22)  Schleiermacher 2016, Einleitung, 28 (Anm. 39). (Vgl. Schleiermacher 1804, 16 [Anm. 39]).  Schleiermacher 2016, Einleitung, 19. 29 (Anm. 39). (Vgl. Schleiermacher 1804, 6. 17 [Anm. 39]).

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Die „natürliche Folge“⁴² der Dialoge insgesamt repräsentiert dann eine systematische Entwicklung von der Fraglichkeit und Ungesichertheit des Wissens hin zur Fundierung und Darstellung gesicherten Wissens. Für Schleiermacher ist die Abfolge der Dialoge somit dann schließlich nicht mehr von einer chronologischen Ordnung, sondern von einem systematisch angelegten pädagogischen respektive philosophiedidaktischen Programm bestimmt. Dieses reicht von der Dialektik als der grundlegenden Methode des Philosophierens (Gruppe I: Phaidros, Protagoras, Parmenides) über den Aufweis der Ideen in Physik und Ethik (Gruppe II: Theaitet, Sophistes, Phaidon, Philebos) bis zur objektiven Wissenschaft (Gruppe III: Politeia, Timaios, Kritias). Es liegt auf der Hand, dass im Rahmen einer solchen Auffassung über das Werk, wie sie Schleiermacher entwickelt hat, den Texten selbst die zentrale Bedeutung zukommt. Daher ist das Projekt der Gesamtübersetzung in gewisser Weise eine innere Notwendigkeit des interpretatorischen Ansatzes. Ähnlich wie Schleiermachers Neuansatz in der Platondeutung war auch das Übersetzungswerk selbst epochemachend. Nach wie vor ist diese Übersetzung gleichsam kanonisch als der „deutsche Platon“. Dies war von Anfang an von Schleiermacher (und schon Schlegel) selbstbewusst intendiert: Sogar ein Vergleich mit der Bedeutung der Homer-Übersetzung von Johann Heinrich Voß wurde bereits bei der Drucklegung offen ausgesprochen.⁴³ Schleiermachers Prosa-Übersetzung war in der Tat etwas bis dahin vollkommen Neuartiges: Mit ihren griechisch-fremdartigen syntaktischen Strukturen, ihrer Partikelfülle, ihren gesuchten (die deutsche Sprache bisweilen strapazierenden) Gräzismen nahm der Leser gleichsam mitdenkend und mitphilosophierend am Dialog teil, zwar im Medium der deutschen Übersetzung, aber eben doch eigentlich ganz so wie im griechischen Original. Dies entspricht Schleiermachers Übersetzungstheorie, die er 1813 in Die verschiedenen Methoden des Übersetzens ausgearbeitet hat.⁴⁴ Es geht dabei – modern gesprochen – dezidiert nicht um zielsprachenorientiertes Übersetzen, sondern „ der Übersetzer lässt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen“⁴⁵. Die deutsche Sprache passt sich in Syntax und Diktion dem Griechischen an – nicht umgekehrt – und gewinnt dadurch sowohl philosophisch als auch ästhetisch eine neue Qualität. Diese neue revolutionäre Art des Übersetzens hat freilich auch Spott oder Kritik auf sich gezogen: „Syrupsperioden“, „Kauderwelsch“, „unlesbar“, „Griechisch mit deutscher Schrift“ (Friedrich August Wolf), „Wortgetön Schlegelscher Schule“ (Charlotte von Schiller) „in diesem künstlichen und mühsamen Nachgebilde keineswegs das schöne, lebendige Urbild“ (Friedrich Ast) waren frühe

 Schleiermacher 2016, Einleitung, 33 (Anm. 39). (Vgl. Schleiermacher 1804, 22 [Anm. 39]).  Siehe Friedrich Schleiermacher, Brief an G. A. Reimer (7. 1. 1804), KGA V/7, hg.v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin / New York 2005, 186.  Friedrich Schleiermacher [1813/1816], Die verschiedenen Methoden des Übersetzens, KGA I/11, hg.v. Martin Rössler, Berlin / New York 2002, 65 – 93.  Schleiermacher 2002, Methoden, 74 (Anm. 44).

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Urteile über Schleiermachers Platon-Übersetzungen.⁴⁶ Mit dieser Sprache schuf Schleiermacher jedenfalls jene Diktion, die wir bis heute als den „deutschen“, sprich: „Schleiermacherschen“ Platon (bis in Parodien hinein) intuitiv erkennen. Unterstützt wurde diese Methode, den „Leser an den Platon heranzubringen“ durch die Anmerkungen. Sie rechtfertigen bestimmte Lesarten, diskutieren Übersetzungsalternativen und geben einen gewissen Hintergrund zum Verständnis des Textes. Bemerkenswert ist, dass die Anmerkungen nicht wie ein gelehrter Apparat als Fußnoten unter den Text gesetzt sind, sondern am Ende des Bandes gesammelt mit Angabe der Seite, der Zeile und der Textstelle, auf die sie sich beziehen, stehen. Auf sie ist im Text auch nicht durch Fußnotenzeichen verwiesen, sondern sie müssen vom Leser aktiv aufgesucht werden. Der eigenständige Lesefluss wird nicht durch die Anmerkungen des Übersetzers gestört. Gleichwohl entsteht eine Art Philologisierung der literarischen Übersetzung.

3 Heraklit Eine der bemerkenswertesten Arbeiten Schleiermachers zur griechischen Philosophie ist jedoch die von der Forschung wenig beachtete Abhandlung zu Heraklit. Schleiermacher hat sie für das von dem schon genannten Friedrich August Wolf und dem Philologen Philipp Buttmann (1764– 1829) herausgegebene Museum der AlterthumsWissenschaft verfasst. Sie erschien als Beitrag zum ersten Band für das Jahr 1807, dessen 3. Heft mit Schleiermachers Heraklit-Arbeit allerdings erst gegen Ende 1808 ausgeliefert wurde. Dort umfasst der Beitrag die Seiten 313 – 533, so dass man bei 220 Seiten durchaus von einem Buch sprechen kann.Verfasst wurde die Arbeit wohl in der ersten Jahreshälfte 1809⁴⁷, also vier Jahre nach dem Erscheinen des dritten Bandes der Platonübersetzungen (Werke II/1), namentlich Gorgias, Theaetet, Menon und Euthydemos, einem Band, in dem auch Heraklit eine Rolle spielte. Greifbar ist die HeraklitArbeit in der originalen Ausgabe von 1808 (respektive 1809) als Faksimile in der Sammlung von Digitalisaten der Universitätsbibliothek Heidelberg⁴⁸ und – nach der Edition in den Sämmtlichen Werken ⁴⁹ – nunmehr als exzellente kritische Edition von Dirk Schmid im Rahmen der KGA I/6.⁵⁰  Gesammelt bei Hermann Patsch, Alle Menschen sind Künstler. Friedrich Schleiermachers poetische Versuche, Berlin / New York 1986, 69.  Siehe Dirk Schmid, Einleitung des Bandherausgebers, KGA I/6, hg.v. Dirk Schmid, Berlin / New York 1998, IX–XC, XXVII sq.  Schleiermacher 1808 (Anm. 5), online unter: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/museum-alterthumswissenschaft1807/0335/image, zuletzt aufgerufen am 19.03.18.  Friedrich Schleiermacher, Herakleitos, der dunkle, von Ephesos, dargestellt aus den Trümmern seines Werkes und den Zeugnissen der Alten, Sämmtliche Werke III/2, hg.v. Heinrich Ritter, Berlin 1838, 3 – 146, online unter: http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/ bsb11294367_00007.html, zuletzt aufgerufen am 19.03.18.  Schleiermacher 1998, Herakleitos (Anm. 5).

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Der Briefwechsel sagt nichts darüber, weshalb Schleiermacher eine Abhandlung gerade über Heraklit in Angriff nahm. Aus einigen Briefen vom März 1808 geht jedenfalls hervor, dass Schleiermachers Schrift gezielt für das Museum der AlterthumsWissenschaft bestimmt war, ja dass die Arbeit auch bewusst als philologische Arbeit konzipiert und ausgeführt war. So schreibt er am 1. März 1808 an Carl Gustav von Brinckmann: Jezt size ich tief im alten Heraklit, dessen Fragmente und Philosopheme ich für das Museum der Alterthumswissenschaften darstelle.Was begegnet dem Menschen alles! Vor wenigen Jahren noch hätte ich es für unmöglich gehalten in Verbindung mit Wolf auf dem Gebiet der Philologie aufzutreten. Aber die Virtuosen in diesem Fache sind so sparsam mit ihren Arbeiten daß die Stümper wohl auch herbeigeholt werden müssen.⁵¹

Ein weiterer äußerer Anlass scheint auch die erste Vorlesung Schleiermachers über Die Geschichte der alten Philosophie in Berlin im Sommer 1807 gewesen zu sein. Hier empfand Schleiermacher offenbar eine gewisse Unzufriedenheit mit seiner Behandlung der Philosophie einzelner Autoren.⁵² Wenn man seine Darstellung des Heraklit in der Edition der Vorlesung von Heinrich Ritter in den Sämmtlichen Werken von 1838 vergleicht⁵³, so lässt sich dies nachvollziehen. Die Darstellung dort geht über eine pauschale Zusammenfassung, die sich allenthalben in den Lehrbüchern der Zeit finden lassen, nicht wesentlich hinaus.⁵⁴ Dabei hatte Schleiermacher in eben dieser Vorlesung die Prinzipien seiner Philosophiegeschichtsschreibung durchaus schon klar formuliert: „Wer die Geschichte der Philosophie vorträgt, muß die Philosophie besizen, um die einzelnen Facta, welche ihr angehören, aussondern zu können, und wer die Philosophie besizen will, muß sie historisch verstehen.“⁵⁵ Auch für die Philosophie existiert also für Schleiermacher gleichsam ein hermeneutischer Zirkel zwischen Systematik und Geschichtlichkeit. Dies bedeutet für die Philosophiegeschichtsschreibung, dass der (systematische) innere Zusammenhang der Philosophiegeschichte, nicht die Aneinanderreihung von zusammenhanglosen Fakten ihr leitendes Prinzip sein muss. Auf diese Weise werden der Einteilung der Philosophiegeschichte in Perioden und Zeitabschnitte auch inhaltliche Deutungsmuster unterlegt, die einerseits verhindern, dass das historische Material zu einem amorphen Sammelsurium von Einzelinformationen zerfällt, andererseits aber eben

 Friedrich Schleiermacher, Brief an Carl Gustav von Brinckmann (1.3.1808), KGA V/10, hg.v. Simon Gerber / Sarah Schmidt, Berlin / New York 2015, 67.  Vgl. Friedrich Schleiermacher, Brief an August Boeckh (8. 3.1808), KGA V/10, hg.v. Simon Gerber / Sarah Schmidt, Berlin / New York 2015, 71– 72.  Schleiermacher, 1838, 33 – 37 (Anm. 49).  Vgl. z. B. Johann Gottlieb Buhle, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie und einer kritischen Literatur derselben, Bd. 1, Göttingen 1776, 316 – 324; Wilhelm Gottlieb Tennemann, Geschichte der Philosophie, Bd. 1, Leipzig 1798, 209 – 239.  Schleiermacher, 1838, 15 (Anm. 49).

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ihrerseits selbst durch das historische Material eine Substanz gewinnen, die ihren spekulativen Charakter in der Geschichte verankert. Was nun aber zwischen systematischer Philosophie und Philosophiegeschichte gilt, gilt auf der Ebene des Autors gleichermaßen. Und genau dies leistet Schleiermachers Heraklit-Abhandlung exemplarisch. Schon der Titel verrät die Herangehensweise Schleiermachers: Herakleitos, der dunkle, von Ephesos, dargestellt aus den Trümmern seines Werkes und den Zeugnissen der Alten. Gegenstand ist also die Person, nicht ein oder mehrere Texte. Die Person ist charakterisiert durch das seit der Antike gängige Epitheton, das sozusagen die Untersuchung überhaupt begründet und motiviert: Die Herkunft Ephesos verweist auf den geschichtlichen Ort. Neben dem Gegenstand ist auch die Methode der Untersuchung angedeutet: Die „Trümmer“ seines Werkes, das heißt die authentischen Fragmente, sind Grundlage der Darstellung. Davon unterschieden sind die „Zeugnisse der Alten.“ Diese Dichotomie bestimmt auch methodisch die Untersuchung. Im Zentrum stehen die sicher überlieferten Fragmente. Doch schon hier ergibt sich das Problem, dass auch diese nicht direkt greifbar, sondern nur durch spätere Autoren wie Plutarch, Sextus Empiricus oder Clemens von Alexandrien überliefert sind. Diese Autoren wiederum zitieren mitunter Heraklit-Fragmente, die aus Schriften stammen, die dem Heraklit im Laufe der Tradition untergeschoben wurden. Schleiermacher stellt daher fest: „Sonach würden alle Darstellungen und Folgerungen, die nur auf den Bruchstücken ruhten, nicht frei von Verdacht und nicht hinreichend begründet sein, also nur insofern sie unmittelbar von den wenigen Stellen gehalten werden, die schon Platon und Aristoteles uns überliefert haben.“⁵⁶ An dieser Stelle kommen die – wie Schleiermacher sie nennt – „Zeugnisse und Berichterstattungen der Alten“⁵⁷ ins Spiel. Dabei seien frühe von späten Zeugnissen zu scheiden, insbesondere stoische Quellen seien mit Vorsicht zu genießen, da sie sich sozusagen Heraklit angehängt und in dieser Nachfolge ihn ihrer eigenen Linie anverwandelt hätten. Damit kommen für Schleiermacher als frühe vertrauenswürde Zeugen für Heraklit-Fragmente nur Platon und Aristoteles in Frage, aber auch diese böten nur spärliches Material, und auch bei diesen sei die Authentizität des jeweiligen Heraklit-Zitats erst noch zu prüfen: Das richtige Verfahren scheint zu sein, daß man, lediglich von diesen ausgehend, die übrigen Bruchstükke, […] in dem Maaß für ächt anerkenne und benuze, als sie mit jenen zusammenhangen oder wenigstens übereinstimmen, und eben so wiederum den späteren Zeugnissen nicht mehr Gewicht beilege, als sie natürliche Verbindung zeigen mit den so anerkannten Bruchstükken. Wer auf diese Weise aus beiden, Zeugnissen und Bruckstükken, einen Kranz geschikt und bedeutsam zu flechten wüßte, ohne eine hinein gehörige Blume liegen zu lassen, dem würden wir glauben müssen, daß er uns wahres lehre, und alles wahre, was wir noch wissen können über die Weisheit des Ephesiers.⁵⁸

 Schleiermacher 1998, Herakleitos, 108 – 109 (Anm. 5).  Schleiermacher 1998, Herakleitos, 109 (Anm. 5).  Schleiermacher 1998, Herakleitos, 110 – 111 (Anm. 5).

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Schleiermachers methodisches Programm ist für die Rekonstruktion nicht nur Heraklits, sondern der Schriften und Lehren antiker Philosophen überhaupt revolutionär und richtungweisend zugleich. Schleiermachers Vorgänger – sofern sie überhaupt an der Rekonstruktion Heraklits interessiert sind und ihn nicht als Vehikel eigener philosophischer Ziele benutzen⁵⁹ – erstellten entweder Listen von Heraklit-Zitaten aus Sextus Empiricus, Clemens und anderen samt den unter Heraklits Namen überlieferten (unechten) Briefen⁶⁰ oder paraphrasierten die antiken Berichte über Heraklits Lehre⁶¹. Die innere Verknüpfung beider Elemente, den originären Worten Heraklits und deren Rezeption in Form der Berichte späterer Leser ist mehr als nur ein raffinierter Kunstgriff, den echten Fragmenten auf die Spur zu kommen. Es ist ein mehrfach gestaffelter Zirkel: Beginnend bei den Berichten bei Platon und Aristoteles, wird dazu passend eine erste Gruppe von Fragmenten identifiziert, dazu wiederum passende Berichte mit abermals passenden Fragmenten werden angefügt, bis der „Kranz der Wahrheit“ dichter und dichter geflochten wird, ein ständig rekursiver, im Prinzip ad infinitum sich vollziehender Prozess. Was hier als philologische Methode zur Erstellung eines Fragmentkorpus entwickelt wird, ist im Kern nichts anderes als eine angewandte Theorie des Verstehens. Aus der wissenschaftlichen Beobachterperspektive auf den hermeneutischen Prozess der Überlieferung entwickelt Schleiermacher den methodisch sicheren Rückgriff auf „wahres“, in diesem Fall: die echte Lehre des Heraklit. Die Arbeit am Heraklit ist also zunächst einmal Arbeit an der Methode selbst. Doch Schleiermachers Interesse an Heraklit geht – so scheint es – noch über das Methodische hinaus.Verfolgt man den Verlauf seiner Untersuchung und vergleicht ihn mit früheren Heraklit-Arbeiten, so fällt auf, dass Schleiermacher Heraklits Lehre nicht wie die Früheren von dessen These, dass das Feuer das Prinzip des Seins sei⁶², her entwickelt, sondern sein Durchgang folgt einer ganz anderen Linie: Schleiermacher beginnt mit Frage, ob Heraklit, der von der Tradition „der Dunkle“ (ὁ σκοτεινὀς) genannt wurde, absichtlich unverständlich geschrieben habe, um die Wahrheit esote-

 Den Nachweis einer Versöhnung von Atomismus und Theismus (im Anschluss an Ralph Cudworth) bei Heraklit unternimmt Gottfried Olearius, De Principio Rerum Naturalium, ex mente Heracliti Physici, Cognomento Skoteinu, Exercitatio […], Leipzig 1697; dazu vgl. Oliver Primavesi, „Olearius über Atomismus und Theismus bei Heraklit: Zur Vorsokratiker-Rezeption in Deutschland um 1700“, in: Heraklit im Kontext, hg. v, Enrica Fantino u. a., Berlin / Boston 2017, 451– 484.  Henricus Stephanus, Poesis philosophica, vel saltem, Reliquiae poesis philosophicae […] Adjuncta sunt Heracliti […] critici loci quidam et eorum epistolae, Genf 1573, 129 – 140 (Fragmente); 142– 155 (Briefe); Ioannes Albertus Fabricius, Bibliotheca Graeca Sive Notitia Scriptorvm Vetervm Graecorvm: Qvorvmcvmqve Monvmenta Integra Avt Fragmenta Edita Exstant Tvm Plerorvmqve E Mss. Ac Deperditis, Editio Quarta, Vol. 2, Hamburg 1791, 623 – 628 (ohne Briefe).  Buhle 1776 (Anm. 54); Tennemann, 1798 (Anm. 54). – Ebenfalls eng im Rahmen der (hier stoischen) Tradition behandelt die Lehre Heraklits: Friedrich Creuzer, Philosophorum veterum loci de providentia divina itemque de fato, Heidelberg 1806.  Nach Aristoteles Metaphysik A 3, 984a7. Vgl. für diese Auslegung zum Beispiel Buhle 1776, 317 (Anm. 54); Tennemann 1798, 215 (Anm. 54).

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risch zu verhüllen. Er entlarvt diese Charakterisierung Heraklits als Missverständnis der Tradition. Heraklit habe im Gegenteil in den einschlägigen Fragmenten erklärt, dass die Sache selbst es sei, die sich verhülle und großer methodischen Anstrengung bedürfe, um entschlüsselt zu werden. Schleiermacher nimmt Heraklit also zunächst einmal als Erkenntnistheoretiker wahr, der auf der Suche nach der Wahrheit ist.⁶³ Hier werden die entsprechenden Fragmente zentrale Testimonien für einen Erkenntnistheoretiker Heraklit, zum Beispiel: 10. Οἶμαι δὲ γινώσκειν τὸ παρ᾽ Ἡρακλείτῳ λεγόμενον ὡς ὧ ν α ξ ο ὗ τ ὸ μ α τ ε ῖ ο ν ἐ σ τ ι τ ὸ ἐ ν Δ ε λ φ ο ῖ ς ο ὔ τ ε λ ἐ γ ε ι ο ὔ τ ε κ ρ ὐ π τ ε ι ἀ λ λ ὰ σ η μ α ἰ ν ε ι . ‚Der König, deß das Orakel ist bei den Delphiern, erklärt nicht, noch verbirgt er, sondern deutet an.‘⁶⁴ 11. Οἶδα ἐγὼ καὶ Πλἀτωνα προσμαρτυροῦντα Ἡρακλεἰτῳ γρἀφοντι Ἓ ν τ ὸ σ ο φ ὸ ν μ ο ῦ ν ο ν λ ἐ γ ε σ θ α ι ο ὐ κ ἐ θ έ λ ε ι κ α ὶ ἐ θ έ λ ε ι , Ζ η ν ὸ ς ὄ ν ο μ α […]. ‚Das Eine Weise allein will ausgesprochen nicht werden und doch auch werden, der Name des Zeus […]‘.⁶⁵ 12. ᾿A λ λ ὰ τ ὰ μ ὲ ν τ ῆ ς γ ν ώ σ ε ω ς β ά θ η κ ρ ύ π τ ε ι ν ἀ π ι σ τ ί η ἀ γ α θ ὴ , καθ᾽ Ἡράκλειτον· ἀ π ι σ τ ί η γ ὰ ρ δ ι α φ υ γ γ ά ν ε ι μ ὴ γ ι ν ώ σ κ ε σ θ α ι . […] ‚Durch seine Unglaublichkeit entschlüpft‘ – das Wahre nemlich – ‚dem Erkanntwerden‘.⁶⁶

All diese Aussprüche deutet Schleiermacher als Maximen philosophischen Bemühens. Das Wahre liegt nicht offen da. Es muss – und kann – durch philosophische Aktivität aus seiner Verborgenheit geholt, semantisch behandelt („σημαίνει“) und zur Sprache gebracht werden. Es folgen dann noch einige Fragmente, die falsche Vorgehensweisen verurteilen: Vielwisserei oder Berufung auf falsche Autoritäten helfen nicht weiter.⁶⁷ Den eigentlichen Kern der Lehre rekonstruiert Schleiermacher dann im zweiten großen Abschnitt in schon bekanntem Sinne: Die Lehre vom Fluss allen Seins.⁶⁸ Den berühmten Satz, dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen könne, interpretiert Schleiermacher sehr innovativ von beiden Seiten her: vom Fluss, in den man steigt, und vom Steigenden selbst, auch er ist nicht zweimal derselbe – ein Aspekt, der erstmals von Schleiermacher gesehen wurde.⁶⁹ Wieder verbindet Schleiermacher diesen Satz mit Fragmenten über die Wahrnehmung und verknüpft damit das ontologische Problem mit dem epistemologischen: „[…] Herakleitos so sich ausgedrückt hat 24. ‚daß wenn alles Seiende Rauch würde, die Nase doch es unterscheiden würde.‘ ὡς εἰ πάντα τὰ ὄντα κάπνος γένοιτο, ῥῖνες ἂν διαγνοῖεν.“⁷⁰

 Schleiermacher 1998, Herakleitos, 109 (Anm. 5).  Schleiermacher 1998, Herakleitos, 119 (Anm. 5). (Fragment 10 Schleiermacher = B93 DK).  Schleiermacher 1998, Herakleitos, 120 (Anm. 5). (Fragment 11 Schleiermacher = B33 DK).  Schleiermacher 1998, Herakleitos, 121 (Anm. 5). (Fragment 12 Schleiermacher = B86 DK).  Schleiermacher 1998, Herakleitos, 129 – 134 (Anm. 5).  Schleiermacher 1998, Herakleitos, 1134– 142 (Anm. 5).  Schleiermacher 1998, Herakleitos, 134– 138 (Anm. 5). (Fragment 20 und 21 Schleiermacher = B91 und 12 DK).  Schleiermacher 1998, Herakleitos, 140 (Anm. 5). (Fragment 24 Schleiermacher = B7 DK).

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Dann erst folgen die naturphilosophischen Fragmente vom Feuer, der Sonne und so weiter, die ich hier übergehe.⁷¹ Breiten Raum nehmen dann wieder die Fragmente von der Einheit der Gegensätze ein, der π α λ ί ν τ ο ν ο ς ἁ ρ μ ο ν ί η ⁷², in anderen Worten 37.b. Ταὐτὸ δὲ τοῦτο, nemlich die Verbindungen der Gegensätze, ἦν καὶ τὸ παρὰ τῷ σκοτείνῳ λεγόμενον Ἡρακλείτῳ· σ υ ν ά μ ε ι ψ α ς ο ὖ λ α κ α ὶ ο ὐ χ ὶ ο ὖ λ α , σ υ μ φ ε ρ ό μ ε ν ο ν [ κ α ὶ ] δ ι α φ ε ρ ό μ ε ν ο ν , σ υ ν ᾷ δ ο ν [ κ α ὶ ] δ ι ᾷ δ ο ν · καὶ ἐ κ π ά ν τ ω ν ἓ ν κ α ὶ ἐ ξ ἑ ν ὸ ς π ά ν τ α . […] ‚Verknüpfe verderbliches und nicht verderbliches, zusammentretendes und auseinandergehendes, zusammenstimmendes und mißstimmiges.‘ Und ‚Aus allem Eins, und aus Einem Alles.‘⁷³

Dazu Schleiermacher: „Eben so natürlich ist ferner die Behauptung und allem bisherigen vollkommen angemessen, daß überall die Gegensäze nothwendig zusammen gehören, ja vielleicht daß kein Erzeugniß der Natur ohne einen ihm eigenthümlichen Gegensaz bestehen könne.“⁷⁴ Erst gegen Ende kommt Schleiermacher auf das Fragment, das häufig als Schlüssel zu Heraklits Werk angesehen wird: 47. λόγου τοῦδε ἐόντος αἰεὶ ἀξύνετοι γίνονται ἄνθρωποι καὶ πρόσθεν ἢ ἀκοῦσαι καὶ ἀκούσαντες τὸ πρῶτον· γινομένων γὰρ κατὰ τὸν λόγον τόνδε ἄπειροι ἐοίκασι πειρώμενοι ἐπέων καὶ ἔργων τοιούτων ὁκοίων ἐγὼ διηγεῦμαι κατὰ φύσιν διαιρέων ἕκαστον καὶ φράζων ὅκως ἔχει· τοὺς δὲ ἄλλους ἀνθρώπους λανθάνει ὁκόσα ἐγερθέντες ποιοῦσιν ὅκωσπερ ὁκόσα εὕδοντες ἐπιλανθάνονται. […] ‚Von diesem bestehenden Verhältnis finden sich die Menschen immer ohne Einsicht, sowol ehe sie davon hören als nachdem sie zuerst davon gehört. Denn des nach diesem Verhältnis erfolgenden unkundig scheinen sie zu versuchen solche Reden und Werke, dergleichen ich durchführe, der Natur gemäß jegliches auseinanderlegend und bestimmend wie es sich verhält. Den übrigen Menschen aber bleibt unbewußt, was sie wachend thun, eben wie sie was sie schlafend gethan vergessen.‘⁷⁵

Die Rede ist vom Logos, den die Menschen in der Regel nicht verstehen, der aber doch gewissermaßen der Wesenskern der Welt ist. Schleiermacher übersetzt hier λόγος nicht etwa, wie es häufig geschieht, als „Vernunft“ oder „(Heraklits) Lehre“ oder „(göttlicher) Geist“ oder ähnliches, sondern als „Verhältnis“. Die wahre Einsicht in die Welt entfaltet sich für ihn bei Heraklit als Beziehung zwischen Polen, als Spannung, Harmonie, als Einheit des Gegensatzes. Dieser Logos als Verhältnis ist das ξυνόν, das Gemeinsame: „48. διὸ δεῖ ἕπεσθαι τῷ ξυνῷ· τοῦ λόγου δὲ ἐόντος ξυνοῦ ζώουσιν οἱ πολλοὶ ὡς ἰδίαν ἔχοντες φρόνησιν· […] ‚Darum muß man dem gemeinsamen folgen: ohnerachtet aber das Gesez‘ (des Denkens nemlich, einerlei mit dem Gesez des Seins)

    

Schleiermacher 1998, Herakleitos, 142– 165 (Anm. 5). Schleiermacher 1998, Herakleitos, 168 (Anm. 5). (Fragment 34 Schleiermacher = B51 DK) Schleiermacher 1998, Herakleitos, 180 (Anm. 5). (Fragment 37 Schleiermacher = B10 DK). Schleiermacher 1998, Herakleitos, 181 (Anm. 5). Schleiermacher 1998, Herakleitos, 210 (Anm. 5). (Fragment 47 Schleiermacher = B1 DK).

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‚ein gemeinsames ist, leben doch die Meisten als eine eigenthümliche Einsicht besitzend.‘“⁷⁶ Schleiermachers Interpretation fasst diese beiden Fragmente zu folgendem Gedanken zusammen: Offenbar wird hier die Einsicht welche jeder Einzelne anders für sich hat als irrig verworfen, und nur der reine Ausdruck des gemeinsamen Gesezes als Wahrheit gepriesen.Warum nun aber soviel Ursach ist über den Mangel dieses gemeinsamen Princips der Wahrheit in den Vorstellungen der Menschen zu klagen, und woher dieser Mangel rührt, das versteht sich aus des Ephesiers mit allem bisherigen genau zusammenhangenden Gedanken von der Seele, welche wir hier vortragen müssen.⁷⁷

Die Entfaltung der Seelenlehre Heraklits nimmt dann den letzten Teil der Abhandlung ein.⁷⁸ Sie kann in ihrer physiologischen Detailfreude hier nicht im Einzelnen entfaltet werden – dies wäre eine eigene Untersuchung, zu der die demnächst erscheinenden Vorlesungen zur Psychologie sicher instruktiv zu vergleichen wären⁷⁹ –, deshalb hier nur die Schlusspointe, auf die Schleiermachers Rekonstruktion hinausläuft. Schleiermacher kommt nämlich am Ende auf den Gedanken vom ewigen Fluss zurück: 72. π ο τ α μ ο ῖ ς τ ο ῖ ς α ὐ τ ο ῖ ς ἐ μ β α ί ν ο μ έ ν τ ε κ α ὶ ο ὐ κ ἐ μ β α ί ν ο μ ε ν , ε ἰ μ έ ν τ ε κ α ὶ ο ὐ κ ε ἰ μ έ ν . ‚ In dieselbigen Ströme steigen wir hinein und steigen auch nicht hinein, sind und sind auch nicht.‘⁸⁰

Dass Schleiermacher diesen Gedanken in die Seelenlehre einordnet, ist in der Tat bemerkenswert. Schon oben war erwähnt, dass Schleiermacher die Flussmetapher nicht – wie sonst üblich – auf die ständige Veränderung der physischen Welt bezieht, sondern vor allem auf die Beschaffenheit der sie betrachtenden Seele. Heraklit wird damit für ihn vom Naturphilosophen, als den ihn die Tradition vor ihm gesehen hat, zum Erkenntnistheoretiker auf der Suche nach wahrer Erkenntnis. Diese liegt nicht im Wissen des Einzelnen, sondern als das ξυνόν, das „Gemeinsame“, im Logos. Nemlich Herakleitos mag wol eigentlich gesagt haben, er habe in diesem ewigen Fluß sich selbst gesucht, und auch sich nicht gefunden als seiend, beharrend, eben daraus aber sei ihm alle Erkenntnis erst aufgegangen. Wie sich denn alles bisher auseinandergesezte sehr leicht hieran reihet, so daß in der That der Keim seiner ganzen Weisheit eben dieses sich selbst verlieren und nur in der gemeinsamen Vernunft finden kann gewesen sein.⁸¹

 Schleiermacher 1998, Herakleitos, 211 (Anm. 5). (Fragment 48 Schleiermacher = B2 DK).  Schleiermacher 1998, Herakleitos, 211 (Anm. 5).  Schleiermacher 1998, Herakleitos, 212– 241 (Anm. 5).  Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen über die Psychologie, KGA II/13, hg.v. Dorothea Meier, / Jens Beljan (im Druck).  Schleiermacher 1998, Herakleitos, 239 (Anm. 5) (Fragment 72 Schleiermacher = B49a DK).  Schleiermacher 1998, Herakleitos, 240 (Anm. 5).

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4 Resümee Schleiermacher greift sich von den frühen Denkern ausgerechnet Heraklit heraus, der als „der Dunkle“ seit jeher eine philologisch-hermeneutische Herausforderung darstellt. An ihm entwickelt er einerseits eine neue Methode philosophiegeschichtlicher Re-Konstruktion, indem er die überlieferten Worte des Philosophen in Spannung zu ihrer Rezeption setzt und diese wiederum als Instrument zur Wiedergewinnung authentischer Worte verwendet. Andererseits rekonstruiert er Heraklit erstmals nicht als konventionellen Naturphilosophen, sondern als Onto-, und noch in höherem Maße als Epistemologen. Den Heraklitischen Logos als das weltimmanente Prinzip interpretiert Schleiermacher im Rahmen der Vorstellung der Einheit der Gegensätze, der παλίντονος ἁρμονίη, als Verhältnis der Erscheinungen zueinander. Der Zugang zu dessen Erkenntnis gelingt nicht über die Gefolgschaft gegenüber anerkannten Autoritäten oder direkter individueller Sinneswahrnehmung, sondern über einen aktiven methodischen Prozess der Wechselwirkung zwischen der (im Fluss befindlichen) Seele in ihren verschiedenen physiologischen Zuständen und der zu erkennenden Welt, ein Prozess, der in ein „Gemeinsames“ mündet, das man als „die Wahrheit“ bezeichnen kann. Besonders raffiniert dabei ist, dass die philologische Methode Schleiermachers bei der Rekonstruktion der Lehre Heraklits dem inhaltlichen Ergebnis dieser Rekonstruktion strukturell einbeschrieben ist. Schleiermacher rekonstruiert Heraklit mit dessen eigener philosophischer Methode, die ihrerseits aber erst das Produkt eben dieser Rekonstruktion ist. Diese verschränkte strukturelle Selbstähnlichkeit ist das eigentlich Faszinierende, ja man kann sagen: Moderne an Schleiermachers Rekonstruktion. Aus den Trümmern der antiken Überlieferung baut Schleiermacher ein neues, ein modernes, eben sein Konzept. Nicht anders ist die Begegnung mit Platon gestaltet. Ist es bei Heraklit die Rekonstruktion aus Fragmenten, so ist die Methode der Annäherung an Platon die der Übersetzung, auch sie eine philologische Methode. Sie wurde in Vorlesungen seit 1805 entwickelt und in den Akademiereden von 1813 erstmals systematisch entfaltet. Auch diese Methode Schleiermachers, bei der nicht ein gegebener, definierter Inhalt vom anderen System ins eigene herübergeholt wird, sondern bei der die Übersetzungsleistung in der sprachlichen (und geistigen) Annäherung an das Andere besteht und schließlich in das „Gemeinsame“ mündet. Auch diese Methode der modernen Erschließung des antiken Materials hat ihre Entsprechung in der platonischen Dialogtheorie, wie sie Schleiermacher sieht. Philosophische Erkenntnis entsteht nach Schleiermacher für Platon nicht dadurch, dass ein Wissender sie an einen Nichtwissenden als etwas Bestimmtes übergibt, sondern dadurch, dass der Nichtwissende sich im dialektischen Verfahren in Interaktion mit dem anderen begibt. Auch liegt die gleiche, selbstähnliche Struktur vor, die aus dem alten Material ein modernes Konzept hervortreibt.

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Diese beiden Beispiele zeigen, dass Schleiermachers Bemühen um die antike Philosophie nicht als eine antiquarische Fingerübung, sondern als Arbeit an aktuellen Konzepten zu verstehen ist, Konzepten, die bis heute Grundparadigmen der Philologie, der philosophischen Hermeneutik und der Theologie geblieben sind.

Piotr de Bończa Bukowski / Krakau (Polen)

Schleiermacher und die Frage nach dem Original

Zu einem philologischen und übersetzungswissenschaftlichen Problem

I In einer anregenden Skizze über Friedrich Hölderlin als Übersetzer unterscheidet Klaus Nickau drei „Begriffe“ von „Original“, nämlich „das, was Hölderlin vorlag“; „das was Hölderlin übersetzt hat“ und „das, was Sophokles geschrieben hat“.¹ Dieses Letzte sei ein Ideal, welchem man heute nähergekommen zu sein scheint als die Zeitgenossen der deutschen Klassik und Romantik. Doch dieses Ideal bleibt für den klassischen Philologen stets ein Rätsel: „Die Übersetzungen, eigene wie fremde“, so Nickau, „bringen ihm oft erst wieder zu Bewusstsein, wie fremd jene antiken Werke doch sind, die er schon ein wenig zu kennen oder zu verstehen glaubte“.² Es gibt viele Indizien dafür, dass eine solche Fremdheitserfahrung auch Friedrich Schleiermacher als Platon-Übersetzer geprägt hat. Mein Interesse in der vorliegenden Analyse richtet sich jedoch auf die textuelle Wirklichkeit, und zwar auf das Verhältnis des Übersetzers (der zugleich in der Eigenschaft des Philologen auftritt) zum Original. Ich werde mich dabei auf Schleiermachers Übertragungspraxis beziehen – auf seine Übersetzung von Platons Phaidros, wie sie in der zweiten Auflage (1817) vorliegt.

II Es scheint, dass in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die deutschen Gelehrten das Original wiederentdecken. Man nimmt sich vor, „unmittelbar aus der Grundsprache zu übersetzen“ (Johann Christoph Gottsched³), die Kritiker vergleichen oft minutiös das Werk des Übersetzers mit dem Originaltext.⁴ Darüber hinaus wird auch die Rolle der Übersetzung im Bereich der philologischen Arbeit, die auf die Rekonstruktion der

 Klaus Nickau, „Die Frage nach dem Original“, in: Die literarische Übersetzung. Fallstudien zu ihrer Geschichte, hg.v. Birgitte Schultze, Berlin 1987, 86.  Nickau 1987, 86 – 87 (Anm. 1).  Gottsched forderte dieses, eine indirekte Übersetzung aus dem Englischen über die Brückensprache Französisch kritisierend (Beyträge zur critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit, Siebenter Band, Leipzig 1741, 167– 168).  Anneliese Senger, Deutsche Übersetzungstheorie im 18. Jahrhundert (1734 – 1746), Bonn 1971, 55. https://doi.org/10.1515/9783110569520-043

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Urtextes abzielt, hervorgehoben. Das Wesen des Originals erkennt man in seinem Sinn, welcher mit dem „Verstand und Sinn“ des Autors oder – direkter – mit dessen „Gedanken“ zusammenhänge.⁵ Eine weitere Wende in der Auseinandersetzung mit dem Original vollzieht sich Ende des 18. Jahrhunderts und ist vor allem auf die dynamische Entwicklung von Philologie (Textkritik), Hermeneutik und Literaturtheorie zurückzuführen. Mit dem Fortschritt der Geisteswissenschaften und der Entwicklung des interdisziplinären Denkens wird auch das Konzept des Originals mitsamt den theoretischen Voraussetzungen und praktischen Aspekten der Übersetzung problematisiert, wobei sie nun als Modell der deutenden und kritischen Tätigkeit funktioniert. Die Protagonisten dieser Wende waren Herder, Hölderlin, die Gebrüder Schlegel, Novalis, Wilhelm von Humboldt und Schleiermacher. Einige von ihnen haben bahnbrechende übersetzerische Leistungen vollbracht. Gemeinsam war ihnen allen die Überzeugung, welche Herder schon viel früher in seinen Fragmenten äußerte: „Der beste Übersetzer muss der beste Erklärer sein“, „zugleich Philosoph, Dichter und Philologe“, welcher als „der Morgenstern einer neuen Epoche“ in der deutschen Literatur auftreten solle.⁶ Einer Epoche, in welcher Nachahmungen den Originalwerken ebenbürtig sind.⁷ Dieses reifende Bewusstsein einer besonderen Mission der Übersetzer korrespondierte mit dem wachsenden Selbstvertrauen der deutschen Philologie im 19. Jahrhundert. In dieser Hinsicht ist die Meinung von Ulrich von Wilamowitz–Moellendorff charakteristisch: Nur Philologen, behauptete er, sollten griechische Poesie übersetzen, denn sie seien ja berufen, den Suchenden den Weg zum Ideal zu zeigen.⁸

III Das neben August Wilhelm Schlegels Shakespeare–Verdeutschung wohl wichtigste Übersetzungsvorhaben der Romantiker war die Übertragung des Platon, welche als ein gemeinsames Projekt von Friedrich Schlegel und Friedrich Schleiermacher konzipiert wurde.⁹ Als „systematische und genetische Nachkonstruktion eines ganzen“ erscheint es, so Andreas Arndt, als „das Programm einer ‚hermeneutischen Wende‘  Senger 1971, 56 – 57 (Anm. 4).  Johann Gottfried von Herder, Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Zwote Sammlung von Fragmenten, Bd. 2, Riga 1767, 237 und 238 – 239. Vgl. Ralph–Rainer Wuthenow, Das fremde Kunstwerk. Aspekte der literarischen Übersetzung, Göttingen 1969, 18 – 19.  Herder 1767, 237 (Anm. 6)  Wuthenow 1969, 65 (Anm. 6).  Die Idee selbst hat im Frühjahr 1799 Friedrich Schlegel formuliert. „Zwischen Schlegel und Schleiermacher war abgesprochen, daß sie sich in die Übersetzungsarbeit teilten. Eine ‚Einleitung über das Studium des Plato‘ aus der Feder Schlegels sollte den ersten Band eröffnen, eine ‚Charakteristik des Plato‘, geschrieben von Schleiermacher, das Unternehmen abrunden.“ (Kurt Nowak, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001, 132).

