Reformation und Konfessionelles Zeitalter (1517-1648) 9783825236281, 3825236285

Für die evangelische Kirchengeschichtsschreibung ist die Reformation eine eigenständige Epoche der Kirchen-, Theologie-

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Reformation und Konfessionelles Zeitalter (1517-1648)
 9783825236281, 3825236285

Table of contents :
Cover
Impressum
Inhalt
Einleitung
1. Voraussetzungen, Rahmenbedingungen, Hintergründe
Das Reich
Die Kirche
Das Bildungswesen
Die Entdeckungen
2. Luther und die frühe Reformation in Wittenberg
Luthers Entwicklung zum Reformator
Die reformatorische Entdeckung
Thesen zu Ablass und Buße (1517)
Disputationen in Heidelberg und Leipzig
Reformatorische Hauptschriften (1520)
Wormser Reichstag (1521)
Auf der Wartburg
Bibelübersetzung
Reformen und Unruhen in Wittenberg
Ritterfehde gegen die alte Kirche (1522/23): Franz von Sickingen
Bauernkrieg (1524/25) und Thomas Müntzer
Streit mit Erasmus
Ausstrahlungen der Wittenberger Reformation
3. Melanchthon und der Fortgang der Reformation in Wittenberg
Melanchthon – mehr als ein Konreformator
Der erste Reichstag von Speyer (1526)
Visitationen in Kursachsen, Aufbau evangelischer Gemeinwesen
Der zweite Reichstag von Speyer und der Protest (1529)
Augsburger Reichstag und Augsburger Bekenntnis (1530)
Schmalkaldischer Bund und Schmalkaldische Artikel
Luthers letzte Jahre
Die Verbreitung des Luthertums
4. Zwingli und die Reformation in Zürich
Zwinglis Entwicklung zum Reformator
Disputationen in Zürich und Baden
Ausstrahlungen der Züricher Reformation
Abendmahlsstreit und Marburger Religionsgespräch
Schlacht von Kappel und Tod Zwinglis (1531)
Bullinger als Nachfolger Zwinglis
5. Calvin und die Reformation in Genf
Calvins Entwicklung zum Reformator
Basel: Institutio (1535/36)
Genf: Reformator an der Seite Farels (1536–1538)
Straßburg: Reformator an der Seite Bucers (1538–1541)
Ausbau Genfs zur Gottesstadt (1541–1564)
Ausstrahlungen der Genfer Reformation
Calvins letzte Jahre
Beza als Nachfolger Calvins
Der Siegeszug des Calvinismus, auch in Deutschland
6. Täufer und Schwenckfelder
Das Sakrament der Taufe
Evangelische Kritik an der Kindertaufe
Anfänge der Täuferbewegungen und erste Wiedertaufen
Täufer-Bekenntnisse und Täufer-Verfolgungen
Täuferreformationen in Waldshut und Nikolsburg
Hoffman und das Münsteraner Täuferreich
Menno und die Mennoniten
Baptisten – eine täuferische Freikirche
Schwenckfeld und die Schwenkfelder Church
7. Frauen der Reformationszeit
Ehe und Ehelosigkeit als christliche Lebensformen
Katharina von Bora – eine Reformatorenfrau
Katharina Zell – eine Frau als Reformatorin?
Caritas Pirckheimer – prominente Gegnerin der Reformation
Folgen der Reformation für die Frauen
8. Reformation in England, Frankreich, Polen
Heinrich VIII. und der Anglikanismus
Hugenotten in Frankreich
Lutheraner, Calvinisten und Sozinianer in Polen
9. Religionsgespräche, Religionskrieg, Religionsfriede
Die Reichsreligionsgespräche (1540/41)
Die Doppelehe Philipps von Hessen (1540)
Das Interim (1548–1552)
Der Fürstenkrieg (1552)
Augsburger Reichstag und Augsburger Religionsfriede (1555)
10. Das Konzil von Trient (1545–1563) und die Katholische Reform
Konzilsgedanken bei den Reformatoren
Mühsame Wege zum Konzil
Trienter Konzil: 1. Phase (1545–1547)
Trienter Konzil: 2. Phase (1551–1552)
Protestanten auf dem Weg nach Trient
Trienter Konzil: 3. Phase (1562–1563) und Abschluss (1564)
Die Katholische Reform
Die Jesuiten im Dienst der Reform
11. Anfänge des Konfessionellen Zeitalters
Konfessionsbildung, Konfessionalisierung, Konfessionalismus
Lehrkonflikte im Luthertum
Konkordienformel und Konkordienbuch
Philippisten, Gnesiolutheraner, Kryptocalvinisten
Lutherische Orthodoxie
Reformierte Orthodoxie
Die Synode von Dordrecht (1618/19) und der Arminianismus
12. Barockscholastik, romanische Mystik, Jansenismus
Barockscholastik: mittelalterliche Theologie in neuem Gewand
Romanische Mystik: neue Frömmigkeitsformen und neue Orden
Jansenius und Jansenismus: Augustin-Renaissance imKatholizismus
13. Dreißigjähriger Krieg (1618–1648) und Westfälischer Friede (1648)
Konfessionalisierung, Rekatholisierung, Gegenreformation
Der Dreißigjährige Krieg und seine Folgen
Der Friede von Münster und Osnabrück
Krieg als Gericht, Friede als Geschenk, Reform als Konsequenz
14. Juden und Christen im 16. und 17. Jahrhundert
Erwartungen der Juden an die Reformation
Luthers Judenfeindlichkeit und ihre Folgen
Philosemiten in Holland und England
Judenmission und Judentaufen
15. Pietismus, Aufklärung und das Endedes Konfessionellen Zeitalters
Frömmigkeitskrisen und Frömmigkeitsaufbrüche
Weigel und Böhme: Mystik im Protestantismus
Arndt und das „Wahre Christentum“
Descartes und die „Grundlage der Philosophie“
Pietismus und Aufklärung als Bahnbrecher der Moderne
Ausblick
Anhang
Glossar
Literatur
Quellen und Abkürzungen
Personenregister
Sachregister
Nachweis der Abbildungen

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Basiswissen Theologie und Religionswissenschaft Herausgegeben von Lukas Bormann

Martin H. Jung

Reformation und Konfessionelles Zeitalter (1517–1648)

Vandenhoeck & Ruprecht

Dr. theol. Martin H. Jung ist Professor für Historische Theologie, Kirchengeschichte und Ökumenische Theologie an der Universität Osnabrück.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de

Mit 13 Abbildungen

Umschlagabbildung: Luther in Worms, unbekannt. Künstler, 1521

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: h Hubert & Co, Göttingen Druck und Bindung: CPI Books GmbH, Ulm UTB-Band-Nr. 3628 ISBN 978-3-8252-3628-1 (UTB-Bestellnummer)

Inhalt

Einleitung: Reformation und Konfessionelles Zeitalter als Epochen der Kirchen-, Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte

9

1. Voraussetzungen, Rahmenbedingungen, Hintergründe . . . . . 14 Das Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Bildungswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entdeckungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14 16 20 22

2. Luther und die frühe Reformation in Wittenberg . . . . . . . . . . . 25 Luthers Entwicklung zum Reformator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die reformatorische Entdeckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thesen zu Ablass und Buße (1517) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Disputationen in Heidelberg und Leipzig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reformatorische Hauptschriften (1520) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wormser Reichstag (1521) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf der Wartburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibelübersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reformen und Unruhen in Wittenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ritterfehde gegen die alte Kirche (1522/23): Franz von Sickingen Bauernkrieg (1524/25) und Thomas Müntzer . . . . . . . . . . . . . . . . . Streit mit Erasmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausstrahlungen der Wittenberger Reformation . . . . . . . . . . . . . . . .

25 27 29 33 34 36 40 40 42 44 45 52 56

3. Melanchthon und der Fortgang der Reformation in Wittenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Melanchthon – mehr als ein Konreformator . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der erste Reichstag von Speyer (1526) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Visitationen in Kursachsen, Aufbau evangelischer Gemeinwesen Der zweite Reichstag von Speyer und der Protest (1529) . . . . . . . . Augsburger Reichstag und Augsburger Bekenntnis (1530) . . . . . . Schmalkaldischer Bund und Schmalkaldische Artikel . . . . . . . . . . Luthers letzte Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verbreitung des Luthertums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58 62 64 71 74 77 79 80

6

Inhalt

4. Zwingli und die Reformation in Zürich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Zwinglis Entwicklung zum Reformator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Disputationen in Zürich und Baden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausstrahlungen der Züricher Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abendmahlsstreit und Marburger Religionsgespräch . . . . . . . . . . . Schlacht von Kappel und Tod Zwinglis (1531) . . . . . . . . . . . . . . . . Bullinger als Nachfolger Zwinglis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85 88 91 93 96 98

5. Calvin und die Reformation in Genf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Calvins Entwicklung zum Reformator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Basel: Institutio (1535/36) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Genf: Reformator an der Seite Farels (1536–1538) . . . . . . . . . . . . . 102 Straßburg: Reformator an der Seite Bucers (1538–1541) . . . . . . . . 104 Ausbau Genfs zur Gottesstadt (1541–1564) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Ausstrahlungen der Genfer Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Calvins letzte Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Beza als Nachfolger Calvins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Der Siegeszug des Calvinismus, auch in Deutschland . . . . . . . . . . 114 6. Täufer und Schwenckfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Das Sakrament der Taufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Evangelische Kritik an der Kindertaufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Anfänge der Täuferbewegungen und erste Wiedertaufen . . . . . . . 122 Täufer-Bekenntnisse und Täufer-Verfolgungen . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Täuferreformationen in Waldshut und Nikolsburg . . . . . . . . . . . . 125 Hoffman und das Münsteraner Täuferreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Menno und die Mennoniten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Baptisten – eine täuferische Freikirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Schwenckfeld und die Schwenkfelder Church . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 7. Frauen der Reformationszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Ehe und Ehelosigkeit als christliche Lebensformen . . . . . . . . . . . . . 139 Katharina von Bora – eine Reformatorenfrau . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Katharina Zell – eine Frau als Reformatorin? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Caritas Pirckheimer – prominente Gegnerin der Reformation . . 146 Folgen der Reformation für die Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 8. Reformation in England, Frankreich, Polen . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Heinrich VIII. und der Anglikanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Hugenotten in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

Inhalt

Lutheraner, Calvinisten und Sozinianer in Polen . . . . . . . . . . . . . . 159 9. Religionsgespräche, Religionskrieg, Religionsfriede . . . . . . . . 162 Die Reichsreligionsgespräche (1540/41) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Die Doppelehe Philipps von Hessen (1540) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Der Schmalkaldische Krieg (1546/47) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Das Interim (1548–1552) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Der Fürstenkrieg (1552) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Augsburger Reichstag und Augsburger Religionsfriede (1555) . . 175 10. Das Konzil von Trient (1545–1563) und die Katholische Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Konzilsgedanken bei den Reformatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Mühsame Wege zum Konzil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Trienter Konzil: 1. Phase (1545–1547) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Trienter Konzil: 2. Phase (1551–1552) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Protestanten auf dem Weg nach Trient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Trienter Konzil: 3. Phase (1562–1563) und Abschluss (1564) . . . 185 Die Katholische Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Die Jesuiten im Dienst der Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 11. Anfänge des Konfessionellen Zeitalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Konfessionsbildung, Konfessionalisierung, Konfessionalismus . . 191 Lehrkonflikte im Luthertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Konkordienformel und Konkordienbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Philippisten, Gnesiolutheraner, Kryptocalvinisten . . . . . . . . . . . . . 200 Lutherische Orthodoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Reformierte Orthodoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Die Synode von Dordrecht (1618/19) und der Arminianismus . . 209 12. Barockscholastik, romanische Mystik, Jansenismus . . . . . . . 213 Barockscholastik: mittelalterliche Theologie in neuem Gewand . 213 Romanische Mystik: neue Frömmigkeitsformen und neue Orden 215 Jansenius und Jansenismus: Augustin-Renaissance im Katholizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 13. Dreißigjähriger Krieg (1618–1648) und Westfälischer Friede (1648) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Konfessionalisierung, Rekatholisierung, Gegenreformation . . . . . 219 Der Dreißigjährige Krieg und seine Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

7

8

Inhalt

Der Friede von Münster und Osnabrück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Krieg als Gericht, Friede als Geschenk, Reform als Konsequenz . 226 14. Juden und Christen im 16. und 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . 231 Erwartungen der Juden an die Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Luthers Judenfeindlichkeit und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Philosemiten in Holland und England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Judenmission und Judentaufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 15. Pietismus, Aufklärung und das Ende des Konfessionellen Zeitalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Frömmigkeitskrisen und Frömmigkeitsaufbrüche . . . . . . . . . . . . . . 246 Weigel und Böhme: Mystik im Protestantismus . . . . . . . . . . . . . . . 247 Arndt und das „Wahre Christentum“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Descartes und die „Grundlage der Philosophie“ . . . . . . . . . . . . . . . 251 Pietismus und Aufklärung als Bahnbrecher der Moderne . . . . . . . 252 Ausblick: Die Nachwehen des Konfessionellen Zeitalters und das Erbe der Reformation in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Quellen und Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Nachweis der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

Einleitung: Reformation und Konfessionelles Zeitalter als Epochen der Kirchen-, Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte

Für evangelische Christen ist die Reformation die wichtigste Epoche der zweitausendjährigen Geschichte des Christentums. In der Reformation wurzelt bis heute evangelische Identität. Der Blick evangelischer Christen auf Gott, Jesus und die Bibel ist bis heute von Grundentscheidungen der Reformation geprägt. Den nur fünfzig Jahren der Reformationsepoche wird in Lehrbüchern und Lehrveranstaltungen die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt wie dem mittelalterlichen Christentum mit seinen tausend Jahren oder dem antiken Christentum mit fünfhundert Jahren. Die Reformation ist eines von nur wenigen geschichtlichen Themen, das im evangelischen Religionsunterricht aller Schularten und aller Schulstufen präsent ist. Dem Gedenken der Reformatoren wird anlässlich 450. oder 500. Geburtsund Todesjahre in der kirchlichen Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit eingeräumt, ebenso den Epochenjahren der Reformationsgeschichte wie 1517, 1530 und 1555. Grundgedanken der Reformation müssen auch nach 500 Jahren nicht aktualisiert werden, sondern bleiben vielfach aktuell und haben sich im ausgehenden 20. Jahrhundert sogar als Basis ökumenischer Dialoge bewährt. Für die evangelische Kirchengeschichtsschreibung ist die Reformation eine eigenständige Epoche der Kirchen-, Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte. Mit der Reformation endet das Mittelalter und beginnt die Neuzeit. Als Epochen werden in der Historiografie Zeitabschnitte bezeichnet, die sich durch herausragende Gemeinsamkeiten von vorangehenden und nachfolgenden Zeitabschnitten unterscheiden. Die Reformation ist jedoch nicht nur eine Epoche der allgemeinen Kirchengeschichte, abgegrenzt durch die Jahre 1517 („Thesenanschlag“) und 1555 (Religionsfriede), sondern auch eine Epoche der Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte. In der Reformationszeit veränderten sich nicht nur innerkirchliche Strukturen und die Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft, sondern auch die Formen und die Inhalte des theologischen Denkens sowie die Orte und Kontexte, in denen Theologie entwickelt wurde. Ferner fand der christliche Glaube in der Gemeinde und im Leben des Einzelnen neue Ausdrucksformen und verwandelte die Frömmigkeitspraxis. Die Betrachtung der Geschichte wird immer auch von aktuellen Interessen und Fragestellungen geleitet. Aus diesem Grunde kommt

Epochen

10

Einleitung

auch Themen wie „Frau und Kirche“ sowie „Christen und Juden“, die nicht zu den Zentralthemen der Reformation und des Konfessionellen Zeitalters gehörten, Bedeutung zu. Für das Verständnis des Verlaufs der Epoche sind sie nicht relevant, wohl aber für die Einschätzung der in ihr liegenden Potentiale sowie ihrer mittel- und langfristigen Wirkungen. Anders als die evangelische Kirchengeschichtsschreibung blicken katholische Kirchenhistoriker und Profanhistoriker auf die Reformation und weisen ihr nicht unbedingt epochale Bedeutung zu. Ein Profanhistoriker, der sich mehr als ein Kirchenhistoriker für Wirtschafts- und Sozialgeschichte und weniger für Theologiegeschichte interessiert, wird der Reformation einen geringeren Stellenwert geben und ebenso ein katholischer Kirchenhistoriker, der seine Kirche als Weltkirche und vor allem die Institution des Papsttums im Blick hat. Epochendefinitionen und -abgrenzungen hängen immer auch von Schwerpunkten und Blickwinkeln der Geschichtsbetrachtung ab. Der Begriff Reformation fand schon zur Zeit der Reformation Verwendung, wenn auch noch nicht häufig und noch nicht als Epochenbezeichnung. Er drückte und drückt das Grundanliegen Luthers und seiner Mitstreiter aus, die – wörtlich – Zurückformung (lat. reformare = reformare = zurückformen) der Kirche. Gemeint war die neue Orienzurückformen tierung an alten Grundlagen, nämlich an den religiösen Grundlagen der frühen Christenheit, von denen sich die Kirche aus der Sicht der Reformatoren im Laufe ihrer Geschichte mehr und Definition von „Reformation“: mehr entfernt hatte. Die Reformatoren wollten keine Neuerer, keine Modernisierer sein. Als solche – als Heinrich Bullinger, der Nachfolger Zwinglis in Zürich, hat 1565/66 „Neugläubige“ – wurden sie jedoch von den AnhänReformation folgendermaßen gern der alten Kirche beschimpft. Heute wird man definiert: den Gegnern der Reformation an diesem Punkt Reformare est rem ad pristinam Recht geben: Wider Willen schufen die Reformatoformam, quam amiserat, reducere. ren, indem sie zurück zum Alten wollten, Neues und (Reformation bedeutet eine Sache in ihre frühere, verloren entwickelten nicht nur die Kirche, sondern auch gegangene Form zurückzuführen.) Kultur und Gesellschaft weiter. Auf die Reformation folgte als nächste Teilepoche der Neuzeit das Konfessionen Konfessionelle Zeitalter, eine Epoche, die von Konfessionen – Bekenntnissen (lat.: confessiones) – beherrscht wurde. Deutschland und Europa waren als Folge der Reformation von unterschiedlichen, einander widersprechenden und widerstreitenden Konfessionen geprägt. Konfessionsgrenzen bildeten Ländergrenzen und Ländergrenzen waren zugleich Konfessionsgrenzen. Das Konfessionelle Zeitalter erstreckte sich bis 1648, als der Friede von Münster und Osnabrück mehr Toleranz gewährte. Aber seine Ausläufer reichen bis ins ausgehende 18. Jahrhundert. Erst als Folge der Französischen

Einleitung

Revolution und der Napoleonischen Kriege begannen sich die Konfessionsgrenzen zu lockern und erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden sie weitgehend aufgebrochen. Überblick: Bezeichnungen und Begriffe rund um die Reformation

„Reformiert“ und „reformatorisch“ ist nicht dasselbe und auch die „Evangelischen“ wollten eigentlich „katholisch“ sein und bleiben. Die Begrifflichkeit rund um die Reformation ist manchmal verwirrend, doch auf den rechten Gebrauch der Begriffe und auf ihre jeweilige Konnotation ist streng zu achten. ► reformatorisch: übergreifende Bezeichnung für alles, was zur Reformation gehört und auf die Reformation zurückgeht. ► evangelisch: am Evangelium Jesu Christi orientiert. Das war ein Grundanliegen der Reformation. Als Evangelische werden übergreifend die Anhänger der Reformation bezeichnet, als evangelische Kirchen alle Kirchen, die aus der Reformation hervorgegangen sind. Am Evangelium orientiert sehen sich aber auch die Katholiken. ► protestantisch: übergreifend verwendete Bezeichnung für die Anhänger der Reformation. Man spricht auch von protestantischen Kirchen und vom Protestantismus. Das Wort ist nach 1529 aufgekommen, war aber zunächst ein Schimpfwort im Sinne von „Protestler“. ► lutherisch: Bezeichnung für den an Luther orientierten Flügel der Reformation und für die auf die Wittenberger Reformation zurückgehenden Kirchen, anfangs als Schimpfwort gebraucht. ► calvinistisch: Bezeichnung für den an Calvin orientierten Flügel der Reformation und für die auf die Genfer Reformation zurückgehenden Kirchen, anfangs als Schimpfwort gebraucht. ► reformiert: Bezeichnung für die auf die Reformation Calvins ausgerichteten Kirchen in Deutschland sowie für die auf die Reformationen Zwinglis, Oekolampads und Hallers zurückgehenden Kirchen der Schweiz. ► reformerisch: allgemeine Bezeichnung für alle auf Erneuerung und Veränderung abzielenden Kräfte und Bewegungen in allen Kirchen. ► neugläubig: ursprünglich polemische Bezeichnung für die Anhänger der Reformation. ► altgläubig: ursprünglich nicht negativ konnotierte Bezeichnung für die Gegner der Reformation, die Anhänger des alten Glaubens, der alten Kirche. ► katholisch: wörtliche Bedeutung: „allgemein“, „umfassend“. In diesem Sinn erheben alle großen Kirchen den Anspruch, katholisch zu sein. Auch die evangelischen Kirchen beanspruchten für sich bis in

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Einleitung das 19. Jahrhundert hinein Katholizität. Dann aber wurde „katholisch“ mehr und mehr zur Konfessionsbezeichnung für die römische Kirche mit dem Papst an der Spitze. ► römisch-katholisch: heute übliche, differenzierende Konfessionsbezeichnung für die katholische Kirche. ► papistisch: polemische Bezeichnung für päpstliche Dinge und die – vom Papst (lat.: papa) geleitete – katholische Kirche. Frühe Neuzeit

Pietismus

Aufklärung

Reformation und Konfessionelles Zeitalter gehören beide in die Frühe Neuzeit. Auf die Frühe Neuzeit folgte als zweite Teilepoche der Neuzeit die Moderne. Trotz seiner Starrheit und Uniformität entwickelten sich im Konfessionellen Zeitalter vorwärts und in die Moderne weisende Bewegungen. Dazu gehörten im kirchlichen Bereich der Pietismus und auf der allgemeinen geistesgeschichtlichen Ebene die Aufklärung. Der Pietismus, eine Frömmigkeitsbewegung in der Frühen Neuzeit, begann damit, Konfessionsgrenzen zu relativieren und in den Kirchen die Laien zu aktivieren. Sie studierten die Bibel, sammelten sich in Hauskreisen und traten ihren Pfarrern selbstbewusst gegenüber. Evangelisches Christentum gewann so allmählich seine heutige Gestalt. Auch der Katholizismus wurde durch neue theologische Ideen und neue spirituelle Impulse herausgefordert, verändert und modernisiert. Die heutige katholische Kirche ist nicht identisch mit der, die Luther, Zwingli und Calvin bekämpften. Die Aufklärung hinterfragte, was zuvor nicht in Frage gestellt werden durfte. Nicht nur Lehren und Bekenntnisse, sondern Gott selbst kam auf den Prüfstand. Natur- und Weltläufe, ja die Religion selbst und ihre Geschichte wurden betrachtet, als ob es Gott nicht gäbe. Angeregt von der Aufklärung begann das Christentum als weltweit erste Religion sich selbst historisch und kritisch zu sehen. In der theologischen Arbeit setzte sich die historisch-kritische Methode durch – eine rationale und differenzierte (griech. κρίνω/krino = unterscheiden) und ihren geschichtlichen Kontext bedenkende Betrachtung der religiösen Texte – und revolutionierte die Sicht und den Umgang mit der Bibel. Das heutige westliche Christentum ist bleibend und nachhaltig von der Aufklärung geprägt. Für andere Formen des Christentums, insbesondere für die Kirchen des Ostens, gilt dies jedoch nicht in gleichem Maße. Dieses Lehrbuch basiert auf jahrelanger Forschungs-, Lehr- und Publikationstätigkeit in den Bereichen der Reformation und des Konfessionellen Zeitalters. Es will, jedem verständlich, Grundwissen vermitteln und zu weiterführenden Fragen anregen. Es ist ein evangelisches Lehrbuch, das die katholischen Perspektiven aber konsequent einbe-

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Literatur

zieht und keinerlei apologetische Zwecke verfolgt. Ganz mit Absicht und entgegen dem, was manche als die Profession des Historikers ansehen, wird immer wieder die Brücke von der Geschichte in die Gegenwart geschlagen. Geschichte wird nämlich nicht um ihrer selbst, sondern um der Gegenwart willen betrieben. Viel verdankt dieses Buch den Forschungen von Kolleginnen und Kollegen, darunter vielen Freunden. Viel verdankt dieses Buch auch Beiträgen meiner Osnabrücker Studierenden, vor allem meiner wissenschaftlichen Hilfskräfte Wiebke Meyer und Alina Pohlmann, die sich an Korrekturen und der Erstellung der Register beteiligt haben. Lateinische Quellenzitate werden in eigenen deutschen Übersetzungen wiedergegeben und frühneuhochdeutsche Texte wurden von mir ins heutige Deutsch übertragen. Auf leicht zugängliche, für das Nachlesen geeignete Fundorte wichtiger Quellen wird in den Anmerkungen knapp, unter Verwendung gängiger Abkürzungen, hingewiesen. Diese lassen sich mithilfe des Quellen- und Abkürzungsverzeichnisses (siehe Anhang) auflösen. Osnabrück, im November 2011

Martin H. Jung

Literatur Überblickswerke und Quellensammlungen zur Reformation und zum konfessionellen Zeitalter: Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung [= DGQD]. Bd. 3: Reformationszeit. 1495– 1555 / Ulrich Köpf (Hg.). Stuttgart 2001 (Universal-Bibliothek 17003). Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche [= BSLK]. Herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930. 13. Aufl. Göttingen 2010. Axel Gotthard: Das Alte Reich 1495–1806. 4. Aufl. Darmstadt 2009 (Geschichte kompakt). Martin Heckel: Deutschland im konfessionellen Zeitalter. 2. Aufl. Göttingen 2001 (Deutsche Geschichte 5) (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1490). Martin H. Jung (Hg.), Peter Walter (Hg.): Theologen des 16. Jahrhunderts. Humanismus, Reformation, Katholische Erneuerung. Eine Einführung. Darmstadt 2002. Martin H. Jung: Die Reformation. Theologen, Politiker, Künstler. Göttingen 2008. Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen [= KTGQ]. Bd. 3: Reformation / Volker Leppin (Bearb.). Neuaufl. Neukirchen-Vluyn 2005. Harm Klueting: Das konfessionelle Zeitalter. Europa zwischen Mittelalter und Moderne. Kirchengeschichte und Allgemeine Geschichte. Lizenzausg. Darmstadt 2007. Harm Klueting: Das konfessionelle Zeitalter. 1525–1648. Stuttgart 2008 (Uni-Taschenbücher 1556). Anton Schindling (Hg.), Walter Ziegler (Hg.): Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Bd. 1–7. Münster/Westf. 1989–1997. Heribert Smolinsky, Klaus Schatz: Kirchengeschichte der Neuzeit. Bd. 1–2. Düsseldorf 2008 (Kirchengeschichte in vier Bänden). Volker Leppin: Das Zeitalter der Reformation. Eine Welt im Übergang. Darmstadt 2009. Johannes Wallmann: Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation. 6., durchges. Aufl. Tübingen 2006 (UTB 1355). Peter Walter (Hg.), Martin H. Jung (Hg.): Theologen des 17. und 18. Jahrhunderts. Konfessionelles Zeitalter, Pietismus, Aufklärung. [Eine Einführung]. Darmstadt 2003.

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1. Voraussetzungen, Rahmenbedingungen, Hintergründe

Die Reformation entwickelte sich unter konkreten gesellschaftlichen, politischen und kirchlichen Rahmenbedingungen. Sie basierte auf ihnen und veränderte sie zugleich. Kirchen-, Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte können, gerade im Reformationszeitalter, nicht ohne Kenntnis der politischen Geschichte sowie der Wirtschaftsund Sozialgeschichte reflektiert werden.

Das Reich

Kaiser

Territorien

Die politischen Verhältnisse um das Jahr 1500 hatten großen Einfluss auf das Zustandekommen und den Ablauf der Reformation. England, Frankreich und Polen gab es schon, aber Deutschland noch nicht. Was heute Deutschland ist, war damals zusammen mit der Schweiz, Österreich, Belgien und Holland sowie Teilen des heutigen Italiens und weiteren Gebieten das „Reich“, genauer das „Heilige Römische Reich deutscher Nation“. Seine Anfänge liegen im 8. Jahrhundert. Ein Markstein war die Kaiserkrönung Karls des Großen im Jahre 800. Weitere wichtige Entwicklungsschritte folgten im 9. und 10. Jahrhundert. Das Reich wollte die Tradition des antiken Römerreichs fortsetzen. Den Kern bildete aber nicht Italien mit Rom, sondern Deutschland. Gelenkt wurde das Reich von einem Kaiser, der in dieses Amt gewählt wurde. Nicht immer regierten im späten Mittelalter Deutsche das „Reich deutscher Nation“. Häufig waren es Männer aus den Adelsgeschlechtern der Habsburger und der Luxemburger. Das Reich war weder ein National- noch ein Bundesstaat, sondern ein Dachverband von Territorien, es hatte keine Hauptstadt, sondern verfügte über mehrere politische und kulturelle Zentren. Auch eindeutige Grenzen gab es nicht und erst recht kein einheitliches Reichsvolk, geschweige denn eine einheitliche Reichssprache. Innerhalb des Reichs regierten viele größere und kleinere selbstständige Machthaber ihre jeweiligen Herrschaftsgebiete. Man spricht von Territorien und Territorialherren. Sie erstarkten im Laufe der Geschichte, nicht ohne Zutun der Reformation, und nachdem das Reich im Jahre 1806 durch die militärische Gewalt Napoleons untergegangen war, taten sie sich zusammen und schufen 1815 Deutschland als Bundesstaat („Deutscher Bund“) und 1871 ein neues, deut-

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Das Reich

Abb. 1: Das Reich um 1550

sches Kaiserreich, das „Deutsche Reich“. 1648 jedoch, im Jahr des Friedens von Münster und Osnabrück, zählte Deutschland noch 234 selbstständige Territorien. Zu den mächtigsten deutschen Territorien gehörte durch die Geschichte hindurch Sachsen, das Land, in dem Luther lebte und das ihn schützte. Seit 1485 war es geteilt in ein vom Stamm der Ernestiner regiertes Kurfürstentum und ein von den Albertinern regiertes Herzogtum. Wittenberg war neben Torgau eine Residenzstadt des Kurfürstentums Sachsen. Das weniger bedeutende Herzogtum Sachsen hatte Leipzig als Residenz. Der Kurfürst von Sachsen war einer der mächtigsten Männer im Reich, da er an der Wahl des Kaisers beteiligt war. Als Folge der Reformation schwand die Bedeutung des Kurfürstentums Sachsen und das Herzogtum erstarkte, erlangte schließlich (1547) die Kurwürde und wurde zuletzt (1806) zu einem Königtum. Luthers Heimatland dagegen war von 1815 an eine Provinz Preußens.

