Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit: Akten des ersten Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit 9783110947601, 9783484365018

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Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit: Akten des ersten Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit
 9783110947601, 9783484365018

Table of contents :
Vorwort
Zur Konstitution der europäischen Nationalliteraturen Implikationen und Perspektiven
Nation als politische Idee im frühneuzeitlichen Europa
Nation und Konfession in der frühneuzeitlichen Geschichte Europas. Zu den konfessionsgeschichtlichen Voraussetzungen der frühmodernen Staatsbildung
Trojaner – Römer – Franken – Deutsche „Nationale“ Abstammungstheorien im Vorfeld der Nationalstaatsbildung
Nationalliteratur und Latinität: Zum Problem der Zweisprachigkeit in der frühneuzeitlichen Literaturbewegung Deutschlands
Konfessionelle Probleme in der neulateinischen Literatur des 16. Jahrhunderts
Die Entstehung der italienischen Nationalliteratur im Florenz des 14. Jahrhunderts
Nationalliteratur und Übersetzung. Der Beitrag der vulgarizzamenti dai classici zur Herausbildung der italienischen Kunstprosa
Das 15. und 16. Jahrhundert in Italien: Von der Dualität Latein-Volgare zur sprachlichen und literarischen Kodifizierung
Juan de Mena, Prophet der nationalen Einheit
Sprache, Literatur und kulturelle Identität in der spanischen Renaissance
Garcilaso de la Vega – ein unsicherer Spanier
Die Rolle von Sprache und Dichtung bei der Ausbildung des frühneuzeitlichen Nationalbewußtseins in Portugal
Der Kampf der literarischen Moderne in Frankreich (1548–1554) Gattungssystem und historisch-soziale Signifikanz der sprachkünstlerischen Formen im Literaturprogramm der Pléïade
Théodore de Bèze und seine „Tragédie Françoise“ Abraham Sacrifiant. Ein hugenottischer Beitrag zur französischen Nationalliteratur
Nationales Programm und Satirenliteratur im Umkreis der „Politiques“
This blessed plot, this earth, this realm, this England. Zur Entstehung des englischen Nationalbewußtseins in der Tudor-Zeit
Edmund Spenser und die nationale Monarchie
„And make poor England weep in streams of blood“. Nationale Geschichte und irenischer Humanismus in Shakespeares Historien
Der National-Epiker als Ireniker: John Miltons Themenwahl für sein Verlorenes Paradies im Kontext der konfessionspolitischen Bürgerkriege
Nation und Literatur in den Niederlanden der Frühen Neuzeit
Die niederländische Nationalliteratur im Kontext der konfessionspolitischen Auseinandersetzungen auf der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert
Das Literaturprogramm des Daniel Heinsius in der jungen Republik der Vereinigten Niederlande
Die skandinavischen Literaturen im Jahrhundert der Reformation
Maximilian und Luther. Ihre Rolle im Entstehungsprozeß einer deutschen National-Literatur
Die nationale Komponente in der deutschen Literaturentwicklung der frühen Neuzeit
Deutsch-polnische Austauschprozesse auf der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert
Deutsche Nationalliteratur und katholischer Kulturkreis
Die Idee der deutschen Nationalliteratur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
Personenregister

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FRÜHE N E U Z E I T Band 1 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück und der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Herausgegeben von Jörg Jochen Berns, Gotthardt Frühsorge, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann und Jan-Dirk Müller

Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit Akten des I. Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit Herausgegeben von Klaus Garber

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Nation und Literatur im Europa der frühen Neuzeit : Akten des I. Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit / hrsg. von Klaus Garber. - Tübingen : Niemeyer, 1989 (Frühe Neuzeit ; Bd. 1) NE: Garber, Klaus [Hrsg.); Internationaler Osnabrücker Kongress zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit ; GT ISBN 3-484-36501-3

ISSN 0934-5531

© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1989 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Boy, Regensburg Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt

Geleitwort zur Buchreihe „Frühe Neuzeit"

Der hier mit ihrem ersten Band sich vorstellenden neuen Reihe ist die Aufgabe zugedacht, die Erkenntnis der inneren Einheit des Europas der Frühen Neuzeit zwischen FrUh-Renaissance und Spät-Aufklärung zu fördern. Und dies nicht auf dem Weg der Überschau, der vorschnellen Synthese oder der prätentiösen Konstruktion, sondern über den Umweg der Arbeit am Detail, der Erkundung der verborgenen Konsonanzen, der Nachzeichnung der verschlungenen Pfade, die vom Trecento ins Jahrhundert der bürgerlichen Revolutionen führen. In Kenntnis der relativen Autonomie der einzelnen Epochen und ihrer heterogenen Binnenstrukturen soll gleichwohl der Versuch gewagt werden, das Werden der frühmodemen, frühbürgerlichen Welt inmitten der alteuropäischen Gesellschaft und Kultur ins Auge zu fassen und wo immer möglich an einem breitgefächerten Material zu verfolgen. Die Geschichtswissenschaft besitzt seit Jahrzehnten Lehrstühle für die Frühe Neuzeit und entsprechende Einführungen in den Gegenstand. An beidem mangelt es der Kultur- und insbesondere der Literaturwissenschaft bislang. Vor allem in der Germanistik macht sich neben entsprechenden LehrstuhlDenominationen das Fehlen eines Instituts für deutsche Literaturwissenschaft gerade auch auf dem Gebiet der Frühen Neuzeit und der ihr assoziierten Grundlagenforschung empfindlich bemerkbar. Die neue Reihe soll diesem Defizit nach Kräften entgegenwirken und dazu beitragen, die kultur- und literaturwissenschaftliche Erforschung der Frühen Neuzeit universitär zu verstärken und institutionell zu kräftigen. Sie soll allen Arbeiten ein Forum bieten, die auf denkbar verschiedenen Wegen zur vertieften Erkenntnis der Frühen Neuzeit beitragen. Dem vermeintlich abseitigen und beschränkten Thema wird der gleiche Raum offenstehen wie dem weitausholenden, die nationalen Grenzen überspringenden, sofern nur sichergestellt ist, daß es den Blick freigibt auf den übergreifenden Horizont des frühneuzeitlichen Europa. Die Reihe möchte mitwirken an dem Versuch, die Kluft zwischen begriffsloser Empirie und gegenstandsloser Theorie zu überbrücken und insbesondere Unternehmungen fördern, die im Bewußtsein der unerhörten Schwierigkeiten gleichwohl festhalten an dem Bemühen, konkrete (literar-)historische Arbeit an den Stoffen mit dem Nachdenken über ihre Voraussetzungen und Methoden zu verbinden. Die Herausgeber hoffen, daß sie in erheblicher Anzahl größere dokumentarische Quellen-Arbeiten, und zwar gleichermaßen Bibliographien, Editionen und materialintensive Untersuchungen vorlegen können. Sie werden darauf hinwirken, die eingehende Erschließung der neu ans Licht gehobenen Schätze zu fördern und wo immer angängig den damit verbundenen theoretischen Implikationen gerecht zu werden. Neben der Autoren-, Gattungs- und Regional-Bibliographie bzw. -Edition soll die große Monographie stehen, neben der Tagungs-Dokumentation

VI

Geleitwort

das Porträt literarischer Landschaften, neben der aktuellen methodischen Diskussion die Rettung vergessener Zeugnisse der wissenschaftlichen Bemühung um die Frühe Neuzeit. Die autoren- und textsorten-, motiv- und themenspezifische Untersuchung soll die gleiche Chance haben wie die Stadt- bzw. regionalhistorisch oder komparatistisch bzw. institutionsgeschichtlich angelegte, sofern erkennbar ist, daß das Einzelne dem Allgemeinen Profil verleiht, das Allgemeine im Einzelnen sich konkretisiert. Auch wenn die Reihe ihren naturgemäßen Schwerpunkt in der Literatur besitzt, sind Arbeiten aus den angrenzenden kulturwissenschaftlichen Disziplinen willkommen. In diesem Sinn bitten die Herausgeber die internationale Forschergemeinschaft der Kulturwissenschaften der Frühen Neuzeit um ihre phantasievolle kritische Mitwirkung. Im Namen der Herausgeber Klaus Garber, Osnabrück

Frühjahr 1989

Inhalt

Vorwort

XI

Klaus Garber Zur Konstitution der europäischen Nationalliteraturen Implikationen und Perspektiven

1

Herfried Münkler Nation als politische Idee im frUhneuzeitlichen Europa

56

Heinz Schilling Nation und Konfession in der frühneuzeitlichen Geschichte Europas Zu den konfessionsgeschichtlichen Voraussetzungen der frühmodernen Staatsbildung

87

Jörn Garber Trojaner - Römer - Franken - Deutsche „Nationale" Abstammungstheorien im Vorfeld der Nationalstaatsbildung

108

Wilhelm Kühlmann Nationalliteratur und Latinität: Zum Problem der Zweisprachigkeit in der frühneuzeitlichen Literaturbewegung Deutschlands

164

Hans-Gert Roloff Konfessionelle Probleme in der neulateinischen Literatur des 16. Jahrhunderts

207

Sebastian Neumeister Die Entstehung der italienischen Nationalliteratur im Florenz des 14. Jahrhunderts

226

Bodo Guthmüller Nationalliteratur und Übersetzung Der Beitrag der vulgarizzamenti dai classici zur Herausbildung der italienischen Kunstprosa

240

Horst Heintze Das 15. und 16. Jahrhundert in Italien: Von der Dualität Latein-Volgare zur sprachlichen und literarischen Kodifizierung

262

Vin

Inhalt

Lother Knapp Juan de Mena, Prophet der nationalen Einheit

287

Gerhart Schröder Sprache, Literatur und kulturelle Identität in der spanischen Renaissance

305

Manfred Engelbert Garcilaso de la Vega - ein unsicherer Spanier

318

Dietrich Briesemeister Die Rolle von Sprache und Dichtung bei der Ausbildung des frühneuzeitlichen Nationalbewußtseins in Portugal

329

Reinhard Krüger Der Kampf der literarischen Moderne in Frankreich (1548-1554) Gattungssystem und historisch-soziale Signifikanz der sprachkünstlerischen Formen im Literaturprogramm der Pleiade

344

Anne Neuschäfer Theodore de Bfeze und seine „Trag6die Franfoise" Abraham Sacrifiant Ein hugenottischer Beitrag zur französischen Nationalliteratur

382

Wolfgang Asholt Nationales Programm und Satirenliteratur im Umkreis der „Politiques"

404

Aleida Assmann This blessed plot, this earth, this realm, this England Zur Entstehung des englischen Nationalbewußtseins in der Tudor-Zeit . . 429 Hans Ulrich Seeber Edmund Spenser und die nationale Monarchie

453

Thomas Metscher „And make poor England weep in streams of blood" Nationale Geschichte und irenischer Humanismus in Shakespeares Historien

469

Horst Melier Der National-Epiker als Ireniker: John Miltons Themenwahl für sein Verlorenes Paradies im Kontext der konfessionspolitischen Bürgerkriege

516

Karel Bostoen Nation und Literatur in den Niederlanden der Frühen Neuzeit

554

Ferdinand van Ingen Die niederländische Nationalliteratur im Kontext der konfessionspolitischen Auseinandersetzungen auf der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert

576

Inhalt

DC

Barbara Becker-Cantarino Das Literaturprogramm des Daniel Heinsius in der jungen Republik der Vereinigten Niederlande

595

Wilhelm Friese Die skandinavischen Literaturen im Jahrhundert der Reformation

627

Jörg Jochen Berns Maximilian und Luther Dire Rolle im Entstehungsprozeß einer deutschen National-Literatur . . . . 640 Werner Lenk Die nationale Komponente in der deutschen Literaturentwicklung der frühen Neuzeit

669

Marian Szyrocki Deutsch-polnische Austauschprozesse auf der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert

688

Dieter Breuer Deutsche Nationalliteratur und katholischer Kulturkreis

701

Wirrfried Woesler Die Idee der deutschen Nationalliteratur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts

716

Personenregister

735

Vorwort

Das Thema .Nation' hat sich in letzter Zeit merklich belebt. Auch in Deutschland besitzt es derzeit eine vitale und kontroverse Aktualität. Kein Monat vergeht, in dem es nicht in einer der Uberregionalen Zeitungen und Zeitschriften aufgegriffen würde. Während der Niederschrift dieser Zeilen branden die Wogen nach der neuerlichen Intervention Martin Walsers besonders hoch. Dem endlich wieder statthaften Nachdenken über die deutsche Nation korrespondiert seit kurzem eine gleich intensive gedankliche Bemühung um Mitteleuropa, seine Metropolen, seine kulturellen Zentren, seine Verflechtungen und damit auch um sein Antlitz vor der gewaltsamen Zerstörung der geschichtlich gewachsenen Landschaften. Europa selbst schließlich, das ganze, die politischen wie die ideologischen Demarkationslinien übergreifende, hat die Phantasie der undogmatischen, zumeist .linken' Gruppierungen diverser Couleur seit 1945 stets wieder beschäftigt. Die Namen Berlin 1953, Warschau und Budapest 1956, Prag 1968, Danzig 1980, bezeichnen in der Wahrung und Zusammenfuhrung der aufgeklärt-liberalen wie der freiheitlich-sozialistischen Tradition zugleich Kulminationspunkte politischer Hoffnung für den und in dem Alten Kontinent. Daß ihre Virulenz nur wachsen kann, seitdem Moskau selbst in der letzten Stunde sich dem in diesen Namen beschlossenen geschichtlichen Erfahrungsgehalt öffnet, liegt auf der Hand. Deutschland wie Europa steht eine Phase vielversprechender Erkundung der Identität nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts bevor, in der auch das Wort des Historikers Gewicht gewinnen dürfte. Das Kongreß-Thema .»Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit" mag also eine nicht unerhebliche, in den frühen achtziger Jahren während des Stadiums der Planungen kaum voraussehbare Aktualität beanspruchen. Ich möchte entsprechende Erwartungen nicht von der Hand weisen, jedoch auch nicht stimulieren, sondern lieber für Distanz und also für geschichtlich vermittelte Aktualität plädieren. Es wäre schon viel gewonnen, wenn das Thema .Nation' als ein kardinales der europäischen Literatur in der Frühen Neuzeit akzeptiert und als Schnittpunkt kultureller, sozialer, konfessioneller, verfassungsrechtlicher und politischer Kräfte methodisch stringent mit den programmatisch-theoretischen wie den fiktional-poetischen Texten vermittelt und also in seiner form- wie in seiner gehaltsbestimmenden Funktion in deren historischer Exegese Uberzeugend dargetan würde. Bekanntlich sind die Widerstände gegen einen solchen Versuch nicht unerheblich. Insbesondere dem Historiker der deutschen Literatur und zumal dem .Barockforscher' sind sie nur allzu vertraut. Verbietet nicht die eminente regionale, konfessionelle und soziale Sonderung der literarischen Überlieferung die Rede von einer deutschen Nationalliteratur vor dem 18. Jahrhundert? Wird unter dem Titel der Nation nicht eine unstatthafte Rückprojektion

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Vorwort

vorgenommen und also eine Einheit unterstellt, wo in Wahrheit nur Vielheit herrscht, während sich ein überregionaler Buchmarkt, ein homogenes Lesepublikum, eine konsistente Diskussion über Probleme der Nation in Literatur, Kunst und Politik überhaupt erst im Zeitalter der Aufklärung abzeichnen? Ist nicht auch der Veranstalter dieses Kongresses Gefangener der Illusionen einer nationalen und liberalen Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, die den literarischen Gang der Dinge spätestens seit Luther national Uberblendete, um in der Gegenwart politisch einklagen zu können, was bislang allemal nur ästhetische Wirklichkeit besaß? Ist folglich der Anachronismus dieses Kongresses nicht evident, seine Fragestellung obsolet, sein Scheitern im Grunde vorprogrammiert? Es sind also nicht nur berechtigte Fragen der politischen Aktualität, sondern ebenso berechtigte der wissenschaftsinternen Stringenz, die bei der Wahl und Exekution des vorliegenden Themas zu kalkulieren bleiben. Muß ich aussprechen, daß der Königsweg natürlich nicht auf der einen oder der anderen Seite zu suchen ist, sondern nur aus dem Zentrum des historischen Gegenstandes heraus in die Öffentlichkeit unserer Gegenwart führen kann? Die Antwort, um die wir uns im fächerübergreifenden Gespräch mühen, kann nur eine solche historischer Selbstvergewisserung sein. In und mit ihr werden zugleich jene Zeugen emeut zu hören und in mehr als einem Fall sogar zu rehabilitieren sein, denen es gelang, das Thema der Nationalliteratur im frühneuzeitlichen Europa so zu exponieren, daß es genuin an die Texte heranführte und also mehr und anderes war als ein ärmliches Surrogat in der Gegenwart. Es geht folglich mit der historischen Sacherschließung, wie sie von jeder Generation neu ins Werk zu setzen ist, auch um die stets neuerliche Profilierung historiographischer Positionen, wie sie insbesondere zwischen Aufklärung und Vormärz sich artikulierten, um sodann in mehr als einem Falle jener tragischen Zerstörung der Vernunft anheimzufallen, wie sie uns Georg Lukäcs oder Walter Benjamin oder Werner Krauss, um hier nur drei große Namen zu nennen, so eindringlich geschildert haben. Ich denke, dieser Umstand sollte uns nicht verwundern und schon gar nicht erschrecken, sondern im Gegenteil ermuntern, der Exposition der Frage im Lichte der Gegenwart jene Aufmerksamkeit angedeihen zu lassen, welche von dem Wissen geleitet ist, daß in und mit ihr stets auch über Fortbestand oder Verlust von Traditionsbeständen unserer literarisch-politischen Kultur entschieden wird, deren Präsenz uns allen angelegen sein muß. In diesem Sinn führt das gewählte Kongreß-Vorhaben zurück zu den Ursprüngen der Formierung nationaler Identität in Europa, wie sie sich in ihren leitenden Normen womöglich erst in einer Spätphase abzeichnen. Mehr als ein Beitrag wird zeigen können, welch hohe Erwartungen sich an die politische wie die literarische Geburt der Nation knüpften. Seit dem Aufbruch im Italien der Frührenaissance ist die Ablösung von den universalen Mächten des Papst- wie des Kaisertums und damit der geistlich-klerikalen wie der feudal-laikalen Kultur beflügelt von neuen und womöglich noch radikaleren Visionen universaler Herrschaft im Zeichen eines unvordenklichen politischen, religiösen, gelegentlich sogar sozialen Weltfriedens, dem die Größten ihre Stimme liehen. Denn die Entstehung der Nationen als kultureller und politischer Instanzen fällt ja nicht nur zusammen mit dem Schisma zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt, son-