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um 1800, welche die aufklärerische Stellenhermeneutik in das umfassende Programm einer Erklärung des Ganzen aus seinen Teilen einstellte“.¹⁰ Schlegels Einfluss auf den theoretischen Unterbau des Vorhabens ist nicht zu überschätzen, insbesondere was die philologische Ebene betrifft; sein Konzept der „höheren philologischen Kritik“ hat Schleiermacher maßgeblich geprägt.¹¹ Der deutschen Leserschaft sollte nicht nur der ganze Platon in einer chronologischen Ordnung, sondern auch der echte Platon geschenkt werden. Eine Hermeneutik des Originals präsentiert Schleiermacher in seiner Einleitung, wo er seinen Lesern die „ächt platonische Form“, also das Originelle im Original nahebringt.¹² Er bestimmt eine Formel des Platonischen, die eine regulative Funktion hat: Je mehr der Text von dieser Formel abweiche, desto zweifelhafter sei seine Echtheit und desto weniger „platonisch“ scheint er zu sein. Das Platonische wird grundsätzlich von ästhetischen Werten konstituiert wie: Einheit, der Geist (Genius) und die mimische Kunst des Platon, Kraft, Schönheit, Klarheit, Ton, Farbe, Form, Komposition. Und diese originellen Werte sollten in der Übersetzung vermittelt werden. In der Vorerinnerung schreibt Schleiermacher über besondere Verpflichtungen des Übersetzers des ganzen Platon, der auf „die Einheit und die gleiche Haltung“, welche „einem solchen Ganzen nothwendig sind“, Rücksicht nehmen muss.¹³ Die Dialoge, wie verschiedenartig sie auch seien, sind ein (geschriebener) Text eines Autors. In den Anmerkungen zu Des Sokrates Vertheidigung nennt Schleiermacher Voß‘ Übersetzung als seinen wichtigsten Bezugspunkt (sie sei „fleissig zur Hand gewesen und genau verglichen worden“), unterstreicht jedoch, dass „der Uebersetzer des ganzen Platon manchmal müsse liegen lassen was der Uebersetzer einzelner Gespräche mit vollem Recht gebrauchen darf“.¹⁴ Die Strategie der Übersetzung des als Einheit konstituierten platonischen Textkorpus erzwingt auch eine besondere Gründlichkeit was die „Lesart und Auslegung“ betrifft.¹⁵ Hier folge der Übersetzer „mancher Vermuthung“, welche

 Andreas Arndt, Friedrich Schleiermacher als Philosoph, Berlin / Boston 2013, 267.  Vgl. insbesondere Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers, Bd. 1, hg.v. Hermann Mulert, Berlin / Leipzig 1922, 645 – 687. Zu Schlegels Einfluss auf Schleiermacher siehe Hermann Patsch, „Friedrich Schlegels ‚Philosophie der Philologie‘ und Schleiermachers frühe Entwürfe zur Hermeneutik“, ZThK 63 (1966), 434– 472.  Friedrich Schleiermacher, „Einleitung“, in: ders., Platons Werke. Erster Teil, erster Band, KGA IV/3, hg.v. Lutz Käppel / Johanna Loehr, Berlin / New York 2016, 13 – 60, hier 58.  Friedrich Schleiermacher, „Vorerinnerung“, in: ders., Platons Werke. Erster Teil, erster Band, KGA IV/3, hg.v. Lutz Käppel / Johanna Loehr, Berlin / New York 2016, 7– 9, hier 7.  Friedrich Schleiermacher, Platons Werke. Ersten Theiles zweiter Band, Berlin 31855, 298 – 299. Schleiermacher bezieht sich hier auf: Platons Vertheidigung des Sokrates, mit kritischen Anmerkungen von Johann Heinrich Voß, in: Deutsches Museum, Bd. 2, Leipzig 1776, 859 – 889. Vgl. Georg Ludwig Spaldings Brief an Schleiermacher vom 5. 1. 1803, KGA V/7, hg.v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin / New York 2005, 185. Zu Schleiermachers Voß-Kritik und Voß-Anerkennung siehe Hermann Patsch, Alle Menschen sind Künstler. Friedrich Schleiermachers poetische Versuche, Berlin / New York 1986, 70 – 71.  Vgl. Schleiermacher 1855, 299 (Anm. 14).

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er als Herausgeber nicht in den Text aufnehmen würde.¹⁶ In dieser Hinsicht verfährt er mit dem Originaltext anders als der Philologe. Der Übersetzer hat seine eigenen Ziele und Bedürfnisse, die oft mit den Zielen der philologischen Kritik nicht übereinstimmen. Seine „Vermutungen“, gehen auf Divinationen zurück, die sich auf das übersetzerische „Verstehensinteresse“ richten¹⁷, welche nicht nur auf das Lesbarmachen des bewahrten Textes abzielt, sondern insbesondere das Lesbarmachen der zur „fremden Ähnlichkeit“ strebenden Übersetzung anstrebt.¹⁸ Schleiermacher deutete Platons Philosophie „organologisch“ und meinte, sie „entwickle sich auch genetisch aus keimhaften Anfängen – dem Phaidros – zur vollendeten Reife der Politeia und des Timaios“.¹⁹ Die Übersetzung von Phaidros begann er – auf Schlegels Drängen – Anfang 1801 zu verfertigen. Als Textgrundlage, also das „vorliegende“ Original, diente dem Übersetzer, so Lutz Käppel und Johanna Loehr, „der handschriftliche Entwurf der kommentierten Ausgabe seines Freundes Ludwig Friedrich Heindorf“.²⁰ Schleiermacher standen aber auch andere Quellen zur Verfügung: u. a. die große Bipontina–Ausgabe und einzelne Editionen von u. a. Friedrich August Wolf und J.C. Gottleber, Früheres von Heindorf und später auch die kritische Edition von Immanuel Bekker (1816 – 1818).²¹ Er bezieht sich auch auf die Übersetzung von Marsilio Ficino und die Henricus Stephanus–Ausgabe. Nachdem Friedrich Schlegel Mitte März Schleiermachers Phaidros–Manuskript durchgesehen hatte, wurde es zu dem Verleger Friedrich Frommann zum Satz Geschickt.²² Doch die weitere Korrekturarbeit an der Übersetzung geriet ins Stocken, so dass schließlich Schleiermacher, nach der Beendigung der Zusammenarbeit mit Schlegel, das Platon-Projekt dem Verleger Georg Andreas Reimer anvertraute. Der erste Band von Platons Werken, mit den Dialogen Phaidros, Lysis, Protagoras und Laches, erschien im Mai 1804.²³ In den Paratexten und Notizen zu Platon gibt Schleiermacher nur wenige Auskünfte zu den übersetzungstheoretischen Voraussetzungen seiner Arbeit. Wichtige Gedanken dazu findet man in dem berühmten Akademie-Vortrag vom 24. Juni 1813  Schleiermacher 2016, 8 (Anm. 13).  Kai Bremer / Uwe Wirth, „Die philologische Frage. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die Theoriegeschichte der Philologie“, in: Texte zur modernen Philologie, hg.v. Kai Bremer / Uwe Wirth, Stuttgart 2010, 7– 48, hier 17.  Zum Begriff der „fremden Ähnlichkeit“ vgl. Friedrich Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens, KGA I/11, hg.v. Martin Rößler, Berlin / New York 2002, 65 – 94, hier 81.  Christoph Asmuth, Interpretation – Transformation. Das Platonbild bei Fichte, Schelling, Hegel, Schleiermacher und Schopenhauer und das Legitimationsproblem der Philosophiegeschichte, Göttingen 2006, 202.  Lutz Käppel / Johanna Loehr, Einleitung der Bandherausgeber, KGA IV/3, hg.v. Lutz Käppel / Johanna Loehr, Berlin / New York 2016, XV–LXXXV, hier XIX.  Siehe Nowak 2001, 134– 137 (Anm. 9).Vgl. auch die Literaturangaben in KGA IV/3, hg.v. Lutz Käppel / Johanna Loehr, Berlin / New York 2016, 1044– 1061, hier 1044– 1046 und Schleiermachers Bibliothek, Bearbeitung des faksimilierten Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbü cher des Verlages G. Reimer, bes. v. Gü nter Meckenstock, Berlin / New York 1993, 80.88 und passim.  Vgl. Käppel / Loehr 2016, XXII–XXIII und XCII (Anm. 20).  Vgl. Käppel / Loehr 2016, XXV–XXVII und XXXV. (Anm. 20).

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(Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens), wo er die Aporien des Übersetzens diskutiert. Schleiermacher stellt hier den Schriftsteller, nicht den Originaltext in den Fokus seiner hermeneutischen Analyse. Diese zeigt, dass jeder Autor einerseits in der Gewalt seiner Sprache ist, die sein Denken erzeugt, andererseits aber dem Gemüte nach die Sprache formen kann.²⁴ Deshalb sei auch jedes Wortkunstwerk ein Erzeugnis der Sprache und zugleich eine Äußerung des menschlichen Geistes. Demgemäß bilden in Platons Texten der Geist der Sprache und der Genius des Autors eine Einheit. Für den Übersetzer ist dies eine wahre Herausforderung, diese in ihrer Eigentümlichkeit fremde Einheit seinem Leser zu vermitteln. Grundsätzlich stehen ihm hier zwei Methoden zur Verfügung: den Leser auf das Fremde hinzubewegen oder das Fremde in die Welt des Lesers hineinzurücken.²⁵ Sehr oft – jedoch zu Unrecht – wird behauptet, dass Schleiermacher in seiner Platon-Übersetzung konsequent die „entfremdende“ Methode angewendet hat. Die Übersetzung des philosophischen Diskurses betrachtet Schleiermacher als besonders schwierig, da sich hier die Verschiedenheit der relevanten Sprachsysteme am deutlichsten bemerkbar macht. „Hier mehr als irgendwo“, lesen wir in der Akademie-Rede, „enthält jede Sprache, trotz der verschiedenen gleichzeitigen und aufeinander folgenden Ansichten, doch Ein System von Begriffen in sich, die eben dadurch, daß sie sich in derselben Sprache berühren verbinden ergänzen, Ein Ganzes sind, dessen einzelnen Teilen aber keine aus dem System anderer Sprachen entsprechen, kaum Gott und Sein, das Urhauptwort und Urzeitwort abgerechnet.“²⁶ Der Philosoph „schöpft aus dem Vorhandenen“, um Neues hervorzubringen – seine Weisheit geht in seiner Sprache auf. Der Übersetzer habe, so Schleiermacher, die Wahl: entweder beugt er die Sprache der Übersetzung „nach der Ursprache“ oder aber er paraphrasiert einfach die Rede des Philosophen. Er kann auch „die ganze Weisheit und Wissenschaft seines Mannes umbilden in das Begriffssystem einer anderen Sprache“, welches aber in einer unverantwortlichen Willkür enden könne.²⁷ Schleiermacher gibt zu, er habe dabei Platon im Sinn. Doch nicht der Text und seine Begrifflichkeit, sondern der Verfasser und seine in Begriffen geäußerte „Weisheit und Wissenschaft“ erscheinen hier als Gegenstand der sprachlichen Vermittlung. Nicht die philosophische Schrift, sondern die Rede des Weisen wird als übersetzungstheoretisches Problem dargestellt.

IV Es stellt sich nun die Frage, wie Schleiermachers Auseinandersetzung mit dem platonischen Original in der Praxis aussah. Folgt man seinen Anmerkungen zu einzelnen    

Friedrich Schleiermacher 2002, 70 – 71 (Anm. 18). Schleiermacher 2002, 75 (Anm. 18). Schleiermacher 2002, 89 (Anm. 18). Schleiermacher 2002, 90 (Anm. 18).

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Dialogen aus der zweiten Auflage der Werke genau, ist zu bemerken, dass Schleiermacher dort eine Art übersetzungsrelevante Philologie praktiziert.²⁸ Durch eigene und fremde (vor allem Heindorf‘sche und Bekker‘sche) Vermutungen und Lesarten wird ein Originaltext fixiert, welcher als Vorlage der Übersetzung funktioniert. Manchmal aber gerät das Ethos der Philologie mit der Pragmatik der Übersetzung in Widerstreit, muss doch das „Verstehensinteresse“ des Übersetzers auch auf die Vermittlung des Originals, seine Kommunizierbarkeit Rücksicht nehmen. Hier erscheinen das Zweideutige und das Fremde als ein Hindernis. So auch im Phaidros, wo Schleiermacher Sokrates‘ homerische Invokation in dessen ersten Rede wie folgt übersetzt: „Wohlan denn, o Musen! mögt ihr nun wegen einer Art des Gesanges die hochgekehlten heißen, oder nach dem langhalsigen Geschlecht der tonreichen Schwäne diesen Namen führen […].“²⁹ „Bei dieser schwierigen Stelle“, erklärt Schleiermacher in der zweiten Auflage, „deren eigentlicher Sinn vielleicht nicht mehr mit Gewißheit zu bestimmen ist, hat weniger eine feste Ueberzeugung, als der Reiz der leichteren Uebertragbarkeit für die an sich nicht sehr wahrscheinliche Auslegung entschieden, der ich gefolgt bin […].“³⁰ Die Stelle ist in der Tat schwierig, da hier Sokrates mit den möglichen Deutungen von epitheum ornans der Musen – ligeiai spielt (λίγειαι, 237a); die Wörter ligòs / λιγὺς („laut“) und lìgos / λίγυς („die Ligurer“) werden gleichzeitig evoziert.³¹ In seiner Auslegung in der Zielsprache rundet der Übersetzer das Bild literarisch ab – die doppelte (sprachliche und kulturelle) Fremdheit dieser Invokation, welche die paronomasisch anmutende Etymologie noch verstärkt, lässt sich bei der Lektüre der Übersetzung kaum erahnen. In derselben Rede des Sokrates übersetzt Schleiermacher: „Wir müssen demnach bemerken, daß es in einem Jeden von uns zwei herrschende und führende Triebe giebt, welchen wir folgen, wie sie eben führen, eine eingebohrne Begierde nach dem Angenehmen und eine erworbene Gesinnung, welche nach dem Besten strebt.“³² In der entsprechenden Anmerkung gibt Schleiermacher zu: er habe sich die Freiheit genommen, die Schlüsselbegriffe idea / ἰδέα und doxa /δόξα als respektive „Trieb“ und „Gesinnung“ zu übersetzen.³³ Diese Freiheit des Übersetzers bedarf, wie er meint,

 Schleiermacher selbst unterstreicht in der Vorerinnerung zwei Funktionen der Anmerkungen: diese sollten seine Interpretation der Dialoge „im Einzelnen unterstützen“ und auch das erläutern, „was unkundigeren Lesern minder verständlich sein möchte“ (Schleiermacher 2016, Vorerinnerung, 9 [Anm. 13]).  Friedrich Schleiermacher, „Phaidros“, in: ders., Platons Werke. Erster Teil, erster Band, KGA IV/3, hg.v. Lutz Käppel / Johanna Loehr, Berlin / New York 2016, 61– 414, hier 141– 143.  Schleiermacher 2016, Phaidros, 143 (Anm. 29).  Siehe den Kommentar von Leopold Reger in: Platon, Fajdros, ins Polnische übers. und komm. v. Leopold Reger,Warszawa 1993, 17; Vgl. auch Platon, Phaidros oder Vom Schönen, übers. u. eingel. v. Kurt Hildebrandt, Stuttgart 1957, 8, online unter: www.peter–matussek.de/Leh/V_06_Material/ V_06_M_08/Phaidros_Dialog.pdf, zuletzt abgerufen am 20.09. 2017.  Schleiermacher 2016, Phaidros, 147– 149 (Anm. 29).  Schleiermacher 2016, Phaidros, 147 (Anm. 29).

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„einer Vertheidigung“. Warum er sich nicht für eine „dem Anschein nach wörtlichere Uebertragung“ entschieden habe? Erstens weil „es unsere Ohren zu sehr verletzt hätte, wenn die Begierde eine Idee und das vernünftige Wollen eine Meinung wäre genannt worden“.³⁴ Eine solche Zusammenstellung der Begriffe würde demgemäß fremd klingen und den Leser mit einer Dissonanz verstimmen. Zweitens auch, weil eine wörtliche Wiedergabe, welche kontextuelle Bezüge außer Acht ließe, den „Sinn des Platon ungleich mehr verfälscht hätte“, indem sie Akzente setzen würde, die dem Original fremd seien. Schleiermacher meint hier den Nachdruck auf „Verschmelzung des theoretischen und praktischen“ in Platons Sprachgebrauch, welchen es in der „Ursprache“ gar nicht gäbe. Die freiere Übersetzung scheint aus dieser Sicht nicht nur „leserfreundlicher“, sondern auch (sinn)treuer zu sein. Der Effekt der Fremdheit (die Begierde als Idee) könnte ja rückwirkend ein falsches Bild des Originals vermitteln, seinen Sinn verfälschen. In den Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie behauptet Schleiermacher, dass der Begriff der Idee einen realen und einen idealen Aspekt habe und eine „höhere Combination zwischen Herakleitos und Anaxagoras“ (Erscheinung und Verstand) darstelle.³⁵ Das Wesen der Ideenlehre sei, dass „die Einheit des Begriffs zugleich das wahre reale Sein ist“, wobei „dieses selbige in der ersten Beziehung mehr εἶδος, in der letzten mehr ἰδέα genannt“ werde. Ἰδέα erscheint hier als „die productive Kraft der Natur“, was die Entsprechung „Trieb“ in der Phaidros-Übersetzung legitim macht. Doch, wie es Gunter Scholz treffend bemerkt³⁶, erscheint diese Differenzierung im Lichte der Dialektik 1814/15 als fragwürdig: „Im antiken platonischen Sprachgebrauch“, so Schleiermacher, „werden die drei Worte εἶδος ἰδέα γένος vermischt gebraucht theils für das im Denken theils für das im sein gesetzte allgemeine“.³⁷ Die sprachliche „Differenzierung im Begriff der Idee“ ist also nicht leicht zu belegen, was aber Schleiermacher nicht als Anfechtung seiner identitätsphilosophischen Interpretation der Platonischen Ideenlehre ansah.³⁸ Der (ausgelegte) philosophische Sinn überwindet die in der Rede herrschende „Vermischung“. Es ist allerdings die Rede – oft verfremdet, nicht selten mehrdeutig – die uns zu einer Mit–Arbeit an dem philosophischen Sinn einlädt. Diogenes Laertios hat Platons oft verwirrende Wortbehandlung vermerkt (er benutze „für verschiedene Dinge die nämlichen Namen“, aber auch „verschiedene Namen für dieselbe Sache“) und im Zusammenhang mit der hermetischen Dimension der Lehre des Philosophen gebracht; es scheint doch eher,

 Schleiermacher 2016, Phaidros, 147 (Anm. 29).  Friedrich Schleiermacher, Geschichte der Philosophie, hg.v. Heinrich Ritter, SW III/4,1, Berlin 1839, 104.  Gunter Scholtz, Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt am Main 1995, 273.  Friedrich Schleiermacher, Ausarbeitung zur Dialektik (1814/15 mit späteren Zusätzen), KGA II/10,1, hg.v. Andreas Arndt, Berlin / New York 2002, 73 – 198, hier 118.  Scholtz 1995, 273 (Anm. 36).

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dass diese Herausforderung die Leser zum Mit–Denken anregen und das Wissen als Wissen-im-Werden darstellen sollte.³⁹ Doch lässt sich in dem übersetzten Text die philosophische Arbeit an und mit den Substantiven idea und doxa erahnen? Die Übersetzung vermittelt Schleiermachers Platon-Deutung, welcher zufolge die deutschen Begriffe „Trieb“ und „Gesinnung“ als kontextuelle (und dabei nicht fremd klingende) Entsprechungen der originellen Begriffe fungieren können.Wenn es aber um griechische Worte beziehungsweise Begriffe geht, ist es jedoch so, dass kontextuelle lexikalische Äquivalente ihre transformative Dynamik – und damit auch ihr Sinngefüge – nicht wiederzugeben vermögen.⁴⁰ Es scheint, dass die Übersetzung selbst, als Produkt, eine nicht philologische, sondern vielmehr eine pragmatische Sinnvermittlung realisiert, welche in das weitverstandene Paradigma der rhetorischen Übersetzungstheorie eingepasst werden könnte. Diese Tendenz mag ein weiteres Beispiel illustrieren. „Denn wenn der Anfang aus etwas entstände, so entstände nichts mehr aus dem Anfang“, sagt Sokrates in seiner zweiten Rede, wobei es nicht klar ist, was genau er damit meint.⁴¹ Schleiermacher erklärt dazu in einem Selbstkommentar: „Mit der Uebersetzung des Wortes ἀρχή zu künsteln wäre übrigens für einen Leser, dem das Hellenische nicht immer im Sinne schwebte, gefährlich gewesen.“⁴² Er verwirft deshalb die Übersetzung „Urgrund“, für welche er sich in der ersten handschriftlichen Fassung entschied.⁴³ Diese Sorge um seinen Leser macht klar, dass Schleiermacher pragmatisch vorgeht und eigentlich nicht für „Kenner“ übersetzt, die der griechischen Sprache kundig sind. Deshalb ist der übersetzte Platon-Text autonom und keineswegs nur „eine optimale Lesehilfe“ für diejenigen, welche die Herausforderung des Originals annehmen wollen.⁴⁴ Was bereits die frühesten Platon-Leser faszinierte, war die sprachliche Invention des Philosophen, eine Diktion, welche dem frühen Friedrich Schlegel dithyrambisch

 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, übers. und erl. v. Otto Apelt, Leipzig 1921, 154.  Siehe dazu William C. K. Guthrie: „When we have to rely on single–word English equivalents like ‚justice‘ or ‚virtue‘ without an acquaintance with the various usages of their Greek counterparts in different contexts, we not only lose a great deal of the content of the Greek words but import our own English associations which are often quite foreign to the intention of the Greek.“ (The Greek Philosophers. From Thales to Aristotle, London and New York 2013 [1950], 4.  Platon, Phaidros, 245d (Vgl. Schleiermacher 2016, Phaidros, 200 [Anm. 29]).  Schleiermacher 2016, Phaidros, 201 (Anm. 29).  Schleiermacher 2016, Phaidros, 201, Anmerkung der Herausgeber (Anm. 29). Vgl. den Fremdheitseffekt einer Übersetzung, in der arche mit „Urgrund“ wiedergegeben wird: „Urgrund ist ungeworden. Denn aus dem Urgrund muß notwendig alles Entstehende entstehen, dieser aber nicht aus irgend etwas. Denn wenn der Urgrund aus einem Etwas entstünde, entstünde er nicht aus dem Urgrund. Da er ungeworden ist, muß er notwendig auch unvergänglich sein. Denn wenn der Urgrund verlorenginge, würde weder der aus etwas, noch ein Anderes aus ihm entstehen, da doch aus dem Urgrunde alles entstehen muß.“ (Platon, Phaidros oder Vom Schönen 1957, 14 [Anm. 31]).  So etwa Rainer Kohlmeyer, „‚Das Ohr vernimmts gleich und hasst den hinkenden Boten‘ (Herder). Kritische Anmerkungen zu Schleiermachers Übersetzungstheorie und -praxis“, in: Friedrich Schleiermacher and the Question of Translation, hg.v. Larisa Cercel / Adriana Şerban, Berlin / Boston 2015, 111.

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und sogar musikalisch erschien.⁴⁵ Auch Schleiermacher sah die in den platonischen Dialogen häufigen Wortspiele als wichtiges Merkmal seiner Wortkunst. Wohlgemerkt, in Platons Werken sind Homonymie, Polysemie oder Paronomasie keine sprachlichen Ornamente, sondern vielmehr eine Form poetischer und philosophischer Sinnverdichtung. Literaturwissenschaftler unterstreichen, dass Wortspiele die Aufmerksamkeit des Lesers auf die sprachliche Beschaffenheit der Aussage lenken und damit auf die poetische Funktion der Sprache. Dort, wo diese Funktion überwiegt, wird die Referentialität der Nachricht abgeschwächt und gleichzeitig die Autoreflexivität des Texts stark hervorgehoben, so dass dieser in seiner Selbstbezogenheit autonom erscheint.⁴⁶ So entblößen die Texte ihre Textualität. Diese Erscheinung wirkt sich selbstredend auf die diskursiven Mechanismen der Texte aus, indem sie auf Ironie, Mehrdeutigkeit und Transversalität aufmerksam macht. Das seine Poetizität und Textualität exponierende Original ist zweifelsohne eine Crux für die Übersetzer, die ihre Arbeit im Grenzland des Unübersetzbaren verrichten müssen. Dabei ist die philologische Bedeutung von Platons Wortspielen zu beachten: oft werden nämlich diese sprachlichen Merkmale in der textkritischen Erörterung der Authentizität einzelner Dialoge berücksichtigt, so etwa die gewandten Wortspiele im Hipparchos als eventuelles Argument für die Echtheit dieses Dialogs, der in der Regel als pseudoplatonisch betrachtet wird. Auch Schleiermacher betrachtet zum Beispiel das eigentlich unübersetzbare Wortspiel ἔρωτα / Πτερωτα in den Versen der Homeriden⁴⁷ als „das ächt platonische (…) Spiel“.⁴⁸ In der deutschen Fassung des Phaidros schließt Sokrates seine erste Rede mit den Worten: „Nämlich die vernunftlose jene auf das Bessere bestrebte Gesinnung beherrschende Begierde, zur Lust an der Schönheit geführt, und wiederum von den ihr verwandten Begierden auf die Schönheit der Leiber hingeführt, wenn sie sich kräftig verstärkt und den Sieg errungen hat in der Leitung, erhält von ihrem Gegenstande, dem Leibe, den Namen, und wird Liebe genannt.“⁴⁹ In einer Anmerkung erklärt Schleiermacher die Schwierigkeiten mit dem Original: „In der Ursprache machen ἔρως und ῥώμη, Liebe und Stärke, das Wortspiel, um deswillen das vorige von der mächtigen Verstärkung allein da steht. Da es in demselben Sinne nicht widergegeben, unmöglich aber die Stelle leer gelassen werden konnte, so war wohl das Beste, einen Dichter der unsrigen nachzuahmen. S. Gedichte von A.W. Schlegel, S. 205.“⁵⁰ Der Übersetzer wird hier vor die schwierige Aufgabe gestellt, die etymologischen Wort-

 Friedrich Schlegel, Lyceum-Fragment 74, KFSA 2, hg.v. Ernst Behler, Paderborn u. a., 1967, 156.  Siehe Volker Wiemann, „Art. Funktion, ästhetische/poetische“, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg.v. Ansgar Nünning, Stuttgart / Weimar 32004, 204.  Platon, Phaidros 252c (Vgl. Schleiermacher 2016, Phaidros, 248 [Anm. 29]).  Schleiermacher 2016, Phaidros, 247 (Anm. 29).  Schleiermacher 2016, Phaidros, 151– 153 (Anm. 29).  Schleiermacher 2016, Phaidros, 153 (Anm. 29).

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spiele wiederzugeben, welche auch das Adjektiv ἐρρωμένως („kräftig“) einbeziehen.⁵¹ Diese Aufgabe wird von Platon-Übersetzern sehr unterschiedlich gelöst, wobei viele von ihnen versuchten, den konzeptuellen Sinn der im Original thematisierten etymologischen Verwandtschaft von Stärke und Liebe zu vermitteln, was jedoch nicht selten die Lesbarkeit und Verständlichkeit des Zieltextes etwas beeinträchtigte. Schleiermacher entscheidet sich für eine „Nachahmung“, welche aus dem mit Lauten spielenden Gedicht Deutung von August Wilhelm Schlegel schöpft und schlägt das Konzept „Leib – Liebe“ vor.⁵² Diese Lösung ist, zugegebenermaßen, sehr elegant, doch vermittelt sie kaum fremdes Denken und Sprechen – ganz im Gegenteil lässt sie an die dichterische Rhetorik (und Erotik) der Frühromantiker denken. Ganz anders als zum Beispiel die englische Übersetzung in der Edition von John M. Cooper, wo das Original mit der (nicht zuletzt phonetischen) Kraft der griechischen Substantive rhome und eros in den Zieltext eindringt⁵³, wehrt die deutsche Übertragung die Gewalt des Originals ab. Der Anachronismus, den Schleiermacher zwar als Deuter vermeiden will, aber oft nicht vermeiden kann⁵⁴, erweist sich hier als eine leserfreundliche Strategie, die es erlaubt, die poetische Schönheit des „echten“ Platon zu vermitteln. Es bleibt jedoch fraglich, ob diese Strategie den Leser in die transformative Dynamik der von Platon benutzten griechischen Begrifflichkeit einführt und ihn somit in die Welt der Griechen über-setzt.⁵⁵ Dabei hat Schleiermacher selbst notiert: „Platons Sprachspielerei ist wohl ein ächt dialogisches Ingrediens und müßte würdig nachgeahmt werden, wo nemlich durch die Spielerei der Begriff deutlich gemacht wird.“⁵⁶ In den Anmerkungen zu Phaidros finden wir mehrere Zeugnisse von Misserfolgen der übersetzungsrelevanten philologischen Analyse. Diese sind insofern wichtig, als sie das Bild eines fremden Originals vermitteln, welches aus dem Zieltext nicht zu erahnen ist. Als Beispiel sei hier das von Sokrates geäußerte Sprichwort γλυκὺς ἀγκών [ὦ φαῖδρε] λέληθέ(ν) σε genannt⁵⁷ (wörtlich: „süßer Ellenbogen, erfreuliche Krümmung“⁵⁸). Die Stelle im Original war und ist weiterhin, trotz Hermias‘ Erklärung, für viele Platon-Forscher unverständlich; über „Ursprung und Bedeutung desselben“ sind

 Zur Bedeutung dieses Wortspiels im Phaidros vgl. Tushar Irani, Plato on the Value of Philosophy. The Art of Argument in the Gorgias and Phaedrus, Cambridge 2017, 118 – 119.  Schleiermacher 2016, Phaidros, 153 (Anmerkung der Herausgeber) (Anm. 29).  Plato, Phaedrus, transl. by Alexander Nehamas / Paul Woodruff, in: Plato, Complete Works, ed. by James M. Cooper, Indianapolis 1997, 517.  Vgl. Hans-Georg Gadamer, „Schleiermacher als Platoniker“, in: ders., Kleine Schriften III. Idee und Sprache, Tübingen 1972, 141– 149, hier 148.  Vgl. Martin Heidegger, Was heißt Denken?, Tübingen 31971, 137– 138. Eine wahre Übersetzung lässt uns, so Heidegger, „in den griechischen Sprachbereich“ von Worten und Begriffen „hinübergehen“ (138).  Friedrich Schleiermacher, Gedanken V, KGA I/3, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1988, 281– 340, 294.  Platon, Phaidros 257d (Vgl. Schleiermacher 2016, Phaidros, 276 [Anm. 29]).  Schleiermacher 2016, Phaidros, 277 (Anmerkung der Herausgeber) (Anm. 29).

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sich die Ausleger, klagt Schleiermacher, uneinig.⁵⁹ Da der Sinn dieser Phrase nur schwer festzuhalten ist und aus dem Sinnzusammenhang der Stelle und des Werkes herausfällt, vermuten nicht wenige Kommentatoren, darunter auch Schleiermacher, dass sich in der Aussage Unechtes eingenistet habe. Vielleicht eine Glosse, die später in den Text eingeschoben wurde.⁶⁰ Wenn die Übersetzung einen Sinn vermitteln soll, welcher die Kohärenz des Dialoges stiftet, beeinflusst natürlich solche Unsicherheit die Arbeit des Übersetzers. Er kann entweder das Risiko der Fremdheit, Unklarheit und Inkohärenz eingehen (so zum Beispiel Stolberg und Georgii in ihren verfremdenden Translationen⁶¹), oder sich in der Überzeugung zurückziehen, dass die Vorlage der Übersetzung ein verstandener Text sein soll, welcher als ein authentisches Werk des Autors angesehen werden kann. In der ersten, handschriftlichen Fassung versucht Schleiermacher die Phrase mit einem deutschen Sprichwort wiederzugeben: „Du weißt noch nicht, Phaidros, wo die Glocken hängen […].“⁶² Doch in der ersten und zweiten Auflage verzichtet er auf diese Lösung und hält für „den Sinn des Sprüchwortes“ das Neutrale „Du weißt nur nicht, wie dies zusammenhängt, Phädros […]“.⁶³ Nach einem kurzen Kommentar zu der relevanten Stelle, erklärt Schleiermacher in der zweiten Auflage: „Das Sprüchwort selbst musste aber unübertragen bleiben, weil es wörtlich nicht konnte widergegeben werden, und was sich aus unserem Vorrath an die Stelle sezen ließ, nicht edel genug schien.“⁶⁴ Durch Auslassung und Neutralisierung vermittelt der deutsche Text dem Leser eine sinnvolle Argumentation. Das im Original Fremde, Unklare, und (womöglich) Unechte wird im Paratext thematisiert. Ich möchte nun eine vorläufige Schlussfolgerung formulieren, welche sich auf das Problem des Originals in Schleiermachers Phaidros-Übersetzung bezieht. In einer der Anmerkungen schreibt Schleiermacher, er habe sich das relevante Textfragment „aus mehreren Handschriften bei Bekker […] zusammengelesen“⁶⁵ – das heißt also, dass er  Schleiermacher 2016, Phaidros, 277 (Anm. 29).  Besonders die nachfolgenden Worte: „ὅτι ἀπὸ τοῦ μακροῦ ἀγκῶνος τοῦ κατὰ (τον) Νεῖλον ἐκλήθη“, die als Explikation der idiomatischen Wendung erscheinen können. Durch die „Unmöglichkeit genauer Übertragung“ des Sprichwortes, kann sich Schleiermacher „auch einer bestimmten Entscheidung Überheben“ über die nachfolgenden Worte. „Platonisch wollen sie mir immer noch nicht vorkommen trotz aller Handschriften“, schließt der Übersetzer (Schleiermacher 2016, Phaidros, 279 [Anm. 29]). Dagegen vgl. z. B. Hackforth: „There is no justification in bracketing the words ὅτι… ἐκλήθη with Heindorf and Robin; indeed, γλυκὺς ἀγκών λέληθέ(ν) σε would be intolerably abrupt and obscure by itself“ (Plato’s Phaedrus, übers. v. R. Hackforth, Cambridge 1952, 113).  Vgl. „Du weißt wohl nicht, o Phädros! daß das Sprüchwort süsser Ellebogen von jener grossen Krümmung des Nils seinen Ursprung habe“ bei Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (Platon, Auserlesene Gespräche, Erster Theil, 1796, Zit. n. Schleiermacher 2016, Phaidros, 277 [Anm. 29]) und „Ein Glykys Ankon, o Phaidros!“ bei Georgii (Phaidros oder vom Schönen, in: Platon’s Werke. Erste Gruppe, übers. von L. Georgii, Stuttgart 1853, 138). Beide Übersetzungen wurden mit Anmerkungen versehen.  Schleiermacher 2016, Phaidros, 276 (Anm. 29).  Schleiermacher 2016, Phaidros, 277 (Anm. 29).  Schleiermacher 2016, Phaidros, 277– 279 (Anm. 29).  Schleiermacher 2016, Phaidros, 337 (Anm. 29).

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aus einem unfesten, unsicheren Schriftbestand ein Original „zusammenliest“, welches zugleich den idealen, kohärenten „Urtext“ repräsentieren und sich in den beabsichtigten Zieltext transformieren lassen soll. Als ein Objekt der Philologie darf das Original seine Fremdheit und Unklarheit zeigen, als Übersetzungsvorlage erscheint es in der Regel als ein Informationsangebot für den deutschen Leser. Das fremde Original ist im paratextuellen Bereich anwesend (und wird dort problematisiert), während der Text der Übertragung Autonomie genießt und einen Modellleser entwirft, der kein Spezialist, sondern vielmehr ein Kunstliebhaber ist, dem ein philosophisches (Sprach‐)Kunstwerk vermittelt wird. Deshalb die Sorge des Übersetzers um die künstlerische Einheit des verdeutschten Werkes und dessen dichterische Qualität. Die Tatsache, dass Schleiermachers Übersetzung heute nachgedruckt und digitalisiert wird, jedoch in der Regel ohne die philologischen Paratexte, scheint die Wirksamkeit dieser Strategie zu beweisen. Ich komme jetzt zu dem letzten Beispiel, der wohl berühmtesten Stelle im Phaidros, wo Sokrates seine Kritik der Schrift entwickelt. Diese Stelle verdeutlicht übrigens die palimpsestartige Natur von Platons „Urschrift“⁶⁶, die hier von Alkidamas (Über die Sophisten) vor-geschrieben wurde.⁶⁷ Es mag erstaunen, dass Schleiermacher den für seine exoterische Platon–Deutung nicht unproblematischen Diskurs in den Anmerkungen so gut wie gar nicht kommentiert und darauf verzichtet, seine allgemeine Bemerkungen aus den beiden Einleitungen an den Details zu prüfen. Er geht lediglich auf die das Gespräch über die Schrift einleitenden Worte des Sokrates⁶⁸ ein: „Weißt du wohl, wie du eigentlich Gott wohlgefällig das Reden behandeln und davon sprechen mußt?“⁶⁹ „Das Schreiben, sollte man denken“, korrigiert Schleiermacher, „nicht das Reden, und sich wundern, dass keine Handschrift diesen Uebelstand hebt.“⁷⁰ Die Korrektur scheint sich auf die thematische Kohärenz des Textes zu beziehen. Doch es herrscht hier kein Übelstand: die Reflexion umkreist das Problem der niedergeschriebenen Rede oder, allgemeiner – der Behandlung von Worten, die ein Wissen vermitteln.⁷¹ Aus diesem Thema erwächst das Motiv des richtigen Pflanzens und Säens, damit die Worte „nicht unfruchtbar sind, sondern einen Samen tragen“⁷². Die entscheidende Frage lautet: was bewirkt die Schrift in diesem Zusammenhang? Ist sie wirklich eine Arznei für das Gedächtnis oder vielmehr ein Gift, welches durch trügerische, „fremde Zeichen“ die Vernachlässigung des Gedächtnisses und Vergesslichkeit bewirkt.