Sachsen

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Voraussetzungen, Rahmenbedingungen, Hintergründe

Die Kirche

Päpste

Bischöfe

Auch die kirchlichen Verhältnisse waren um das Jahr 1500 grundlegend anders als heute. Die Kirche um das Jahr 1500, gegen die Luther aufstand, ist nicht identisch mit der katholischen Kirche heute. Auch die Kirchen, die Luther und die Reformatoren schufen, sind nicht identisch mit den evangelischen Kirchen heute. Die katholische Kirche, die den Wittenberger Reformator damals ausstieß, hat sich selbst als Folge der Reformation und an verschiedenen Punkten durchaus im Sinne Luthers gewandelt. Und auch die evangelischen Kirchen erlebten im Laufe der Jahrhunderte Wandlungsprozesse, durch die sie sich in manchen Punkten der katholischen Kirche wieder annäherten und von Luther entfernten. Die Kirche um das Jahr 1500 war von folgenden Umständen geprägt: ein ungeistliches Papsttum sowie Bischöfe, die ihre Amtspflichten gering schätzten, ein Heer von Klerikern und Mönchen, die sich mehr von ihrer Kirche versorgen ließen, als dass sie ihr dienten, und eine intensive Frömmigkeit, die das Reliquien- und Wallfahrtswesen betonte, aber die Bibel und die Predigt vernachlässigte. An der Spitze der Kirche stand nicht von Anfang an ein Papst. Das Papsttum hatte sich im Laufe des Mittelalters herausgebildet und seine Herrschaft zunehmend gefestigt. Der Ortsbischof von Rom – nichts anderes war der Papst ursprünglich einmal – beanspruchte die Herrschaft über die Gesamtkirche, den Primat (lat. primus = erster). Päpste wurden gewählt, doch nicht jeder konnte Papst werden. Die Männer, die von Rom aus die Kirche regierten, entstammten angesehenen und reichen italienischen Familien und bei den Wahlen floss häufig Geld. Vielen ging es um Macht, Reichtum und ein angenehmes Leben, nicht aber um die Kirche. Im ausgehenden 15. und im frühen 16. Jahrhundert regierten Päpste, die nichts von Theologie verstanden und kaum geistliche Interessen hatten. Sie führten Kriege, umgaben sich mit Frauen, zeugten Söhne und Töchter und förderten die Kunst. Von Letzterem zeugt das heutige Rom mit seinen prächtigen Kirchen und berühmten Skulpturen und Malereien. Diese Päpste lebten in der kunstgeschichtlich bedeutenden Epoche der Renaissance und waren von ihr geprägt. Man spricht deshalb vom Renaissancepapsttum. Die Kirche wurde nicht vom Papst allein regiert, sondern vom Papst und den Bischöfen. Ursprünglich hatte jede städtische Gemeinde einen Bischof, einen Aufseher (griech.: ἐπίσκοπος/episkopos), aber im Mittelalter bildete sich die Leitungsstruktur heraus, die bis heute besteht: Bischöfe leiten die Kirche einer bestimmten Region, ihre „Diözese“ (griech. διοίκησις/dioikesis = Hausverwal-

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Die Kirche

tung). In Deutschland hatten Bischöfe jedoch nicht nur kirchliche, sondern auch politische Macht, denn sie standen im Rang von Reichsfürsten. Das politische Herrschaftsgebiet dieser auch als „geistliche Fürsten“ bezeichneten Männer war nicht identisch mit der Diözese und wird im Unterschied zu normalen, nicht von Geistlichen regierten „weltlichen“ Fürstentümern als „geistliches Fürstentum“, „Fürstbistum“ oder „Hochstift“ bezeichnet. Die Verbindung von politischer und kirchlicher Macht in der Person und im Amt des Bischofs bestimmte die deutsche Geschichte vom 10. Jahrhundert an bis 1803. Auch Bischöfe wurden gewählt, aber nicht jeder konnte Bischof werden. Sie entstammten dem hohen Adel und lebten und regierten wie Adlige. Unter ihnen gab es engagierte Kirchenmänner und profilierte Theologen, aber auch Gestalten, die ihr kirchliches Amt vernachlässigten und wie die Renaissancepäpste nur Macht, Geld und Kunst sowie Frauen im Blick hatten. Ihrer eigentlichen Aufgabe, die ihnen unterstehenden Gemeinden und ihre Pfarrer zu begleiten und zu kontrollieren, wurden nur wenige Bischöfe gerecht. Die Basis der Kircheninstitution bildeten die einfachen Kleriker, die Amtsträger (griech. κλῆρος/kleros = Los, bei der Vergabe eines Amtes): Männer, die das Sakrament der Weihe empfangen hatten und für die Kirche, aber auch von der Kirche lebten. Anders als heute standen sehr viele Menschen im Dienste der Kirche. In den Städten Deutschlands gehörten etwa zehn Prozent der Menschen dem Klerus an und an den großen städtischen Kirchen amtierten nicht ein, zwei oder drei Pfarrer, wie heute, sondern zwanzig oder dreißig Kleriker wechselten sich in der Kirche dabei ab, Messen zu lesen. Diese Kleriker mussten bezahlt werden und viele Menschen hatten das Gefühl, dass sie auf Kosten der Allgemeinheit lebten. Außerdem beobachteten viele Zeitgenossen kritisch, dass die Kleriker ihren eigenen Ansprüchen nicht genügten. Insbesondere mit der von allen versprochenen Ehelosigkeit, dem Zölibat (lat. caelebs = allein lebend), nahmen es viele nicht so ernst. Den Männern der Kirche gegenüber kam deshalb eine feindliche Stimmung auf, es entwickelte sich ein auffälliger Antiklerikalismus. Beliebt war es bei einfachen Klerikern wie bei höherer kirchlichen Amtsträgern, mehrere Ämter zugleich innezuhaben. Diese „Ämterkumulation“ garantierte mehr Einkommen, mehr Ansehen und mehr Macht. Wenn die Ämter zu verschiedenen Orten gehörten, war periodische oder ständige Absenz und damit eine Vernachlässigung der Pflichten eine zwangsläufige Folge. Viele Männer und Frauen lebten als Mönche und Nonnen in Klöstern, die in großer Zahl sowohl in den Städten als auch auf dem Land zu finden waren. Das Klosterleben war anders als heute eine

Kleriker

Mönche

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Voraussetzungen, Rahmenbedingungen, Hintergründe

Ketzer

Heil

Heilige

Reliquien

Bibel

Predigt

privilegierte Lebensform, die eine Rundumversorgung garantierte und Frauen vor dem damals als Last empfundenen und mit Gefahr für Leib und Leben verbundenen Kinderkriegen bewahrte. Mönche und Nonnen verpflichteten sich explizit zur Armut, aber viele Klöster und viele Klosterbewohner waren in Wirklichkeit reich. Auch diese Tatsache erregte Missfallen. Die kirchlichen Missstände lagen auf der Hand und ein Antiklerikalismus war zu spüren, aber eine offene und grundsätzliche Opposition gegen die Kirche gab es nicht. Anders als im hohen Mittelalter traten keine radikalen Kritiker – Ketzer – auf und es existierten keine Oppositions- und Ketzerbewegungen. Die Zeit um 1500 gehörte zu den kirchenfrömmsten Epochen der Christentumsgeschichte. Die Kirche hatte den Menschen auch einiges zu bieten. Sie versprach ihnen das Heil, ein auf den Tod folgendes ewiges Leben in Gottesgemeinschaft. Das Leben war schwer und die Sehnsucht nach Erlösung groß. Die Menschen suchten Hilfe bei den Heiligen, großen, bereits verstorbenen Männern und Frauen aus der Geschichte der Christenheit, die ein vorbildliches Leben geführt hatten oder als Märtyrer für ihren Glauben gestorben waren und denen man zutraute, auf Gott einzuwirken und – wenn es sein musste – seinen Zorn zu mildern. Heilige waren Fürbitter, die sich bei Gott für die Menschen einsetzten. In allen größeren und kleineren Nöten des Lebens, bei Krankheit und bei Missernten, aber auch, wenn man etwas verloren hatte, konnte man sich an die Heiligen wenden und sie anrufen. Die Anrufung glich häufig einer – eigentlich untersagten – Anbetung. Die Heiligen versperrten vielfach den Blick auf Gott. Um den Heiligen nahe zu sein, besuchte man das, was von ihnen übrig geblieben war, ihre Reliquien (lat. reliquiae = Überbleibsel). Jede Kirche hatte Überreste von Heiligen. Kirchen, die besonders viele oder besonders bedeutende Heilige hatten, wurden zu Wallfahrtskirchen, die man nur deswegen besuchte, um einem bestimmten Heiligen nahe zu sein. Das Pilgern hatte Konjunktur und die Menschen versprachen sich – geistlich – viel davon. Einen vergleichsweise geringen Stellenwert hatte in der Frömmigkeit der Zeit die Bibel. Sie lag in lateinischer Sprache vor und wurde an den Universitäten studiert, aber in der Gemeinde- und Alltagsfrömmigkeit spielte sie keine Rolle. Es gab auch Übersetzungen der Bibel ins Deutsche, aber die waren kostbar und teuer und befanden sich im Besitz weniger Reicher. Auch der Predigt kam im Vergleich zu heute eine wesentlich geringere Bedeutung zu. Im Zentrum der Gottesdienste stand das Sakrament des Altars, die Abendmahls- oder Eucharistiefeier. Die Liturgie wurde in lateinischer Sprache zelebriert. Die Priester emp-

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Die Kirche

fingen Brot und Wein, die Gläubigen nur Brot, oder sie beschränkten sich darauf, das Ganze nur zu beobachten. Gepredigt wurde in den Kirchen der Bettelorden, wozu die Franziskaner, die Dominikaner und die Augustiner-Eremiten gehörten, sowie in den Städten von eigens zu diesem Zweck angestellten Predigern, den Prädikanten. Die gebildete städtische Bevölkerung hatte durchaus ein Bedürfnis nach Predigten. Es gab einzelne große und berühmte Kanzelredner wie den Straßburger Münsterprediger Johannes Geiler von Kaysersberg, einen aus dem Elsass stammenden, in Basel promovierten Theologen. Sie versuchten den Menschen aufzuzeigen, wie man durch ein gottgefälliges frommes Leben, durch gute, den Mitmenschen und der Kirche nützende Taten das Heil erlangen könne. Spätmittelalterliche Predigten hatten immer einen ethischen Akzent. Das Heilsverlangen war groß. Die Menschen quälten sich mit dem Gedanken, nach dem Tod einem strengen Richtergott gegenüberstehen zu müssen und nichts vorweisen zu können. Die Menschen wussten, dass sie oftmals gefehlt und gesündigt hatten und viele Rechnungen noch offen waren. Zu jeder Sünde gehörte eine gerechte Strafe, sagten die Prediger. Jede böse Tat zog unvermeidlich eine göttliche Strafe nach sich. Ihre Schuld wird den Sündern zwar verziehen und sie werden wieder von Gott angenommen, wenn sie dem Priester beichten, aber die Strafen werden dadurch nicht erlassen. Es galt der Grundsatz „Strafe muss sein“. Gott straft, nach der Vorstellung des Mittelalters, auf mannigfache Art, zum Beispiel durch Krankheiten und Unglücksfälle. Die meisten Strafen werden jedoch nicht im Diesseits getragen, sondern erst im Jenseits, im Fegefeuer. Wer im Leben nicht ausreichend gebüßt hatte, musste im Jenseits büßen und kam in das Fegefeuer, einen schmerzvollen Reinigungsort zwischen Erde und Himmel, wo auf den Eingang in die himmlische Herrlichkeit vorbereitet wurde. Das Fegefeuer ist nicht die Hölle, sondern ein Ort der Reinigung, aber den befristeten Aufenthalt dort stellte man sich sehr schmerzlich vor. Dieses Schicksal versprach die Kirche den Menschen ersparen oder zumindest lindern zu können. Sie bot ihnen Ablass an. Ablass meint Nachlass oder Erlass: Erlassen werden Strafen, die Menschen wegen begangener Sünden abzubüßen hätten. Diesen Ablass gab es natürlich nicht umsonst. Im hohen Mittelalter, als der Ablassgedanke aufkam, musste, wer Ablass empfangen wollte, an einem Kreuzzug teilnehmen oder eine Pilgerfahrt durchführen. Im späten Mittelalter konnten die Gläubigen überall Ablass erwerben. Die Kirche bot ihn an gegen Geld – und finanzierte auf diese Weise große Projekte wie den Neubau des Petersdoms in Rom. Die Ablassfrömmigkeit boomte.

Prädikanten

Fegefeuer

Ablass

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Voraussetzungen, Rahmenbedingungen, Hintergründe

Gegen Geld, der Kirche gespendet, konnten die Gläubigen die zu erwartenden Sündenstrafen mindern oder sogar ganz erlassen bekommen. Ja, die Kirche bot sogar an, Ablass zu gewähren für zukünftige Sünden und für die Sünden von bereits verstorbenen Angehörigen. Man hörte eine Predigt, ging zum Beichten, kaufte einen Ablassbrief – und die Sache war erledigt. Das Bildungswesen

Universitäten

Humanismus Erasmus von Rotterdam

Nicht nur die Frömmigkeit erlebte um 1500 einen Aufschwung, sondern auch die Bildung. Seit dem 12. Jahrhundert gab es Universitäten. Im ausgehenden 15. und im frühen 16. Jahrhundert wurden eine ganze Reihe neuer Universitäten gegründet, darunter auch 1502 die Universität Wittenberg. Die erstarkenden Territorialstaaten wollten ihre eigenen Universitäten. In und außerhalb der Universitäten wirkten aber auch Gelehrte, die der Bildung neue Strukturen und neue Inhalte geben wollten. Die Bildung gewann an Breite, indem zum Beispiel nicht nur Latein, sondern auch Griechisch und Hebräisch gelernt wurde, und indem zum Beispiel nicht nur Philosophie, sondern auch Geschichte und Mathematik studiert und nicht nur dialektisches Denken, sondern auch Rhetorik und Poesie geübt wurden. Die Mediziner begnügten sich nicht mehr mit der Lektüre von Büchern, sondern betrachteten und sezierten menschliche Leiber. Die reformerischen Gelehrten orientierten sich neu an der Antike und deren Bildungstraditionen und wollten in allen Wissensgebieten zurück „zu den Quellen“ (lat.: ad fontes). Auf das Bildungswesen des Mittelalters wurde verächtlich herabgeblickt und seine Theologie als „scholastisch“, das heißt schulisch (lat. schola = Schule), disqualifiziert. Später, sehr viel später, hat man diese Bildungsbewegung des 15. und 16. Jahrhunderts als Humanismus bezeichnet, weil es ihr um die Entfaltung des Humanen – dessen, was den Menschen zum Menschen macht (lat. humanus = menschlich) – ging. Der Humanismus war eine Gelehrtenbewegung in der Zeit der Renaissance. Er hatte europäische Dimensionen. Sein bedeutendster Vertreter war Erasmus. Er wurde 1466 oder 1469 in Rotterdam geboren und war Sohn eines Priesters. Er wurde Mönch und ließ sich zum Priester weihen, betätigte sich als Sekretär des Bischofs von Cambrai und studierte schließlich in Paris Theologie. Anschließend wirkte er als Privatgelehrter, hielt sich abwechselnd in England, Frankreich, den Niederlanden und in Italien auf. Seine beiden letzten Lebensjahrzehnte verbrachte er überwiegend in Basel und in Freiburg i. Br. und edierte –

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Das Bildungswesen

erstmals – ein griechisches Neues Testament (Novum instrumentum) sowie zahlreiche Schriften von Kirchenvätern. In anderen Schriften kritisierte er gesellschaftliche und kirchliche Missstände und übergoss ungebildete Mönche und unfromme Päpste mit Hohn und Spott. Kurzbiografie: Erasmus 1466 oder 1469 1487 1492 1493 1495–1499 1506 1514–1516 1516 1517–1521 1517 1521–1529 1529–1535 1535–1536 1536

geboren in Rotterdam (28.10.) Eintritt in das Kloster Steyn bei Gouda Priesterweihe Sekretär des Bischofs von Cambrai Theologiestudium in Paris Promotion zum Dr. theol. in Turin Basel Novum instrumentum (Basel) Löwen Entbindung von den Mönchsgelübden Basel Freiburg i. Br. Basel Tod in Basel (12. 7.)

Zu den prominenten Humanisten zählte auch der Pforzheimer Jurist Johannes Reuchlin. Unter anderem verfasste er Lehrbücher des Griechischen und des Hebräischen. In einem Gutachten sprach er sich 1510 gegen die Vernichtung des Talmuds aus,1 die von Kölner Dominikanern gefordert und betrieben wurde. In Nürnberg lebte Willibald Pirckheimer, ebenfalls ein Jurist, und übersetzte antike Literatur und Kirchenväter. Zu den prominenten deutschen Humanisten gehörte ferner der Ritter Ulrich von Hutten, ein preisgekrönter Dichter. Sie alle wurden in unterschiedlicher Weise in die Reformationsgeschichte verwickelt. Der Humanismus war allerdings elitär. Er zielte nicht auf Breitenbildung, auf die Bildung aller Menschen. Erst die Reformation und die wenig später beginnende Katholische Reform suchten mit ihren Bildungsbemühungen nicht nur Männer, sondern auch Frauen, und nicht nur Städte, sondern auch Dörfer zu erreichen. Um 1500 hatten Frauen nur die Möglichkeit eine elementare Bildung zu erlangen, indem sie eine Mädchenschule besuchten, die es 1 Auszüge: KTGQ 3, S. 3–5.

Reuchlin

Mädchen

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Voraussetzungen, Rahmenbedingungen, Hintergründe

Knaben

in manchen Städten, zum Beispiel in Straßburg, gab. Reiche Adelsfamilien konnten ihre Töchter durch Hauslehrer unterrichten lassen. In Klöstern war es für Frauen ebenfalls möglich, Bildung, ja sogar eine gehobene Bildung zu erwerben, doch war damit gleichzeitig in der Regel die Bindung an das monastische Leben verbunden. Vereinzelt gab es Nonnen, die Latein beherrschten. Eine universitäre Ausbildung zu erlangen war Frauen generell nicht möglich. Nur Männer durften studieren und das sollte noch jahrhundertelang so bleiben. Knaben wurden in der Regel zunächst zu Hause unterrichtet oder besuchten in den Städten eine Elementarschule. Danach brachten begüterte Eltern ihre Kinder in Lateinschulen unter, wo sie, häufig fern ihrer Heimat, auf den Besuch einer Universität vorbereitet wurden. An den Universitäten war allen Studenten zunächst ein sprachlich und philosophisch ausgerichtetes Grundstudium vorgeschrieben, das mit dem Erwerb des Magistertitels endete. Die grundlegenden Wissenschaften wurden lateinisch als Artes liberales, freie Künste, bezeichnet, weil sie einem Menschen geistige Freiheit vermittelten. Entsprechend hieß die diese Bildungsgüter vermittelnde Fakultät Artistenfakultät. Nach Erwerb des Magistertitels konnte an höheren Fakultäten weiterstudiert werden. Volluniversitäten boten Medizin, Recht und Theologie an. Alles wurde in lateinischer Sprache gelehrt. Das ermöglichte europaweite Mobilität. Die Bildungselite des Mittelalters war nicht national gebunden. Gelehrtenbiografien konnten von Deutschland nach Italien und weiter nach England führen. Im Konfessionellen Zeitalter dagegen war die Mobilität vergleichsweise begrenzt.

Die Entdeckungen

Amerika

Indien

Im 15. Jahrhundert begann eine Epoche großer Entdeckungen. Entdeckt wurden neue Länder, neue Menschen, neue Religionen, neue Texte und neue Techniken. Im Jahre 1492 stieß der Wahl-Spanier Christoph Kolumbus bei der Suche nach einem Seeweg nach Indien auf Amerika, einen neuen Kontinent mit bislang unbekannten Völkern, die bis heute, Kolumbus’ Irrtum weiterführend, als Indios und Indianer, also im Grunde als Inder bezeichnet werden. Wenig später, 1497, fand der Portugiese Vasco da Gama dann tatsächlich den Seeweg nach Indien. Portugiesische Kaufleute gelangten nach China. In der Folge wurde das Abendland mit einer bis dahin nicht bekannten Religion, dem Konfuzianismus, konfrontiert. Seine hohen ethischen Ansprüche forderten das Christentum heraus.

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Die Entdeckungen

Der schon länger bekannte Islam dagegen wurde im Abendland in erster Linie als militärische Bedrohung erfahren. Im Jahre 1453 war Konstantinopel, das wichtigste Zentrum der Christenheit neben Rom, von den Türken erobert und in Istanbul verwandelt worden. Christliche Gelehrte wanderten vom Osten in den Westen und nahmen alte griechische Texte mit. Die abendländischen Gelehrten stießen in der Folge erstmals auf Originaltexte des antiken Philosophen Aristoteles, der an den Universitäten schon seit dem Hochmittelalter viel Beachtung fand, den man bislang aber immer nur in lateinischem Sprachgewand sowie beeinflusst von muslimisch-arabischen Interpreten studiert hatte, die ihn dem christlichen Abendland vermittelt hatten. Auch der im Mittelalter nur wenig beachtete Platon stieß nun auf Resonanz. Von 1510 an stellte der polnische Astronom Nikolaus Kopernikus das biblische Weltbild infrage. Allgemein und in Übereinstimmung mit der Bibel behaupteten Astronomen wie Theologen, dass die Erde das Zentrum des Kosmos bilde und Sonne, Mond und Sterne die Erde umkreisten. Dagegen lehrte Kopernikus auf der Basis astronomischer Beobachtungen und mathematischer Berechnungen, die Erde kreise um die Sonne, wie schon Aristarch von Samos in der Antike gesagt hatte. 1540 wurden die Erkenntnisse von Kopernikus im Druck verbreitet, auch in Deutschland. Luther, Melanchthon und Calvin wiesen den Heliozentrismus aber genauso zurück wie die Päpste. Nur Einzelne waren bereit, die neuen Sichtweisen als Hypothesen zu diskutieren. Zu den weitreichenden Entdeckungen kamen bahnbrechende Erfindungen. Texte aller Art konnten im Mittelalter nur durch Abschreiben verbreitet werden. Das war aufwändig und teuer. Um das Jahr 1450 erfand und erprobte jedoch der Mainzer Johannes Gutenberg den Buchdruck und revolutionierte damit die Literaturproduktion. Es wurde möglich, Bücher preiswert und in hohen Auflagen herzustellen und zu verbreiten. Die Reformation hätte ohne den Buchdruck nicht stattfinden können. Um das Jahr 1500 hatten einige Menschen das Gefühl, am Beginn einer neuen Zeit zu stehen. Sie stellten sie der „mittleren Zeit“, der Zeit zwischen der Antike und der Gegenwart, gegenüber. So entstand die Epochenbezeichnung Mittelalter und später, aber folgerichtig der Epochenbegriff Neuzeit. Die Bildungsbegeisterung verband sich mit Zukunftsoptimismus und Lebensfreude. Der Humanist Ulrich von Hutten, ein späterer Anhänger der Reformation, rief 1518 enthusiastisch aus: „O Jahrhundert, o Wissenschaft – es ist eine Lust zu leben!“

Türken

Kopernikus

Buchdruck

Neuzeit

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Voraussetzungen, Rahmenbedingungen, Hintergründe

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Literatur Cornelis Augustijn: Erasmus von Rotterdam. Leben, Werk, Wirkung. München 1986. Cornelis Augustijn: Humanismus / Hinrich Stoevesandt (Übers.). Göttingen 2003 (Die Kirche in ihrer Geschichte 2/2). Roland H[erbert] Bainton: Erasmus. Reformer zwischen den Fronten / Elisabeth Langerbeck (Übers.). Göttingen 1972. Otto Borst: Alltagsleben im Mittelalter. Mit zeitgenössischen Abbildungen. Neuaufl. Frankfurt a. M. 2008 (Insel-Taschenbücher 513). August Buck (Hg.): Renaissance, Reformation. Gegensätze und Gemeinsamkeiten. Wiesbaden 1984. August Buck: Humanismus. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Darstellungen. Freiburg i. Br. 1987. Johan Huizinga: Herbst des Mittelalters. Studien über die Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden / Kurt Köster (Hg.). 12. Aufl. Stuttgart 2006 (Kröners Taschenausgabe 204). Paul Oskar Kristeller: Humanismus und Renaissance. Bd. 1–2. München 1974–1976 (Humanistische Bibliothek 1, 21–22). Joachim Leuschner: Deutschland im späten Mittelalter. 2., durchges. u. bibl. erg. Aufl. Göttingen 1983 (Deutsche Geschichte 3) (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1410). Bernd Moeller: Frömmigkeit in Deutschland um 1500. In: Bernd Moeller: Die Reformation und das Mittelalter. Kirchenhistorische Aufsätze / Johannes Schilling (Hg.). Göttingen 1991, S. 73–85. Wilhelm Ribhegge: Erasmus von Rotterdam. Darmstadt 2010 (Gestalten der Neuzeit) (WBG Historische Bibliothek). Spätmittelalterliche Frömmigkeit zwischen Ideal und Praxis / Berndt Hamm (Hg.), Thomas Lentes (Hg.). Tübingen 2001 (Spätmittelalter und Reformation N.R. 15).

2. Luther und die frühe Reformation in Wittenberg

Martin Luther war ein Mensch des Mittelalters. Er war kein geborener Modernisierer. Gleichwohl gab er der Neuzeit und der Moderne entscheidende Anstöße. Luther ist ein Beispiel dafür, wie ein Einzelner – mit seinen Ideen und seinem Charisma sowie aufgrund seines Lebensgeschicks – Geschichte prägen kann. Vielleicht wäre es auch ohne Luther zu einer Reformation gekommen, sicher aber nicht zu der Reformation, die wir kennen.

Luthers Entwicklung zum Reformator Martin Luther war Sohn eines reichen Bergbauunternehmers aus Thüringen. Die Eltern zogen mehrfach um und lebten zuletzt in Mansfeld. Zufällig erblickte Luther in Eisleben das Licht der Welt, vermutlich im Jahre 1483, aber es könnte auch 1482 oder 1484 gewesen sein. Luthers Vater wollte, dass sich in seinem Sohn der soziale Aufstieg der Familie, die aus bäuerlichen Verhältnissen stammte, fortsetzte, und bestimmte ihn zum Studium in Erfurt, einer angesehenen Universitätsstadt. Nach dem allgemeinbildenden Grundstudium sollte Luther ein Jurastudium absolvieren. Das Fernziel wäre eine politische Laufbahn gewesen. Doch kurz nach Studienbeginn wurde Luther im Frühsommer 1505 aus der Bahn geworfen und schlug – gegen den Willen seines Vaters – einen eigenen Weg ein: Er trat in Erfurt ins Kloster ein und lebte als Mönch und Priester. Auslöser dieser Wende war ein heftiges Sommergewitter bei Stotternheim, von dem Luther auf dem Fußweg von seinem Heimat- zu seinem Studienort überrascht wurde und bei dem er in Todesangst die heilige Anna anrief und versprach, im Falle seiner Bewahrung Mönch zu werden. Dieses Gelübde wäre nicht bindend gewesen und viele rieten ihm ab, es zu erfüllen. Doch Luther blieb konsequent. Möglicherweise spielten bei seiner Entscheidung neben religiöser Strenge auch andere Motive eine Rolle und Gewitter und Gelübde könnten nur Anlass gegeben haben, seinem Vater und der Juristenlaufbahn zu entkommen. Luther hat nur einmal von diesem Ereignis erzählt. Das war im Jahre 1539, 34 Jahre später. Ein Besucher schrieb auf und überlieferte, was Luther in einer Tischrede gesagt hat.

Gewittererlebnis

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Luthers Bericht (1539) über seinen Klostereintritt (1505):

Am 16. Juli, dem Alexiustag, sagte er: „Heute jährt es sich, dass ich in Erfurt in das Kloster gegangen bin.“ Und er begann die Geschichte zu erzählen, wie er ein Gelübde abgelegt hatte, als er nämlich kaum vierzehn Tage vorher unterwegs gewesen und durch einen Blitzschlag bei Stotternheim unweit von Erfurt derart erschüttert worden sei, dass er im Schreck gerufen habe: Hilf du, heilige Anna, ich will ein Mönch werden! „Aber Gott hat damals mein Gelübde hebräisch verstanden: Anna, das heißt unter der Gnade, nicht unter dem Gesetz. Nachher reute mich das Gelübde und viele rieten mir ab. Ich aber beharrte dabei und am Tag vor dem Alexiustag lud ich die besten Freunde zum Abschied ein, damit sie mich am folgenden Tag ins Kloster geleiteten. Als sie mich zurückhalten wollten, sagte ich: ‚Heute seht ihr mich zum letzten Mal.‘ Da gaben sie mir unter Tränen das Geleit. Auch mein Vater war sehr zornig über mein Gelübde, doch ich beharrte bei meinem Entschluss. Niemals dachte ich das Kloster zu verlassen. Ich war der Welt ganz abgestorben.“ Augustiner-Eremit

Theologiestudium

Promotion

Luther lebte in Erfurt als Bettelmönch, als Augustiner-Eremit, und nahm dieses Leben von Anfang an sehr ernst. Konsequent hielt er sich an alle Regeln des mönchischen Lebens. Dennoch oder gerade deshalb war er von innerer Unruhe erfüllt und hatte das Gefühl, den Anforderungen nicht wirklich zu genügen. Von seinem Orden wurde Luther zum Theologiestudium bestimmt. Das war möglich in Erfurt, zwischendurch (1508) studierte er auch in Wittenberg. Im Jahre 1510 musste er im Auftrag seines Ordens nach Rom reisen, um dort Gespräche und Verhandlungen zu führen. Die Reise gestaltete er als Pilgerfahrt. In Rom besuchte er, wie bei Pilgern üblich, die Hauptkirchen und erwarb sich Ablass. Die Eindrücke, die Luther aus Rom mitnahm, waren zwiespältig. Dennoch dürfte die Begegnung mit dem Renaissancepapsttum kein entscheidender Grund dafür gewesen sein, dass Luther zum Reformator wurde. Im Jahre 1511 verschlug es Luther erneut nach Wittenberg. Nach fünf Jahren Theologiestudium sollte er dort den Doktorgrad erwerben und anschließend im Auftrag seines Ordens als Professor wirken. Die Promotion wurde 1512 vollzogen. Auch seine Professur nahm Luther sehr ernst. Er tat, was eigentlich alle Theologieprofessoren zu tun hatten, aber viele nicht so gerne machten: Er legte die Bibel aus. Der erste Bibelteil, dem er sich zuwandte, war der Psalter. Die Psalmen hatten ihn, seit er Mönch geworden war, täglich begleitet. Nun machte er sie zum Gegenstand von Forschung und Lehre. Der zweite Themenkomplex, für den sich Luther stark interessierte, waren die Paulusbriefe. In den Jahren 1515–1518 legte er in Wittenberg die Briefe an die Römer, Galater und Hebräer aus und kam dabei auf ganz neue Gedanken.