Vorwort

xm

dem zugleich mit der definitiven Dissoziation der una societas Christiana selbst. Diese tiefste Erschütterung der frühneuzeitlichen Welt hat nicht nur das Wachsen der Nationen mit überschwenglichen Erwartungen erfüllt, sondern soziale, religiöse und ästhetische Utopien hervorgetrieben, die dem Bildungsprozeß der Nationen genuin verschwistert sind. Darum das Beharren auf einem qualifizierten, die divergenten historischen Faktoren in der Textanalyse wirklich kalkulierenden und zur Geltung bringenden literarhistorischen Verfahren; darum aber auch das Vertrauen in ein Thema, das - richtig betrachtet - seine Leuchtkraft keinesfalls eingebüßt zu haben braucht und immer noch helfen mag, geschichtliche Orientierung als aktuelle freizusetzen. Auf dem Weg zu dem Eintritt der Nationen in die Geschichte begegnen wir zugleich den Ursprüngen jener Gesellschaft, die ungeachtet aller Transformationen immer noch die unsere ist. Gäbe es Vordringlicheres, als ihre späten Manifestationen mit den Entwürfen ihres Aufbruchs zu konfrontieren, die utopischen Potenzen zu zitieren, in deren Namen die junge Klasse sich den hergebrachten Ordnungen in einem wenigstens fünf Jahrhunderte währenden Prozeß zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung entwand und in der Kunst, speziell der Literatur die Spuren dieser Emanzipation bewahrte? Hat der gegenwärtig zwingend gebotene, philosophisch eindringlich bekräftigte Zwang zum Universalismus, zur Verständigung, zur Einigung auf nationen- und blockübergreifende Normen mit deT Genese der Nationen, ihrer politischen wie ihrer kulturellen Selbstfindung noch etwas gemein? An ihrem frühneuzeitlichen Anfang steht die Idee des Weltkaisers als eines Garanten des Weltfriedens so wie an ihrem Ende die Utopie der einen Weltregierung, die sich nur bei Strafe des Untergangs der Vernunft als dem Medium der wohlverstandenen Interessen aller zu widersetzen vermöchte. Zwischen Dante und Einstein hat die Nation ihr Leben entfaltet, friedenstiftende Kräfte gerade in ihrer FrUhzeit ebenso bergend wie zerstörerische, die schließlich in den beiden Weltkriegen unseres Jahrhunderts kulminierten, in denen das alte Europa definitiv unterging. Einen Kongreß zur Konstitution der europäischen Nationalliteraturen abhalten, mag dann auch heißen, einer geschichtlichen Idee ihr Bleibendes, ihr Intendiertes, aber nicht Realisiertes abzuringen und ihrem Verfehlten, Naturwüchsigen und Zukunftslosen zu konfrontieren. Und dies von literaturwissenschaftlicher Seite aus vornehmlich und explizit im Lichtkegel der Literatur. Denn darauf dürfen wir bestehen, daß die Literatur zugleich Zeugnis und Katalysator dieses Prozesses in einem Maße war, das im Zeitalter medialer Kulturindustrie immer schwerer begreiflich zu machen ist. Der Literatur ihren Platz als Organon von Geschichte gerade in der Frühen Neuzeit immer erneut zu sichern, in ihrem Spiegel immer noch das Gesicht einer nicht eingelösten Vergangenheit zu erblicken, der Konstellation von Nation und Literatur in diesem Sinne ihr Jetztzeitliches abzugewinnen, könnte nicht zuletzt der Sinn eines Kongresses sein, der seine Aktualität nicht allein aus dem Heute zöge und eben deshalb über dieses hinauszuweisen vermöchte. Der vorliegende Band beruht im wesentlichen auf den Referaten, die im Herbst 1986 auf einem gleichnamigen Kongreß an der Universität Osnabrück von der Forschungsstelle zur Literatur der Frühen Neuzeit des Fachbereichs Sprach- und Literaturwissenschaft sowie der interdisziplinären fachbereichsübergreifenden Arbeitsgruppe Frühe Neuzeit abgehalten wurde, die sich soeben mit einer par-

XIV

Vorwort

allelen Publikation in der Öffentlichkeit vorstellte.1 Der Kongreß war seiner Anlage nach abgestimmt mit einem seit längerem aus der DDR vorliegenden Band, der einen merklichen Schwerpunkt in den mittel- und osteuropäischen Literaturen besitzt. 2 So lag es nahe, vornehmlich für Westeuropa ein Äquivalent zu schaffen. Nach Maßgabe des Möglichen war der Herausgeber bestrebt, die formativen Etappen des frtlhneuzeitlichen „nationalliterarischen" Prozesses in der neulateinischen Literatur Deutschlands sowie den nationalsprachigen Literaturen der Romania, Englands, der Niederlande, Skandinaviens und Deutschlands (einschl. eines Ausblicks nach Polen) herausarbeiten zu lassen und dabei zur Berücksichtigung und Darstellung multikultureller Faktoren anzuregen. Er dankt allen Beiträgern herzlich, daß sie den seit langem gehegten Plan Wirklichkeit werden ließen. Es wird sein Bestreben sein, der europäischen Dimension als der der Frühen Neuzeit einzig angemessenen auch in weiteren - schwerpunktmäßig naturgemäß literarhistorischen - Veranstaltungen zur Geltung zu verhelfen. Nachdem schon im August 1988 auf dem VI. Internationalen Wolfenbüttler Kongreß zur „Europäischen Barockrezeption" zahlreiche Referenten aus Osteuropa und der Sowjetunion teilnehmen konnten, wird ein weiterer internationaler Kongreß zur europäischen Sozietätsbewegung und demokratischen Tradition im Europa der Frühen Neuzeit - zunächst für Osnabrück geplant, dann auf Einladung Jacques Chiracs nach Paris verlegt - im Herbst 1989 dieses kardinale, institutions· wie mentalitätsgeschichtlich gleich ergiebige Thema auf gesamteuropäischer Ebene behandeln. Weitere Veranstaltungen zur frühbürgerlichen Mentalität im europäischen Humanismus, zu den Wechselprozessen zwischen gelehrter und populärer Kultur in der frühen Neuzeit, zur Rezeption der frühen Neuzeit in der Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts sowie zur europäischen Friedens-Utopie sind geplant und teilweise bereits programmatisch vorbereitet. Sie haben ihr Gegenstück in der gleich intensiv betriebenen regionalhistorischen Forschung und hier insbesondere in der so lange vernachlässigten städtischen Literaturszene des 17. Jahrhunderts im alten deutschen Sprachraum, die man in absehbarer Zeit hoffentlich angemessen in der neuen Reihe „Frühe Neuzeit" dokumentiert finden wird. Im Juni 1990 wird diese Sequenz mit einem internationalen Kongreß zu den städtischen Literaturverhältnissen im 17. Jahrhundert wiederum in Osnabrück eröffnet. Der Herausgeber hofft, daß damit auch im universitären Bereich Niedersachsens ein qualifiziertes Forum zur Diskussion frühneuzeitlicher Literatur neben der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel geschaffen werden kann, deren internationale Barockkongresse er seit 1972 mitgestaltet.

1

Zwischen Renaissance und Aufklärung, Beiträge der interdisziplinären Arbeitsgruppe Frühe Neuzeit der Universität Osnabrück/Vechta, ed. Klaus Garber und Wilfried Kürschner unter Mitwirkung von Sabine Siebert-Nemann, Amsterdam: Rodopi 1988 (= Chloe, Vol. 8).

2

Renaissanceliteratur und frühbürgerliche Revolution, Studien zu den sozial- und ideologiegeschichtlichen Grundlagen europäischer Nationalliteraturen, ed. Robert Weimann, Werner Lenk, Joachim-Jürgen Slomka, Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1976.

Vorwort

XV

Das erste Wort des Dankes soll an dieser Stelle der Deutschen Forschungsgemeinschaft gelten, die die Finanzierung des hier dokumentierten Kongresses ebenso übernommen hat wie des im kommenden Jahr stattfindenden zum Thema Stadt und Literatur. Der vielfältige Rückhalt, den die Arbeit der Forschungsstelle zur Literatur der Frühen Neuzeit an der Universität Osnabrück durch die DFG erfährt, bildet eine Quelle der Ermutigung. Ein ganz besonderes Wort des Dankes gebührt sodann der Staats- und Universitätsbibliothek in Göttingen. Ohne die allwöchentliche zweimalige Präsenz des Bücherwagens aus Göttingen und die liberalste, gänzlich unbürokratische Ausleihpraxis hätte der Aufbau der Forschungsstelle in Osnabrück und die Arbeit in ihr nicht durchgeführt werden können. Möge es der ehrwürdigen traditionsreichen Bibliothek gelingen, ihr Weltniveau unter den schwierigsten Bedingungen im Lande Niedersachsen zu wahren. Daß darüberhinaus die Schätze Wolfenbüttels wie Hannovers in dem frühneuzeitlichen Bücherparadies Niedersachsen stetig genutzt werden konnten, erwähne ich gleichfalls in großer Dankbarkeit. Die junge Universitätsbibliothek Osnabrück — nun seit zehn Jahren im Besitz der reichen Bibliothek des unvergessenen Lehrers Richard Alewyn — hat ihr Bestes getan, um die von außen kommenden und nicht endenden Bücherströme klug zu kanalisieren und in ihrem schönen Neubau bereitzuhalten. Die Universität Osnabrück vom Präsidenten bis zu den germanistischen Fachkollegen hat über Jahre das ihr Mögliche unter gleichfalls vielfach schwierigsten Bedingungen unternommen, um die Etablierung der frühneuzeitlichen Forschung vor Ort zu fördern; ich sage auch dies in bleibender Dankbarkeit. Der Kongreß selbst wurde Uber die DFG hinaus von der Universitätsgesellschaft Osnabrück, von Herrn Präsidenten Prof. Dr. M. Horstmann und vom Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Osnabrück gefördert. In der Universitätsbibliothek stand ein angenehmer Tagungsraum zur Verfügung, wofür dem Direktor der Einrichtung Herrn Dr. E. Cordes mein Dank gilt. Während der übervollen Kongreßtage nahmen sich Hannelore Becker, Thomas Blömer, Heide Brinkmeier, Rita Schlien, Beate Wendel und Maria Wiebold der Gäste und aller organisatorischen Fragen an. An der Korrekturlesung beteiligten sich Ursula Claus, Karin Doli, Hansjoachim Regier, Hartmut Rohlfs und insbesondere Winfried Siebers, ohne dessen energischen Eingriff am Schluß der Band sich noch weiter verzögert hätte. Herrn Siebers ist auch das umfängliche Register zu verdanken. In Bernd Prätorius habe ich seit zehn Jahren einen unermüdlichen Berater und Helfer zur Seite; ohne seine Ermutigung wäre auch dieser Kongreß nicht zustandegekommen. Schließlich danke ich dem Max Niemeyer Verlag und insbesondere Frau Birgitta Zeller für die schier endlose Geduld mit diesem so arg verspäteten Erstling der neuen Reihe. Möge er ein glücklicher Auftakt zu ihr sein. Klaus Garber

Frühjahr 1989

Klaus Garber Zur Konstitution der europäischen Nationalliteraturen Implikationen und Perspektiven

Hans-Joachim Mähl zum 65. Geburtstag

Nationale Diskurse scheinen in besonderer Weise auf appellative Legitimationsmuster verwiesen zu sein; nur so kann der integrative Effekt offensichtlich gewährleistet werden. Die politische, die linguistische, die literarische Formation der frühneuzeitlichen Nationen und ihrer kulturellen Muster vollzieht sich in ständigem Rückgriff auf und in lebhafter Auseinandersetzung mit den chiliastischen Visionen wie den imperialen Entwürfen der jüdisch-christlichen und der römischen Antike sowie deren Kontamination und Umbildung im Mittelalter. Mit der Formierung der europäischen Nationalliteraturen im Ensemble der werdenden Nationalstaaten scheinen Zerfall und Dissoziation supranationaler Ordnungen zwangsläufig einherzugehen. In Wahrheit ist die frühneuzeitliche Idee der Nation samt der sie begleitenden Idee einer Nationalkultur bzw. Nationalliteratur durchwoben von universalen Reminiszenzen, die alleine den geschichtlichen Durchbruch in der Frührenaissance erklärlich machen. Gänzlich entstellt, völkisch verschandelt, an niederste rassistische Instinkte verraten, geistert die Vision eines Dritten Reiches — einstmals von Joachim von Fiore entworfen — noch durch das 20. Jahrhundert, um freilich der Nationalitäts-Idee auf deutschem Boden ihr unwiderrufliches Ende zu bereiten. An ihrem Anfang steht die Vision Dantes, deren Modernität sich vor dem Hintergrund weitester traditionsgeschichtlicher Perspektiven am klarsten abzeichnet.

I Chiliasmus und Nationalismus Aus dem jüdischen Raum sind die prophetischen und die apokalyptischeschatologischen Überlieferungen wirksam geworden. 1 Beide antworten auf die An dieser Stelle reicht der Hinweis auf die beiden grundlegenden, die gesamte Forschungs-Diskussion zusammen- und weiterführenden Artikel „Apokalyptik/ Apokalypsen" und „Eschatologie" in der Theologischen Realenzyklopädie (TRE) ΙΠ (1978) 189-289; X (1982) 254-363. Parallel heranzuziehen die Sammelbände „Apokalyptik", ed. Klaus Koch, Johann Michael Schmidt, Darmstadt 1982 (= Wege d. Forschung, Vol. 365) mit der Bibliographie pp. 471-486, und „Eschatologie im Alten Testament", ed. Horst Dietrich Preuß, Darm Stadt 1978 (= Wege d. Forschung, Vol. 480) mit der Bibliographie pp. 481-495. Reichhaltige Literatur auch bei Ithamar Grunenwald, Jewish Apocalyptic Literature, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt (ANRW) II: Principal, Vol. XDC/1 (1979) 89-118. Umfassend zum realhistori-

2

Klaus Garber

sich abzeichnenden bzw. erfolgten geschichtlichen Umbrüche, die als vorweggenommene bzw. durchlittene die theologische Botschaft zutiefst prägen. In Zeiten der Fragwürdigkeit — wo nicht des Zergehens — traditionaler Legitimationsmuster pflegen die Zukunftsvisionen und verpuppt in sie die nationalen Hoffnungen hervorgetrieben zu werden. Dementsprechend geben Selbstbehauptung wie Umformung des alles beherrschenden nationalen Gedankens der prophetischen wie der apokalyptischen Rede ihr spezifisches Gepräge. Schwerlich zu überschätzen — gerade auch im Blick auf die Evolution der europäischen Literatur — ist die im Namen des Jesaias zusammengefaßte Prophetie. 2 Sic formt sich angesichts des Aufstiegs der assyrischen Weltmacht, des Untergangs des Nordreichs Israel und der Belagerung Jerusalems. Im Zeichen der äußersten Bedrohung Jerusalems (in der Spätzeit des Propheten) hebt das Buch Jesaias an, um mit der Belagerung Jerusalems durch Sanherib im Jahre 701 v. Chr. zu enden. Prophetie und Gefahr für die Zionstadt rücken aufs engste zusammen. Dazwischen aber erhebt sich die Stimme zur Weissagung eines messianischen Friedensfürsten und Friedensreiches, mit der sich die Erinnerung an Jesaias inner- und außerhalb der neutestamentlichen Gemeinde vor allem verbunden hat. 3 Verschiedenen

2

3

sehen Kontext: Apocalypticism in the Mediterranean World and the Near East, Proceedings of the International Colloquium on Apocalypticism, Uppsala 1979, ed. David Hellholm, Tubingen 1983. Cf. auch die wichtigen Beiträge in: Glaube und Eschatologie, Festschrift Werner Georg Kümmel, ed. Erich Gräßler, Otto Merk, Tübingen 1985. Populärer Gerhard Marcel Martin, Weltuntergang, Gefahr und Sinn apokalyptischer Visionen, Stuttgart 1984. Zuletzt Apokalyptik und Eschatologie, Sinn und Ziel der Geschichte, ed. Heinz Althaus, Freiburg, Basel, Wien 1987. Die entsprechenden Zeugnisse ausgewertet in dem Eschatologie-Artikcl der TRE, l.c.p. 264ss. Aus der reichhaltigen Literatur sei hier nur verwiesen auf J. Vermeylen, Du prophete Isaie ä l'apocalypse, Isaie, I-XXXV, miroir d'un demi-millenaire religieuse en Israel, Vol. Ι-Π, Paris 1977 (= Etudes bibliques). Daneben natürlich stets mit Gewinn heranzuziehen Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testaments, Vol. II: Die Theologie der prophetischen Überlieferungen Israels, 8. Aufl. München 1984 (1. Aufl. 1960) p. 154ss. Populärer, aber nicht unergiebig Werner H. Schmidt, Jürgen Becker, Zukunft und Hoffnung, Stuttgart etc. 1981 (= Urban/Kohlhammer Taschenbücher, Vol. 1014). Dazu neben den zahlreichen Jesaia-Kommentaren speziell Hugo Greßmann, Der Messias, Göttingen 1929 (= Forsch, z. Religion u. Lit. d. Alten u. Neuen Testaments, N.F. Vol. 26) (aus dem Nachlaß Greßmanns von Hans Schmidt besorgte Neuauflage des erstmals 1905 unter dem Titel „Der Ursprung der Israelitisch-jüdischen Eschatologie" erschienenen Werkes). Hier in der 2. Aufl. einschlägig vor allem das dritte Buch „Das goldene Zeitalter", pp. 149-192, spez. Kapitel 1: „Die Wiederkehr des Paradieses", pp. 151-164. Cf. auch das anschließende große Kapitel „Der politische Messias", pp. 193284. Darüberhinaus etwa zu konsultieren: Joseph Klausner, The Messianic Idea in Israel, From Its Beginning to the Completion of the Mishnah, New York 1955, hier p. 52ss. zu Jesaia; Heinrich Gross, Die Idee des ewigen und allgemeinen Weltfriedens im Alten Orient und im Alten Testament, Trier 1956 (= Trierer Theol. Studien, Vol. 7) hier vor allem der zweite Abschnitt,.Der Weltfriede nach dem Alten Testament" p. 60ss. mit den einschlägigen Kapiteln zum Goldenen Zeitalter, zum Tierfrieden, zum Friedensbringer etc.; Odil Hannes Steck, Friedensvorstellungen im alten Jerusalem, Psalmen, Jesaja, Deuterojesaja, Zürich 1972 (= Theol. Studien) p. 53ss. „Jesaja"; Walter K. Homolka, Die jüdischen Friedensvorstellungen im Wandel der Zeit - von der hebräischen

Zur Konstitution der europäischen

Nationalliteraturen

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Überlieferungen angehörend, verknüpft sie die so zukunftsträchtige Verkündigung des Lichts inmitten der Finsternis mit der Gestalt des ewigen Frieden bringenden Kindes auf dem Davids-Thion, wie sie an späterer Stelle als umfassendes Friedensreich in der gleichfalls in der Geschichte nicht wieder preisgegebenen Hoffnung befriedeter Natur unter Einschluß des Menschen sich konkretisiert: Da wird der Wolf zu Gast sein bei dem Lamme und der Panther bei dem Böcklein lagern. Kalb und Jungleu weiden beieinander, und ein kleiner Knabe leitet sie. Kuh und Bann werden sich befreunden, und ihre Jungen werden zusammen lagern; der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. Der Säugling wird spielen an dem Loch der Otter, und nach der Höhle der Natter streckt das kleine Kind die Hand aus. Nichts Böses und nichts Verderbliches wird man tun auf meinem ganzen heiligen Berge; denn voll ist das Land von Erkenntnis des Herrn wie von Wassern, die das Meer bedecken. 4

Die Friedens-Utopie, dem dunkelsten geschichtlichen Hintergrund entspringend, bleibt gleichwohl auf die Geschichte des auserwählten Volkes bezogen, unter dessen Panier „sich die Heiden politisch und religiös stellen werden." In diesem Sinn ist die literarische Schöpfung einer Mensch und Natur umgreifenden Friedens-Symbolik fundiert in der Erwartung religiöser wie nationaler Erneuerung, wie sie für den Ursprung des frühneuzeitlichen National-Gedankens und seiner kulturellen Manifestationen so typisch bleiben wird. Schon dem Propheten Jesaia ist an zwei Stellen eine viel spätere, vermutlich nachexilische apokalyptische Überlieferung integriert (Kap. 24-27; 34-35).5 Es gehört zur Struktur dieses nachprophetischen Schrifttums, daß der von Gott verordneten und ins Werk gesetzten Vernichtung die Rettung der Auserwählten und Reinen korrespondiert. Karlheinz Müller hat jüngst in einem umfassenden Artikel zur Apokalyptik (der zu dem Tiefdringendsten gehören dürfte, was bislang über diese Gattung geäußert wurde) gezeigt, wie unter dem Eindruck der nun auch im Inneren Judas statthabenden Dissoziierung in Gesetzestreue und Synchretisten die Hoffnung auf ein Handeln Jahwes, das nach wie vor die Gesamtheit des Volkes beträfe, zerrinnt und zunehmend nur noch auf die Getreuen Jahwes sich richtet. 6 Die Apokalyptik der Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts flektiert diesen Prozeß wie keine andere Gattung sonst. Ein „Konventikel zersplittert die zurückliegende gesamtisraelitische Erfahrungs- und Überlieferungsbasis, indem er sein Selbstverständnis nicht mehr in der Erinnerung an eine ge-

* 5

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Bibel bis in die Moderne, eine literarhistorisch-theologische Untersuchung im Abriß, theol. Zulassungsarbeit für das Rabbinical Leo Baeck College, London, Landau a.d. Isar 1983. Zuletzt mit der Literatur der Artikel Jesaja/Jesajabuch in der TRE XVI (1982) 636-658. Jesaja XI, 6-9. In der Übersetzung der Zürcher Bibel, Zürich 1954, Lizenzausgabe Berlin/DDR 1956, p. 706. Dazu der in Anm. 1 zitierte Artikel Apokalyptik aus der TRE sowie die einschlägigen Jesaja-Kommentare bzw. die entsprechenden Einleitungen in das Alte Testament, in denen diese späte Überlieferung jeweils ausgesondert ist. Cf. auch Wolfgang Werner, Eschatologische Texte in Jesaja 1-39, Messias, Heiliger Rest, Völker, Würzburg 1982 (= Forschung z. Bibel, Vol. 46). Abschnitt ΙΠ. Die jüdische Apokalyptik. Anfänge und Merkmale, in dem zitierten Artikel der TRE, pp. 202-251.