 Vgl. Walter Pater, Plato and Platonism. A Series of Lectures, New York / London 1893, 3  Siehe Hackforth 1952, 162 (Anm. 60).  Platon, Phaidros, 274b (Vgl. Schleiermacher 2016, Phaidros, 382 [Anm. 29]).  Schleiermacher 2016, Phaidros, 383 (Anm. 29).  Schleiermacher 2016, Phaidros, 383 (Anm. 29).  Vgl. die Übersetzung von Hackforth: „Now do you know how we may best please God, in practice and in theory, in this matter of words.“ (Hackforth 1952, 156 [Anm. 60]).  Schleiermacher 2016, Phaidros, 399 (Anm. 29).

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Hier kommt der (ambivalente) Schlüsselbegriff des Diskurses auf – pharmakon. Der im Original überlieferte griechische Begriff (φάρμακον)⁷³ umfasst eine Fülle von Bedeutungen – „Droge“, „Gift“, „Heilmittel“, „Trank“, „Farbe“. In dem von Sokrates angeführten ägyptischen Mythos wird die Polysemie von „Gift“ und „Heilmittel“ evoziert. Wie es Jacques Derrida in seiner virtuosen Analyse gezeigt hat, spaltet hier die französische Übersetzung die polysemische Einheit von pharmakon und destruiert damit Platons ambivalente Textur.⁷⁴ Die Wahl einer Entsprechung durch den Übersetzer bedeutet die Neutralisierung des Zitatenspiels, des Anagramms und schließlich auch der Textualität des übersetzten Dialogs. Diese Spaltung und Tilgung der Ambivalenz kann ebenso gut in Schleiermachers Übersetzung beobachtet werden: er entscheidet sich für „Mittel“⁷⁵, in anderen Dialogen dagegen gibt er pharmakon als „Arznei“, „Gift“ und „Trank“ wieder.⁷⁶ Eine solche Neutralisierung ist nicht nur aus übersetzungspragmatischen Gründen eigentlich unvermeidbar, sie ist auch von der Logik des Identitätsdenkens bedingt. Die textuelle Ambivalenz und Ambiguität wird zugunsten eines „widerspruchsfreien identitätslogisch stringenten Denk– und Signifikationsparadigmas“ verdrängt.⁷⁷ Platons pharmakon symbolisiert die Spannung zwischen homogenisierendem Diskurs und ambivalenter Textualität, doch dieses Symbol tritt in Schleiermachers Übersetzung nicht in die Erscheinung. Die Anagrammatik des Originals verliert die Konfrontation mit der Hermeneutik und wird durch die sich auf hermeneutische und pragmatisch-funktionale Grundsätze stützende Übersetzungspraxis aufgehoben. Was verdeutlicht diese symbolische Abwesenheit, welche auch als Synekdoche der in dem Übersetzungstext abwesenden Fremdheit des Originals gelten kann? Dass im Endeffekt der Platonische „Urtext“ und seine Sprache der „Wut der Verstehens“⁷⁸ und des Vermittelns zum Opfer fällt? Nein, es ist eher so, dass die moderne Hermeneutik und die Übersetzungskunst – die Schleiermacher repräsentiert – einer Politik des Originals bedurfte, welche die Fremdheit des Fremden in sicheren Grenzen hielt und damit Ambivalenz, Unbestimmtheit, Mehrdeutigkeit und radikale Alterität zäumte. Es scheint, dass in dieser Hinsicht Zygmunt Baumans Einsichten zu den

 Platon, Phaidros, 274 e (Vgl. Schleiermacher 2016, Phaidros, 384 [Anm. 29]).  Jacques Derrida, „Plato’s Pharmacy“, in: Dissemination, übers. v. Barbara Johnson, London 1981, 61– 171 (bes. 95 – 117) und Jörg Lagemann, Signifikantenpraxis. Eine Einklammerung des Signifikats im Werk von Jacques Derrida, Dissertation Universität Oldenburg 2001, 176.  „Diese Kunst, o König, wird die Aegypter weiser machen und gedächtnißreicher, denn als ein Mittel für den Verstand und das Gedächtniß ist sie erfunden.“ (Schleiermacher 2016, Phaidros, 385 [Anm. 29]).  Lagemann 2001, 168 (Anm. 74). Zurecht behauptet Lagemann, dass die relevanten „Untersuchungen Derridas“ für Schleiermachersche Übersetzung dieselbe „Gültigkeit“ haben. Zwar ist die deutsche Entsprechung („das Mittel“) weniger eindeutig als die französische und englische („remède“ / „remedy“ ), doch konnotiert sie noch stärker die „transparente Rationalität der Wissenschaft“ und „der Technik“. Derrida 1981, 97 (Anm. 74).  Lagemann 2001, 169 (Anm. 74).  Jochen Hörisch, Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik, Frankfurt am Main 1998, 50 – 56.

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Ausschließungsmechanismen des Ambivalenten in der Moderne eine sehr weite Geltung behalten.⁷⁹ Paradoxerweise hat dieses Denken, wie es Derrida gezeigt hat, seine Wurzeln im Platonismus.⁸⁰

 Vgl. Zygmunt Bauman, Modernity and Ambivalence, Cambridge / Malden 1991.  Vgl. Michael Naas, „Earmarks. Derrida’s Reinvention of Philosophical Writing in ‘Plato’s Pharmacy’“, in: Derrida and Antiquity, ed. by M. Leonard, Oxford 2010, 54.

Cornelia Ortlieb / Erlangen

Praktiken der Kritik bei Jacobi und Schleiermacher Friedrich Schleiermachers Schriften verbinden in einzigartiger Dichte philosophisches Denken, die philologische Arbeit am Text und beider Reflexion. Aus der Perspektive der Literaturwissenschaft wie aus der Perspektive der Philosophiegeschichte lässt sich entsprechend dafür argumentieren, Kritik als eine historische Praxis aufzufassen oder vielmehr als ein ganzes Bündel von Praktiken, wie ich im Folgenden an ausgewählten Beispielen zeigen möchte.¹ So stellt etwa Johann Gottlieb Fichtes programmatische Verweigerung der schriftlichen Veröffentlichung seiner Philosophie, der sogenannten Wissenschaftslehre, einen markanten Gegenpol zur nahezu zeitgleichen Arbeit Friedrich Heinrich Jacobis an und in Büchern und Schleiermachers editorischer Reflexion dar, zumal angesichts Schleiermachers genauer Beobachtung des philosophischen Denkens als Vollzug von Sprache und Schrift. Gewissermaßen zwischen Fichte und Schleiermacher lässt sich im Hinblick auf die reflektierte Haltung zur Philosophie als „Schreibart“ Jacobi ansiedeln, dessen Praktiken der Kritik sich nicht auf die berühmt-berüchtigten Streitschriften beschränken, etwa in der Auseinandersetzung mit Mendelssohn, Kant oder Fichte.² Vielmehr ist Jacobi als ausgebildeter Kaufmann und angehender Schriftsteller auch ein unermüdlich Lesender und Schreibender, der sich autodidaktisch ein umfassendes philosophisches Wissen und entsprechende Argumente aneignet, mit besonderem Interesse für neue und neueste Publikationen, deren Erscheinung und Verbreitung er teilweise entscheidend voran-

 Dabei schließe ich nicht nur an die Untersuchungen meiner Habilitationsschrift zu Jacobi an, sondern auch an einen älteren Aufsatz, der Schleiermachers Überlegungen zur Kritik (als Praxis oder Praktik) in den Kontext der zeitgenössischen Debatte um „Urschriften“ und andere „Ursprünge“ stellt, vgl. Cornelia Ortlieb, Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart, München 2010; Die entstellte Urschrift. Friedrich Schleiermacher und die Kritik der Philologie, in: Mythos Ursprung, hg.v. Constanze Braun / Martin Disselkamp, Köln / Weimar 2011, 123 – 138. Seit beiden Veröffentlichungen ist einige Literatur zum Thema erschienen, die ich hier nur punktuell berücksichtigen kann. Dazu gehört vor allem Sarah Schmidt, „Die Kunst der Kritik“, in: Friedrich Schleiermachers Hermeneutik. Interpretationen und Perspektiven, hg.v. Andreas Arndt / Jörg Dierken, Berlin / Boston 2016, S. 101– 117; Daniel Weidner, „Noch einmal: Hermeneutik und Kritik“, DVjS 81,1 (2017), 1, 21– 46, und Martin Ohst (Hg.): Schleiermacher Handbuch, Tübingen 2017.  Der historische Begriff umfasst nach Adelungs Lexikon zwei Bedeutungen; die „übertragene“ ist hier von besonderem Interesse: „1) Die Art und Weise die Schriftzüge zu machen; in welcher Bedeutung es doch nicht üblich ist, weil man dafür das Wort Hand gebraucht. 2) Von der figürlichen Bedeutung des Zeitworts schreiben, die Art und Weise seine geschriebenen Gedanken auszudrucken; zum Unterschiede von der Sprechart, das ist, der Art und Weise, seine Gedanken durch gesprochene Worte, mündlich auszudrucken, obgleich auch diese unter der Schreibart in weiterer Bedeutung oft mit begriffen wird.“ (Johann Christoph Adelung, „Art. Schreibart“, in: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Leipzig 1811, 1650). https://doi.org/10.1515/9783110569520-044

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getrieben hat. Philosophie wird bei Jacobi konsequent und für uns heute noch nachvollziehbar als Buch-Wissenschaft betrieben, so dass bei ihm entsprechend das gedruckte Buch den Ausgangspunkt für das Schreiben als Annotieren, Kommentieren, Ausschreiben oder Exzerpieren, aber auch Umschreiben und Fortschreiben, bildet und offensichtlich an bestimmte Formate von Texten und bestimmte Praktiken ihrer Aneignung gebunden ist. Seine „Schreibart“ ist mithin mehr als eine Kunst oder Technik, sondern ein Ensemble von Praktiken, Instrumentarien, Materialien und Medien, die zudem in den Schreibszenen der Texte Jacobis und in ihren immanenten selbstreflexiven Passagen dargestellt und vorgeführt werden.³ Jacobi und Schleiermacher nebeneinander zu stellen, heißt also für meine Überlegungen nicht, ihre realhistorische Beziehung zu rekonstruieren oder die jeweilige philosophische Lehre in der Auseinandersetzung beider mit der (nach‐)kantischen Philosophie aus den Schriften herauszupräparieren, um inhaltliche Gemeinsamkeiten, Einflüsse oder Abhängigkeiten aufzuzeigen.⁴ Vielmehr geht es darum, diesen Zeitraum um 1800, in dem sich die Philologie als akademische Disziplin gerade erst konstituiert, in den Blick zu nehmen und an einigen Beispielen zu zeigen, wie beide Autoren zu einer solchen Formierung von Praktiken und ihrer Reflexion je unterschiedlich beitragen. In dieser Zusammenschau lässt sich schließlich auch deutlicher konturieren, was das Jahrhundertwort „Kritik“ implizieren kann, mit bedenkenswerten Konsequenzen für die Auffassung moderner Geisteswissenschaften und ihre zeitlose Aktualität.

1 Am Rand des Buches, nicht der Vernunft: Jacobis Kant-Kritik Das Philosophieren um 1800 ist geprägt durch zwei eigentlich gegenläufige Tendenzen: Einerseits wird im neuen Zeitalter des Massendrucks plötzlich unausgesetzt geschrieben und publiziert, andererseits ist die sogenannte „Klassische Deutsche Phi Das ist die Grundthese meines Buchs Ortlieb 2010 (Anm. 1).Vgl. zur Konzeption des Schreibens in der Schreib(prozess)forschung Rüdiger Campe, „Die Schreibszene. Schreiben“, in: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, hg.v. Hans Ulrich Gumbrecht / K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a.M. 1991, 759 – 772; Martin Stingelin, „Schreiben. Einleitung“, in: „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, hg.v. Martin Stingelin, München 2004, 7– 21.  Die für das erstgenannte Interesse zentrale – und womöglich einzige – Quelle ist der Brief Schleiermachers an Jacobi von 1818, der allerdings nicht zu dem angestrebten philosophischen Austausch geführt hat. Vgl. Martin Cordes, „Der Brief Schleiermachers an Jacobi“, ZThK 68 (1971), 195 – 212. Andreas Arndt betont, dass Schleiermacher mit keinem anderen zeitgenössischen Philosophen einen solchen Briefwechsel geführt hat, „einzig mit Friedrich Heinrich Jacobi, den er besonders verehrte, versuchte Schleiermacher kurz vor dessen Tod in ein inhaltliches Gespräch zu kommen“ (Andreas Arndt, „Der Briefwechsel“, in: Schleiermacher Handbuch, hg.v. Martin Ohst, Tübingen 2017, 6 – 20, hier 10).

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losophie“, die in diesen zahllosen Publikationen diskutiert wird, eine, die dezidiert auf das reine Denken und einen gewissermaßen transmedialen Idealismus abstellt. Programmatisch findet sich so schon im Vorwort zu Kants Kritik der reinen Vernunft – mithin in einem Buch – die Bemerkung, seine Philosophie wolle „nicht eine Kritik der Bücher und Systeme liefern“, sondern „die des Vernunftvermögens überhaupt“,⁵ und es ist mithin bereits vor jedem gedanklichen Nachvollzug eine mehrfache Pointe, wenn Jacobi seine Auseinandersetzung mit dieser Philosophie mit Rotstift und Tinte in eben diesem Buch führt, das er dabei in mehrfacher Hinsicht überschreibt. Als Kritik kann man seine Arbeit daher in einem dreifachen Sinn verstehen: Jacobi unterzieht in typischen Haltungen des Schriftstellers und Philosophen erstens als zunächst begeisterter Leser Kants dessen Schriften einer nahezu professionellen philologischen Textkritik, überprüft sie also auf einheitliche Formulierungen, konsistente Textgestalt und korrekte Sätze.⁶ Zweitens versteht er im Sinne Kants das philosophische Denken als Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung, schließt somit in seinen eigenen philosophischen Arbeiten unmittelbar an dessen Fragen und Argumente an, um so gewissermaßen kleine eigene Kritiken zu schreiben, etwa den philosophischen Dialog Idealismus und Realismus. Drittens begleitet Jacobi aber auch als einer der ersten deutschsprachigen Leser das epochale Ereignis der Philosophie Kants im Sinn eines heutigen Verständnisses von Literaturkritik, zu dessen Entwicklung Jacobi zusammen mit Christoph Martin Wieland durch die Gründung des Deutschen Merkur als einer literarischen Zeitschrift besonders für Rezensionen und, noch entscheidender, von Rezensionen der Rezensionen, einen wichtigen Beitrag geleistet hat. In diesen so genannten „Revisionen“ sollten die kritischen Urteile der andernorts erschienenen Rezensionen nochmals aufgenommen und ihrerseits kritisch diskutiert werden; für diese neue Gattung war in der Zeitschrift eine eigene Abteilung vorgesehen. Alle drei Modi der Kritik sind offensichtlich auf Texte in Druckformaten bezogen und ich beschränke mich nun auf zwei Schreibformen Jacobis, die dezidiert auf Drucktexte angewiesen sind, mit deren typographischen Eigenarten arbeiten und sie auch reflektieren. Das sind Fußnote und Zitat, besonders augenfällig in der Argumentationsweise der sogenannten Beilagen, ihrerseits natürlich eng miteinander verschränkt. Als Beilage bezeichnet Jacobi dabei regelmäßig solche Texte, die er nach Art eines Anhangs seinen publizierten Schriften hinzufügt; das können Schriften anderer Autoren oder eigene sein, häufig solche mit betont unabgeschlossenem

 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft 1, hg.v.Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1977, A XII. Der Satz wurde in die 2. Auflage, die ich im Folgenden zitieren werde, nicht übernommen; Jacobi hat aber mehrfach darauf hingewiesen, dass zum Verständnis der Philosophie Kants ein Blick in die erste Auflage unabdingbar sei (vgl. Ortlieb 2010, 358 – 370 [Anm. 1]).  Der Katalog der erhaltenen oder zweifellos nachweisbaren Bücher seiner Bibliothek listet fast dreißig Einzeltitel und Teilausgaben auf; Jacobi hat sich zudem als Mäzen und Organisator von Subskriptionsausgaben besonders für die Verbreitung von Kants Werken engagiert, vgl. Ortlieb 2010, 348 (Anm. 1).

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Charakter wie Briefe oder gedruckte Exzerpte. Berühmt geworden ist vor allem ein solcher Text mit dem gattungsanzeigenden Titel Beylage. Ueber den transzendentalen Idealismus, der als erster die prononcierte Kritik an Kants Konzeption des „Ding an sich“ formuliert, die dann quasi zum geflügelten Wort werden wird.⁷ Dabei sind Anmerkungen bei Jacobi zuerst handschriftliche Glossen und Marginalien in den Büchern seiner überaus umfangreichen philosophischen Bibliothek, zugleich wohl regelmäßig erste Entwürfe des philosophischen Schreibens, ergänzt um Zettel mit Stellenangaben und Notizen, die in die Bücher eingelegt wurden, und handschriftliche Register auf den leeren Seiten jeweils hinten im Buch.⁸ Jacobi macht sich dabei eine Eigenart des zeitgenössischen Buchhandels zunutze, der statt standardisiert gebundener Bücher noch bedruckte Papierstapel anbietet, die man sich je nach Bedarf einbinden oder auch mit weißen Seiten durchschießen lassen kann. So ist etwa sein Exemplar von Fichtes, Die Bestimmung des Gelehrten, das man im Oktavformat hätte binden lassen können, mit einem überaus breiten Rand fast auf Quartformat vergrößert. Die Differenz zwischen dem, was sich solchermaßen im freien Raum der bedruckten Seiten, auf Zetteln oder in Notizbüchern notieren lässt, zu dem, was mündliche Rede vermag, hat Sybille Krämer herausgestellt. Ihr zufolge notiert Schrift, was keine Entsprechung in mündlicher Rede hat: „Leerstellen zwischen Worten, Interpunktionen, Überschriften, Inhaltverzeichnisse, Zitate, Fußnoten […], Listen, Tabellen verkörpern ein durch Notationen eröffnetes Darstellungspotential,

 „Kant, so lässt sich Jacobis Kritik zusammenfassen, mache die Voraussetzung eines realen Dinges an sich, indem er die Sinnlichkeit als eigenen Stamm der Erkenntnis einführe, nehme aber diese Voraussetzung in der Durchführung der Kritik zurück, indem er die objektive Realität der Bestimmungen der Sinnlichkeit zu etwas bloß Subjektivem mache. Man könne also ohne die Voraussetzung eines realen Dinges an sich nicht in das System hineinkommen, mit ihr aber nicht darin bleiben.“ (Andreas Arndt, „Schleiermacher in der nachkantischen Philosophie“, Schleiermacher Handbuch, hg.v. Martin Ohst, Tübingen 2017, 32– 48, hier 35). Als „geflügeltes Wort“ kann die Paraphrase des letzten Satzes gelten, die eine (rhetorische) Pointe der Beylage benennt; deren komplexe Anlage, Rahmung und Rückbindung an andere Schriften, die sie zugleich kommentiert, ergänzt und korrigiert, erschwert allerdings eine solche klare Positionsbestimmung, vgl. das Kapitel VI.I: Konzepte und Figuren des Anfangs von Philosophie und Philologie, in: Ortlieb 2010, 235 – 274 (Anm. 1).  Üblicherweise werden solche Praktiken freilich als Lektüretechniken und nicht als Schreibformen verstanden; die Grapheme sind dann „Zeugen, die über die tatsächliche Benutzung von Büchern Auskunft geben“, und „die Untersuchung paratextueller Elemente in historischen und modernen Autorenbibliotheken“ soll „die Frage beantworten helfen, […] wie sie [die Autoren] mit dem eigenen Werk umgegangen sind, wie sie in intertextuellen Zusammenhängen Bücher anderer Autoren rezipiert haben.“ (Claudine Moulin, „Am Rande der Blätter. Gebrauchsspuren, Glossen und Annotationen in Handschriften und Büchern aus kulturhistorischer Perspektive“, Quarto 30/31 (2010), 19 – 26, hier 21.23. Auch die einzige Monographie zu Marginalien (am Seitenrand oder in Kopf- und Fußzeilen) untersucht „reader‘s notes“ in der englischsprachigen Literatur: Heather Joanna Jackson, Marginalia. Readers writing in books, Harrisonburg 2001, 6.

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das allein dem räumlich organisierten Schriftbild, nicht aber der zeitlichen Sequenz mündlicher Rede zukommt.“⁹ Tatsächlich legen Jacobis Annotationen typischerweise eine zweite graphische Struktur über die erste Schicht des Drucktexts, den sie somit irreversibel zu einem neuen, dritten Text verändern, auch schon, wenn diese Zusätze nur aus wenigen Anstreichungen oder vereinzelten Randglossen bestehen. Gerade diese ahmen wiederum ein probates Mittel der Texterschließung nach, das ältere Ausgaben philosophischer Texte noch standardmäßig als Drucktext angeboten hatten, etwa wenn Jacobi an den Rand der Seite XIX von Kants Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft genau dort das Wort „Natur“ schreibt, wo es auch links im gedruckten Text steht.¹⁰ Wie auch Unterstreichungen und Randnotizen, die eigentlich noch den Vorgaben des fremden Texts folgen, indem sie seine Argumentation möglichst adäquat herausarbeiten, sich in einen Kommentar verwandeln können, der sich von diesem Text zunehmend entfernen kann, lässt ein weiteres Beispiel aus der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft erkennen: Ein stilisiert zusammengeschriebenes „NB“ für nota bene zeigt, wie auch bei anderen schreibenden Lesern, Wichtiges an, ebenso wird man die Arbeit mit verschiedenen Stiften und Farben in diesem Sinn lesen können, somit einer Unterstreichung in roter Tinte auch mehr Gewicht geben wollen als der mit Bleistift.¹¹ Eine Bleistiftnotiz am linken Rand der Seite ist hier aber zugleich Lesehilfe und Schreibbeginn: „Das Wissen muss aufgehoben werden um dem Glauben Platz zu machen s. S. XXI“ wiederholt einerseits nach Art einer gedruckten Glosse den rot unterstrichenen Satz im Drucktext: „Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“, gibt ihm im Rückverweis andererseits aber auch einen interessanten neuen Kontext. Denn wenn man zur Seite XXI zurückblättert, wie Jacobi es offensichtlich auch beim Lesen und Schreiben immer wieder getan hat, so dass die Anstreichungen und Notizen immer auch dieses Wiederlesen vorbereiten und steuern, findet man auch dort schon die Formulierung vom „leeren Platz“, den die Vernunft verschafft, und wiederum den Bleistifthinweis am Rand, dass man auf Seite 30 vorblättern soll.¹² Jacobis Anstreichungen suggerieren somit, dass Kant schon an dieser früheren Stelle an die beschriebene Leerstelle das Wort „Glauben“ hätte setzen sollen, und sie machen durch das System der Verweise die zweite Stelle über Glauben und Wissen zu einer Parallelstelle der ersten, in der weder vom Glauben noch vom Wissen explizit die Rede ist, wohl aber zwei Mal vom „Platz“, der gemacht ist oder gemacht werden muss, so dass man dieser freihändigen Bearbeitung doch nicht die philolo-

 Sybille Krämer, „Mündlichkeit/Schriftlichkeit“, in: Grundbegriffe der Medientheorie, hg.v. Alexander Roesler / Bernd Stiegler, Paderborn 2005, 192– 199, hier 194.  Immanuel Kant, Critik der reinen Vernunft, Zweyte hin und wieder verbesserte Auflage, Riga 1787, XIX. Jacobis Exemplar des Buches trägt in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin die Signatur Libri impr. cum notis ms Oct. 16; im Folgenden zitiere ich, wenn nicht anders angegeben, diese Ausgabe.  Kant 1787, XXX (Anm. 10).  Kant 1787, XXI (Anm. 10).

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gische Treue absprechen wollen wird. Etwas überpointiert könnte man auch sagen, dass Jacobis Bearbeitung des „leeren Platzes“ bei Kant auf eine Leerstelle in dessen Argumentation hinweist, die der Kommentator füllt, indem er eine Bewegung des Textes herausarbeitet, die diesem, etwas paradox, zugleich eigen und nicht eigen ist. Aus der Perspektive der Philosophiegeschichte werden Beispiele wie dieses typischerweise als Missverständnis der Argumentation Kants und seiner Intentionen klassifiziert, hier etwa mit dem Hinweis, dass an der bearbeiteten Stelle bei Kant nicht „das Verstandeswissen um die Erfahrung und ihre Gegenstände“ gemeint sei, sondern das „Scheinwissen um die metaphysischen Themen Gott, Seele und Welt“.¹³ Mit Glauben und Wissen sind aber auch, wie zufällig, die beiden zentralen Begriffe markiert, die den Titel von Hegels wirkmächtiger Polemik bilden, mit einem interessanten Dreiklang im Untertitel: Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektitvität in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische und Fichtesche. ¹⁴ Geradezu klassisch würde demnach aus Kants und Jacobis Philosophie nach Art von These und Antithese die Lehre Fichtes entstehen, aber in Hegels Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie bleibt dann nur noch die „Fichtesche Philosophie“ als „Vollendung der Kantischen Philosophie“ mit dem folgenreichen Verdikt: „Außer diesen und Schelling sind keine Philosophien“.¹⁵ Der Vorwurf der „Subjektivität“ trifft auch noch in dieser späteren Zusammenfassung seiner Kritikpunkte gleichermaßen Jacobi und Kant.¹⁶ Aus dem einstmaligen Dreibund rückt Jacobi dann an den Rand, während Fichte in der Philosophiegeschichtsschreibung zunehmend als Opponent Jacobis wahrgenommen wird, den dieser wiederum durch seine öffentliche Kritik und seine Beiträge zur fatalen Atheismus-Debatte entscheidend getroffen haben soll.¹⁷ Die

 Günter Zöller: „‚Das Element aller Gewißheit‘. Jacobi, Kant und Fichte über den Glauben“, in: Fichte und Jacobi, hg.v. Klaus Hammacher, Amsterdam u. a. 1998, 21– 41, hier 33, vgl. Ortlieb 2010, 370 (Anm. 1).  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische und Fichtesche, Werke, Bd. 2, hg.v. Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1986, 287– 433.  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Werke, Bd. 20, hg.v. Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1986, 387.  „Beide bleiben Philosophen der Subjektitvität.“ (Hegel 1986, Geschichte, 330 [Anm. 15]).  Dieses Bild wird in neueren Arbeiten korrigiert, die beider Positionen eher aneinander annähern oder Fichtes Rückgriff auf Begriffe oder Argumente Jacobis herausstellen, vgl. die Beiträge in: Klaus Hammacher (Hg.), Fichte und Jaobi. Tagung der Internationalen J.G. Fichte-Gesellschaft (25.&26. 10. 1996) in München, Amsterdam / Atlanta 1998; Thomas Reich, „Fichtes Grundlegung der Wissenschaftslehre im Ausgang von Jacobi“, in: Philosophie als Denkwerkzeug. Zur Aktualität transzendentalphilosophischer Argumentation, hg.v. Martin Götze u. a., Würzburg 1998, 241– 265; Hansjürgen Verweyen, „In der Falle zwischen Jacobi und Hegel. Fichtes Bestimmung des Menschen (1800)“, FZPhTh 48 (2001), 381– 400. Der neueste, sehr ausgewogen argumentierende Beitrag zum Thema rückt jedoch wieder einmal die historische und systematische Rekonstruktion und Prüfung von Argumenten in den Vordergrund, ohne deren mediale und materiale Grundlage eigens zu berücksichtigen: Stefan Schick, „Die Vollendung des Deutschen Idealismus in Jacobis Sendschreiben an Fichte?“, DZPh 61 (2013), 1, 21– 41.

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vorübergehende Nobilitierung Jacobis zum Dritten zwischen Kant und Fichte widerspricht so auch einer der großen Erzählungen der Philosophiegeschichte, die häufig mehr oder weniger explizit agonal argumentiert, also nach Gewinnern und Verlierern im Kampf um das bessere Argument sucht, und einen polemischen und natürlich auch zu Recht deshalb umstrittenen Autor wie Jacobi stereotyp beschuldigt, die Argumente der von ihm angegangenen Gegner, prominent Moses Mendelssohn und Immanuel Kant, gar nicht verstanden zu haben. Etwa am Beispiel von Jacobis Dialog David Hume über den Glauben lässt sich dagegen zeigen, wie die Jahrhundertdebatte um Sicherheit und Gewissheit des Erkennens, der Kant die entscheidende Wende gibt, bei Jacobi mit den neuen Mitteln der Typographie als Streit um Bücher beschrieben und vorgeführt wird.

2 Aneignung und Abgrenzung: Jacobis Fichte-Marginalien Philosophisches Schreiben als Kritik hat bei Jacobi somit die Struktur eines Kommentars, der dann seinen ersten Ort am Rand des Buches verlässt und sich verselbstständigt. Dabei ist schon das Annotieren gedruckter Texte in gewisser Weise ein Überschreiben, wie das Beispiel von Johann Gottlieb Fichtes Sittenlehre bereits vor jeder Lektüre beim ersten Blick zeigt.¹⁸ Der seit seiner Jenaer Zeit berühmt-berüchtigte Philosoph besteht eigentlich, auch polemisch, darauf, dass man seine Lehre nicht dem Buchstaben nach verstehen könne. Schon der große Kant habe in seinen „Schriften […] nicht seinen Buchstaben, sondern seinen Geist mittheilen wollen“,¹⁹ seine – Fichtes – Darstellung sei noch „höchst unvollkommen und mangelhaft“, auch, so Fichte: „weil ich eine feste Terminologie – das bequemste Mittel für Buchstäbler jedes System seines Geistes zu berauben, und es in ein troknes Geripp zu verwandeln – so viel wie möglich zu vermeiden suchte“.²⁰ An anderer Stelle heißt es, die Wissenschaftslehre sei „von der Art, daß sie durch den blossen Buchstaben gar nicht, sondern daß sie lediglich durch den Geist sich mittheilen läßt“.²¹ Dagegen sieht man

 Johann Gottlieb Fichte, Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre, Jena / Leipzig 1798 (Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Libri impr. cum notis ms oct.), 42. Vgl. zum Folgenden auch – teils im wörtlichen Zitat bzw. in Paraphrase – Cornelia Ortlieb, „Papierfunde, Handschriften, Randglossen. Schreibformen des Philosophierens um 1800“, IASL 40, 2 (2015), 281– 305.  Johann Gottlieb Fichte, Versuch einer Critik aller Offenbarung, Königsberg 1792, 31.  Johann Gottlieb Fichte, Grundriss des Eigenthühmlichen der Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische Vermögen. Als Handschrift für seine Zuhörer von Johann Gottlieb Fichte, Jena / Leipzig 1795, VII.  Johann Gottlieb Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I/4, hg.v. Reinhard Lauth, Stuttgart / Bad Cannstatt 1962, 415.

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auf den Seiten von Jacobis Buchausgabe der Sittenlehre bereits an gedruckten Buchstaben und ihrer handschriftlichen Übermalung, wie der Text mit einer zweiten graphischen Schicht, palimpsestartig überschrieben, gewissermaßen nun sein Skelett außen trägt, denn bei den mit Bleistift und schwarzer Tinte vorgenommenen Markierungen geht es vor allem darum, den Aufbau der Argumentation und ihre Lücken graphisch sichtbar zu machen. Auch für die Notizen, die Jacobi parallel angefertigt hat, lassen sich im Nachlass Beispiele finden; bislang unveröffentlicht sind etwa die vielen Notizhefte, in denen sich weiträumige Exzerpte eben jener philosophischen Lehren finden, deren Verfasser gerade nicht auf Buchstabentreue und Buchformate festgelegt werden wollten – allein zu Fichte etwa fünfhundert Seiten Exzerpte und Notizen. Dabei geht es beiden, Jacobi wie Fichte, zunächst darum, im Anschluss an Kants Philosophie, eine unmittelbare Gewissheit als Synthese von epistemischem Glauben und Wissen im Übergang zur Praxis und das heißt hier zum Bewusstsein selbsttätigen und freien Handelns zu konzipieren. Diese Übereinstimmung und wechselseitige Aneignung lässt sich auch Jacobis Anmerkungen zu Fichtes Sittenlehre ablesen, die vor allem einer solchen Verknüpfung von Freiheit, Selbsttätigkeit, Bewusstsein und innerem Trieb gelten, was sich hier nicht im Detail verfolgen lässt. So hat Jacobi auf insgesamt dreizehn Zetteln im Anhang seines Exemplars in Exzerpten und Kommentaren offensichtlich versucht, die Struktur dieser Verbindung bei Fichte herauszuarbeiten, beziehungsweise Stichworte zum leichteren Wiederfinden von Stellen notiert, wie beispielsweise im ersten Eintrag „S. 83 s. S. 63 der categorische Imperativ ist begreiflich gemacht worden: Vortheile dieser Operation“ mit dem offensichtlich nachträglich eingefügten Verweis „siehe S. 63“ mit roter Tinte, der selbst schon von einer solchen mehrfachen, zumindest blätternden Lektüre zeugt.²² Der nächste Eintrag rekonstruiert ein zentrales Argument Fichtes: „S. 59 Ich bin wirklich frey ist der erste Glaubensartikel… das Ich des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische Vermögen. ist nicht aus dem Nicht-Ich, das Leben [n]icht aus dem Tode, sondern umgekehrt, das Nicht-Ich aus dem Ich abzuleiten: u[nd] darum muß von dem letztern alle Philosophie ausgehen“ – usw.²³ Auch auf der Rückseite dieses Zettels sieht man bereits von weitem, dass die Handschrift noch etliche Hinweise gibt, darunter ein System von einzelnen oder mehreren Buchstaben zur Abkürzung, wie ein zusammengezogenes NB für Notabene, wohlbemerkt, das die offenbar besonders wichtigen Seiten 30 und 34 begleitet, aber auch mehrere energisch gesetzte Punkte und Striche. Auch der Übergang von affirmativer Lektüre zu eigenem kritischen Kommentar ist unschwer zu erkennen, beginnend bei einem geschwungenen S in der siebtletzten Zeile: „S. 42 und 43. das Ich ist nicht Objekt nicht Subjekt“, gefolgt von den rot unterstrichenen Sätzen: „Es ist  Fichte 1798, [Anhang], Blatt 2 r (Anm. 18). Vgl. zu den Implikationen dieser seit der Einführung des Kodex-Formats des Buchs allerorten gängigen Lektüretechnik Jürgen Gunia / Iris Herrmann (Hg.), Literatur als Blätterwerk. Perspektiven nichtlinearer Lektüre, St. Ingbert 2002.  Fichte 1798, Blatt 2 r (Anm. 18).

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Identität; es kann sich selbst an [u]nd für sich darum nicht begreifen; es ist = X. Der Ausdruck Subjekt-Objekt bedeutet eine leere Stelle des Denkens – S. 43 – dies verstehe ich nicht genug.“²⁴ Die Unterstreichung in roter Tinte hat wiederum offensichtlich einen anderen Zug und Charakter als die schwarzen Trennstriche der Niederschrift; sie scheint später hinzugekommen zu sein und reagiert somit womöglich schon auf das Defizit, das der letzte Zusatz festgehalten hat, denn „dies verstehe ich nicht genug“ lässt sich ja auch als schriftlich fixierter Auftrag zur Re-Lektüre wieder-lesen.²⁵ Damit sei noch kurz der Dialog betrachtet, der in der Werkausgabe von 1815 den Titel Idealismus und Realismus. Ein Gespräch trägt. Er hatte bei seiner ersten Veröffentlichung 1787 als David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus noch wie in der Literaturkritik üblich einen prominenten Autor und dessen Leitbegriff an den Anfang gesetzt, somit als Obertitel und Literaturangabe in einem, wobei es ja nach einer berühmten Formel Kants eben dieser Hume ist, von dem Kant in den Prolegomena sagt, er habe ihn aus seinem „dogmatischen Schlummer geweckt“.²⁶ Insofern ist es auch eine womöglich unbeabsichtigte erste Pointe, dass der mit Ich bezeichnete Gesprächspartner des folgenden Dialogs sich einem ungenannten Gast „im Schlafrock“ präsentiert.²⁷ Mit den Antworten und anschließenden Fragen des ersten Sprechers, in dem man bald unschwer Jacobi erkennen kann, weil er gleich über sein Buch über Spinoza sprechen wird, ist dann das Programm des folgenden Gesprächs formuliert: Das Buch enthält „Humes Essays“, ob der Andere sie nicht wiedergelesen habe? „Seit vielen Jahren nicht?“ Das ist dem Ich unverständlich, denn: „Sie haben sich um die Kantische Philosophie bekümmert, und nach dem, was in der Vorrede zu den Prolegomenen steht, griffen Sie nicht auf der Stelle nach Ihrem Hume, um ihn von neuem durchzulesen? Das ist unverzeihlich!“²⁸ Vermutlich endet das verstehende Nachvollziehen nicht nur für heutige Leserinnen und Leserinnen spätestens auf dieser zweiten Seite des gedruckten Dialogs, denn der Aufforderung des Textes folgend, müsste man ja nun selbst Hume lesen, Kant lesen, wieder Hume lesen – und manche/r würde sicher dem mit „Er“ bezeichneten zweiten Sprecher zustimmen, der fragt: „Und gehört denn zu dem Begriff eines jeden philosophischen Systems so schlechterdings seine ganze ausführliche Geschichte? Da wäre ja kein Ende.“²⁹ Aber „Ich“ kontert: „Kein Anfang, wollen Sie sagen“ und entsprechend wird sich der vermeintlich klassische

 Fichte 1798, Blatt 5 v (Anm. 18).  Das Basler Forschungsprojekt zur Genealogie des Schreibens hat diesem Wiederlesen als Teil des Schreibvorgangs einen eigenen Band gewidmet, vgl. Davide Giuriato u. a. (Hg.): „Schreiben heißt: sich selber lesen.“ Schreibszenen als Selbstlektüren, München 2008.  Immanuel Kant [1783], Prolegomena zu einer künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, AA IV, 253 – 384, 260.  Friedrich Heinrich Jacobi, Idealismus und Realismus. Ein Gespräch, Werke, Bd. II, hg.v. Friedrich Roth / Friedrich Köppen, Leipzig 1815, 125 – 288, hier 128.  Jacobi 1815, 129 (Anm. 27).  Jacobi 1815, 129 (Anm. 27).