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Die reformatorische Entdeckung

Die reformatorische Entdeckung Im Zusammenhang mit seiner Arbeit an den Psalmen und den Paulusbriefen reflektierte Luther seine eigenen Erfahrungen als Mönch, insbesondere sein Gefühl, den göttlichen Ansprüchen nicht zu genügen. Er rang um die Frage, wie die in den Psalmen und bei Paulus vorkommende Rede von der „Gerechtigkeit Gottes“ zu verstehen sei. Luther hatte gelernt, dass Gott gerecht sei, indem er richte. Diesen gerechten, richtenden Gott fürchtete er, ja begann ihn zu hassen. Eines Tages kam ihm jedoch die Erkenntnis, die fortan sein Leben und seine Theologie bestimmen und zum Auslöser der Reformation werden sollte: Die Gerechtigkeit Gottes kann auch so verstanden werden, dass Gott gerecht ist, indem er den Menschen gerecht macht, als einen Gerechten ansieht. Plötzlich begriff Luther die Gerechtigkeit Gottes als eine schenkende, befreiende: Gott macht den Sünder zu einem Gerechten, indem er ihn trotz seiner Sünden annimmt und liebt. Luther fühlte sich verwandelt und seine Erkenntnis wurde ihm zum Ausgangspunkt einer neuen Theologie und bildete den Schlüssel zur Reformation. Das Ereignis wird als Luthers reformatorische Entdeckung bezeichnet oder auch als das Turmerlebnis, weil Luther im Turm seines Klosters sein Arbeitszimmer hatte. Der Inhalt der Entdeckung ist mit dem Fachbegriff der Dogmatik die reformatorische Rechtfertigungslehre. Luther sprach nur einmal ausführlich und im Zusammenhang über diesen Wendepunkt seines Lebens und seiner Theologie, im Jahre 1545, also kurz vor seinem Tod, in einer Vorrede zum ersten Band seiner gesammelten lateinischen Schriften. Luthers Bericht (1545) über seine reformatorische Entdeckung (ca. 1514):1

Inzwischen war ich … zu einer zweiten Auslegung des Psalters zurückgekehrt, im Vertrauen darauf, dass ich nun geübter sei, nachdem ich die Briefe des Paulus an die Römer, an die Galater und den an die Hebräer in Vorlesungen behandelt hatte. Denn ich war von einer ganz wunderbaren Glut ergriffen gewesen, Paulus im Römerbrief zu verstehen, aber es war mir … ein einziges Wort im Wege gestanden in Kapitel 1, Vers 17: „Die Gerechtigkeit Gottes wird darin offenbart.“ Ich hasste nämlich diesen Begriff „Gerechtigkeit Gottes“, weil ich nach Brauch und Gewohnheit aller Kirchenlehrer unterwiesen worden war, ihn philosophisch zu verstehen von der sogenannten formalen oder aktiven Gerechtigkeit, wonach Gott gerecht ist und die Sünder und die Ungerechten straft. Ich aber liebte den gerechten und die Sünder strafenden Gott nicht, ja ich hasste ihn; denn ich fühlte mich, so sehr

1 Ausführlichere Fassung und andere Übersetzung: DGQD 3, S. 90–92.

Gerechtigkeit Gottes

Turmerlebnis



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Luther und die frühe Reformation in Wittenberg ich auch immer als untadeliger Mönch lebte, vor Gott als Sünder mit einem ganz und gar ruhelosen Gewissen und konnte das Vertrauen nicht aufbringen, er sei durch meine Genugtuung versöhnt. So zürnte ich Gott …, indem ich sagte: Nicht genug damit, dass die Sünder … durch das Gesetz der Zehn Gebote bedrückt werden – nein, Gott will auch noch durch das Evangelium auf den alten Schmerz neuen Schmerz häufen und uns auch durch das Evangelium seine Gerechtigkeit und seinen Zorn drohend entgegenhalten. So tobte ich mit wütendem und verstörtem Gewissen und doch schlug ich mich an jener Stelle rücksichtslos mit Paulus herum, da ich glühend danach lechzte, zu wissen, was der heilige Paulus wolle. So lange bis ich endlich unter Gottes Erbarmen, Tage und Nächte lang nachdenkend, meine Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang der Worte richtete, nämlich: „Die Gerechtigkeit Gottes wird darin offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus dem Glauben.“ Da begann ich die Gerechtigkeit Gottes verstehen zu lernen als die Gerechtigkeit, in welcher der Gerechte durch Gottes Geschenk lebt, und zwar aus dem Glauben, und ich fing an zu verstehen, dass dies meint, es werde durch das Evangelium die Gerechtigkeit Gottes offenbart, nämlich die passive, durch welche uns der barmherzige Gott gerecht macht durch den Glauben, wie geschrieben steht: „Der Gerechte lebt aus dem Glauben.“ Da fühlte ich mich völlig neu geboren und als wäre ich durch die geöffneten Pforten ins Paradies selbst eingetreten. Da zeigte mir sogleich die ganze Schrift ein anderes Gesicht. Ich durchlief darauf die Heilige Schrift … und sammelte auch bei anderen Ausdrücken einen entsprechenden Sprachgebrauch wie z. B. „Werk Gottes“, d. h. das Werk, das Gott in uns schafft, „Kraft Gottes“, durch welche er uns kräftig macht, „Weisheit Gottes“, durch welche er uns weise macht … So groß vorher mein Hass war, mit dem ich das Wort „Gerechtigkeit Gottes“ gehasst hatte, so groß war jetzt die Liebe, mit der ich es als allersüßestes Wort rühmte. So ist mir diese Stelle des Paulus wahrhaft zu einer Pforte des Paradieses geworden. Später las ich Augustins Vom Geist und vom Buchstaben, wo ich wider Erwarten darauf stieß, dass auch er die Gerechtigkeit Gottes ähnlich auslegt: als diejenige, mit der uns Gott bekleidet, indem er uns rechtfertigt.

Das Ereignis selbst wird von vielen Forschern um das Jahr 1514 datiert, drei Jahre vor die entscheidenden Thesen zum Ablass. Doch das ist strittig. Es gibt Luther-Forscher, die vermuten, die Entdeckung der Glaubensgerechtigkeit habe erst nach den Thesen, im Jahre 1518, stattgefunden („Spätdatierung“). Und andere meinen, das von Luther geschilderte Ereignis habe es in dieser Weise nie gegeben und die reformatorische Entdeckung sei ein längerer Prozess der Gedankenentwicklung gewesen.

Thesen zu Ablass und Buße (1517)

Abb. 2: Wirkungsstätten Luthers

Thesen zu Ablass und Buße (1517) Unstrittig ist, dass Luther im Herbst des Jahres 1517 Thesen zum Ablass schrieb und bekannt machte. Anlass war eine große Ablasskampagne, die Erzbischof Albrecht von Mainz in ihm gehörenden Bistümern – neben Mainz leitete er Magdeburg und Halberstadt – durchführte. Die Einnahmen gingen teilweise nach Rom und kamen dort dem Petersdom-Neubau zugute, teilweise wanderten sie aber auch in Albrechts eigene Tasche und von dort weiter zu den Fuggern, denn Albrecht hatte zuvor dem Papst viel Geld für die Erlaubnis bezahlen müssen, nicht nur wie üblich eines, sondern gleich drei Bistümer regieren zu dürfen. Und das Geld dafür hatte er sich in Augsburg bei Jakob Fugger geliehen, auch Jakob der Reiche genannt, dem Chef des bedeutendsten Handelshauses Deutschlands. Luther beobachtete die Ablasskampagne des Jahres 1517 mit zunehmender Sorge, zweifelte an den theologischen Grundlagen dieses Unternehmens und kritisierte Auswüchse des schwunghaften Handels mit religiösen Gütern. Ende Oktober schrieb er dazu in lateinischer Sprache 95 Thesen nieder, schickte sie am 31. Oktober an Albrecht und möglicherweise auch an andere Bischöfe und gab sie Freunden. Ob er sie, wie später behauptet wurde, in Wittenberg

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Thesenanschlag?

Buße



auch öffentlich ausgehängt – „angeschlagen“ – hat, ist strittig, aber denkbar. Wer Thesen an der Universität verfasste, wollte eine universitäre Diskussion – eine „Disputation“ – anregen und dazu bedurfte es der Bekanntmachung. Als Schwarzes Brett diente der Universität die Tür der Wittenberger Schlosskirche, des Ortes, wo Disputationen und große universitäre Veranstaltungen stattfanden. Von einem „Anschlagen“ der Thesen sprach Luthers Kollege und Konreformator Melanchthon 1546, aber 1517 war er noch gar nicht in Wittenberg. Jüngst fand jedoch ein früheres Zeugnis von Luthers Sekretär Georg Rörer neue Beachtung. Dies macht den Anschlag der Thesen an der Tür der Schlosskirche oder, wie Rörer schreibt, „an den Türen der Kirchen“ wahrscheinlicher, aber nicht sicher, denn auch Rörer war 1517 nicht dabei. Er kam sogar erst 1522, viel später als Melanchthon, nach Wittenberg. Nicht erhalten haben sich leider Luthers handschriftliche Originalthesen. Nur frühe Drucke stehen noch zur Verfügung. In seinen Thesen erinnerte Luther daran, dass Buße nicht einfach ein sakramentaler Akt ist, sondern das ganze Leben des Christen umfassen müsse. Er zweifelte die Existenz des Fegefeuers an und übte vorsichtig Kirchenkritik. Den Ablass lehnte er nicht völlig ab, verurteilte aber viele damit zusammenhängende Positionen und Praktiken. Aus Luthers 95 Thesen (31. 10. 1517):2

1. Wenn unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: „Tut Buße …“ (Mt 4,17), hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll. 2. Dieses Wort kann nicht auf die Buße als Sakrament – also die Beichte und Genugtuung –, die durch das priesterliche Amt verwaltet wird, bezogen werden. 5. Der Papst will und kann keine Strafen erlassen außer solchen, die er auf Grund seiner eigenen Entscheidung oder der der kirchlichen Satzungen auferlegt hat. 6. Der Papst kann eine Schuld nur dadurch erlassen, dass er sie als von Gott erlassen erklärt und bezeugt … 20. Daher meint der Papst mit dem vollkommenen Erlass aller Strafen nicht einfach den Erlass sämtlicher Strafen, sondern nur derjenigen, die er selbst auferlegt hat. 21. Deshalb irren jene Ablassprediger, die sagen, dass durch die Ablässe des Papstes der Mensch von jeder Strafe frei und los werde. 25. Die gleiche Macht, die der Papst bezüglich des Fegefeuers im Allgemeinen hat, besitzt jeder Bischof und jeder Seelsorger in seinem Bistum bzw. seinem Pfarrbezirk im Besonderen. 2 Vollständig: DGQD 3, S. 101–111.

Thesen zu Ablass und Buße (1517) 27. Menschenlehre verkündigen die, die sagen, dass die Seele aus dem Fegefeuer empor fliege, sobald das Geld im Kasten klingt. 32. Wer glaubt, durch einen Ablassbrief seines Heils gewiss sein zu können, wird auf ewig mit seinen Lehrmeistern verdammt werden. 35. Nicht christlich predigt, wer lehrt, dass für diejenigen, welche Seelen aus dem Fegefeuer loskaufen oder Beichtbriefe erwerben, Reue nicht nötig sei. 36. Jeder Christ, der wirklich bereut, hat Anspruch auf völligen Erlass von Strafe und Schuld, auch ohne Ablassbrief. 43. Man soll den Christen lehren: Dem Armen zu geben oder dem Bedürftigen zu leihen ist besser, als Ablass zu kaufen. 44. Denn durch ein Werk der Liebe wächst die Liebe und wird der Mensch besser, aber durch Ablass wird er nicht besser, sondern nur teilweise von der Strafe befreit. 45. Man soll die Christen lehren: Wer einen Bedürftigen sieht, ihn übergeht und stattdessen für den Ablass gibt, kauft nicht den Ablass des Papstes, sondern handelt sich den Zorn Gottes ein. 46. Man soll die Christen lehren: Die, welche nicht im Überfluss leben, sollen das Lebensnotwendige für ihr Hauswesen behalten und keinesfalls für den Ablass verschwenden. 47. Man soll die Christen lehren: Der Kauf von Ablass ist eine freiwillige Angelegenheit, nicht geboten. 49. Man soll die Christen lehren: Der Ablass des Papstes ist nützlich, wenn man nicht sein Vertrauen darauf setzt, aber sehr schädlich, falls man darüber die Furcht Gottes fahren lässt. 50. Man soll die Christen lehren: Wenn der Papst die Erpressungsmethoden der Ablassprediger wüsste, sähe er lieber die Peterskirche in Asche sinken, als dass sie mit Haut, Fleisch und Knochen seiner Schafe erbaut würde. 62. Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes. 66. Der Schatz des Ablasses ist das Netz, mit dem man jetzt den Reichtum von Besitzenden fängt. 79. Es ist Gotteslästerung zu sagen, dass das in den Kirchen an hervorragender Stelle errichtete Ablasskreuz, das mit dem päpstlichen Wappen versehen ist, dem Kreuz Christi gleichkäme. 80. Bischöfe, Pfarrer und Theologen, die dulden, dass man dem Volk solche Predigt bietet, werden dafür Rechenschaft ablegen müssen. 81. Diese freche Ablasspredigt macht es auch gelehrten Männern nicht leicht, das Ansehen des Papstes vor böswilliger Kritik oder sogar vor spitzfindigen Fragen der Laien zu schützen. 82. Zum Beispiel: Warum räumt der Papst nicht das Fegefeuer aus um der heiligsten Liebe und höchsten Not der Seelen willen – als aus einem wirklich triftigen Grund –, da er doch unzählige Seelen loskauft um des unheilvollen Geldes zum Bau einer Kirche willen – als aus einem sehr fadenscheinigen Grund? 83. Oder: Warum bleiben die Totenmessen sowie Jahrfeiern für die Verstor-

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92. 93. 94. 95.

Augsburg

benen bestehen und warum gibt der Papst nicht die Stiftungen, die dafür gemacht worden sind, zurück oder gestattet ihre Rückgabe, wenn es schon ein Unrecht ist, für die Losgekauften zu beten? Oder: Was ist das für eine neue Frömmigkeit vor Gott und dem Papst, dass sie einem Gottlosen und Feinde erlauben, für sein Geld eine fromme und von Gott geliebte Seele loszukaufen; doch um der eigenen Not dieser frommen und geliebten Seele willen erlösen sie diese nicht aus frei geschenkter Liebe? Oder: Warum baut der Papst, der heute reicher ist als der reichste Crassus, nicht wenigstens die eine Kirche St. Peter lieber von seinem eigenen Geld als dem der armen Gläubigen? Darum weg mit allen jenen Propheten, die den Christen predigen: „Friede, Friede …“ und ist doch kein Friede. Wohl möge es gehen allen den Propheten, die den Christen predigen: „Kreuz, Kreuz …“ und ist doch kein Kreuz. Man soll die Christen ermutigen, dass sie ihrem Haupt Christus durch Strafen, Tod und Hölle nachzufolgen trachten und dass sie lieber darauf trauen, durch viele Trübsale ins Himmelreich einzugehen, als sich in falscher geistlicher Sicherheit zu beruhigen.

Luther empfand die Veröffentlichung der Ablassthesen als Einschnitt. Dies zeigt sich darin, dass er in seinem Brief an Albrecht zum ersten Mal anstelle seines eigentlichen Familiennamens „Luder“ die Form „Luther“ verwendet. Diese Namensform brachte er selbst mit dem griechischen Wort eleutheros (ἐλεύθερος) in Verbindung, was „frei“ bedeutet. Luther fühlte sich vom 31. Oktober 1517 an als Freier, als ein durch die Bindung an Christus und seine Wahrheit Befreiter. Die Thesen erregten Aufsehen. Ohne Luthers Zutun wurden sie gedruckt und im In- und Ausland und auch in deutscher Sprache verbreitet. Besonders in Humanistenkreisen, wo man dem Ablasshandel schon länger kritisch gegenübergestanden war, stießen sie auf positive Resonanz. Bei anderen erregten sie jedoch Widerspruch. Albrecht leitete sie nach Rom weiter und dort hegte man alsbald den Verdacht, in Wittenberg lebe ein Ketzer, gegen den man einschreiten müsse. Im September 1518 wurde Luther nach Augsburg zitiert, um vor einem päpstlichen Gesandten, dem Dominikaner-Theologen und Kardinal Thomas de Vio aus Gaeta, genannt Cajetan, Rechenschaft abzulegen. Drei Begegnungen fanden am 12., 13. und 14. Oktober statt. Der Wittenberger wurde zum Widerruf aufgefordert. Weil Luther diesen verweigerte, wandte sich Cajetan brieflich an Luthers Landesherrn, Kurfürst Friedrich III., genannt Friedrich der Weise, und forderte ihn auf, Luther nach Rom auszuliefern oder des Landes zu verweisen.

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Disputationen in Heidelberg und Leipzig

Kurzbiografie: Luther 1483 (?) 1505 1506 1510 1512 1517 1518 1519 1520 1521 1522 1525 1529 1530 1537 1546

Geburt in Eisleben (10.11.) Klostereintritt in Erfurt Priesterweihe Reise nach Rom Promotion und Professur in Wittenberg Thesen zu Ablass und Buße Heidelberger Disputation Leipziger Disputation Androhung des Banns Worms (Reichstag) und Wartburg (Versteck) Rückkehr nach Wittenberg Heirat mit Katharina von Bora Reise nach Marburg (Religionsgespräch) Reise zur Coburg (Reichstag in Augsburg) Reise nach Schmalkalden (Bundesversammlung) Reise nach Eisleben und Tod (18. 2.)

Disputationen in Heidelberg und Leipzig Aufsehen erregten Luthers Thesen auch innerhalb seines Ordens. Im April 1518 reiste er nach Heidelberg, um anlässlich einer Versammlung von Funktionsträgern der Augustiner-Eremiten Rede und Antwort zu stehen. Luther verfasste erneut eine Reihe von Thesen und stelle sie in einer Disputation der universitären Öffentlichkeit vor. Über die Wittenberger Thesen hinausgehend übte er nun Kritik an der Abhängigkeit der Theologie von der Philosophie des Aristoteles und behauptete, dass der Mensch Gott gegenüber ganz und gar passiv wäre und ihm gegenüber keinen freien Willen habe. Aus Luthers Heidelberger Thesen (26. 4. 1518):3

1. Das Gesetz, diese heilsamste Lehre des Lebens, vermag den Menschen nicht zur Gerechtigkeit zu führen, sondern hindert ihn eher daran. 2. Noch viel unrichtiger ist die Behauptung, häufige Wiederholung menschlicher Werke mit Hilfe des natürlichen Gebots verhelfe zur Gerechtigkeit. 13. Der freie Wille nach dem Sündenfall besteht nur noch dem Namen nach. Wenn er tut, was an ihm ist, begeht er eine Todsünde. 16. Wer glaubt, er könne zur Gnade gelangen, indem er tut, was an ihm ist, häuft Sünde auf Sünde und wird so doppelt schuldig. 3 Thesen 1–28 vollständig: KTGQ 3, S. 40–42.

Aristoteles



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Luther und die frühe Reformation in Wittenberg 19./20. Nicht der darf verdientermaßen ein Theologe genannt werden, welcher Gottes unsichtbares Wesen am Geschaffenen inne wird und anschaut, sondern derjenige, welcher das unsichtbare Wesen und die Rückseite Gottes durch Leiden und Kreuz anschaut und in sich aufnimmt. 28. Die Liebe Gottes findet ihren Gegenstand nicht, sondern schafft ihn sich selbst. Die Liebe des Menschen entsteht an ihrem Gegenstand. 29. Nur derjenige kann ohne Gefahr mit Aristoteles philosophieren, der sich zuvor im Christentum fest gegründet hat [wörtlich, mit 1 Kor 3,18: der zuvor in Christus richtig zu einem Narren gemacht wurde]. 30. Wie nur der Verheiratete das Übel des geschlechtlichen Begehrens recht gebraucht, so philosophiert nur gut, wer ein „Narr“, das heißt ein Christ ist.

Lutheraner

Im Sommer 1519 stellte sich Luther in Leipzig, wieder im Rahmen einer universitären Disputation, seinen Gegnern. Sie begann am 26. Juni und endete am 15. Juli. Johannes Eck, Theologieprofessor aus Ingolstadt, verteidigte den Standpunkt der Kirche und verführte Luther zu weiteren steilen Behauptungen. Luther erklärte, Päpste und kirchliche Konzile könnten irren und hätten oftmals geirrt. Luthers Gegnern war damit endgültig klar, dass Luther ein Ketzer sei, denn er vertrat Positionen wie hundert Jahre zuvor der Prager Theologe Johannes Hus, der 1415 auf einem Konzil in Konstanz verurteilt und verbrannt worden war. Luther war aus Wittenberg mit großer Gefolgschaft angereist. Der Gegenseite wurde klar, dass der Wittenberger Mönch nicht als Einzelner handelte, sondern bereits eine breite Anhängerschaft um sich geschart hatte. Als Folge der Leipziger Disputation kam deshalb bei den Anhängern der alten Kirche die polemische Parteibezeichnung „Lutheraner“ auf und setzte sich rasch durch. Später sollte aus dem Schimpfwort eine in den evangelischen Kirchen mit Stolz gebrauchte Selbstbezeichnung werden.

Reformatorische Hauptschriften (1520)

Sermone

Luther ließ sich durch die ihm drohende Gefahr nicht aus der Ruhe bringen. In Wittenberg wirkte er weiter als Universitätslehrer und als Prediger und verfasste nebenher, oft zu nächtlicher Stunde, zahlreiche Schriften, in denen er seine neuen Gedanken erklärte und weiter entfaltete. In den Jahren 1518–1520 erschienen mehrere „Sermone“, kleine, predigtartige Erbauungsschriften in deutscher Sprache zu zentralen Themen wie Taufe, Abendmahl und Sterben. 1520 verfasste Luther drei ebenfalls sehr bedeutende große Schriften, in

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Reformatorische Hauptschriften (1520)

denen er sein reformatorisches Programm entwickelte und die deshalb zusammenfassend als die „reformatorischen Hauptschriften“ bezeichnet werden: An den christlichen Adel deutscher Nation, De captivitate Babylonica ecclesiae (Über die babylonische Gefangenschaft der Kirche), Von der Freiheit eines Christenmenschen. Die Adelsschrift und die Freiheitsschrift erlebten hohe Auflagen und fanden reißenden Absatz. Das lateinische Buch war dagegen für Gelehrte bestimmt. In ihm entfaltete Luther seine Sakramentenlehre und übte Kritik am hergebrachten Gottesdienst. Als Sakramente wollte Luther nur noch solche aus verheißendem Zuspruch und zeichenhafter Handlung bestehenden Rituale akzeptieren, die von Jesus selbst eingesetzt worden waren. In der Adelsschrift erläuterte Luther seine Lehre vom allgemeinen Priestertum. Mit ihr machte er auch un- und wenig gebildeten Menschen Mut, eigenständig religiöse Positionen zu formulieren. Um die Bibel lesen, verstehen und auslegen zu können, brauchte man nach Luthers Ansicht nicht Theologie studiert zu haben oder Priester zu sein. Die Taufe, so Luther, mache alle Christen zu Priestern und fähig, die Heilige Schrift zu verstehen. Die Adligen forderte Luther vor diesem Hintergrund dazu auf, die Reform der Kirche in die Hand zu nehmen, weil sie als mündige Christen das Recht und als Obrigkeiten die Macht dazu hätten und die Bischöfe offenkundig versagten. Weitere zentrale theologische Gedanken Luthers und der Reformation überhaupt wurden und werden durch die auch heute noch bekannten und viel zitierten sogenannten Exklusivpartikel ausgedrückt: allein die Schrift (sola scriptura), Christus allein (solus Christus), allein durch die Gnade (sola gratia), allein durch den Glauben (sola fide). Gegen eine mit kirchlichen Traditionen argumentierende Theologie hat Luther, in Anlehnung an humanistische Grundsätze, das Schriftprinzip propagiert: Die Schrift allein soll in Glaubensfragen entscheidend sein. Gegen eine Theologie, die verschiedene Autoritäten anerkannte, wurde eine christozentrische Position formuliert: Christus allein soll Herr der Gemeinde, Grund der Rechtfertigung und Maßstab der Ethik sein. Gegen eine Theologie, die Mensch und Gott in einem partnerschaftlich-kooperativen Verhältnis betrachtete, wurde der Mensch als ganz und gar von Gott abhängig begriffen: Der Gnade allein verdankt der Mensch, der radikal als Sünder gesehen wird, seine Seligkeit. Gegen eine Theologie, die von der Heilsnotwendigkeit der guten Werke sprach, wurde der Glaube als allein angemessene und völlig ausreichende Antwort auf Gottes Gnade in Christus propagiert: Allein durch den Glauben wird der Mensch gerettet. Das für die mittelalterliche Frömmigkeit charakteristische

Adelsschrift und Freiheitsschrift

allgemeines Priestertum

sola scriptura solus Christus sola gratia sola fide Schriftprinzip

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Luther und die frühe Reformation in Wittenberg

Freiheitsverständnis

Vertrauen des Menschen auf sich selbst und seine guten und frommen Werke – von den Reformatoren als „Werkgerechtigkeit“ gebrandmarkt – wurde abgelöst durch ein Vertrauen auf Gott und seine Taten. Auch seine Ethik gründete Luther auf den Glauben. Wie ein guter Baum gute Früchte bringe, so tue der im Glauben neu gewordene Mensch automatisch das Gute und Richtige. Der von Gott mit dem Glauben Beschenkte begegne seinem Nächsten in Liebe, ohne dass er dazu aufgefordert werden müsste. Eng mit den Stichworten Christus, Gnade und Glaube hängt das evangelische Freiheitsverständnis zusammen, das Luther in seiner Freiheitsschrift entwickelt und in die markante Doppelthese gekleidet hat: Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan, ein Christenmensch ist aber auch ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan. Gerade in seiner totalen Abhängigkeit von Gott sieht Luther die radikale Freiheit des Menschen begründet, die ihm durch keinerlei Zwänge geraubt werden kann und die ihn zu einem selbstlosen Dienst am Mitmenschen und an der Gesellschaft befähigt. Die Freiheitsschrift hatte Luther, auf Anraten guter Freunde, dem amtierenden Papst, Leo X., gewidmet. Sie sollte noch einmal ein Gesprächsangebot sein. Doch eigentlich glaubte Luther bereits nicht mehr an die Möglichkeit einer Versöhnung.

Wormser Reichstag (1521)

Kaiserwahl

Karl V.

Schon 1518, spätestens 1519 hätte Luther kirchlicherseits formell zum Ketzer erklärt werden können. Doch Papst Leo X. zögerte, weil die Wahl eines neuen Kaisers anstand und er dabei mitmischen wollte. Es war für den Papst nicht opportun, gegen einen Theologieprofessor vorzugehen, der im Dienste eines mächtigen Landesherrn stand, der an der Kaiserwahl beteiligt und sogar selbst ein potentieller Kandidat für das Kaiseramt war. Der Prozess gegen Luther wurde also ausgesetzt. Luther und die Reformation gewannen dadurch Zeit, fanden mehr und mehr Anhänger und waren schließlich nicht mehr zu stoppen. Die Wahl des Kaisers erfolgte am 28. Juni 1519. Gewählt haben die sieben Kurfürsten, nämlich die Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier und die Fürsten von Brandenburg, Sachsen und der Pfalz sowie der König von Böhmen. Gewählt wurde nicht der Wettiner Friedrich, sondern der Habsburger Karl, an dem der Papst nicht viel Freude haben sollte. Karl, geboren im Jahre 1500 in Gent, war zunächst 1515 Herzog

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Wormser Reichstag (1521)

von Burgund geworden und 1517 König von Spanien, wozu auch Süditalien sowie Mittel- und Südamerika gehörten. Nach dem Tod seines Großvaters Maximilian I. am 12. Januar 1519 wurde Karl am 28. Juni 1519 in Frankfurt am Main gewählt, am 23. Oktober 1520 in Aachen zum König gekrönt und erhielt am 24. Februar 1530 in Bologna vom Papst die Kaiserkrone. Damals erreichte er den Höhepunkt seiner Macht. Später ging ihm diese wieder schrittweise verloren. 1552 überließ er die Amtsgeschäfte seinem Bruder Ferdinand, der seit 1521 Österreich als Erzherzog regierte und den die Kurfürsten bereits 1531, also „zu Lebzeiten des Kaisers“ (lat.: vivente Imperatore), zum Römischen König gewählt und damit als zukünftigen Kaiser bestimmt hatten. Am Reichstag von Augsburg 1555 nahm Karl nicht teil. Am 3. August 1556 verzichtete er auf die Kaiserwürde, überließ die Bestimmung des Zeitpunktes des Übergangs aber seinem Bruder. Ferdinand von Österreich übernahm das Amt förmlich am 14. März 1558, als er sich von den Kurfürsten feierlich als „Erwählten Römischen Kaiser“ proklamieren ließ. Eine päpstliche Krönung unterblieb und sie sollte auch fortan bis zum Ende des Reiches 1806 unterbleiben, weil die Päpste Distanz wahrten und keine Kaiser krönen wollten, die lutherische „Ketzer“ im Reich tolerierten, und weil die Kaiser ihrerseits ihre lutherischen Untertanen durch ein päpstliches Ritual nicht provozieren wollten. Einsam verbrachte Karl V. im spanischen Extremadura seine letzten Lebensjahre, starb am 21. September 1558 in seiner Villa beim Kloster San Jerónimo de Yuste und wurde in der Klosterkirche bestattet. Sein Bruder regierte als Kaiser Ferdinand I. das Reich noch bis 1564, als er in Wien verstarb. Anfang 1520 wurde der römische Prozess gegen Luther fortgesetzt und mündete am 15. Juni 1520 in die Androhung des „Banns“, niedergelegt in einer „Bulle“, wie man offizielle päpstliche Schriftstücke nannte, mit dem bezeichnenden, Psalm 7,7 zitierenden lateinischen Titel Exsurge Domine (Erhebe dich, Herr). Luther, der ein „törichter Mensch“ genannt wird und bildhaft ein Fuchs, Wildschwein und wildes Tier, das den Weinberg Gottes verwüste, wurde der Ausschluss aus der Kirche, die Exkommunikation angedroht, sollte er nicht binnen sechzig Tagen widerrufen. Die Frist, die mit der förmlichen Bekanntmachung der Bulle Ende September begann, ließ Luther verstreichen und Ende November 1520 war er damit faktisch zum Ketzer erklärt. Der förmliche Bann folgte am 3. Januar 1521 mit einer weiteren Bulle4 des Papstes.