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meinsame Anfangsgeschichte Gottes mit dem Volke Israel, sondern im separatistischen Geschichtsbild der .Zehnwochenapokalypse' verankert, deren eschatologische Standortbestimmung der .auserwählten Gerechten der ewigen Pflanze der Gerechtigkeit' (äthHen 93,10) angesichts einer immer unerträglicheren Verzögerung der allein von Gottes Gericht erhofften Erlösung dazu führt, den innerjüdischen Gegensatz von .Gerechten' und .Sündern' zum Anlaß einer feindseligwachsamen Lebensführung in sektenhafter Abgeschiedenheit zu machen. [...] Worum es nach der Außerkraftsetzung der überkommenen Erwählungstraditionen durch die eschatologische Predigt der asidäischen Apokalyptik geht, ist die Wahrnehmung der Geschichte als eines Zeitstroms, der deswegen ein integriertes Kontinuum bildet, weil ihn der Abfall und die Verfehlung der Menschen auf ein in Bälde über den ganzen kreatürlichen Bestand von Himmel und Erde hereinbrechendes Strafgericht Gottes zusteuern läßt, dessen erlösende Kehrseite den .Gerechten' und Bewahrern des .Gesetzes' erkennbar ist: Mit Notwendigkeit nivelliert die eschatologische Entaktualisierung der heilsgeschichtlichen Garantien die vergangene und gegenwärtige Geschichte Israels zum Spezialfall eines umfassenden, auf der Menschheitsgeschichte schlechthin lastenden Verhängnisses selbstverantworteter .Ungerechtigkeit' und öffnet gerade dadurch dem apokalyptischen Grundwissen der Asidäer den Blick auf die .Universalgeschichte'."7 Niemand hat diesen Zerfall substantieller, nationaler, staatlicher und religiöser Sittlichkeit im Leben der Juden schärfer wahrgenommen als der junge Hegel, um ihr im Gegenzug die klassische antike Polis-Sittlichkeit als verpflichtendes Erbe der Gegenwart entgegenzuhalten.8 Aber auch Müller muß einräumen, daß die neuartige Eschatologie das alte Thema Israel samt seiner nationalen heilsgeschichtlichen Überlieferungen nicht umstandslos liquidierte. Das eben zeigt ja der große universalgeschichtliche Entwurf der Daniel-Apokalypse.® Diese tief ins MittelalteT hineinwirkende Konzeption eines Gesamtverlaufs der Weltgeschichte im Nacheinander der vier sich ablösenden Weltreiche der Assyrer, Meder, Perser und Griechen ist gewiß nichtjüdischer Natur und konnte überhaupt erst nach Destruktion der alten heilsgeschichtlichen Glaubensformen entstehen. Wie „angesichts einer Weltgeschichte, deren vierstufiger Fortgang die Geschichte Israels gänzlich negiert, noch das unbestrittene Bekenntnis zur allumfassenden und unauflöslichen Königsherrschaft des Gottes Israels durchzuhalten 7 8

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Op. cit. p. 222, p. 234s. Jetzt wieder leicht greifbar in: Georg Friedrich Wilhelm Hegel, „Der Geist des Christentums", Schriften 1796-1800, mit bislang unveröffentlichten Texten, ed. Werner Hamacher, Frankfurt/M. 1978 (= Ullstein-Bücherei, Vol. 3360). Dazu — neben der angegebenen Literatur und dem entsprechenden Artikel Daniel/ Danielbuch in der TRE VIH (1981) 325-349 — wichtig auch Martin Noth, Das Geschichtsverständnis der alttestamentlichen Apokalyptik, Köln, Opladen 1954 (= Veröff. d. Arbeitsgem. f. Forschung d. Landes Nordrhein-Westphalen, Geisteswiss., Vol. 21) wiederabgediuckt in M.N., Gesammelte Studien zum Alten Testament, 2., um einen Anhang erw. Aufl. München 1960 (= Theol. Bücherei, Vol. 6) pp. 248-273; Gerhard von Rad, Daniel und die Apokalyptik, in: G.v.R., Theologie des Alten Testaments, I.e. (Anm. 2) Vol. Π, 316-338; Jürgen Lebram, Apokalyptik und Hellenismus im Buche Daniel, Bemerkungen und Gedanken zu Martin Hengeis Buch über .Judentum und Hellenismus", in: Vetum Testamentum 20 (1970) 503-524.

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sei", ist gewiß die entscheidende Frage des Danielbuchs. 10 Ebenso gewiß aber auch die Antwort, daß das Heil immer noch Israel vorbehalten ist, und zwar einmal dem Volk in seiner Ganzheit (so in dem berühmten Traum Nebukadnezars von den vier Weltreichen Π.44 und von den vier Tieren VII,27 (Volk der Heiligen)), einmal jedem Einzelnen aus dem Volke, der sich aufgezeichnet findet in dem Buche des Lebens (ΧΠ, 1 f.). Das messianische Reich des Propheten, das endzeitliche Reich der Apokalyptik - es ist ein ewig währendes, aber es ist zugleich doch auch ein irdisches. Das macht es so attraktiv für alle Sozialrevolutionären und chiliastischen Bewegungen zumal seit dem Spätmittelalter. Das große kanonische neutestamentliche Gegenstück, die Johannes-Apokalypse, mit der die Geschichte des christlichen Chiliasmus eröffnet wird, begrenzt das irdische Friedensreich im Interesse eines hier bereits sich abzeichnenden Gradualismus zugunsten eines wiederum ewig währenden, nun jedoch jenseitigen Reiches Gottes. 11 Die kaiserkritische Tierwie die staatskritische Babylon-Symbolik nicht weniger als die fromme Friedensreich- und Jerusalem-Symbolik war jeweils geeignet, eine zeitgeschichtlich aktualisierbare politische wie theologische Bedeutung freizugeben, die ihrerseits tief in die weltlichen Literaturgattungen der Frühen Neuzeit hineinwirkte. Gerade die strikte Verschlüsselung der Hure-Babylon-Bildlichkeit — natürlich auf den künftigen Fall der Urbs Roma und das Imperium Romanum bezogen — begünstigte deren spätere nicht abreißende Reaktualisierung. 12 Ähnliches wird man auch von der berühmten Vision des tausendjährigen Reiches im 20. Kapitel der Johannes-Apokalypse sagen dürfen. 13 Sie ist noch ganz frei von hedonistischer Ausmalung, aber auch in ihrem spiritualistischen Gehalt noch denkbar spröde. Die Märtyrer, die jedweder Versuchung zur Anbetung irdischkaiserlicher Macht widerstanden haben, werden ein erstes Mal zum Leben unter der Herrschaft Christi auferweckt, bevor der gefesselte Satan nach der tausendjährigen Friedensherrschaft sein letztes Inferno anrichten kann, dem das endgültige Weltgericht und das ewige Leben der Frommen sich anschließen. Die Phantasie

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13

Müller, Artikel „Die jüdische Apokalyptik", I.e. (Aran. 6) p. 237. Dazu wiederum mit der gesamten einschlägigen Literatur der Artikel „Apokalypse des Johannes" von August Strobel in der TRE ΠΙ (1978) 174-189. Jetzt mit reicher Literatur die knappe und sehr gehaltvolle Studie von Georg Kretschmar, Die Offenbarung des Johannes, die Geschichte ihrer Auslegung im 1. Jahrtausend, Stuttgart 198S (= Calwer Theol. Monographien, Vol. 9). Dazu grundlegend die neue umfassende Untersuchung von Gerhard Maier, Die Johannesoffenbarung und die Kirche, Tübingen 1981 (= Wiss. Unters, z. Neuen Testament, Vol. 25). Zur europäischen Perspektive insgesamt etwa auch Jakob Taubes, Abendländische Eschatologie, Bem 1947 (= Beitr. z. Soziologie u. Sozialphilos., Vol. 3); Ernst Benz, Endzeiterwartung zwischen Ost und West, Studien zur christlichen Eschatologie, Freiburg/Br. 1973 (= Samml. Rombach, N.F. Vol. 20). Dazu und zur Idee des Millenäums cf. aus der reichhaltigen Literatur etwa Hans Bietenhard. Das tausendjährige Reich, eine biblisch-theologische Studie, Bern 1944; Emest Lee Tuveson, Millennium and Utopia, a Study in the Background of the Idea of Progress, Berkeley, Los Angeles 1949. Soeben erscheint: Alberto Radaelli, Le legendarie Mille Miglia, la storia delle Mille Miglia nella storia, ed. Piü Famose, Legnano 1986. Dazu die unten Anm. 16 und 17 aufgeführte Literatur.

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heftete sich an die Beschwörung des Neuen Jerusalem am Ende der Zeiten. Immer noch sind es auch in der christlichen Endzeitvision die Namen der zwölf Stämme Israels, die die Tore der Stadtmauer Jerusalems schmücken, sowie auf den Grundsteinen die Namen der zwölf Apostel — Allegorie jener jüdisch-christlichen, alt- und neutestamentlichen Symbiose, in deren Zeichen die fast zweitausendjährige Rezeptionsgeschichte der chiliastischen Idee stehen wird. Hier sei ein einziger zu Dante führender Aspekt aus der mittelalterlichen Nachgeschichte hervorgehoben. Es ist bekannt, daß schon die Patristik der Versuchung nachgab, das johanneische geistliche Millenäum einladend auszuschmükken und dabei den älteren prophetisch-sibyllinischen Bestand utopischer Weissagung ebenso zu reaktualisieren wie die antiken aetas-aurea-Mythen. 14 Die Entschädigung der Verfolgten durch eine handgreifliche irdische Verheißung spielte dabei (wie ja durch Irenäus und Tertullian gleichermaßen bezeugt) eine nicht unwesentliche Rolle. Origines zunächst und vor allem Augustin mußten den Chiliasmus in dem Maße bekämpfen, wie insbesondere letzterer die civitas caelestis in der una sancta ecclesia catholica aufgehen läßt, die als Reich der Frommen inmitten der kurrupten civitas terrena (über die Augustin und später Luther nicht skeptisch genug urteilen konnten) Gestalt gewinnt. 15 Doch wird man sagen dürfen, daß die mit Augustin einsetzende (und später gleichfalls von Luther in großem Stil gegen die „Schwärmer" erneuerte) Stigmatisierung des Chiliasmus und damit seine Verbannung ins mittelalterliche Sektenwesen zugleich die Voraussetzung für dessen Wiederaufstieg im Spätmittelalter darstellte und gerade seiner NichtSanktionierung durch die offizielle Kirche einen guten Teil seiner Attraktion schuldete. 16 Die geschlossenste Reformulierung im Werk 14

15

16

Cf. die entsprechenden Nachweise in der luziden Synopsis bei Hans-Joachim Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis, Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen, Heidelberg 1965 (= Probleme der Dichtung, Vol. 7) p. 187ss., p. 193. Jetzt eingehend mit der gesamten einschlägigen Literatur Brian Daley unter Mitarbeit von Josef Schreiner und Horacio E. Lona, Eschatologie, in der Schrift und Patristik, Freiburg, Basel, Wien 1986 (= Handbuch d. Dogmengesch., Vol. IV/7a) p. 84ss. „Patristische Eschatologie". Dazu die entsprechenden Beiträge in: Zum Augustin-Gespräch der Gegenwart, Vol. Ι-Π, ed. Carl Andresen, Darmstadt 1975, 1981 (= Wege d. Forschung, Vol. 5, 327) sowie der Augustin-Artikel in der TRE IV (1979) 646-698. In dem neuesten protestantischen Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, herausgegeben von Carl Andresen, ist im ersten Band (Göttingen 1982) jetzt der Artikel von Ekkehard Mühlenberg, Theologie als Geschichte, pp. 432-445 zu konsultieren. Cf. dazu vor allem das Kapitel „Die Rolle chiliastischer Zukunftshoffnungen im Rahmen der hochmittelalterlichen Sektenbewegungen" in dem ausgezeichneten Werk von Bernhard Töpfer, Das kommende Reich des Friedens, zur Entwicklung chiliastischer Zukunftshoffnungen im Hochmittelalter, Berlin/DDR 1964 (= Forsch, z. mittelalterlichen Gesch., Vol. 11) pp. 258-324. Hier auch p. 259 Würdigung und Korrektur des bekannten Werkes von Norman Cohn, The Pursuit of the Millenium, London 1957, deutsche Version unter dem Titel: Das Ringen um das tausendjährige Reich, Revolutionärer Messianismus im Mittelalter und sein Fortleben in den modernen totalitären Bewegungen, Bern, München 1961. Cf. aus dem Umkreis der DDR-Historiographie auch Martin Erbstößer, Emst Werner, Ideologische Probleme des mittelalterlichen Plebejertums, die freigeistige Häresie und ihre sozialen Wurzeln, Berlin/DDR 1960 (= Forsch.

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Joachim von Fiores — die alsbald von den Franziskaner-Spiritualen nochmals überboten und radikalisiert werden sollte — zeigt zugleich in aller wünschenswerten Deutlichkeit, wie der kompromißlosen Statuierung der ecclesia spiritualis des Dritten Reichs, das im asketischen und meditativen Ordens-Ideal Wirklichkeit wird, ein merkliches sozial- und kirchenkritisches Element innewohnt. 17

17

z. miltelalterl. Gesch., Vol. 7) sowie von den gleichen Verfassern, Sozial-religiöse Bewegungen im Mittelalter, in: Wiss. Zs. d. Karl-Marx-Universität Leipzig, gesellsch- u. sprachwiss. Reihe 7 (1957/58) 257-282. Darüberhinaus Siegfried Hoyer, Häresien zwischen Hus und Luther, ein Beitrag zur ideologischen Vorbereitung der frühbürgerlichen Revolution in Deutschland, Habilschr. Leipzig 1966. Im übrigen — neben dem bekannten Werk zu den religiösen Bewegungen im Mittelalter (1935, jetzt mit einem Anhang „Neue Beiträge zur Geschichte der religiösen Bewegungen im Mittelalter" aus dem Jahre 1955 in einem Reprint Darmstadt 1977) sowie den Ausgewählten Aufsätzen Teil I: Religiöse Bewegungen, Stuttgart 1976 (= Sehr. ), trägt die Idee der monarchischen Nation in die besondere Geographie Englands hinein. Aus der Klage über den gegenwärtigen Verfall spricht nicht nur der nostalgische Rückblick auf vermeintlichen ehemaligen Glanz. Aus ihr spricht auch der Glaube an die potentielle und zukünftige Größe der neuen Nation: This royal throne of kings, this scept'red isle. This earth of majesty, this seat of Mars, This other Eden, demi-paradise. This foitress built by Nature for herself Against infection and the hand of war. This happy breed of men, this little world. This precious stone set in the silver sea. Which serves it in the office of a wall. Or as a moat defensive to a house. Against the envy of less happier lands; This blessed plot, this eanh, this realm, this England (...). (Π,Ι, 40-50)

Die gestisch-sentenziöse Sprechweise indiziert den programmatischen Charakter der Rede Gaunts. Diese ist, wie der Arden-Kommentar ausführt, ein Konstrukt aus unterschiedlichen Quellen, zu denen antike Autoren ebenso gehören wie zeitgenössische patriotische Propaganda.29 Im Zentrum des Bildes Englands steht die Metapher des see-umsäumten und see-geschützten paradiesischen Gartens: „this other Eden, demi-paradise", wie ein Kleinod in die See gestellt, die, einer Mauer gleich, die Nation als Land oder „Haus" des Friedens schützt (vgl. V. 4348). In die Bildlichkeit geht die Vorstellung Englands als Land des Friedens ein (wenn nicht als Faktum, so als Postulat). Die insulare Lage wird als SchutzfunkM 27

28

29

Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Einleitung. Cf. E.A.J. Honigmann, King John, Arden Edition, London 1973, Introduction, insbesondere p. LDCss. Cf. Textkommentare der englisch-deutschen Studienausgabe von King Richard Π, ed. Wilfried Braun, München 1980, p. 94ss. Cf. Textkommentar der Arden Edition von King Richard Π, ed. Peter Ure, London 1978, p. 50.

, And make poor England weep..."

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tion gegen Angreifer gezeichnet (V. 49). Nur so ist zu verstehen, daß diese „majestätische Erde" auch „seat of Mars" ist, Sitz des Kriegsgottes. Hier spielt die humanistische Auffassung hinein, daB der Krieg allein als Verteidigungskrieg — aus dem Recht auf Selbstverteidigung heraus — zu rechtfertigen ist. Ein Moment naturrechtlicher Begründung klingt an, wenn es heißt, daß die Natur selbst dieses „zweite Eden" und „Halbparadies" (möglicherweise auch „zweites Paradies", d.h. nach dem ersten biblischen das zweite - also das wiedergekehrte Goldene Zeitalter) 30 für sich selbst gebaut habe, und zwar als Bollwerk zum Schutz gegen Verderbnis und Krieg (V. 44): die Natur, die ihrem innersten Wesen nach Frieden, Wert und Schönheit ist, schützt sich gegen Zerstörung von innen und außen. Dies impliziert die von Erasmus vertretene Auffassung, daß die Natur von sich her auf Harmonie, auf concordia angelegt sei.31 Gaunts Rede ist poetisch klar strukturiert durch die ihr zugrunde liegende Dialektik von Wirklichkeit und Ideal. Die Wirklichkeit, das ist der durch Richards Mißwirtschaft, seinen Verrat an der Idee verantwortlichen Königtums verursachte reale Zustand der Nation, die zerrissen ist, abgewirtschaftet wie ein heruntergekommener Bauernhof. Das Ideal ist diese Idee selbst: ein monarchisch verantwortungsvoll regiertes England, zugleich die autonome Nation (durch die Besonderheit der insularen Lage hervorgehoben), ein Ideal freilich, das, mit implizit naturrechtlicher Begründung, in der Natur selbst seine Grundlage hat. Natur wird dabei im doppelten Sinn gebraucht: im Sinn der „geographisch" naturgegebenen Lage und im Sinn einer ethisch-rechtsphilosophischen Argumentation, die (in der Tradition des erasmischen Humanismus) eine Ordnung des Friedens und Wohlstands als „natürliches" Postulat sozialen Handelns und Auftrag der Politik ansieht. Die politische Garten-Metapher — der Garten als Symbol für das politischsoziale „Commonwealth", für England als Nation — wird in der Gartenszene in Richard II, Π,4 wieder aufgenommen, der allegorische Bezug Garten = Gesellschaft/Staat/Nation explizit entfaltet: (...) our sea-walled garden, the whole land. Is full of weeds, her fairest flowers chok'd φ . Her fruit-trees all unprun'd, her hedges ruin'd. Her knots disordered, and her wholesome herbs Swarming with caterpillars? (ΙΠ,4, 43-47)

Ausdrücklich spricht der Gardener von dem Garten als our commonwealth und our government (V. 35-36) und argumentiert im Sinne einer starken Zentralmacht, die für Ordnung im Garten sorgt:

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31

Cf. King Richard Π, englisch-deutsche Studienausgabe, Kommentar, I.e. (Anm. 28) p. 95. Cf. Garber, Friedens-Utopie, I.e. (Anm. 16) p. 533ss. Von der Metaphorik Shakespeares ist die Verbindung zu ziehen zu der „Argumentationskette ex natura", die bei Erasmus neben der chrisüich-theologischen vorliegt (cf. op. cit. p. 534): bei Shakespeare wird die humanistische theoretische Argumentation metaphorisch übersetzt, in diesem Sinn poetisch transformiert.