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philosophische Dialog, seit Platon ja als Gespräch unter Ungleichen konzipiert, zugleich wiederholen, indem der eine den anderen explizit unterweisen wird. Doch anders als in den Gesprächen Sokrates′ mit wechselnden jungen Männern geht es hier nicht darum, bestimmte Gedanken nach Art einer Hebamme aus jemandem herauszuholen, sondern gemeinsam eine eigentlich nicht überschaubare Zahl von Büchern zu durchmustern. Als Leserinnen und Leser sind wir an dieser Bücherschau direkt beteiligt; schon beim blätternden Lesen sieht man, dass vom Beginn an Fußnoten mit Zitaten in den jeweiligen Originalsprachen den Haupttext begleiten, gefolgt von reduziert wirkenden, aber eindeutig verifizierbaren bibliographischen Angaben.³⁰ Dabei soll man, wie auf einer der nächsten Seite gefordert, sogar schon nach wenigen Stichworten oben den Blick nach unten richten und in einer anderen Sprache, hier Latein, und zwei anderen Schriften nachlesen, was, paradox, oben als „unberühmte Quelle“ eingeführt wurde.³¹ Wiederum eine Seite später findet sich die selbe implizite Aufforderung, nun mit dem Wechsel der Blickrichtung an den unteren Rand auch zum Französischen des Originalzitats.³² Und noch eine Seite später werden Zitate und Seitenangaben in den Haupttext wechseln, wo sie zeittypisch, aber dennoch auffällig, mit Anführungszeichen am Anfang und Ende jeder Zeile unübersehbar als solche markiert sind.³³ Nochmals zwei Seiten weiter findet sich der erste Verweis des Textes auf seinen Anhang in einer Fußnote, ausgerechnet bei der wichtigen Frage, was es nach Kant heißen kann, ein „Realist“ zu sein, nachdem „Er“ zuvor das zentrale Thema der „unmittelbare[n] Gewißheit“ angesprochen hat.³⁴ Und wiederum acht Seiten später beginnt der Fußnotentext, im Druck den Platz des Haupttexts einzunehmen, hier in drei Sprachen und zwei Schriften.³⁵ Bereits diese kleine Überschau vom Beginn des Textes an sollte für den Nachweis genügen, dass mit den zitierten Seiten nicht vereinzelte Beispiele ausgewählt sind, sondern das Buch tatsächlich in dieser aufwendigen Weise gemacht ist. Als Lesende erfahren wir somit auf Schritt und Tritt am eigenen Leib, dass die Philosophie eine Wissenschaft ist, die auf das Medium des gedruckten Buchs in einem Maß angewiesen ist, wie es gerade um 1800 im Zeichen eines neuen „Idealismus“ eigentlich nicht zu erwarten ist und entsprechend andernorts auch nicht mit der Radikalität verhandelt und performativ umgesetzt ist, die man hier, Druckseite für Druckseite, vor Augen hat. Der Witz der in jeder Hinsicht ausgestellten exzessiven Zitierweise Jacobis besteht so genau darin, dass die vermeintlich vorgegebene Rangordnung von Text und Kommentar verkehrt und schließlich aufgehoben ist. Was der Dialog Idealismus und Realismus in seiner angedeuteten Rahmensituation und rudimentären Handlung von

     

Vgl. etwa Jacobi 1815, 132– 133. (Anm. 27). Jacobi 1815, 134 (Anm. 27). Jacobi 1815, 136 – 137 (Anm. 27). Jacobi 1815, 138 (Anm. 27). Jacobi 1815, 142 (Anm. 27). Jacobi 1815, 150 (Anm. 27).

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Beginn an deutlich macht, setzt er so auch performativ ins Werk: Im philosophischen Gespräch verständigen sich nicht Geister mit Geistern, sondern das vermeintliche Selbstdenken folgt dem gedruckten Buchstaben in seiner je besonderen Gestalt. Die Debatte um das zentrale Thema der Philosophie um 1800, die Frage nach Gewissheit und Sicherheit in erkenntnistheoretischer und moralphilosophischer Perspektive, wird bei Jacobi so in eine reflektierte Form der philologischen Vergewisserung überführt.

3 Textkritik und Philosophie bei Schleiermacher Die Textkritik als Methode und Wissenschaft ist, nach den berühmten Vorarbeiten der Klassischen Philologien früherer Zeiten, eine Erfindung der Romantik, an der, teils gemeinsam mit Friedrich Schlegel, Schleiermacher maßgeblich beteiligt ist. Was mit dem vieldeutigen Begriff der Kritik hier impliziert ist, hat der Germanist Heinz Schlaffer in einem Aufsatz zur Philologie als Lebensform so zusammengefasst: „Mit dem Mißtrauen gegen das Vorliegende und Überlieferte, gegen die früheren Abschreiber und Bearbeiter des Textes beginnt die Arbeit des Philologen, mit Recht heißt sie ‚Kritik‘“.³⁶ Denn, so Schlaffer: „Das Gleichmaß textkritischer Tätigkeit reduziert alle Formen und Inhalte der Dichtung auf Texte, die geprüft, verglichen, bearbeitet und herausgegeben werden müssen.“³⁷ Mit einer interessanten Verschiebung fasst der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht die Tätigkeiten der Philologie in dem Dreiklang „Sammeln, Edieren und Kommentieren“ zusammen, genauer: „Die Identifizierung von Fragmenten, die Herausgabe von Texten und das Verfassen historischer Kommentare sind die drei philologischen Grundtätigkeiten.“³⁸ Deren Einsatz folgt ihm zufolge zu allen Zeiten einem bestimmten Bedürfnis: Philologische Arbeit beginnt dort, wo etwas überliefert wurde, das vermeintlich bedeutsam ist und haltbar gemacht werden soll, in einem Akt der „historischen Textpflege“, der vom Glauben an die Überlegenheit einer vorhergehenden Kultur ausgeht.³⁹ Die Philologie arbeitet also in einem eigentümlichen Verhältnis zur Zeit: Sie greift auf etwas Vergangenes zu, um es für die Zukunft zu bewahren, vom Standpunkt einer Gegenwart aus, die für weniger bedeutsam gehalten wird als das, was ihr im Rücken liegt. Und dies ist zumindest eine zutreffende Beschreibung für die Urszene philologischer Arbeit in der Bibliothek von Alexandria, also für die Erfindung einer säkularisierte Form der Textkritik, deren

 Heinz Schlaffer, Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt a.M. 1990, 227.  Schlaffer 1990, 215 (Anm. 36).  Hans Ulrich Gumbrecht, Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im Umgang mit wissenschaftlichen Texten, Frankfurt a.M. 2003, 3.  Gumbrecht 2003, 5 (Anm. 38).

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Gegenstand nicht die heiligen Schriften sind, sondern die profanen, die Masse des Geschriebenen.⁴⁰ Wie Jacobi, so war auch Schleiermacher ein professioneller Leser, der Praktiken der Texterschließung in Schreibformen transformiert hat, darüber hinaus kann ihm „philologische Potenz“, sogar „Brillanz und Akribie“⁴¹ attestiert werden. Interessanterweise hat Schleiermacher offenbar das Lesen und das Schreiben als gleichermaßen mühselig empfunden, wie eine Reihe von Äußerungen über Jahrzehnte hinweg belegt.⁴² Zu diesen Schriften gehören bekanntlich auch solche, die explizit das Thema der Kritik verhandeln, und Schleiermachers Kritik der Philologie enthält geradezu deren Bedingung der Möglichkeit. Sie findet sich allerdings in Texten, die ihrerseits erst durch den Einsatz philologischer Kritik lesbar werden; ihre Grundlage sind in der Regel die Notizen für Vorlesungen an der Universität und Vorträge in der Akademie, bei denen oft Wichtiges unausgeführt bleibt, weil der Vortragende offenbar das, was ihm besonders bedeutsam erschien, im Gedächtnis präsent hatte. Gerade für die späten Vorlesungen zur Kritik ist diese Annahme, so Sarah Schmidt, „ebenso beeindruckend wie glaubhaft“, unter anderem, weil er „auf eine über Jahrzehnte ausgeübte altphilologische und neutestamentarische Editionspraxis zurückblicken kann“.⁴³ Die spätere Rekonstruktion dieses Teils der Lehre verlangt dagegen eine Zusammenschau unterschiedlicher Texte und Bruchstücke, mithin ein „komparatives Verfahren“, wie Schleiermacher eine solche Vorgehensweise nennt, „indem wir immer wieder ein schon verstandenes Verwandtes dem noch nicht Verstandenen nahebringen und so das Nichtverstehen in immer engere Grenzen einschließen“.⁴⁴ Trotz der prominenten Position, die das Wort Verstehen und seine Ableitungen an dieser Stelle haben, ist hiermit auch ein Verfahren der Textkritik bestimmt, denn: „Alle grammatischen Schwierigkeiten werden immer nur durch ein komparatives Verfahren überwunden“.⁴⁵ Die Anwendung eines solchen komparativen Verfahrens für diese Texte selbst kann zeigen, dass Schleiermacher in immer neuen Ansätzen eine Typologie philolo-

 Mit dieser Einschränkung soll daran erinnert werden, dass der geregelte Umgang mit Schriften so alt ist wie die heiligen Schriften selbst, zumal dort, wo diese Texte die Grundlage der Religion bilden, also mindestens in den drei größten Weltreligionen, dem Judentum, dem Christentum und dem Islam. Philologie meint in diesem Kontext das Ensemble von Techniken zur Erstellung und Deutung von Editionen weltlicher Texte.  Schmidt 2016, 117 (Anm. 1).  Vgl. grundlegend zu Schleiermachers Lehrtätigkeit und seiner Konzeption von Schrift und Schreiben: Dieter Burdorf, „Schleiermachers Schreibweisen“, in: Dialogische Wissenschaft. Perspektiven der Philosophie Schleiermachers, hg.v. Dieter Burdorf / Reinold Schmücker, Paderborn / München u. a., 1998, 19 – 52.  Schmidt 2016, 105 (Anm. 1).  Friedrich Schleiermacher, „Ueber den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch“, in: ders., Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, hg. u. eingel. v. Manfred Frank, Frankfurt a.M. 1977, 309 – 346, hier 324.  Schleiermacher 1977, Ueber den Begriff, 324 (Anm. 44).

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gischer Aufgaben und Regeln formuliert hat, mit einer deutlichen Wendung gegen den Idealismus nach Kant. In seiner Vorlesung über Kritik von 1832 heißt es so etwa: „Da die philologische Kritik kein Begriff a priori ist, sondern mit dem Geschäft selber erst sich gebildet und erweitert hat, so kann man auch nur auf diesem Wege zu seiner richtigen Erklärung gelangen.“⁴⁶ Und nochmals, wenige Seiten später: „Es kommt hier nur auf das Praktische an.“⁴⁷ Mit diesem „Praktischen“ ist auch eine philologische Arbeit an Texten gemeint, die nicht unbedingt schriftlich vorliegen; vielmehr geht Schleiermacher davon aus, dass jede sprachliche Äußerung, also jedes Wort, das im Gespräch gesagt wird und jedes geschriebene Wort, einer solchen Kritik unterzogen werden muss, und zwar immer dann, wenn sich ein bestimmter Verdacht einstellt. Diesen notwendigen Einsatz der Kritik beschreibt er so einfach wie abschließend: „Wir können […] sagen, dasjenige, wodurch alle Operation der Kritik bedingt ist, ist die Entstehung des Verdachts, daß etwas ist, was nicht sein soll.“⁴⁸ Und das erste, typische Beispiel eines solchen Verdachts, das Schleiermacher anführt ist „das Gespräch, wenn jemand sich verspricht“, zum Beispiel indem er Namen oder Zahlen verwechselt.⁴⁹ Der Ansatz beim gewöhnlichsten, alltäglichsten, hat eine Parallele in Schleiermachers Abhandlung Über den Begriff der Hermeneutik. Auch dort erinnert er nachdrücklich immer wieder daran, dass das Verstehen nicht erst gefordert ist, wenn fremde Rede ins Spiel kommt, sondern zuhause beginnt, im einfachsten Gespräch, „auf dem Markt und in den Straßen […], auch in manchen Gesellschaftskreisen, wo […] die Rede regelmäßig wie ein Ball abgefangen und wiedergegeben wird“.⁵⁰Auch in diesen Mustersituationen gelingenden Sprechens, bei denen keine Störung eintritt, sondern der (Rede‐)Ball ruhig hin und her fliegt, ist demnach eine Auslegungskunst am Werk, die dann in den Schulen und Universitäten nur noch weiter ausgebildet werden muss. In diesem Sinn einer Auslegungskunst, die im täglichen Leben immer schon erfolgreich am Werk ist, ist zwar die Hermeneutik die erste „Tätigkeit“ und „die kritische Tätigkeit die beständige Begleiterin der hermeneutischen“, denn „die kritische entstehe erst mit den Schwierigkeiten, durch welche die hermeneutische sich gehemmt fühlt“.⁵¹ Aber das erste wiederum der kritischen Tätigkeit ist doch der „Verdacht, daß etwas ist, was nicht sein soll“, mithin eine Form der Kritik, und dieser Verdacht soll gleichermaßen unser aller ständiger Begleiter sein. Mit ruhiger Selbstverständlichkeit entwirft Schleiermacher nämlich ein überaus radikales Konzept einer Welt des Sprechens und Schreibens, die voll ist von Fehlern, Irrtümer und Versehen

 Friedrich Schleiermacher, „Kritik“, in: ders., Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, hg. u. eingel. v. Manfred Frank, Frankfurt a.M. 1977, 239 – 306, hier 247.  Schleiermacher 1977, Kritik, 252 (Anm. 46).  Schleiermacher 1977, Kritik, 255 (Anm. 46).  Schleiermacher 1977, Kritik, 252 (Anm. 46).  Schleiermacher 1977, Ueber den Begriff, 309 (Anm. 44).  Schleiermacher 1977, Ueber den Begriff, 353 (Anm. 44).

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oder zumindest von dem, was er mit einem schillernden Wort Differenz nennt. Dagegen ist Karl Lachmanns Form der Kritik, zur selben Zeit im selben Kosmos Unter den Linden in Berlin entwickelt, von seinem Schüler und Biograph Martin Hertz im Vokabular von Kampf und Krieg beschrieben worden: „Im Bewußtsein der Sicherheit trat sie auf, diese Kritik; das Haupt emportragend, festen Schrittes, gepanzert und gewaffnet schlägt sie unebenbürtige Gegner rechts und links zu Boden, unverrückt ihr Ziel im Auge haltend […].“⁵² In Schleiermachers Vorlesung über Kritik heißt es aber, im besten Sinn friedlich: „Wir nehmen die Aufgabe in der oben angegebenen vollen Allgemeinheit, wonach sie z. B. auch im täglichen Gespräch vorkommen kann. Die allgemeine Voraussetzung des Gesprächs ist die Identität zwischen Gedanke und Wort. Darauf beruht alles Verständnis.“⁵³ Das Gespräch als Vollzug ist dann wiederum ein Doppeltes, es hat ein „Moment der Freiheit“ und es hat „das rein Mechanische“.⁵⁴ Beide können verantwortlich sein für das Versprechen, für den Fall also, bei dem zwischen Gedanke und Wort nicht mehr Identität herrscht, sondern Differenz. Und ebenso im „analogen Fall des Verschreibens“, dessen gewöhnlichster Fall wiederum der des Fehlers beim bloßen Abschreiben ist. Schleiermacher entwirft eine regelrechte Typologie der Abschreibefehler, die ja wiederum gleichermaßen mechanische Ursachen haben können wie Momente der Freiheit aufweisen können, wenn ein Abschreiber zum Beispiel entscheidet, das an den Rand Gekritzelte nicht mit in seinen Text aufzunehmen. Ohne dass man diese Fallunterscheidungen im Einzelnen nachvollziehen muss,⁵⁵ bleibt doch der Eindruck bestehen, dass schon beim einfachen Abschreiben von Texten der Fehler der Normalfall ist, nicht die Abweichung. Mehr noch, die teils obsessive Hoffnung der zeitgenössischen Philologie, dass man zu einem Ur-Text zurückkehren könne, der dann frei von den entstellenden Fehlern der Abschreiber wäre, durchkreuzt Schleiermacher mit der wiederum radikalen Bemerkung: „Auch für eine Urschrift gilt dieselbe Aufgabe und dieselbe Art sie zu lösen wie für die Abschriften, denn auch jene kann durch Schreibfehler aller Art entstellt sein.“⁵⁶ Auch diese Urschrift wäre somit natürlich ein Gegenstand der Kritik und der Hermeneutik – und müsste es auch sein. Mit einer typisch rhetorischen Frage, die behauptet, was sie zu fragen vorgibt, schreibt Schleiermacher in seinem Kommentar zu Wolf und Ast zudem über das Gespräch unter Gebildeten: „Wer könnte mit ausgezeichnet geistreichen Menschen umgehn, ohne daß er ebenso bemüht wäre, zwischen den Worten zu hören, wie wir in geistvollen und gedrängten Schriften zwischen den Zeilen lesen […]?“⁵⁷ Wir hören also

 Martin Hertz, Karl Lachmann. Eine Biographie, Berlin 1851, 144– 145.  Schleiermacher 1977, Kritik, 252 (Anm. 46).  Schleiermacher 1977, Kritik, 252 (Anm. 46).  Vgl. dazu die weiterführenden Hinweise in Schmidt 2016, 106 (Anm. 1).  Friedrich Schleiermacher, „Über Begriff und Einteilung der philologischen Kritik“, in: ders., Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, hg. u. eingel. v. Manfred Frank, Frankfurt a.M. 1977, 347– 360, hier 352.  Schleiermacher 1977, Ueber den Begriff, 315 – 316 (Anm. 44).

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etwas zwischen den Worten, wir lesen zwischen den Zeilen, und ebenso, so Schleiermacher weiter, verhält es sich doch im „Gebiete der Kritik“, wo wir so oft damit beschäftigt sind, „die verborgene Zugabe gleichsam verlorner Andeutungen auszumitteln“.⁵⁸ Der positiv gewendete Verdacht, „daß etwas ist, was nicht sein soll“, ist hier somit die Zuversicht, dass etwas ist, was sein soll, auch wenn wir es nicht sehen können. Philologische Kritik ist dann nicht mehr endlose Arbeit am Verlust, sondern das Versprechen unendlichen Gewinns.

4 Schluss: Der endlose Faden der Kritik Entsprechend folgerichtig ist es, wenn Schleiermacher in seinen Notizen zur Geschichte der Philosophie über Spinoza schreibt, dessen Texte aber erklärtermaßen nach Jacobis kleinem Buch – den Briefen über Spinoza zitiert – und entsprechend nicht nur Spinoza Punkt für Punkt kommentiert, sondern in diesem Kommentar zugleich eine Kritik der Kantischen Philosophie formuliert – und zudem noch unmissverständlich darauf hinweist, dass schon Jacobi eine solche interessegeleitete Auswahl von Stellen bietet. So lauten die ersten beiden Sätze der Schrift Kurze Darstellung des spinozistischen Systems: „Diese Lehre hat offenbar zwei Theile, einen polemischen und einen thetischen. Ich will zwar nicht glauben, daß Spinoza seinem System den polemischen vorangeschikkt, sondern daß dies nur Jacobi gethan, der überall nach der Genesis der Systeme sucht; allein so viel ist doch gewiß, subjectiv ist der polemische zuerst da gewesen, denn das ist der Gang eines jeden Systems.“⁵⁹ Glauben und Gewissheit sind wiederum die zentralen Begriffe der Kommentare Jacobis, Kritik ist somit immer schon Kritik der Kritik oder Revision, wie Jacobi und Wieland die Rezensionen zweiten Grades nennen, mithin Teil eines potentiell unendlichen Schreibprozesses, dem auch das gedruckte Buch immer zugleich Ende und Neuanfang ist. So hat auch Schleiermacher, wie vor ihm Jacobi, Fichtes Sittenlehre kommentiert, indem er interessanterweise die textile Metaphorik seines Vorgängers aufgreift und, wie dieser, polemisch gegen die „Machart“ der Wissenschaftslehre wendet. Jacobi hat in verschiedenen Kontexten mit unterschiedlichen Akzentuierungen Fichtes Philosophie als „Strickstrumpf“ beschrieben, vielleicht zum ersten Mal in einem Brief von 1797, in dem er die Hin- und Herbewegung des einen Fadens mit Fichtes „reinem Ich“ gleichsetzt, der sich noch die „Strickdräte [imaginiert], an welchen er sich aufhält und im Moment des Aufhaltens ein Nicht-Ich setzt“.⁶⁰ Noch plastischer wird die Stoßrichtung des Vergleichs, wenn Jacobi fortfährt: „In dem Strumpfe sind nun Streifen,  Schleiermacher 1977, Ueber den Begriff, 317 (Anm. 44).  Friedrich Schleiermacher, „Kurze Darstellung des spinozistischen Systems“, in: Geschichte der Philosophie. Aus Schleiermacher′s Nachlaß, hg.v. Heinrich Ritter, Berlin 1839, 283 – 303, hier 285.  „Friedrich Heinrich Jacobi an Christian Wilhelm Dohm, 13.12.1797“, in: J. G. Fichte im Gespräch. Berichte der Zeitgenossen, Bd. I, hg.v. Erich Fuchs, Stuttgart / Bad Cannstatt 1978, 472.

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Blumen, Sterne, was Du willst, zu sehen und wirklich in ihm; aber Du wirst doch gewiß nicht so albern seyn und glauben, das alles wäre aus den Dräten in den Strumpf gefloßen? Offenbar sind ja alle diese Dinge – nicht einmal Modificationen – sondern bloße Handlungen des Fadens; es ist nichts da, gar nichts, als der Faden und er kann wieder Faden werden.“⁶¹ Diesen metaphorischen Faden in Jacobis Kommentar nimmt Schleiermachers Kritik auf, in einem indirekten Zitat, das zugleich dessen Implikationen ausbuchstabiert und überbietet: „Und dieses Gewebe, von dem nur die Hauptfäden an der eben geendigten Beleuchtung haben sichtbar gemacht werden können, wird sonder Zweifel jedem, der es weiter verfolgt, so lose als verworren erscheinen, nicht ungleich dem, welches die Kinder mit scheinbarer Künstlichkeit um die Finger befestigen, und welches sich dann wieder mit einem Zuge lösen läßt, weil eigentlich nichts befestiget war.“⁶² Einmal mehr demonstriert Schleiermacher so beiläufig wie unübertrefflich, wie im philologischen und philosophischen Kommentar zugleich auch das große Versprechen der verborgenen Zugaben mitzulesen ist, die in jedem gesprochenen Wort und jeder gedruckten Zeile noch enthalten sein mögen. Wie schon bei Jacobi angelegt, werden bei ihm Kritik und Kommentar zu Praktiken, die Schlegels Jahrhundertwort von der „progressiven Universalpoesie“ eine materiale Grundlage und buchstäbliche Anwendung geben.

 Jacobi 1978, 472 (Anm. 60). Vgl. zu den verschiedenen Fassungen des Vergleichs oder Gleichnisses auch Yves Radrizzani, „Jacobis Auseinandersetzung mit Fichte“, in: Fichte und Jaobi. Tagung der Internationalen J.G. Fichte-Gesellschaft (25.&26. 10. 1996) in München, hg.v. Klaus Hammacher, Amsterdam / Atlanta 1998, 43 – 62, hier 51.  Friedrich Schleiermacher, Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, Berlin 1803, 40 – 41.

Hermann Patsch / München

Vom Pseudo-Paulus über den Sammler Lukas zum johanneischen Erlöser Zur Philologie und theologischen Exegese bei Schleiermacher Wie kommt man einem Autor auf die Spur? Warum schreibt er, wie er schreibt, und für wen? Gibt es einen inneren oder äußeren Anlass? Was ist seine Grundaussage und was will er erreichen? Diese Fragen entstehen grundsätzlich bei allen Texten, noch verschärft bei Autoren, deren Biographica man nicht kennt und unter Umständen erst aus den Textüberlieferungen gewinnen muss, die man verstehen will. Was heißt schließlich – um eine berühmte Formulierung zu zitieren, die Schleiermacher nicht erfunden hat – einen Autor besser zu verstehen als sich dieser selbst verstehen konnte? Schleiermacher hat diese Fragen über die Jahrzehnte als Universitätslehrer in seinen Vorlesungen über Hermeneutik bedacht und sich dabei jeweils ein ganzes Semester Zeit genommen, weil sie nicht einfach mit einigen Formeln zu beantworten waren. Dass er dabei eine allgemeine Texthermeneutik entwickelt hat, in der die spezielle Hermeneutik des Neuen Testaments nur ein einzelnes, freilich wichtiges Element darstellt, ist bekannt, auch dass er durch das alte Problem einer hermeneutica sacra zu seiner Fragestellung veranlasst worden war. Als Freund Friedrich Schlegels, der die Frage nach dem Verhältnis von Philologie und Philosophie insgesamt aufgeworfen hatte, konnte er nicht bei den Spezialfragen seiner Fakultätsdisziplin stehen bleiben.¹ Er hat sich den Texten des Plato, den Fragmenten des Herakleitos und den Scholien des Aristoteles nicht anders nähern können als den ihm als Universitätslehrer und Prediger aufgegebenen Texten der Heiligen Schrift. Das war das Erbe der Aufklärung. Damit stand er nicht allein. Aber durch die klare Anwendung seiner Grundüberzeugung zur Auslegung (vor allem) antiker Texte kam er zu Ergebnissen, die ihn nicht nur zu einem der größten Philologen der neueren Zeit machten – so nannte ihn Friedrich August Wolf in seinen Vorlesungen schon in Halle², dafür hielten ihn alle seine phi-

 Vgl. meine früheren Arbeiten: Hermann Patsch, „Friedrich Schlegels ‚Philosophie der Philologie’ und Schleiermachers frühe Entwürfe zur Hermeneutik. Zur Frühgeschichte der romantischen Hermeneutik“, ZThK 63 (1966), 434– 472 sowie „Hermeneutica sacra in zweiter Potenz? Schleiermachers exegetische Beispiele“, in: Friedrich Schleiermachers Hermeneutik. Interpretationen und Perspektiven, hg.v. Andreas Arndt / Jörg Dierken. Berlin / Boston 2016, 163 – 176.  Vgl. Ludmilla Assing (Hg.), Briefe von der Universität in die Heimath. Aus dem Nachlaß Varnhagen’s von Ense, Leipzig 1874, 176 (Brief von Adolph Müller an seine Schwester mit Bezug auf die PlatonÜbersetzung, Halle, 25. Februar 1805). Es gibt auch private äußerst negative Äußerungen Wolfs zu dieser Übersetzung (vgl. Hermann Patsch, Alle Menschen sind Künstler. Friedrich Schleiermachers poetische Versuche, Berlin/ New York 1986, 69), aber für die Untersuchung des „Herakleitos der dunkle, von Ephesos, dargestellt aus den Trümmern seines Werkes und den Zeugnissen der Alten“ im von Wolf herausgegebenen Museum der Alterthums-Wissenschaft, verfasst 1807 noch in Halle, gedruckt 1808 in Berlin (KGA I/6, hg.v. Dirk Schmid, Berlin / New York 1998, 103 – 241), muss es doch eine Abmachung https://doi.org/10.1515/9783110569520-045

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lologischen Freunde und Schüler wie Ludwig Heindorf, Georg Ludwig Spalding, August Boeckh, Immanuel Bekker –, sondern auch zu einem führenden, sein Fach befruchtenden Neutestamentler. Er ist mit allen seinen exegetischen Schriften in die Exegese-Geschichte eingegangen – bei dem Aufsatz über den Christus-Hymnus in Kolosser 1,15 – 20 bis in die Textgestaltung bei Nestle-Aland. (Das gilt ganz unabhängig davon, dass keine einzige seiner Thesen heute mehr vertreten wird.) Bekanntlich war er auch der erste, der Vorlesungen über das „Leben Jesu“ hielt.³ Und so kann es sinnvoll sein, seine eigenen exegetischen Werke im Lichte seiner Theorie zu betrachten, um ihm auf die Spur zu kommen. Schleiermacher hat in seinen spätesten Notizen zur Hermeneutik-Vorlesung – in den Randbemerkungen von 1832/33 zum Psychologischen Teil – den Begriff „Keimentschluss“ entwickelt, der ihm helfen sollte, die „Einheit des Werkes als Thatsache des Autors“ zu finden.⁴ Diese aus der Naturbetrachtung genommene evolutionäre Vorstellung einer Entwicklung des vollkommenen Ganzen aus der Entfaltung des Keimes, in dem schon alles enthalten ist, das nur noch „herausgewickelt“ werden müsse, mag man mit Goethes „Metamorphose der Pflanzen“ vergleichen (die natürlich als ein „lebendige[s] Gleichnis“ für den Menschen zu sehen ist)⁵. Schleiermacher hat hier ganz zeitgenössisch eine Analogie gesehen. In diesem „Entschluss“ liegt für ihn psychologisch die Einheit und eigentliche Richtung des Werkes begründet. Diesem Keimentschluss ist von Anfang an technisch der „Kompositionsentschluss“ zur objektiven („genetischen“) Realisierung hinzuzudenken, beides als „Meditation“ zusammengenommen.⁶ Mögen auch stets während der Ausführung noch „Nebengedanken“ hinzukommen, so ist das Ganze doch als fortwährende Einwirkung des Gesamtlebens des Autors zu denken. Dabei unterscheidet Schleiermacher die äußeren und inneren Umstände, die den Autor zu seinem Entschluss haben kommen lassen. Ist der äußere Umstand berufsbedingt, so verstehe sich das Problem von selbst, dann ist das Werk von außen angestoßen.Wichtiger ist ihm die Frage nach dem inneren Grund, voller gegenseitigem Respekt gegeben haben. Zu Wolfs Hermeneutik siehe meine Darstellung: „Friedrich August Wolf und Friedrich Ast: Die Hermeneutik als Appendix der Philologie“, in: Klassiker der Hermeneutik, hg.v. Ulrich Nassen, Paderborn u. a. 1982, 76 – 107.  Vgl. meine Darstellung „Schleiermachers Berliner Exegetik“ in: Schleiermacher Handbuch, hg.v. Martin Ohst, Tübingen 2017, 327– 340. Siehe auch Christine Helmer, „Schleiermacher’s Exegetical Theology and the New Testament“, in: Cambridge Companion to Schleiermacher, ed. by Jacqueline Mariña, Cambridge 2005, 229 – 248.  Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, KGA II/4, hg.v. Wolfgang Virmond, Berlin / Boston 2012, 171– 172.Vom „Keim seiner ganzen Weisheit“ spricht Schleiermacher schon in seinem Herakleitos (KGA I/6, hg.v. Dirk Schmid, Berlin / New York 1998, 101– 241, hier 240).  Goethes Elegie „Die Metamorphose der Pflanzen“ (Goethes Werke, Bd. 1, hg.v. Erich Trunz, Hamburg 1948, 199 – 201), erschienen in Schillers Musen-Almanach für das Jahr 1799, wird Schleiermacher als Zeitgenosse der Romantiker gelesen haben, ob auch die Wiederaufnahme in der Schrift „Zur Morphologie I“ (Goethes Werke, Bd. XIII, hg.v. Erich Trunz, 107– 109, dort „als das lebendige Gleichnis“ für die „schöne vollkommene Neigung“ zu Christiane Vulpius deskribiert) aus dem Jahr 1817 – demselben Jahr wie die Lukas-Schrift – muss man nicht annehmen.  Schleiermacher 2012, 170 (Anm. 4).

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d. h. was dem Autor das Werk bedeutet, was ihm wichtig daran ist. „Der Keimentschluß kann im Verfasser selbst einen dreifachen Werth haben, [1.] Werk (maximum wenn ein das ganze Leben ausfüllendes), [2.] Gelegenheitsstück (minimum wenn es mit keinem Theil seines Berufs in Zusammenhang steht sondern rein zufällig ist.), [3.] Studium als auch gewöhnlich von Gelegenheit ausgehende Uebung auf die Werke.“⁷ Die exegetischen Studien, die Schleiermacher in Ausübung seines Berufes verfasste, müssen diesem dritten „Studium“ zugerechnet werden. Zugleich sind sie Teile seines Lebenswerkes, dessen inneren Grund sie bezeugen. Das geschieht unübersehbar in seinen Predigten über die Texte, die er als Wissenschaftler in seinen Vorlesungen als Neutestamentler auszulegen hatte. „Gelegenheitstücke“ mögen die Weihnachtsfeier und die Streitschriften der Berliner Zeit sein, deren äußere Anlässe sich erschließen lassen, die aber gleichfalls niemals ohne inneren Grund verfasst wurden. Ergänzend betrachtet werden muss das, was Schleiermacher in seinem Manuskript zur Hermeneutik von 1819 die „Idee des Werkes“ nennt.⁸ Diese erwächst dem Hermeneuten aus dem der Ausführung zu Grunde liegenden Willen, der nur aus dem Stoff und dem Wirkungskreise zusammen zu verstehen ist. „Weiß man […] für wen der Gegenstand soll bearbeitet werden, und was die Bearbeitung in ihnen bewirken soll: so ist dadurch zugleich die Ausführung bedingt, und man weiß alles was man nöthig hat.“⁹ Das allerdings weiß man nicht von Anfang an, sondern das muss bei antiken Werken aus diesen selbst erschlossen werden durch – wie Schleiermacher sagt – die divinatorische und comparative Methode in Wechselwirkung miteinander, die das Geschäft des Verstehens zu einem unendlichen machen.¹⁰ Schaut die Suche nach dem Keimentschluss auf den Anfang des Autors, so scheint die Formulierung der Idee des Werkes sich erst aus der Gesamtbetrachtung zu ergeben, vielleicht erst vom Schluss her zu erschließen zu sein. Auf jeden Fall muss von dem Interpreten eines Werkes geleistet werden, sowohl den „Keimentschluss“, den zum Schreiben des Werkes notwendigen „Willen“, herauszufinden als auch den Gesamtsinn in seiner Wirkungsabsicht zu beschreiben. Wie hat Schleiermacher über seine theoretischen Vorlesungen zur Hermeneutik hinaus, die die Werk-Beispiele vielfach nur andeuten und kaum ausführen, in seinen exegetischen Schriften seine Auslegungsmethode angewendet? In welcher Weise hat er seine eminenten philologischen und theologischen Kenntnisse in seiner neutestamentliche Exegese zum Tragen gebracht? Für seine Vorlesungen wissen wir das nicht, solange die Notizhefte und die Nachschriften nicht veröffentlicht sind. Aber er hat selbst exegetische Monographien verfasst und er hat auf dem Grund seines hermeneutischen Verfahrens gepredigt. Was lässt sich hier erkennen?

 Schleiermacher 2012, 170 – 171 (Anm. 4). Die Zahlen sind von mir hinzugesetzt.  Schleiermacher 2012, 158 (Anm. 4).  Schleiermacher 2012, 158 (Anm. 4).  Schleiermacher 2012, 157– 158 (Anm. 4).

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Diese Untersuchung soll im Folgenden geschehen, indem sein Werk über den 1. Timotheus-Brief, seine Monografie über das Lukas-Evangelium und die seinen Predigten über das Johannes-Evangelium zugrundliegende historische Hypothese mit den eingangs gestellten Fragen konfrontiert werden. Es soll sozusagen Schleiermachers Theorie auf ihn selbst angewandt werden.

1 Über den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos (1807) Der Anlass dieser Monographie¹¹ lässt sich biographisch leicht erkennen, der „Keimentschluss“ nur vermutungsweise. Dieses Werk erwuchs Schleiermacher aus seinen exegetischen Vorlesungen an der Universität Halle. Er, der als Neutestamentler in keiner Weise wissenschaftlich ausgewiesen war, hatte in seinem dritten Semester, dem Wintersemester 1805/06, den Mut gehabt, publice vor einer erheblichen Anzahl von Zuhörern eine Vorlesung über den Galaterbrief des Paulus zu halten, die einen so guten Erfolg auch für sein eigenes Verständnis des Paulus als Autor hatte, dass sie ihm Anlass wurde zu einem durchgehenden „Cursus interpretationis librorum Novi Testamenti“ über mehrere Semester hinweg. So folgten im Sommersemester 1806 die großen Briefe des Paulus, mit dem selbstbewussten Ergebnis: „Den Apostel Paulus hoffe ich nun bald so gut zu verstehen als den Plato selbst.“¹² Dieser Satz bringt ein entscheidend wichtiges Indiz für seine Arbeitsweise. Bei der Platon-Übersetzung waren ihm, überkommen aus den frühromantischen Anfängen mit Friedrich Schlegel, die Fragen nach Authentizität und historischer Einreihung geläufig geworden. Das erforderte die Anwendung der historisch-philologischen Methoden der Texterklärung der historisch-grammatischen Schule, wie sie durch Christian Gottlob Heyne in Göttingen und Friedrich August Wolf in Halle üblich geworden waren und wie sie Schleiermacher souverän benutzen wird. Sie erforderte aber auch die hermeneutische Suche nach der Individualität des Autors, die durch eine auf grammatische Strukturen fixierte Editions-Philologie allein nicht zu erreichen war, sondern durch die Wechselwirkung von grammatischer und psychologischer Inter-

 Vgl. Friedrich Schleiermacher [1807], Über den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos, KGA I/5, hg.v. Hermann Patsch, Berlin / New York 1995, 157– 242, dazu die Einleitung LXXXVIII– CXXIII. Ich beziehe mich auf das dort erarbeitete Material, bei den Briefzitaten gebe ich die seither erschienene Briefausgabe der KGA wieder.Vgl. auch meine Darstellung „‚…mit Interesse die eigentliche Theologie wieder hervorsuchen‘. Schleiermachers theologische Schriften der Hallenser Zeit“, in: Friedrich Schleiermacher in Halle 1804 – 1807, hg.v. Andreas Arndt, Berlin/ Boston 2013, 31– 54, hier 52– 54. Siehe schließlich auch Helmut Merkel, „Über den 1. Timotheusbrief“, in: Schleiermacher Handbuch, hg.v. Martin Ohst, Tübingen 2017, 174– 178, der das „kritische Sendschreiben“ eine „Pionierleistung der historisch-kritischen Exegese“ nennt (178).  Friedrich Schleiermacher, An Joachim Christian Gaß (Ende Juni/Anfang Juli 1806), KGA V/9, hg.v. Andreas Arndt / Simon Gerber, Berlin / Boston 2011, 58.