4 DGQD 3, S. 162–169.

Bannandrohung

Bann

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Luther und die frühe Reformation in Wittenberg ►

Aus der Bannandrohungsbulle (15. 6. 1520):5

Erhebe dich, o Herr, und verschaffe deiner Sache Recht. Sei deiner Schmähungen eingedenk, die von törichten Menschen täglich ausgehen. Schenke unseren Bitten Gehör, denn es sind Füchse aufgestanden, die sich anschicken, den Weinberg zu verwüsten, dessen Presse du allein bedienst und dessen Pflege, Lenkung und Verwaltung du, als du zum Vater auffahren wolltest, Petrus als Haupt und seinem Stellvertreter sowie dessen Nachfolgern als gleichsam siegreicher Kirche übertragen hast. Diesen Weinberg will ein Wildschwein aus dem Walde verderben und ein außerordentlich wildes Tier frisst ihn kahl. … Martinus sowie seine Anhänger, Helfer, Gönner und Beherberger ersuchen und ermahnen wir mit dieser Urkunde zum heiligen Gehorsam und unter Zusicherung aller und jeder der genannten Strafen, die selbstverständlich daraus folgen, befehlen wir mit striktem Gebot, dass innerhalb von sechzig Tagen … Martinus persönlich sowie die erwähnten Helfer … von den genannten Irrtümern und ihrer Verbreitung, Veröffentlichung, Behauptung und Verteidigung wie von der Herausgabe von Büchern und Schriften über sie oder einen von ihnen gänzlich Abstand nehmen. Sollte aber, was nicht eintreten möge, der erwähnte Martinus … anders handeln …, so erklären wir …., dass dieser Martinus, seine erwähnten Helfer, Anhänger, Gönner oder Beherberger … ausgesprochene und hartnäckige Ketzer waren und sind. Wir verurteilen sie als solche und wir wollen und gebieten, dass sie von allen … Christgläubigen … als solche angesehen werden.

Reichstag

In Wittenberg blieb man indessen selbstsicher. Am 10. Dezember 1520 organisierten Dozenten und Studenten eine öffentliche Bücherverbrennung vor dem Elstertor. Luther warf eigenhändig ein Druckexemplar der Bannandrohungsbulle ins Feuer. Nach dem Recht des Mittelalters musste ein vom Papst Gebannter vom Kaiser geächtet und damit der weltlichen Gerichtsbarkeit überantwortet werden. Dies drohte auch Luther. Doch wieder kam es zu einem für viele unerwarteten Aufschub, denn Luthers Landesherr bestand darauf, dass sein Untertan und Schützling vor einer Ächtung vom Kaiser persönlich gehört würde. So kam es zur Einladung Luthers zum Reichstag von Worms im April 1521. Auf einem Reichstag versammelten sich Vertreter derjenigen Territorien und Städte, die mit dem gewählten Kaiser gemeinsam das Reich regierten. Er fand nur unregelmäßig statt und tagte an wechselnden Orten. Der Wormser Reichstag war der erste vom neu gewählten Kaiser Karl V. veranstaltete. Luther brach am 2. April nach Worms auf. In Erfurt schloss sich ihm der zehn Jahre jüngere

5 Vollständig: DGQD 3, S. 153–161.

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Wormser Reichstag (1521)

Humanist und Jurist Justus Jonas an, begleitete ihn demonstrativ und wurde zu einem von Luthers besten und treuesten Freunden. Am 17. und 18. April wurde Luther am Rande des Reichstages in Gegenwart des Kaisers von dessen Sprecher, einem Trierer Kirchenjuristen, verhört und zum Widerruf aufgefordert. Demonstrativ lagen die Schriften, die der Wittenberger Mönch seit 1517 verfasst hatte, auf einer Bank. Luther zeigte sich in Mönchskutte und mit frischer Tonsur und erklärte, zum Widerruf sei er nur bereit, wenn ihn jemand auf der Grundlage der Bibel Irrtümer nachweise. Ansonsten sei sein Gewissen gebunden. Seine kurze Rede Abb. 3: Luther in Worms (unbek. Künstler, 1521) schloss er mit den Worten: „Gott helfe mir, Amen“ – das „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ findet sich erst in späteren Überlieferungen. Seine Gegner riefen: „Ins Feuer mit ihm!“ Doch Luther konnte Worms unbeschadet verlassen, da ihm sicheres Geleit hin und zurück garantiert worden war. Erst am 26. Mai verhängte der Kaiser im Wormser Edikt6 die Reichsacht über Reichsacht Luther und seine Anhänger, erklärte ihn für vogelfrei und ordnete seine Gefangennahme und Bestrafung an. Für die Anhänger der Reformation war Luther zum Helden geworden. In Flugschriften wurde von seinem Auftreten berichtet und in beigefügten Bildern wurde es auch den nicht Lesekundigen vor Augen gestellt, wie Luther, der Mönch, alleine, mit der Bibel in der Hand, sich auf sein Gewissen berufend, den Mächtigen in Kirche und Reich gegenübertrat. Sein Auftritt vor dem Kaiser und den Fürsten wurde bildlich als Auftritt vor dem Papst und seinen Kardinälen und Bischöfen interpretiert und so in den eigentlichen, religiösen und kirchlichen Kontext der Auseinandersetzung eingeordnet. Aus Luthers Wormser Rede (18. 4. 1521):7

Weil denn Eure kaiserliche Majestät und Eure Fürstlichkeiten eine einfache Antwort fordern, so will ich eine geben, die weder Hörner noch Zähne hat, nämlich: Wenn ich nicht überwunden werde durch die Zeugnisse der Schrift oder mit klaren Vernunftgründen, so bleibe ich von den Schriftstellen 6 DGQD 3, S. 177–183; KTGQ 3, S. 67–69. 7 Vollständig: DGQD 3, S. 173–175; KTGQ 3, S. 63–66, 72.



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Luther und die frühe Reformation in Wittenberg besiegt, die ich angeführt habe und mein Gewissen ist im Wort Gottes gefangen. Denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilen allein, weil feststeht, dass sie oft geirrt und sich selbst widersprochen haben. Widerrufen kann und will ich nichts, weil es weder gefahrlos noch heilsam ist, gegen das Gewissen zu handeln. Gott helfe mir. Amen.

Auf der Wartburg

Junker Jörg

Teufelskämpfe

Luther drohte Gefahr, doch sein Landesherr, der in Worms persönlich zugegen war, als der Mönch vor dem Kaiser stand, sann auf Abhilfe. Luther wusste nicht, was geschehen würde, und so war er überrascht, als er am 4. Mai 1521 im Thüringer Wald, auf halber Strecke zwischen Worms und Wittenberg, von bewaffneten Reitern „überfallen“ und auf eine Burg verschleppt wurde. Friedrich ließ Luther auf der Wartburg bei Eisenach in Sicherheit bringen und verstecken. In der Öffentlichkeit machte das Gerücht die Runde, Luther sei tot. Doch dieser arrangierte sich mit den Umständen, ließ sich Haare und Bart wachsen, sodass er aussah wie ein Adliger, und lebte als „Junker Jörg“ inkognito in den Wirtschaftsgebäuden der Wartburg in einer Kammer, die noch heute besichtigt werden kann. Mit seinen engsten Wittenberger Vertrauten hielt Luther brieflich Kontakt und ließ sich schicken, was er zum Arbeiten brauchte. Einmal, Anfang Dezember, besuchte er unerkannt Wittenberg und führte dort wichtige Unterredungen. Legendär sind Luthers Kämpfe mit dem Teufel, die er auf der Wartburg ausgestanden haben soll. Für Luther war der Teufel ein leibhaftiges, reales Wesen. Einmal soll er ihn mit seinem Tintenfass beworfen haben. Noch vor einigen Jahren wurde Wartburgbesuchern der Tintenfleck an der Wand gezeigt, der angeblich von diesem Wurf herrührte. Doch in Wirklichkeit bekämpfte Luther den Teufel mit Tinte, indem er die Botschaft von Gottes Gnade zu Papier brachte. Und der Tintenfleck ist, seit die Besucher hinter einer Schranke bleiben müssen, verschwunden.

Bibelübersetzung Luther nahm sich auf der Wartburg eine große Aufgabe vor: die Übersetzung des Neuen Testaments aus der griechischen Sprache ins Deutsche. Bibeln in deutscher Sprache gab es zwar schon, aber sie beruhten auf dem lateinischen Text. Luther wollte eine bessere, getreuere Übersetzung und er suchte gleichzeitig eine Sprachform,

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Bibelübersetzung

die möglichst vielen Menschen Deutschlands, wo es damals noch keine einheitliche Hochsprache gab, verständlich war. Das neu übersetzte Neue Testament erschien im September 1522 im Druck und wird deswegen auch Septembertestament genannt. Im Laufe der Jahre verbesserte Luther seine Übersetzung und nahm sich auch die Übersetzung des Alten Testaments aus dem Hebräischen vor, ein mühsames Unterfangen. Wittenberger Professorenkollegen halfen ihm dabei. Bei seinen Übersetzungen bediente sich Luther der modernsten humanistischen Hilfsmittel, darunter das griechische Neue Testament des Erasmus und der Psalmenkommentar des Jacobus Faber Stapulensis. Erst 1534 war die Bibelübersetzung abgeschlossen. In den deutschen evangelischen Kirchen der lutherischen Tradition wird diese Bibel, nur behutsam modernisiert und so die Eigentümlichkeiten der Luthersprache bewahrend, noch heute verwendet. Seinen Übersetzungen stellte Luther wichtige Vorreden voran, in denen er sein Bibelverständnis und seine Übersetzungsgrundsätze darlegt. Luther unterschied zwischen Gesetz und Evangelium, das heißt zwischen Gottes Geboten und seinen Verheißungen. Beide Worte Gottes finden sich im Alten und im Neuen Testament und der Bibelausleger muss diesen Unterschied beachten, so Luther. In seiner Freiheitsschrift erklärte Luther, das Gesetz sei dazu da, den Sünder seiner Sünden zu überführen, ihn zu erschrecken und zu demütigen und ihn so bereit zu machen für das Evangelium, für die Botschaft von Gottes gnädiger Zuwendung. Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium war fundamental für Luthers Hermeneutik und Theologie. Luther schätzte die Bibel über alle Maßen, aber er war kein Biblizist. Für einen Biblizisten hat jedes Bibelwort den gleichen Rang und ist gleich wichtig. Für Luther aber standen Gottes Heilszusagen im Zentrum und das, „was Christum treibet“, also die Christusbotschaft. Sie war für ihn der kritische Maßstab bei der Lektüre und Beurteilung der übrigen Teile der Bibel. Von diesem Ansatz aus konnte Luther Bibelkritik üben. Zum Beispiel äußerte er sich negativ über den Jakobusbrief, weil dieser die Notwendigkeit der guten Werke betonte. Das widersprach Luthers biografischer Erfahrung und seiner reformatorischen Entdeckung sowie – aus Luthers Sicht – dem Christuszeugnis des Neuen Testaments selbst.

Septembertestament

Gesetz und Evangelium

Bibelkritik

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Luther und die frühe Reformation in Wittenberg

Reformen und Unruhen in Wittenberg

Karlstadt

Zwickauer Propheten

InvokavitPredigten

Während Luther abgeschieden im Thüringer Wald lebte und mit engen Vertrauten in Wittenberg nur sporadischen Briefkontakt hatte, machte die Reformation dort Fortschritte. Kollegen Luthers, allen voran sein einstiger Doktorvater Andreas Bodenstein, nach seinem Herkunftsort Karlstadt genannt, suchten aus den theologischen Erkenntnissen Luthers praktische Konsequenzen abzuleiten. Dazu gehörten die Reform des Gottesdienstes, die Entfernung der Heiligenbilder aus den Kirchen und die Neuordnung der Armenfürsorge in der Gemeinde. An Weihnachten 1521 feierte Karlstadt in Wittenberg erstmals öffentlich das Abendmahl „in beiderlei Gestalt“ (lat.: sub utraque specie), mit Brot und Wein, und im Januar 1522 beschloss der Rat der Stadt eine von Karlstadt verfasste reformatorische Kirchenordnung.8 Alles kam in Bewegung. Ferner erregten im Winter 1521/22 in Wittenberg die Zwickauer Propheten großes Aufsehen, wie Luther zwei Tuchmacher aus Zwickau und einen ehemaligen Studenten nannte, die sich auf Offenbarungen, Träume und Visionen beriefen. Sie kündigten eine Türkeninvasion und das Gericht über die Gottlosen an, kritisierten die Kirche heftig und lehnten die Säuglingstaufe ab. Die praktischen Veränderungen führten zu Unruhe in der Bevölkerung, denn noch gab es Menschen, die den von den Reformatoren eingeschlagenen Weg nicht mitgehen wollten. Außerdem widersprach der Kurfürst den Neuerungen. Auch Luther selbst schienen die Maßnahmen seiner Kollegen zu weit zu gehen. Anfang März 1522 verließ er deshalb die Wartburg, eilte nach Wittenberg und hielt eine Reihe von Predigten, die nach dem Sonntag Invokavit, an dem sie begannen (9. 3. 1522), „Invokavit-Predigten“ genannt werden. Er warnte vor schnellen praktischen Umgestaltungen und forderte Rücksichtnahme auf die „Schwachen“, die Anhänger und Anhängerinnen der alten Kirche. Zunächst, so Luther, müssten die Gewissen der Menschen befreit und ihre innere Einstellung verändert werden, bevor man neue Sitten und Regeln einführen könne. Luthers Position setzte sich in Wittenberg durch. Die „Wittenberger Unruhen“ fanden ein Ende und die Reformation schritt in der Hauptstadt der Reformation nunmehr nur noch langsam voran. Nicht nur die Zwickauer, sondern auch Karlstadt überwarf sich mit Luther und suchte das Weite. 1523 veröffentlichte Luther eine eigene neue Gottesdienstordnung.9 Jetzt erst erlaubte er, beim Abendmahl 8 DGQD 3, S. 200–203; KTGQ 3, S. 101 f. 9 DGQD 3, S. 211–215.

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Reformen und Unruhen in Wittenberg

den Wein auch der Gemeinde – den Laien – zu reichen. In der Liturgie hielt er an der lateinischen Sprache fest. Erst zwei Jahre später schuf er mit der Deutschen Messe ein Formular für einen Gottesdienst in deutscher Sprache. Neue Ordnungen für Taufen und Trauungen folgten. Von großer Bedeutung waren schließlich die 1529 erschienenen Katechismen. Das, wenn auch langsame, Voranschreiten der Reformation führte bei Luther auch zu Veränderungen im persönlichen Leben. Er nahm allmählich Abschied vom Mönchtum. Schon 1520/21 war er wegen Arbeitsüberlastung nicht mehr dazu gekommen, seine täglichen Gebetszeiten ordnungsgemäß einzuhalten. Auf der Wartburg hatte er erstmals weltliche Kleidung getragen. Als er im März 1522 in Wittenberg wieder in sein Kloster einzog, hatten dieses bereits fünfzehn von vierzig Mönchen verlassen. 1523 hatte er nur noch einen Mitbruder und schließlich blieb Luther als Einziger übrig. Seine Freunde drängten ihn, das Mönchsleben aufzugeben und zu heiraten. Dazu entschloss sich Luther im Juni 1525, exakt zwanzig Jahre nachdem er Mönch geworden war. Er heiratete eine Nonne, die ihr Kloster verlassen hatte und versorgt werden musste: Katharina von Bora (→ Kap. 7). Durch ihre Heirat wurde die dem niederen Adel entstammende Frau zur bekanntesten Frauengestalt der Reformationszeit. Luther hatte sie kurz zuvor noch als hochnäsig kritisiert. Seine distanzierte, mitunter despektierliche Haltung Frauen gegenüber hat der ehemalige Mönch nie ganz abgelegt. Dem Ehepaar Luther wurden sechs Kinder geschenkt, von denen vier das Erwachsenenalter erreichten. Das Kloster der AugustinerEremiten gestaltete die Familie zu einem Wohnhaus um, in dem es auch Platz für Gäste gab. Luther erhielt viel Besuch und lud die Gäste gern zum Essen ein. Dabei wurde nicht mehr, wie es im Kloster üblich war, geschwiegen, sondern Luther erzählte und dozierte und manche Besucher notierten anschließend, was er von sich gegeben hatte. So entstanden die sogenannten Tischreden: Sammlungen von Erzählungen und Aussprüchen Luthers, in denen sich manch Amüsantes, aber auch viele derbe Worte finden. Als Ehemann und Familienvater gab Luther das asketische Leben auf, das er als Mönch geführt hatte. Er aß und trank gern und so verwandelte sich allmählich auch sein äußeres Erscheinungsbild. Der energische Mönch des Jahres 1520 war ein ganz anderer als das gestandene Familienoberhaupt des Jahres 1546, wie die erhalten gebliebenen Bilder zeigen.

Katechismen

Heirat

Tischreden

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Luther und die frühe Reformation in Wittenberg

Ritterfehde gegen die alte Kirche (1522/23): Franz von Sickingen 1520 hatte sich Luther an den deutschen Adel gewandt und ihn energisch zur Reform der Kirche aufgefordert. Dabei scheute sich Luther nicht, mit Gedanken an Gewalt zu spielen: „Wenn wir mit Recht die Diebe hängen und die Räuber köpfen, warum sollen wir frei lassen den römischen Geiz, welcher der größte Dieb und Räuber ist?“ Anhänger Luthers zögerten nicht, Bilder zu verbreiten, auf denen Papst und Kardinäle am Galgen hängen. Zu den Adligen, die sich Ulrich von Hutten 1520 von Luther unmittelbar angesprochen fühlten, gehörte Ulrich von Hutten. Mit Luther wechselte er Briefe und begann seinerseits, zunächst noch mit der Kraft des Wortes mit Klagschriften gegen Rom zu kämpfen. 1521 wurde der kaiserlich gekrönte Dichter von Rom gemeinsam mit Luther in den Bann getan. Der Ritter Hutten besaß eine Rüstung, aber keine Soldaten, mit denen er gegen die alte Kirche und ihre Repräsentanten hätte kämpfen können. Aber 1520 verbündete er sich mit Franz von Sickingen, einem vergleichsweise mächtigen Mann. Dieser hatte sich im gleichen Jahr für die Reformation entschieden, Luther Asyl angeboten und seine Ebernburg im Tal der Nahe zur „Herberge der Gerechtigkeit“ erklärt. Luther kam nicht, aber Hutten nahm auf der bekannten Ritterburg Quartier. 1522 begannen Hutten und Sickingen mit einem Krieg gegen den altgläubigen Kurfürsten und Erzbischof von Trier, Richard von Greifenklau. Die „Trierer Fehde“, der erste Reformationskrieg, endete für die Anstifter mit einer bitteren Niederlage. Sickingen fiel im Kampf. Abb. 4: Gewalt gegen die alte Kirche – Papst und KardiHutten gelang die Flucht und er suchte näle am Galgen (Lukas Cranach d. Ä., Wittenberg 1545) Zuflucht zunächst in Basel und dann in Zürich. Zwingli ließ ihn auf der Insel Ufenau im Züricher See unterbringen, wo der schon länger an Syphilis, einer unter Adligen sehr verbreiteten Seuche, erkrankte Ritter 1523 einsam und mittellos starb. Sein Grab wurde 1958 wieder aufgefunden.

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Bauernkrieg (1524/25) und Thomas Müntzer

Kurzbiografie: von Sickingen 1481 1519 1520 1522/23 1523

Geburt auf der Ebernburg (2. 3.) Militärische Absicherung der Kaiserwahl in Frankfurt Asylangebot für Anhänger der Reformation Trierer Fehde Tod auf der Burg Nanstein (7. 5.)

Bauernkrieg (1524/25) und Thomas Müntzer Als sich Luther zur Ehe entschloss, tobte der Bauernkrieg. Viele haben ihm angekreidet, dass er ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt, als landauf landab geplündert und gemordet wurde, in den Stand der Ehe trat. Doch Luther glaubte, gerade dadurch dem tobenden Teufel, den er in den Bauern am Werk sah, ein Signal des Widerstands geben zu können. Die Reformation begann in den Städten. Dort lebten Intellektuelle und dort hatte sie ihre soziale Basis unter Professoren, Prädikanten und Handwerkern. Die Reformation wurde deswegen gerne als „städtisches Ereignis“ charakterisiert (Bernd Moeller). Doch die Reformation fand auch auf dem Lande statt, wo die große Mehrzahl der Menschen lebte. Dafür wurde der Begriff „Gemeindereformation“ geprägt (Peter Blickle). Die Reformation fasste auch unter den Bauern Fuß. Einfluss auf sie hatten Prediger nahe gelegener Kleinstädte. Das lässt sich besonders in Süddeutschland und in der Schweiz beobachten, weniger in Norddeutschland. Bauern waren in der Frühen Neuzeit überwiegend nicht frei, sondern in unterschiedlicher Weise abhängig. Viele waren leibeigen, sie gehörten nicht sich selbst, sondern einem Leibherrn, das konnte ein Adliger oder ein Kloster sein. Leibeigen zu sein bedeutete, nicht frei über sich selbst verfügen zu können. Ein Leibeigener konnte nicht selbst entscheiden, wo er lebte, was er arbeitete, ob und wen er heiratete. Das alles bestimmte der Leibherr. Auch diejenigen Bauern, die niemandem leibeigen waren, lebten in tiefen Abhängigkeiten. Der Grund und Boden, den sie bebauten, gehörte ihnen in der Regel nicht selbst. Sie mussten zahlreiche Abgaben an die Adligen oder an die Klöster leisten, denen die Felder, welche die Bauern bebauten, gehörten. Von hoher Symbolkraft war der Zehnte, eine althergebrachte, ganz ursprünglich einmal für kirchliche Zwecke bestimmte zehnprozentige Ertragsabgabe mit biblischem Bezug (Lev 27,30). Durch Leibeigenschaft und Abgaben fühlten sich die Bauern bedrückt. Außerdem spielte sich das politische und gesellschaftliche

Gemeindereformation

Leibeigenschaft

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Luther und die frühe Reformation in Wittenberg

BundschuhAufstände

Baltringer Haufen

Leben ohne sie ab. Es gab für Bauernkinder kaum Bildungsmöglichkeiten. Die Bevölkerung auf dem Land wuchs stark, sodass die bäuerliche Mittel- und Oberschicht eine Deklassierung befürchtete. Die Dorfgemeinschaften wurden belastet, weil die Obrigkeiten ihnen die traditionellen gemeinschaftlichen Nutzungsrechte von Land und Wald bestritten sowie Jagd- und Fischereirechte. Der erstarkende Territorialstaat – mit einer die Jagd fördernden Forst- und einer verschärften Steuerpolitik – bedrückte die Bauern. Schon vor der Reformation gab es im Süden und Südwesten Deutschlands, in der Schweiz und in den Alpengebieten lokale Unruhen von Bauern. 1493, 1513 und 1517 kam es zu sogenannten Bundschuh-Aufständen im Rheintal, im Elsass und im Schwarzwald. Der gebundene Bauernschuh im Gegensatz zum Lederstiefel der Herren diente als Symbol. 1514 gab es in Württemberg einen Aufstand des „Armen Konrad“, wobei „Kunz“ (= Konrad), das abschätzig gebrauchte Schimpfwort für einen Menschen niederen Stands, zur trotzigen Selbstbezeichnung wurde. Diese sogenannten Voraufstände zeigen, dass der Bauernkrieg von 1524/25 nicht nur im Zusammenhang mit der Reformation zu sehen ist. Auch eine Berufung auf die Bibel war vereinzelt schon bei den Aufständen vor der Reformation erfolgt. In der Anfangszeit der Reformation wurde der Bauer von Luther und anderen Reformatoren als der unverbildete Fromme stilisiert. In der Adelsschrift sagte Luther, dass der Beruf des Bauern dem des Kaufmanns vorzuziehen sei. Es wäre „viel göttlicher“, das Ackerwerk zu mehren und die Kaufmannschaft zu mindern. Und erst recht zog er die Bauern den Klerikern vor. Indem er das Schriftprinzip und das allgemeine Priestertum propagierte, ermunterte er die Bauern, auch mit der Schrift zu argumentieren. 1523 hatte Luther in einer Schrift zum Thema Obrigkeit harte Kritik an den Fürsten, auch wegen der Bedrückung der Untertanen, geübt. Doch schon 1522 hatte Luther im Anschluss an die geschilderten Wittenberger Ereignisse Aufruhr als gottlos bezeichnet und Eine treue Vermahnung an alle Christen, sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung verfasst. 1523/24 gab es zunächst einen lokalen Aufstand im südlichen Schwarzwald in der Landgrafschaft Stühlingen, wo die Zahlung des Zehnten verweigert wurde. Anfang 1525 begann ein Aufstand im Allgäu und in Oberschwaben, wo das Land weitgehend zum Bistum Augsburg gehörte. Hier bildeten sich mehrere Bauernvereinigungen, unter anderem der Baltringer Haufen, benannt nach einem Dorf, wo man sich zu versammeln pflegte. Im Februar oder Anfang März 1525 verfassten der Memminger

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Bauernkrieg (1524/25) und Thomas Müntzer

Laienprediger Sebastian Lotzer, der aus einem gebildeten Elternhaus in Horb stammte, von Beruf Kürschner (Pelzbearbeiter) war und als Feldschreiber des Baltringer Haufens wirkte, und der Memminger Prädikant Christoph Schappeler, der aus St. Gallen kam und in Leipzig studiert hatte, einen Forderungskatalog, die berühmten Zwölf Artikel. Schon zuvor hatten Bauern, die sich organisierten, Beschwerdekataloge aufgestellt. Diese wichtigste Bauernkriegsschrift besteht aus einer kurzen Vorrede und zwölf kurzen Paragrafen. Bei grundsätzlicher Anerkennung der Obrigkeit und der Grundherrschaft forderten die Artikel die Abschaffung der Leibeigenschaft und die Beseitigung verschiedener Belastungen und Abgaben (Todfallabgabe, Einschränkung der Weide-, Holz- und Jagdrechte), ferner die neue Zweckbestimmung des Zehnten für die Pfarrer und die Armen der Gemeinden. Nicht zuletzt forderten sie die freie Pfarrerwahl durch die Gemeinden und die Predigt des lauteren Gottesworts. Sie beriefen sich auf die in der Heiligen Schrift begründete Freiheit und auf das göttliche Recht. Sie waren dazu bereit, ihre Forderungen fallen zu lassen, wenn diese sich nicht aus der Schrift begründen ließen. Die Bauern gliederten sich dadurch in die reformatorische Bewegung ein und argumentierten wie Luther in Worms. Der erste der Zwölf Artikel der Bauern (Februar/März 1525):10

Erstens ist unsere demütige Bitte und Begehren, auch unser aller Wille und Meinung, dass wir von nun an Gewalt und Macht haben wollen, dass die ganze Gemeinde ihren Pfarrer selbst wählt und prüft. Sie soll auch Gewalt haben, denselben wieder zu entlassen, wenn er sich ungebührlich verhält. Derselbe gewählte Pfarrer soll uns das heilige Evangelium lauter und klar predigen ohne menschliche Zusätze, Lehren und Gebote. Denn die stetige Verkündigung des wahren Glaubens veranlasst uns, Gott um seine Gnade zu bitten, uns diesen Glauben einzuprägen und in uns zu festigen. Denn wenn uns seine Gnade nicht eingeprägt würde, blieben wir immer Fleisch und Blut und wären dann zu nichts nütze, wie deutlich in der Schrift steht, dass wir allein durch den wahren Glauben zu Gott kommen und nur durch seine Barmherzigkeit selig werden können. Darum ist ein solcher Führer und Pfarrer von Nöten und in dieser Gestalt in der Schrift begründet.

Die Bauern machten sich Vorstellungen zu Eigen, die im Grunde schon seit zwei Jahrhunderten den Begriff Freiheit in den Städten inhaltlich füllten und nun auf das Land übersprangen. Zentral war hierbei der Gedanke der Gleichberechtigung der Menschen vor Gott und untereinander und das Wissen um die gemeinsame Verantwort10 Vollständig: DGQD 3, S. 254–260; Auszüge: KTGQ 3, S. 130–132.