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Thomas Metscher You thus employed, I will go root away Hie noisome weeds which without profit suck The soil's fertility from wholesome flowers. (37-39)

Die pro-absolutistische Argumentation richtet sich hier, wohlgemerkt, gegen eine parasitäre Aristokratie. Diese wird mit den einen Garten verwüstenden Raupen verglichen: Sie ist den Staat zerfressendes Ungeziefer. Ja, im Kern zielt das Argument gegen den selbst parasitären König (wasteful king in V. 55 heißt sowohl „verschwenderisch" als auch „zerstörerisch"),32 der seine Aufgabe verraten hat und sein Land verkommen ließ: (...) and Bolingbroke Hath seiz'd the wasteful king. Ο, what pity is it That he had not so trimm'd and diess'd his land As we this garden! (...). (54-57)

In dieser Sicht ist Bolingbroke der neue „Gärtner", der im nationalen Commonwealth die zerstörte Ordnung wieder aufrichtet. Seine „Usurpation" erscheint so als gerechtfertigt, ja notwendig und unumgänglich; sie legitimiert auch die diese Machtübernahme begleitende physische Gewalt - das Bild des „Scharfrichters", der die parasitären Köpfe abschneidet (ΙΠ,4, 33-35). Im unmittelbaren Handlungszusammenhang bezieht sich dieses Bild auf die Hinrichtung von Bushy, Bagot und Green, die damit gleichfalls gerechtfertigt wird (vgl. ΙΠ,4, 50-53). Wie aus dieser Stelle hervorgeht, unterscheidet Shakespeare deutlich zwischen legitimer und illegitimer Macht, repressiver und notwendiger Gewalt. Genauer noch ließe sich sagen: Shakespeare erkundet und überprüft Kriterien für solche Unterscheidungen, führt in seinen Geschichtsdramen solche Erkundungen an historisch exemplarischen Fällen politischer Handlung durch. Denn es ist nicht so, daß das Schwert des Scharfrichters — die Hinrichtung der Parasiten Bushy, Bagot und Green — umstandslos gerechtfertigt wird. Eher wird eine einsichtige Rechtsargumentation für die Notwendigkeit solcher Handlung — als Form legitimierter Gewalt — vorgestellt. Die adressierte Instanz dabei ist der Rezipient, der Uber die Gültigkeit dieser Argumentation letztendlich zu befinden hat. Der Kern des vorgestellten Problems liegt also in der staatsrechtlichen Argumentation, die die Notwendigkeit des Gebrauchs von Gewalt behauptet, um eine legitimierte politische Ordnung gegen Angriffe von innen und außen zu schützen; und legitimierte politische Herrschaft ist eine solche, die unmißverständlich und kompromißlos auf die Herstellung oder Bewahrung einer Friedensordnung verpflichtet ist. Wie immer man das Problem legitimierter politischer Gewalt bei Shakespeare im einzelnen sehen mag, fest dürfte stehen, daß in den Historien repressive Formen von Gewalt klar dominieren. Und eindeutig ist Shakespeares Stellungnahme und Position: Sie ist programmatisch antimachiavellistisch (wie man in Shakespeares England den Machiavellismus verstand). 33 Es ist die einer kom32 33

Cf. King Richard Π, englisch-deutsche Studienausgabe, I.e. (Anm. 28) p. 182. Cf. Wells, Shakespeare, I.e. (Anm. 7).

And make poor England weep.

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promiBlosen und unmißverständlichen Kritik der Gewalt. Die in den Historien vorherrschende Gewaltform ist die „außerökonomische unmittelbare Gewalt" (Marx): Eroberung, Unterjochung, Mord, physischer Zwang, militärische Macht, Blendung, Vergewaltigung, Verrat, Usurpation - ein Zwang rechtloser Verhältnisse, der in der Tyrannei Richards ΠΙ. kulminiert, hier aber allein auf den Punkt bringt, was weithin herrschende Praxis ist. Verbunden mit allen diesen Formen unmittelbarer Gewalt, diese rechtfertigend oder verschleiernd, tritt (wie die neuere Forschung eindrucksvoll gezeigt hat) 34 die Darstellung oder Demonstration ideologischer Macht: der Gewalt von Ideologien. Ihr Zentrum haben die proteisch-vielgestaltigen Formen der Gewalt im Krieg 35 , von Henry VI bis Henry V. Ja, es läßt sich sagen: in der Gestalt des Krieges vereinigen sich sämtliche Formen der Gewalt, die uns in den Historien begegnen. So ist es alles andere als zufällig, daß Richard ΙΠ., reinste Inkarnation des Prinzips des Bösen, eines menschenverschlingenden Willens zur Macht, sich zu Beginn des Stücks, in dem seine tiefsten Motive aufdeckenden Gingangsmonolog, gegen den Frieden (wie gegen die Liebe) und fiir den Krieg entscheidet (Richard III, 1,1, 1-32). Da er, deformiert von Natur aus (hier spielt der aristotelisch-scholastische Begriff des Bösen hinein), die Spiele der Liebe, die des Friedens Zeichen sind, nicht mitzuspielen vermag, ist er entschlossen, „ein Bösewicht zu sein", d.h. den Frieden zu hassen, ein Entschluß, den er zum Zeitpunkt seiner monologischen Rede bereits in die Tat umgesetzt hat (cf. 1,1, 28-32). Geschichte, wie Shakespeares Historien sie zeigen, stellt sich als Kontinuität barbarischer Kriege dar. Menschliche Erfahrung ist durchgängig bestimmt durch realen oder drohenden Krieg. Das brennende Land ist geradezu emblematisches Inbild der geschichtlichen Welt - „The land is burning" (I Henry IV, ΙΠ,3). Der Frieden - sofern es ihn einmal gibt (wie zu Beginn von Richard III) erscheint als kurzes, trügerisches Intervall, als Auftakt zu neuen Kriegen und Untaten, als Schein-Frieden, kurzfristiger Nicht-Krieg. Die Physiognomie der Kriegsschrekken tritt am prägnantesten vielleicht in jener Drohrede hervor, die der (von einem guten Teil der Forschung als Shakespeares Idealkönig gepriesene) Henry V. den Bürgern von Harfleur hält, ihnen kundtuend, was sie erwartet, wenn sie die Stadt nicht freiwillig übergeben (vgl. Henry V, DI, 5-41). Was er ankündigt, ist (wie wir aus anderen Quellen wissen)36 die unverstellte Realität des firühneuzeitlichen Krieges. Diese Realität eher als die Rhetorik übertreibender Drohung ist es, was die Bürger von Harfleur schließlich zur Übergabe bewegt (vgl. Henry V, ΙΠ, 5-41). Henrys lange Rede enthüllt die Wirklichkeit hinter der Ideologie des von 34

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Zur ideologischen Gewalt bei Shakespeare cf. die Arbeiten von Drakakis, Greenblatt, Dollimore/Sinfield, Holdemess (Anm. 6). Zum Thema des Kriegs und Friedens bei Shakespeare gibt es überraschend wenig Literatur, zumindest, was eine explizite Thematisieiung dieser Fragestellung angeht. Grundlegend dazu die Beiträge von Anselm Schlösser e.a. in: Shakespeare Jahrbuch 118 (1982) sowie G. Wilson Knight, Shakespearian Dimensions, Sussex and New Jersey 1984, Kap. DC: Vergil, Shakespeare and the Seraphic. Cf. weiter Thomas Metscher, Krieg und Frieden im Drama Shakespeares, in: id., Der Friedensgedanke in der europäischen Literatur, Fischeihude 1984, pp. 43-66. Cf. Textkommentar der Arden Edition von King Henry V, ed. John W. Walter, London, New Yoik 1979, p. 66.

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ihm selbst beschworenen „God of battles" (IV,1). Sie reiht die Greuel des Kriegs in Metaphern, die an bildnerische Darstellungen der Kriegsschrecken bei Brueghel oder Goya denken lassen. Der Krieg wird, mit einem parabolischen Bild aus dem Hamlet, in der Maske des Pyrrhus gesehen:37 „Im Flammenschmucke, wie der Bösen Fürst, /Beschmiert im Antlitz, alle grausamen Taten/ Der Plünderung und der Verheerung" übend (cf. Hamlet, Π,2, 446-514). Was Heinrich den Bürgern von Harfleur androht, ist eine andere Bartholomäusnacht. Die Kriegsschrekken, die der König naturalistisch präzise ausmalt, sind, wie der ArdenKommentar vermerkt, die Schrecken des Bürgerkrieges.38 Bürgerkrieg ist „civil butchery" (I Henry IV, 1,1): für Shakespeare fraglos die barbarischste Form des Krieges. Von der poetischen Logik der Historien-Welt her gesehen, ist es völlig konsequent, wenn das seit der italienischen Frührenaissance gebräuchliche Bild der „trauernden und klagenden Witwe Roma" 3 ' an einer der Shakespeareschen Schlüsselstellen, dem Gebet des ersten Tudor um ein England des Friedens und Wohlstands am Ende von Richard III wieder auftaucht - als Ströme von Blut weinende Frauengestalt (V,5, 37). In der gleichen Rede findet sich auch das Motiv, das vielleicht als intensivstes Symbol gelten kann, in dem sich der Bürgerkrieg als dominante Form nationaler historischer Erfahrung seit dem Ausgang des 14. Jahrhunderts in seinem barbarischen Wesen offenbart: das des gegenseitigen Mords von Blutsverwandten: „The brother blindly shed the brother's blood, /The father rashly slaughter'd his own son, /The son, compell'd, been butcher to the sire" (Richard III, V,5). Im Bild des Bruders, der des Bruders Blut vergießt, des Vaters, der den eigenen Sohn erschlägt, des Sohnes, der den Vater tötet, ist Shakespeares Stellung zum Krieg emblematisch konzentriert. Dieser Bildkomplex wird in einer signifikanten Szenenfolge in Henry VI, 3. Teil, Π,5 dramatisch entfaltet. In der formalen Analogie der Abfolge der szenischen Bilder: „Alarums. Enter a Son that hath kill'd his Father, with the body in his arms. (...) Enter a Father that hath kill'd his Son, with the body in his arms", wird das „kläglich Schauspiel" der „blut'gen Zeit" augenfällig: Ο piteous spectacle I Ο Moody times! Whilst lions war and battle for their dens, Poor harmless lambs abide their enmity. Weep, wretched man; 111 aid thee tear for tear; And let our hearts and eyes, like civil war, Be blind with tears, and break o'ercharg'd with grief. (3 Henry VI. Π.5,73-78)

Kompromißlos beziehen die Historien Stellung gegen den Krieg. Dieser ist nicht nur Widersacher des Friedens - er ist auch Feind der Liebe. So werden in Henry IV, in der Szene zwischen Hotspur und Lady Percy (1. Teil, 11,3) Liebe und Krieg gegeneinander ausgespielt, wie auch im Eingangsmonolog von Richard 37

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Cf. den Abschnitt „Die Maske des Pyrrhus" in: Metscher, Der Friedensgedanke in der europäischen Literatur, I.e. (Anm. 35). Cf. Textkommentar der Arden Edition, I.e. (Anm. 36) p. 67. Der impious war von V. 15 ist das bellum impium (= Bürgerkrieg), cf. Vergil, Georgica, Buch I, V. 511. Garber, Friedens-Utopie, I.e. (Anm. 16) p. 528.

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111. In beiden Fällen ergreifen die historischen Akteure gegen die Liebe, für den Krieg Partei: Richard im Namen des Verbrechens (villainy), Hotspur im Geist eines feudal-romantischen Heroismus. In beiden Fällen akzentuiert der Text scharf das Falsche dieser Positionen. Im Falle Richards spricht die Stimme des Verbrechens, im Falle Hotspurs die einer selbstzerstörerischen Unvernunft. In Henry IV, 1. Teil, V,l, der Schlüsselszene zwischen Henry und Worcester, ist es der König, der den Frieden will und Friedensangebote macht. Sie werden von seinem Antagonisten selbst als „the liberal and kind offer of the king" bezeichnet (V,2). Worcester verschweigt das Friedensangebot den Führern der Rebellen: Er will den Krieg und versucht erfolgreich, jeden Kompromiß zu verhindern. Was eindeutig heißt, daß er im Unrecht ist. König Henry dagegen weiß, was auf dem Spiel steht. Er haßt den Krieg, weil er ihn kennt - „Will you again unknit/ This churlish knot of all-abhorred war?" (Henry IV, 1. Teil, V.l). Durch diese Haltung wird unmißverständlich Henrys IV. prinzipielle Rechtsposition — seine monarchische Legitimität — zum Ausdruck gebracht.

4. Implizierte Ethik: die Idee des Christlichen Prinzen Die Position, die Shakespeare in den Historien vertritt, ist, wie wir zeigten, durchgängig die einer Kritik politischer Macht. Nirgendwo verhält sie sich affirmativ gegenüber real existierenden Machtverhältnissen (in diesem Mißverständnis liegt das proton pseudos eines großen Teils der bisherigen Literatur zu den Historien). Jede Formation und Agentur geschichtlicher Macht wird der kritischen Befragung — einer Kritik im Hinblick auf ihre Legitimität — unterzogen. Dahinter steht die Auffassung, daß sich Politik und geschichtliches Handeln vor Kriterien einer humanistischen Ethik zu rechtfertigen haben: das Postulat der Begründung von Politik auf Ethik, der Priorität also der Ethik vor der Politik, die Abweisung des („machiavellistisch" verstandenen) Prinzips der Realpolitik und der kalkulierten Macht. Eine solche Auffassung hat ihre Wurzel im erasmischen Humanismus. Sie geht, wie wir noch zeigen wollen, auf die Vorstellung zurück, daß politisches Handeln unmißverständlich und kompromißlos auf die Herstellung einer Friedensordnung zu verpflichten ist, aus der der Krieg mit anderen Völkern ebenso wie der Bürgerkrieg definitiv verbannt ist: der Frieden ist summum bonum der irdischen Welt. 40 Allein der Regent, der die Werte und Ideale einer solchen humanistischen philosophischen Ethik zur Maxime seines politischen Handelns macht, wäre im vollständigen Sinn in seiner politischen Macht legitimiert. Er allein entspräche dem Konzept des „Christlichen Prinzen", wie ihn Erasmus in der Institutio Principis Christiani entworfen hat. Das Gegenbild des legitimen Herrschers ist der in der Gestalt Richards ΙΠ. inkarnierte Tyrann.41 Das Idealbild des Christlichen Prinzen, so vermuten wir, liegt als „implizite Ethik" der Geschichtsauffassung der Historien zugrande - zumindest bildet es den 40 41

Cf. op. ciL p. 524 und 537. Die für Shakespeares Gesamtaeuvie so fundamental wichtige Unterscheidung zwischen legitimer Herrschaft und Tyrannei ist ebenfalls humanistisches Erbe. Wir finden sie etwa bei Thomas Morus (cf. Baumann/Heinrich, Morus, I.e. (Anm. 14) p. 74ss.).

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Kem, von dem her diese Ethik verfaßt ist. Eindeutig dürfte sein, daß die Historien ein antimachiavellistisches Programm verfolgen. So gilt, daß kein Zweck die Mittel repressiver Gewalt heiligt. Jede Politik, die sich solcher Mittel bedient, ist barbarisch. Mehr: sie ist zerstörerisch, am Ende selbstzerstörerisch fällt auf den Agenten solcher Politik zurück. Weiter sollte unstrittig sein, daß die „Gegenseite", der machiavellistisch-tyrannische Machtwille, im Monstrum Richard Gloucester paradigmatisch verkörpert ist. Weniger eindeutig dagegen, in der Tat höchst zweideutig (wie noch zu zeigen) ist die Wirklichkeit des Ideals. Denn keine der Shakespeareschen Königsgestalten verkörpert den Christlichen Prinzen in reiner, ungebrochener Gestalt. Auch Henry V. erfüllt die Normen des humanistischen Regenten nur auf der „offiziellen" Ebene eines ideologischen Scheins. Auch er steht gebrochen in der Wirklichkeit der Geschichte. Es läßt sich vielmehr behaupten, daß das Verhältnis von Ideal und Wirklichkeit in den Historien durchgängig als prekär gezeichnet ist. Charakteristisch dafür, daß der einzige direkte und wohl auch entscheidende Verweis auf die reale Tudor-Ordnung (wenn wir vom späten Henry VIII absehen) in der Form einer Antizipation erfolgt: allein im Gebet Richmonds am Ende von Richard III tritt diese ins Bild, als zukünftige, zutiefst erhoffte Ordnung irdischen Glücks, aber als Utopie oder Wunschbild eher denn als Welt, die in der Geschichte ihre Wirklichkeit hat; als Ideal auch, das herbeizuführen der neue Herrscher gelobt; als Postulat somit, auf das das politische Handeln der Tudors verpflichtet wird. Das heißt aber, daß diese Ordnung nicht in der Form realer Existenz ins Bild tritt. Sie bleibt poetisch Gegenbild zur real erfahrenen und als Realität gestalteten Geschichte. Die Dialektik von Ideal und Wirklichkeit — humanistischer Idealität und realer historischer Erfahrung — liegt auch dieser Szene, sie liegt den Historien insgesamt im Sinne eines strukturbildenden Konzepts zugrunde. Ohne sie in Rechnung zu stellen, wird weder die innere Logik der Entwicklung dieser Dramen noch die des Gesamtwerks kohärent zu erklären sein. Shakespeare schrieb aus einem Bewußtsein, das die historischen Erfahrungen von zwei Jahrhunderten verarbeitet: den blut- und tränenreichen Prozeß der Geburt der englischen Nation; aus einem Bewußtsein, das die Hölle der Rosenkriege erinnernd durchschreitet, wie auch den Hundertjährigen Krieg mit Frankreich. Hinter den Historien steht der gewaltsame Zusammenbrach der feudalen Ordnungen und Weltbilder, der sich in diesen zwei Jahrhunderten, der Epoche vor der Konstitution des Tudor-Absolutismus vollzog, steht der Prozeß der ursprünglichen Akkumulation als eine Freisetzung gewaltigster Energien der Weltaneignung, Welteroberung und Weltzerstörung. Von dieser Erfahrung wie der durch sie begründeten Geschichtssicht her wird zu verstehen sein, daß der relative Frieden und prekäre Ausgleich antagonistischer Kräfte, den die Tudor-Ordnung repräsentiert, von Shakespeare wie von anderen Humanisten seiner Zeit als verteidigenswert erachtet wurde. In dieser Perspektive erschließt sich die Konsequenz des Legitimationsgedankens ebenso wie die Ethik des Christlichen Prinzen; die Konsequenz einer Auffassung, die politische Handlungen einzig dort als legitim ansieht, wo sie dem Recht der Faust Gesetz und Gesittung entgegenstellen, das soziale Chaos bändigen, an die Stelle von Krieg und Anarchie eine politische Ordnung setzen, die Gerechtigkeit, Frieden und Wohlstand garantiert. Von solcher Erfahrung her konnte der absolutistische Staat, für einen begrenzten hi-

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storischen Zeitraum zumindest, als einzig mögliche Form politischer Herrschaft gelten, die der Anarchie sich bekämpfender Interessen, der Orgie der freigesetzten Machtwillen Einhalt zu gebieten vermag. Humanistisch ist die Position der Historien auch im Sinne einer Beschränkung. Zumindest in der ersten Phase des dramatischen Schaffens Shakespeares geht die Stoßrichtung gegen Tyrannei und Willkür der Fürsten, das Plädoyer für die ethische Legitimation politischer Macht Hand in Hand mit einem tiefsitzenden, eingewurzelten Mißtrauen gegenüber plebejischer Selbstherrschaft, gepaart mit der Furcht vor der (unterstellten oder realen) Anarchie politischer Bewegungen, die von unten kommen, der Rebellionen, Volksaufstände und Revolten die Jack-Cade-Rebellion in Henry VI legt eindeutig Zeugnis für diese Auffassung ab. Was sie exemplifiziert, ist freigesetzte Anarchie als Herrschaft der Selbstsucht. Eine ganz andere Frage ist, daß sich die Bewertung der plebejischen Position im Verlauf des Shakespeareschen Werks verändert: über Hamlet, Lear in die Spätstücke hinein. Es ist eine Hauptthese meiner Shakespeare-Deutung, daß hier eine Umschmelzung, Um- und Neuwertung erfolgt, die eine grundlegende Aufwertung der plebejischen Position einschließt. Für den frühen Shakespeare aber gilt, daß Jack Cades Credo „But then we are in order when we are most out of order" (IV, 2, 184-185) sich mit einer Auffassung, die gegen die Gewaltherrschaft der Barone und Fürsten ebenso gerichtet war wie gegen die gefürchtete Anarchie der Plebejer, in tinvereinbarem Gegensatz befunden haben mußte. Zu den humanistischen Voraussetzungen der Shakespeareschen Geschichtssicht gehört weiter, wie oben ausgeführt, der für die Historien wie für die weitere Entwicklung der Werkformation entscheidende Vorbehalt, daß die Zustimmung, die dem sich konstituierenden neuen Nationalstaat erteilt wird, an die grundlegende Bedingung der Friedenssichening und fundamentaler Rechtsgarantien geknüpft ist, an die Bedingung, daß dieser Staat intentional und faktisch Wohlstand, Gesittung und Kultur garantiert, und zwar nach Maßgabe des Möglichen. Der Vorbehalt betrifft also einen Konditionalis, das Sofem und Solange der humanistischen Zustimmung: sofern und solange die staatliche Macht in ihrer politischen Praxis den Maximen der humanistischen Ethik folgt, die Politik die Priorität des Ethischen praktisch anerkennt. Dieses Sofern und Solange bezeichnet Bedingung und zeitliche Dauer des humanistischen Konsenses, schließt damit auch die Möglichkeit seiner zeitlichen Begrenzung und Aufkündigung ein. Nur unter diesem einschneidenden Vorbehalt wird, meiner Überzeugung nach, von Shakespeare wie von anderen Humanisten seiner Zeit die absolutistische Ordnung als weltgeschichtliche Macht der Zivilisation und kulturellen Bildung bejaht, schließt sich der Humanismus dem Absolutismus an. Damit aber ist auch die Möglichkeit gegeben, daß die Horizonte humanistischer und orthodoxer Ideologie in den Randzonen verschmelzen. Der Humanismus und mit ihm Shakespeare sucht eine Welt jenseits der Agenturen der Gewalt. Er will die freie Entwicklung individueller Anlagen und Fähigkeiten, die ihm nur in einer gesellschaftlichen Ordnung möglich scheint, in der Friede herrscht, ein angemessener Wohlstand, Bildung, Kultur, in der grundlegende Menschenrechte anerkannt sind und praktisch befolgt werden. Schon für Erasmus galt, was Kant 2S0 Jahre später postulierte: Daß der Mensch für den Menschen nie Mittel sein darf, sondern Zweck an sich selbst ist. Eine Ordnung