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pretation. Die Frage nach der Persönlichkeit des Autors war fraglich geworden, seit Wolf in seinen Prolegomena ad Homerum (1795) die seit der Antike bewunderte Dichtergestalt des Homer in einzelne Gestalten einer ganzen homerischen Schule aufgeteilt hatte. Das war, nicht zuletzt durch seinen Freund Schlegel, auch für einen Teil der Werke Platons behauptet worden. Jedenfalls war die jeweils durch lange Tradition geläufige Autorschaft plötzlich als begründungsnötig erklärt worden. Der Hinweis auf die Tradition als solche genügte nicht mehr. Das musste letztlich auch für die biblischen Schriften gelten. Wenn Schleiermacher den Paulus der Hauptschriften als Person so verstehen wollte wie Platon, dann musste er Kriterien suchen, die durch die bloße Namengebung der christlichen Antike noch nicht gegeben waren. Und dann konnte die Entscheidung wie bei Platon so fallen, dass es pseudonyme Werke geben konnte. Dass freilich war angesichts der Kraft der Tradition und der theologischen Brisanz eine mutige Folgerung. Schleiermacher fand im 1. Timotheus-Brief sichtlich den Paulus nicht, den er aus dem Galaterbrief, den Korintherbriefen und dem Römerbrief erschlossen hatte. Das war die entscheidende Erkenntnis, die ihm bei der Vorbereitung der für das Wintersemester 1806/7 angekündigten Vorlesung über die kleinen Briefe des Paulus und den Hebräer-Brief gekommen war. Als ihm das klar wurde, muss er den Entschluss gefasst haben, diese gewonnene Überzeugung nach der Aufhebung der Universität Halle im Oktober 1806 nicht mehr seinen Zuhörern, sondern der nicht mehr nur akademischen Öffentlichkeit im Druck vorzuführen. Das war nun freilich nicht etwa die bisher fehlende lateinisch geschriebene Dissertation, die ihn als Professor hätte ausweisen sollen, sondern ein sich über 239 Seiten hinziehendes „kritisches Sendschreiben“ in deutscher Sprache an einen unbekannten Consistorialassessor und Feldprediger, das durch den Druck ein öffentlicher Rundbrief werden sollte. Aber für Laien war das Buch wegen der Unzahl von griechischen Zitaten trotzdem nicht geschrieben; es setzte einen theologisch und philologisch gebildeten Leser voraus. Joachim Christian Gaß war vor der Schließung der Universität bei Schleiermacher zu Besuch gewesen und hatte mit diesem und Henrich Steffens die Plünderung der Wohnung am 17. Oktober miterlebt.¹³ Gleich im ersten Satz seines Werkes erinnert der Autor, dass er bei diesem Besuch seinen „Verdacht“ gegen den 1. Brief an den Timotheus geäußert, diesen aber noch nicht hinreichend habe begründen können. Damit ist der „Keimentschluss“ zu der Monographie auf die Tage nach diesem 17. Oktober 1806 zu datieren, als Schleiermacher aus wirtschaftlichen Gründen in die Wohnung seines Freundes Steffens gezogen war. Zu tun hätte er auch ohne diese Arbeit genug gehabt, denn nun musste er parallel die weitere Platon-Übersetzung (II,2) und die scharfe Fichte-Rezension bewerkstelligen. Hier spricht – um Schleiermachers oben zitierte Worte zu gebrauchen – die „Thatsache des Autors“, die mehr ist als eine bloße „Gelegenheit“. Die Form („Ausführung“) dieses theologischen Werkes freilich ist eine romantische Frechheit:

 Friedrich Schleiermacher, Brief an Reimer (4. Nov. 1806), KGA V/9, hg.v. Andreas Arndt / Simon Gerber, Berlin / Boston 2011, 180 – 181. Vgl. Patsch 1995, XXIV–XXV (Anm. 11).

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Ein fast ungegliederter Fließtext, der mit „Sie erinnern Sich, mein werthester Freund“ beginnt und mit „Leben Sie wohl“ endet.¹⁴ So etwas hatte es vorher nicht und hat es nachher in der Bibelwissenschaft nie wieder gegeben. Aber unter dieser Maske argumentierte Schleiermacher in strenger Logik und nach allen Regeln der historischphilologischen Kunst mit seinem behaupteten Leser. Die gemeinsame „Betrachtung“¹⁵ ist zugleich als pädagogisch-dialektische Methode zu sehen, die das Behauptete vorführt und belegt, auch die möglichen Gegengründe zugleich in Rechnung stellt und erörtert. Deshalb konnte das Werk auch nicht als rhetorische Spielerei betrachtet und einfach verschwiegen werden. Und sie weckte bekanntermaßen die Furcht, nun könne im Verfolg einer solchen historisch-theologischen Schrifterklärung alle religiöse Sicherheit, die sich aus der Betrachtung der Heiligen Schrift ergebe, verloren gehen.¹⁶ Wie sah diese philologische Kunst aus? Schleiermacher nutzte, wie man das auch aus seinen Aufzeichnungen zu den Vorlesungen kennt, das ganze philologisch-historische Geschirr der Wissenschaft, und das war beachtlich. Er amüsierte sich zwar abschließend über die Glossatoren, Lexikographen und Ausleger mit ihren „Castigationen“ (gelehrten Züchtigungen)¹⁷, aber er kannte sie alle. Es kam ihm auch gar nicht darauf an, neues historisch-philologisches Material an den biblischen Text heranzutragen – das stammte, von Gelegenheitsbeobachtungen abgesehen (Platon, vielleicht Plutarch), aus zweiter Hand –, sondern mit Hilfe dieses Materials neue Fragen an den Text zu stellen. Diese neuen Fragen erheischten neue Antworten. Der zitierte Bibeltext ist der textus receptus nach dem neuesten Stand der neutestamentlichen Textkritik, wie er in der Neuausgabe von Johann Jakob Griesbach (1806) soeben der gelehrten Öffentlichkeit vorgestellt worden war.¹⁸ Man weiß aus biographischen Bemerkungen, dass Schleiermacher sich durch die kursorische Lektüre der native speaker, also der Kirchenväter-Kommentare, auf den griechischen Sprachschatz einstimmte, hier durch Chrysostomos, Oikumenios, Theodoretos und Theophylaktos, die er teilweise auch in seiner Privatbibliothek besessen und ganz unbedenklich im Verlauf seiner Argumentation zitiert hat. Weitere Belege aus den Kirchenvätern lieferten die Annotationes in Novum Testamentum des Hugo Grotius von 1646; das klassisch-antike Material fand Schleiermacher in den vorbildlich kenntnisreichen Anmerkungen der Ausgabe des Neuen Testaments durch Johann Jakob  Schleiermacher 1995, 157– 242, hier 157.242 (Anm. 11).  Schleiermacher 1995, 165 (Anm. 11).  Vgl. Hermann Patsch, „Die Angst vor dem Deuteropaulinismus. Die Rezeption des ‚kritischen Sendschreibens‘ Friedrich Schleiermachers über den 1. Timotheusbrief im ersten Jahrzehnt, ZThK 88 (1991), 451– 477 sowie Ders. 1995, C-CXXIII (Anm. 11). (Dieser Aufsatz hat selbst eine Rezeption gehabt, und zwar ungefragt: „The Fear of Deutero-Paulinism. The Reception of Friedrich Schleiermacher’s ‚Critical Open Letter‘ Concerning 1 Timothy in the First Quinquenium“, übers. v. Darrell J. Doughty, in: The Journal of Higher Criticism (JHC) Volume 6/1 (Spring 1999), 3 – 31.  Schleiermacher 1995, 241 (Anm. 11).  Zu den bibliographischen Nachweisen dieser und der folgenden Ausgaben vgl. Patsch 1995, XCVII– C (Anm. 11).

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Wettstein aus dem Jahr 1752. Rabbinica haben ihn nicht interessiert. Außerordentlich wichtig wurde ihm das ausgezeichnete Lexikon zum griechischen Neuen Testament von Johann Friedrich Schleusner in der zweiten Auflage von 1801¹⁹, das er für jede Vokabel befragte. Schleusner, den Schleiermacher später vergebens nach Berlin zu ziehen suchte²⁰, machte auf die Hapaxlegomena durch ein „saepius non legitur“ eigens aufmerksam und lieferte Schleiermacher damit eines seiner Hauptargumente. Ob er die NT-Konkordanz von Erasmus Schmid von 1717 oder die LXX-Konkordanz von Abraham Tromm von 1718 benutzt hat, lässt sich nicht sicher nachweisen. Schleusner wies ihn auch auf die früheren Lexika von Johann Caspar Suicer von 1682, Julius Pollux von 1706 und Johann Christian Biel von 1779/80, die Schleiermacher dann auch mehrfach anführt. An exegetischen Monographien zu den Pastoralbriefen hat er durchgehend das als Zeilenkommentar angelegte Werk seines Zeitgenossen Johannes Heinrich Heinrichs Paulli Epistolae ad Timotheum Titum et Philomenum Graece von 1798 genutzt, und zwar weithin polemisch, dazu gelegentlich George Bensons Paraphrastische Erklärung und Anmerkungen über einige Bücher des Neuen Testaments von 1761 und Johann Lorenz von Mosheims De rebus christianorum ante Constantinum magnum commentarii von 1753. Die kirchengeschichtlichen Belege zum Diakonissenamt in der letzten Argumentationskette stammen alle aus Joseph Binghams Origines sive antiquitates ecclesiasticae von 1724 beziehungsweise 1751. Damit erwies sich Schleiermacher als rundum belesen und im alten philologischen Sinne gelehrt. Das Entscheidende war nicht diese Kenntnis, die andere auch hatten und die in der wissenschaftlichen Exegese von allen vorausgesetzt wurde, sondern neu waren die Schlüsse, die er zog. Das ohne äußerliche Gliederung erschienene angebliche Briefwerk lässt sich etwa so aufteilen, dass man – neben den Präliminarien und der Schlussbemerkung – einen semantisch-linguistischen und einen gattungsanalytischen Teil unterscheidet.²¹ In der Untersuchung der „Sprachschäze“²² wird sogleich die Beobachtung der ganz unverhältnismäßigen Eigentümlichkeit der Sprache des Timotheus-Briefes gegenüber den anderen Paulus-Briefen hervorgehoben. Schon in Vers 3 empfindet der Exeget das „wunderliche“ ἑτεροδιδασκαλεῖν, das in diesem Brief zweimal vorkommt, als unpaulinisch. Dem widerspreche nicht, dass die Kirchenväter es kennen. Und so geht es Wort für Wort bis ans Ende des 6. Kapitels, 50 Druckseiten lang, mit dem Ergebnis, die „ganz fremden Wörter“ statt der paulinischen „Lieblingsausdrükke“ ließen auf einen

 Die Entscheidung für die zweite Auflage, die ich in meiner Ausgabe noch nicht treffen konnte, ergibt sich aus dem nachträglich gefundenen Reimerschen Hauptbuch (vgl. KGA I/15, hg. Lars Emersleben, Nr. 2707, 911). Schleiermacher kaufte sie am 3.6.1805, d. h. vor Beginn der neutestamentlichen Vorlesungen.  Vgl. Schleiermachers diesbezügliche Briefe in: KGA V/11, hg.v. Simon Gerber / Sarah Schmidt. Berlin/Boston 2015, 433 – 435.448 – 450.  Vgl. die genauere Auflistung in Patsch 1995, XCVI (Anm. 11).  Schleiermacher 1995, 165 (Anm. 11).

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„Zusammenstoppler“ schließen aus einer späteren Zeit als der apostolischen.²³ Das bestätigt sich ihm auch im Vergleich mit dem Titus- und dem 2. Timotheus-Brief. Hier sieht er in der ersten Hälfte seines Briefes eine semantische Nähe zum Titus-Brief, in der zweiten zum 2.Timotheusbrief, die er als literarische Abhängigkeit deutet, mit dem „verdächtigen Geruch späterer Zeit“.²⁴ Demgegenüber könnten die historischen Schwierigkeiten bei einer Annahme der Paulinizität nicht behoben werden. Schleiermacher setzt aber noch ein weiteres Mal neu ein, indem er eine Untersuchung der Briefgattung im Vergleich mit den anerkannten Paulinen anstellt. Das ist gewiss der kreativste Teil der Untersuchung, bei dem er sich im Unterschied zur semantischen Analyse an keiner Stelle auf Sekundärliteratur stützen kann. Vielleicht kann man Schleiermacher den Vater der epistolographischen Formgeschichte nennen. Für ihn handelt es sich beim 1. Timotheusbrief weder um einen Lehrbrief noch um einen vertrauten Brief, sondern um eine „ziemlich schlecht fingirte Schrift“, die „des Apostels gänzlich unwürdig“²⁵ sei. Was ihm fehlt, ist „ein Gegenstand […] der eine Einheit bildet, und so das Ganze bei allem Ausdruk der Vertraulichkeit zugleich als eine Darstellung der religiösen Gesinnung selbst unter diesen Umständen kann angesehen werden“.²⁶ Nach der allgemeinen Charakterisierung der Briefgattungen findet er im Vergleich mit dem Titus-Brief und dem 2. Timotheus-Brief im 1. Brief keinen „verständlichen Zusammenhang“.²⁷ Es fehlt ihm das, was er an der zitierten Stelle der Hermeneutik den „Willen“ nennen wird. Eher mühsam und im dauernden Gespräch mit den Kirchenvätern und den kirchengeschichtlichen Belegen bei Joseph Bingham sieht er den Sinn der pseudepigraphischen Schöpfung, die er in den Ausgang des 1. Jahrhunderts datiert, unter anderem in der Stärkung des DiakonissenAmtes. Die Durchschlagskraft der Monographie Schleiermachers erwächst aus der linguistischen Beobachtungsfülle, insbesondere der Hapaxlegomena, und dem Nachweis der Unstrukturiertheit des schriftstellerischen „Willens“. Die Persönlichkeit des Autors, die er bei Platon und in den großen Paulusbriefen durch die psychologische Methode hatte erschließen können, konnte er nicht finden. So konnte er am Ende lediglich feststellen, der Versuch einer historischen Erschließung eines solchen Autors sei „lächerlich“²⁸, folglich überflüssig. Schleiermacher hat diese Monographie nicht nur als Historiker geschrieben, der ein Werk der Vergangenheit verstehen will, auch nicht nur als politischer Mensch – er deutet in den Schlusssätzen dem Leser bekanntlich seinen „Wahlspruch“ nach dem Fall Halles nationalistisch und antinapoleonisch so, „daß doch Jeder, der sich, weil ihn das deutsche Blut in seinen Adern sticht, auf vielfache Weise gequält und ge-

     

Schleiermacher 1995, 186 – 187 (Anm. 11). Schleiermacher 1995, 200 (Anm. 11). Schleiermacher 1995, 204 (Anm. 11). Schleiermacher 1995, 205 (Anm. 11). Schleiermacher 1995, 211 (Anm. 11). Schleiermacher 1995, 240 (Anm. 11).

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peinigt findet, sich ja zu pflegen und sich alles steifen und einengenden, vorzüglich aber jeglichen Zwanges der Rede entschlagen, und Jeder wie ihm seine Sprache gewachsen ist an der deutschen Zunge Gediegenheit Gründlichkeit und natürlicher Freiheit festhalten möge“²⁹ –, sondern selbstverständlich auch als Theologe. Die Kritik an seiner radikalen Hypothese eines Pseudopaulinismus im Ausgang des ersten Jahrhunderts musste, wie ihm durchaus bewusst war, in theologischen Kreisen Ärgernis erregen. Dazu hat er sogleich am Anfang des Buches Stellung genommen. Ob er diesen Teil erst nach Abschluss der Untersuchung geschrieben hat, wissen wir nicht. Da er den „Keimentschluss“ gefasst hatte und sich seines Vorgehens sicher war – gewiss hatte er wie bei allen seinen exegetischen Vorlesungen bereits eine Fülle von Belegen notiert –, konnte er sogleich auf die theologische Problematik eingehen, ehe die historisch-kritische Arbeit begann. In diesen Prolegomena (wenn ich so sagen darf) verweist Schleiermacher auf den Grundsatz seiner Allgemeinen Hermeneutik, den Büchern des Neuen Testaments keine anderen Regeln angediehen lassen zu wollen als den von den „alten Grammatikern“³⁰ aufgestellten und jede einzelne Schrift nicht als Teil einer Sammlung, sondern als ein für sich stehendes Ganzes anzusehen. Damit, meint er, müssten sich auch die Anhänger der Inspirationslehre einverstanden erklären können. Mit dieser Einladung hat er diese aber bereits in die Falle gelockt: Zeigt sich dann, dass eine Schrift sowohl im Gebrauch der Wörter und Redensarten als auch in der Wendung und dem Zusammenhang der Gedanken von den übrigen Schriften desselben Schriftstellers – die Rede ist von Paulus – gänzlich abwiche, könne man nicht „fast thöricht“³¹ annehmen, dafür sei der Heilige Geist verantwortlich. Das ist Schleiermacher eine „beschränkte Ansicht des heiligen Buchstabens an die ich nicht denken kann ohne theils darüber zu jammern theils mich dagegen zu ereifern.“³² Das „göttliche Ansehn“ der heiligen Bücher könne schließlich nicht aus der Sammlung der biblischen Bücher abgeleitet werden, denn dann würde das Christentum seine Göttlichkeit nur abgeleitet besitzen, sondern aus der Göttlichkeit des Christentums selbst. Das nennt er die „höhere Einsicht“, nach der dann auch unbedenklich über eine pseudonyme, aber „ächt christliche Schrift“ gepredigt werden könne.³³ Damit hat Schleiermacher klargestellt, dass die christliche Predigt, mithin das Zentrum der christlichen Verkündigung, von der historischen Arbeit, die in diesem Falle zugleich eine theologische Untersuchung darstellt³⁴, nicht abhängig ist. Zwischen theologischer Exegese und Philologie sah er sein Leben lang keinen Widerspruch. Er trieb beides auf höchstem wissenschaftlichen Niveau.

 Schleiermacher 1995, 241– 242 (Anm. 11).  Schleiermacher 1995, 158 (Anm. 11).  Schleiermacher 1995, 158 (Anm. 11).  Schleiermacher 1995, 159 (Anm. 11).  Schleiermacher 1995, 159 (Anm. 11).  Vgl. seinen Brief vom 6. Dezember 1806 an Reimer, in dem er diesem die „theologische Untersuchung“ anbietet (KGA V/9, hg.v. Andreas Arndt / Simon Gerber, Berlin /New York 2011, 230).

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2 Über die Schriften des Lukas ein kritischer Versuch (1817) Schleiermacher hat diesen Band³⁵ mit „Erster Theil“ untertitelt, denn es sollte – wie der Plural „Schriften“ ja unmissverständlich zu erkennen gibt – noch einen zweiten Teil über die Apostelgeschichte geben. Von diesem hat sich die bereits ebenso im Jahr 1817 geschriebene handschriftliche Fassung einer Einleitung zur Apostelgeschichte erhalten, die erst im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe 2001 veröffentlicht wurde.³⁶ Ohne diese Einleitung hätte sich der „Keimentschluss“ des Autors, in seiner Auslegung des Lukas-Evangeliums die sog. Diegesen-Hypothese zu entwickeln, nicht zu erkennen gegeben. Das gesteht Schleiermacher selbst: „Ich (habe) zuerst an der Apostelgeschichte gemerkt […], daß sie aus mehreren Theilen, die nichts voneinander wissen, zusammengesezt sei, und hernach erst auch auf das Evangelium in dieser Hinsicht meine Aufmerksamkeit gerichtet.“³⁷ Wir erhalten hier die überraschende Auskunft, dass der „Keimentschluss“ des eigenen Ansatzes bei der Exegese des LukasEvangeliums sich außerhalb dieser Schrift ergeben hat und nicht bei der Untersuchung selbst, also von außen kam. Da Schleiermacher seit 1810 viermal über das lukanische Doppelwerk gelesen hat, beginnend im Sommer 1810 vor der Eröffnung der Universität halb privat über die Apostelgeschichte³⁸, ist eine Datierung dieser Erkenntnis nicht möglich. Sie mag ihm bei der soeben genannten einzelnen Vorlesung gekommen sein. Der Drang, diese neue Erkenntnis öffentlich zu machen und der Fachdiskussion auszuliefern, und zwar in der Form einer Monographie, muss stark gewesen sein. Das entspricht dem in der Hermeneutik genannten „Willen“ (s.o.). Aus seiner Hypothese entwickelte sich ja auch eine eigene Theorie der Abhängigkeits- und Entstehungsverhältnisse der Evangelien, was sensationell erscheinen musste.Wenn er zum Jahreswechsel 1810/11 im Blick auf das Lukas-Kolleg des Wintersemesters grundsätzlich verspricht, dass bei mehrerer kritischer Durcharbeitung „ein großes Licht über den Kanon“ – also nicht nur über dieses einzelne Evangelium – aufgehen werde³⁹, so mag das das erste Anzeichen einer geplanten Veröffentlichung sein. Schleiermachers Untersuchung ist wissenschaftsmethodisch in dauernder Auseinandersetzung mit den damals führenden Exegeten entwickelt, nämlich der von  Friedrich Schleiermacher [1817], Über die Schriften des Lukas ein kritischer Versuch, KGA I/8, hg.v. Hermann Patsch / Dirk Schmid, Berlin / New York 2001, 1– 180.Vgl. meine historische Einführung (VIIIXXXIX), auf die hier Bezug genommen wird.  Friedrich Schleiermacher [1817], Einleitung in den geplanten zweiten Teil über die Schriften des Lukas (Über die Apostelgeschichte) KGA I/8, hg.v. Hermann Patsch / Dirk Schmid, Berlin / New York 2001, 181– 194.  Schleiermacher, Über die Schriften des Lukas, 193 (Anm. 35).  Vgl. Patsch 2001, IX (Anm. 35). Ausführliche Notizen über die Apostelgeschichte sind erst zur Vorlesung zum SS 1814 erhalten. Sie setzen die genannte Hypothese voraus.  Friedrich Schleiermacher, Brief an Joachim Christian Gaß (29.–31. Dezember 1810), KGA V/10, hg.v. Simon Gerber / Sarah Schmidt, Berlin / New York 2015, 536.

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Johann Gottfried Eichhorn vertretenen Urevangeliums-Hypothese⁴⁰ und der von Johann Leonhard Hug ausgearbeiteten Benutzungs-Theorie⁴¹, dergemäß das MatthäusEvangelium das älteste Evangelium sei, aus dem der Autor des Markus-Evangeliums abgeschrieben habe, von denen beiden dann das Lukas-Evangelium abhänge. Da beide Entwürfe sich gegenseitig jeweils glücklich und siegreich zu bekämpfen schienen, sieht Schleiermacher sich als triumphierenden Dritten, der seine Schlüsse aus den von seinen Vorgängern nicht zu lösenden Problemen zieht. Das ist typisch für seine dialektische Vorgehensweise: Er vermittelt zwischen zwei Extrempositionen, indem er eine eigene Lösung entfaltet, die diese Extreme überholt. In synoptischen Einzelfragen ist der Orientalist und Exeget Heinrich Eberhard Gottlob Paulus mit seinen Synoptiker-Kommentaren⁴² sein dauernder Gesprächspartner, d. h. auch hier kennt er den neuesten Stand der wissenschaftlichen Debatte, besonders auch in Bezug auf die philologische Grundlegung.Wie dieser setzt er ohne weitere Diskussion die sog. Griesbach-Hypothese voraus, dergemäß Mk ein Auszug aus Mt und Lk sei.⁴³ Das ist aber für ihn nicht entscheidend. Sein Grundsatz ist, dass vor aller synoptischen „komparativen“ Arbeit⁴⁴, wie sie Eichhorn und Hug betrieben, die einzelnen Evangelien je für sich in ihrem Aufbau und ihrer Zusammensetzung untersucht sein müssten, ehe der synoptische Vergleich sinnvoll sei. Dieser wissenschaftstheoretische Ansatz ist durch die Zwei-Quellen-Theorie obsolet geworden, wenngleich er die Entdeckung des theologischen Profils der einzelnen Evangelisten, wenn auch nur in formaler und redaktionsgeschichtlicher Hinsicht, vorweggenommen hat. Schleiermachers Monographie ist, wie schon gesagt, als „Fragmenten- oder Diegesenhypothese“ in die Forschungsgeschichte eingegangen, obgleich ihr Autor diese Begriffe selbst nicht gebrauchte und statt dessen von Apomnemoneumata, Aufsätzen oder Sammlungen gesprochen hat, womit er in sich geschlossene, auf Augenzeugen zurückgehende Einzelerzählungen meinte, die der Evangelist ohne weitere Bearbeitung aneinandergefügt habe. Schleiermacher hatte bei der Auslegung der Apostelgeschichte zu sehen gemeint, dass dieses Werk keinen einheitlichen Planverrate, „nicht nach einer Idee und von Einem geschrieben sei“⁴⁵, sondern sich am besten so erklären lasse, dass es „aus mehreren Theilen, die nichts von einander wissen“⁴⁶, zusammengesetzt sei. Im Rückschluss deutet er dann auch das Evangelium des gemeinsamen Verfassers ganz entsprechend. Die postulierten Einzelerzählungen versucht er mit literarkritischer Methode gegeneinander abzugrenzen, indem er nach erzählerischen Formeln und Fugen sucht, die die ursprünglich selbständigen Stücke

 Johann Gottfried Eichhorn, Einleitung in das Neue Testament I, Leipzig 1804.  Johann Leonhard Hug, Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments II, Tübingen 1808.  Heinrich Eberhard Gottlob Paulus, Philologisch-kritischer und historischer Kommentar über das Neue Testament, 4 Bde., Leipzig 1800 – 1802, 1812.  Patsch 2001, XXI (Anm. 35).  Schleiermacher 2001, Über die Schriften des Lukas, 20 (Anm. 35).  Schleiermacher 2001, Einleitung, 187 (Anm. 36).  Schleiermacher 2001, Einleitung, 193 (Anm. 36).

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erkennen lassen. Diese Stücke müssen nach ihrer Authentizität befragt werden, während der Evangelist als bloßer „Sammler und Ordner schon vorhandener Schriften, die er unverändert durch seine Hand gehen läßt“, sein Verdienst darin habe, „fast lauter vorzüglich ächte und gute Stükke“ aufgenommen zu haben.⁴⁷ Diese Stücke gewinnt Schleiermacher aus vier „Hauptmassen“, in die ihm das gesamte Evangelium zerfällt. Es sind dies Lk 1– 2; 3,1– 9.50; 9,51– 19,48 und 20,1– 24,53. Lk 1,5 – 80 erklärt er für eine ursprünglich selbständige Geschichtserzählung, die von Lukas unverändert an den Anfang des Evangeliums gestellt worden sei und überwiegend Dichtung enthalte. Lk 2 teilt er in drei Stücke auf, die er historisch unterschiedlich gewichtet und auf jeden Fall mit der Vorgeschichte in Mt 1– 2 für nicht vereinbar hält. In Lk 3 – 9 scheidet Schleiermacher sieben an Schlussformeln kenntliche Einheiten, die zum Teil schon selbst zusammengesetzt sind und sich gelegentlich mit Ortstraditionen verbinden lassen. Den Reisebericht ab 9,51 lässt er bis 19,48 gehen; er hält ihn – wie andere Exegeten vor ihm – für eine selbständige, von Lukas geschlossen übernommene Schrift, die freilich selbst aus 14 Einzelstücken zusammengestellt sei. Lk 20 – 24 fertigt Schleiermacher verhältnismäßig kurz ab. Hier sieht er drei ursprünglich selbständige Einheiten miteinander verbunden. Der Blick auf die getrennten einzelnen „Stücke“ hat, so viel muss man einräumen, die Jesus-Forschung vorangebracht. Schleiermachers Verfahren ist historisch-philologisch, er will ohne Vorentscheidungen arbeiten und ein historisches Problem in Bezug auf ein antikes Werk klären. Es fehlt eine eigene Untersuchung der Sprache des dritten Evangeliums, was ihm bewusst war, denn er kündigt in einem Brief an Gaß ein „drittes Heft“ an, in dem er untersuchen werde, „wie viel oder wenig sich aus der Sprache über die Entstehung der Bücher entscheiden ließe; und das zusammen wird nun wol mein Hauptwerk in der biblischen Kritik bleiben.“⁴⁸ Schleiermachers linguistische Virtuosität hätte auch hier neue Ergebnisse, vielleicht Überraschungen gebracht. So muss man bedauern, dass weder der Band über die Apostelgeschichte noch das „Heft“ über die Sprache der lukanischen Schriften geschrieben wurden. Ob er in dem Verfasser des Evangeliums nicht nur einen Sammler, sondern einen Schriftsteller entdeckt hätte, kann man nicht wissen. Aber das philologisch-historische Programm war natürlich zugleich ein theologisches. Der Autor hatte ja nicht ein beliebiges Werk der Antike nach allen Regeln der philologischen Kunst untersucht, sondern ein Buch der Heiligen Schrift. Schleiermacher konnte hier keinen Unterschied sehen. Es war ihm deutlich bewusst, dass sein Umgang mit dem Lukas-Evangelium und die Depotenzierung einer zentralen Schrift der Jesus-Überlieferung zu einem sekundären Sammlungsprodukt des ausgehenden ersten Jahrhunderts, mögen darin auch von dem im Vergleich mit Platon und Paulus profillosen Autor „fast lauter vorzüglich ächte und gute Stükke“ aufgenommen wor Schleiermacher 2001, Über die Schriften des Lukas, 180 (Anm. 35).  Friedrich Schleiermacher, „Brief an Joachim Christian Gaß (5. Juli 1817)“, in: Fr. Schleiermacher’s Briefwechsel mit J. Chr. Gaß. Mit einer biographischen Vorrede, hg.v. W. Gaß, Berlin 1852, 136 – 141, hier 140.

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den sein, in der kirchlichen, neupietistischen Situation Berlins Ärgernis erwecken würde. Er musste sich und sein Werk gegen das „Buchstabenwesen“ wappnen, wie er sich brieflich ausdrückte.⁴⁹ Das war wegen der Widmung an seinen Kollegen de Wette nötig, die kirchen- und fakultätspolitisch zu lesen ist – worauf ich hier nicht näher eingehen kann⁵⁰ –, aber auch wegen seiner eigenen wissenschaftlichen Vorgehensweise. Hier musste er theologisch argumentieren, und das tat er in der „in den Ostertagen 1817“⁵¹ geschriebenen „Vorrede“. Hier ficht er für die Freiheit der theologischen Forschung, für die „kritische Bearbeitung der heiligen Bücher“ mit der kühnen Behauptung, „daß der reinste einfältigste Glaube und die schärfste Prüfung eins und dasselbe sind“⁵². Das musste er begründen, und auch hier klärte er wie in der Timotheus-Schrift die Voraussetzung einer göttlichen Inspiration der Bibel. Schleiermacher beginnt, konzentriert auf den von ihm behandelten Schriftsteller, mit einer allgemeinen Einleitung und unterscheidet dann zwei Perspektiven, die es auszugleichen gelte. Das ist sein gewohntes dialektisches Verfahren. Wenn man die Thätigkeit des heiligen Geistes bei Abfassung der heiligen Schriften für eine specifische, von seinem Wirken in der Kirche überhaupt und von seiner allgemeinen Thätigkeit in den Jüngern Christi verschiedene hält: so ist man immer in besonderer Verlegenheit auf der einen Seite zu bestimmen, worin sie bei den historischen Schriften bestanden habe, auf der andern Seite, auf was für Subjekte man sie beschränken solle. Durch die hier aufgestellte Ansicht wird diese Einwirkung getheilt, und das ist der ganze Unterschied zwischen ihr und der gewöhnlichen in dieser Hinsicht.⁵³

Durch diese Unterscheidung (Teilung) zwischen der Tätigkeit des Heiligen Geistes in der Kirche als solcher – genauer: im Jüngerkreis der „ersten Zeugen“ – und in den folgenden heiligen Schriften aus der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts als einzelnen gewinnt Schleiermacher eine doppelte Inspirationslehre, mit der er sich aus dem Verdacht der „Kezerei“⁵⁴ herauswinden kann. Die erste Perspektive liest sich wie folgt: Es ist zuerst die Thätigkeit des göttlichen Geistes in denen, welche Zeugen der Begebenheiten waren und die Reden Christi hörten und wiedergaben, durch welche sie nämlich alles aus dem richtigen Gesichtspunkt auffassen, und auf eine solche Art wiedergeben, daß die Wahrheit der Sache selbst nicht zu verfehlen ist, wenn man nur diejenige Aufmerksamkeit anwendet, die man vorzüglich auf alles was in einem höheren Sinne dem göttlichen Geiste zugeschrieben wird, wenden soll.⁵⁵

 Schleiermacher 1852, 140 (Anm. 48).  Vgl. die Erörterung der Kabinettsordre König Friedrich Wilhelms III. vom 11. März 1817 über „Irrlehren“ an der Theologischen Fakultät in Berlin (Patsch 2001, XIV–XV [Anm. 35]).  Schleiermacher 2001, Über die Schriften des Lukas, 10 (Anm. 35).  Schleiermacher 2001, Über die Schriften des Lukas, 8 (Anm. 35).  Schleiermacher 2001, Über die Schriften des Lukas, 8 (Anm. 35).  Schleiermacher 2001, Über die Schriften des Lukas, 8 (Anm. 35).  Schleiermacher 2001, Über die Schriften des Lukas, 8 (Anm. 35).

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Deren Spuren hat Schleiermacher, betont er, sich aufzufinden bemüht und „fleißiger nachzuweisen als gewöhnlich geschieht“.⁵⁶ Das gilt hier für das Lukas-Evangelium, aber auch für das Matthäus-Evangelium (das Markus-Evangelium ist ihm ja nach der Griesbach-Hypothese nur ein Auszug aus diesen beiden).Wie wir aus Schleiermachers Vorlesungen über das „Leben Jesu“ wissen, hat er aus diesen Evangelienschriften den äußeren Rahmen des Lebens Jesu erschlossen, das innere Leben Jesu aber aus dem Johannes-Evangelium, das ihm die ipsissima vox Jesu wiedergibt. Dieser historische Ansatz, den ihm seiner Überzeugung gemäß die philologisch-historische Methode und nur diese in rechter hermeneutischer Arbeit lieferte, erlaubt ihm dann eine zweite Perspektive auf die Schriften der zweiten Generation: Zweitens die Thätigkeit des Geistes in dem, welcher sammelte und ordnete. Denn wenn ich auch das Resultat auf Rechnung menschlicher Forschung und Auswahl schreibe: so meine ich doch damit nicht ein kunstmäßiges kritisches Verfahren, welches jenen Zeiten und Menschen fremd war, sondern das leitende Princip dabei konnte immer kein anderes sein als der Geist des Christenthums, der sein eigenes Werk erkannte.⁵⁷

Da es zur Zeit der Entstehung des Neuen Testamentes noch kein modernes historischkritisches Editionsverfahren gab, rekurriert Schleiermacher hier ganz allgemein auf den Geist des Christentums – wenig später in der Dogmatik „Gemeingeist“ genannt⁵⁸ –, der ihm an die Stelle der unmittelbaren Verbalinspiration aller neutestamentlichen Schriftsteller tritt. Das scheint ihm sogar ein Vorzug zu sein gegenüber einer verkrampften Verteidigung einer solchen verfehlten Vorstellung: Wenn nun aber der Sammler unseres Evangelii ein solcher ist, von welchem zweifelhaft scheinen kann, ob ihm, da er nicht in die Zahl der Zwölf gehört, eine außerordentliche Einwirkung des Geistes beigelegt werden darf: so ist ja auf jede Weise besser für ihn gesorgt, wenn er nur als Sammler und Ordner erscheint, nicht als Verfasser, und wenn wir die erste und größte Hälfte der außerordentlichen Thätigkeit nicht in ihm, sondern nur in denen suchen dürfen, welcher in unmittelbarer Verbindung mit dem Erlöser standen, auf welche also von ihm immerfort Wirkungen des göttlichen Geistes ausgingen, und zwar zu einer Zeit, wo das ordentliche und außerordentliche noch nicht kann geschieden werden, und welchen verheißen war, daß der Geist ihnen was Christi war verklären und sie in alle Wahrheit leiten werde. [Vgl. Joh 16,13] Und so scheint mir auf jede Weise das Ansehn unseres Schriftstellers nicht zu verlieren sondern zu gewinnen, wenn man sein Werk auf frühere Werke ursprünglicher und geistbegabter Augenzeugen des geschehenen zurükführt.⁵⁹

 Schleiermacher 2001, Über die Schriften des Lukas, 8 – 9 (Anm. 35).  Schleiermacher 2001, Über die Schriften des Lukas, 9 (Anm. 35).  Friedrich Schleiermacher [1821/22], Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, KGA I/7,2, hg.v. Hermann Peiter, Berlin / New York 1984, § 147, 219.  Schleiermacher 2001, Über die Schriften des Lukas, 9 (Anm. 35).

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Schleiermacher führt hier eine Zwei-Generationen-Geistbegabung ein, in der die „normale Würde“ – wie er sich in der Dogmatik ausdrücken wird⁶⁰ – der späten Autoren der zweiten Generation, der Sammler und Ordner, daraus erwächst, dass sie auf den Schultern der ersten, also ursprünglichen und wahrhaft geistbegabten Augenzeugen als „eigner Klasse“⁶¹ stehen. Daraus erwächst ihre Authentizität und Integrität.⁶² Deshalb können ihre Texte – und das war dem Exegeten wichtig, denn er war ja von Berufs wegen neben seiner Hochschultätigkeit sonntäglicher Kanzelredner – unbedenklich und mit christlichem Recht in der Predigt der Hörergemeinde ausgelegt werden. Dass Schleiermacher mit dieser Scheidung die „Buchstäbler“ der Berliner Erweckungsbewegung besänftigt hat, ist wenig wahrscheinlich. Vom gegenwärtigen Stand der neutestamentlichen Wissenschaft her wird man sagen müssen, dass der Fortschritt der philologischen Methoden in der Theologie die Überzeugung beseitigt hat, überhaupt in den vorliegenden griechischen Texten einer von Schleiermacher postulierten ersten Augenzeugenschaft unmittelbar, ohne literarische Formung, begegnen zu können, die dann ja auch in galiläischem Aramäisch formuliert sein müssten. Dieser Konsequenz musste sich Schleiermacher nicht stellen, denn er war der festen Überzeugung, dass er eine solche unmittelbare Quelle hatte: das vierte Evangelium.

3 Der johanneische Erlöser Solange Schleiermachers Notizen zu seinen Vorlesungen über das Johannes-Evangelium – er hat als Universitätslehrer auffälliger Weise nur zweimal (im Wintersemester 1812/13 und im Wintersemester 1821/22) über diese Schrift gelesen – und die Mitschriften der akademischen Hörer nicht veröffentlicht sind, können wir von keinen exegetischen Einzelheiten im Durchgang der 21 Kapitel wissen. Was wir haben, ist das Kapitel über das 4. Evangelium in Schleiermachers Einleitung ins Neue Testament (1829, 1831/32), sind die entsprechenden Bezüge in seinem Das Leben Jesu (1832) und sonstige Bemerkungen, etwa in den Vorlesungen zur Hermeneutik, die die Rekonstruktion der Grundzüge seiner Theorie mit hinreichender Sicherheit erlauben.⁶³ Und man darf dabei nicht vergessen, dass alle diese Quellen gleichfalls auf Mitschriften beruhen.

 Schleiermacher 1984, § 147, 221 (Anm. 57).  Schleiermacher 1984, § 150; 2,233. (Anm. 57).  Schleiermacher 1984, § 149, 224– 230 (Anm. 57) vgl. auch § 150, 231– 239 (zur Abgrenzung zu den Apokryphen und dem Alten Testament).  Friedrich Schleiermacher, Einleitung ins Neue Testament, SW, Bd. I/8, hg.v. Georg Wolde, Berlin 1845, 315 – 344; Friedrich Schleiermacher, Das Leben Jesu. Vorlesungen an der Universität zu Berlin im Jahr 1832, SW, Bd. I/6, hg.v. Karl August Rütenik, Berlin 1864.