Zwölf Artikel

freie Pfarrerwahl



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Luther und die frühe Reformation in Wittenberg

Plünderungen

Götz von Berlichingen

lichkeit vor Gott. Umstritten ist allerdings, ob die Argumentation mit der Bibel wirklich von Bauern entwickelt und formuliert wurde oder von ihren gebildeten Unterstützern, von Lotzer und Schappeler. Die Zwölf Artikel wurden vom Großteil der Bauernbewegung übernommen. Während die Zwölf Artikel verfasst wurden, zogen die Obrigkeiten ihre Truppen zusammen und bereiteten militärische Maßnahmen vor. Den Bauern stand der 1488 gegründete Schwäbische Bund gegenüber, ein Zusammenschluss verschiedener Städte und Territorien im Südwesten. Unter den Bauern wuchs die Bereitschaft zur Gewaltanwendung. Im März 1525 wurde im Südwesten die „Christliche Vereinigung“ gegründet, zu der sich die Baltringer, die Allgäuer und die Bodenseebauern zusammenschlossen. Sie schlugen vor, Luther, Melanchthon und Zwingli als Schiedsrichter über die bäuerlichen Forderungen einzusetzen. Aber trotz dieser Verhandlungsstrategie kam es Ende März zu ersten Plünderungen von Schlössern, Burgen und Klöstern. Der Aufstand breitete sich nach Franken, in die Oberrheingebiete und nach Thüringen aus. Dabei begingen die Bauern teilweise schwere Gewalttaten, besonders in Franken (16. 4. 1525: Weinsberg). Einzelne Adlige unterstützten die Bauern. Ein berühmtes Beispiel war der Reichsritter Götz von Berlichingen, den später Goethe zur zentralen Figur eines Dramas machte. Auch in einigen Städten brachen soziale Unruhen aus, zum Beispiel in Mühlhausen in Thüringen. Viele Stadtbewohner waren ja ebenfalls landwirtschaftlich tätig. Es gab eine enge Verbindung zwischen Stadt und Land, zum Beispiel durch Märkte. Zentren des Bauernkriegs lagen gerade dort, wo Städte nicht fern waren. Luther gefiel es ganz und gar nicht, dass die Bauern die Bibel als Norm für die Gestaltung der Welt verwenden wollten und sich auf angeblich „göttliches Recht“ beriefen. Der Bauernaufstand und seine Forderungen waren für ihn eine unerträgliche Vermischung des Reiches Christi mit dem Reich der Welt. In der Welt hatten für ihn andere Gesetze zu gelten als unter der Herrschaft Christi. Im April 1525 verfasste er eine Ermahnung zum Frieden auf die Zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben, in der er die Bauern beschwichtigte und ermahnte, aber den Herren selbst Schuld gab, dass es zum Aufruhr komme.11 In seiner zweiten Bauernkriegs-Schrift von 1525 Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern forderte

11 Auszüge: DGQD 3, S. 260–267; Auszüge: KTGQ 3, S. 136–138.

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Bauernkrieg (1524/25) und Thomas Müntzer

Luther dann aber die Obrigkeiten zum rücksichtslosen Dreinschlagen auf.12 Die Herren gingen militärisch gegen die Bauern vor. Im Süden waren die Bauern schnell geschlagen. Am 4. April kam es zur Schlacht bei Leipheim. Die Bauern ergriffen vor dem Heer des Schwäbischen Bundes die Flucht. Am 17. April kam es scheinbar zu einer friedlichen Lösung. Als sich 12.000 Bauern und 7.000 Soldaten gegenüberstanden, stimmte der Heerführer des Schwäbischen Bundes, Georg Truchsess von Waldburg, Verhandlungen zu. Es wurde der Weingartener Vertrag abgeschlossen, in dem den Bauern ein Schiedsgericht zugesagt wurde, das ihre Beschwerden prüfen sollte. Doch das war nur ein Täuschungsmanöver, um die Bauernhaufen zu zerstreuen. Am 12. Mai 1525 wurden die Bauern in der Schlacht bei Böblingen vernichtet. Im Mai 1525 endete der Bauernkrieg auch in Thüringen. Bei der Schlacht von Frankenhausen am 15. Mai ließen 6000 Bauern ihr Leben. Im Herbst 1525 kam es noch zu einem kleinen Aufstand in Preußen und im Frühjahr 1526 in Salzburg. Insgesamt wurden im Verlauf der Auseinandersetzungen etwa 70.000 Bauern getötet. Die Bauern scheiterten, weil die Bewegung schlecht organisiert war und es an Führungspersönlichkeiten mangelte. Ferner konkurrierten unterschiedliche Stoßrichtungen miteinander, gegen die Territorialfürsten und gegen die Grundherren. Auch die begangenen Gewalttaten haben den Bauern geschadet. Trotz dieser grundsätzlichen Niederlage gab es auch einzelne Erfolge. In einer Reihe süddeutscher Territorien sind Forderungen der Zwölf Artikel verwirklicht worden. An verschiedenen Orten sind Reformen zugunsten der Bauern durchgeführt worden. In Tirol, Salzburg und Graubünden erlangten die Bauern sogar den Status von Landständen und damit politischen Einfluss. Die Leibeigenschaft jedoch blieb formal – vielfach faktisch abgelöst durch Geldzahlungen – noch bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts erhalten. Der Bauernkrieg wurde zu einer reformationsgeschichtlichen Wende gleich im mehrfachen Sinn. Erasmus und andere Humanisten gaben – ebenso wie die Altgläubigen – Luther die Schuld an den Tumulten und distanzierten sich deshalb immer deutlicher von der Reformation. Luther seinerseits betonte nun immer mehr die Notwendigkeit von Ordnung. Die Reformation als Laien- und Basisbewegung endete, sie wurde zu einer Sache der Obrigkeit, der Fürsten, sie wurde zur „Fürstenreformation“.

12 Auszüge: DGQD 3, S. 267–269.

Schlacht bei Leipheim

Weingartener Vertrag

Schlacht von Frankenhausen

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Luther und die frühe Reformation in Wittenberg

Thomas Müntzer

Jüterbog

Zwickau

Prag

Allstedt

Der einzige bedeutende Theologe, der sich auf die Seite der Bauern schlug, war Thomas Müntzer. Er wurde 1489 in Stolberg am Harz als Sohn eines vermögenden Handwerkers geboren und studierte in Leipzig und Frankfurt an der Oder. Er ließ sich zum Priester weihen und erwarb den Magisterabschluss. Müntzer konnte Griechisch und Hebräisch, studierte Kirchenväter und Mystiker und besaß eine stattliche Bibliothek. Als Lehrer wirkte er in Halle, Aschersleben, Braunschweig und Halberstadt, betreute verschiedene Nonnenklöster und wurde schließlich nach einem Wittenbergaufenthalt 1517–1519 Prediger in Jüterbog, einer Stadt im Fläming, zwischen Wittenberg und Berlin gelegen. Im Jahre 1519 wurde Müntzer in einer altgläubigen Streitschrift als Anhänger der „Sekte des Dr. Martin“ beschimpft. Zum ersten Mal wurde hier für die Anhänger Luthers eine Parteibezeichnung gebraucht, aus der sich dann die Schimpfworte „Martinianer“ und „Lutherianer“ entwickelten. Erst sehr viel später bezeichneten sich die Anhänger der Wittenberger Reformation selbst als lutherisch. Der Reformator empfahl Müntzer 1520 auf eine Predigerstelle in Zwickau. Dort begann seine Radikalisierung. Die schon erwähnten Zwickauer Propheten gehörten zu seinem Umfeld. Wegen scharfer Predigten wurde er schließlich aus der Stadt verwiesen. In Prag versuchte Müntzer 1521 vergeblich, die aus der hussitischen Bewegung entstandene Kirche der Böhmischen Brüder für seine Lehre zu gewinnen. Er glaubte, in Böhmen werde die neue apostolische Kirche ihren Anfang nehmen. Erfüllt von einem großen Sendungsbewusstsein, sah er sich als das Werkzeug Gottes bei der „Ernte“. Er verfasste eine Erklärung (Prager Manifest), die mit dem Satz beginnt „Ich, Thomas Müntzer …“. Müntzer erklärte, die Priester der offiziellen Kirche seien für ihr Amt nicht legitimiert, weil sie die Stimme Gottes nicht erfahren hätten. Glaube entstehe im Menschen durch einen inneren Existenzkampf unter Reinigung von kreatürlichen Abhängigkeiten und Gelüsten. Die Wahrheit der Bibel erweise sich nur durch die lebendige Rede Gottes im Herzen des Menschen. Diese Möglichkeit stehe allen von Gott auserwählten Menschen offen. Die Menschen schied Müntzer in Auserwählte und Gottlose. Der Klerus, der sich zwischen Gott und die Menschen stelle, müsse vernichtet werden. Das Manifest endet mit folgenden Worten: „Thomas Müntzer will keinen stummen, sondern einen redenden Gott anbeten.“ 1523 kam Müntzer als Prediger nach Allstedt in Kursachsen. Hier führte er die Eindeutschung des Gottesdienstes und der Kirchenlieder durch. Er heiratete. Die meisten Allstedter Bürger schlossen sich auf seine Anregung in einem Bund der Auserwählten zusammen.

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Bauernkrieg (1524/25) und Thomas Müntzer

Müntzer kritisierte Luther als „Schriftgelehrten“, der sich zwischen Gott und Mensch stelle wie der alte Klerus. Den äußerlichen Glauben, den Buchstabenglauben, bezeichnet er als „erdichteten Glauben“. Zum wahren Glauben komme man nur durch Versuchung, Leiden und Kreuz, also durch Gleichförmigkeit mit dem leidenden Christus. Ein Pfarrer müsse den erdichteten Glauben zerstören, denn er sei schlimmer als „gleißende Werke“, ein Pfarrer dürfe nicht trösten, sondern müsse betrüben. Höchstes Gift sei es, wenn ein „süßer Christus“ der „fleischlichen Welt“ gepredigt werde. Seine berühmte Fürstenpredigt über Dan 2 – den Traum Nebukadnezars von einem Stern, der Königreiche zermalmt – im Allstedter Schloss 1524 vor Herzog Johann von Sachsen zwang Müntzer zur Flucht aus Allstedt. Die Fürsten, so sagte er dem Herzog ins Gesicht, hätten die Aufgabe die Gottlosen zu vernichten. Wenn sie es nicht täten, werde Gott ihnen das Schwert nehmen. Müntzer bezog Stellung gegen die Obrigkeit. Er bejahte ein Widerstandsrecht der Untertanen, wenn die Obrigkeit statt der Gottesfurcht der Kreaturfurcht Raum gebe und sich dem Gotteswort widersetze. Müntzer wandte sich gegen die Kindertaufe. Außerdem erklärte er, Wasser sei bei der Taufe nicht wichtig, es gehe um den Geist.13 Mühlhausen an der Unstrut war die nächste Station, im Herbst des Jahres 1524. Müntzer vertrat nun die Position, der Geist könne jemandem Glauben schenken, der die Bibel gar nicht kenne. Der gemeine Mann solle so gelehrt werden, dass er von den Pfarrern nicht länger verführt werden könne. „Gott verachtet die großen Hansen“, rief er aus und: „Die Zeit der Ernte ist da!“ Nur der Mensch, der sich von allem gelöst habe, finde zum Glauben. Drei Punkte charakterisierten Müntzer: die Rechtfertigung von Gewalt, die Berufung auf innere Erfahrungen gegen äußere Autorität und seine Leidensbereitschaft. Luther beobachtete diese Entwicklungen mit großer Sorge und forderte die Fürsten zu einem rigorosen Eingreifen auf. Er schrieb einen Brief an die Fürsten zu Sachsen. Müntzer reagierte, indem er Wider das geistlose, sanft lebende Fleisch in Wittenberg zur Feder griff und Luther als „Bruder Sanftleben“, „Doktor Lügner“ und „Vater Leisetritt“ beschimpfte. Müntzer weilte vorübergehend in Nürnberg und am Oberrhein, in Zürich und Basel, kehrte schließlich aber wieder nach Mühlhausen zurück, übernahm in der neuen Stadtgemeinschaft eine Pfarrstelle

13 Auszüge: DGQD 3, S. 247–250.

Mühlhausen

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Luther und die frühe Reformation in Wittenberg

und wurde 1525 zum Mittelpunkt des thüringischen Bauernaufstands. Kurzbiografie: Müntzer 1489 1506 1512 1520 1521 1523 1524 1524 1525 1525

Frankenhausen

Geburt in Stolberg/Harz (20./21.12.) Studium in Leipzig Studium in Frankfurt/Oder Prediger in Zwickau Prag Prediger in Allstedt Predigt vor Johann von Sachsen Mühlhausen, Bebra, Nürnberg, Basel, Waldshut Mühlhausen Hinrichtung in Görmar (27. 5.)

Im Mai 1525 kämpfte Müntzer in der Schlacht von Frankenhausen. Landgraf Philipp von Hessen, evangelisch, und Herzog Georg von Sachsen, katholisch, standen ihm und den Bauern gegenüber. Müntzer sah einen Regenbogen über dem Lager der Fürsten und erwartete göttliche Hilfe. Doch der Kampf endet mit einem Desaster. Müntzer gelang es zu fliehen, er wurde aber in einem Haus in Frankenhausen entdeckt und gefangen genommen. Am 27. Mai 1525 erfolgte die Hinrichtung bei Mühlhausen durch Enthauptung. Einer der letzten Sätze, die Müntzer veröffentlichte, lautete: „Das Volk wird frei werden und Gott will allein der Herr darüber sein.“

Streit mit Erasmus

der menschliche Wille

Erasmus von Rotterdam (→ Kap. 1), der große Humanist, war weder Anhänger noch Gegner der Reformation. Mit manchen Gedanken der Reformation und manchen Reformatoren sympathisierte er, aber von Luther und dessen Grobheit fühlte er sich mehr und mehr abgestoßen. Erasmus wurde von vielen gedrängt, gegen Luther zu schreiben, und er kam allmählich zu dem Schluss, er müsse sich von Luther abgrenzen, ohne ihn zu scharf anzugreifen. Erasmus wählte die Frage nach der Freiheit des menschlichen Willens. Er dachte mit der von Luther schon in Heidelberg angesprochenen Willensproblematik ein Randproblem der Theologie aufzugreifen. Zu wissen, ob der menschliche Wille frei sei oder nicht, sei nicht notwendig für den Christen.

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Streit mit Erasmus

1524 veröffentlichte er seine lateinische Streitschrift De libero arbitrio Diatribe (Abhandlung über den freien Willen). Erasmus stellte die These auf, der freie Wille des Menschen und die göttliche Gnade wirkten gemeinsam, um einen Menschen des Heils teilhaftig werden zu lassen. Der Wille sei dabei eine wirklich eigenständige Kraft. Er könne sich dem Heil zuwenden oder sich vom Heil abwenden. Um das Heil tatsächlich zu erreichen, bedürfe es aber der göttlichen Gnade. Kurz gesagt: Ohne göttliche Gnade gibt es kein Heil, aber die Gnade ist nicht unwiderstehlich und die Gnade ist nicht ausreichend. Der Mensch kann sich dem Heil widersetzen und bei der Erlangung des Heils kann und muss der Mensch mitwirken. Erasmus versuchte seine Position durch Bibelzitate und biblische Beispiele zu belegen. Erasmus erklärte ferner über sich selbst, er sei friedliebend und wolle keinen Tumult und Streit. Nicht alle christlichen Wahrheiten seien für die Öffentlichkeit bestimmt. Er neige zur Skepsis in schwierigen theologischen Fragen. Viele Stellen der Schrift seien unklar. Nicht nur die Schrift, sondern auch die Tradition, verkörpert in den Kirchenvätern, sei deshalb wichtig. Das Alte Testament müsse allegorisch ausgelegt werden. Nach einer Zeit des Wartens und Zögerns entschloss sich Luther, die Herausforderung aufzunehmen. Sein ebenfalls lateinisch abgefasstes und 1525 erschienenes Werk „Über den geknechteten Willen“ (De servo arbitrio) hat den mehrfachen Umfang der Diatribe. Luther erklärte, der Wille des Menschen sei nicht frei, sondern versklavt. Nur Gott selbst habe einen freien Willen. Der Mensch könne zwar über Dinge des Alltags einigermaßen frei entscheiden, aber er habe keinen freien Willen bezüglich Gottes und des Heils. Der Wille des Menschen sei ein Lasttier, das entweder von Gott oder vom Satan beladen werde. Gott und der Satan stritten sich darum. Ohne Leitung durch Gott sei der Wille des Menschen in jedem Fall böse, er sei keine neutrale Kraft. Die Willensfrage geklärt zu haben, sei für die Christen notwendig. Wer sie nicht kläre, mache die Christen zu „leichtfertigen Arbeitern“, zu Menschen, die handelten, ohne sich über die Möglichkeiten und Grenzen ihres Handelns im Klaren zu sein. Die Willensfrage sei also kein Randproblem der Theologie und Erasmus habe unwissentlich – als Einziger – den Kernpunkt getroffen, um den es ihm, Luther gehe. Ferner betonte Luther im Gegensatz zu Erasmus, das Wort Gottes bringe Streit unter die Menschen. Was christlich gesehen wahr sei, müsse auch allen Menschen gelehrt werden. Der Christ müsse bekennen, Skepsis sei keine christliche Tugend. Die Heilige Schrift sei klar, Christus sei ihr Zentrum. Unklar seien nur grammatische

Skepsis

nicht frei, sondern versklavt

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Luther und die frühe Reformation in Wittenberg

Prädestination

Polemik

Einzelprobleme. Bei der Auslegung müsse man beim Wortsinn, beim Literalsinn, bleiben. Zum rechten Verständnis der Schrift bedürfe es freilich auch des Heiligen Geistes. Aber der Geist sei an das Wort gebunden. Der Heranziehung der kirchlichen Tradition bedürfe es bei der Schriftauslegung nicht. Die Bestreitung des freien Willens führt automatisch zur Frage nach der Prädestination, nach der göttlichen Vorherbestimmung des Menschen, denn ganz offensichtlich gelangen ja nicht alle Menschen zum Heil. Wenn es nicht an den Menschen, sondern an Gott selbst liegt, dann stellt sich die Frage, warum Gott einige Menschen zum Heil bestimmt und andere nicht. Ausführlich äußerte sich Luther auch hierzu und entfaltete seine Lehre vom „verborgenen Gott“ (lat.: Deus absconditus). Hierbei kam es bei Luther zu einer Spaltung im Gottesbegriff. Er sagte, Gott lenke und bestimme alle Dinge, aber auf eine Weise, die den Menschen nicht einsichtig sei. Warum Gott einige Menschen zum Heil bestimme, andere nicht, sei in dieser Welt und in diesem Leben nicht zu erklären, aber Gott handle auf jeden Fall gerecht dabei. Doch der Christ solle nicht über das verborgene Handeln Gottes spekulieren, sondern sich an den „offenbarten Gott“ (lat.: Deus revelatus) halten. „Was über uns ist, geht uns nichts an“ (Quae supra nos, nihil ad nos), erklärte Luther. Was den Menschen entzogen ist, damit sollen sie sich nicht beschäftigen. Die Gläubigen müssten sich an den offenbarten Gott halten, der – wie die Bibel bezeuge – das Heil aller Menschen wolle. Der verborgene Gott verlasse und verwerfe einen Menschen und lasse ihn verloren gehen – gleichzeitig aber weine und seufze der offenbarte Gott über das Verderben der Gottlosen. Letztlich bot Luther mit dieser Spaltung seines Gottesbegriffs keine systematische Lösung des Problems, wie sie Zwingli und Calvin in der gleichen Frage versuchen sollten, sondern gab dem Glaubenden eine Verhaltensanweisung, nämlich Gottes universalem Heilsangebot zu vertrauen. Luthers De servo arbitrio war ein Höhepunkt seiner Theologie. Das Buch gehörte zu den wenigen Schriften, zu denen Luther noch im fortgeschrittenen Alter stand, die er für die Nachwelt erhalten wissen wollte. Es ist auch unter systematisch-theologischen Gesichtspunkten eines der interessantesten Werke Luthers. In einigen Fragen, insbesondere bei der Prädestination, war es allerdings auch ein Höhepunkt an theologischer Zuspitzung. Allerdings schrieb Luther kein Lehrbuch, sondern eine Streitschrift. Ein Höhepunkt war De servo arbitrio auch hinsichtlich der Polemik. Luther nahm sich den bejahrten, höchst gelehrten und in seinem Umgangsstil außerordentlich höflichen Erasmus vor und

Streit mit Erasmus

machte ihn zum Spottobjekt. Luthers polemische Abkanzelung des großen Gelehrten hat im Luthertum bis in die Gegenwart das Erasmusbild bestimmt. Erasmus reagierte 1526/27 noch mit einer Gegenschrift, die den doppeldeutigen griechischen Titel Hyperaspistes trägt, den man übersetzen kann mit „Schutzschild gegen Luther“, in den man aber auch hineinlesen kann: „Einer, der über die Giftschlange Luther hinweg schreitet.“ Luther reagierte darauf nicht mehr. Das Verhältnis war endgültig zerbrochen. Überblick: Ursachen und Hintergründe der Reformation

Martin Luther allein hätte keine Reformation zustande gebracht. Seine Ideen brauchten einen Resonanzboden. Auch günstige Umstände trugen dazu bei, dass sich seine Ideen verbreiten und die Reformation zum Durchbruch kommen konnte: ► kirchliche Missstände im Papsttum im Mönchtum im Klerus ► mentale Umstände wie eine antiklerikale Stimmung ein keimendes Nationalbewusstsein das Verlangen nach Heilsgewissheit der Wunsch nach gehaltvollen Predigten das neue Interesse am Menschen die Hinwendung zum Einzelnen ► politische Umstände wie erstarkende Territorialstaaten die anstehende Wahl eines neuen Kaisers die andauernde Türkengefahr ► wissenschaftliche Entwicklungen wie die neue Hinwendung zu den Texten der Antike ► technische Entwicklungen wie der Buchdruck ► taktische Fehler Roms wie die Verschleppung des Prozesses gegen Luther die Ignoranz gegenüber Luthers Theologie die verspätete Einberufung eines Konzils die mangelhafte Reformbereitschaft

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Luther und die frühe Reformation in Wittenberg

Ausstrahlungen der Wittenberger Reformation

Nürnberg

Straßburg

Konstanz

Osnabrück

Hessen

Während die reformatorische Umgestaltung der Kirche und der Gesellschaft in Wittenberg 1522 durch Luthers Intervention vorläufig gestoppt wurde, machte sie andernorts Fortschritte. Immer mehr Territorien und Städte entschieden sich für den neuen Glauben und ließen ihm auch gleich Taten folgen. Auf große Resonanz stieß Luther in den Reichsstädten. In diesen vergleichsweise großen, politisch selbstständigen Orten, wie es sie vor allem in Süddeutschland gab, hatte nicht nur einer das Sagen, sondern die Bürger waren an der Regierung beteiligt, und so konnte sich die Reformation, anders als in den Territorien, auch durch Mehrheitsentscheide durchsetzen. Eine der größten, reichsten und bedeutendsten Reichsstädte war Nürnberg. Hier fasste die Reformation 1522 Fuß. Leitend war Andreas Osiander, ein humanistisch geprägter Priester aus Gunzenhausen, der 1520 nach Nürnberg gekommen war. 1523 wurde das Abendmahl mit Brot und Wein gereicht, 1524 der Gottesdienst reformiert. Im gleichen Jahr wurde begonnen, die Klöster aufzulösen. 1525 bekannte sich der Rat förmlich zur Reformation. In Straßburg hatte der Priester Matthäus Zell schon 1521 reformatorisch zu predigen begonnen. 1523 trat er demonstrativ in den Stand der Ehe. Im gleichen Jahr gelangte Martin Bucer nach Straßburg, der zur führenden Kraft wurde. Eine wichtige und frühe Basis hatte die Reformation in Konstanz am Bodensee. Schon 1519 gab es hier reformatorische Regungen, die sich 1521/22 verstärkten. Von 1523 an förderte der Rat der Stadt aktiv die evangelische Predigt. 1525 gestattete er den Austritt aus den Klöstern. Nicht nur in Reichsstädten wie Nürnberg, Straßburg und Konstanz, sondern auch in Bischofsstädten wie Osnabrück stieß die Reformation auf Resonanz. 1521 predigte hier ein Ordensbruder Luthers, Gerhard Hecker, erstmals evangelisch. 1526 verbreitete der Schulmeister Adolf Clarenbach evangelisches Gedankengut. Doch auch in weiteren Territorien des Reichs fasste die Reformation Fuß. Wichtig wurde vor allem Hessen. Hier war der Landesherr, Philipp von Hessen, höchstpersönlich die treibende Kraft. Im Jahre 1521 hatte er als 16-Jähriger, schon seit zwei Jahren sein Land regierend, am Wormser Reichstag teilgenommen und mit Luther persönlich gesprochen. Zu dieser Zeit gab es in Hessen aber bereits evangelische Prediger und an Philipps Hof in Kassel befanden sich „Martinianer“, Anhänger Luthers. In Alsfeld predigte der AugustinerEremit Tilmann Schnabel im Sinne Luthers und in Hersfeld die

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Literatur

Priester Heinrich Fuchs und Melchior Rink. Der aus Marburg stammende Luther-Schüler Hartmann von Ibach wirkte in der Reichsstadt Frankfurt. Philipp jedoch verhielt sich bis 1524 noch reserviert, ja abweisend gegenüber ihnen und verwies einige noch Anfang 1524 des Landes. Dann jedoch entschied er sich für die Reformation, tolerierte in seinem Territorium die evangelische Predigt und wurde zu einem von wenigen Fürsten, welche die Reformation auch theologisch verstanden. Bis 1525 war die Reformation ferner bereits in den Territorien Brandenburg-Ansbach, Brandenburg-Bayreuth und BraunschweigLüneburg verankert und in vielen weiteren wichtigen Städten, darunter Hamburg, Bremen, Heilbronn, Reutlingen, Ulm. Luther hatte die Reformation angestoßen, doch seine Möglichkeiten Einfluss auszuüben nahmen als Folge der in Vorsicht begründeten Reisebeschränkung ab. Bereits Mitte der zwanziger Jahre war die Reformation nicht mehr Luthers Reformation. In Wittenberg wurde sein Kollege Melanchthon zum zweiten führenden Mann und hatte vor allem die auswärtigen Termine wahrzunehmen. Die Wittenberger Reformation besaß – modern gesprochen – von 1521 bis 1546 eine Doppelspitze. Literatur Albrecht Beutel (Hg.): Luther Handbuch. 2., korr. u. erg. Aufl. Tübingen 2010 (TheologenHandbücher) (UTB 3416). Peter Blickle: Die Revolution von 1525. 4., durchges. u. bibliogr. erw. Aufl. München 2004. Martin Brecht: Martin Luther. Bd. 1–3. Studienausg. Stuttgart 1994. Walter Elliger: Thomas Müntzer. Leben und Werk. Göttingen 1975. Thomas Kaufmann: Geschichte der Reformation. Frankfurt a. M. 2009. Volker Leppin: Martin Luther. Darmstadt 2006 (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance). Reinhard Schwarz: Luther. 3., durchges. u. korr. Aufl. Göttingen 2004 (UTB 1926).

Luther und Melanchthon

&

3. Melanchthon und der Fortgang der Reformation in Wittenberg

Praeceptor Germaniae

Philipp Melanchthon war neben Luther der zweite große Wittenberger Reformator. Er vertrat die Reformation nach außen, gab der reformatorischen Theologie ihr Gewand und gestaltete das reformatorische Kirchen-, Schul- und Universitätswesen, weshalb ihm noch zu Lebzeiten der Ehrentitel „Lehrer Deutschlands“ (Praeceptor Germaniae) beigelegt wurde. Melanchthon war, anders als Luther, Humanist und gut bekannt mit Erasmus. Er wurde als Humanist zum Reformator und blieb als Reformator Humanist. Dies zeigte sich in seinem – nicht umstrittenen – Interesse an Bildung, aber auch in seinem – durchaus umstrittenen – Interesse an Eintracht und Frieden. Melanchthon war Ireniker, ein auf Frieden (griech.: είρήνη/ eirene) bedachter Mensch, und das lag bei ihm auch in Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend begründet.

Melanchthon – mehr als ein Konreformator

Bretten

Pforzheim

Melanchthon wurde 1497 in Südwestdeutschland in der Kleinstadt Bretten geboren, die zur Kurpfalz gehörte. Schon als Kind erlebte er dort Krieg und sein Vater starb an den Folgen des Kriegshandwerks: Von Beruf Schmied, fiel er einer Vergiftung zum Opfer, die er sich durch den Umgang mit schadstoffhaltigen Metallen beim Herstellen von Rüstungen und Geschützen zugezogen hatte. Die Angst vor Krieg und die Sehnsucht nach Frieden begleitete Melanchthon sein ganzes Leben. Schon als Kind, durch seinen Hauslehrer in Bretten, wurde Melanchthon humanistisch geprägt. Das setzte sich in der Pforzheimer Lateinschule fort, die er ab 1508 besuchte. In dieser Zeit hatte er erstmals direkten Kontakt mit dem Humanisten Reuchlin, mit dem er sogar verwandt war; allerdings nur ganz entfernt über seine Großeltern mütterlicherseits und den Mann von Reuchlins Schwester. Der Gelehrte schenkte ihm 1509 eine griechische Grammatik und er schenkte ihm auch seinen Namen. Melanchthon hieß nämlich eigentlich Schwartzerdt und Reuchlin hat diesen Nachnamen ins Griechische übersetzt (griech. μέλας/melas = schwarz, griech. χθών/ chthon = Erde). Humanisten liebten gräzisierte oder latinisierte Namen. Die Namensverwandlung war den Gelehrten vor allem dann

Melanchthon – mehr als ein Konreformator

wichtig, wenn der eigentliche Name zu volkstümlich oder gar ungebildet klang. Auf die Schule in Pforzheim folgte im Oktober 1509 die Universität Heidelberg und im Januar 1514 legte Melanchthon in Tübingen sein Magisterexamen ab. Als 16-Jähriger besaß er einen Universitätsabschluss. Melanchthon war hochintelligent und frühreif. Auch in Heidelberg und in Tübingen bewegte er sich im Milieu des Humanismus. Reuchlin verschaffte ihm Zugang zu den örtlichen humanistischen Gelehrten und hielt auch selbst ständig Kontakt mit ihm. In die Tübinger Zeit fällt ferner die erste Berührung Melanchthons mit Erasmus. Nach seinem Magisterexamen begann Melanchthon in Tübingen mit dem Theologiestudium, doch sein eigentliches Interesse galt weiter der griechischen und römischen Antike. Ob er 1517/18 in Tübingen von Luthers Ablassthesen hörte, ist nicht bekannt. Melanchthon entwickelte sich zu einem ausgezeichneten Gräzisten und war auf dem besten Weg, ein herausragender humanistischer Gelehrter zu werden. Doch im Jahre 1518 kam es in Melanchthons Leben zu einer Wende. In Wittenberg wurde ein Mann für den neu eingerichteten Lehrstuhl der griechischen Sprache gesucht. Reuchlin war gefragt worden, ob er selbst kommen wolle, schlug aber sogleich Melanchthon vor. Die Wittenberger Professoren hatten zwar andere Berufungspläne, doch das entscheidende Wort sprach der Kurfürst. Er hörte auf Reuchlin und berief Melanchthon. Im August 1518 kam der Sprachlehrer nach Wittenberg und löste, jung, klein und schmächtig, wie er war, zunächst Befremden aus. Doch dann hielt er am 28. August 1518 seine Antrittsrede „Über die Notwendigkeit, die Studien der Jugend neu zu gestalten“ (De corrigendis adolescentiae studiis)1 und entfaltete ein humanistisches Bildungsprogramm, das alle Wittenberger, Luther eingeschlossen, sofort begeisterte. Melanchthon wollte nicht nur die alten Sprachen, sondern auch Geschichte und Mathematik in das Studium integrieren. Der humanistische Gelehrte geriet an seinem neuen Wirkungsort in den Bann Luthers und in den Bann der Reformation. „Ich habe von Luther das Evangelium gelernt“, bekannte er später in seinem Lebensrückblick. Doch zunächst betätigte sich Melanchthon als Griechisch- und auch als Hebräischlehrer.