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aber, in der ein solcher Mensch existieren kann, bedarf der staatlich geschützten Garantie gegen ihre Feinde innen und außen, sie kann auf politische Macht nicht verzichten. In dieser Einsicht liegt das pragmatische Moment auch der Shakespeareschen Geschichtssicht. Die Falstaff-Welt etwa wäre unfähig, eine solche Ordnung aufzubauen oder zu schützen - so sehr auch das ihr inhärente Prinzip von Körperlichkeit und Lust als „Korrektiv" gegenüber der notwendigen Disziplinierung politischen, geschichtsgestaltenden Handelns Gültigkeit besitzt. Ihr Wahrheitsmoment liegt im individuellen Recht auf Befriedigung körperlicher Bedürfnisse - in der ihr impliziten Forderung nach einer Gesellschaft ohne triebunterdrückende Moral, so wie die Vision eines Englands ohne Galgen ein großartiger Wunschtraum ist. Ob hier jedoch in einem konkreten Sinn von Utopie gesprochen werden kann, 42 dürfte höchst fraglich sein. Der Falstaffsche Utopismus kann nie mehr sein als die freigesetzte Anarchie der Lüste - wie die Falstaffsche Praxis von Gewalt (nicht zuletzt auch: patriarchischer Gewalt) alles andere als frei ist. Mit Bachtin und dem Karnevalesken sollte hier wie anderswo vorsichtig argumentiert werden - es sei denn, man wolle den Karneval selbst kritisch sehen: als deformierte eher denn befreite Körperlichkeit. Der Shakespearesche Falstaff jedenfalls repräsentiert nicht nur karnevaleske Befreiung. Er ist ebenso Sir John Oldcastle, ein heruntergekommener Junker, Raubritter und Wegelagerer, der vor Raub und Totschlag nicht zurückschreckt, wenn es darum geht, seinen Bauch und Beutel zu füllen. (Die Episode des Überfalls auf die Canterbury-Pilger hat bei allem Spaß eine durchaus ernste, auch eine politische Dimension). Zu befürchten steht, daß der befreite Falstaff weniger in der Gestalt emanzipierter Körperlichkeit vor uns treten würde — die nur die aller sein kann, nie das Privileg einzelner — als in der eines Ochs von Lerchenau. Der Realist Shakespeare sah, wie uns scheint, bei voller Anerkennung der Rechte des Leibs und tiefer Sympathie für den plebejischen Karneval, daß eine Welt des Wohlergehens und irdischen Glücks, an der alle Menschen teilhaben sollen, ohne Sicherung durch politische Macht und staatliche Ordnung keinen Bestand haben kann. Daher ist die Schicksalsfrage der Historien nicht die nach der Zukunft der Falstaff-Welt. Es ist die Frage nach einer solchen politischen Macht, die nicht mehr dem Nutzen Einzelner dient, sondern dem Wohl des Ganzen. Sie ist identisch schließlich mit der Frage nach einer Sozietät, die der repressiven Gewalt nicht mehr bedarf. S. Stimmen der humanitas Keine der Herrscherfiguren Shakespeares, sagten wir, vertritt die Position der Humanität ohne Bruch; keiner seiner Könige kann als reine Inkarnation des Christlichen Prinzen gelten. Bezeichnend, daß Richmond, der erste TudorKönig — der spätere Henry Vü. — im Text nicht als König erscheint, allein als Sieger der entscheidenden Schlacht (Bosworth 1485) - als Träger der Hoffnung, selbst Hoffender, nicht als Inhaber monarchischer Gewalt. Bezeichnend auch, daß die Herrschenden erst dann zu Einsicht und wahrer Erkenntnis finden, wenn sie nicht oder nicht mehr aus dem Zentrum der Macht sprechen - so der zur Macht42

Zum Begriff der Utopie, wie ich ihn verwende, cf. Metscher, Utopie der Liebe, I.e. (Anm. 12).

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austlbung unfähige Henry VI., der entmachtete Richard Π. Sie finden Einsicht und Erkenntnis, doch nicht das reine Wort der Humanität. Und doch hat die humanitas ihre Stimme, ungebrochen und klar: Richmond, sagten wir, als utopische Lichtgestalt vor dem Antritt der Macht; in Henry V der Herzog von Burgund, Friedensstifter und Vermittler zwischen den kriegführenden Parteien (er tritt als Akteur vorher gar nicht in Erscheinung); andere Gestalten und Stimmen mehr, wenn auch nie die agierenden Protagonisten. So die Duchess of York in Richard II, V,3, aus der, ohne Rücksicht auf Rang, Dekorum, Zeremonie, die Stimme zutiefst erschreckter Sorge und beklemmender Angst sich erhebt: der Angst um das Leben des einzigen Kindes (vgl. insbesondere Richard II, V,3, 72-76), in einer Schlüsselszene eines Stücks, das Schlüssel fUr den gesamten Zyklus der Historien ist. Eine andere solche Figur — wiederum eine Frauengestalt — ist Blanche of Spain in King John, die ihrem neuvermählten Gatten gegenüber für den Frieden spricht und gegen den Krieg. Sie kämpft um ihr Glück, der Lady Hotspur in Henry IV vergleichbar, die gegen ihren kriegs- und ruhmsüchtigen Gemahl für die Liebe plädiert (I Henry IV, Π.3). Blanche. Upon thy wedding-day? Against the blood that thou hast married? What, shall our feast be kept with slaughter'd men? (...)

Ο husband hear mel (...) Upon my knee I beg, go not to arms (...). (King John, ΠΙ,Ι, 227-233)

In Blanche und durch sie hindurch spricht die Stimme humanistischer Vernunft, eine erasmische Querela Pacis, die kein Gehör findet: „The sun's o'ercast with blood: fair day, adieu!" (V. 252). Die Szene endet in einer Orgie männlichen Blutrauschs, der losgelassenen Kriegswut: King John. (...) France, I am bum'd up with inflaming wTath; A rage whose heat hath this condition, That nothing can allay, nothing but blood. The blood, and dearest-valued blood, of France. (ΠΙ.1, 266-269)

In seinem vorzüglichen Kommentar bezeichnet der Herausgeber der Arden Edition von King John, E.A.J. Honigman, die Szene 1 von Akt IV als zentrale Szene des Dramas. 43 Es ist jene Szene, in der Hubert, a citizen of Angers, den Jungen Arthur, Neffen des Königs, in des Königs Auftrag blenden soll. Arthur bittet mit von Angst beflügelten Worten um Gnade und Mitleid: mercy, compassion. Seine Argumente sind ein einziger Überlebenskampf. Er kämpft ihn hier nicht umsonst. Das klare Argument, die rationale Rede, trägt dieses eine Mal den Sieg davon - eine Ausnahme bildend, keine Regel. Hubert läBt sich bewegen und verweigert den Auftrag des Königs. 43

E.A.J. Honigmann, Arden Edition von King John, London 1973, Introduction, p. LXs.

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Hubert. Well, see to live; I will not touch thine eye For all the treasure that thine uncle owes (...). Arthur. O, now you look like Hubert! all this while You were disguis'd.

σν,Ι. 121-126) Die Inhumanität erscheint als Verkleidung, angenommene Rolle, mit Brecht zu reden: als Maske des Bösen, hinter der sich, als anthropologische Substanz, ein menschlicher Kern verbirgt Dieser hat im Moment des Individuellen, im Eigennamen seinen Ausdruck. Die Szene ist ein Schulbeispiel humanistischer Anthropologie und Ethik. Bezeichnend dabei ist, daß die vorgeführte Haltung ein Akt des Widerstands, ein Verrat an der Agentur der Macht ist. Hubert stellt klar, daß er dem König geschworen hatte, die Tat auszuführen, wie er auch den festen Vorsatz dazu hatte (IV,1, 123-124). Menschlichkeit und Tugend sind seltene Ausnahmen in einer Welt, in der Gewalt die Regel, auch Regel des Überlebens ist. Die Gegenwart, die Epoche ist eisernes Zeitalter: im Wortspiel hot irons/iron age wird genau diese Bedeutung vermittelt. Überhaupt hat die Bilderwelt des Stücks einen zentralen Anteil an der Artikulation seiner humanistischen Botschaft. 44 Wir sprachen von „anthropologischer Substanz", und zwar im Zusammenhang mit dem Phänomen des Gewissens - oder sagen wir nur: eines anderen, besseren Selbst, das hinter den deformierenden, das individuelle Gesicht entstellenden Masken der Macht verborgen ist. So schwer es nun sein mag, den Shakespeareschen Dramen ein kohärentes Menschenbild, gar eine Anthropologie zu entnehmen, folgende Verallgemeinerung sollte (im Sinne einer hermeneutischen Hypothese) gestattet sein: Für Shakespeare war so etwas wie eine „anthropologische Substanz" des Menschen (was nicht zu heißen braucht: zeitlose menschliche Natur),45 in der Gewissen und Reue ihren Ort haben, Voraussetzung der in den Historien niedergelegten Weltsicht, Voraussetzung des durch sie vermittelten Geschichtsbewußtseins, Voraussetzung auch der Kritik politischer Macht, die diese Dramen leisten. Denn immer wieder werden in seinen Dramen — und zwar bis ins Spätwerk hinein (man denke allein an The Winter's Tale) — Gewissen und Reue zum Thema gemacht Noch in Richard III, der schwärzesten aller Historien, gibt es eine Macht des Gewissens, wie sich auch Spuren der Reue finden lassen. Selbst Richard ist davon nicht frei, wenn in der Nacht vor Bosworth die Geister der von ihm Geschlachteten erscheinen und sich lähmend auf seine Brust legen. Er muß das Gewissen zurückweisen, das ihn, wie er meint, zum Feigling machen will, um wieder „er selbst" sein zu können. Das Böse erscheint hier als Geist der absoluten, gnadenlosen Selbst- und Eigenliebe: „Richard loves Richard, that is,

** Cf. op. cit. p. LIXss. 49 Hier wird keinem „essentialistischen Humanismus" das Wort geredet, wenn ich auch die Bemühungen neuerer Forschung, dem Shakespeareschen Menschenbild das Konzept eines „theoretischen Anti-Humanismus" Althusserscher Prägung zu unterstellen (so etwa Dollimore, Radical Tragedy, I.e. (Anm. 7)) für absurd halte.

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I and I" (cf. Richard III, V,3, 178-184). Und noch der Kindesmörder für Geld, Sir James Tyrrel, der den schrecklichen Auftrag von seinen Schergen ausführen läßt, ist sich seines bodenlosen Verbrechens bewußt: „tyrannous and bloody act (...)". „The most arch deed of piteous massacre/That ever yet this land was guilty of* (Richard III, IV,3, 1-3), wie auch der zweite der am Mord an Clarence beteiligten Mörder unmittelbar nach der Tat den Mord bereut und seine Hände, Pilatus gleich, von der Bluttat reinwaschen möchte (Richard III, 1,4, 274-276) — im Gegensatz freilich zu seinem professionelleren Spießgesellen, der ihn ob seines Gewissens als Feigling schilt: „Go, coward as thou art" (1,4, 282). Omnipräsent ist das Gewissen nicht, eher eine tiefe, oft schweigende, verschüttete oder verdrängte, selten handlungsleitende Schicht menschlicher Psyche, die in Grenzsituationen der Gewalt freilich sich unmißverständlich zu Wort zu melden vermag.

III. Krisis und Transformation des politischen Ideals 1. Apologie und Subversion des monarchischen Prinzips So wenig wie für das politische Schrifttum im England seiner Epoche,46 gab es für Shakespeare eine Alternative zur monarchischen Macht. Aus diesem Grund ist die Suche nach einer gerechten Gesellschaft nicht an alternativen Formen politischer Herrschaft gegenüber dem Königtum orientiert, sondern an der Figur des gerechten Königs. Dessen Symbolgestalt ist, im Sinne des erasmischen Humanismus, der Christliche Prinz. Er ist Ideal, und als solches bewußt mit der Wirklichkeit konfrontiert. Dies ist vermutlich der Grund, warum keine der Königsfiguren das Konzept des Christlichen Prinzen ungebrochen verkörpert. Eher läßt sich sagen (wir wiesen darauf hin), daß die Historien insgesamt signifikante Varianten der Möglichkeit monarchischer Macht — eine Typologie des Königtums und von Königen — vorführen, von denen zwar keine mit der idealen Norm identisch ist, die jedoch in unterschiedlichem Maß in ihrer politischen Macht legitimiert sind, bzw. deren Legitimität im unterschiedlichen Maß bestritten werden muß - eine Typologie monarchischer Machtformen zwischen den Extremen der Tyrannei (Richard ΙΠ) und einer zumindest relativen Legitimität (Henry IV. und Henry V.). Unbestreitbar repräsentiert Richard ΙΠ. — reinste Inkarnation des machiavellistischen Machtwillens und zugleich (was diesen Machtwillen kommentiert) Symbol des vice und theatralische Verkörperung des scholastischen Konzepts des Bösen — den Tiefpunkt monarchischer Illegitimität, wir möchten sagen: die Form der absoluten Dlegitimität monarchischer Herrschaft. Problematischer und schwieriger ist die Frage nach dem entgegengesetzten Extrem: gibt es bei Shakespeare überhaupt Königsfiguren, deren Macht eindeutig legitimiert ist? Und wenn ja, welche Könige sind das? Wenn wir uns — nicht ohne Bedenken und mit (aufgrund neuester Forschungsergebnisse unabweisbaren)47 Einschränkungen — für Henry V. und, eingeschränkter noch, für seinen Vater, den 46

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Cf. Wells, Shakespeare, I.e. (Anm. 7) p. 9; auch Prior, The Drama of Power, I.e. (Anm. 7) p. 9. Cf. die Arbeiten von Dollimorc/Sinfield, Greenblatt, Wells, Walch (Anm. 7).

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„Usurpator" Bolingbroke entscheiden, dann mit Differenzierungen, über die noch gesprochen werden muß. Zweierlei ist dabei festzuhalten. Legitimität heißt auch hier nur: eine relative, pragmatische, also eingeschränkte Legitimität. Nirgendwo bei Shakespeare ist die Legitimität des Monarchen absolut. Der Christliche Prinz existiert allein in der Form humanistischer Idealität und damit als Norm der Bewertung der realen Prinzen, er hat keine Existenz in der wirklichen Welt. Eine solche Existenz hat gleichwohl der Tyrann! Und zweitens: Legitimität der politischen Macht ist nicht einfach gleichzusetzen mit moralischer Integrität. Henry VI. etwa, der diese fraglos besitzt, ist als politischer Herrscher disqualifiziert, da er, zur Machtausübung unfähig, das Chaos aus Selbstsucht, Anarchie und Willkür, das das Reich zerreißt, nicht zu bändigen vermag. 48 Ja, seine Machtunfähigkeit wird zur Ursache der nationalen Auflösung. Unter seiner Herrschaft zerfällt die Nation, die Wölfe brechen los, tyrannische Gewalt wird freigesetzt. Shakespeares implizite politische Ethik ist also keine des guten Willens allein. Für ihn dürfte eher Hegels Satz gelten, daß die Wahrheit der Absicht die Tat selbst ist. Aus diesem Grund ist die Frage der Legitimation immer auch eine praktische Frage, keine der ethischen Idee für sich. Legitimität muß sich pragmatisch, d.h. im praktischen Handeln bewähren - Test der Ethik ist die Praxis. Aus diesem Grund auch ist der „Pragmatiker" Bolingbroke, selbst wenn er Macht usurpiert (und in dieser Hinsicht Schuld auf sich lädt), in höherem Maße legitimiert als der korrupte, zur Machterhaltung unfähige, in der Machtausübung tyrannische Richard (der als Teil der Vorgeschichte vorausgesetzte Mord an Gloucester hat genau den Sinn, den König des Mißbrauchs seiner Macht zu zeihen). Nehmen wir den Fall Bolingbrokes - Henrys IV. Ein Argument für seine Legitimität dürfte fraglos sein, daß der neugekrönte König in der entscheidend wichtigen 3. Szene des S. Aktes die flehentlichen Bitten der Duchess of York erhört — gegen das Votum übrigens des patriarchischen Vaters — und ihrem des Hochverrats überführten Sohn Aumerle vergibt Diese Verzeihung erfolgt im Bewußtsein eigener Verfehlung: ,J pardon him, as God shall pardon me". Er wiederholt: „With all my heart/I pardon him", worauf die Duchess repliziert: „A god on earth thou art" (V,3, 129-134). Durch den Akt der Verzeihung, den Verzicht auf Bestrafung oder Rache, tritt der König in sein Recht ein, ja wird seine „Göttlichkeit" vindiziert (das Konzept des Divine Right of Kings ist hier indirekt angesprochen). Der König also hat sich durch sein politisch-ethisches Handeln selbst legitimiert. Das Konzept der Erbfolge wird damit suspendiert, es hat zumindest nicht mehr primäre Bedeutung. Es ist durch ein Konzept praktisch-ethischen Handelns ersetzt. Hier dürfte ein Zentrum der politischen Ethik Shakespeares liegen. (Noch im Tempest hat der Gesichtspunkt des Bestrafungsverzichts, positiv gesprochen: der Verzeihung oder Vergebung, einen grundlegenden Sinn). 49 Ein weiteres Kriterium der Legitimität monarchischer Macht ist der auch in der zeitgenössischen Theorie verankerte Gesichtspunkt der Zustimmung des Volks.50 48

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Morton nennt Henry VI. „the most virtuous and the most disastrous" aller Könige Shakespeares (Shakespeare's Historical Outlook, I.e. (Anm. 7) p. 23S). Cf. Thomas Metscher, Shakespeares Spätstücke, als episches Theater betrachtet, in: Shakespeare Jahrbuch IIS (1979) 3S-S0; id., Utopie der Liebe, I.e. (Anm. 12). Cf. Wells, Shakespeare, I.e. (Anm. 7) p. 112ss. Daß sich auch bei Morus diese Auffas-

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Unter Hinweis auf William Baldwins The Mirror for Magistrates (1563) schreibt Robin Headlam Wells: Baldwins „definition of kingship allows for precisely the sort of situation in which Bolingbroke and Richmond acquired the title. In effect he is making the pragmatic observation that the consent of the people (...) is a more important qualification for kingship than hereditary title". 51 Genau dies gilt filr Richard II. Bereits im ersten Akt wird sichtbar, daß der Grund für Richards Furcht vor Bolingbroke dessen Popularität beim „gemeinen Volk" ist, „the common people" (1,4, 20-36). Es ist das Motiv auch, für Bolingbrokes Verbannung Sorge zu tragen. Im S. Akt, in dem das Legitimationsproblem in den Mittelpunkt der Handlung rückt, wird gerade der Gesichtspunkt des Volkskonsenses als entscheidendes Argument ins Spiel gebracht. So berichtet der loyale Duke of York unter Tränen, daß, während „rude misgoverned hands from windows' tops" auf König Richards Haupt Staub und Unrat warfen, Bolingbroke „von allen Zungen" enthusiastisch gefeiert wurde: (...) all tongues cried „God save thee, Bolingbroke"! You could have thought the very windows spake, (...) and that all the walls With painted imagery had said at once .Jesu preserve thee I Welcome Bolingbroke!" Whilst he, from one side to the other turning. Bare-headed, lower than his proud steed's neck, Bespake them thus, „I thank you, countrymen*4. (V,2, 11-20).