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Am deutlichsten hat Schleiermacher sein Johannes-Verständnis in seinen Homilien zu diesem Evangelium aus den Jahren 1823 – 1827 zu erkennen gegeben.⁶⁴ Das ist im strengen Sinne keine wissenschaftliche Schrift, so dass die bisherigen Fragen nach einem „Keimentschluss“ oder „Willen“ nicht passen. Die Anregung kam von außen, wie er zu Beginn bekennt⁶⁵, und hängt vielleichtmit seiner Situation während der sog. Demagogenverfolgung zusammen, die auch ihn bedrängte. Aber Schleiermachers persönliche Betroffenheit äußerte sich bei diesem Evangelium noch stärker als in den veröffentlichten Schriften, und so kann bei diesem Beispiel der Zusammenhang zwischen der scheinbar bloß historisch-philologischen Arbeit und der theologischen Bedeutung der gewonnenen Erkenntnisse besonders deutlich gezeigt werden. Die Texthermeneutik hat dogmatischen Sinn – mehr noch: Sie liefert einen letzten christlichen Lebenssinn. Den konnte Schleiermacher nur im Johannes-Evangelium zeigen. Und da er sehen konnte und wusste, dass mitgeschrieben wurde – und zwar durchweg von Theologen –, hatte er vielleicht auch hier durchaus, wie bei anderen Predigtsammlungen, den Plan einer späteren Veröffentlichung. Das wäre dann doch – wie oben aus der Hermeneutik zitiert – ein das ganze Predigerleben ausfüllendes „Werk“. „Vorträge“ (wie Schleiermacher selbst sagte) über ein einziges Evangelium, die sich über vier Jahre hinziehen – es sind insgesamt 95 Predigten⁶⁶ – sind ein ganz eigentümliches Ereignis. Da sie keinesfalls in dicht aufeinander folgenden Frühgottesdiensten für die Elite seiner Zuhörerinnen und Zuhörer gehalten wurden, mussten sich sowohl der Vortragende als auch die Hörenden über eine lange Zeit stets aufs Neue in den Gedankenstrom des Ganzen einlassen bzw. einhören. Dass diese Vorträge einen Zusammenhang ausmachen, kann nachträglich nur eine Zusammenstellung als „Homilien“ kenntlich machen – wie sie zu Zweidritteln von Adolph Sydow 1837 beziehungsweise 1847 in den Sämmtlichen Werken vollzogen wurde.⁶⁷ Aber sie wurden von vornherein als eine solche Einheit geplant und in der ersten Predigt auch so

 Ich kann mich hier auf meine Arbeit „Schleiermachers Homilien zum Johannes-Evangelium“ beziehen (in: Geist und Buchstabe. Interpretations- und Transformationsprozesse innerhalb des Christentums. Festschrift für Günter Meckenstock zum 65. Geburtstag, hg.v. Michael Pietsch / Dirk Schmid, Berlin / Boston 2013, 131– 154). Ich habe dort übersehen, dass vor mir bereits Gerhard Ebeling auf die zentrale Stelle von Joh 1,14 für die Christologie Schleiermachers hingewiesen hat (Gerhard Ebeling, „Interpretatorische Bemerkungen zu Schleiermachers Christologie“, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1991, 125 – 146). – Die damals noch nicht edierten Predigten sind inzwischen in den Bänden KGA III/8 – 10 erschienen.  Friedrich Schleiermacher, Am 13.04. früh (Misericordias Domini) Joh 1,1 – 5, KGA III/7, hg.v. Kirsten Maria Christine Kunz, Berlin / Boston 2012, 706 – 714, hier 706.  Vgl. Günter Meckenstock, Kalendarium der überlieferten Predigttermine Schleiermachers, KGA III/1, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin 2012, 769 – 1034. Siehe die Tabelle in der Einleitung der Bandherausgeberin von KGA III/7, hg. Kirsten Maria Christine Kunz, Berlin / Boston 2012, LXV-LXIX.  Friedrich Schleiermacher [1823/24], Homilien über das Evangelium des Johannes, SW II/8, hg.v. Adolf Sydow, Berlin 1837; Ders. [1825/26], Homilien über das Evangelium des Johannes, SW II/9, hg.v. Adolf Sydow, Berlin 1847.

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angekündigt⁶⁸ und von den Predigthörern so empfunden und mitgeschrieben. (Die KGA hat die Eigenart einer solchen Predigtreihe notwendigerweise wieder aufgehoben.) Schleiermacher hat sein Predigerleben lang über das Johannes-Evangelium gepredigt, auch zwischen der Homilien-Reihe, wenn die Gottesdienstpläne es vorschrieben, aber immer nur punktuell, niemals in der geschlossenen Reihenfolge wie in einer Vorlesung. Daher stehen diese Homilien für uns an der Stelle seiner universitären Vorlesungen, insbesondere der im Wintersemster 1821/22 gehaltenen. Und wir können ebenso wie die theologisch gebildeten Zuhörer den Zusammenhang mit der Dogmatik von 1821/22 nachvollziehen, deren Christologie den johanneischen „Erlöser“ voraussetzt. Dass Schleiermachers Ansatz auch für die Predigthörer ein historischer war, sieht man schon daran, dass er die sekundäre Episode von Jesus und der Ehebrecherin (Joh 7,53 – 8,11), die bereits in den zeitgenössischen Textausgaben als solche erkannt war, weder hier noch jemals sonst zur Grundlage einer Predigt gemacht hat. Er informiert auch die Hörer darüber, dass das Kapitel 21 ein Nachtrag ist – freilich einer des Evangelisten selbst.⁶⁹ Und er schonte seine Hörer nicht, wenn er sie auf seine Weise in die historischen und theologischen Problemstellungen seiner Zeit angesichts des 4. Evangeliums einführte, auch wenn er sich natürlich nicht namentlich mit den Thesen seiner Kollegen befasste. Nur die theologischen Hörer und Mitschreiber konnten gelegentlich genauer erkennen, auf wen sich seine Überlegungen richteten. Und die hatten es in sich. Bei der Behandlung der Vorlesung wird Schleiermacher mit Sicherheit den Johannes-Kommentar von H.E.G. Paulus von 1804 benutzt haben, den er besaß, und er wird sich argumentativ mit der Hypothese Karl Bretschneiders von 1820 auseinander gesetzt haben, nach der das Johannes-Evangelium nicht das Ich des historischen Jesus sprechen lasse, sondern eine pneumatische Tendenz ägyptischer Herkunft verrate.⁷⁰ Diese Hypothese hielt er, wie er in der Einleitungsvorlesung und in der Hermeneutik erkennen lässt, aus historischen Gründen für widerlegt. Er argumentiert dort mit dem „Totaleindruck“, den das Johannes-Evangelium von Jesus wiedergebe⁷¹, der auf Selbsterlebtes des Evangelisten Johannes zurückgehen müsse, gegenüber den zusammengesetzten Einzelstücken der anderen Evangelien aus späterer, „evangelistischer“ Zeit. Das Johannes-Evangelium hat für Schleiermacher die „vertrauteren Unterredungen Christi mit seinen Jüngern“⁷², die die „unverkennbaren Spuren der Aechtheit (tragen) und so sehr auf jedem Blatt den Augenzeugen und persönlichen Theilnehmer (athmen), daß man sehr von Vorurtheilen eingenommen sein muß und

 Schleiermacher 2012, 706 (Anm. 65).  Friedrich Schleiermacher, Am 12.06. vorm. (2. SnT) Joh 14,27, KGA III/10, hg.v. Brinja Bauer u. a., Berlin / Boston 2016, 720 – 727, hier 720.  Carolus Theophilus Bretschneider, Probabilia de evangelii et epistolarum Joannis, apostoli, indole et origine eruditorum iudiciis modeste subiecit, Leipzig 1820.  Schleiermacher 1845, 318.340 (Anm. 63).  Schleiermacher 1845, 318 (Anm. 63).

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aus der natürlichen Richtung hinausgeschoben, um an der Aechtheit zu zweifeln.“⁷³ Das unterscheide das vierte Evangelium von den anderen, später entstandenen, und das spricht nach Schleiermacher für seine historische Unableitbarkeit. Der Zirkelschluss Schleiermachers besteht darin, dass er die historische Zuverlässigkeit des Johannes-Evangeliums gegenüber den Synoptikern aus der persönlichen Jüngerschaft des Evangelisten folgert, aus der allein die Darstellung des „inneren Lebens“ Jesu erwachsen konnte, während die anderen Evangelisten von diesem nichts zu wissen vermochten, weil ihre Tradition von diesem überwiegend nichts berichtete, woraus wiederum zu schließen war, dass sie keine Apostel gewesen sein konnten. Nur im Johannes-Evangelium fand Schleiermacher die innere Stimmigkeit der Reden Jesu, die sie als Zeugnisse Christi von sich selbst bestätigen.⁷⁴ Das ist der durch die hermeneutische Kunst zu findende „Totaleindruck“, der „Geist des Werkes“, den er bei Platon und bei Paulus suchte und fand. Es ist die Einheit von Jesu Leben und Wirken als dem „Erlöser“, die die grammatische und psychologische Kunst der Hermeneutik dem Evangelium abgewinnen konnte. In seinen Homilien musste der Prediger daher die wissenschaftliche Debatte nicht begründend berücksichtigen. Sein exegetisches Ergebnis, dass sich im JohannesEvangelium das innere Leben Jesu äußere, konnte bei den homiletischen Überlegungen vorausgesetzt werden. Nicht Philologie und Historie, sondern reine Theologie war sein Thema. Indem Schleiermacher für das gesamte Programm der Predigtreihe die Personalgemeinde bittet, seiner im Gebet zu gedenken, ist klar, dass diese nicht in einem Hörsaal sitzt, sondern dass sich beide in einer Kirche befinden. Das setzt eine nicht nur intellektuelle, sondern auch geistliche Gemeinschaft voraus. Zum Abschluss der Homilienreihe vier Jahre später am Sonntag Rogate (20. Mai 1827) ist er auf diesen geistlichen Beginn insofern zurückgekommen, als er denen, die die geistlichen Betrachtungen über die lange Zeit verfolgen konnten, wünscht, sie mögen ihnen gesegnet sein.⁷⁵ Zunächst beginnt Schleiermacher mit einem Loblied auf das zu predigende Evangelium, in dem er sein Unternehmen gleichzeitig begründet und begrenzt: Das Evangelium des Johannis […] ist ein großes und schönes Werk, voll von den herrlichsten und tiefsten Reden unsers Herrn und Erlösers, die auch kein anderer so auffassen konnte als der Jünger, den er lieb hatte und der an seiner Brust lag; es wird auch gewiß niemand jemals den Sinn desselben ganz erschöpfen; aber deswegen wird auch keiner sich rühmen können, was er darüber sagt, sei vollkommen richtig, sondern immer wird der menschliche Verstand zurükkbleiben hinter demjenigen, was darin niedergelegt ist als ein Ausdrukk der Fülle der Gottheit, die in dem Erlöser wohnte und aus ihm redete.⁷⁶

   

Schleiermacher 1845, 283 (Anm. 63). Schleiermacher 2012, 596 – 597 (Anm. 4). Schleiermacher 2016, 727 (Anm. 68) Schleiermacher 2012, 706 (Anm. 65).

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Gleich zu Beginn der ersten Predigt muss Schleiermacher eine historische Brücke schlagen, die er seiner Gemeinde nicht verschweigen kann, auch wenn er gerade die Auslegung der „herrlichsten und tiefsten Reden“ des Erlösers versprochen hatte. Der Prolog des Johannes-Evangeliums konnte schlechterdings keine ipsissima vox Jesu wiedergeben, sondern war ein theologisches Konstrukt des Evangelisten: „Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1) Schleiermacher verweigert seiner Gemeinde alle Logos-Spekulationen, sondern führt diese Redeweise letztlich auf Jesu Reden selbst zurück, die der Evangelist hier zusammengefasst habe. Er löst das Problem also nicht durch historische, sondern durch sozusagen literarische Ableitung. Auch hier spricht für ihn – im Munde des Evangelisten – der historische Christus! Die anfängliche Rede vom „Wort“ erklärt der Prediger seiner Gemeinde durch das Schöpfungswort in Genesis 1 „Gott sprach“. In diesem Schöpfungswort waren alle Dinge enthalten, ehe sie wirklich wurden. Das, deutet Schleiermacher, habe der Evangelist mit „Gott war das Wort“ sagen wollen. Das belege auch V.14 von der Fleischwerdung des „Wortes“ – eine Stelle, die Schleiermacher als „Keim alles Dogma“ in einer späteren Briefnotiz als Beweis für sein Festhalten am historischen Christus in seiner Dogmatik anführte.⁷⁷ Damit umschiffte er die christologische Problematik, hier ein präexistentes Logos-Wesen anzunehmen, das als Mitschöpfer gedacht werden müsste. Eine Schöpfungsmittlerschaft Christi mochte er aus den Texten nicht herauszulesen. Er bleibt bei der schlichten Wort-Metaphorik als menschlicher Möglichkeit, vom Göttlichen zu reden. Diese Lösung konnten natürlich nur die hörenden Theologen erfassen. Und nun konnte Schleiermacher seiner Gemeinde in konzentrierter Dichte eine Schöpfungstheologie samt Ansätzen einer Anthropologie und Christologie vorsetzen, die höchste Ansprüche an das Aufnahmevermögen stellte. Hier sprach der Dogmatiker, der die historisch-philologische Arbeit hinter sich hatte. Und er konnte am Schluss seiner dialektischen Darstellung sein Ergebnis auf die Gegenwart seiner Gemeinde anwenden und mit „Amen“ schließen.⁷⁸ Im weiteren Verlauf der Predigten musste noch ein weiteres historisches Problem gelöst werden, nämlich das Verhältnis des Täufers zu Christus. Wenn Johannes Evangelista die ipsissima vox Jesu wiedergibt, woher kann er dann vom Zeugnis Johannes des Täufers über den „Sohn Gottes“ im Gespräch mit den „Juden“ und am Tage darauf wortwörtlich wissen (Joh 1,19 – 34)? Schleiermacher löst das Problem (mit einigen Kirchenvätern) so, dass er in dem namenlosen Täufer-Jünger von 1,35 – 40, der mit dem Bruder des Simon Petrus von dem Täufer zu dem „Messias“ (V.41) übergeht, eben diesen Evangelisten sieht. Der Evangelist war folglich bei dem Zeugnis des Täufers persönlich anwesend und konnte deshalb dessen ipsissima vox ebenso zuverlässig wiedergeben wie die des Erlösers. Die wörtlichen Aussagen des Täufers kann  Friedrich Schleiermacher, „Brief an Karl Heinrich Sack (9. April 1825)“, in: Ders., Briefe an einen Freund, Weimar 1939, 28 (auch in: Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen. Vierter Band. Vorbereitet von Ludwig Jonas, hg.v. Wilhelm Dilthey, Berlin 1863, 335). Vgl. meine ausführlichere Darstellung (Patsch 2013, 140 – 145 [Anm. 64]).  Vgl. Schleiermacher 2012, 714 (Anm. 65).

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der Hermeneut dann psychologisch verstehen und ihn dogmatisch kritisieren – die Geisttaufe Jesu (Joh 1,32– 33) als äußerlicher Akt passt Schleiermacher nicht, da für ihn das Wort Gottes von der Geburt an mit Jesus vereinigt war –, aber der Täufer sei eben noch kein Christ gewesen, er habe „diesen Glauben wie wir ihn in uns tragen, nicht gehabt“⁷⁹. Bei der Bezeichnung Jesu als „Lamm Gottes“ konnte deshalb keinesfalls auf das Schicksal des Erlösers vorausgedeutet worden sein, sondern auf die „Tiefe und Milde“ in dessen Person⁸⁰, die der Prediger dann auch der Gemeinde als innerliches Vorbild anempfehlen kann. Das Zusammenspiel von historischer Argumentation und dogmatischem Interesse ist überdeutlich. Der Hörer erlebt eine dogmatische Predigt, in der die historische Vorarbeit unter der Textoberfläche unsichtbar bleibt. Schleiermacher konnte darin mit gutem Gewissen keinen Widerspruch sehen, wenn – wie aus der Vorrede der Lukas-Schrift zitiert wurde – der „reinste einfältigste Glaube und die schärfste Prüfung eins und dasselbe“ sind. Und der Prediger wird mindestens am Schluss seiner Überlegungen die Vorbildlichkeit für die Gegenwart, für das „jezt noch“⁸¹, für das Leben der Christen betonen. Das ist die Aufgabe der praktischen Theologie. Diese Entfaltung vergaß Schleiermacher in keiner seiner Homilien über das Johannes-Evangelium. Das zeigt sich zuletzt eindrücklich in der letzten Homilie zum Abschluss der Reihe über Joh 21,19 – 25, die zum Panegyrikus über die ewig bleibende Liebe Gottes wird, für die Christus das Vorbild ist: Dazu mögen denn auch die Betrachtungen, die wir angestellt, allen denen, die sie verfolgen konnten, gesegnet sein; mögen sie nie unterlassen, in diesem Buche sich aufzufrischen das herrliche Bild des Erlösers, aus den Reden Christi und der Geschichte seines Lebens denjenigen, der von Gott gesandt war, zu erkennen wie er ist, und von ihm hingezogen zu werden zu der herrlichen Gemeinschaft mit dem, welchen zu offenbaren Christus auf Erden erschienen war. Amen.⁸²

Die Vers-für-Vers-Deutung nach der Klärung der Täufer-Tradition gehört nicht mehr zum Thema dieses Vortrags, sondern zur Geschichte der Homiletik. Schleiermacher geht von seiner dogmatischen Grundlegung aus und legt das vierte Evangelium so aus, dass er das innere Leben des „Erlösers“ entfalten kann, das sich dem Hermeneuten aus Jesu Selbstaussagen erschließen lässt. Das geschieht insbesondere bei den großen Reden des Evangeliums, die er ethisch und gelegentlich auch spiritualisierend auslegt.⁸³ Das ist in vieler Hinsicht großartig und hatte eine vielfach bezeugte Wirkung. Der „innigste Ausdrukk der tiefsten und seligsten Erfahrung“⁸⁴, den die Predigten zur Stärkung der Glaubens des gegenwärtigen Menschen bewirken sollten,

     

Schleiermacher 2012, 904 (Anm. 65). Schleiermacher 2012, 909 (Anm. 65). Schleiermacher 2012, 924 (Anm. 65). Schleiermacher 2016, 727 (Anm. 69). Vgl. meinen Aufsatz Patsch 2013, 148 – 152 (Anm. 64). Schleiermacher 2012, 947 (Anm. 65).

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erfüllte auch den Prediger selbst und übertrug sich auf die Hörergemeinde. Der alte Schleiermacher hing mit ganzem Herzen am Johannes-Evangelium. Die „Idee des Werkes“ – um den Grundgedanken der Hermeneutik aufzugreifen – befand sich im Inneren des Interpreten, der sein Leben mit dem „Erlöser“ verband. Es ist bezeugt, dass er bei der Auslegung von Joh 14,27 sich hoch emotional mit dem Bekenntnis des Petrus nach der Lebensbrotrede in Joh 6,68 zusammenschloss: „Herr! wo sollen wir hingehen? Du allein hast Worte des ewigen Lebens!“ und unter Tränen einen NovalisVers aus dem Berliner Gesangbuch sprach.⁸⁵ Die Philologie der „alten Grammatiker“ allein kann eine solche Wirkung nicht hervorbringen. Der unendliche Prozess des Verstehens überlieferter Texte galt Schleiermacher auch für die Texte des Neuen Testaments. Daraus folgte, dass es keinen „garstigen breiten Graben“ (Lessing) zwischen historisch-philologischer und theologischer Schriftauslegung geben konnte, sondern dass diese eine dialektische Einheit darstellten. Das war seine Grundüberzeugung als Philologe und Theologe von Anfang an. Diese Einheit hat er in einem langen Exegeten- und Predigerleben durchgehalten. Dass seine Christologie am seidenen Faden seiner Johannes-Exegese hängt, war das Ergebnis sowohl seiner historisch-philologischen als auch theologischen Arbeit und spricht für sein Vertrauen in die wissenschaftlichen Methoden seiner Zeit. Das Problem, dass die Theologie des Neuen Testaments und mit ihr die Christologie von den sich wandelnden philologisch-historischen Methoden abhängig ist, ist ja über die Zeiten bestehen geblieben. Schleiermacher hat dieses Problem nicht gescheut.

 Friedrich Schleiermacher, Am 12.06. vorm. (2. SnT) Joh 14,27, KGA III/12, hg.v. Dirk Schmid. Berlin 2013, 549 – 559, hier 558. Vgl. meine Studie: „‚Wenn alle untreu werden, erhalte mich dir treu‘. Schleiermachers Einkirchung des Novalis in das Berliner Gesangbuch“, in: Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster, September 2015, hg.v. Arnulf von Scheliha / Jörg Dierken, Berlin / Boston 2017, 619 – 657, hier 649 – 651.

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Kritik und Verstehen Schleiermachers Hermeneutik im Lichte seiner Paulus-Rezeption

Friedrich Schleiermacher ist an der Grundlegung der modernen Geisteswissenschaften in prägender Weise beteiligt. Werner Jaeger stellt die zentrale Bedeutung seines Werkes für die neuzeitliche Interpretation Platons¹ heraus, und Günther Bien bezeichnet ihn als „Archegeten der modernen Hermeneutik“², der an der Theoriebildung historischer Verstehenspraxis wesentlich mitgewirkt habe. Diese Beispiele deuten das Verdienst Schleiermachers für das Verständnis der Antike an: Er verbindet die Praxis einer kontextsensitiven Übersetzung der Dialoge Platons mit einer Theorie des Verstehens, die bis heute Wirkung auf Philosophie der Interpretation entfaltet.³ Die Theorie der Verstehenspraxis baut zudem auf der Exegese biblischer, vor allem neutestamentlicher Schriften auf. Angesichts ihrer theoriebildenden Bedeutung stellt sich die Frage, wie Schleiermacher auf die biblischen Schriften zurückgreift; wie er die Praktiken des Verstehens und der Kritik vollzieht und reflektiert. Dazu wird hier Paulus als Gegenstand seiner Verstehens-Bemühungen hervorgehoben. Im Bewusstsein, dass einerseits Paulus für Schleiermacher eine zentrale Figur der biblischen Traditionsbildung ist, andererseits aber diese Beziehung wenig erforscht und kaum zugänglich ist, können hier nur tastende Versuche vorgelegt werden.⁴ Dabei ist auf verschiedene Textgattungen zurückzugreifen – auf die Einleitung ins Neue Testament, auf exegetische Schriften und auf eine Predigt zum 1. Korintherbrief. Viel stärker als das im Folgenden gelingen kann, wäre es notwendig, diese Textgattungen bezüglich ihrer Absichten voneinander abzugrenzen und ihre jeweilige kritische Bedeutung für die dogmatischen Fragen nach dem Stellenwert des Kanons in seiner Theologie einzuordnen. Im Mittelpunkt steht somit die exegetische und homiletische Praxis im Horizont der hermeneutischen Theoriebildung – inwiefern sich ergänzende Perspektiven aus dem Umgang mit den paulinischen Schriften für seine Verstehenstheorie ergeben. Für

 Werner Jaeger, „Platos Stellung im Aufbau der griechischen Bildung“, in: Humanistische Reden und Vorträge, Berlin 21960, 117– 157, vor allem 129 – 141.  Günther Bien, „Vernunft und Ethos. Zum Ausgangsproblem der Aristotelischen Ethik“, in: Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers. v. Eugen Rolfes, Hamburg 41985, XVII–LIX, hier XVII.  Friedrich Schleiermacher [1804 / 1817], Platons Werke. Einleitung, Phaidros, Lysis, Protagoras, Laches, KGA IV/3, hg.v. Lutz Käppel / Johanna Loehr, Berlin / New York 2016, 13 – 60. Vgl. zur Bedeutung der Übersetzungen für die Theologie Julia A. Lamm, „The Force of Dialogue and a Dialogue of Forces. Resources for Open Theological Systems“, in: Schleiermacher and Whitehead. Open Systems in Dialogue, ed. by Christine Helmer, Berlin / New York 2004, 237– 264.  Simon Gerber, „Hermeneutik als Anleitung zur Auslegung des Neuen Testaments“, in: Friedrich Schleiermachers Hermeneutik. Interpretationen und Perspektiven, hg.v. Andreas Arndt / Jörg Dierken, Berlin / Boston 2016, 145 – 162. https://doi.org/10.1515/9783110569520-046

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Schleiermacher ist der Prozess des Verstehens von entscheidender Bedeutung für den Erkenntnisfortschritt.⁵ Der Prozess verdiene Aufmerksamkeit, weil das Missverstehen die Regel darstelle. Es bedarf des Redens, Reflektierens und Denkens, also der Praxis des diskursiven Verstehens, um die Aussicht auf gelingendes Verstehen zu ermöglichen. Lässt sich diese Praxis in der Interpretation des biblischen Wissens, welches aus der Schrift gewonnen wird, beobachten? Lässt sich dabei die Spannung von Individualität und Universalität, die im Werk Schleiermachers für Verstehensprozesse kennzeichnend ist, im Umgang mit der Schrift nachzeichnen? Die leitende und weitergehende Intuition ist es, dass der Verstehensprozess die Anerkennung und Bewältigung von Differenz ermöglicht, indem Individualität und Universalität gleichsam zirkelhaft und spiralförmig ineinandergreifen.⁶ In dreifacher Hinsicht ist dieser Prozess von Bedeutung: in der Bearbeitung des zeitlichen Abstandes zu den biblischen Schriften, im Umgang mit der Frage nach Transzendenz und im Diskurs mit anderen. Diese drei Dimensionen können im Folgenden nur kurz aufgrund der Paulus-Interpretation Schleiermachers angedeutet werden und müssten an anderer Stelle in einer systematischen Analyse tiefergehend erarbeitet werden. Zunächst werden Überlegungen zur Deutung des Paulus entwickelt, diese werden daraufhin im Horizont einiger Hinweise aus anderen Arbeiten Schleiermachers ergänzt und in einen größeren Zusammenhang gesetzt.

1 Paulinische Bezüge Paulus nimmt eine besondere Stellung im biblischen Kanon für Schleiermacher ein. Wiederholt macht er auf die Reichhaltigkeit und Bedeutung der paulinischen Schriften aufmerksam, die er „als die wichtigsten Bestandteile des N.T.“⁷ geltend macht. Zugleich sei mit der Interpretation mit Behutsamkeit vorzugehen, da Paulus oft missverstanden oder dogmatisch einseitig eingesetzt worden sei. Diese differenzierte Wertschätzung lässt sich an Schleiermachers Umgang mit der Frage nach paulinischer Autorschaft erkennen. Das Sendschreiben Ueber den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos aus dem Jahr 1807, in dem Schleiermacher die deuteropaulinische Herkunft des

 Vgl. Shin-Hann Choi, „Selbstbewusstsein, Subjektivität und Intersubjektivität“, in: Schleiermachers Dialektik. Die Liebe zum Wissen in Philosophie und Theologie , hg.v. Christine Helmer u. a., Tübingen 2003, 235 – 258.  Vgl die Diskussion zum zirkelhaften Verhältnis von individueller und identischer Symbolisierung in André Munzinger, Gemeinsame Welt denken. Bedingungen interkultureller Koexistenz bei Jürgen Habermas und Eilert Herms, Tübingen 2015, 243.  Friedrich Schleiermacher [1845], Einleitung ins Neue Testament, Sämmtliche Werke, Bd. I/8, hg.v. Georg Wolde, Berlin 1845, 192.

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Briefes nachweist, hat große Resonanz gefunden.⁸ Schleiermacher wendet die kritischen Methoden an, um Zweifel und Anfragen an die innere Systematik, die Sprachwahl und die Eigentümlichkeiten des Briefes zu sammeln. Er kommt zum Ergebnis, dass der Brief mit den übrigen paulinischen Schriftstücken nicht vergleichbar ist. Angesichts der großen Unterschiede sei es nicht anzunehmen, dass der Brief von Paulus stamme; andernfalls hätte der Heilige Geist Paulus instrumentalisiert. Schleiermacher argumentiert aber, dass der Geist sich nicht „der Natur [des Paulus] zuwider bedient“⁹. Wie ist dieses Argument inhaltlich zu verstehen? Dazu lässt sich auf die erwähnte Einleitung ins Neue Testament verweisen. In dieser diskutiert er die Echtheit der paulinischen Briefe und untersucht, wie dessen Persönlichkeit mit deren Inhalt übereinstimmt. „Man kann aber mit großer Sicherheit behaupten, daß seine große Klarheit über das Christenthum und seine beständige Besonnenheit in demselben mit seiner Richtung auf dessen Universalität und mit der Tendenz, dies zu verwirklichen, zusammenhängt.“¹⁰ Paulus habe dafür gesorgt, dass das Christentum in und durch die Universalität „für sich selbst bestehen sollte“.¹¹ Diese Ausrichtung auf die Universalität wird mit der Individualität des Apostels in komplexer Weise verwoben. Schleiermacher versucht sich des Einflusses der paulinischen Briefe anzunähern, indem er Paulus starke Wirkungskraft so erklärt, dass er sie vom Geist Gottes in besonderer Weise erhalten und entsprechend eingesetzt habe.¹² Auf dem Hintergrund dessen Bildung in rabbinischer Denkweise sei Paulus so zu verstehen, dass er einerseits sehr eingehend auf Probleme eingehe, andererseits sich durchaus weitreichende Aussagen in allegorischer Deutung alttestamentlicher Texte zutraue. Dazu müsse aber beachtet werden, dass die „Neigung zu ekstatischen Zuständen“, die bei dem Apostel zu finden seien, in einem gewissen Widerspruch zu der „spitzfindigen dialektischen Schärfe“ des Apostels ständen.¹³ Man könnte nun behaupten, so setzt Schleiermacher fort, dass die ekstatischen Momente des Apostels als „unmittelbare göttliche Einwirkungen“ zu verstehen sind, und dass diese Einwirkungen unabhängig von einer bestimmten „Neigung“ stattfinden, aber diese Meinung, so antwortet er auf den konstruierten Einwand, „ist zu unhistorisch“, denn „das göttliche Prinzip“, welches er im Neuen Testament wirksam werden sieht, ist als ein geschichtliches zu verstehen.¹⁴ So ist das göttliche Prinzip den Bedingungen des Geschichtlichen durch und durch  Friedrich Schleiermacher [1807], „Ueber den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos. Ein kritisches Sendschreiben an J.C. Gaß“, KGA I/5, hg.v. Hermann Patsch, Berlin 1995, 153– 243.  Schleiermacher 1995, 158 (Anm. 8). Ob Schleiermacher seine Anfragen an die Echtheit des längsten der Pastoralbriefe hinreichend belegt und ob er damit „die kritische Paulusforschung eigentlich erst in Gang gebracht hat“, wie manche behaupten, müsste an anderer Stelle untersucht werden (Hilger Weisweiler, Schleiermachers Arbeiten zum Neuen Testament, Bonn 1972, 50).  Schleiermacher 1845, 177 (Anm. 7).  Schleiermacher 1845, 191 (Anm. 7).  Schleiermacher 1845, 178 (Anm. 7).  Schleiermacher 1845, 179 (Anm. 7).  Schleiermacher 1845, 179 (Anm. 7).

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unterworfen, und ist nur in individueller Weise wirksam. Deshalb sei es erforderlich, sich in die individuelle Art eines jeden Autors hineinzudenken, die er im Falle des Paulus durch besondere Dynamik gekennzeichnet sieht. Es wird deutlich, dass die Individualität die geschichtliche Möglichkeitsbedingung des göttlichen Einwirkens und deshalb kritischer Ansatzpunkt für das angemessene Verstehen im Allgemeinen und hier im Speziellen von paulinischer Theologie ist. Zugleich ist die Universalität dessen wesentlicher Beitrag für das frühe Christentum und somit eben auch als Kriterium für dessen Geltungsanspruch zu verstehen. Die Individualität des historischen Paulus und die Universalität seiner Theologie stehen in einem sich wechselseitig bedingenden Verhältnis zueinander. Interessant ist, dass Friedrich Lücke in seinem Nachruf auf Schleiermacher in den Theologischen Studien und Kritiken diese besondere Dynamik der Interpretation zwischen Schleiermacher und Paulus aufnimmt, dabei aber die Individualität problematisiert. „Schleiermacher gehört zu denen, welche weit mehr eigenthümlich auffassen, als sich hingeben, den Schriftsteller mehr zu sich herüberziehen, als sich von ihm ziehen lassen.“¹⁵ Dieser Mangel wird als solcher deutlich hervorgehoben, denn Schleiermacher habe es nicht vermocht, sich selbstvergessen auf das Fremde einzulassen. Lücke vermutet, dass Paulus dem Charakter Schleiermachers besonders entsprach, deshalb habe dieser das Verständnis der paulinischen Schriften eifrig vorangetrieben. Aber Schleiermacher habe zwar mit beeindruckender Überzeugungskraft Paulus ausgelegt, oftmals aber dabei mehr sich selbst im Blick gehabt.¹⁶ Exemplarisch verweist Lücke auf Schleiermachers Auslegung von Kol 1,15 – 20. Dieser hatte eine kurze Studie zu diesen Versen vorgelegt, in der er eine eigene Auslegung vorschlägt. Abgesehen davon, dass er Paulus als Autor des Kolosserbriefes betrachtet, kann als bestimmendes Merkmal dieses Vorschlages die anthropologische Ausrichtung hervorgehoben werden. Zur Erinnerung: In Kol 1,15 – 20 wird auf den christologischen Ursprung des Himmels und der Erde rekurriert. Schleiermacher argumentiert, dass eine kosmologische Deutung nicht tragfähig sei. Zugleich betont er, dass er sich nicht von einem „dogmatischen Interesse“ leiten lasse, „sondern von einem rein hermeneutischen“.¹⁷ Was ist ein rein hermeneutisches Interesse? An anderer Stelle, nämlich in der Kurzen Darstellung des theologischen Studiums, erläutert Schleiermacher, dass dazu sowohl ein eigenes Interesse am Christentum als auch eine Ausrichtung an Kritik und Philologie von Nöten ist; sonst bewege man sich im Gebiet „der Erbauung“¹⁸.

 Friedrich Lücke, „Erinnerungen an Dr. Fr. Schleiermacher“, ThStKr7 (1834), 745 – 813, hier 771. Vgl. Hermann Patsch / Dirk Schmid, „Einleitung der Bandherausgeber: Historische Einführung. Über Kolosser 1,15 – 20“, KGA I/8, hg.v. Hermann Patsch / Dirk Schmid, Berlin / New York 2001, XXXIX–L.  Lücke 1834, 771 (Anm. 15).  Friedrich Schleiermacher [1832], Über Kolosser 1, 15 – 20, KGA I/8, hg.v. Hermann Patsch / Dirk Schmid, Berlin / New York 2001, 195 – 226, hier 200.  Friedrich Schleiermacher [1830], Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, KGA I/6, hg.v. hg. v. Dirk Schmid, Berlin / New York 1998, 317– 446, hier 379, und als

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Schleiermachers Schrift zum Kolosserbrief lässt sich zwar nicht als erbaulich darstellen, aber sie wird von einem dogmatischen Interesse überlagert. Er argumentiert, dass durch Christus nicht Himmel und Erde miteinander in Versöhnung zu bringen seien, sondern die Versöhnung sei als der neue Mensch zu sehen, den Paulus auf Juden und Heiden beziehe. „Es ist Gottes Wohlgefallen gewesen, alles, was unter sich entzweit gewesen ist, zu versöhnen, in Beziehung zu sich selbst.“¹⁹ Das dogmatische Argument wird also an der universalen Ausrichtung der Theologie des Paulus festgemacht. Es ist sicherlich eine eigenwillige Interpretation, die sich als anthropologische Deutung bestimmen ließe. Er historisiert seine Interpretation dabei nicht direkt. Vielmehr will er sie als angemessene Exegese der ursprünglichen paulinischen Intention ansehen.²⁰ Als Zwischenfazit lässt sich feststellen: Die Eigentümlichkeit der paulinischen Theologie wird bezeichnender Weise an ihrer Universalität festgemacht. Individuelle Interpretation und universaler Gegenstand sind miteinander mehrfach verwickelt: Die Eigentümlichkeit Schleiermachers wird mit der Individualität der paulinischen Person verwoben, die Universalität der Theologie als ihr besonderes Kennzeichen hervorgehoben und zugleich als Argument für ihren umfassenden Anspruch eingesetzt.²¹ Diese Verwicklung kann noch anhand eines weiteren Aspektes erläutert werden: Die hermeneutische Produktivität und zugleich Komplexität besitzen mit Bezug auf Paulus nämlich eine Ebene, die bisher nur angeklungen ist. Das Verstehen der paulinischen Botschaft ist mit dem Wirken des Geistes verbunden. Für Schleiermacher ist es der Geist, der für die göttliche Eingebung²² verantwortlich ist. In einer Predigt zum Pfingstfest am 23. Mai 1825 in der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin stellt er die Wirkung

darauffolgende Erläuterung: „Denn ein reines und genaues Verstehenwollen kann bei einem solchen Verfahren nicht zum Grunde liegen.“  Schleiermacher 2001, 222 (Anm. 17).  Oftmals mag Schleiermachers Bibelkritik in ihrer historischen Einordnung nicht hinreichend klar werden. Auch wenn er die Historizität der Texte betont, bleiben manche exegetischen Aussagen aus heutiger Sicht eigentümlich ahistorisch.  Friedrich Lücke hat übrigens trotz dieser einseitigen Exegese das Verdienst Schleiermachers hervorgehoben: „[…] selbst da, wo er kraft der Uebermacht seines eigenthümlichen Geistes irrte, mehr wissenschaftliches Leben und Streben in der Exegese anzuregen vermochte, als hundert Andere, welche aus Mangel an Geist und Eigenthümlichkeit nicht einmal zu irren vermögen“ (Lücke 1834, 771 [Anm. 15]).  Die Eingebung erfolgt in der Form einer „innerlichen Mittheilung“ (Friedrich Schleiermacher [1830/ 31], Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage, KGA I/13,2, hg.v. Rolf Schäfer, Berlin / New York 2003, 324). Sie ist mit Hilfe der Zwei-Naturen-Lehre zu begreifen: „Der göttliche Geist wirkt auf die menschliche Natur zu einer personbildenden Einheit ein, ohne daß die spezifischen Unterschiede aufgehoben würden.“ (Jörg Lauster, Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart, Tübingen 2004, 60).