1 Auszüge: DGQD 3, S. 190–195; KTGQ 3, S. 46–48.

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Heidelberg Tübingen

Wittenberg

Antrittsrede

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Melanchthon und der Fortgang der Reformation in Wittenberg

Kurzbiografie: Melanchthon 1497 1509 1512 1518 1521 1530 1540/41 1560

Leipziger Disputation

Dogmatik

Geburt in Bretten (16. 2.) Studium in Heidelberg Studium in Tübingen Griechischprofessur in Wittenberg Loci communes rerum theologicarum Reise nach Augsburg (Reichstag) Reise nach Worms und Regensburg (Religionsgespräche) Tod in Wittenberg (19. 4.)

An der Seite Luthers trat Melanchthon erstmals in Leipzig 1519 in Erscheinung und fiel den Gegnern auf, weil er Luther und dem ebenfalls an der Disputation beteiligten Karlstadt Argumente zusteckte. Vermutlich versorgte er sie mit geschichtlichen Hintergrundinformationen zu ihrer Kritik an Papsttum und Konzilen, denn in der Geschichte kannte er sich besser aus als die beiden Doktoren der Theologie. Am 10. Dezember 1520 organisierte er in Wittenberg die Bücherverbrennung vor dem Elstertor. Stärker gefordert war Melanchthon 1521/22, als er Luther während dessen Wartburg-Aufenthalts zu vertreten hatte. An dessen Übersetzungsarbeit wirkte er im Hintergrund mit, wenn es um sprachliche Probleme ging, denn Melanchthon konnte weitaus besser Griechisch als Luther. Das setzte sich auch später so fort, als Hebräischkenntnisse eine Rolle spielten. Die Luther-Bibel müsste zutreffender Luther-Melanchthon-Bibel oder Wittenberger Bibel genannt werden. In Wittenberg beteiligte sich Melanchthon an den Umgestaltungen der Kirche. Er war unter den Ersten, die es wagten, das Abendmahl mit Brot und Wein zu feiern, am 29. September 1521, im kleinen Kreis, mit einem Priester und einigen Studenten. Eine führende Rolle in der Wittenberger Reformation übernahm Melanchthon 1521, indem er erstmals seine „Hauptpunkte der Theologie“ (Loci communes rerum theologicarum) herausgab, das erste Lehrbuch der evangelischen Theologie überhaupt. Während Luther vor allem theologische Gelegenheitsschriften verfasste, aber keine systematisch aufgebaute, strukturierte Gesamtdarstellung seines Denkens, entwickelte sich Melanchthon zum Dogmatiker oder Systematiker der Reformation, obwohl er sein in Tübingen begonnenes, in Wittenberg fortgesetztes Theologiestudium nie mit einem Examen beendete. An seinen Loci hat er zeitlebens weitergearbeitet, er hat sie umformuliert und ausgestaltet und sogar ins Deutsche übersetzt. Viele andere evangelische Theologen sind dem Vorbild seiner Dog-

Melanchthon – mehr als ein Konreformator

matik gefolgt. Luther hatte schon 1519, nach der Leipziger Disputation, die theologische Begabung Melanchthons erkannt und bemerkte im Dezember unter Anspielung auf Melanchthons Kleinwüchsigkeit und dessen Profession: „Dieser kleine Grieche übertrifft mich sogar in der Theologie.“ Melanchthons Loci leiteten die Theologie auf neue Wege, nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch. Inhaltlich versuchte Melanchthon, die Ideen Luthers zu Ende zu denken und ihnen eine geschlossene sprachliche Form zu geben. Die Loci bieten u. a. eine Anthropologie, eine Rechtfertigungslehre, eine Hermeneutik und eine Sakramentenlehre im reformatorischen Geist. Methodisch griff Melanchthon eine Idee des Humanismus auf, die dort in der Rhetorik ihren Sitz im Leben hatte. Die neue Methode kündigte sich schon im Titel des Lehrbuches an. „Loci“ bieten kein geschlossenes, vollständiges System, sondern behandeln Hauptpunkte unter praktischer Abzweckung und wollen den Studenten anregen, selbst Material zu sammeln. Melanchthon sprach die Themen an, die aktuell und für die Praxis relevant waren, ließ aber viele andere Themen, die üblicherweise in Lehrbüchern der Theologie verhandelt wurden, außen vor: die Gotteslehre, die Christologie, die Schöpfungslehre, die Eschatologie. Prägnant formulierte er in der Einleitung: „Die Geheimnisse der Gottheit sollten wir lieber anbeten als erforschen.“ Später allerdings, so ist einzuräumen, blieb Melanchthon diesen Grundsätzen nicht wirklich treu. Die großen, erheblich veränderten Neuausgaben seines Epoche machenden Werkes von 1535 und 1544 haben sich hinsichtlich der Themen, die behandelt wurden, traditionellen Lehrbüchern wieder angenähert. In der Methode, vor allem in der praktischen Abzweckung, blieb Melanchthon aber konsequent. Die Loci waren für Theologen und angehende Theologen gedacht. Melanchthon schuf aber auch Lehrbücher für nahezu alle anderen Gebiete des Wissens (Latein, Griechisch, Rhetorik, Dialektik, Ethik, Geschichte, Anthropologie) und für den Universitäts- ebenso wie für den Schulunterricht und gestaltete Schul- und Universitätsordnungen. Die Reformation war auch eine Bildungsbewegung und Melanchthon leistete, weil er selbst ein Universalgelehrter war, dazu die wichtigsten Beiträge. Manche seiner Lehrbücher wurden noch im 18. Jahrhundert verwendet und einige waren sogar an römischkatholischen Bildungseinrichtungen in Gebrauch. Sprachkompetenz, vor allem die Beherrschung der lateinischen, der griechischen und der hebräischen Sprache, war aus Sicht Melanchthons die wichtigste Grundlage der theologischen Arbeit. Durch ihn wurde die Philologie zur wichtigsten Hilfswissenschaft der evangelischen Theologie.

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neue Methode

Lehrbücher

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Melanchthon und der Fortgang der Reformation in Wittenberg

Abb. 5: Wirkungsstätten Melanchthons

Der erste Reichstag von Speyer (1526)

Kriege

Die Durchsetzung des Wormser Edikts erfolgte, auch von Seiten des Kaisers, nur halbherzig, denn der Kaiser führte Krieg mit Frankreich und sogar mit dem Papst. Andere Dinge standen im Vordergrund, nicht die Luthersache. In den Jahren 1521–1526 war der Kaiser mit einem Krieg in Norditalien gegen Frankreich beschäftigt, dem 1. Italienischen Krieg. 1525 errang er bei Pavia einen entscheidenden Sieg über Franz I. Im Januar 1526 wurde in Mailand Frieden geschlossen. Doch die Konflikte setzten sich fort. Politische Differenzen zwischen Kaiser und Papst kamen hinzu. Noch im Jahre 1526 verbündeten sich Frankreich, Venedig, Mailand, Florenz und der Papst in der „Heiligen Liga von Cognac“ gegen den Kaiser. Vom 25. Juni bis zum 27. August 1526 tagte in Speyer ein Reichstag ohne den Kaiser. Einstimmig wurde beschlossen, jeder Reichsstand solle es bis zum allgemein erhofften Konzil oder einer Nationalversammlung in der seit dem Reichstag von Worms 1521 im Raum stehenden Religionsfrage so halten, wie er es vor Gott und dem Kaiser verantworten könne, also seinem Gewissen folgen.

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Der erste Reichstag von Speyer (1526) § 4 des Reichstagsabschieds von Speyer (27. 8. 1526):2



Danach haben wir [der Kaiser], auch Kurfürsten, Fürsten und Stände des Reichs und deren Gesandte, uns jetzt hier auf dem Reichstag einmütig abgesprochen und geeinigt, bis zum Konzil oder der Nationalversammlung nichtsdestoweniger mit unseren Untertanen ein jeder in den Sachen, die das Edikt anbelangen, das durch die kaiserliche Majestät auf dem Reichstag, der in Worms abgehalten wurde, ausgegangen ist, für sich so zu leben, zu regieren und zu verfahren, wie ein jeder solches gegen Gott und der kaiserlichen Majestät hofft und glaubt verantworten zu können.

Dieser Beschluss führte zu einem großen Aufschwung der Reformation, da ihn die evangelischen Stände so interpretierten, als ob sie nun die Freiheit hätten, die reformatorische Umgestaltung ihrer Gemeinwesen durchzuführen. Der Aufbau evangelischer Landeskirchen schritt voran. Nürnberg führte 1528 eine Kirchenvisitation durch, bei der vor allem die theologischen Überzeugungen der Pfarrer erhoben wurden. Straßburg ordnete das Schulwesen und das Klostergut neu und schaffte Anfang 1529 die Messe ab. Konstanz löste die Klöster auf, schloss das örtliche Bordell, regelte die Armenversorgung neu und entfernte 1528 alle Bilder aus den Kirchen. Besonders tatkräftig und konsequent gingen die Reformationsanhänger in der Landgrafschaft Hessen vor. Entscheidend war das Jahr 1526. Der Beschluss des Speyerer Reichstags nahm Landgraf Philipp zum Anlass, die kirchlichen Verhältnisse in seinem Territorium neu zu gestalten. Im Oktober tagte in Homberg an der Efze eine Synode, die eine Kirchenordnung3 beschloss. Doch Luther erhob Einspruch und empfahl, langsamer vorzugehen und die Reformation zunächst einmal als eine Bildungsaufgabe zu begreifen. Philipp nahm Luthers Rat konstruktiv auf und verpflichtete die Pfarrer zunächst einmal auf die reformatorische Lehre. Dann errichtete Philipp 1527 – als erste evangelische Hochschulgründung überhaupt – die Universität Marburg, die seit dem 20. Jahrhundert auch seinen Namen trägt. Er verzichtete dabei auf päpstliche Privilegien, die er für eine evangelische Universität auch niemals erhalten hätte, und begnügte sich mit kaiserlichen, die er freilich auch erst 1541 erlangte. Der Standort Marburg wurde gewählt, weil die zentral gelegene Stadt seit 1524 als Sitz des Hofgerichts diente und damit auch zum geistigen Mittelpunkt des Landes geworden war. Finanziert wurde die Universität aus dem Besitz auf-

2 Originalwortlaut: DGQD 3, S. 348. 3 Auszüge: KTGQ 3, S. 141–143.

Nürnberg Straßburg Konstanz

Hessen

Universität Marburg

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Melanchthon und der Fortgang der Reformation in Wittenberg

Stipendien

Schulen

gelöster Klöster und sie wurde auch in einem ehemaligen Kloster untergebracht. Einer Universität bedurfte es, um die künftigen Pfarrer auszubilden. Der Bildungsstand der vorreformatorischen Geistlichen war niedrig gewesen, weil die meisten keine Universitätsbildung genossen hatten. Ein Universitätsstudium für alle angehenden Pfarrer war zwar schon in der Mitte des 15. Jahrhunderts gefordert worden, doch die Wirklichkeit sah anders aus. Für die Reformation waren aber gebildete Pfarrer unabdingbar. In Marburg wurden Medizin, Recht und Theologie, also alle damaligen Wissenschaften, gelehrt. Die Sprachen und die Mathematik waren nach mittelalterlicher Sitte in das Grundstudium integriert. Natürlich wurden neben Latein auch Griechisch und Hebräisch unterrichtet. Viele Professoren waren humanistisch geprägt, viele hatten in Wittenberg studiert. Das Wort Gottes sollte nach dem Willen Philipps die oberste Richtschnur für alle Wissenschaften sein. Bei einem Verstoß gegen diese Anordnung drohte den Professoren die Entlassung. Philipp schrieb nicht nur mit seiner Universitätsgründung Geschichte, sondern auch mit der Schaffung eines bislang einzigartigen Stipendienwesens im Jahre 1529. Mittellosen begabten Studenten sollte so ein Studium ermöglicht werden. Von 1546 an lebten die Stipendiaten gemeinsam in einem eigenen Gebäude. Die Marburger Stipendiatenanstalt wurde zum Vorbild für das später gegründete, aber geschichtlich letztlich bedeutendere „Tübinger Stift“. Beide Einrichtungen gibt es in gewandelter Form noch heute. Nicht nur die hohe Bildung hatte der Landgraf im Blick. Er plante vielmehr, das ganze Land mit Bildungseinrichtungen auszustatten, wie es Luther in seinen Reformschriften der zwanziger Jahre vorgeschlagen hatte. In den Dörfern Hessens sollten die Geistlichen Elementarunterricht erteilen und in allen größeren und kleineren Städten sollten Latein- oder Partikularschulen errichtet werden. Für die Mädchen wünschte sich Philipp nach Möglichkeit deutsche Schulen in Städten und größeren Dörfern.

Visitationen in Kursachsen, Aufbau evangelischer Gemeinwesen Die Einführung der Reformation erfolgte durch den Beschluss der jeweiligen Obrigkeiten, also der Fürsten in den Territorien und der Räte in den Städten. Bei der Durchführung und Umsetzung der Reformation griffen die Obrigkeiten der Territorien zu einem alten Instrument kirchli-

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Visitationen in Kursachsen, Aufbau evangelischer Gemeinwesen

cher Kontrolle und Verwaltung, der Visitation. Bischöfe waren seit alters her dazu verpflichtet, die ihnen unterstehenden Gemeinden und ihre Pfarrer zu visitieren, das heißt zu besuchen (lat. visitare = besuchen) und zu kontrollieren. Die Bischöfe in der Zeit um 1500 vernachlässigten diese Aufgabe, aber die Reformatoren entdeckten sie neu und nutzen ihre Möglichkeiten. Freilich waren es nun keine Bischöfe, die ihre Gemeinden und Pfarrer besuchten, sondern Theologen und Juristen im Auftrag des Landesherrn. Doch die Reformatoren erklärten, der Landesherr handle in diesem Fall als Not- oder Ersatzbischof, weil die eigentlich zuständigen Bischöfe versagten. Als Notbischof dürfe und müsse er handeln, weil er als Christ infolge des allgemeinen Priestertums dazu berechtigt und weil er als Fürst infolge der ihm zur Verfügung stehenden Macht dazu befähigt sei. Damit begründete die Reformation schon in den zwanziger Jahren das später sogenannte landesherrliche Kirchenregiment, das den Landesherren, den Obrigkeiten, die Kirchenleitung nach Art eines Bischofs übertrug. Diese Leitungsstruktur hatten die aus der Reformation hervorgegangenen evangelischen Kirchen Deutschlands bis 1918. Sie waren Staatskirchen. Im Einflussbereich Luthers und Melanchthons gab es die ersten Visitationen schon 1525 im Raum Eisenach. 1527 begann die groß angelegte Visitation Kursachsens. Sie wurde zum Vorbild für viele andere Visitationen. Visitationen hatten grundsätzlich eine doppelte Zielrichtung. Zum einen sollte der Besitzstand der Kirche erhoben und ihr Vermögen inventarisiert und neu geordnet werden. Überflüssige Gebäude, seien es Kirchen oder Pfarrhäuser, wurden verkauft oder neuen Verwendungszwecken zugeführt. Kirchen wurden dabei gerne auch in Kornkammern umgewandelt oder schlicht abgerissen. Überzählige wertvolle Abendmahlskelche, häufig aus Gold oder aus Silber, wurden von den Obrigkeiten eingezogen und zu Geld gemacht. Die Durchführung der Reformation wurde dadurch für die Landesherren zu einer durchaus lukrativen Angelegenheit. Die zweite Zielrichtung der Visitationen war die Überprüfung der Pfarrer. Dabei ging es um ihre theologische Einstellung, ihren Bildungsstand und ihre Lebensführung. Erwartet wurde, dass sich die Pfarrer ausdrücklich zur Reformation bekannten. Wer dazu nicht bereit war, wurde entlassen. Der kirchliche Personalbestand wurde gewaltig reduziert. Ämterkumulation war nicht mehr erlaubt. Auf die akademische Ausbildung der Pfarrer wurde geachtet. Neu geordnet wurde auch die Pfarrerbesoldung. Konkrete Einblicke in die örtlichen Verhältnisse haben wir aus dem Jahre 1526. Als damals der Kurfürstliche Rat Georg Spalatin im

landesherrliches Kirchenregiment

Vermögen

Pfarrer

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Melanchthon und der Fortgang der Reformation in Wittenberg

Armenfürsorge

Hospitäler

Schulwesen

Gottesdienst

Auftrag seines Landesherrn die 25 Gemeinden des kursächsischen Amtes Borna visitierte, stellte er fest, dass 14 der 23 befragten Pfarrer evangelisch predigten. Vier Pfarrer waren verheiratet, drei lebten – modern gesprochen – „ohne Trauschein“ mit einer Frau zusammen und fünf waren prinzipiell bereit, in den Stand der Ehe zu treten. Die anderen elf, darunter auch solche, die evangelisch predigten, wollten ehelos bleiben. Ein wichtiger Punkt war die Neugestaltung der Armenfürsorge, verbunden mit einer Neubewertung des Bettelns. Betteln wurde nicht mehr als Ausdruck von Askese angesehen und Almosen waren keine religiös verdienstlichen Werke mehr. Die Reformation bekämpfte den Straßenbettel und befürwortete und organisierte eine geordnete Versorgung der Armen in ihren Heimatgemeinden. Besonders konsequent und vorbildlich verfuhr auch in dieser Frage die Landgrafschaft Hessen. Hier gründete der Landesherr Philipp in Gronau, Haina, Merxhausen und Hofheim in ehemaligen Klöstern Hospitäler. Damit führte er die Armen- und Krankenfürsorge in seinem Land auf eine zu seiner Zeit unbekannte Höhe. Das Schulwesen wurde neu organisiert. Ziel war eine breite Volksbildung. Dazu brauchte man Lehrer, Gebäude und Unterrichtsmaterial. Die Eltern mussten dazu gebracht werden, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Dem dienten Appelle und Predigten, eine förmliche Schulpflicht kam erst sehr viel später. Luther hatte schon 1524 in einer programmatischen Schrift An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes appelliert, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen.4 Zur Neugestaltung des Gottesdienstes gehörten Veränderungen in der Liturgie und die Einführung deutscher Lieder. Besonders beliebt war der Psalmengesang. Den Pfarrern wurden Predigthilfen an die Hand gegeben. Die kirchlichen Feiertage wurden neu geordnet. Eine große Zahl von Feiertagen wurde abgeschafft. Damit förderte die Reformation auch Wirtschaft und Handel. Gottesdienste gab es nur noch mit der Gemeinde zusammen und in deutscher Sprache. Die Predigt war der zentrale Punkt des Gottesdienstes. Die Menschen wurden zum Gottesdienstbesuch angehalten, sogar verpflichtet. Mit der Neugestaltung des Gottesdienstes ging die Umgestaltung kirchlicher Gebäude einher. In den Kirchen wurden überzählige Altäre entfernt, denn Seitenaltäre, an denen Priester Messen ohne Publikum zelebrierten, waren in evangelischen Kirchen nicht mehr sinnvoll. Außerdem wurden Tabernakel und Reliquien beseitigt und

4 Auszüge: DGQD 3, S. 216–219.

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solche Bilder, die mit evangelischen Positionen nicht mehr vereinbar waren, insbesondere Bilder legendärer Heiliger, aber natürlich nicht biblisch legitimierte wie zum Beispiel Bilder und andere Darstellungen des Gekreuzigten, der Evangelisten und von Maria. Trennwände zwischen Kirchenschiff und Chor, sogenannte Lettner, wurden abgerissen. Die alten Kirchen wurden aber weiter benutzt, nur sehr vereinzelt kam es zu Neubauten, bei denen sich evangelische Akzente auch in der Architektur niederschlugen. Allmählich wurde es üblich, die Kirchen mit Bänken auszustatten um den Menschen das Predigthören zu erleichtern. Die Sakramentsverwaltung wurde neu geordnet. Die evangelischen Kirchen zählten zwei, nicht mehr sieben Sakramente. Die Eheschlie- Sakramente ßung, die Beichte, die Ordination, die Firmung und die Krankensalbung gehörten nicht mehr zu den rituellen heiligen Handlungen. Konsequent wurde darauf geachtet, dass Kinder wirklich getauft wurden. Regelmäßig sollten Tauf- und Abendmahlsgottesdienste angeboten werden. Abendmahlsfeiern gab es nur als Gemeindegottesdienste und immer mit Kelch. Ein von Lukas Cranach d. J. um 1547 geschaffener Einblattholzschnitt stellt den neuen evangelischen Gottesdienst dar. Auf der Kanzel, die von Darstellungen der vier Evangelisten geziert wird, steht ein evangelischer Prediger. Er trägt das Antlitz Luthers. Vor sich hat er die geöffnete Bibel, denn evangelische Predigt ist immer Bibelauslegung. Er zeigt auf den gekreuzigten Christus, denn der steht im Zentrum des evangelischen Glaubens. Er ist das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt trägt und den Tod überwindet (vgl. Joh 1,29). Letzteres wird symbolisiert durch ein Lamm mit Kreuz und Siegesfahne auf dem Altar. Den Gläubigen wird von zwei Pfarrern das Abendmahl gereicht, selbstverständlich schriftgemäß in beiderlei Gestalt, als Brot und Wein. Predigt und Abendmahlsfeier sind also die beiden zentralen Elemente des evangelischen Gottesdienstes. Gleichzeitig zeigt das Bild Details der in lutherischen Kirchen üblichen Gewohnheiten. Männer und Frauen sind getrennt. Zu erkennen ist die von ehrbaren Bürgern beim Gottesdienstbesuch getragene Kleidung. Das Abendmahl wird kniend empfangen. Das Brot wird den Abb. 6: Evangelischer Gottesdienst (Lukas Cranach d. J., Kommunikanten vom Pfarrer auf die Wittenberg um 1547)

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Melanchthon und der Fortgang der Reformation in Wittenberg

Frömmigkeit

Ehe

Auflösung der Klöster

Zunge gelegt. Der Kelch wird ihnen ebenfalls vom Pfarrer an die Lippen gesetzt. Die Menschen sollten und wollten den wahren Leib und das wahre Blut Christi nicht in ihre Hände nehmen. Tiefe Ehrfurcht umfing den Umgang mit dem Sakrament des Altars. Alle tranken aus demselben Kelch. Die Verwendung von Gemeinschaftskelchen und Wein war selbstverständlich. Einzelkelche und Traubensaft haben sich erst im ausgehenden 20. Jahrhundert eingebürgert. Die Frömmigkeitspraxis der Menschen bekam eine neue Gestalt. Es war nicht mehr üblich, den Kirchen viel Geld zu stiften im Glauben, sich dadurch einen Platz im Himmel zu sichern. Es gab keine Wallfahrten und keine Anrufung der Heiligen mehr. In den Familien wurden Andachten gehalten. Das Gebet stand im Zentrum der neuen evangelischen Frömmigkeit. Auch das Eheleben wurde neu geregelt. Die Ehe wurde generell frei gegeben, aber auch einem strengen Reglement unterworfen. Vorund außereheliche Beziehungen wurden energisch bekämpft, die Prostitution eingedämmt oder sogar gänzlich verboten. Die Ehe wurde zur Norm. Ein eheloses Leben galt als Ausnahme. In der Ehe gab es eine strenge Unterordnung der Frau unter den Mann. Teil der kirchlichen Umgestaltung war ferner die Auflösung der Klöster. Die ehemaligen Klostergebäude wurden manchmal in Schulen umgewandelt. Die Mönche wurden zu Pfarrern gemacht oder versorgt. Nonnen wurden verheiratet oder gingen zurück zu ihren Eltern. Die Kritik am Mönchtum, die die Reformatoren mit den Humanisten gemein hatten, war einer der wichtigsten und populärsten Ansatzpunkte der Reformation. In der Adelsschrift hatte Luther 1520 scharfe Kritik am Mönchtum geübt und die Auflösung der Klöster angeregt. In seiner ebenfalls einflussreichen Schrift De votis monasticis (Über die Mönchsgelübde) vom Jahre 1521/22 hatte er schließlich die Mönchsgelübde und damit auch seine eigenen Gelübde, die er 1506 abgelegt hatte, für ungültig erklärt. Eine Zukunft für die Klöster sah Luther nur in ihrer Umwandlung in Schulen. Als Folge der Reformation lösten sich nun in vielen Städten die Klöster auf, weil die Mönche und Nonnen davonliefen, oder sie wurden aufgelöst, weil die Obrigkeiten das Klosterleben eindämmen oder ganz unterbinden wollten. Es kam dabei an vielen Orten zu leidvollen, gewaltsamen Szenen. Nur vereinzelt, vor allem im Gebiet des heutigen Niedersachsen, gab es weiterhin Frauenklöster, umgewandelt zu evangelischen Damenstiften, in denen adlige Töchter ein privilegiertes Leben führten. Bei der Visitation Kursachsens wurde schnell klar, dass es notwendig war, den Pfarrern und Lehrern eine Anleitung für ihre Praxis in

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Visitationen in Kursachsen, Aufbau evangelischer Gemeinwesen

die Hand zu geben, welche die theologischen Einsichten der Reformation zusammenfasste und gleichzeitig, im Stile einer Kirchenordnung, Praxisfragen regelte. Melanchthon schrieb deshalb 1527 auf der Grundlage seiner Erfahrungen bei der Visitation des Kurkreises (Wittenberg und Umgebung) zunächst die lateinischen „Visitationsartikel“ (Articuli, de quibus egerunt visitatores in regione Saxoniae), die als Entwurf gedacht waren und ohne sein Zutun gedruckt wurden. Nach der Visitation in Thüringen verfasste er den Unterricht der Visitatoren in deutscher Sprache, der nach offizieller Approbation durch den Kurfürsten und durch Luther im Februar 1528 im Druck erschien. Der Visitationsunterricht beginnt mit einer Vorrede Luthers und behandelt dann nacheinander höchst unterschiedliche Dinge: die evangelisch-theologische Lehre, die Zehn Gebote, das Gebet, das Verhalten des Christen in der Trübsal, die Taufe, das Abendmahl, die Buße, die Beichte, die Genugtuung für die Sünde, das Problem der Kirchenordnung, Ehefragen, den freien Willen, die christliche Freiheit, die Bedrohung durch die Türken, die Ordnung der Gemeindegottesdienste, den Abendmahlsausschluss, die Funktion des Superintendenten, den Aufbau und die Lerninhalte der Schulen. Der Visitationsunterricht war also eine umfassende Kirchen-, Gottesdienstund Schulordnung und beschrieb die mit den Visitationen verbundenen und durch die Visitationen zu erreichenden Neuerungen. An den Anfang seiner Darlegung der Lehre setzte Melanchthon eine Zustandsschilderung, die auf seinen Erfahrungen beruhte. Er berichtete von Pfarrern im Lande, die nur vom Glauben predigten und die Vergebung der Sünden verkündigten, aber einerseits die Frage übergingen, wie man zum Glauben kommen könne, und andererseits nicht über die Notwendigkeit der Buße sprächen. Ohne Buße, so Melanchthon, gebe es keine Vergebung der Sünden. Damit griff er im Grunde auf Luthers erste These von 1517 zurück. Die Menschen würden durch diese falschen Predigten „sicher und furchtlos“. Melanchthon forderte, das Evangelium „ganz“ zu predigen, auch den Bußruf Christi. Die Menschen müssten „fleißig und oft“ zur Buße ermahnt werden, sie sollten aufgefordert werden, ihre Sünden zu bereuen, und ihnen müsse Schrecken vor Gottes Gericht eingejagt werden. Die Prediger sollten nicht nur grobe und offensichtliche Sünden anprangern, sondern ihr Augenmerk auch auf „falsche Heiligkeit“ richten und gerade falsche Heilige hart zur Buße ermahnen. Konkret empfahl Melanchthon den Pfarrern, häufig die Zehn Gebote auszulegen und den Menschen an biblischen und anderen Beispielen zu zeigen, wie Gott strafe. Die Verkündigung des richten-

Unterricht der Visitatoren

Buße

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Melanchthon und der Fortgang der Reformation in Wittenberg

gute Werke

Beichte

freier Wille

den Gottes stehe am Anfang. Danach solle man zur Buße und zur Reue auffordern und vom Glauben predigen, der die Vergebung der Sünden und die Gerechtigkeit schenke. Damit knüpfte Melanchthon an Luthers alte Überlegungen zu „Gesetz und Evangelium“ an (→ Kap. 2). Als „drittes Stück des christlichen Lebens“ brachte Melanchthon dann die „guten Werke“ ins Spiel. Darunter verstand er Keuschheit, Nächstenliebe, Befolgung der Zehn Gebote, ferner das Beten und das rechte Verhalten im Leid. Gute Werke, die Gott geboten hat, „müssen“ geschehen. Der Mensch könne sich mit ihnen zwar nicht das Heil verdienen, aber wer keine guten Werke tue, werde von Gott „hart“ gestraft. Melanchthon riet in diesem Zusammenhang den Pfarrern, grobe, unbußfertige Sünder nach mehrmaliger erfolgloser Ermahnung vom Abendmahl auszuschließen. Zu den groben Sünden rechnete er nicht nur Ehebruch, sondern auch tägliche Völlerei. Konkret äußerte sich Melanchthon auch zur Neugestaltung der Beichte. Obwohl die Beichte als Teil der Buße nicht mehr zu den Sakramenten zählte, weil sie von keiner zeichenhaften Handlung begleitet war, wollten Luther und Melanchthon nicht nur an der Notwendigkeit der Buße, sondern auch an der Pflicht zur Beichte festhalten. Die Menschen sollten weiter dazu angehalten werden, beim Pfarrer zu beichten, aber es sollte nicht mehr notwendig sein, alle Sünden aufzuzählen, wie es zuvor verlangt worden war. Beichten solle man die Sünden, die einen besonders beschwerten, oder Fälle, in denen man Rat brauche. Auch vor der Teilnahme am Abendmahl sollten die Gemeindeglieder zu einem kurzen Verhör beim Pfarrer erscheinen. Beobachtungen bei seinen Visitationsreisen veranlassten Melanchthon dazu, auch die zwischen Luther und Erasmus heiß diskutierte Willensfrage neu aufzurollen. In den Gemeinden musste er feststellen, dass vom freien Willen nicht korrekt gelehrt werde. Der Visitationsunterricht bemüht sich, die Pfarrer auch in dieser Frage zu unterweisen und legt dar, dass der Mensch aus eigener Kraft äußerlich gute, gottgefällige Werke tun oder böse Werke unterlassen, also „weltliche Frömmigkeit“ praktizieren könne, allerdings nur auf eine unvollkommene Weise, weil der schwache und elende Mensch vom Teufel gebremst werde. Deshalb brauche er dabei Gottes Hilfe, die durch das Gebet erreicht werden könne. Der Mensch sei aber nicht frei, sein Herz zu reinigen und göttliche Gaben zu erlangen, er könne sich nicht durch einen eigenen Entschluss zur wahrhaftigen Reue über die Sünde, zu wahrer Gottesfurcht, zu wahrhaftigem Glauben, zu herzlicher Liebe, zur Keuschheit, zum Verzicht auf Rachegefühle und Neid, zur wahrhaftigen Geduld, zum sehnsüchtigen Beten brin-

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Der zweite Reichstag von Speyer und der Protest (1529)

gen. Dies alles, was Melanchthon als „christliche Frömmigkeit“ bezeichnet, könne ihm nur Gott selbst schenken. Der Mensch könne jedoch Gott darum bitten. Durch sein Gebet kann der Mensch aus der Sicht Melanchthons also dabei mitwirken, zum Glauben zu gelangen. Ferner wurde die von Luther 1520 proklamierte Freiheit des Christenmenschen in den Gemeinden häufig grob missverstanden. Melanchthon traf auf Christen, die Obrigkeiten ablehnten oder meinten, Inbegriff christlicher Freiheit sei es, allezeit Fleisch zu essen. Melanchthon unterscheidet in Anlehnung an Luther drei Aspekte der christlichen Freiheit. Der erste und wichtigste ist, dass der Christ Vergebung der Sünden erlangt durch Christus, ohne eigenes Verdienst und Zutun. Zweitens sei der Christ natürlich auch nicht mehr an die Zeremonialgesetze des Alten Testaments gebunden. Drittens sei der Christ auch frei von kirchlichen Ordnungen, insofern sie für ihn nicht heilsrelevant seien. Aber wenn sie nützlich seien, sollten Vorschriften wie die Sonntagsfeier dennoch eingehalten werden. Die christliche Freiheit hatte für Melanchthon wie für Luther also einen rein religiösen Charakter. Gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Konsequenzen, wie sie 1524/25 die Bauern daraus gezogen hatten, waren für ihn nicht damit verbunden. Melanchthons Visitationsartikel führten zum ersten großen Streit innerhalb des Luthertums, wegen der geforderten Gesetzespredigt und den verlangten guten Werken. Johann Agricola, ein Schüler und Freund Luthers, Lehrer in Eisleben, griff Melanchthon scharf an und es kam zum später sogenannten ersten antinomistischen Streit. Ein zweiter, erneut ausgelöst von Agricola, folgte 1537 (→ Kap. 11).