Selbst York, Vertreter loyaler Orthodoxie, akzeptiert schließlich den neuen König als legitimen Herrscher, ja als gottgewollt (V,2, 37) - „To Bolingbroke are we sworn subjects now" (V,2, 39). 52 Deutlich allerdings ist, daß die Legitimationsfrage bei Shakespeare nicht auf einen Faktor beschränkt werden kann. Die Volkszustimmung allein legitimiert den König nicht. Sie spielt vielmehr eine wichtige Rolle innerhalb eines Ensembles von Momenten, in dem ethisch motivierte politische Praxis — also praktisches Handeln — der entscheidende Faktor ist Der erbliche Titel dürfte in keiner Weise mehr Priorität besitzen (wie auch Erasmus diesen Gesichtspunkt nicht mehr als entscheidenden ansah). Mit Henry IV haben wir den Fall eines Königs, dessen Ausgangspunkt die Illegitimität im Sinne traditionellen Denkens ist: Henry verletzt das Divine Right of Kings durch Usurpation monarchischer Macht. Erst im Verlauf des Dramas sung findet, belegen Baumann/Heinrich, Monis, I.e. (Anm. 14) p. 76. 51 Wells, Shakespeare, I.e. (Anm. 7) p. 112. 52 Ich teile Wells' Auffassung, der mit Hinweis auf den „cautious pragmatism" von Sir Thomas Smiths De Republica Anglorum ausführt: „it is clear that Shakespeare has much sympathy with Sir Thomas Smiths's definition of a king, viz, one ,who by succession or election commeth with the good will of the people to that government' (...). What we find in Shakespeare is not the didactic assertion of an .orthodox' doctrine of absolute obedience to kingly authority, but a recognition, first of the horrors of civil war, and second, of the fact that in practice a usurper of ability may contribute more to social harmony than an irresponsible king with impeccable hereditary credentials" (op. cit. p. 115).

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konstituiert sich Legitimität: sie wird durch politisches Handeln des neuen Königs hergestellt, erstritten und bewiesen. Am Beispiel Henrys V. liegt der Sachverhalt genau umgekehrt. Eine zunächst fest vorausgesetzte, sicher scheinende monarchische Legitimität wird im Vollzug der dramatischen Handlung zunehmend in Frage gestellt und relativiert. Was, genauer gesprochen, zur Frage wird, ist die Legitimität des Krieges gegen Frankreich. Wird diese auf der ideologisch „offiziellen" Ebene des Chors, der, die „Muse of fire" anrufend, „warlike Henry" in der Gestalt des Kriegsgottes martialisch feiert, propagandistisch behauptet, so wird im Verlauf der Handlung diese Sicht, und zwar durch die Darstellung selbst, zunehmend unterminiert. Der falsche Ton, ja die ostentativ ideologischen Kriegsrechtfertigungsreden, mit denen der Rechtsanspruch auf Frankreich begründet wird (1,2) — das juristische Kauderwelsch der Bischöfe von Canterbury und Ely — denunziert die Sache, die vertreten werden soll, mit ftlr den aufmerksamen Rezipienten großer Eindeutigkeit. Canterburys Preisrede auf den exemplarischen Monarchen (1,1, 38-S9), der, nach Abstoßen seiner Jugendhörner, zum „true lover of the holy church" (1,1, 23) gewandelt sei, klingt affektiert und überzogen (den Tugendkatalog des eras mischen Christlichen Prinzen enthält die Rede Canterburys bezeichnenderweise gerade nicht, was sie enthält, ist schwammig verblasene Lobhudelei). Es wird kaum möglich sein, dies Herrscherlob aus klerikalem Munde als unironisch und ernst gemeint zu akzeptieren. 33 Nur einem Blick, der blind ist gegenüber der hochkarätigen ästhetischen Komplexität und dialektischen Semantik der Historien kann Henry V als „nationales Heldenepos" 5 4 erscheinen. Weit eher ist das Stück die kritische „Verarbeitung widergespiegelter Orthodoxie" denn deren Verkündigung. 5 5 Was bedeutet, daß Henry V weniger die nationale Geschichte selbst als ihre ideologische Spiegelung in der tudor-orthodoxen Geschichtsschreibung und Propagandistik zum Gegenstand hat. Der Text spiegelt auf der Oberflächendimension die „offizielle" Version des nationalen Helden: Holinsheds und Halls „Klischeevorstellung von Henry als dem idealen Regenten und verantwortungsbewußten Führer des Landes, dem gerechten Richter und väterlichen Freund seiner Soldaten". 56 Er übernimmt sie, um sie in einer zweiten Bedeutungsdimension des Texts zu unterlaufen. Daher ist es nur scheinbar richtig zu sagen, Shakespeare habe sich „enger als ge-

Wells hat die Doppeldeutigkeit der Gestalt Henrys V. sehr richtig gesehen, wenn er schreibt: „Looked at from one point of view, Shakespeare's King Henry seems the perfect textbook monarch; looked at from another, however, he appears at times almost like a parody of the Christian prince" (op. ciL p. 69). Er beruft sich auf die Auffassung von Andrew Gurr, „that, while Shakespeare was certainly familiar wilh The Education of α Christian Prince, and echoes many of its precepts in his portrayal of Henry V, Erasmus himself could never have condoned the war against France" (Andrew Gurr, Henry V and the Bees' Commonwealth, in: Shakespeare Survey 30 (1977) 61-71). Wells verweist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf das Schlußkapitel von Erasmus' Institutio Principis Christiani (Shakespeare, I.e. (Anm. 7) pp. 74-77). 54 So Mario Praz in Kindlers Literatur-Lexikon, München 1974, p. 2260, in der Substanz auch Müller in Schabert, Shakespeare-Handbuch, I.e. (Anm. 6) p. 378ss. « Walch, Heinrich V., I.e. (Anm. 7) p. 86. M Schabert, Shakespeare-Handbuch, I.e. (Anm. 6) p. 377.

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wohnt an das tradierte Material gehalten".57 Eine genaue Lektüre ergibt, daß die „offizielle" Ebene der Textbedeutung durch weitere semantische Ebenen aufgehoben oder zumindest hochgradig relativiert wird. So wird der scheinbar, nämlich propagandistisch gerechtfertigte nationale Krieg gegen Frankreich als manipulierter Aggressions- und Raubkrieg entlarvt. 58 Dem plebejischen Standpunkt wird jetzt breiter Raum gegeben und noch entscheidender: seine Bewertung ist positiv. Er wird mit großer Sympathie dargestellt. Auf die Frage der Soldaten nach Rechtfertigung des Kriegs (IV, 1) hat der König keine gute Antwort. Gezeigt wird, daß das Volk den Preis des Krieges zahlt. Er ist an den Verheerungen des Landes abzulesen. Der Text ist bewußt die Gestaltung eines Ensembles widersprechender Stimmen. Auf der ersten offiziellen Ebene macht er sich zur Stimme nationaler Ideologie, zur Verkündung des Mythos des gerechten Expansionskrieges, so wenn im Prolog (1-34) zum ersten Akt die „Muse of fire" angerufen und „warlike Harry" in Mars' Gestalt gefeiert wird. Die Ebene heroisierender Deklamation wird jedoch bereits in der darauf folgenden Zeile relativiert, wenn es heißt: „and at his heels, / Leash'd in like hounds, should famine, sword and fire/Crouch for employment". Das Bild des auf der Lauer liegenden, sich duckenden Tigers, dem wir auch in der Pynhus-Parabel in Hamlet begegnen, scheint assoziiert 59 Die offizielle, ideologische Seite des Krieges wird kontrastiert mit seiner Wirklichkeit. Henry ist ein disziplinierter Monarch, der die „hounds of war" fest an der Leine hält, der aber auch bereit ist, sie loszulassen, wenn seine genau kalkulierten Interessen es erfordern. Das Thema kolonialer Aggression und Expansion wird auf der Ebene einer grotesken Komik parodiert, damit aber in der Form eines verfremdenden Kommentars sichtbar gemacht. Dies geschieht durch die Gruppe der Strolche, Strauchdiebe und Marodeure um Pistol (nomen est omen), der die Gründe für seine Teilnahme an der französischen Expedition klar auf den Tisch legt: „Let us to France; like horse-leeches, my boys J To suck, to suck, the very blood to suck!" (Π,4). Das Motiv wird in IV,4 wieder aufgenommen: „As I suck blood, I will some mercy show". Pistols Worte kommentieren die Gnade und Barmherzigkeit, die der große König der Engländer den Besiegten gegenüber zeigt. Das Verfahren ist ein solches der impliziten Analogie. Das Stück wirft damit verdeckt die Frage auf, ob nicht die Gründe, die den großen König zu seiner Expedition nach Frankreich bewegten, im Kern mit denen der Strauchdiebe identisch sind. Mit Henry V. tritt, von den Vorgaben der Quellen her, ein idealer Monarch in die reale Geschichte ein. Und so sehr Henrys Idealität auch von Shakespeare relativiert wird, unleugbar ist, daß er in mancher Hinsicht die Züge des Christlichen Prinzen trägt. 60 Wie soll dieser Widerspruch zu verstehen sein? Folgende Deutung sei zur Diskussion gestellt. In der Tat ist Henry V. die positivste der Shake37 38 39

60

Op. cit. Cf. Schlösser, Shakespeare, I.e. (Anm. 7) pp. 233-252. Cf. Metscher, Krieg und Frieden, Kapitel I: Die Maske des Pyrrhus, I.e. (Anm. 35) pp. 43-49. Cf. Wells, Shakespeare, I.e. (Anm. 7) pp. 69-74. Für John F. Walter ist er schlicht „the ideal prince" (King Henry V, Anten Edition, London 1979, Introduction, p. XXV).

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speareschen Königsfiguren - mit vielen Zügen des erasmischen Ideals. Das Stück nun zeigt den Christlichen Prinzen als historischen Akteur - als geschichtlich handelndes Subjekt. In der Praxis geschichtlichen Handelns also wird die Idealität der humanistisch konzipierten Königsfigur lädiert, das monarchische Prinzip selbst erweist sich als zutiefst problematisch. Daß die Machtgier Richards Böses zeugt, ist kein Argument gegen die Idee des guten Königs es verstärkt im Gegenteil die Forderung nach ihm. Richards Untaten rufen Richmond auf den Plan (wie in Richard II des gesalbten Königs Korruption den „Usurpator" Bolingbroke) - unterstreichen politische Notwendigkeit wie ethische Legitimität des „neuen" Königs. Wenn aber der ideale König selbst in seinem historischen Tun die Ideale, die er verkörpern will, verletzt, ja verletzen muß, nicht aus individueller Verfehlung, sondern aus geschichtlicher Notwendigkeit, so wird das Konzept des idealen Herrschers selbst zum Problem - wie es die Idee politischen Handelns wird. So gesehen, zeichnet sich bereits in Henry V eine Problemstellung ab, die in den Tragödien eine tragende Rolle spielt, und nicht zufällig erscheint es, daß das Historienprojekt mit Henry V abbricht, Hamlet (1600/1601) unmittelbar auf Henry V (1599) folgt. Die historische Erfahrung, die der vorgeschlagenen Lesart nach in Henry V zum Ausdruck kommt, ist die einer fundamentalen Krise des monarchischen Prinzips. Ja, ich sehe das Stück als Niederschlag eines Krisenbewußtseins, das den Abbruch des Projekts der Historien zur Folge hat — im Sinn einer dramatischen Historiographie nationaler Geschichte — und zur Aufnahme des Projekts der großen Tragödien führt, insgesamt zu den zutiefst geschichtspessimistischen Dramen, die Shakespeare in der Zeit zwischen 1600 und 1605/08 verfaßt (Troilus and Cressida und Timon of Athens sind für diesen Zusammenhang von gleicher Bedeutung wie Hamlet, Othello, King Lear und Macbeth). Abbruch des Projekts der Historien? Krisenerfahrung? Wie verträgt sich das mit dem offensichtlich so positiven, „glücklichen", hoffnungsfreudigen Ende, mit dem Henry V, letztes Drama der beiden Tetralogien nationaler Geschichte, schließt - der Hochzeit Henrys mit Katherine of France. Und heißt es nicht ausdrücklich im abschließenden Chor: Small time, but in that small most greatly lived This star of England: Fortune made his sword, By which the world's best garden he achieved,

(..). (5-7) Nun, wir haben im Laufe des Dramas der ideologisch schönfärbenden Stimme des Chors mißtrauen gelernt. Im Grande aber und genau gelesen spricht es hier der Chor selbst aus, daß die Harmonie des Endes scheinhaft, das Glück nicht von Dauer war, der „beste Garten der Welt" nie errichtet wurde, der Friede Illusion blieb. Er sagt es, wenn er fortfährt: Henry the Sixth, in infant bands crown'd King Of France and England, did this king succeed; Whose state so many had the managing, That they lost France and made his England bleed: Which oft our stage hath shown; (...).

(9-13)

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„Which oft our stage hath shown": Es scheint plausibel, dies als Hinweis auf Shakespeares eigene Bflhne zu lesen - auf sein Projekt nationaler Geschichtsdramatik, das eben mit jenem König begann, von dem der Chor hier spricht: Henry VI. 6 1 Wir erinnern an den Beginn dieser ersten Historie: Dead March. Enter the Funeral of King Henry the Fifth, attended on by (...) Bedford. Hung be the heavens with black, yield day to night) Comets, importing change of times and states, Brandish your Crystal tresses in the sky, And with them scourge the bad revolting stars. That have consented unto Henry's death Henry the Fifth, too famous to live long! England ne'er lost a king of so much worth. (I Henry VI, 1,1, 1-7)

Die Idee des „guten Königs" war offenkundig von Beginn an vorhanden - zugleich aber auch, als Moment der geistigen Konzeption des Gesamtprozesses nationaler Geschichte, der Gedanke eines Scheiterns. Denn erinnern wir uns: mit diesem frühzeitigen Tod Henrys V. beginnt die Geschichte des Unheils, die Zeit der historischen Weltnacht, die Schlachtbank der Rosenkriege. So schließt sich ein Kreis — und vom Ende Henrys V. her gesehen, wird das Bild eines Kreises nahegelegt —, der sich von diesem Ende her als Kreislauf eines Scheiterns enthüllt Und die Worte, mit denen der Chor-Epilog in Henry V beginnt, werden ohne Zwang auf das ganze Projekt der Geschichtsdramen zu beziehen sein: als Projekt eines Autors, der mit „rauher, ungelenker Feder" „die Geschichte verfolgt" hat, im „kleinen Raum" der Bühne „mächtige Männer einschließend", wobei er ihren Ruhm verstümmelte (mangling in V. 4 heißt: zerreißen, zerfleischen, zerfetzen, zerstückeln, verstümmeln). Der willkürlichen Auswahl und Auslassung wird der Autor angeklagt 62 Thus far, with rough and all-unable pen. Our benging author hath pursu'd the story; In little room confining mighty men, Mangling by starts the full course of their glory.

(1-4) Daß dies höchste Shakespearesche Ironie ist, kann kaum einem Zweifel unterliegen - denn ist es nicht gerade jene .Auswahl", die der poetische Text mit den sog. Tatsachen vornimmt, die „Auslassung" gerade auch des überlieferten, offiziellen Bildes von Geschichte, dessen Anliegen der Chor im ganzen Drama vertreten hat, wodurch allererst poetische Wahrheit sich herstellt, das Geschichtsbewußtsein des Shakespeareschen Geschichtsdramas sich konstituiert. Daß dieses Geschichtsdrama sich dem Ruhm der Mächtigen verweigert, sich als Kritik ihrer Macht versteht, wird ihm hoch anzurechnen sein.

61 62

Cf. Morton, Shakespeare's Historical Ouüook, I.e. (Anm. 7). So die Lesart von by starts in Chorepilog V.4 der Arden Edition: „by arbitrary selection or omission" (p. 156).

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2. Plebejische Perspektivierung Die Auffassung einer hochgradigen Ambiguität der Königsfigur in Henry V wird von der neueren Forschung gestützt. So bestätigt auch Günter Walch eine Sicht, die den Text als Ausdruck einer fundamentalen historischen Krise, der Erschütterung der Institution des Königtums insgesamt versteht. Shakespeare „beläßt die historische Königsfigur in ihrer Identität und zeigt an der von ihr betriebenen Indienstnahme geschichtlich überlieferter feudaler ideologischer Formen genau das, was am Ende des 16. Jahrhunderts geschah": das .Auseinandertreten der Interessen von Nation und absolutistischer Macht". Was sichtbar wird, sei „die Auszehrung des Königsamts durch den realen Gang der Geschichte".63 Dem idealisierenden Chorus — als der Figur des „offiziellen Historiographen" — werde im Stückverlauf entschieden widersprochen.64 Damit korrespondiere der qualitative Zuwachs an Bedeutung, den die plebejische Dimension in den Figuren der Soldaten erhält. Wir möchten diese Lesart noch verschärfen. Henry V ist, untergründig kodiert, für den historisch und politisch sensiblen Rezipienten jedoch klar dechiffrierbar, das Dokument — sagen wir besser: das Geheimdokument — eines Scheiterns. Der Christliche Prinz selbst gerät auf der Schlachtbank Geschichte in eine tiefe Krise und zerbricht. Seine Idealität zerbröckelt im geschichtlichen Handeln. Sein Glück, das erkämpfte Land des Friedens — „the world's best garden", was ja auch heißen kann: die „beste aller Welten", die er angeblich hinterlassen hat — ist bloßer Schein, sich bald verlierende Illusion. Die humanistische Utopie: der Gedanke, daß der christlich erzogene Monarch eine Ordnung des Ausgleichs, der Gerechtigkeit und des Friedens aufbauen und als dauerhafte Weltgestalt garantieren könne, erweist sich vor der Geschichte als Trug: die heroische Illusion des klassischen Humanismus. Was mit dem Christlichen Fürsten Henry V. scheitert, ist also kein Individuum, sondern ein Prinzip und eine Idee: die Idee der Verbindung humanistischer Vernunft mit königlicher Macht - die frühneuzeitliche Version der Kooperation von Dichter und Regent, poetisch-philosophischer und politischer Macht, 65 damit auch das humanistisch gedeutete Prinzip monarchischer Herrschaft. Mit Henrys V. Versuch, geschichtliche Praxis nach Maßgabe einer humanistischen Idealität zu gestalten, als „guter König" auch geschichtlich-politisch zu handeln, scheitert das politische Ideal des klassischen Humanismus, zumindest, insofern es den Gedanken einer Fundierung der Politik auf die Ethik mit der Institution der absoluten Monarchie oder fürstlicher Herrschaft überhaupt verband. Es scheitert, weil es in der geschichtlichen Praxis, im Handeln des Königs selbst sich aufgeben muß, weil es im politischen Handeln seinem Gegenprinzip, dem rein instrumenteilen („machiavellistischen") Machtkalkül geopfert wird, weil es gezwungen ist, seine Idealität für Zwecke der Herrschaft zu instrumentalisieren, weil es sich im Vollzug geschichtlichen Handelns aufzehrt und am Ende unterliegt. Das aber bedeutet: nicht nur scheitert ein Ideal im historischen Handeln. « 65

Walch, König Heinrich V., I.e. (Anm. 7) p. 81s. Op. cit. p. 85. Gather, Friedens-Utopie, I.e. (Anm. 16) p. 523s.