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des Geistes im Verstehensprozess heraus.²³ Dabei rekurriert er auf 1. Kor 2,10 – 12, wo Paulus auf die Wirkung des Geistes Gottes zu sprechen kommt: Dieser erforscht die Tiefen der Gottheit, so wie der Geist des Menschen weiß, was das Wesen des Menschen ist. Schleiermacher stellt die Frage, wie diese Verstehensleistung des göttlichen Geistes zu deuten ist. Wie ist einerseits zu begreifen, dass der Geist Gottes mit demjenigen des Menschen zu vergleichen ist? Und wie ist andererseits zu verstehen, dass der Geist Gottes einzigartig ist? Die Parallele ist die, dass der Geist Gottes und der Geist des Menschen Reflexivität ermöglichen: Sie erschließen sich selbst reflexiv. Und zwar ist eine Form der Selbstbezüglichkeit gemeint, die „untrüglich ist und unumstößlich gewiß“.²⁴ Denn durch den Geist des Menschen wird sich der Mensch seines Inneren bewusst. Schleiermacher stellt diese innere Bezugnahme auf das eigene Selbst als das Bewusstwerden der eigenen Handlungsfähigkeit, Identität und Geschichtlichkeit dar – aber als reflexive Einheit: „Dieses eigene Wissen des Menschen von sich selbst ist dann auch die unmittelbarste und zuverlässigste Wahrheit seines Daseins, das untrüglich sich immer aufs neue bewährende, in jedem Augeblikk die ganze Vergangenheit und die ganze Zukunft dem Wesen nach in sich tragend.“²⁵ Der entscheidende Unterschied zwischen dem Geist des Menschen und dem Geist Gottes ist, dass letzterer die Möglichkeit bietet, Gott als Vater anzusprechen. Alle anderen Kenntnisse und Wissensgegenstände können mit Hilfe des gemeinsamen Denkens erschlossen werden. Lediglich die Erkundung der Tiefen Gottes, was gleichbedeutend mit dem Anruf Gottes als liebender Vater ist, kann der Geist aus Gott, der dafür in den Geist des Menschen hinabsteigt oder sich mit diesem vermählt. So stellt sich nach Schleiermacher der göttliche Geist als Interpret Gottes vor, der insbesondere eine neue Qualität der Beziehung ermöglicht. Was ist das Wesen der Gottheit, fragt Schleiermacher in seiner Predigt? Es ist die Liebe, nicht die Gerechtigkeit noch die Allmacht.²⁶ Der Verstehensprozess führt somit zu einer Reflexivität, die sich pneumatologisch betrachtet als relational und anerkennend darstellt. Interessanterweise leitet der Geist Gottes somit dazu an, Vertrautheit in der Differenz zuzulassen und Verstehen über Grenzen hinweg zu ermöglichen. Ob und inwiefern damit ein Paradigma für das Verstehen biblischer Texte und das Verstehen im Allgemeinen gesetzt ist, lässt sich aber noch nicht folgern.

 Friedrich Schleiermacher [1826], Der Ursprung des Geistes aus Gott ist die Gewährleistung für die Vollständigkeit seiner Wirkungen. Am Pfingstfeste, KGA III/2, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 2015, 223 – 239.  Schleiermacher 2015, 230 (Anm. 23).  Schleiermacher 2015, 231 (Anm. 23).  Schleiermacher 2015, 228 – 233 (Anm. 23).

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2 Bezüge zum Gesamtwerk Der Gedankengang in der Predigt zu 1. Kor 2 ist auch deshalb interessant, weil für Schleiermacher in der Glaubenslehre das angemessene Verständnis der Schrift mit dem Wirken des Geistes Gottes verbunden ist. Dabei kann auf zwei Punkte aufmerksam gemacht werden, die sich mit den hier ausgeführten Überlegungen zu Paulus verbinden lassen. Zum einen hebt Schleiermacher die Wirkung des Geistes in der Produktion der Schriften und ihrer späteren Sammlung als einen kritischen Prozess hervor. Er stellt sich diese Geistesleitung in Analogie zum menschlichen Denken vor: Jeder könne sich vorstellen, die eigenen Gedanken in kritischer Absicht zu sortieren und zu ordnen, manche Gedanken vorübergehend beiseite zu lassen, manche hervorzuheben, andere wiederum ganz zu verwerfen. So sei „die treue Aufbewahrung“ der Heiligen Schrift „das Werk des seine eignen Erzeugnisse anerkennenden göttlichen Geistes“.²⁷ Der Geist unterscheidet das Unveränderliche von den Inhalten und Bezugspunkten, die sich im Laufe der Geschichte vielfach wandeln. Hier wird Kritik als eine reflexive Bezugnahme auf die eigene Produktivität verstanden. Der Geist Gottes ist die Denkfigur für selbstbezügliche Kritik: Diese verbindet sich mit einer kontinuierlichen Forschung, durch welche die einzelnen Schriften überprüft werden sollen, ob sie zu Recht als Teil der Heiligen Schrift betrachtet werden können.²⁸ Zum anderen wird der Geist selbst als Gemeingeist herausgestellt, der durch Gemeinsinn gekennzeichnet ist. Die Verästelungen der Geistlehre können hier nicht berücksichtigt werden, aber es fällt auf, wie stark Schleiermacher einerseits auf biblische, insbesondere paulinische Bezüge zurückgreift und gleichzeitig die Verbindungen zur allgemeinen Moralität stark macht.²⁹ Schleiermacher stellt die Kirche als eine kommunikative Gemeinschaft dar, die nach der Entfernung Christi durch den Heiligen Geist als „Gemeingeist des Gesamtlebens“ konstituiert wird.³⁰ Der Geist erzeugt das Bewusstsein für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und konstituiert Sozialität. Die eigentümliche hermeneutische Leistung des Geistes, die in der Predigt aufscheint, ist mit dem Bewusstsein kommunikativer Reflexivität, die Schleiermacher in der Glaubenslehre entwickelt, in Beziehung zu bringen. Der Verstehensprozess wird durch den Bezug auf die Schrift und durch die Einwirkung des Geistes in bemerkenswerter Weise intensiviert, so dass ein Bewusstsein von Vertrautheit in der Differenz in der kirchlichen und menschlichen Gemeinschaft  Schleiermacher 2003, 329 (Anm. 22). Vgl. auch die Aussage: „Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern der welcher keiner bedarf, und wohl selbst eine machen könnte.“ (Friedrich Schleiermacher [1799], Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, KGA I/2, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984,185 – 326, hier 242).  Schleiermacher 2003, 331 (Anm. 22).  Vgl. beispielsweise Schleiermacher 2003, 278 (Anm. 22) und dort die Verweise auf Röm 12,3 – 6; 1Kor 12,4– 5, Eph 2,17– 22; vgl. des Weiteren die 279 angeführten Verweise auf Eph 2,19; 4,11– 13; Tit 2,14.  Lauster 2004, 51 (Anm. 22), mit Bezug auf Schleiermacher 2003, 254– 259 (Anm. 22).

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erzeugt wird. Aber, so lässt sich fragen, wie ist der Verstehensprozess, der in Schleiermachers Umgang mit Paulus zu beobachten ist, ins Verhältnis zu den allgemeinen Ausführungen zum Verstehen (in der Hermeneutik und der Dialektik) zu setzen? Jedenfalls wird in dem theologischen Verstehensprozess die Betonung der Individualität deutlich. Zwar wird die Universalität als Merkmal paulinischer Theologie hervorgehoben, aber sie stellt sich in ihrer Eigentümlichkeit vor. Als Gegenmoment zu dieser Tendenz können die Vorlesungen zur Dialektik hervorgehoben werden. Dort stellt Schleiermacher das reine Denken als einen respektvollen, freudigen Umgang mit dem Fremden vor: Je mehr Denkende alles Fremde in ihr Denken hineinzuziehen versuchen, umso weniger werden sie das Fremde verstehen. Je mehr dagegen Denkende „von der allgemeinen Freude“ am reinen Denken ausgehen, desto mehr werden sie das Gemeinsame suchen.³¹ Sie werden sich auf die anderen Sprachkreise ausrichten, ihre Sprache auch um der anderen Willen ausbilden und somit ihre partikulare Denkweise weniger geltend machen³². Das Verstehen ist nicht ohne das Denken möglich, denn dieses ermöglicht eine kritische Rezeption des Verstandenen. So wird die Wechselbeziehung zwischen identischem und individuellem Symbolisieren im Denken vollzogen. Denken ist einerseits ein von einer Person durchgeführtes Verfahren und andererseits verbindet die Vernunft vom Prinzip her alle Menschen, denn sie leitet zur Produktion derselben Begriffe an. In der Vernunft erfolgt demnach die Bildung von Begriffen, die ein Nachkonstruieren von dem Fremden und Anderen in allgemein verständlicher Absicht ist.³³ Von einer reinen Vernunft ist nach Schleiermacher aber nicht auszugehen.³⁴ Vielmehr verbindet die menschliche Vernunft immer schon die gattungsgemäße Allgemeinheit und die individuelle Partikularität. Zwei Bewegungen sind deshalb genauer zu untersuchen. Auf der einen Seite steht das auf Formalität und Allgemeingültigkeit ausgerichtete Denken, welches von der Empirie abstrahiert und inhaltsleer nach Prinzipien sucht.³⁵ Das Prozedere und das

 Friedrich Schleiermacher [1822], Vorlesungen über die Dialektik, KGA II/10,1, hg.v. Andreas Arndt, Berlin / New York 2002, 407.  Das „reine Denken“ unterscheidet Schleiermacher vom „geschäftlichen“ einerseits und vom „künstlerischen“ andererseits: „Geschäftliches Denken“ ist durch Instrumentalisierung und Zweckrationalisierung gekennzeichnet, „künstlerisches“ durch Kreativität, Individualität und Zwecklosigkeit. Das reine unterscheidet sich vom geschäftlichen und künstlerischen Denken, da es weder in der Erreichung eines bestimmten Zweckes noch im „Moment des Wohlgefallens“ aufgeht (Schleiermacher 2002, Dialektik, 395 [Anm. 31]). Vielmehr ist das reine Denken auf sich selbst und die dauerhaften Züge des Wissens ausgerichtet.  Schleiermacher 2002, Dialektik, 59 (Anm. 31).  Friedrich Schleiermacher, Ethik 1812/13, hg.v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg 21990, 13, §65.  Andreas Arndt, „Zur Vorgeschichte des Schleiermacherschen Begriffs von Dialektik“, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1991, 313 – 333, hier 327.

Kritik und Verstehen

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Verfahren stehen dabei im Mittelpunkt.³⁶ Auf der anderen Seite stehen die Kunst des Einfühlens, Sondierens und Kritischen, die sich auf die Inhalte einlassen und auf das Spezifische ausgerichtet sind. Auch die formale Hermeneutik enthält divinatorische und kombinatorische wie auch psychologische und grammatische Aspekte. Ist die Divination als Anschauung der Eigentümlichkeit nicht allgemein vermittelbar, bietet die Komparation eine diskursive Kontrolle, deren Kritik auch auf die Divination zurückwirkt.³⁷ Verdeutlicht die grammatische Interpretation, dass der Einzelne in seinem Denken durch die Sprache geprägt wird, zeigt die psychologische Interpretation, dass die Sprache ein Mittel ist, mit der einzelne Menschen fähig werden, Gedanken nachvollziehbar mitzuteilen.³⁸ Das Ergebnis ist keine harmonistische Symphilosophie.³⁹ Vielmehr ist daran zu erinnern, dass gemeinsames Denken in der Auseinandersetzung und im Streit zum Tragen kommt.

3 Ausblick Um die Hermeneutik Schleiermachers im Umgang mit der Schrift genau erforschen zu können, müssten weitere exegetische Arbeiten untersucht werden. Zudem müsste seine homiletische und exegetische Praxis genauer differenziert und in ein Verhältnis zur Glaubenslehre gesetzt werden. Zum Schluss erfolgen hier einige Bemerkungen, die diese Differenzierung noch nicht hinreichend mit einbezieht. Jörg Lauster stellt die Anfragen an das Schriftprinzip als eine „fundamentaltheologische Dauerkrise“ dar, welche die Theologie weiterhin herausfordert.⁴⁰ Schleiermacher hat diese Krise unter anderen initiiert und zugleich Ansätze zu ihrer Bearbeitung geboten.⁴¹ Aufmerksamkeit für den Verstehensprozess steht im Mittel Harald Schnur, „Die Rationalität der Wissensbildung. Schleiermachers Dialektik als Verfahren der Moderation“, in: Dialogische Wissenschaft. Perspektiven der Philosophie Schleiermachers, hg.v. Dieter Burdorf / Reinhold Schmücker, Paderborn 1998, 137– 146, hier 141– 142.  Friedrich Schleiermacher [1819], Hermeneutik, KGA II/4, hg.v.Wolfgang Virmond, Berlin / New York 2002, 117– 158, bes. 120 – 173. Vgl. Sarah Schmidt, Konstruktion des Endlichen. Schleiermachers Philosophie der Wechselwirkung, Berlin 2005, 227– 228.  Schleiermacher 2005 (Anm. 37), 120 – 122.  Vgl. Toni Tholen, „Erfahrung des Dialogs. Zu einer Ethik der Interpretation“, in: Dialogische Wissenschaft. Perspektiven der Philosophie Schleiermachers, hg.v. Dieter Burdorf / Reinhold Schmücker, Paderborn 1998, 107– 124, der in diesem Zusammenhang Widersprüchlichkeiten bei Schleiermacher aufspürt.  Jörg Lauster, „Schriftauslegung als Erfahrungserhellung“, in: Schriftauslegung, hg.v. Friedericke Nüssel, Tübingen 2014, 179 – 206, hier 180.  Dass Schleiermacher selbst zu aus heutiger Sicht einseitigen Ergebnissen kommt, müsste dabei berücksichtigt werden. In der Studie von Pierre-Héli Monot, Mensch als Methode. Allgemeine Hermeneutik und partielle Demokratie. Friedrich Schleiermacher, Ralph Waldo Emerson, Frederick Douglass, Heidelberg, 2016, 1– 14.103 – 31.164– 178, wird hervorgehoben, dass Schleiermachers Hermeneutik eine Abgrenzung und Abwertung anderer, vor allem jüdischer Tradition impliziert.

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punkt dieser Lösung – ein Prozess, der sich nicht unabhängig von der Kritik entfalten lässt. Der Umgang mit der biblischen Tradition ist vielmehr auf kritische Vergegenwärtigung angewiesen, die Differenz anerkennt und nicht vorschnell übergeht. Dabei ist die Reflexivität als Möglichkeitsbedingung für Kritik und Verstehen hervorzuheben: Reflexivität als eine sich-selbst-wahrnehmende Praxis. Schleiermacher verbindet diese mit dem Begriff Geist, der als inspirierende Kraft für Produktivität verantwortlich ist und die reflexive Vergewisserung der eigenen Identität ermöglicht. Und diese Vergewisserung ist im Falle des Heiligen Geistes eine relational ausgerichtete Verstehensleistung. Der göttliche Geist, so lässt sich der Gedankengang zusammenfassen, steht nach Schleiermacher für das Erlernen kommunikativer und anerkennender Beziehungsfähigkeit. Der Umgang mit den biblischen Schriften ist somit ein Teil der Vergewisserung, die den kontinuierlichen Zirkel von individueller Auslegung und identischer Sprachbildung unterstützt. Das Erlernen einer angemessenen Schrifthermeneutik hat darüber hinaus Konsequenzen für das Verstehen ethischer Bezüge. Zwar werden wohl das Verstehen einer Schrift und das Verstehen eines Menschen je eigene Kompetenzen erfordern. Aber die Auseinandersetzung mit Differenz erfordert eine Schulung in der kritischen und reflexiven Erfassung von dem Eigentümlichen und dem Analogen.⁴² Für die vielfältigen Verstehensleistungen, die Menschen im Alltag bewältigen müssen, lässt sich der Umgang mit der Schrift vielleicht als exemplarische Praxis der vorsichtigen Bewältigung von Differenz weiter studieren. Oftmals steht die Partikularität anderer Überzeugungen im Weg einer friedlichen Verständigung. Die Bearbeitung von Differenz ist auf Einfühlungsvermögen und den Sinn für Strukturen angewiesen. Diese lassen sich nur aufgrund von Empathie einerseits und Wissen andererseits ausbilden. Individuelles Erfassen und identisches Wissen sind in ihrer Wechselbeziehung konstitutiv für die humane Auseinandersetzung in plural verfassten Gesellschaften, in der die intelligente und humane Bewältigung von Differenz überlebenswichtig ist. Das Verstehen von und das Arbeiten an Schriften, die für die christliche Religionsgemeinschaft von grundlegender Bedeutung sind, können einen Raum des Lernens dieser komplexen Vollzüge eröffnen. Dann ist weniger von einer Krise des Schriftprinzips zu reden, sondern mehr von einem Erforschen der mit der Schrift verbundenen Möglichkeitshorizonte.

 Eine Theorie des Verstehens ist insofern immer ethisch, als sie eine Kulturleistung ist, die das Gut des Miteinanders bewertet und soziale Fähigkeiten und Pflichten voraussetzt. Vgl. zur Ethik des Übersetzens bei Kyoung-Jin Lee, Die deutsche Romantik und das Ethische der Übersetzung. Die literarischen Übersetzungsdiskurse Herders, Goethes, Schleiermachers, Novalis’, der Brüder Schlegel und Benjamins, Würzburg 2014, 150 – 174, hier 172– 173.

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Kritik und Hermeneutik in der Kurzen Darstellung Die Aufgabe der Kritik in ihrem ganzen Umfange ist eine unendliche.¹

Wenn auch die Durchführung der Kritik von Friedrich Schleiermacher als unendliche Aufgabe verstanden wird, so gilt das hoffentlich nicht für die Klärung seiner Verwendung des Kritikbegriffs. Ich versuche im Folgenden die unterschiedlichen Funktionen der Kritik exemplarisch anhand seiner theologischen Enzyklopädie herauszustellen. Dazu referiere ich zunächst die von Gunter Scholtz vorgeschlagene Typisierung unterschiedlicher Kritikbegriffe bei Schleiermacher, um diese Typen dann zu problematisieren und im Blick auf die Quelle zu überprüfen. In Ethik und Hermeneutik benennt Scholtz folgende drei Kritikbegriffe: Erstens die höhere Kritik, die für ihn als das „Verstehen und Nachvollziehen von individuellen Werken“ mit der Hermeneutik zusammenfällt.² Zweitens die Kritik der kritischen Disziplinen, in der es gelte, „die geschichtlichen Phänomene sub specie der ethischen Güterlehre zu betrachten“.³ Einen dritten Kritikbegriff macht Scholtz im Titel der Vorlesungen Hermeneutik und Kritik aus. Diese letztgenannte Disziplin der Kritik erhalte nun noch einmal eine innere Dreiteilung in „historische, philologische und ’doctrinale’ Kritik.“⁴ Bei dieser Typisierung irritiert die Verhältnisbestimmung von Kritik und Hermeneutik. Einerseits sollen Kritik und Hermeneutik zusammenfallen und andererseits nebeneinander stehen? Für eine Klärung dieses Zusammenhangs bietet sich die Kurze Darstellung an, von der aus sich, wie ich im Folgenden zeigen will, unterschiedliche Kritikbegriffe und ihr Verhältnis zueinander bestimmen lassen.

1 Kritik in der philosophischen Theologie In der Einleitung zur philosophischen Theologie (§32) steht das kritische Verfahren der Religionsphilosophie zwischen einem rein wissenschaftlichen und rein empirischen Verfahren: „Da das eigenthümliche Wesen des Christenthums sich eben so wenig rein wissenschaftlich construiren läßt, als es bloß empirisch aufgefaßt werden kann: so läßt es sich nur kritisch bestimmen durch Gegeneinanderhalten dessen, was im

 Friedrich Schleiermacher [1811/1830], Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, KGA I/6, hg.v. Dirk Schmid, Berlin / New York 1998, 243 – 446, hier 278.  Gunter Scholtz, Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt a.M. 1995, 118.  Scholtz 1995, 118 (Anm. 2).  Scholtz 1995, 119 (Anm. 2). https://doi.org/10.1515/9783110569520-047

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Christenthum geschichtlich gegeben ist, und der Gegensäze, vermöge deren fromme Gemeinschaften können verschieden sein.“⁵ Das hier zur Anwendung kommende kritische Verfahren ist dem in Schleiermachers Ethik entwickelten Wissenschaftssystem entlehnt, in dem die kritischen Disziplinen bekanntlich zwischen Empirie und Spekulation vermitteln. Alles in der Ethik Construirte enthält die Möglichkeit einer unendlichen Menge von Erscheinungen. Außer dem empirischen Auffassen der lezteren entsteht noch das Bedürfniß einer nähern Verbindung des Empirischen mit der speculativen Darstellung, nemlich zu beurtheilen, wie sich die einzelnen Erscheinungen als Darstellungen der Idee sowol dem Grade als der eigenthümlichen Beschränktheit nach verhalten. Dies ist das Wesen der Kritik, und es giebt daher einen Cyclus kritischer Disciplinen, welche sich an die Ethik anschließen.⁶

Im Rahmen der philosophischen Theologie ist die spekulative Idee, die durch ein kritisches Verfahren gewonnen werden soll, das Wesen des Christentums. Der empirische Gegenstand dieser kritischen Methode ist die Geschichte. Die Geschichte des Christentums kann als solche für Schleiermacher erst im Rahmen der historischen Theologie ausgewiesen werden, wenn die philosophische Theologie das Wesen des Christentums aus seiner Geschichte bestimmt hat. Die philosophische Theologie ist „ihrem wissenschaftlichen Gehalt nach Kritik, und sie gehört der Natur ihres Gegenstandes nach der geschichtskundlichen Kritik an.“⁷ Dieser Kritikbegriff in der philosophischen Theologie lässt sich mit der von Scholtz herausgearbeiteten zweiten Begriffsverwendung, der Kritik als kritischer Disziplin, identifizieren. Wie steht es nun aber um die anderen beiden von Scholtz ausgemachten Typen, der vermeintlich mit der Hermeneutik identischen höheren Kritik und dem in historische, philologische und doctrinale Kritik dreigeteilten Begriff der Vorlesungen zu Hermeneutik und Kritik?

2 Kritik in der historischen Theologie Die historische Theologie ist als Ganze, insofern sie ein Teilgebiet der Geschichte umfasst, hinsichtlich ihrer Methode an die historische Kritik gewiesen: „Historische Kritik ist wie für das gesammte Gebiet der Geschichtskunde, so auch für die historische Theologie das allgemeine und unentbehrliche Organon.“⁸ Historische Kritik steht für das Verfahren „sich, sowol was die Kentniß des Gesamtverlaufts als auch was die des vorliegenden Momentes betrifft, seine geschichtliche Anschauung selbst zu bil-

 Schleiermacher 1998, 338. 338 (Anm. 1). Vgl. Schleiermacher 1998, 258. 348 [§59] (Anm. 1).  Friedrich Schleiermacher, Ethik 1812/13, Schleiermachers Werke, Bd. 2, hg.v. Otto Braun / Johannes Bauer, Aalen 1981 (Nachdruck Leipzig 21927), 252.  Schleiermacher 1998, 340 [§37] (Anm. 1).  Schleiermacher 1998, 364 [§102] (Anm. 1).Vgl. Schleiermacher 1998, 271. 296–297. 392 [§190] (Anm. 1).

Kritik und Hermeneutik in der Kurzen Darstellung

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den“⁹ und dazu aus immer notwendig perspektivischen Geschichtsdarstellungen „das Materiale für die eigene Bearbeitung möglichst rein auszuscheiden.“¹⁰ Damit liegt der Unterschied der historischen Kritik zur Kritik im kritischen Verfahren weder im Material der Kritik, das in beiden Fällen die Geschichte ist, noch in der Methode des konstruktiven Sondierens, sondern im Ziel des Verfahrens. Während das kritische Verfahren der philosophischen Theologie auf eine Wesensbestimmung des Christentums aus ist, geht es bei der historischen Kritik um eine Verbindung von Ereignissen im geschichtlichen Zusammenhang anhand der Auswahl der Quellen und der Prüfung der Qualität der Überlieferung. Wie auch das kritische Verfahren muss sich jeder Theologe die historische Kritik selbst aneignen: Jeder muß aber auch nur wenigstens an einem kleinen Theil der Geschichte sich im eigenen Aufsuchen und Gebrauch der Quellen üben. Sei es nun, daß er nur beim Studium genau und beharrlich auf die Quellen zurückkgehe, oder daß er selbständig aus den Quellen zusammenseze. Sonst möchte einem schwerlich auch nur so viel historische Kritik zu Gebote stehen, als zum richtigen Gebrauch abweichender Darstellungen erfordert wird.¹¹

Ist dieses Verständnis von historischer Kritik dem dritten von Scholtz‘ Typen zuzuordnen, der den Kritikbegriff der Vorlesungen Schleiermachers zu Hermeneutik und Kritik mit einer Binnendifferenzierung zwischen historischer, philologischer und doctrinaler Kritik annimmt? Genauer betrachtet scheint mir hier gar kein eigener Typus von Kritik beschrieben. Der dritte Typus von Scholtz wirkt eher wie eine Art Sammelstelle, von dem sich Scholtz dann ausschließlich dem Begriff der doctrinalen Kritik zuwendet, auf die später noch zurückzukommen ist. Scholtz hatte die Einleitung der Kritikvorlesung vor Augen. Hier findet sich eine Gegenüberstellung von philologischer und historischer Kritik. Letztere ist wie folgt umrissen: „Die Aufgabe der historischen Kritik ist, ihre Einheit so gut als möglich zusammengefaßt, die, aus Relationen die Thatsachen zu construiren, also zu bestimmen, wie sich die Relation zur Thatsache verhalte.“¹² Die historische Kritik ist für Schleiermacher ein Ineinander von zwei Verfahrensweisen. Die Konstruktion des Geschichtszusammenhangs aus den Einzelüberlieferungen und die Prüfung der Überlieferungen vor dem Hintergrund des konstruierten Zusammenhangs. Beide Methoden sind aufs Engste miteinander verkoppelt. Wie verhalten sich nun aber historische und philologische Kritik zueinander? Und wo kommt dabei die Hermeneutik ins Spiel?

 Schleiermacher 1998, 364 [§100] (Anm. 1).  Schleiermacher 1998, 364 [§101] (Anm. 1).  Schleiermacher 1998, 392 [§190 mit Erklärung] (Anm. 1). Vgl. Schleiermacher 1998, 286 (Anm. 1).  Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hg.v. Friedrich Lücke, Berlin 1838, 266. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, KGA II/4, hg.v. Wolfgang Virmond, Berlin / New York 2012, 1005.

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3 Kritik in der exegetischen Theologie Ich gehe noch einmal zurück in die Einleitung der Kritikvorlesung, in der das Gegenüber von historischer und philologischer Kritik aufgemacht wurde, und wende mich nun der philologischen Kritik zu, die für Schleiermacher herkömmlicherweise in niedere und höhere Kritik unterschieden wird.¹³ Diese Typen der Kritik werden in der Kurzen Darstellung thematisiert und ins Verhältnis zur Hermeneutik gesetzt. Die Ausdrücke finden sich in den Paragraphen zur exegetischen Theologie. Hier gilt es mithin auch Scholtz‘ ersten Typus der Kritik zu überprüfen, bei dem höhere Kritik und Hermeneutik zusammenfallen sollen. Innerhalb der exegetischen Theologie behandeln §§103 – 115 die höhere, §§116 – 124 die niedere Kritik. Die Hermeneutik wird im Anschluss daran in den §§132– 139 besprochen. Bereits anhand der Gliederung wird deutlich, dass höhere Kritik und Hermeneutik nicht zusammenfallen. Die höhere Kritik soll feststellen, „ob nicht im Kanon befindliches genau genommen unkanonisch, und ob nicht außer demselben kanonisches unerkannt vorhanden sei.“¹⁴ Die niedere Kritik prüft den Überlieferungswert der Quelle: „Die definitive Aufgabe der niederen Kritik [besteht darin] die ursprüngliche Schreibung überall möglichst genau auszumitteln.“¹⁵ Das Verhältnis von Hermeneutik und Kritik ist in der Erklärung zu §138 zusammen mit dem Verhältnis zur Sprachkunde als gegenseitige Wechselbezogenheit charakterisiert: „Die Ausübung [der Hermeneutik] ist zwar allerdings durch Sprachkunde und Kritik bedingt; aber die Grundsäze [der Hermeneutik] selbst haben den entschiedensten Einfluß, sowol auf die Operationen der Kritik, als auch auf die feineren Wahrnehmungen in der Sprachkunde.“¹⁶ Die Hermeneutik ist das Ziel der exegetischen Theologie, aber nicht ohne ihre Voraussetzungen in Sprachkunde und Kritik zu bewältigen, die ihrerseits wiederum von der Hermeneutik beeinflusst sind. Das Verhältnis von Kritik und Hermeneutik in der Kurzen Darstellung lässt sich daher weder durch Identifikation mit einem Aspekt der Kritik, noch durch ein einseitiges Bedingungsverhältnis rekonstruieren. Schleiermacher geht von einem Wechselverhältnis zwischen höherer und niederer philologischer Kritik und dem kunstgemäßen Verstehen aus. Wie auch in den Vorlesungen zur Kritik ist auch in der Kurzen Darstellung die höhere und niedere philologische Kritik im Zusammenhang mit der Hermeneutik als ein Unterfall der historischen Kritik behandelt. Wie steht es aber um den ebenfalls in den Kritikvorlesungen genannten Typus doctrinaler Kritik?

 Vgl. auch Friedrich Schleiermacher, Ueber Begriff und Eintheilung der philologischen Kritik, KGA I/ 11, hg.v. Martin Rössler, Berlin / New York 2002, 645 – 656.  Schleiermacher 1998, 386 [§111] (Anm. 1). Vgl. Schleiermacher 1998, 273 (Anm.1).  Schleiermacher 1998, 370 [§118] (Anm. 1). Vgl. Schleiermacher 1998, 277 (Anm.1).  Schleiermacher 1998, 376 – 377 [Erklärung zu §138] (Anm. 1).

Kritik und Hermeneutik in der Kurzen Darstellung

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4 Kritik der überlieferten Theologie In §18 der Einleitung der Kurzen Darstellung gibt Schleiermacher eine Übersicht über die üblicherweise im Rahmen von theologischen Enzyklopädien verhandelten Themen. Er nennt einerseits den äußeren Zusammenhang der theologischen Teildisziplinen und andererseits den inneren Aufbau derselben, sowie die Übersicht der jeweils vorhandenen Hilfsmittel. „Endlich Uebung und Sicherheit in der Anwendung der nothwendigen Vorsichtsmaaßregeln, um dasjenige aufs beste und richtigste zu benutzen, was Andere geleistet haben.“¹⁷ In der Erklärung zum Paragraphen heißt es, dies „ist ein Theil der kritischen Kunst, welcher nicht als Disciplin ausgearbeitet ist, und über welchen sich überhaupt nur wenige Regeln mittheilen lassen, so daß er fast nur durch natürliche Anlage und Uebung erworben werden kann.“¹⁸ Mir scheint, dass es an dieser Stelle um einen allgemeineren Begriff von Kritik geht. Was für eine Art Kritik hier gemeint ist, wird im folgenden §19 als Reinigung und Ergänzung der Leistungen einzelner Disziplinen bestimmt: „Jeder, der sich eine einzelne Disciplin in ihrer Vollständigkeit aneignen will, muß sich die Reinigung und Ergänzung dessen, was in ihr schon geleistet ist, zum Ziel sezen.“¹⁹ Die Theologie darf für Schleiermacher nicht nur aus nebeneinanderstehenden Disziplinen bestehen, in denen ohne Prüfung die Ergebnisse der Arbeiten anderer übernommen werden können. Aus der Zusammenschau der Enzyklopädie ergeben sich kritische Einwände gegenüber den einzelnen Teilbereichen und überkommenen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Das gilt zunächst einmal dort, wo die Disziplinen ihre jeweilige Methodenkompetenz überschreiten, aber auch, wo ihre Ergebnisse einer je eigens vorzunehmenden Prüfung nicht standhalten. Mit dem Ausdruck der Kritikvorlesung lässt sich der allgemeinste Schleiermacher‘sche Kritiktypus als doctrinale Kritik fassen: „Die eigentliche Tendenz [der doctrinalen Kritik] ist immer, einzelne Produktionen mit ihrer Idee zu vergleichen, daß ist das Gericht, aber auch Einzelnes in Beziehung auf anderes Einzelnes zu betrachten, und das ist das Vergleichende. Aber beides geht wieder in Eins zusammen, bildet eine Doctrin.“²⁰ Gericht und Vergleich oder – mit der Kurzen Darstellung gesprochen – Reinigung und Ergänzung durch Vergleich ist die Aufgabe der doctrinalen Kritik, die sich auch in allen anderen Formen der Kritik wiederfindet, weshalb Schleiermacher ihr die historische und philologische Kritik unterordnen kann. Wie verhält sich aber die doctrinale Kritik zum kritischen Verfahren, das der philosophischen Theologie zugrunde liegt? Wenn man der Kritikvorlesung folgt, relativiert sich die Unterscheidung von doctrinaler Kritik und kritischem Verfahren. Die doctrinale Kritik „bezieht sich auf das Verhältniß des als Einzelnen Bestimmten zum Begriff. Hier liegen die

   

Schleiermacher 1998, 332 (Anm. 1). Schleiermacher 1998, 332– 333 (Anm. 1). Vgl. Schleiermacher 1998, 333 (Anm. 1). Schleiermacher 1838, 266 (Anm. 12).

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Florian Priesemuth / Halle (Saale)

letzten Gründe auf dem dialektischen und speculativen Gebiete.“²¹ Genau in dieser Bestimmung eines Begriffs, der Bestimmung des Wesens des Christentums, bestand die Aufgabe des kritischen Verfahrens in der philosophischen Theologie.

Fazit Zusammenfassend finden sich drei Kritikbegriffe mit ihren jeweiligen Anwendungsgebieten in der Kurzen Darstellung. Unter Bezugnahme auf Ausdrücke der Kritikvorlesungen lassen sie sich als doctrinale, historische und philologische Kritik identifizieren und in ihrem Verhältnis zueinander bestimmen. In der philosophischen Theologie dient die Kritik der Geschichte des Christentums dem Ziel der Konstruktion seines Wesens. Das ist eine Anwendung des kritischen Verfahrens, das Schleiermacher in seiner Ethik entwickelt. Mit Blick auf die Kritikvorlesung kann dieses Verfahren auch als doctrinale Kritik bezeichnet werden. Zweitens hat die Kritik der Kirchengeschichte in der historischen Theologie das Ziel einer kohärenten Darstellung von den urchristlichen Anfängen bis hin zur gegenwärtigen Gestalt des Christentums. Dies stellt eine Anwendung der historische Kritik dar und ist der doctrinalen subordiniert. Die philologische Kritik hat sich drittens als ein Unterfall der historischen Kritik erwiesen. Auf der Ebene der exegetischen Theologie ließ sie sich zusammen mit der Unterscheidung von höherer und niederer Kritik nachvollziehen. Hier war auch der Ort der Verhältnisbestimmung von Kritik und Hermeneutik. Scholtz’ Typisierung lässt sich also mit Blick auf die Kurze Darstellung vereinfachen, wenn man die philologische, historische und doctrinale Kritk, die er als dritten Typus zusammengenommen hatte, zur Grundlage der Neusortierung eines in sich gestuften allgemeiner werdenden Kritikbegriffs macht. Von hier aus lässt sich dann auch das Verhältnis von Kritik und Hermeneutik präziser bestimmen. Hermeneutik hat für Schleiermacher ihren Ort als Kunstlehre an der Seite der philologischen Kritik. Die Kritik in all ihren Formen hat, wie im Durchgang durch die Kurze Darstellung deutlich geworden ist, für Schleiermacher zentrale Funktionen für die Theologie. Die damit verbundenen unendlichen Aufgaben scheinen mir auch heute keineswegs abgeschlossen.

 Schleiermacher 1838, 275 (Anm. 12).Vgl. Schleiermacher 2012, 1004 (Anm. 12). Ausgehend von dem hier angedeuteten Kritikbegriff der Dialektik haben Andreas Arndt, „Dialektik und Hermeneutik“, in: ders., Schleiermacher als Philosoph, Berlin / Boston 2013, 316 – 323 und Sarah Schmidt, Die Konstruktion des Endlichen. Schleiermachers Philosophie der Wechselwirkung, Berlin / New York 2015 die Typisierung von Scholtz kritisiert.

Omar Brino / Chieti (Italien)

Schleiermacher und die italienische Religionsphilosophie des 20. Jahrhunderts Dem Andenken von Giovanni Moretto (1939 – 2006)

Der folgende Beitrag gliedert sich in drei Teile. Zuerst werden wir betrachten, wie das erste Interesse für die Religionsphilosophie Schleiermachers in Italien an die heftigen Diskussionen um den katholischen Modernismus zu Beginn des vorigen Jahrhunderts anknüpft. Sodann werden wir in einem zweiten Teil verfolgen, wie die Stellungnahme Schleiermachers zur Religion gleichzeitig von den „immanenten“ Idealisten Benedetto Croce und Giovanni Gentile im Rahmen ihrer unterschiedlichen Reformen des Hegelianismus diskutiert wurde. Sowohl die anti-modernistischen Neu-Thomisten als auch – wenn auch aus einer entgegengesetzten Perspektive – die „Neu-Hegelianer“ Croce und Gentile greifen bei Schleiermacher eine Philosophie an, die Croce mit den Worten von Schleiermachers Dialektik selbst „kritisch“ nennt, d. h. eine Philosophie, in der zwei in Wechselwirkung befindliche, jedoch selbständige Bereiche – die subjektiven religiösen Überzeugungen einerseits und die wissenschaftliche Reflexion andererseits – nebeneinander bestehen bleiben, ohne sich in einem absoluten Wissen auflösen zu lassen. Das gesteigerte Interesse für eine solche „kritische“ Religionsphilosophie Schleiermachers im Italien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dem der dritte Abschnitt des Vortrages gewidmet sein wird, fällt folglich mit der Krise eines strengen Anti-Modernismus auf der einen Seite sowie derjenigen eines strengen Neuhegelianismus auf der anderen Seite zusammen. Aus genau diesem Grund kommt der Rezeptionsgeschichte der Religionsphilosophie Schleiermachers in Italien meines Erachtens eine Bedeutung zu, die weit über den engeren nationalen Bereich hinausreicht.¹

 Das Ziel der folgenden Betrachtungen ist es, nicht so sehr nachzuzeichnen, wie italienische Studien zur Schleiermacher-Forschung des 20. Jahrhunderts beigetragen haben, sondern vielmehr zu verfolgen, wie diese Untersuchungen zu Schleiermacher die italienischen religionsphilosophischen Diskussionen begleitetet und stets neu angeregt haben. Zur italienischen Schleiermacher-Forschung in Allgemeinem vgl. den noch immer nützlichen Artikel von Mauro Boncompagni, „Aspetti della ricezione schleiermacheriana in Italia durante il Novecento“, Giornale di metafisica N.F. 5 (1983), 111– 148 sowie dann Claudio Cesa, „Attualità di Schleiermacher“, Humanitas 65 (2010), 619 – 625; Omar Brino, Introduzione a Schleiermacher, Roma / Bari 2010, 130 – 137; Emanuela Giacca, „Schleiermacher-bullettin critique. Regard sur les études italiennes“, Archives de Philosophie 77 (2014), 321– 325. https://doi.org/10.1515/9783110569520-048

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Omar Brino / Chieti (Italien)

1 Das erste italienische Interesse an Schleiermachers Religionsphilosophie zur Zeit der Diskussionen um den katholischen Modernismus So ermattete Schleiermacher im religiösen Gefühl; so zog er viele albern verweichlichte Seelen mit sich, die trunken von den hohen Gedanken an Geistigkeit und Liebe waren (abgesehen davon, dass Erstere am Verschwinden war und Letztere immer mehr in ihrer Sinnlichkeit erregt wurde). Auf diese Weise behaupteten Meister und Schüler, dass die Religion eine Sache des Gefühls sei und nichts anderes. Zur selben Schlussfolgerung gelangt Blondel, auch wenn er seine Lehre mit größerer Kunstfertigkeit und mehr Gedankenschärfe darlegt, damit aber auch weiter die Illusion nährt. Was aber bleibt unter der Voraussetzung der Verleugnung der äußeren Zeichen, d. h. der historischen und objektiven Beweise des Christentums, worin wir die Sicherheit haben, dass sich Gott durch nur ihm mögliche Wunder offenbart und der Religion Christi, die lebendig und wahr nur in der Katholischen Kirche ist, sein Siegel aufgeprägt hat? Es bleibt, dass sich die edlen Geister, die das Christentum nur als den höchsten von der Menschheit erreichbaren Traum betrachten, an der Erhabenheit des von uns Gesagten und Gemachten erfreuen: Das alles aber ist nichts.²

Es handelt sich um ein Zitat aus dem umfangreichen Buch des Jesuiten Guido Matiussi, das den aussagekräftigen Titel Il veleno kantiano – Das kantische Gift – trägt und das zuerst von 1902 bis 1905 in Zeitschriften und sodann in einer ersten Auflage 1907 in Buchform veröffentlicht wurde. Matiussi schließt Schleiermacher darin direkt mit dem in Kreisen der katholischen Modernisten äußerst beliebten Philosophen Maurice Blondel zusammen und bemängelt, dass bei beiden eine unzulässige subjektivistische Abschwächung der absoluten katholischen Wahrheit zu finden sei, die jedoch ontologisch als solche affirmiert und erst sekundär in ihrer Beziehung zur Frömmigkeit des Gläubigen gesehen werden müsse. Eine wissenschaftliche, historisch-kritische Forschung durfte im Besonderen nicht den ontologischen Wert der „äußeren Zeichen“, wie Wunder oder Dogmen, zugunsten ihrer Glaubensbedeutung, gefährden.³ Die thomistischen Positionen, wie diese von Matiussi, wurden in der anti-modernistischen Enzyklika Pascendi dominici gregis vom 8. September 1907 nahezu vollständig von der päpstlichen Autorität abgesegnet.⁴ Angesichts eines solchen Integralismus der Enzyklika wurden nicht wenige katholische Denker in Schwierigkeit gebracht. Als ein typisches Beispiel solcher Schwierigkeiten kann Francesco De Sarlo, seit 1903 Professor für Philosophie und Psychologie an der Universität Florenz, betrachtet werden. Als Psychiater kam er von  Guido Matiussi, Il veleno kantiano, Roma 21914 [1907], 458.  Zu den Beziehungen zwischen den katholischen Modernisten und Schleiermacher vgl. Giovanni Moretto, „Troeltsch e il modernismo“, in: Ders., Sulla traccia del religioso, Napoli 1987, 9 – 58; Giovanni Moretto, Destino dell’uomo e Corpo mistico. Blondel, de Lubac e il Concilio Vaticano II, Brescia 1994.  Zur Auffassung der Enzyklika und ihrer Nähe zu den integralen Thomisten vgl. Claus Arnold, „Absage an die Moderne? Papst Pius X und die Entstehung der Enzyklika Pascendi (1907)“, Theologie und Philosophie 80 (2005), 201– 224.