Freiheit

antinomistischer Streit

Der zweite Reichstag von Speyer und der Protest (1529) In den späten zwanziger Jahren machte die Reformation weitere Fortschritte. Erneut wurde sie durch die außenpolitische Situation begünstigt. Es ging weiter um die Macht in Norditalien. Die „Heilige Liga von Cognac“ setzte den Kaiser unter Druck. Der 2. Italienische Krieg begann und dem Kaiser waren innenpolitisch erneut die Hände gebunden. Karl V. suchte der Liga militärisch Herr zu werden. Dabei kam es zur Plünderung Roms (ital.: Sacco di Roma) durch kaiserliche Truppen. Am 6. Mai 1527 griffen kaiserliche Truppen die Heilige Stadt an. Dabei fiel der Anführer und die Soldaten gingen zu Plünderungen über. Papst Clemens VII., ein Neffe Leos X., flüchtete in die Engelsburg, musste sich aber am 5. Juni ergeben und kam in Gefangen-

Plünderung Roms

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Melanchthon und der Fortgang der Reformation in Wittenberg

Packsche Händel

Reichstag in Speyer

Türken

schaft, aus der er sich erst am 6. Dezember loskaufen konnte. Von Karl V. war diese Eskalation nicht gewollt gewesen, aber sie lag in der Konsequenz seiner jahrelangen politischen Konflikte mit dem Papst. Luther beobachtete die Ereignisse mit Genugtuung und hielt das Ende des Papsttums für gekommen. In dem aktuellen Geschehen sah er einen Beweis für die weise göttliche Geschichtslenkung, weil ausgerechnet der Mann, der ihn als Kaiser im Auftrag des Papstes verfolgte, nunmehr im Sinne Luthers das Papsttum verwüstete. Auf jeden Fall konnte es, solange sich Kaiser und Papst bekriegten, zu einem entschlossenen Vorgehen gegen die Evangelischen in Deutschland nicht kommen Die Reformation breitete sich nicht nur aus und erstarkte, sondern die evangelischen Territorien und Städte schlossen sich jetzt auch zu militärischen Bündnissen zusammen, teilweise als Reaktion auf zuvor entstandene altgläubige Bündnisse zur Durchsetzung des Wormser Edikts. Ein solches war erstmals 1524 in Regensburg geschlossen worden, es folgte ein weiteres 1525 in Dessau. 1526 wurde in Torgau ein erstes evangelisches Bündnis ins Leben gerufen, von Hessen und Kursachsen. 1527/28 kam es zu einem ersten kleinen Reformationskrieg, der als „Packsche Händel“ in die Geschichte einging. Otto von Pack war der Auslöser, der Vizekanzler Herzog Georgs von Sachsen. Er hatte Philipp von Hessen berichtet, Ferdinand von Österreich sowie die Länder Brandenburg, Mainz, Bayern und noch andere hätten ein Kriegsbündnis gegen die Evangelischen geschlossen, was aber nicht stimmte. Philipp von Hessen und Johann von Sachsen schlossen darauf ein Gegenbündnis. Philipp begann sogar damit, Krieg gegen Mainz und Würzburg zu führen. Dann stellte sich aber heraus, dass alles erfunden war. Die Altgläubigen behaupteten, Philipp selbst habe das Ganze erdichtet, um einen Krieg anzetteln zu können. Vom 15. März bis zum 22. April 1529 tagte zum zweiten Mal ein Reichstag in Speyer. Der Kaiser war wieder nicht dabei, da er immer noch in Italien zu tun hatte. Der Krieg mit dem Papst und mit Frankreich war noch nicht beendet. Hauptthema des Reichstags war die Türkenfrage unter militärischen und finanziellen Aspekten. Die Türken unter dem Osmanen-Herrscher Süleiman II., die in den zwanziger Jahren immer weiter Richtung Westen vorgestoßen waren, belagerten 1529 erstmals Wien. 1521 war Belgrad türkisch geworden und 1526 hatten die Türken Ungarn in der Schlacht bei Mohács an der Donau besiegt. Karl V. hatte keine Zeit, nach Speyer zu reisen, aber er hatte daran gedacht, dem Reichstag schriftlich einige Vorschläge zu unterbreiten.

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Der zweite Reichstag von Speyer und der Protest (1529)

Es waren gütliche Vorschläge, denn er wollte einen Religionsvergleich und ein Nationalkonzil. Aber seine Vorlagen trafen verspätet in Speyer ein. Ferdinand von Österreich (→ Kap. 2), der seit 1521 Reichsstatthalter war, hatte bereits eigene, ganz und gar nicht gütliche Vorschläge eigenmächtig als die des Kaisers ausgegeben. Ferdinand konnte sich durchsetzen. Den Reichstagsabschied von 1526, den die Protestanten zu ihren Gunsten frei ausgelegt hatten, ließ er wieder aufheben. Ein allgemeines Konzil wurde zwar in Aussicht gestellt, aber bis dahin sollten alle Neuerungen ausdrücklich verboten sein. Die Messe war überall wieder zu dulden. Bei Zuwiderhandlungen wurde mit der Acht gedroht.5 Mit dieser Beschlussfassung war allerdings ein schwerwiegendes juristisches Problem verbunden: Konnte ein einstimmig gefasster Reichstagsbeschluss durch eine neue Mehrheit gegen den Willen einer Minderheit wieder aufgehoben werden? Das hatte es noch nie gegeben. Die Evangelischen protestierten. Viermal, am 12., 19., 20. und 22. April protestierten die unterlegenen evangelischen Stände und formulierten am 25. April eine förmliche und feierliche Appellation an Kaiser und Konzil, in der sie erklärten, in Glaubenssachen dürfe nicht durch Mehrheitsvoten entschieden werden.6 Jeder müsse selbst vor Gott Rechenschaft ablegen und sein Verhalten verantworten. Die Protestierenden bestritten ganz grundsätzlich dem Reichstag die Kompetenz, strittige Fragen des Glaubens gegen den Willen auch nur eines einzigen Reichsstandes zu entscheiden. Im Rückblick erweist sich diese Positionierung der Evangelischen als ein erster Schritt auf dem langen Weg zur Säkularisierung des Reiches, das 1529 noch einmütig als christlich und „heilig“ betrachtet wurde. Neunzehn Unterzeichner hatte die „Protestation“, wegen der die Evangelischen, allerdings erst viel später, den Beinamen Protestanten bekommen haben. Zu ihnen gehörten Kursachsen, Hessen, Brandenburg-Ansbach, Braunschweig-Lüneburg, Anhalt, Straßburg, Nürnberg, Ulm, Konstanz und weitere Städte. Der Protest hatte keinen Erfolg, aber die Evangelischen hatten Glück. Die Speyerer Beschlüsse wurden nicht umgesetzt, sie hatten keine Folgen für die Reformation. Aber den Evangelischen wurde ihre bedrohliche Lage klar. Neue Bündnispläne wurden verfolgt. Kursachsen, Hessen, Nürnberg, Straßburg und Ulm schlossen, da sie ja mit der Acht bedroht waren, ein Geheimbündnis. Hessen wollte ferner die Eidgenossen gewinnen. Es gab sogar Pläne, auch Frank5 Auszüge: KTGQ 3, S. 151 f. 6 Auszüge: DGQD 3, S. 349–353; KTGQ 3, S. 150.

Protest

Protestanten

Bündnispläne

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Melanchthon und der Fortgang der Reformation in Wittenberg

reich und England einzubeziehen und so ein breites Bündnis gegen den allzu mächtigen, europaweit herrschenden Karl V. und sein mächtiges Haus, das Geschlecht der Habsburger, aufzustellen. Kerndaten der Reformationsgeschichte 1517 1521 1526 1529 1530 1546/47 1552 1555

Thesen-„Anschlag“ Reichstag von Worms: Luther geächtet 1. Reichstag von Speyer 2. Reichstag von Speyer: Protestation Reichstag von Augsburg: Confessio Augustana Schmalkaldischer Krieg Fürstenkrieg Reichstag von Augsburg: Religionsfriede

Augsburger Reichstag und Augsburger Bekenntnis (1530)

Confessio Augustana

Während der Reichstag zu Speyer tagte, konnte der Kaiser endlich seine außenpolitischen Probleme lösen und schloss im Sommer des Jahres 1529 einen dauerhaften Frieden sowohl mit Frankreich (Friede von Cambrai) als auch mit dem Papst (Friede von Barcelona). Nun hatte er Zeit und Gelegenheit, sich selbst um die Religionsfrage zu kümmern. Wieder wurde ein Reichstag einberufen, der diese zu einem Hauptthema machen sollte. Als Ort wurde Augsburg gewählt. Im Vorfeld des für 1530 anberaumten Reichstages forderte der Kaiser die Evangelischen auf, der Reichsversammlung ihren Glauben darzulegen. Er wolle den Zwist friedlich beilegen. Die Evangelischen schöpften Hoffnung, vom Kaiser akzeptiert zu werden, und gingen mit großem Eifer an die Ausarbeitung eines Textes, den man als gemeinsames Glaubensbekenntnis präsentieren konnte. Es entstand das Augsburger Bekenntnis, lateinisch Confessio Augustana oder kurz CA genannt. Melanchthon kam dabei die Hauptverantwortung zu, weil Luther aus Sicherheitsgründen nicht nach Augsburg reisen konnte. Luther näherte sich dem Tagungsort so weit es ging und nahm Quartier auf der Coburg im heutigen nördlichen Bayern, die damals zum Kurfürstentum Sachsen gehörte. Die Hoffnungen der Evangelischen wurden rasch zunichte gemacht, da sich der Kaiser sofort deutlich als Anhänger des alten Glaubens gebärdete, evangelische Predigten in der Stadt verbot und die Teilnahme an einer Fronleichnamsprozession anordnete. Melanchthon arbeitete mit anderen evangelischen Theologen und

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Augsburger Reichstag und Augsburger Bekenntnis (1530)

in ständiger Abstimmung mit den evangelischen Fürsten am Text des Bekenntnisses. Er wollte der anderen Seite signalisieren, dass die Reformation in ihren Grundsätzen auf dem Boden des allgemein Christlichen stehe, in zentralen Punkten also Übereinstimmung herrsche und nur dort an der alten Kirche Kritik geübt werde, wo sich „Missbräuche“ eingeschlichen hätten. Das Bekenntnis hat deshalb eine markante Zweiteilung. Im ersten Teil werden Themen wie die Gotteslehre und das Sündenverständnis, aber auch die Lehre von der Kirche und von den Sakramenten verhandelt, insgesamt einundzwanzig Punkte, in denen – angeblich – Übereinstimmung herrsche. Im zweiten werden in nur sechs Punkten strittige Fragen wie der Laienkelch, das Zölibat, die Messopferlehre (die Lehre, bei der Messe werde das Opfer Christi wiederholt) und die Mönchsgelübde diskutiert. Dieses Vorgehen, das man als geschicktes Taktieren oder als ernsthaftes Angebot zum Kompromiss ansehen kann, war in Augsburg jedoch nicht erfolgreich. Das Bekenntnis wurde zwar am 25. Juni 1530 vor dem Kaiser verlesen, aber die altgläubigen Theologen und ihnen folgend der Kaiser gaben ihm in ihrer Confutatio (Widerlegung)7 nur an einigen Punkten Recht, wiesen es insgesamt zurück und bekräftigten die Verurteilung Luthers und seiner Anhänger. Erst 450 Jahre später, im Umfeld des Jubiläums 1980, haben anerkannte Theologen der römisch-katholischen Kirche zugestanden, dass die CA Positionen formuliere, denen sie zustimmen könnten. 1530 reagierten die Evangelischen mit einer Apologie (Verteidigung) der Confessio Augustana,8 die aber kein Gehör fand. Die Evangelischen zogen in Augsburg allerdings nicht an einem Strang. Straßburg legte in Kooperation mit den Reichsstädten Konstanz, Memmingen und Lindau ein eigenes Bekenntnis vor, kurz als „Vierstädtebekenntnis“ (Confessio Tetrapolitana)9 bezeichnet. Die Confessio Augustana wurde vor allem von Kursachsen, Hessen und Nürnberg verantwortet und fand ferner Unterstützung beim Markgrafen von Brandenburg-Ansbach, bei den Herzögen von Lüneburg und dem Fürsten von Anhalt sowie der Reichsstadt Reutlingen. Hinzu kamen noch während des Reichstags Windsheim, Heilbronn, Kempten und Weißenburg.

7 Auszüge: KTGQ 3, S. 175–178. 8 BSLK, S. 139–404. 9 Auszüge: KTGQ 3, S. 174 f.

Confutatio

Apologie

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Melanchthon und der Fortgang der Reformation in Wittenberg ►

Aus dem Augsburger Bekenntnis (25. 6. 1530):10 Von der Kirche

Es wird auch gelehrt, dass allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben müsse, welche die Versammlung aller Gläubigen ist, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut des Evangeliums gereicht werden. Denn dies ist genug zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirchen, dass da einträchtig nach reinem Verstand [= Verständnis] das Evangelium gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden. Und es ist nicht nötig zur wahren Einigkeit der christlichen Kirche, dass allenthalben gleichförmige Zeremonien, von den Menschen eingesetzt, gehalten werden, wie Paulus spricht zu den Ephesern (4,5): „Ein Leib, ein Geist, wie ihr berufen seid zu einerlei Hoffnung eurer Berufung; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe“. (Art. 7) Vom Kirchenregiment

Vom Kirchenregiment wird gelehrt, dass niemand in der Kirche öffentlich lehren oder predigen oder Sakramente reichen soll ohne ordentliche Berufung. (Art. 14) Von beiderlei Gestalt des Sakraments

Den Laien wird bei uns beiderlei Gestalt des Sakraments gereicht, aus dieser Ursache: Denn dies ist ein klarer Befehl und Gebot Christi, Mt 26,27: „Trinket alle daraus!“ Da gebietet Christus mit klaren Worten von dem Kelch, dass sie alle daraus trinken sollen. Und damit niemand diese Worte anfechten und glossieren [= auslegen] könne, als gehöre es den Priestern allein zu, so zeigt Paulus 1 Kor 11,26 an, dass die ganze Versammlung der Korintherkirche beiderlei Gestalt gebraucht hat. Und dieser Brauch ist lange Zeit in der Kirche geblieben, wie man durch die Historie und der Väter Schriften beweisen kann. Cyprianus gedenkt [= erwähnt] an vielen Orten, dass zu der Zeit den Laien der Kelch gereicht sei. So spricht Sankt Hieronymus, dass die Priester, die das Sakrament reichen, dem Volk das Blut Christi austeilen. So gebietet Gelasius, der Papst selbst, dass man das Sakrament nicht teilen soll. Man findet auch nirgends einen Kanon [= Gesetz], der da gebietet, allein eine Gestalt zu nehmen. Es kann auch niemand wissen, wann oder durch wen diese Gewohnheit, eine Gestalt zu nehmen, eingeführt [worden] ist, wiewohl der Kardinal Cusanus [Nikolaus von Kues] gedenkt [= erwähnt], wann diese Weise approbiert sei. Nun ist öffentlich [= ganz klar], dass solche Gewohnheit wider Gottes Gebot, auch wider die alten Canones [= Regeln] eingeführt, unrecht ist. Deshalb hat sich nicht gebührt, derjenigen Gewissen, die das heilige Sakrament nach Christi Einsetzung zu gebrauchen begehrt haben, zu beschweren und sie zu zwingen, wider unseres Herrn Christi Ordnung zu handeln. Und weil die Teilung des Sakraments der Einsetzung Christi entgegen ist, wird auch bei uns die übliche Prozession mit dem Sakrament unterlassen. (Art. 22)

10 Vollständig: BSLK, S. 31–137; Auszüge: KTGQ 3, S. 170–172.

Schmalkaldischer Bund und Schmalkaldische Artikel

Im Zusammenhang mit und im Anschluss an das Augsburger Bekenntnis hat Melanchthon die für das evangelische Glaubensverständnis fundamentale Rechtfertigungslehre in klaren Begriffen ausformuliert. Das von Melanchthon begründete sogenannte forensische Verständnis der Rechtfertigung setzte sich durch. Es besagt: Gott rechtfertigt den Menschen, indem er ihn gerecht spricht, wie ein Richter einen Angeklagten frei spricht (lat. forum = Gerichtsplatz). Die Rechtfertigung ist also ein Wortgeschehen, bei dem Gott an dem sündigen Menschen gnadenhaft eine „Anrechnung der Gerechtigkeit Christi“ (lat.: imputatio iustitiae Christi) vollzieht. Deshalb wird auch von einer imputativen Rechtfertigungslehre gesprochen. Umgestaltet wird dabei das Gottesverhältnis des Menschen, nicht sein sittlicher Zustand. Dagegen hatte das Mittelalter die effektive Rechtfertigung gelehrt, eine Gerechtmachung und Umgestaltung des Menschen, die mit einem neuen Habitus (Wesensart), nämlich dem Habitus der Liebe, verbunden sei. Das „sola gratia“ und das „solus Christus“ wurden von Melanchthon streng gewahrt. Jeder Beitrag, jedes Verdienst des Menschen ausgeschlossen. Ein Problem war freilich die juristische Terminologie und die Trennung von vorausgehender Rechtfertigung und nachgeordneter Heiligung, die durch die Predigt des göttlichen Gesetzes erreicht werden musste.

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Rechtfertigungslehre

Schmalkaldischer Bund und Schmalkaldische Artikel In Augsburg standen die Signale nach dem Scheitern des Reichstages auf Sturm. Die Evangelischen fürchteten, der Kaiser und die altgläubigen Fürsten würden mit Waffengewalt wider sie vorgehen. Aus diesem Grund wurden neue Pläne für ein Verteidigungsbündnis geschmiedet, das am 27. Februar 1531 zu Stande kam und, weil der Verhandlungsort die Stadt Schmalkalden am Südwest-Abfall des Thüringer Waldes war, als Schmalkaldischer Bund bezeichnet wurde. Der Name und Tagungsort Schmalkalden war Ausdruck der Tatsache, dass Hessen und Kursachsen die beiden wichtigsten Länder der Reformation waren. Schmalkalden lag auf hessischem Gebiet in einer Gegend, wo sich die beiden Territorien berührten. Den Theologen, allen voran Luther und Melanchthon, waren diese militärischen Pläne der Fürsten allerdings zunächst alles andere als genehm. Ein Grundprinzip der Wittenberger Reformation war seit den Unruhen 1521/22, dass mit dem Wort, nicht mit Händen und Fäusten oder gar mit Waffen gekämpft werden sollte. Außerdem wurden generell die politischen Obrigkeiten als von Gott eingesetzt anerkannt und jedes Widerstandsrecht abgelehnt, selbst gegen Tyrannen.

Widerstandsrecht

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Melanchthon und der Fortgang der Reformation in Wittenberg

Nürnberger Anstand Württemberg

Konzil

Vor diesem Hintergrund schien es problematisch, nun einem Militärbündnis der Evangelischen gegen den Kaiser zuzustimmen. Doch Luther und Melanchthon ließen sich von den Politikern und Juristen überzeugen, dass das Bündnis ja nur im Sinne der Notwehr der Verteidigung der Menschen, nicht der Ausbreitung der Reformation diene und außerdem der Kaiser als gewählte Obrigkeit seinen Anspruch auf Gehorsam verliere, wenn er seine Macht missbrauche. Entgegen den allgemeinen Erwartungen und Befürchtungen kam es jedoch nicht zum Krieg, sondern es kehrte wieder Ruhe ein und die Reformationsbewegung nahm erneut an Kraft zu. Der Kaiser hatte Wichtigeres zu tun als die Reformation zu bekämpfen: Die Türken bedrohten das Reich immer stärker. Alle militärischen und finanziellen Anstrengungen mussten darauf ausgerichtet werden, diese Gefahr abzuwenden. Aus diesem Grund kam es bei einem Reichstag in Nürnberg im Jahre 1532 zu einem Schulterschluss zwischen den Evangelischen und dem Kaiser: Das Wormser Edikt und die mit ihm verbundene Bedrohung der Evangelischen wurde ausgesetzt („Nürnberger Anstand“). Als großes und bedeutendes Territorium schloss sich das Herzogtum Württemberg im Jahre 1534 der Reformation an. Philipp von Hessen führte den wegen Mordes und Landfriedensbruchs aus seinem Land vertriebenen Herzog Ulrich nach Württemberg zurück. Philipp scheute sich nicht, dafür die Unterstützung des katholischen Frankreichs in Anspruch zu nehmen, das ein Interesse an der Zurückdrängung der Habsburger hatte. Ulrich war im Exil Anhänger der Reformation geworden. 1536 wurde Württemberg Mitglied des Schmalkaldischen Bundes. Im Frühjahr 1535 kündigte Papst Paul III. die Einberufung eines Konzils nach Mantua an, das die Glaubensfrage behandeln und lösen sollte. Eine friedliche Einigung schien wieder in Sicht. Doch Luther und Melanchthon waren hinsichtlich des Konzils und seiner Erfolgsaussichten skeptisch. Anlässlich einer Bundesversammlung in Schmalkalden im Februar 1537 legte Luther ein Privatbekenntnis vor, das die evangelische Lehre pointiert und – vor allem gegenüber dem Papsttum – unversöhnlich formulierte, die später sogenannten Schmalkaldischen Artikel,11 die, obwohl sie kein offizielles Bekenntnis der Verbündeten waren, neben der CA und anderen Texten Teil der lutherischen Bekenntnisschriften geworden sind. Melanchthon hat damals, Luther widersprechend, erklärt und zu Papier gebracht, er könne einen Papst als Oberhaupt der Kirche akzeptieren, wenn dieser evangelische Lehre zulasse. 11 BSLK, S. 405–468; Auszüge: KTGQ 3, S. 185–189.

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Luthers letzte Jahre

Die Türkengefahr interpretierten Melanchthon und Luther auf eigene Weise: Die Türken seien die Zuchtrute Gottes, mit der Gott die sündige abendländische Christenheit bestrafe. Die militärische Abwehr im Äußeren sei zwar richtig, aber entscheidend seien Buße und Umkehr im Innern.

Türken

Luthers letzte Jahre Luther war an Wittenberg und an das Kurfürstentum Sachsen gebunden, denn nur dort war er sicher. Wenn Luther 1526 oder 1529 nach Speyer oder 1530 nach Augsburg gereist wäre, hätten ihn altgläubige Obrigkeiten unterwegs festgenommen und er wäre über kurz oder lang auf dem Scheiterhaufen geendet. Der Reformator hatte jedoch anderes im Sinn als ein Märtyrer zu werden. In Wittenberg ging er weiter seinen Lehrverpflichtungen nach und legte die Bibel aus, predigte auch noch regelmäßig und griff in reformatorische Auseinandersetzungen hier und da durch Schriften ein. Außerdem verfasste er zahlreiche Briefe und Gutachten, mit denen er andernorts Einfluss nahm. Zu seinem Spätwerk zählen ferner hasserfüllte Schriften über und gegen die Juden (→ Kap. 14). Von Krankheiten gezeichnet, in seinem Wesen ungeduldig und jähzornig geworden, starb Luther am frühen Morgen des 18. Februar 1546 in Eisleben, zufällig in seinem Geburtsort, wohin er gereist war, um einen Streit unter den Mansfelder Grafen zu schlichten. Begraben wurde Luther jedoch nicht dort, sondern in Wittenberg, im Innern der Schlosskirche, wo sein Grab noch heute besucht werden kann. Melanchthon hielt eine Begräbnisrede, stellte Luther in eine Reihe mit großen Gestalten der Christentumsgeschichte wie Augustin von Hippo und Bernhard von Clairvaux und versäumte nicht, die Wittenberger Trauergemeinde darauf hinzuweisen, dass der Tod großer Männer immer großes Unheil ankündige. Wichtige, lesenswerte Schriften Luthers 1517 1519/20 1520 1520 1520 1522 1525 1529

Thesen zu Buße und Ablass Sermone (Erbauungsschriften) An den christlichen Adel deutscher Nation Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche Von der Freiheit eines Christenmenschen Das Neue Testament in Deutsch („Septembertestament“) De servo arbitrio Katechismen

18. Februar 1546

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Melanchthon und der Fortgang der Reformation in Wittenberg

Luther war eine prägende Gestalt, prägender als alle anderen großen Reformatoren. Luther war aber auch eine ambivalente Gestalt, ambivalenter als alle anderen großen Reformatoren. Das hängt unter anderem mit der Tatsache zusammen, dass Luther anders als alle anderen großen Reformatoren lange, sehr lange als Mönch gelebt hatte. Als er Reformator wurde, war er noch Mönch, und in Einzelaspekten seines Denkens und seiner Mentalität war er nachhaltig, mitunter bleibend monastisch geprägt. Dazu gehören seine strikte Bußtheologie, seine rigorose Trennung zwischen der Welt und dem Gottesreich, seine „realistische“, die „Realpräsenz“ von Leib und Blut Jesu Christi betonende Abendmahlsfrömmigkeit, seine zynische Frauenfeindlichkeit und sein blinder Judenhass.