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Auch das Ideal selbst wird problematisch im historischen Prozeß, gerät in eine fundamentale Krise seiner Legitimität und Geltung. Gerade die „Lichtgestalt" eines christlichen Königs war notwendig, um ein solches Scheitern sichtbar werden zu lassen: sein Scheitern in der konkreten Konfrontation mit geschichtlicher Macht in Innen- wie Außenpolitik. Die Schlachtbank Geschichte verschlingt den Christlichen Prinzen, der sie als Held und Akteur betrat, mit dem Anspruch, dem Gedanken des Rechts zum Durchbrach zu verhelfen: Geschichte nach diesem Gedanken zu gestalten. Von diesem Ende her, dem implizit tragischen Ausgang des Stücks, diesem zutiefst geschichtspessimistischen Abschluß des Historienprojekts insgesamt, erscheinen Richards Π. Worte von den „Trauermären von der Kön'ge Tod" (wie August Wilhelm Schlegel poetisch schön, doch auch poetisch schönfärbend übersetzt - das Original klingt härter: „sad stories of the death of kings") in einem neuen Licht. Sie enthüllen sich als tragische Anagnorisis (im Sinn des Aristoteles): als Artikulation des quintessentiellen Resultats einer geschichtsphilosophischen Erkundung, als letztendliches Urteil über die Historien selbst: How some have been depos'd, some slain in war, Some hauted by the ghosts they have depos'd. Some poisoned by their wives, some sleeping kill'd,

All muithered (...). {Richard //, Π.2. 157-160) Die innere Problematik, ja Krise des monarchischen Prinzips war, so vermuten wir, von Beginn an den Historien inhärent. Richard II, den wir zunehmend als Schlüsseldrama für den ganzen Zyklus lesen lernen, enthält selbst die radikalste, entschiedenste Relativierung, ja subversive Unterminierung dieses Prinzips, die im Rahmen der Historien zur Sprache kommt. Sie entstammt dem Munde Richards und findet sich in jenem tiefgründigen, ins Wesen der Macht vordringenden Monolog in ΙΠ,2, aus dem auch die Formulierung der „Trauermären von der Kön'ge Tod"/„sad stories of the death of kings" stammt. Bei diesem Monolog handelt es sich um einen Akt fundamentaler Wirklichkeitserkenntnis, ausgelöst nicht allein durch die reale Erfahrung des Machtverlusts, sondern mehr noch die der Machtlosigkeit, ja Ohnmacht des Prinzips des von Gott eingesetzten, gesalbten Königs, des „deputy elected by the lord", als dessen Vertreter sich Richard versteht - nicht den Menschen, nur Gott verantwortlich (Π,2, 36-62). Es ist eine Erfahrung der Ohnmacht, denn von den Engeln Gottes, die er als Kämpfer seiner heiligen Sache erwartet hatte (V. S8-62), war bekanntlich kein einziger erschienen. Die Erfahrung von Machtverlust und Ohnmacht läßt ihn einen Blick auf den Grund der Dinge werfen. Er erkennt die Scheinhaftigkeit des Prinzips königlicher Macht. Es ist Schein angesichts des einzigen Königs, der wirklich herrscht - gottähnlich herrscht - : des Todes. Richard durchschaut Ehrerbietung, Respekt, Tradition, äußere Form, Zeremonie als angemaßten, hohlen Schein der Macht. Und er erkennt die fundamentale Gleichheit aller Menschen angesichts ihrer körperlichen Bedürftigkeit, ihrer Sterblichkeit, ihrer Verletzbarkeit und unaufhebbaren Schwäche:

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502 (...) for within the hollow crown That rounds the mortal temples of a king Keeps Death his court, and there the antic sits, Scoffing his state and grinning at his pomp, (...) Cover your heads, and mock not flesh and blood With solemn reverence; throw away respect. Tradition, form, and ceremonious duty; For you have but mistook me all this while. I live with bread like you, feel want. Taste grief, need friends - subjected thus. How can you say to me, I am a king? (ΙΠ.2, 161-177)

Im Monolog Richards verschmelzen Narr und Tod zu einer einzigen Figur, die Herr der Handlung und Subjekt der Macht ist. Der Tod erscheint als die den sozialen Rang verhöhnende, die royale Pracht angrinsende Nairenfigur. Zugleich ist er der Spielleiter eines Welttheaters, auf dem die Könige ihre Rollen, die Spiele der Macht spielen, des Eigendünkels und der Selbstbesessenheit voll, in der Meinung, ihr Fleisch sei wie ein Panzer fest, ihr Körper einer Burgmauer gleich - bis der Tod kommt und mit einem kleinen Nadelstich den cäsarischen Illusionen ein Ende bereitet (ΠΙ,2, 164-170). Der Tod ist in die Funktion eines Welt-Gotts geschlüpft, des gottgleichen Regisseurs eines Welttheaters. Vielleicht läßt sich sagen: nach der Erfahrung des Todes Gottes - aus Richards Sicht hat nicht sein Gott ihn im Stich gelassen: dieser Gott hat sich als Trug und Illusion erwiesen - übernimmt der Tod dessen metaphysische Rolle. Er ist Herr allen Lebens. Dieser Herr aber ist ein großer Gleichmacher. Vor ihm sind alle Menschen in ihrer Schwäche und Sterblichkeit gleich. Aus dieser Erkenntnis — und wie meist bei Shakespeare ist die poetische Erkenntnis zugleich auch eine Erfahrungsform — wird eine positive Schlußfolgerung gezogen, man möchte sagen: hinter dem Rücken Richards, des abgesetzten Königs. Der König, heißt es, lebt wie die anderen Menschen von Brot, fühlt Mangel, kostet Leid, braucht Freunde. Gerade die Erfahrung der Bedürftigkeit begründet also den Gedanken von Gleichheit und Brüderlichkeit, der sich am Ende von Richards Rede zu Wort meldet. Auch die soziale Natur des Menschen: daß er angewiesen ist auf die Hilfe anderer, entspringt materieller Bedürftigkeit. In dieser fundamentalen Bedürftigkeit sind alle Menschen gleichermaßen „Untertanen" - „subjected thus": die Untertanen des gleichmachenden Todes. Der Gedanke hat fraglos eine eminent politische Bedeutung. Denn wo alle Untertanen sind, kann es auch keine Könige geben. In dieser Sicht kommt die Haltung „feierlicher Ehrerbietung" („solemn reverence") dem König gegenüber einer Verspottung des menschlichen Status gleich: zutiefst falsch ist die Haltung der vor königlicher Macht entblößten Köpfe. Aus diesem Grunde Richards „Cover your heads, and mock not (...) (171-172). Mit solcher Auffassung aber — der Erkenntnis der fundamentalen materiellen Gleichheit der Menschen und dem aus ihr abgeleiteten Postulat der Brüderlichkeit — geht Shakespeare weit über die Position einer bloßen Negation des monarchischen Prinzips hinaus. Sichtbar werden die Grundelemente eines neuen Prinzips sozialer Organisation und politischer Macht - in den Grundelementen zumindest: des plebejisch-egalitären. Wir glau-

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ben uns berechtigt, im Zusammenhang seiner Artikulation von einem plebejischen Humanismus sprechen zu dürfen. 66 Es ist so nicht zufällig, daß das Motiv der Gleichheit gerade in jener Szene in Henry V wieder aufgenommen wird, in der der Standpunkt der Soldaten — mithin eine plebejische Position — mit der größten Ausführlichkeit zu Worte kommt: Szene IV,1, die den König auf seinem anonymen Gang durchs Lager und im Gespräch mit den Soldaten zeigt. König Henry selbst bringt den Gedanken der Gleichheit ins Spiel - wobei es, kraft einer allein dem Rezipienten zugänglichen Ironie, zunächst offenbleibt, ob dieser Gedanke von Henry emst gemeint ist oder allein „taktischen" Sinn besitzt (etwa den eines Tests der Gesinnung der Soldaten). Henry zu Bates: (...) I think the king is but a man, as I am: the violet smells to him as it doth to me; the element shows to him as it doth to me; all his senses have but human conditions: his ceremonies laid by, in his nakedness he appears but a man (...). (IV,1, 101-106)

Erst der die Szene beschließende und sie resümierende Monolog des Königs zeigt, daß es sich um mehr als ein „taktisches" Argument handelt. Henry reflektiert über den „Götzen Zeremonie" — „thou idol ceremony" — und gibt der Erkenntnis Ausdruck, daß allein die Zeremonie es ist, die den König vom „armen Mann", d.h. arbeitenden Mann („wretch", „slave", „peasant") unterscheidet: And, but for ceremony, such a wretch. Winding up days with toil and nights with sleep, Had the fore-hand and vantage of a king. The slave, a member of the countiy's peace. Enjoys it; but in gross brain little wots What watch the king keeps to maintain the peace. Whose hours the peasant best advantages. (IV.l, 284-290)

Im Spiegel dieses Monologs erscheint der König — jenseits des Scheins der Zeremonie und des hierarchischen Rangs — gegenüber den „anderen", gerade auch den Untersten, „wretch", „slave" und „peasant", allein durch die größere Bürde und erhöhte Verantwortung ausgezeichnet, die das Amt des Königs mit sich bringt, wie um das Bewußtsein dieser Last. Und das Amt des Königs ist: für den Frieden Sorge zu tragen - noch in der Nacht wachend, Hüter des Friedens zu sein. Henrys Monolog ist freilich höchst doppeldeutig, Teil der Ambivalenz, die diese Königsfigur durchgängig charakterisiert. Denn in der Tat durchwacht der König die Nacht, doch keineswegs, um den Frieden seines Landes zu schützen. Es geht vielmehr um Krieg. Die durchwachte Nacht ist die Nacht vor der Entscheidungsschlacht. Und der „Bürgerkönig" beobachtet und prüft nicht allein sich selbst und sein Herz (IV.l, 31-32). Er testet auch gründlich seine Soldaten. Weiter kann Henrys Monolog als Plädoyer für die soziale Notwendigkeit der gleichen Zeremonie gelesen werden, deren substantielle Scheinhaftigkeit der Sprechende durchschaut, und zwar im Sinn einer pragmatischen Rechtfertigung 66

Zu diesem Begriff cf. Metscher, Geschichte, Humanität, Utopie, I.e. (Anm. 12) pp. 2843.

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sozialer Konvention und Hierarchie, weil ohne diese in der Tat die prinzipielle Gleichheit der Menschen offenkundig, das Amt des Königs auch mehr als soziale Funktion kenntlich wäre.

IV. Ironischer Humanismus In einer für die hier vorgetragene Deutung der Historien richtungweisenden Arbeit hat Klaus Garber die Friedens-Utopie des frühneuzeitlichen europäischen Humanismus von Dante her rekonstruiert.67 Für unseren Zweck sind folgende Gesichtspunkte von zentraler Bedeutung. (1.) Dante setzt das monarchische Prinzip als universales, und zwar in dem Sinn, „daß Weltherrschaft in einer Gestalt vereinigt sein muß, wenn anders das summum bonum politischer Ordnung, die Stiftung des Friedens als Voraussetzung irdischer Glückseligkeit denkbar sein soll".6S In dieser Konzeption liegt die Wurzel für Shakespeares Idee absoluten Königtums, das Ideal des Christlichen Prinzen, das den normativen Horizont der in den Historien dargestellten Welt nationaler Geschichte bildet. Der absolute Monarch gilt als einziger Garant des Friedens, der Frieden wiederum ist Voraussetzung — conditio sine qua non — irdischer Glückseligkeit. Diese ist Zweck, Ziel und Sinn geschichtlichen Handelns: summum bonum der politischen Ordnung. In den Historien wird dieser Ausgangspunkt zunehmend befragt, unterminiert und relativiert, bis hin zur Artikulation — zumindest impliziten Artikulation — eines Gegenprinzips zum monarchischen Gedanken: dem plebejisch-egalitären. Allerdings wird dieses nirgendwo in den Dramen Shakespeares eine dominierende — und auch für die Dramenform strukturell konstitutive — Rolle spielen. Es bleibt sekundär, implizit eher als explizit Zumindest der Form nach bleibt das monarchische Prinzip für das gesamte Shakespearewerk intakt. So erfolgt etwa auch in King Lear die Rekonstruktion nach der Zerstörung in der Form fürstlicher Herrschaft, ebenso wie in den Spätstücken die Resurrektion nach der Phase des Leids und des Todes in der Gestalt des wiederhergestellten, resurregierten Königs erfolgt, seiner quasi-magischen Transformation aus Irrtum und Verwirrung in Klarheit und Wahrheit (vgl. The Winter's Tale) - mit der einzigen bedeutenden Ausnahme des Tempest, dessen Ende auch in diesem Punkte offenbleibt. Prosperos Appell an die Zuschauer am Schluß des Dramas, ihre guten Hände zu rühren, weil das Ende sonst Verzweiflung sei, muß sicher auch politisch verstanden werden: als Appell an kooperatives Handeln und damit neue Formen politischer Macht; wie seine „Abdankung", sein Verzicht auf magische Gewalt — die Entscheidung, seinen Zauberstab zu versenken und seine Bücher zu verbrennen —, einen Verzicht nicht nur auf unterwerfende Vernunft bedeutet, sondern auch einen solchen auf unterwerfende politische Gewalt: auf die politische Herrschaft des

87

68

Garber, Friedens-Utopie, I.e. (Anm. 16). Zum Verhältnis von Shakespeare und Dante cf. auch die wichtige Arbeit von Francis Fergusson, Trope and Allegory, Themes Common to Shakespeare and Dante, Athens 1977. Garber, Friedens-Utopie, I.e. (Anm. 16) p. 520.

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Einzelnen.69 Doch mehr als ein semantisches Potential implizierter Bedeutung bietet Shakespeares Drama für diesen Punkt nicht an. Die expliziten Handlungsstrukturen verbleiben im Bereich des Handelns von Fürsten und Königen. Die historischen Grtinde dafür liegen auf der Hand. (2.) Von grundlegender Wichtigkeit ist weiter die von Dante vorgenommene Konzeption einer Autonomie politischen Handelns, die sich von allen theologischen Prämissen und der Bevormundung durch die Institution der Kirche emanzipiert hat.70 In Shakespeares Dramen ist, wie wir eingangs sagten, geschichtliches Handeln ganz und gar zwischenmenschliches, ein Handeln zwischen Menschen geworden, diesseits des Wirkens der Götter - Shakespeares historische Welt ist eine politische menschliche Welt ohne jeden Restbestand von Metaphysik. Rechtfertigung und Verdammung erfolgen nach innerweltlichen Normen, d.h. solchen, die humanistisch begründet sind. Die Befreiung des Denkens von kirchlichen Fesseln und damit zusammenhängend die Konzeption eines autonomen geschichtlich-politischen Bereichs ohne divine Intervention bildet eine entscheidende Voraussetzung fllr das Bild von Geschichte, das die Historien entwerfen. (3.) Eine weitere fundamentale Voraussetzung für Shakespeares Schaffen ist die Beziehung von Universalem und Nationalem, wie sie gleichfalls von Dante entwickelt wurde, und zwar im Sinne einer historischen wie aktuell politischen Konstruktion. Wie Garber mit Blick auf Petrarca und Rienzo ausführt, hat die italienische Frührenaissance dem europäischen Humanismus zwei große utopische Ordnungsentwürfe vermacht: einen universalen und einen nationalen, die zweifachen Ursprungs, wenn auch argumentativ eng aufeinander bezogen sind.71 Beide Entwürfe sind konstitutiv für Shakespeares Geschichtsauffassung und Weltsicht, so sehr der nationale auch beim frühen Shakespeare und in den Historien überwiegt. Nach dem Scheitern des Historienprojekts jedoch — in den Tragödien und späten Tragikomödien — kommt, wie ich vermute, die universale Konzeption entscheidend zum Tragen. Deutlich rückt die nationale Frage in den Hintergrund. Doch möchten wir festhalten: was für Dante und Petrarca Rom und Italien waren, ist für Shakespeare England - Transformation des nationalen Gedankens im Rahmen einer universalgeschichtlichen Konzeption: die Utopie des von der Kriegsgewalt befreiten, im Frieden einigen England erscheint in einem Konzept, das von Beginn an die universalistische Dimension aufweist.72 (4.) Von gleichermaßen grundlegender Bedeutung für die Historien ist, wir zeigten es, die Bestimmung des Verhältnisses von Humanismus und politischer Macht. Sie nimmt ihre Herkunft aus dem Vergilschen Gedanken der „einträchtigen Kooperation zwischen Herrscher und Dichter"73 - ein Erbe des antiken Humanismus, das bis in die deutsche Klassik reicht. Kern dieses Gedankens ist: „Politisches Handeln, verkörpert im Regenten (...) wird (...) unmißverständlich 69

Cf. meine Tempest-Interpretation in: Utopie der Liebe, I.e. (Anm. 12). Garber, Friedens-Utopie, I.e. (Anm. 16) p. 521. 71 Op. cit. p. 530. 72 Dazu einige Hinweise in Metscher, Geschichte, Humanität, Utopie, I.e. (Anm. 12) p. 18ss. 73 Garber, Friedens-Utopie, I.e. (Anm. 16) p. 523. 70

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und kompromißlos verpflichtet auf die Herstellung einer Friedensordnung, aus der Krieg mit anderen Völkern ebenso wie der Bürgerkrieg definitiv verbannt ist". 74 In diesem Punkt — es ist der Grundgedanke des irenischen Humanismus — liegt, wie wir vermuten, das neuralgische Zentrum der Geschichtsauffassung der Historien. Im folgenden soll dieser Vermutung noch einige Schritte nachgegangen werden. Im Sinn einer interpretatorischen Grundthese möchte ich folgende Gesichtspunkte diesen abschließenden Überlegungen voranstellen: 1. Alle Positionen der Humanität in den Historien sind auf das Ideal des Friedens bezogen: auf diesen und auf irdisches Glück als Ziel und höchstes Gut geschichtlichen Handelns. 2. Der Friede ist Postulat und Utopie: er überlebt die Tragödien der Macht, als die sich die Historien von ihrem Ende her dargestellt haben. 3. Das für Shakespeares Geschichtssicht so grundlegende Problem der Legitimation politischer Herrschaft ist eindeutig an die Stellung des Herrschers zur Frage von Krieg und Frieden gebunden. An zwei entscheidenden Stellen in den Historien wird die Idee des Friedens explizit entfaltet - bezeichnenderweise am Ende der Ersten und am Ende der Zweiten Tetralogie: in Richmonds, des ersten Tudors, Gebet, mit dem Richard III schließt, und in der großen Friedensrede des Herzogs von Burgund in V, 2 von Henry V. Die Erste Tetralogie behandelt den geschichtlichen Zeitraum zwischen 1422, dem Tod Henrys V., und 1485, der Schlacht von Bosworth, die das Ende Richard Gloucesters besiegelte und die Ära der Tudors einleitete, in kontinuierlicher chronologischer Folge. Henry VI setzt 1422 ein, mit der Beerdigung Henrys V., zu einem Zeitpunkt, an dem der Thronfolger ein Jahr alt ist (zwei Jahre zuvor hatte Henry V. den Frieden mit Frankreich geschlossen und die Tochter des französischen Königs geheiratet: der historische Zeitpunkt, mit dem Henry V schließt). Henry VI entwickelt, bereits in der Exposition, die Konfliktkonstellation der Rosenkriege als Orgie freigesetzter Gewalt. In ihr wird Henry VI., ein moralisch integrer, doch zur Macht unfähiger König, selbst Opfer. Die Handlung führt bis in den Mittelpunkt der Hölle: zur Herrschaft Richards ΙΠ. Aus der Nacht der Gewalt tritt, Lichtgestalt der Hoffnung, der erste Tudor - Richmond, Henry VII. Die Erste Tetralogie endet mit seinem Gebet: der großen Friedensbitte. In ihrem Mittelpunkt steht das allegorische Bild Englands, Transformation der weinenden, klagenden, verzweifelnden Roma, wie sie von Dante und Petrarca in die Literatur der frühen Neuzeit eingeführt worden war: als trauernde und klagende Witwe, vorzeitig gealtert, weil ihre Söhne sich zerfleischen.75 Bei Shakespeare erhält das England der Rosenkriege die Züge einer Wahnsinnigen, die sich selbst die Wunden riß, sich selbst entstellte (to scar von V,5, 23 hat diesen Bedeutungsumfang). Es erscheint ein weiteres Mal als „Ströme von Blut" weinende Figur.

7

+ Op. cit. p. 524. Cf. op. CiL pp. 528-533.

75

„And make poor England weep..."