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der Medizin her, und nachdem er sich von den Mängeln eines ausschließlich naturalistischen und positivistischen Verfahrens für das Verstehen der moralischen und inneren Tatsachen überzeugt hatte, nahm er eine philosophische Position ein, die eine Vermittlung zwischen einem wissenschaftlich untersuchbaren phänomenalen Weltbewusstsein einerseits und einer notwendigen, aber davon geschiedenen metaphysischen Dimension als Angelegenheit des Glaubens andererseits anstrebte. In dieser Richtung versuchte er auf die kantisch-friesische Schule zurückgehende theoretische Elemente mit der katholischen metaphysischen Tradition zu vermitteln.⁵ Gerade in der von De Sarlo in Florenz herausgegebenen Zeitschrift La cultura filosofica (Die philosophische Kultur) erscheint im Jahr 1910 ein langer Aufsatz mit dem Titel Il concetto di religione in Schleiermacher (Der Religionsbegriff bei Schleiermacher): die erste wichtige Schrift zur Religionsphilosophie Schleiermachers in Italien. Der Autor ist ein junger und getreuer Schüler von De Sarlo, der später ebenfalls an der Universität Florenz lehren sollte, Eustachio Paolo Lamanna.⁶ Schleiermacher wird von Lamanna insbesondere dafür gewürdigt, dass er sich im Rahmen einer „wesentlich kritizistischen Erkenntnislehre“⁷ bewegt. Ferner habe Schleiermacher sachgerecht „sowohl dem philosophischen und theologischen Rationalismus als auch dem Moralismus Kants und Fichtes ein System entgegengesetzt, in dem der Religion ihre volle Autonomie im geistlichen Leben des Menschen zugesprochen wird“; und letztlich habe Schleiermacher ganz richtig „im Gefühl die innerlichste und tiefste Wurzel der Frömmigkeit“⁸ ausgemacht. Die Religionsphilosophie Schleiermachers ist nach Lamanna jedoch mängelbehaftet, insofern der transzendente Referent des religiösen Gefühls bei ihm grundsätzlich unbestimmt bleibe. Schleiermacher bleibe ausschließlich „subjektiv“. Nach Lamanna muss „Gott in jedem menschlichen Bewusstsein gegenwärtig sein“, jedoch in einer „von ihm unterschiedenen Weise“, während Schleiermacher „ein Identitätsprinzip von Ich und dem Absoluten im Bewusstsein“⁹ formuliere. Gleicherweise bleibe das Gefühl in der Einzelseele bei Schleiermacher etwas Abstraktes und Unzusammenhängendes, weil eine kohärente Theorie der Seele als einheitliche Substanz fehle, die den Phänomenen als Transzendentes ihnen gegenüber Einheit und Zusammenhang verleihen könnte.

 Zu De Sarlo und seiner Schule vgl. Maria Antonia Roncadore, Francesco De Sarlo. Dalla psicologia alla filosofia, Milano 2011. Vgl. auch: Omar Brino, „L’esperienza religiosa nella crisi modernistica“, Hermeneutica N.F. 24 (2017), 125 – 144.  Vgl. Eustachio Paolo Lamanna, „Il concetto di religione in Schleiermacher“, La cultura filosofica 3 (1910), 295 – 315.363 – 385.523 – 538. Vgl. auch Eustachio Paolo Lamanna, La religione nella vita dello spirito, Firenze 1913. Zu Lamanna, später ein bekannter Philosophiehistoriker und Moralphilosoph, vgl. Pietro Piovani: Sulla prospettiva filosofica di E. Paolo Lamanna, in: Ders., Indagini di storia della filosofia. Incontri e confronti. Napoli 2006, 475 – 488.  Lamanna 1910, 297 (Anm. 6).  Lamanna 1910, 538. (Anm. 6).  Lamanna 1910, 533. (Anm. 6).

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Abgesehen von der Frage, ob diese Schleiermacher-Auslegung nun begründet oder unbegründet ist,¹⁰ treten in ihr doch die religionsphilosophischen Absichten Lamannas deutlich zutage. Er versuchte auf der einen Seite, das Gefühl als Bereich der selbständigen religiösen Erfahrung aufzuwerten und dieses Gefühl auf der anderen Seite einer notwendigen rationalen Bearbeitung zu unterwerfen, die es wieder in eine vollendete ontologische Erkenntnis eingliedern könnte. Die von der Enzyklika Pascendi und den darauf folgenden Vorschriften ausgehende harte Unterdrückung ließ jedoch kaum Raum für solche Vermittlungsversuche. In seiner 1923 gehaltenen Antrittsvorlesung zur Dogmatischen Theologie an der neugegründeten Katholischen Universität von Mailand, die sodann in der einflussreichen Rivista di filosofia neo-scolastica (Zeitschrift für neuscholastische Philosophie) veröffentlicht wurde, behauptet der Dominikaner Mariano Cordovani, dass Schleiermacher eine „Sentimentalität verteidigt, welche die echte Frömmigkeit und die Psychologie der christlichen Tugenden verfälscht“ und eine „leere Anstrengung“ bleibt, obwohl sich diese leere Anstrengung unglücklicherweise als „höchste, moderne, wissenschaftliche Kritik“ verkaufe.¹¹

2 Schleiermacher und der Religionsbegriff im immanenten Idealismus von Benedetto Croce und Giovanni Gentile Die damals im Neuthomismus verhaftete katholische Kirche schloss folglich beinahe jeden Versuch von Philosophen wie De Sarlo aus, den christlichen Glauben gegenüber der Krise des Positivismus „auf moderne Weise“ neu zu interpretieren. Gleichzeitig fanden etliche Angehörige der intellektuellen italienischen Elite im Neuhegelianismus von Benedetto Croce und Giovanni Gentile – d. h. in einer streng monistischen und immanenten Position, keiner dualistischen wie es diejenige von De Sarlo war – einen Weg, den Positivismus zu ersetzen oder zu „integrieren“. Weder Croce noch Gentile waren dabei bloße Nachahmer Hegels: Ein jeder von beiden entwickelte eine eigene Ansicht der hegelschen Inklusion der Religion in die Philosophie, und in diesen Bearbeitungen spielte auch die Auseinandersetzung mit Schleiermacher eine gewisse, jeweils unterschiedlich akzentuierte Rolle. Croce findet bei Schleiermacher eine Philosophie des Geistes, die – mehr als das bei Hegel der Fall ist – eine wertvolle Aufmerksamkeit für das Individuelle erlaubt.

 Vgl. die – sowohl für Schleiermacher als auch für Blondel gültige – Erwiderung auf Kritiken wie derjenigen von Lamanna bei Pierre Demange, „Schleiermacher et l’imputation de modernisme“, in: Internationaler Schleiermacher-Kongress Berlin 1984, Hg. v. Kurt Victor Selge, Berlin/New York, 1171– 1784.  Mariano Cordovani, „La teologia secondo il pensiero di Vincenzo Gioberti e Federico Schleiermacher“, Rivista di filosofia neo-scolastica 15 (1923), 23 – 38, hier 35 – 36.

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Das gilt sowohl für den Bereich der Erkenntnis, wo gerade die Kunst als Erkenntnis des Individuellen ihre eigene Autonomie gewinnt (wie es im lobenden Kapitel über Schleiermacher in der Ästhetik von 1902 entwickelt wird)¹², als auch für den Bereich der Praxis (in der Philosophie der Praxis von 1909 übersetzt Croce zustimmend den berühmten Passus aus den Monologen, in dem es heißt, dass „jeder Mensch auf eigene Art die Menschheit darstellen soll, in eigener Mischung ihrer Elemente“)¹³. Und gerade aufgrund dieser Aufmerksamkeit für das Individuelle nimmt Croce auf Schleiermacher auch in der dritten Auflage der Theorie und Geschichte der Historiographie wieder explizit Bezug, weil er eine würdige Beziehung zwischen Philosophie des Geistes und Philologie konzipiert habe.¹⁴ Solche Aufwertungstendenzen von Schleiermacher werden von Croce jedoch in einen allgemeinen dialektischen Zusammenhang eingerückt, in dem Hegel explizit eine weitaus größere Wirkung entfaltet. In der Logik von 1909 behauptet Croce, dass niemand unter den Zeitgenossen Hegels wie dieser „durch Kant seine volle Größe erreicht“ habe. Im Besonderem „verzichtete Schleiermacher darauf, die Einheit von Spekulativem und Empirischem, von Ethik und Physik sowie die Durchsetzung der reinen Idee des Wissen zu erreichen. An die Stelle dieses – seines Erachtens unerreichbaren – Idealen setzte er die Kritik, d. h. eine Form der Philosophie als Weltweisheit, die der Theologie und dem religiösen Gefühl Einlass gewährte“.¹⁵ Croce bezieht sich polemisch ausdrücklich auf folgenden Passus der Dialektik Schleiermachers in der Halpen-Ausgabe: „Anstatt einer Durchdringung des Spekulativen und Empirischen ist uns nur eine begleitende Beziehung des einen auf das andere möglich, oder eine wissenschaftliche Kritik. Dies ist die relative Gestalt der Weltweisheit als Kritik; aber nicht als Kritik der Vernunft an sich, sondern als Kritik ihrer Selbstdarstellung im realen Wissen.“¹⁶ Bei Schleiermacher findet Croce also ungelöste Dualismen vor, da der neapolitanische Philosoph hegelianisch ein einheitliches absoluten Wissen verteidigt, obwohl es als „Verbindung der Verschiedenen“ (nesso di distinti) von ihm eigentlich

 Vgl. Benedetto Croce, Estetica come scienza dell’espressione e della linguistica generale, Milano/ Palermo 1902, 329 – 342 sowie Paolo D’Angelo, „Croce e l’estetica romantica“, in: Per Croce. Etica Estetica Storia, hg.v. Raffaele Bruno. Napoli 1995, 153 – 205.  Benedetto Croce [1909], Filosofia della pratica. Economica ed etica, Bari 61950, 196.  Vgl. Benedetto Croce, Teoria e storia della storia della storiografia, Bari 31927, 328: „Mi piace che il Börries abbia ricordato quanto nei romantici della prima epoca era del ,Wissenschaftler’, dell’uomo della scienza; e il loro rispetto per la filologia e l’innalzamento che fecero del filologo a fratello del poeta e del filosofo (…) La concezione romantica del valore dell’individualità e dell’originalità individuale, nonostante le sue deviazioni passionali, sentimentali e sensuali, rappresenta un acquisto in perpetuo di filosofia morale, e già riceveva una profonda elaborazione speculativa dall’amico di Federico Schlegel, lo Schleiermacher“.  Benedetto Croce, Logica come scienza del concetto puro, Bari 71947 [1909], 352.  Friedrich Schleiermacher, Dialektik, hg.v. Isidor Halpern. Berlin 1903, 203 (= Ausarbeitung zur Dialektik [1814/15 mit späteren Zusätzen], KGA II/10,1, hg.v. Andreas Arndt, Berlin / New York 2002, 73 – 198, hier § 210, 139).

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unhegelianisch gedacht wird. Dagegen stellt die Dialektik nach Schleiermacher gerade die philosophische Zergliederung solcher unvermeidlichen Dualismen dar, und das Wissen hat bei ihm stets kritisch zu bleiben, d. h. es kann die Spannungen zwischen Endlichem und Unendlichem, Historischem und Spekulativem nie vollständig in einem absoluten Wissen aufheben.¹⁷ Zentral ist hierbei die Frage der Religion. Bei Schleiermacher ist das religiöse Gefühl eine selbständige und wichtige Sphäre im Leben des Geistes, gerade um die dialektischen Dualismen unmittelbar zu relativieren, während die Religion und das Gefühl bei Croce gewiss lebendige und produktive,¹⁸ jedoch keine selbständigen Momente darstellen: Sie bilden zumeist positive geistliche Inhalte, die aber schließlich entweder in künstlerische Intuition (Ästhetik), in den philosophischen Begriff (Logik) oder aber in ein nützliches oder gutes Handeln (Philosophie der Praxis) überführt werden müssen. Auf eine hegelianische Aufhebung der Religion in der Philosophie trifft man auch – wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten und unterschiedlich gelagerten Auszeichnungen – bei Gentile. Auch in diesem Fall bietet die Auseinandersetzung mit Schleiermacher hinsichtlich des Themas der Religion interessante theoretische Anregungen. In der 1919 erschienenen Rezension zu der von seiner Schülerin Cecilia Dentice d’Accadia verfassten ersten italienischen Monographie zu Schleiermacher schreibt Gentile, dass bei diesem Denker „die tiefste Wurzel der menschlichen Persönlichkeit in jenem Gefühl liegt, das für ihn Offenbarung des Unendlichen oder Vermögen der Religion ist, mit dem der Mensch mit Gott kommuniziert und sein innigstes Erkenntnisbedürfnis so befriedigt, dass er seine Eigentümlichkeit und Individualität entwickeln kann, in der seine Wirklichkeit besteht, deren Entwicklung Gegenstand und Beruf der Ethik bildet.“¹⁹ Die Religion belebt also die Ethik, indem sie einem jedem Individuum sein Gefühl der Verbindung mit dem unendlichen Geist verleiht.²⁰ Ein Jahr nach dem Erscheinen dieser Rezension werden die Beziehungen zwischen der Ethik und der Verbindung mit  Zum Unterschied zwischen dem „absoluten Historismus“ von Croce und der Auffassung der Geschichte bei Schleiermacher vgl. Fulvio Tessitore: „W. v. Humboldt e F. Schleiermacher nel giudizio di Benedetto Croce“, in: W. v. Humboldt e il dissolvimento della filosofia nei saperi positivi, hg.v. Antonio Carrano. Napoli 1993, 389 – 405.  Die Religion wird bei Croce als „Lebenssaft“ („linfa vitale“) des Gedankens bezeichnet. Vgl. Croce 1950, 308 (Anm. 13). Zum Gefühl vgl. 15 – 22. Zur Religionsauffassung Croces vgl. Antonio Di Mauro, Il problema religioso nel pensiero di Benedetto Croce, Milano 2001 und Alessandro Savorelli, „Benedetto Croce e la religione“, Bollettino roncioniano 4 (2004), 19 – 28.  Giovanni Gentile, „Schleiermacher“, La Critica 17 (1919), 115 – 119, hier 116.  Sowohl Dentice d’Accadia als auch Gentile unterstreichen jedoch, dass das Moment der „sozialen Realitäten“ („enti sociali“) in der Beziehung zwischen Individuum und unendlichem Geist bei Schleiermacher zwar präsent ist, aber nicht hinreichend entwickelt wird: „una società formata da individui, animato ciascuno da forte tendenza individualizzatrice, potrà costituirsi e reggersi come società?“ (Dabei handelt es sich um ein Zitat aus Dentice d’Accadias Buch in Gentile 1919, 115 – 116 (Anm. 19). Aus ihrer nationalistischen Perspektive heraus sahen also Gentile und Dentice d’Accadia bei Schleiermacher in den Beziehungen zwischen individueller Freiheit und Staat einen allzu prononcierten Liberalismus am Werk.

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dem unendlichen Geist in einem 1920 erschienenen Buch von Gentile stark hervorgehoben, das einen beinahe „schleiermacherischen“ Titel trägt (obwohl Schleiermacher selbst an keiner Stelle in ihm zitiert wird): die Reden über Religion (Discorsi di religione).²¹ Während Croce bei Schleiermacher eine in „verschiedene“ Formen gegliederte Philosophie des Geistes wertschätzte, wenngleich die Religion bei Croce nicht unter diesen verschiedenen Formen firmiert, legen also Gentile und seine Schüler das Hauptgewicht bei Schleiermacher vor allem auf die mystische Verbindung der Individuen mit dem Unendlichen,²² obwohl sie dieses Unendliche hegelianisch als immanent und nicht als transzendent zur Welt und zum Bewusstsein fassen.²³ Eine solche „gentilianische“ Auffassung der Religion und Schleiermachers konnte von einem konfessionellen Christentum sicherlich nicht qua talis Zustimmung erhoffen. Im 1929 veröffentlichten Buch La personalità di Schleiermacher come filosofo della religione (Die Persönlichkeit Schleiermachers als Religionsphilosoph) der Germanistin Matilde Accolti Egg wird Schleiermacher explizit dem Christentum im Allgemeinen gegenübergestellt, gerade weil er zu große Ähnlichkeiten zu der neu-idealistischen Religion Gentiles aufweise. In dieser Schrift von Accolti Egg wird im Übrigen auch das 1924 erschienene Buch Die Mystik und das Wort von Emil Brunner zitiert:²⁴ Die sogenannte „Dialektische Theologie“ begann also bereits zu dieser Zeit, Einzug in die italienische Diskussion über die Religion zu halten. Auch der wichtigste, 1926 exkommunizierte italienische Modernist Ernesto Buonaiuti ging sehr heftig gegen die Neu-Hegelianer Croce und Gentile vor. Buonaiuti aber, der eben in jenem Jahr 1926 Das Heilige von Rudolf Otto ins Italienische übersetzt hatte, sieht bei Schleiermacher eine Alternative zu jeglichem Immanentismus sowie eine klaren Auffassung der Selbstständigkeit der religiösen Erfahrung angelegt, wie er es unter Bezugnahme auf das „schlechtinnige Abhängigkeitsgefühl“ der Glaubenslehre in seinem 1937 beim World Congress of Faiths in Oxford auf Englisch gehaltenen Tagungsbeitrag hervorhebt:

 Giovanni Gentile, Discorsi di religione, Firenze 1920. Vgl. Davide Spanio, „Etica e religione in Gentile“, in: Croce e Gentile. La cultura italiana e l’Europa, hg.v. Michele Ciliberto, Roma 2016, 552– 559.  Vgl. Claudio Cesa, „La ‚mistica‘ e il problema filosofico, in: Giovanni Gentile, Il concetto della storia della filosofia, hg.v. Piero Di Giovanni, Firenze 2006, 94– 96.  Vgl. Gentile 1919, 117 (Anm. 19): „Né più brevemente ed esattamente di quel che faccia la Dentice poteva accennarsi il carattere e la manchevolezza della Dialettica dello Schleiermacher: ,Si propone di studiare il sapere, ma parte da una concezione profondamente agnostica, e dal presupposto inespresso ma evidente, che il sapere umano non è il processo dello spirito che conosce, né un risultato di questo processo – il filosofo ha posto tutto quanto è supremo in una base trascendente che è convinto di non poter raggiungere con la conoscenza – ma un immediato; qualcosa che ci si rivela nell’atto del sentimento. Sicché la conclusione della Dialettica è la negazione di se stessa.’“  Matilde Accolti Egg, La personalità di Schleiermacher come filosofo della religione, Firenze 1929, 146: „A questa conclusione arriva anche il Brunner, nella sua opera Die Mystik und das Wort, Tübingen, Mohr 1924, pp. 390 ss. Osservando come la religiosità descritta da Schleiermacher sia in fondo quella che si suol chiamare moderna per antitesi, egli riassume il suo pensiero in questa disgiunzione: ,Entweder der Christliche Glaube oder die moderne Religionsauffassung’“ (vgl. auch 151).

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It is little more than a century since Schleiermacher postulated, as the basis of every faith, the sense of our absolute dependence on a Wholly Other than ourselves, of whose potent action we are aware even before we can know anything whatever of His nature or His will (…) Both philosophy and theology are too prone to place this transcendent reality far away on the edge of some dim horizon that seems to have no real connection with the deeper regions of our sentient existence.²⁵

Inzwischen hatte das Konkordat von 1929 den lange schwelenden Konflikt zwischen dem italienischen Staat und der katholischen Kirche beigelegt, aber das geschah, wie der Jurist Francesco Ruffini unterstreicht, nicht zugunsten der religiösen Freiheit, sondern mit dem Preis, die Macht sowohl der Kirche als auch des Staates gegenüber den Individuen zumindest kurzfristig zu steigern. Ruffini, der zusammen mit dem soeben genannten Buonaiuti einer der wenigen Dozenten war, der seinen Lehrstuhl aufgab, um nicht den faschistischen Eid ablegen zu müssen, hatte Schleiermacher in seinem grundlegenden Buch von 1924 La libertà religiosa come diritto pubblico subiettivo unter die großen Vorläufer des juristischen religiösen Liberalismus gezählt.²⁶

3 Eine „nicht-totalistische“ Auffassung von Religion, Geschichte und Wahrheit: Die italienische Rezeption Schleiermachers in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Nach dem Niedergang des Faschismus neigte die italienische Philosophie in der unmittelbaren zweiten Nachkriegszeit dazu, sich in zwei politisch-kulturelle Hauptrichtungen der neuen Demokratie zu polarisieren: in einen demokratische Katholizismus sowie einen neu-marxistischen Historismus. In der Strömung des neumarxistischen Historismus, der die immanentistische, neu-hegelianische Linie Croces und Gentiles in Richtung des historischen Materialismus neu deutete, wird Schleiermacher – nicht überraschend – kaum erwähnt. Auch für nicht wenige Philosophen der katholischen Richtung bleibt der Name Schleiermachers jedoch verdächtig, obwohl sich der allgemeine Kontext im Verhältnis zur Zwischenkriegszeit verändert hatte. Die alte an den modernen Subjektivismus gerichtete Anklage verschmolz mit den neuen Kritiken der dialektischen Theologie,

 Vgl. Ernesto Buonaiuti, „The World’s Need of Religion“, in:The Proceedings of the World Congress of Faiths Oxford, July 23rd-27th 1937, London 1937, 133.  Vgl. Francesco Ruffini, Corso di Diritto ecclesiastico italiano. La libertà religiosa come diritto pubblico subiettivo, Milano 1924, 228: „Nel Protestantesimo germanico emerge la grande figura del teologo e filosofo F. Schleiermacher il quale […] reagendo contro il Razionalismo dominante in quel tempo e contro i sistemi di assoggettamento allo Stato della Chiesa, considerata quale una pubblica istituzione, sostiene che la religione è un bene essenzialmente ed esclusivamente individuale.“

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die auch im katholischen Bereich eine gewisse Aufmerksamkeit fanden.²⁷ In dieser Richtung drückten wichtige italienische Religionsphilosophen wie etwa Italo Mancini ihre größere Nähe zu Karl Barth als zu Schleiermacher aus.²⁸ Gleichzeitig wurden auch in der protestantischen italienischen Minderheit Barth und Kierkegaard zumeist mehr als Schleiermacher geschätzt. Eine lebendige, positive Auseinandersetzung mit Schleiermacher vollzogen in der unmittelbaren Nachkriegszeit also nahezu allein Philosophen, die zwar aus dem Bereich christlichen Denkens stammten, sich jedoch mit strengen konfessionellen Perspektiven weniger verbunden fühlten: So etwa Gallo Galli²⁹ in Turin und vor allem Alberto Caracciolo³⁰ in Genua und Pietro Piovani³¹ in Neapel. Denker wie Galli, Caracciolo und Piovani glaubten, dass der Modernismus eine wichtige ungenutzt gebliebene Gelegenheit für eine offenere und respektsvollere religiöse Kultur in Italien darstellte: Die katholische Hierarchie einerseits sowie die einflussreichsten italienische Philosophen Croce und Gentile andererseits hatten die Tore für eine wichtige Chance zum Dialog fest verschlossen. Insbesondere Caracciolo und Piovani erkannten den Wert der Untersuchungen Croces und Gentiles für die Bereiche der Geschichte, der Reflexion über Kunst, der Erziehung an, diskutierten aber auch diejenigen Elemente, die Piovani „totalistisch“ (totalisti) nannte, d. h. die Elemente einer Perspektive in den Philosophien von Croce und Gentile, in deren Linie die menschliche Endlichkeit in

 Für aus der Neu-Scholastik stammende Philosophen waren Denker wie Kierkegaard und Barth Schleiermacher vorzuziehen, insofern ihre innere Auflösung des modernen Subjektivismus neues Licht auf die Objektivität Gottes und der Offenbarung warf, worauf die Neu-Scholastiker stets insistierten.  Vgl. Italo Mancini, Filosofia della religione. Roma 1968, sowie die wichtige rückblickende Überlegung: Italo Mancini, „L’insolente teologia dell’identità“, in: F.D.E. Schleiermacher 1768 – 1834 tra filosofia e teologia: atti del convegno tenuto a Trento l’11 – 13 aprile 1985, hg.v. Giorgio Penzo / Marcello Farina, Brescia 1990, 265 – 311.  Gallo Galli (1889 – 1974) lehrte an den Universitäten zuerst von Cagliari und dann von Turin. Im ersten Jahrgang der von ihm herausgegeben Zeitschrift Il Saggiatore wurde der Artikel von Franco Neglia, „La filosofia della religione di Schleiermacher“, Il Saggiatore 1 (1951), 288 – 348 veröffentlicht. Darin betonte Neglia manche Ähnlichkeiten zwischen Schleiermacher und Auguste Sabatier (308.332.344), dessen Werk einige Jahre zuvor von Galli ins Italienische übersetzt worden war.  Vgl. Alberto Caracciolo, „Die Sache mit Gott“, Giornale critico della filosofia italiana 49 (1970), 451: „In realtà Schleiermacher può essere assunto a simbolo della teologia liberale per queste ragioni: perché crede che sia costitutivo dell’uomo un apriori religioso; ammette una rivelazione che perennemente si compie nel presente della coscienza del singolo […]. Ciò comporta la caduta di ogni autoritarismo estrinseco e la caduta del soprannaturalismo nel significato confessionale del termine, cioè del principio che esista o possa esistere una rivelazione qualitativamente altra rispetto alle altre ed esclusiva delle altre.“ Zu Caracciolo vgl. Giovanni Moretto, Filosofia umana. Itinerario di Alberto Caracciolo, Brescia 1992.  Vgl. Pietro Piovani, Filosofia e storia delle idee, Bari 1965, 63, wo Schleiermacher als „suggestivo suggeritore di temi“ bezeichnet wird, vor allem über „quel senso dell’individuale che la cultura romantica alimenta, più ancora che che nei sistemi filosofici che costruisce, nella storiografia che favorisce e prepara“. Wichtige Werke von Piovani sind auf Deutsch verfügbar: Ausgewählte Werke. Aus dem Italienischen übers. und hg.v. Michael Walter Hebeisen, Biel / Bienne, 2010 – 2017.

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einer vollständigen und immanenten Weise in die Totalität aufgehoben wurde (sowohl Piovani als auch Caracciolo standen im Übrigen Schulen nahe, die durch die Vermittlung von Antonio Aliotta oder auch des bereits zitierten Lamanna bis auf De Sarlo zurückgingen). In der Schule des Turiner Philosophen Luigi Pareyson, eines anderen Philosophen also, der besonders das Thema der Endlichkeit und Alterität zur Geltung brachte, studierte Gianni Vattimo, dessen 1968 erschienene Monographie Schleiermacher filosofo dell’interpretazione (Schleiermacher als Philosoph der Interpretation) besondere Aufmerksamkeit im Rahmen der italienischen philosophischen Debatte zu Ende der 1960er Jahre auf sich zog.³² Obwohl Schleiermacher – wie es schon am Titel ersichtlich wird – darin vielleicht allzu einseitig auf das hermeneutische Thema festgelegt wurde,³³ bildete Vattimos Buch den Vorläufer eines neu sich entfachenden großen Interesses für Schleiermacher in Italien im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, wobei die italienische Forschung die gleichzeitig anhebende internationale Schleiermacher-Renaissance teils begleitete, ihr teils aber auch zuvorkam: Denken wir, als wichtiges Beispiel, etwa an das 1979 erschienene wichtige Buch Etica e storia in Schleiermacher (Ethik und Geschichte bei Schleiermacher) des Caracciolo- und PiovaniSchülers Giovanni Moretto, worin der philosophischen Ethik Schleiermachers eine neue und große Bedeutung zugesprochen wurde.³⁴ Während die philosophischen Diskussionen der vorhergehenden Jahrzehnte von heftigen ideologischen Entgegensetzungen von „Laizismus“ und „Katholizismus“ sowie von der Suche nach griffigen politisch-institutionellen Anknüpfungspunkten begleitet wurden – die katholische Kirche, der Staat, die Parteien (zuerst die faschistische, danach die christlich-demokratische und vor allem die kommunistische),

 Vattimo hatte in Heidelberg Gadamer kennengelernt und übersetzte 1971 Wahrheit und Methode ins Italienische. Während aber Gadamer die Hegelsche „integrative“ Ansicht der Hermeneutik gegen die „technisch-differenzierte“ Ansicht Schleiermachers verteidigte, wollte Vattimo dagegen die Schleiermachersche Perspektive rehabilitieren, weil er – darin seinem Lehrer Pareyson folgend – die Offenheit gegenüber dem Anderen in der Hermeneutik betonte: „Se la realtà dell’individualità è pensata come autonoma anzitutto rispetto a ciò in cui si radica, essa si rivela come qualcosa di davvero ‘altro’ anche rispetto al soggetto della conoscenza. L’ascolto è l’atteggiamento di un conoscere che si mette a disposizione del suo oggetto, e per questo non lo possiede mai in maniera definitiva. Ora è proprio questa la struttura che, anche muovendo da presupposti diversi da quelli da cui muoveva Schleiermacher, si rivela come caratteristica della conoscenza interpretativa. Mi riferisco qui alla teoria dell’interpretazione proposta da L. Pareyson.“ (Gianni Vattimo: Schleiermacher filosofo dell’interpretazione, Milano 2 1986, 243 [1968]). Das Buch von Vattimo wurde sofort von Piovani angezeigt: Pietro Piovani, „Schleiermacher“, Giornale critico della filosofia italiana 47 (1968), 636 – 637.  Vgl. Christian Berner, La philosophie de Schleiermacher. „Hermeneutique“, „Dialectique“, „Etique“, Paris 1995, 25 – 27.  Giovanni Moretto, Etica e storia in Schleiermacher, Napoli 1979. Zu Giovanni Moretto vgl. Domenico Venturelli / Roberto Celada Ballanti (Hg.), Giovanni Moretto filosofo della religione, Humanitas N.F. 63 (2008), Nr. 2 sowie Ivano Tonelli / Roberto Celada Ballanti (Hg.), Una religione libera per l’Europa. Studi in memoria di Giovanni Moretto, N.F. 72/2017, Nr. 3. (darin vor allem den Aufsatz von Fulvio Tessitore, „Lo Schleiermacher di Giovanni Moretto tra Historismus e filosofia trascendentale“, 331– 365).

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entwickelte sich in jenen letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine weitaus nuanciertere politische und kulturelle Situation.³⁵ Die katholische Kirche eröffnete seit dem II. Vatikanischen Konzil einen Prozess der Anerkennung von religiöser Freiheit sowie des ökumenischen Dialoges. Die kommunistische Partei gab nun nicht mehr streng bestimmte ideologische Perspektiven vor, da die Demokratisierung des Landes bereits weit fortgeschritten war. Der Staat konnte gewiss nicht mehr die Position der Vorherrschaft wie noch zur faschistischen Zeit zurückerlangen. Es handelte sich um eine Situation großer Freiheit, aber auch großer Unsicherheit. Als ein möglicher Ausweg stellte sich damals die neu-nietzscheanische hermeneutische Unbestimmtheit dar, die gerade in Italien seit der von Giorgio Colli und Mazzino Montinari besorgten kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches ein überaus lebendiger kultureller Herd war. Schleiermacher bot einen alternativen Weg sowohl zu diesem hermeneutischen Nihilismus als auch zur totalen hermeneutischen Sicherheit eines gewissen Neu-Hegelianismus, Neu-Marxismus oder Neu-Thomismus an. Es ging nun nicht mehr um absolute Wahrheiten, welche die Institutionen dann nur durchsetzen sollten, sondern die von jedermann frei anzuerkennende Wahrheit musste diskutiert und mit den Wahrheiten der anderen verglichen und abgeglichen werden. Jene historistische Achtung für die Individualitäten in ihrem produktiven Verhältnis zu weiteren geistigen Kontexten, die sowohl Croce als auch – anders akzentuiert – Gentile bei Schleiermacher hervorgehoben hatten, konnte also mit einer dialektischen Auffassung durchdekliniert werden, die nicht mehr „totalistisch“ verfuhr – um den Terminus von Piovani zu verwenden – sondern eminent „kritisch“ – gerade in dem Sinne, gegen den Croce polemisiert hatte. Das spezifische, unmittelbare Verhältnis zur Wahrheit, das jeder religiösen Erfahrung zu eigen ist, konnte folglich nicht mehr einem Angriff gegen die Erfahrungen der Anderen dienen, sondern der Suche nach Bereichen von produktiver Auseinandersetzung und wechselweiser Achtung. Unter den wichtigsten Resultaten der Schleiermacher-Forschung in jenen letzten Jahrzenten des 20. Jahrhunderts in Italien rangieren – abgesehen von den zahlreichen Übersetzungen und Monographien – einige Sammelwerke mit einer internationalen Beiträgerschaft: der von Marco Maria Olivetti herausgegebene Band des Archivio di filosofia aus dem Jahr 1984;³⁶ das mit einem Vorrede des protestantischen Theologen

 Claudio Cesa sah kürzlich das neue Interesse für die Ethik Schleiermachers in Verbindung mit der Krise von „quella concezione dello Stato“ von Denkern wie Hegel, die „era stata recepita e magari deformata, tra la metà dell’Ottocento e la metà del Novecento“; „ed è forse per questo che le proposte teoriche – apparentemente più sciolte – di Schleiermacher possono essere interessanti. Ma bisogna guardarsi dall’errore di ritenerle troppo sciolte, perché Schleiermacher è pensatore fortemente sistematico.“ (Cesa 2010, 621 [Anm. 1]).  Marco Maria Olivetti (Hg.), Schleiermacher, Archivio di filosofia 52 (1984).Von Olivetti muss auch das wichtige Kapitel zu den Reden über die Religion in seinem Buch Filosofia della religione come problema storico, Padova 1974 erwähnt werden.

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Omar Brino / Chieti (Italien)

Sergio Rostagni im Jahr 1986 erschienene Buch Schleiermacher e la modernità (Schleiermacher und die Moderne)³⁷; die von Giorgio Penzo und Marcello Farina 1990 publizierten Akten eines Trienter Kongresses mit dem Titel F.D.E. Schleiermacher tra Filosofia e Teologia (Schleiermacher zwischen Philosophie und Theologie)³⁸ sowie die von Sergio Sorrentino 2000 publizierten Akten eines im Jahr 1999 stattgefundenen Kongresses in Assisi über Religione e religioni. A partire dai Discorsi di Schleiermacher (Religion und Religionen. Ausgehend von den Reden Schleiermachers)³⁹. Im Rahmen dieser letzten Veranstaltung begegneten sich Religionsphilosophen und -historiker sowie katholische und protestantische Theologen an einem so bedeutsamen Ort wie Assisi unter einer Perspektive der fruchtbaren wechselseitigen Auseinandersetzung.⁴⁰ Deshalb kann diese Begegnung vielleicht als ein Rückblick sowie eine Zukunftsaufgabe zugleich angesehen werden: als ein Rückblick auf eine in Italien (aber nicht nur dort) im letzten, schwierigen Jahrhundert stattgehabte gewisse Steigerung einer „kritischen“ Religionsreflexion im Sinne von Schleiermachers Dialektik ⁴¹ – d. h. eine Steigerung der „Bildung zur Religion“, um den Terminus der dritten Rede zu benutzen – und gleichzeitig als die Aufgabe, eine solche kritische Religionsphilosophie und eine solche Bildung zur Religion in den nächsten, auf uns zukommenden weiterhin schwierigen Zeiten tätig fortzuführen.

 Sergio Rostagno (Hg.), Schleiermacher e la modernità, Torino 1986.  Giorgio Penzo / Marcello Farina (Hg.), F.D.E. Schleiermacher 1768 – 1834 tra filosofia e teologia: atti del convegno tenuto a Trento l’11 – 13 aprile 1985, Brescia 1990.  Sergio Sorrentino (Hg.), Religione e religioni. A partire dai „Discorsi“ di Schleiermacher, Assisi 2000. Vor allem der Dialektik Schleiermachers ist auch der Sammelband La dialettica nella cultura romantica, Roma 1996 gewidmet, den Sorrentino mit Terence Tice herausgegeben hat. Sorrentino hat anspruchsvolle Übersetzungen vor allem von der Glaubenslehre und der Dialektik vorgelegt und wichtige Monographien zu Schleiermacher verfasst wie La filosofia della religione di Schleiermacher, Brescia 1978 sowie Ermeneutica e filosofia trascendentale. La filosofia di Schleiermacher come progetto di comprensione dell’altro, Bologna 1984.  Anwesend waren Christian Berner, Jacques Depuis, Hermann Fischer, Hans Kippenberg, David Klemm, Giovanni Moretto, Gunter Scholtz, Sergio Sorrentino, Wessel Stocker, Denis Thouard.  Zum Gebrauch des Wortes „Kritik“ bei Schleiermacher vgl. Gunter Scholtz, Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1995, 118 – 130.