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We will unite the white rose and the red (...) England has long been mad and scarr'd herself: The brother blindly shed the brother's blood; The father rashly slaughter'd his own son. The son, compell'd, been butcher to the sire (...) Ο now let Richmond and Elisabeth (...) By God's fair ordinance conjoin together. And let their heirs, God, if Thy will be so. Enrich the time to come with smooth-fac'd peace. With smiling plenty, and fair prosperous days. Abate the edge of traitors, gracious Lord, That would reduce these bloody days again. And make poor England weep in streams of blood. Let them not live to taste this land's increase That would with treason wound this fair land's peace* Now civil wounds are stopp'd; peace lives again. That she may long live here, God say Amen. (Richard III, V.5, 19-41)

Die Friedensidee wird ill Richmonds Monolog in der Form eines Gebets, d.h. in der rituellen Form von Hoffnung, Bitte und Wunsch ausgesprochen. Der Frieden ist zunächst Gegenbild zum Zustand des Krieges, wo „The brother blindly shed the brother's blood;/ The father rashly slaughter'd his own son,/ The son, compell'd, been butcher to the sire". Blut ist das oppositionelle Schlüsselwort: „bloody days", .And make poor England weep in streams of blood". In dieser für den gesamten Bedeutungsaufbau des Monologs zentralen Metapher sind die Bilder des Bluts und der Tränen zusammengezogen: das „arme England" erscheint als Ströme von Blut weinende weibliche Allegorie. Die Glieder sind in klarer Antithetik geordnet: Frieden/Wohlstand stehen in Opposition zu Krieg/Blut/Tränen. Die neue Ära der Tudors ist Welt des Friedens, abgehoben von der alten, vom Geist des Kriegs bestimmten Welt, wie sie Richard Gloucester verkörpert, jener Geist des Verrats, vor dem Richmond warnt Diesem hatte der Frieden als „weak piping time" der „idle pleasures" gegolten, von Spielen der Liebe und der Laute bestimmt (vgl. 1,1). Im Horizont der Erfahrungen äußerster Barbarei leuchtet nun, am Ende des Stücks, die Vision einer friedlich-freien Welt auf, in der Krieg und Gewalt endgültig bezwungen, Frieden und Wohlstand dauerhaft gesichert sind. Dieser Vorstellungskomplex bildet den semantischen Kern von Richmonds Gebet. In ihm ist die Friedenssehnsucht mit Hoffnungen auf Stabilität der Tudor-Ordnung verknüpft. Das erklärte Ziel Richmonds ist, die Schrecken der Rosenkriege zu überwinden, die weiße und die rote Rose zu vereinen, den dauerhaften Frieden zu stiften. Die Heirat erhält ausdrücklich die symbolische Bedeutung einer Friedensstiftung.76 Dreimal in den letzten 10 Verszeilen des Dramas fällt das Schlüsselwort peace. Der Frieden ist freundlichen Angesichts: „sanft-gesichtig". Ihm werden 76

Cf. Morton, Shakespeare's Historical Outlook, I.e. (Anm. 7).

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die Attribute „lächelndes Gedeihn, Wohlstand, des Landes Frucht" zugeschrieben. Das heißt: Frieden bedeutet mehr als die Abwesenheit von Krieg. Er ist Inbegriff einer gewaltfreien Ordnung, das in einer Gesellschaft des Wohlstands und der freundlichen Gesinnung herrschende sanfte Gesetz, friedlich-freies Menschendasein. Ein zentraler Gedanke der humanistischen Friedensidee klingt an: die Auffassung des Friedens als Prinzip von Kultur. Die literarische Form, in der sich dieser Bedeutungskomplex artikuliert, ist, wohlgemerkt, das Gebet: als intensivste Artikulationsform von Bitte, Wunsch, Hoffnung. Der Bezug liegt also auf erhoffter, nicht auf real existenter Wirklichkeit. Die Friedensidee wird nicht mit historischer Empirie verwechselt. Sie ist ausdrücklich als Gegenbild gestaltet: als Postulat politischen Handelns, zukünftiger Horizont des Geschichtsprozesses, deren Wirklichkeit gefordert ist als Imperativ der geschichtlichen Aktion. Das Ende Richards III zelebriert die Inauguration einer Epoche, die Shakespeare noch als seine eigene verstand: der Epoche der Tudors. In ihr war eine nationale Konsolidierung tatsächlich erreicht worden, hatte sich die Ausbreitung des Humanismus und der Renaissance vollzogen, waren die Bedingungen geschaffen worden, ökonomisch, politisch, sozial, kulturell, theoretisch, für die Entwicklung Englands zur führenden europäischen Nation in den folgenden Jahrhunderten. Für Shakespeares Konzeption nationaler Geschichte ist dabei grundlegend, daß die nationale Idee — die symbolische Gründung Englands als einer modernen Nation durch Vereinigung des entzweiten Landes — unter der einen entscheidenden Perspektive erfolgt: der humanistisch-irenischen. Das neue England soll ein Land des Friedens und des Wohlstands sein. Dieser Gesichtspunkt allein verleiht der neuen Ordnung ihren kulturellen Sinn wie ihre staatsrechtliche Legitimation. Damit wird politisches Handeln der humanistischen Friedensidee rigoros unterstellt. Der dominierende Gesichtspunkt ist der des Friedens. Humanistische Idealität fungiert als normativer Horizont von Geschichte und Politik. Das heißt auch: das Kulturideal der umfassenden Friedensordnung selbst ist das zentrale Artikulationsmedium der Einheit von Nation und Humanität, Politik und Ethik. Es könnte scheinen — und einem guten Teil der Forschung ist es so erschienen —, daß das Gebet um eine Ordnung des Friedens und Rechts, mit der die Erste Tetralogie schließt, am Ende der Zweiten in symbolischer Form erfüllt ist. In der Vereinigung der Königshäuser Englands und Frankreichs scheint irdisches Glück verwirklicht - „the world's best garden he achieved" (Henry V, V, Chorus, 7). Über die Scheinhaftigkeit solchen Glücks, die trügerische Kürze dieser Harmonie habe ich gesprochen. Der schöne Schein verdeckt den Vorgang eines Scheitems. Hinter der Fassade des königlichen Happy End verbirgt sich ein zerbröckelndes Gebäude. Denn in.Wahrheit bricht die Konzeption der Einheit von humanistischer Idealität und absolutistischer Nation —• der Kooperation von Dichtung und Königtum, des Bündnisses von Philosophie und Staatsmacht — im Verlauf der Zweiten Tetralogie zunehmend auseinander. Das humanistische Ideal zerbricht, genauer gesagt, sofern es als realisierbar im Rahmen der absolutistisch organisierten Nation angesehen wurde - als ideelle Möglichkeit, die in der Gesellschaft der Tudors Wirklichkeit werden konnte. Nicht wird von Shakespeare der ideelle Grundbestand des irenischen Humanismus fallengelassen. Er wird jedoch zunehmend transformiert So in der großen Friedens-Rede des Herzogs von Burgund

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im V. Akt von Henry V. In ihr wird die Friedensidee zur völkerrechtlichen Forderung, die das ius pacis gegenüber dem ius belli einklagt. Sie wird weiter transformiert zur explizit entfalteten kulturphilosophischen Utopie, d.h. zur Idee, die sich ausdrücklich auf eine andere Zeit richtet als die in der dramatischen Aktion des Stücks gespielte. Bemerkenswert zunächst ist, daß Shakespeare nach Richard III nicht weiter in die Richtung der Gegenwart vorstößt, sondern den Weg zurück in die Geschichte nimmt. Von der Tudor-Zeit geben die Historien nicht mehr als die Antizipation in Richmonds Gebet, also allein das Bild einer Hoffnung (die späte Ausnahme Henrys VIII sei hier ausgeklammert). Shakespeare verweigert sich, die Gegenwart selbst zum unmittelbaren Gegenstand theatralischer Abbildung zu machen. Er entscheidet sich für den weiteren, vertieften Rückgang in die Geschichte. Die Zweite Tetralogie dramatisiert gleichfalls ein chronologisches ZeitKontinuum: die Zeit zwischen den neunziger Jahren des 14. Jahrhunderts (das Stichjahr ist 1399: Datum der Thronbesteigung Bolingbrokes) und 1420, dem Jahr des Vertrags von Troyes und der Hochzeit Henrys V. mit, Katharina von Frankreich. Wenn wir erinnern, daß die Erste Tetralogie 1422 mit dem Tod Henrys V. begann, so wird unmißverständlich klar, daß die Zweite Tetralogie einen genauen historischen Anschluß an die Erste herstellt - doch führt der Weg zurück: in den Brunnen der Vergangenheit (mit Thomas Mann zu reden). Die Gegenwartsanalyse wird in der Form einer vertieften Vergangenheitserkundung durchgeführt. Es fiele schwer, diesen Vorgang anders zu deuten denn als ein bewußtes historiographisches Programm - oder, wie zum Ende dieser Studie besser zu sagen ist: als geschichtsphilosophische Erkundung. Ja, wir möchten Shakespeares poetisches Verfahren als Ausdruck einer zutiefst geschichtsphilosophischen Fragestellung sehen: der Frage nach dem Sinn und Ziel der Geschichte, in der stehend und handelnd er sich selbst erfuhr; hier konkret nach dem Sinn und Ziel der Geschichte des neuen England, wie es sich aus den Zusammenbrüchen der mittelalterlichen Welt, in den Geburtswehen einer neuen Zeit und epochalen Weltgestalt herausbildete. Zur Frage steht in letzter Instanz das Problem der geschichtsphilosophischen Theodizee: doch ohne Weltgeist, metaphysische Substanz, versöhnenden oder richtenden Gott. Die Sinn-Kriterien sind, wir sagten es, innerweltlicher Art. Das höchste Gut ist irdische Glückseligkeit, durch menschliches Handeln zu bewerkstelligen oder zu verfehlen. Shakespeares Historien sind, in ihrer tiefsten Dimension, ein Befragen nationaler Geschichte vor dem Leitfaden einer solchen regulativen Idee. Sie sind damit Erkundung eines immanenten Geschichts-Sinns. Ihre Grundfrage lautet: Kann menschliches geschichtliches Dasein in einer Weltordnung ohne metaphysische Sinn-Garantie einen Sinn haben? Wie kann solcher Sinn, wenn überhaupt, gestiftet werden? Die humanistische Grundüberzeugung war, daß solcher Sinn allein geschichtlich konstituiert, d.h. durch menschliches Handeln gestiftet werden kann. Sinn konstitutiert sich geschichtlich allein durch die Errichtung einer sozialen Ordnung, die Gerechtigkeit, Wohlstand und Frieden garantiert. Hier hat das humanistische Kulturideal seinen tiefsten Kembestand. Das geschichtliche Denken ist, bereits der Logik der Sache nach, ein Kind des Humanismus. Der Humanismus mußte Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie notwendig hervorbringen. Auch Shakespeares Historien sind Geburten aus

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dem Geist eines solchen Humanismus. Wie sie diesen weitertreiben und transformieren, macht, neben dem poetischen, ihren geschichtsphilosophischen Rang aus. Über das Ergebnis dieser poetisch-philosophischen Erkundung habe ich gesprochen. Es erteilt jeder orthodoxen Sinn-Affirmation eine Absage. Shakespeares Antwort widersetzt sich jedem Geschichtsoptimismus. Auch die humanistische Vorstellung eines Bündnisses des Dichter-Philosophen und des Regenten wird am Ende der Historien als Illusion verabschiedet Diesem verborgenen, impliziten Geschichtspessimismus, mit dem die Historien schließen, liegt, wie wir vermuten, eine fundamentale existentielle Krise des historischen und poetischen BewuBtseins zugrunde, die schließlich auch den Übergang von den Historien zu den Tragödien unmittelbar nach 1599 erklärt.77 Trotz dieser Krise aber hält Shakespeare am Kernbestand der humanistischen Idee fest. In der Welt ohne metaphysische Sinn-Garantie wächst geschichtlichem Handeln Sinn nur zu durch dessen Orientierung auf den Frieden als Telos des Geschichtsprozesses. Irdische Glückseligkeit — als summum bonum politischen Handelns — bildet dabei den Kern der Friedensidee. So verstanden, ist der Frieden Sinn und Ziel der Geschichte. Er ist zugleich Handlungspostulat und poetisch-philosophische Utopie. Mit Henry V also ist Shakespeares Erkundung von Geschichte, die Frage nach einem die nationale Geschichte tragenden, in ihr aufgehobenen GeschichtsSinn abgeschlossen. Abgeschlossen ist die poetische Rekonstitution der „Vorgeschichte" des zeitgenössischen England, abgeschlossen mit einem vernichtenden Resultat. Konstatiert wird die Geschichte eines Scheiterns - das Geschichtsbild der Tragödien ist im Resultat der Historien bereits angelegt. Und doch wird die humanistische Utopie, die ihr implizite Forderung nach einem durch menschliches Handeln hergestellten, menschlich konstituierten Geschichts-Sinn in keinem Punkte aufgegeben. Sie wird vielmehr verstärkt. Die humanistische Grundüberzeugung bleibt bestehen: daß Sinn die Geschichte nur dann erhält, wenn in ihr die Verwirklichung des Allgemeinen der humanistischen Idee gelingt, und dieses Allgemeine hat sein Konkretum in der Wirklichkeit einer Friedensordnung der Nationen und Völker. So bleibt das Friedenspostulat des Dritten Richard erhalten im Fünften Heinrich. Es leuchtet heller noch hervor. Doch hat es seinen Charakter insofern gewandelt, als es jetzt eindeutig das ist, was es vorher zweideutig war: Utopie. Diese Utopie ist zugleich historische, nämlich konkret völkerrechtliche Forderung, doch ist ihre Verwirklichung auf andere Generationen und Zeiten zu vertagen; zu wünschen zwar, für die prognostizierbare historische Zeit aber nicht zu erhoffen. 78 Folgerichtig steht am Ende der Historien das Postulat des Friedens der Völker, die humanistische Friedens-

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Wie auch Walch argumentiert, demonstriert Shakespeare in der Ersten Tetralogie den Verfall feudaler Werte, bis zum Ende dieses Auflösungsprozesses die nackte Subjektivität, das ganz auf sich allein gestellte Individuum hervortritt, in der Zweiten Tetralogie die Auszehrung des Königsamts durch den realen Gang der Geschichte (Walch, König Heinrich V., I.e. (Anm. 7) p. 81s.). Auch dies ist ein Motiv der klassischen humanistischen Literatur (cf. das Ende von Morus' Utopia; dazu Metscher, Thomas More, I.e. (Anm. 14) p. 124s.).

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Utopie aus dem Geist Vergils, Dantes, Mores, Erasmus', zitiert und aufbewahrt im Körper der Shakespeareschen Dichtung. Einen würdigeren Abschluß hätten die Historien nicht finden können. Ich wies darauf hin, daß zwischen dem Ende der Ersten und dem Ende der Zweiten Tetralogie eine höchst signifikante Parallele besteht. An beider Ende steht eine Friedensforderung. In Richard III war diese in den Mund des ersten Tudor gelegt. In Henry V wird sie von keinem Angehörigen des englischen oder eines anderen Königshauses mehr formuliert, sondern von einem im bestimmten Sinn Außenstehenden. Und sie ist nicht mehr Gebet und Bitte, sondern Forderung in einem völkerrechtlichen Sinn. Der Herzog von Burgund tritt als Friedensstifter zwischen die zerstrittenen Parteien.79 Auch der Form nach enthält seine Rede eine völkerrechtliche Argumentation: dem ius belli wird das ius pacis entgegengestellt. Die Könige werden aufgefordert, zu verhandeln und den Frieden zu schließen. Dem Inhalt nach enthält seine Rede eine Friedensphilosophie im Geist der großen irenischen Konzeptionen des europäischen Humanismus. Verdeutlichen wir uns: Während es am Ende von Richard III noch möglich war, die Friedensforderung als Postulat des politischen Handelns der Tudors selbst zu gestalten — damit der Erwartung Ausdruck gebend, daß ihre Verwirklichung im Staat der Tudors zumindest zu erhoffen ist —, tritt diese Forderung jetzt ganz und gar im Sinn einer Argumentation auf, die von außen an die kriegführenden Parteien, die entzweiten Fürsten herangetragen wird. Der Herzog von Burgund spricht als Humanist, der sich appellierend an die Statthalter der Macht wendet, hoffend, daß diese den Argumenten der Vernunft Rechnung tragen. Die Forderung besitzt zudem die Dimension der Utopie. Der Zuschauer weiß jetzt, daß ihre Verwirklichung in der imaginären Zeit des Spiels nur eine scheinbare ist: auf den Schein der komödienhaften Auflösung in der Heiratszeremonie folgt Henrys baldiger Tod, danach der totale Zusammenbrach der politischen Ordnung, der Hegemonie Englands nach außen, der Zentralmacht nach innen. Die humanistische Friedensforderung Burgunds ist zeittranszendenter Zukunftsentwurf, antizipatives Postulat, das in der voraussehbaren historischen Zeit, d.h. im Rahmen des Zeitalters selbst, nicht Wirklichkeit werden wird. Seine imaginierte, erhoffte Verwirklichung verweist auf eine andere Zeit als die der Epoche. In Henry V, V,2 tritt der Herzog von Burgund ausdrücklich als Friedensstifter auf, verbatim als Vertreter einer Friedensdiplomatie, der es endlich — nach langen Mühen (vgl. das laboured in V. 24) — gelungen ist, die krieg führenden Parteien an einen Tisch zu bekommen, also zu völkerrechtlich verbindlichen Übereinkünften zu bewegen. Er beginnt seine Rede (sie besitzt stark appellativen Charakter) wie folgt: My duty to you both, on equal love. Great kings of France and England! That I have labour'd With all my wits, my pains, and strong endeavours, To bring your most imperial majesties 79

Es sei erinnert, daß Erasmus die Institutio Principis Christian! für seinen Landesherm, den damals sechzehnjährigen Karl von Burgund verfaßte (den späteren deutschen Kaiser Kail V.), die Querela Pacis kurz nach der Abfassung der Institutio geschrieben wurde.

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Thomas Metscher Unto thu bar and royal interview. Your mightiness on both parts best can witness. Since then my office hath so far prevail'd That face to face, and royal eye to eye. You have congreeted (...)·

( \ X 23-31) Von diesem Ausgangspunkt her stellt er den Frieden als politische Forderung. Die Begründung dieser Forderung erfolgt im Geist humanistischer Kulturphilosophie. Sie lautet: Der Frieden selbst ist Voraussetzung jeden irdischen Glttcks, ja er ist das Prinzip menschlicher Kultur: „dear nurse of arts, plenties, and joyful births". Er erscheint, in Analogie zum Friedens-Bild in Richmonds Gebet, in allegorischer Frauengestalt, „schönen Angesichts" (vgl. das „her lovely visage" von V. 37), jetzt jedoch „nackt, arm und zerstückt" („naked, poor and mangled"), eine verunstaltete, zerschlagene Allegorie. Wir identifizieren sie als Eirene, Göttin des Friedens, die lieblichste unter den Hören, jenen frühgriechischen Göttinnen, die den Verlauf der Jahreszeiten verkörperten, des Blühens, Wachsens und des Früchtetragens. Sie wurden vorgestellt als freundlich und von schöner Gestalt, den Menschen wohlgesinnt. Bei Shakespeare handelt es sich also um ein doppeltes: die Verbindung der politisch-ethischen, staatsrechtlichen Bedeutung der Friedensidee mit der kulturellen - ein Doppelsinn, wie ihn die für solche Zusammenhänge bei Shakespeare zentrale Garten-Metapher stets besitzt. So auch hier: Denn Gegenstand der Verhandlungen ist kein anderer als das „fruchtbare Frankreich", der „beste Garten der Welt" („this best garden of the worlds Our fertile France"). In seinem zentralen kulturphilosophischen Teil lautet der Text: (...) let it not disgrace me If I demand before this royal view. What rub or what impediment there is. Why that the naked, poor, and mangled Peace, Dear nurse of arts, plenties, and joyful births, Should not in this best garden of the world. Our fertile France, put up her lovely visage? Alas! she hath from France too long been chas'd And all her husbandry doth lie on heaps, Corrupting in its own fertility. Her vine, the merry cheerer of the heart, Unpnmed dies; her hedges even-pleach'd. Like prisoners wildly overgrown with hair, Put forth disordr'd twigs; her fallow leas The darnel, hemlock and rank fumitory Doth root upon, while that the coulter rusts That should deracinate such savagery; The even mead, that erst brought sweetly forth The freckled cowslip, bumet, and green clover. Wanting the scythe, all uncorrected, rank. Conceives by idleness, and nothing teems But hateful docks, rough thistles, kecksies, burrs, Losing both beauty and utility.

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And as our vineyards, fallows, meads and hedges, Defective in their natures, grow to wildness. Even so our houses and ourselves and children Have lost, or do not leam for want of time. The sciences that should become our country, But grow like savages, as soldiers will That nothing do but meditate on blood, To swearing and stern looks, diffus'd attire. And eveiy thing that seems unnatural.