Die Verbreitung des Luthertums

Städte

Österreich

Im Jahre 1530 gehörten zur Reformation die Territorien Kursachsen, Hessen, Preußen, Braunschweig-Lüneburg, Brandenburg-Ansbach und Pfalz-Zweibrücken sowie die Städte Magdeburg, Stralsund, Celle, Goslar, Braunschweig, Göttingen, Bremen, Hamburg, Riga, Nürnberg, Straßburg, Reutlingen, Kempten, Memmingen, Konstanz, Lindau und einige weitere. Württemberg wurde 1534 evangelisch, Brandenburg schloss sich 1535 der Reformation an und das Herzogtum Sachsen 1539. Die Kurpfalz kam 1546 hinzu. Das Augsburger Bekenntnis erwies sich als integrierende Kraft. Die Lutherischen bezeichneten sich mit Bezug auf dieses auch als Augsburger Religionsverwandte. In der Schweizer Eidgenossenschaft hatte sich die Reformation bereits in Basel, Zürich, Bern und schließlich auch in Genf etabliert, ging aber eigene, von Luther abweichende Wege. Auch einige der genannten süddeutschen Städte standen zeitweise unter dem Einfluss der Schweizer Reformation. In Österreich, dem Herrschaftsgebiet Erzherzog Ferdinands, schlug das Luthertum ebenfalls Wurzeln und fand besonders im Adel Resonanz. Kleine evangelische Gemeinden bildeten sich in Nieder- und Oberösterreich sowie in der Steiermark, in Kärnten und in Krain. Sie blieben aber immer in der Minderheit und Phasen der Tolerierung und der Verfolgung wechselten sich ab. Sogar im Erzbistum Salzburg konnte eine lutherische Minderheit jahrhundertelang überleben. In Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland fasste die Reformation ebenfalls in lutherischer Form Fuß. Norwegen war von 1449–1814 zu Dänemark gehörig und Däne-

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Die Verbreitung des Luthertums

mark beherrschte auch die Grafschaften Schleswig und Holstein im heutigen nördlichen Deutschland. In Dänemark gab es einen starken humanistischen Reformkatholizismus, der auch vom Königshaus gefördert wurde. Bereits von 1520 an fand die Reformation Resonanz, auch bei König Christian II., der von 1513–1523 regierte. Bahnbrechend war von 1525 an die Reformation in Haderslev. An mehreren Orten des Landes entstanden evangelische Gemeinden, die toleriert wurden. 1526/27 vollzog Dänemark einen Bruch mit dem Papst unter König Frederik I., der von 1523–1533 regierte. König und Adel übernahmen die Besetzung der Bischofsstühle. Die Duldung der evangelischen Gemeinden wurde fortgesetzt. 1534–1536 kam es zum Bürgerkrieg, allerdings nicht aus religiösen Gründen. Der bereits lutherisch gesinnte Christian III. wurde nun König. 1536 erfolgte die endgültige Durchführung der Reformation durch Christian III. Wichtige Schritte waren die Absetzung aller Bischöfe, der Einzug des Bischofsguts durch die Krone, das Verbot der Bettelorden. Die Klöster wurden beibehalten, aber evangelisch umgestaltet. 1537 wurde Johannes Bugenhagen, der aus Pommern stammende langjährige Wittenberger Stadtpfarrer, nach Dänemark gerufen. Er krönte den König und setzte sieben lutherische Superintendenten ein, die bald schon wieder Bischöfe genannt wurden. Die Universität von Kopenhagen wurde zur lutherischen Staatsuniversität. Die führenden Männer der dänischen Kirche hatten in Wittenberg studiert. 1538 gab sich Dänemark eine Kirchenordnung. Die dänische Kirche gewann eine durch und durch lutherische Prägung. Es entstand eine strenge Staatskirche, die auch vor Gewissenszwang nicht zurückschreckte. Einheitlichkeit in Lehre und Kult war selbstverständlich. Der Gottesdienst wurde in Anlehnung an Luthers Deutsche Messe gefeiert. Es gab eine eigene Bibelübersetzung und ein eigenes Gesangbuch. Im Jahre 1526 trat im norwegischen Bergen der Mönch Antonius als evangelischer Prediger auf. Erste evangelische Gottesdienste wurden gefeiert. Als 1536 Christian III. sein Amt antrat, floh der altgläubige norwegische Erzbischof nach Rom. Die alten Bischöfe wurden abgesetzt, das Kirchengut vom Staat eingezogen. Die offizielle Einführung der Reformation erfolgte 1537. In Bergen wurde ein von Bugenhagen ordinierter Superintendent eingesetzt. Der Abschluss der Reformation erfolgte 1607 durch die Einführung einer eigenen norwegischen Kirchenordnung. Auch in Norwegen etablierte sich ein strenges Luthertum. Das Land brachte bedeutende Kirchenlieddichter hervor, aber keine großen Theologen. Von Norwegen aus erfolgte die Missionierung der Lappen im 17. Jahrhundert.

Dänemark

Norwegen

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Melanchthon und der Fortgang der Reformation in Wittenberg Schweden

Finnland

Auch Schweden und mit ihm Finnland wurde im späten Mittelalter von Dänemark beherrscht. Dagegen gab es in Schweden jedoch Widerstand. Die Kirche hatte starke wirtschaftliche und politische Macht. Sie stellte sich teilweise auf die Seite der nationalen, antidänischen Opposition. 1520 endete ein Kampf um die Krone mit einem Blutbad. Auch Bischöfe wurden ermordet. In der Folge errichtete die antidänische Bewegung in Schweden ein nationales Königtum mit einer Nationalkirche. König war von 1523–1560 Gustav I. Wasa. Führende Männer aus der Umgebung des Königs, darunter Olaus Petri, der in Wittenberg studiert hatte, führte die Reformation durch. 1527 brach der Reichstag formell mit Rom. Die Kirche wurde aber nicht in eine strenge Staatskirche umgewandelt, sondern behielt eine partielle Eigenständigkeit. Starke deutsche Einflüsse gab es, insbesondere aus der Umgebung Melanchthons. Ein gewisser Widerstand gegen den neuen Weg hielt sich in der Bevölkerung. Erst 1571 kam es zur Schaffung einer Kirchenordnung. Lange Zeit blieb Schweden stark von Wittenberg abhängig. Die Universität Uppsala entstand erst im 17. Jahrhundert. Kirchengeschichtlich wichtig wurde Schweden nach 1618 für das Überleben des Protestantismus im Dreißigjährigen Krieg. Gustav I. Wasa brachte die Reformation in den dreißiger Jahren auch nach Finnland. Theologisch orientierten sich die finnischen Reformatoren, von denen viele in Wittenberg bei Melanchthon studiert hatten, ebenfalls am Luthertum, liturgisch gingen sie einen eigenen, konservativen Weg. Im 17. Jahrhundert wurden alle noch verbliebenen katholischen Christen des Landes verwiesen, weiter toleriert wurden jedoch die russisch-orthodoxen. In Schweden wurde die Staatskirche im Jahre 2000 abgeschafft. In Dänemark und Finnland existiert sie noch heute. In Norwegen entschied sich die Bevölkerung 2007 gegen ihre Abschaffung.

Überblick: Erfolge und Folgen der Reformation

Die Reformation war erfolgreich und folgenreich. Zu den hauptsächlichen, tiefgreifenden und nachhaltigen Folgen gehörten: ► die dauerhafte Spaltung der abendländischen Christenheit, eine organisatorisch-institutionelle und eine theologische Spaltung. ► als wichtigste geistliche Errungenschaft die Wiederherstellung einer unmittelbaren Gottesbeziehung des Einzelnen, der keine Heiligen als Fürsprecher und keine Priester als Mittler mehr brauchte. Jeder konnte und durfte in der Bibel lesen und nach ihrer Relevanz für das eigene Leben fragen und das persönliche Heilsangebot des christlichen Glaubens stand wieder im Vordergrund der Verkündigung. Da

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Literatur





► ►







Autonomie, Freiheit und Souveränität des Subjekts zu den Kennzeichen der Moderne gehören, leistete die Reformation an diesem Punkt der Modernisierung kräftigen Vorschub. eine umfassende Erneuerung der abendländischen Kirchen einschließlich der katholischen, und zwar gleichermaßen Organisation, Theologie, Dogma, Liturgie und Frömmigkeit betreffend. ein Aufschwung des Bildungswesens im Allgemeinen und ein Aufschwung der Theologie im Besonderen, mit Wirkungen auf die Volksbildung in den Schulen ebenso wie auf die Pfarrerausbildung an den Universitäten, was sich insbesondere in der Predigtkultur niederschlug. eine Stärkung und Vereinheitlichung der Territorialstaaten und eine Schwächung und Pluralisierung des Reichs. ein enges Bündnis zwischen Staat und Kirche in den evangelischen Territorien, wobei geistliche und weltliche Macht wie im Mittelalter auf problematische Weise verbunden und vermischt wurden. Da die Trennung von Kirche und Staat zu den Signaturen der Moderne gehört, hemmte die Reformation an diesem Punkt den Fortschritt. In weltlichen katholischen Territorien waren Kirche und Staat jedoch getrennte Institutionen. eine Schwächung des Papsttums, und zwar in seiner geistlichen Bedeutung für die abendländische Christenheit ebenso wie in seiner politischen Relevanz als Macht im Reich und kurzzeitig sogar in seiner Stellung innerhalb der katholischen Kirche. vielfältige neue geistliche Aufbrüche, ein Aufschwung der Frömmigkeit in beiden Konfessionen, sich ausdrückend in Liedern, Gebeten und der Kunst. eine nachhaltige Pluralisierung der Kirche. Als Folge der Reformation entstand nicht einfach eine evangelische Kirche neben der katholischen, sondern ein breites Spektrum sich im Laufe der Jahrhunderte immer weiter ausdifferenzierender evangelischer Kirchen, darunter lutherische Kirchen, reformierte/calvinistische Kirchen, unierte Kirchen, anglikanische Kirchen, Täuferkirchen (u. a. Mennoniten, Baptisten) evangelische Freikirchen (u. a. Methodisten, Pfingstkirchen).

Literatur Matthias Asche (Hg.), Anton Schindling (Hg.): Dänemark, Norwegen und Schweden im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Nordische Königreiche und Konfession 1500 bis 1660. Münster/Westf. 2003 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 62). Walter Friedensburg: Der Reichstag zu Speier [sic!] 1526 im Zusammenhang der politischen und kirchlichen Entwicklung Deutschlands. Berlin 1887 (Repr. 1970). Leif Grane: Die Confessio Augustana. Einführung in die Hauptgedanken der lutherischen Reformation. 6. Aufl. Göttingen 2006 (UTB 1400).

&

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Melanchthon und der Fortgang der Reformation in Wittenberg Herbert Immenkötter (Hg.): Im Schatten der Confessio Augustana. Die Religionsverhandlungen des Augsburger Reichstages 1530 im historischen Kontext. Münster/Westf. 1997 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 136). Heiko Jadatz: Wittenberger Reformation im Leipziger Land. Dorfgemeinden im Spiegel der evangelischen Kirchenvisitationen des 16. Jahrhunderts. Leipzig 2007. Martin H. Jung: Frömmigkeit und Theologie bei Philipp Melanchthon. Das Gebet im Leben und in der Lehre des Reformators. Tübingen 1998 (Beiträge zur Historischen Theologie 102). Martin H. Jung: Philipp Melanchthon und seine Zeit. 2. [korr.] Aufl. Göttingen 2010. Heinz Scheible: Melanchthon. Eine Biographie. München 1997. Gabriele Schlütter-Schindler: Der Schmalkaldische Bund und die causa religionis. Frankfurt a. M. 1986 (Europäische Hochschulschriften, R. 3, 283).

4. Zwingli und die Reformation in Zürich

Wittenberg mit Luther und Melanchthon war das erste, aber nicht das einzige Zentrum der Reformation. Die Reformation war nach kurzer Zeit schon eine polyzentrische Bewegung mit vielfältigen Interdependenzen. Bis heute spiegelt sich dieser pluralistische Charakter der Reformation in der Struktur des evangelischen Kirchenwesens. Zwischen den verschiedenen Zentren der Reformation gab es Kooperationen, aber auch Konkurrenz und Konfrontation. Das in seiner Zeit bedeutendste frühe Reformationszentrum neben Wittenberg war Zürich mit Zwingli. Die Züricher Reformation wurzelte nicht wie die Wittenberger in den Gewissensnöten eines um sein Heil ringenden Mönches, sondern in den Sorgen eines Gemeindepfarrers, der sich für seine Gemeinde verantwortlich wusste.

Zwinglis Entwicklung zum Reformator Die Kunde von Luther machte rasch die Runde. Nachdem schon im Dezember 1517 Luthers Thesen in Basel gedruckt worden waren, erschien dort im Oktober 1518 die allererste Sammelausgabe von Werken Luthers, die weite Verbreitung fand, bis nach Italien, Spanien, Frankreich und England. In den Jahren 1519/20 las auch ein Züricher Pfarrer aufmerksam Luthers Schriften: Huldrych (eigentlich: Ulrich) Zwingli. Zwingli stammte aus einer Bergbauernfamilie und wurde am 1. Januar 1484 in Wildhaus, einem hoch an einem Pass gelegenen Dorf in den St. Galler Alpen geboren. Sein einfaches Geburtshaus blieb beinahe im Originalzustand erhalten. Anders als Luther war Zwingli von Anfang an dazu bestimmt, eine kirchliche Laufbahn einzuschlagen. Sein Onkel war Priester und wirkte als Dekan in Weesen am Walensee und Zwingli wurde in seine Obhut gegeben. Er besuchte zunächst dort die Schule, wechselte aber schon 1494 nach Basel und 1496 oder 1497 nach Bern. Die Berner Stadtschule wurde seit 1493 von dem Humanisten Heinrich Wölflin geleitet. Lupulus, wie sein latinisierter Name lautete, hatte an der Sorbonne studiert und gilt als der erste Schweizer Humanist. Später wurde er evangelisch. Zwingli wurde also in einem humanistischen Bildungsmilieu groß. Zum Studium ging er zunächst an die ebenfalls humanistisch geprägte Universität Wien und dann nach Basel, wo er 1506 den Magisterab-

Wildhaus

Bern

Basel

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Zwingli und die Reformation in Zürich

Glarus

Erasmus

Einsiedeln

Zürich

schluss erwarb. Danach begann er ein Theologiestudium, brach dieses aber bereits nach einem Semester ohne besondere Gründe wieder ab, ließ sich zum Priester weihen und übernahm noch 1506 ein Pfarramt in Glarus, unweit seiner Heimat. Zwingli war damit versorgt und scheint auch keine weiteren Ambitionen gehabt zu haben. Zehn Jahre lang amtete er in Glarus und war ein ganz normaler „Leutpriester“, wie die für die Menschen – die „Leute“ – zuständigen Geistlichen im Unterschied zu den nur mit Eucharistiefeiern befassten „Messpriestern“ genannt wurden. Der Pfarrer von Glarus liebte heilige Orte und schätzte die Gnade des Ablasses. Seiner Gemeinde stiftete er für ihre Prozessionen eine kostbare Monstranz. Als Feldprediger zog er mindestens zweimal mit Schweizer Truppen nach Oberitalien, wo sie im Dienste des Papstes kämpften. Dieser gewährte Zwingli im Jahre 1515 dafür eine finanzielle Belohnung, die jährlich ausgezahlt wurde. Beinahe selbstverständlich war es, dass Zwingli wie viele seiner Amtsbrüder, aber ganz anders als Luther, auch das Zölibatsgelübde, das er als Priester abgelegt hatte, nicht ernst nahm. Er hatte Umgang mit Frauen und schaffte es trotz mehrfach gehegter guter Vorsätze nicht, keusch zu leben. Privat betrieb Zwingli in Glarus intensive theologische Studien und bildete sich im Bereich der Theologie autodidaktisch weiter. Auch sein Interesse am Humanismus setzte sich fort und er begann Werke des Erasmus zu lesen. 1516 besuchte er den Gelehrten in Basel. Unter seinem Einfluss veränderte sich Zwinglis Sicht des Krieges. Er begann Kritik an den verbreiteten Söldnerdiensten der Eidgenossen zu üben und äußerte pazifistische Gedanken. In Glarus kam es zu Konflikten mit der Gemeinde und Zwingli wechselte noch 1516 nach Einsiedeln, wo er an der bekannten Benediktinerabtei ebenfalls die Stelle eines Leutpriesters übernahm. Er betreute die Pilger, die nach Einsiedeln kamen und der „Schwarzen Madonna“ – einem Marienstandbild – huldigten. Stärker als zuvor hatte er es in Einsiedeln auch mit dem Ablass zu tun. Er übte erstmals Kritik an Missständen, die er beobachtete, aber ohne den Ablass prinzipiell infrage zu stellen. Neben seiner pastoralen Tätigkeit studierte Zwingli weiter die Kirchenväter, wobei für ihn wie für Luther Augustin eine große Bedeutung gewann. Außerdem widmete er sich der Auslegung der Psalmen, wofür er wie Luther das modernste humanistische Hilfsmittel benutzte, den Psalmenkommentar von Faber Stapulensis. In Humanistenkreisen genoss Zwingli hohes Ansehen. Ob er 1517/18 in Einsiedeln auch von Luthers Thesen erfuhr, ist nicht bekannt. Im Dezember 1518 erhielt Zwingli einen Ruf nach Zürich, wo er

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Zwinglis Entwicklung zum Reformator

am Großmünster, der Hauptkirche der Stadt, die Stelle eines Leutpriesters übernehmen sollte. Zu seinem Auftrag gehörte die regelmäßige Predigt. Am 1. Januar 1519 trat Zwingli seine neue Stelle an und führte beim Predigen sogleich eine revolutionäre Neuerung ein, die man als Vorbotin seiner Hinwendung zur Reformation ansehen kann, indem er sich von der althergebrachten Perikopenordnung löste, die für jeden Sonntag einen ganz bestimmten, isolierten Abschnitt der Bibel vorsah. Zwingli begann ganze biblische Bücher im Zusammenhang auszulegen, führte also die „fortlaufende Lesung“ (lat.: lectio continua) ein. Konflikte entstanden ihm deswegen jedoch nicht. Sie begannen in Zürich erst 1522, als sich Zwingli offen zur Reformation bekannte und Anhänger seiner Ideen erste öffentliche Aktionen durchführten. Wann und wie wurde Zwingli zum Reformator? Diese Doppelfrage ist in der Zwingli-Forschung ebenso umstritten wie dieselbe Frage, bezogen auf Luther, in der Luther-Forschung. Zwingli behauptet, schon 1516 durch eigenes Schriftstudium zu denselben Erkenntnissen wie Luther gelangt zu sein. Der Einfluss des Erasmus dürfte dann ein wesentlicher Faktor gewesen sein. Fest steht, dass Zwingli 1519 an der Pest erkrankte und dem Tode nahe war, was in ihm eine existenzielle Krise auslöste. Auch diese Erfahrung könnte, vergleichbar mit Luthers existenziellen Krisen, zum Wandel geführt oder beigetragen haben. Fest steht ferner, dass Zwingli von 1519 an in Zürich intensiv Schriften Luthers gelesen hat. 1520 versuchte er sich mit großem Eifer Luther-Schriften zu beschaffen und später besaß er in seiner Bibliothek nachweislich insgesamt 26. Der Züricher Reformator könnte also auch ganz direkt von Luther abhängig gewesen sein. Doch zu einer solchen Abhängigkeit konnte und wollte sich Zwingli später nicht mehr bekennen, weil er 1525 mit Luther in Streit geraten war. Er behauptete, von Luther sei ihm 1519 nur bekannt gewesen, dass er gegen den Ablass gepredigt habe. Auf jeden Fall begann Zwingli im Jahre 1521 im Großmünster kirchenkritisch zu predigen. Er setzte sich mit dem Mönchtum, der Heiligenverehrung, der Messe und dem Fegefeuer auseinander, aber auch mit dem Zehnten, der von den Bauern an die Stadt zu entrichtenden Ertragssteuer. Aus dem Humanisten war ein Reformator geworden, und zwar ein Reformator, der sich, anders als Luther, in erster Linie als Prophet verstand. In einem Bild, das Zwingli 1521 hat anfertigen lassen, werden die Zusammenhänge so dargestellt, wie er sie damals gesehen oder nach außen vertreten hat. Das Reformationsgeschehen in seinem Zusammenhang wird in einer Mühlenallegorie präsentiert. Christus erscheint als Müller und schüttet Getreide in eine Mühle, nämlich

Reformator

Kirchenkritik

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Zwingli und die Reformation in Zürich

die Evangelien und Paulus. Diese werden vom Mahlstein zu Mehl gemahlen, heraus kommen Glaube, Liebe und Hoffnung (vgl. 1 Kor 13,13) sowie Kraft, welche Erasmus als Müllerknecht in einen Sack schaufelt. Luther, der Erasmus den Rücken zuwendet, backt aus dem Mehl Brot in der Form reformatorischer Schriften, welche er den Vertretern der alten Kirche – ohne sie anzuschauen – reicht. Als Letzter, aber zugleich Wichtigster in der Reihe erscheint Zwingli, der zudem exakt im Zentrum des Bildes positioniert wird. Er gibt die reformatorische Botschaft durch das gesprochene Wort weiter an die Menschen und streitet von Angesicht zu Angesicht mit den Vertretern der alten Kirche, hinter denen der TeuAbb. 7: Die göttliche Mühle – Reformationsgeschehen fel steht. Letztere werden zudem von als Mühlenallegorie (unbek. Künstler, 1521) einem Bauern mit einem Dreschflegel bedroht. Über allem wacht Gottvater und gibt dem Geschehen seinen Segen. Das Bild zeugt von dem großen Selbstbewusstsein Zwinglis. Dazu passt auch, dass er als Vornamen anstelle von Ulrich immer „Huldrych“ verwendete und sich damit als „reich“ an göttlicher „Huld“ – d. h. Gnade – ausgab. Diese in der Zeit Zwinglis beliebte Abwandlung des Namens Ulrich war etymologisch nicht begründbar, aber religiös tiefgründig.

Disputationen in Zürich und Baden

Zürcher Wurstessen

Im Frühjahr 1522, beinahe parallel zu den „Wittenberger Unruhen“ und möglicherweise beeinflusst von ihnen, kam es in Zürich zu einer spektakulären Aktion: Angesehene Persönlichkeiten der Stadt, darunter der Buchdrucker Christoph Froschauer, übertraten das kirchliche Fastengebot in der Passionszeit und aßen öffentlich Würste. Zwingli verteidigte das „Zürcher Wurstessen“ in einer kleinen Schrift über die „Freiheit der Speisen“ (Von Erkiesen und Fryheit der Spysen). Wenige Monate später forderte Zwingli die Aufhebung des Zölibats. In Zürich indessen organisierten sich die Gegner Zwinglis und erhoben Anklage gegen ihn. Die Situation eskalierte im Laufe des Jahres. Anders als in Wittenberg nahm die Reformation in

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Disputationen in Zürich und Baden

Zürich keine Rücksicht auf die „Schwachen“, sondern suchte den Streit. Der Rat der Stadt Zürich entschloss sich, zur Klärung der anstehenden Fragen eine Disputation einzuberufen. Sie fand am 29. Januar 1523 statt und ist als die „Erste Zürcher Disputation“ in die Geschichte eingegangen. Zwingli hatte dafür in deutscher Sprache 67 Thesen (Schlussreden) aufgestellt, in denen er seine Position zu verschiedenen Fragen zusammenfasste. Ein Vertreter des Konstanzer Bischofs, Johannes Fabri, nahm teil. Nach der Disputation gebot der Rat allen Züricher Predigern, hinfort schriftgemäß zu predigen. Zwinglis Reformation hatte einen Teil-, aber noch keinen vollständigen Sieg errungen. Aus Zwinglis 67 Schlussreden (29. 1. 1523):1

Erste Zürcher Disputation



Vom Fegefeuer 57. Die wahre Heilige Schrift weiß von keinem Fegefeuer nach diesem Leben. 58. Das göttliche Gerichtsurteil über die Verstorbenen ist allein Gott bekannt. 59. Und je weniger uns Gott davon hat wissen lassen, desto weniger sollen wir versuchen etwas davon in Erfahrung zu bringen. 60. Ich verwerfe es nicht, wenn ein bekümmerter Mensch Gott für die Verstorbenen um Gnade anruft. Doch das an eine bestimmte Zeit zu binden und wegen Geld zu lügen, ist nicht menschlich, sondern teuflisch.

Zwinglis Thesen von 1523 waren das Basisdokument der Züricher Reformation. Anders als Luthers Thesen hatten sie keinen akademischen Charakter. Sie waren nicht in lateinischer, sondern in deutscher Sprache verfasst, sie wurden nicht vor einem universitären, sondern vor einem städtischen Publikum verhandelt und sie hatten keinen theologischen, sondern einen kirchlich-praktischen Charakter. Zwingli behandelte unter anderem die Themen Papsttum, Messe, Heilige, Fastenregeln, Feiertage, Wallfahrten, Mönchsorden, Zölibat und Fegefeuer und fasste dabei prägnant zusammen, was er in Zürich seit 1521 gepredigt hatte. In den Monaten nach der Disputation arbeitete er an der Auslegung dieser Thesen und verfasste sein umfangreichstes und zugleich grundlegendes theologisches Werk, die „Auslegung und Begründung der Thesen“ (Ußlegen und gründ der schlußreden …). Im Juli 1523 erschien es im Druck. Zwinglis Theologie, wie er sie in seiner „Auslegung“ entfaltet, steht zwischen Luther und Erasmus. Charakteristisch für Zwingli sind die Betonung des Gegensatzes zwischen Gott und Mensch und der abso-

1 Vollständig: DGQD 3, S. 236–244; Auszüge: KTGQ 3, S. 87–89.

Zwinglis Theologie

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Zwingli und die Reformation in Zürich

Spiritualismus

Zweite Zürcher Disputation

luten Souveränität Gottes. Einen freien Willen des Menschen lehnt er, radikaler noch als Luther, ab. Nachdrücklich betont er ferner den Ernst und die Gewalt der Sünde, der jeder Mensch verfallen sei. Christus jedoch hat für Zwingli die Distanz zwischen Mensch und Gott überbrückt und von der Sünde befreit. Wirklich wird für den Menschen diese Befreiung durch den Glauben und nur durch den Glauben. Der Kirche und ihrer Sakramente bedarf es dafür nicht. Anders als Luther haben Taufe und Abendmahl für Zwingli keine Sünden vergebende Kraft und er lehnt anders als Luther auch die Beichte ab. Zum Glauben kommt der Mensch durch einen Gnadenerweis Gottes. Anders als für Luther ist für Zwingli sogar denkbar, dass Gott unabhängig von seinem Wort in Bibel und Predigt durch seinen Geist an einem Menschen handelt und ihn zum Glauben zieht. So konnten nach Zwingli auch von Gott erwählte Heiden des Heils teilhaftig sein. Weil Zwingli so mit dem Wirken des Heiligen Geistes rechnete, hat ihn Luther als einen Spiritualisten (lat. spiritus = Geist) gesehen und als „Schwärmer“ verunglimpft. Spiritualistisch gefärbt war auch Zwinglis Kirchenverständnis. Kirche, als Versammlung der Glaubenden, war für Zwingli eine letztlich unsichtbare Größe. Wahre Christen sind mit wahren Christen im Geist und im Glauben verbunden. Päpste, Bischöfe und Konzile waren für Zwingli völlig irrelevant. In Zürich wollte Zwingli ein Gemeinwesen gestalten, das dem göttlichen Willen gemäß war. Kirchengemeinde und Obrigkeit arbeiteten dabei eng zusammen. Anders als Luther legte Zwingli erheblichen Wert auf ein korrektes sittliches Leben der Christen. Wer die Taufe empfangen hatte, war zu einem christlichen Leben verpflichtet. Dabei ging es Zwingli aber allein um das Leben der Menschen mit den Menschen. Traditionelle religiöse Ordnungen und Institutionen wie das Fasten, die Heiligenverehrung und das Mönchtum wurden von ihm als Menschensatzungen und Kreaturvergötterungen viel radikaler als von Luther abgelehnt. Nach der Ersten Zürcher Disputation trieben die Anhänger Zwinglis die Reformation mit provozierenden Aktionen weiter voran. In einigen Kirchen wurden die Bilder entfernt und Bauern verweigerten der Stadt die Abführung des Zehnten. Der Rat berief für Oktober 1523 eine weitere Disputation ein. Sie gestaltete sich als großartige Schauveranstaltung Zwinglis vor zahlreichem Publikum, thematisierte die Bilder und die Messe und führte zum endgültigen Durchbruch der Reformation. Die Beziehungen zum Konstanzer Bischof wurden abgebrochen und die Altgläubigen verließen die Stadt. Aus den Kirchen wurden die Bilder entfernt und anders als in der Wittenberger Reformation auch Kreuze, Altäre und Orgeln. Alle

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Ausstrahlungen der Züricher Reformation

Klöster wurden geschlossen. Im April 1524 heiratete Zwingli die Witwe Anna Reinhart, mit der er bereits zwei Jahre lang zusammengelebt hatte. Unter dem Einfluss Zürichs wurden von 1523 an mehr und mehr Orte der Schweiz evangelisch. Doch die Gegner der Reformation ließen nicht locker. Eck, der mächtige Widersacher Luthers, plante dem Voranschreiten der Reformation durch eine große Disputation Einhalt zu gebieten. Persönlich wollte er Zwingli gegenübertreten und dessen Anschauungen widerlegen. Die Disputation wurde für den Mai 1526 in Baden im Aargau anberaumt und zahlreiche evangelische und katholische Theologen aus der Schweiz und aus Süddeutschland reisten an. Lediglich Zwingli kam trotz Zusage sicheren Geleits nicht und blieb im heimischen Zürich. An seiner Stelle stellte sich Johannes Oekolampad, der humanistische Reformator Basels, der Auseinandersetzung. Für Eck, der in Kenntnis der innerevangelischen Abendmahlsdifferenzen mit Luther gegen Zwingli argumentierte, wurde es zu einem Sieg auf der ganzen Linie. Er war Oekolampad und den anderen anwesenden Schweizer Reformatoren intellektuell und rhetorisch haushoch überlegen, und so fielen am Ende der Disputation die Abstimmungen eindeutig aus. In allen strittigen Punkten erzielte Eck deutliche Mehrheiten, Zwingli wurde in der Folge als Ketzer verurteilt. Die evangelische Minderheit blieb allerdings bei ihren Überzeugungen. Mit der Disputation von Baden wurde die konfessionelle Spaltung der Schweiz zementiert.

Disputation in Baden

Ausstrahlungen der Züricher Reformation Mit Ausnahme St. Gallens, wo es anfänglich starke Wittenberger Einflüsse gab, verdanken sich die reformatorischen Auf- und Umbrüche in anderen Orten der Schweiz Zwingli und den Ausstrahlungen der Züricher Reformation. In Basel, das erst seit 1501 der Eidgenossenschaft als regierender Ort zugehörte, waren zwar schon 1517/18 Schriften Luthers gedruckt worden, doch der wichtigste Reformator der Stadt, Johannes Oekolampad, erregte erst ab Ostern 1523 mit seiner öffentlichen JesajaVorlesung Aufsehen, nachdem er im Winter 1522/23 Verbindung mit Zwingli aufgenommen hatte. Schon 1520 hatte er sich mit seiner „Stellungnahme zu Luther“ (Iudicium de doctore Martino Luthero) öffentlich zur Reformation bekannt. Der Rat der Stadt forderte 1523 die Pfarrer dazu auf, das Evangelium zu predigen. Spätestens ab 1524 verbreitete Oekolampad seine reformatorische Theologie durch Predigten. 1525 trat er mit einer Abendmahlsschrift an die Öffent-

Basel

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Zwingli und die Reformation in Zürich

Bern

Glarus

Schaffhausen

lichkeit und begann als Leutpriester von St. Martin mit der Umgestaltung der Abendmahlsfeier. Neben Oekolampad traten die Leutpriester Markus Bertschi und Wolfgang Wissenburg sowie der Augustiner Thomas Gyrfalk und der Franziskaner Johannes Lüthard für die Reformation ein und wirkten an der Abfassung einer Abendmahlsliturgie mit. Der Leutpriester Jakob Immeli erregte Aufsehen, indem er sehr früh praktische Konsequenzen (Eheschluss, Barttragen, Taufliturgie in deutscher Sprache) aus seinen reformatorischen Überzeugungen zu ziehen suchte. In den Gemeinden wurde an Ostern 1526 damit begonnen, Psalmen zu singen. Trotz der Präsenz profilierter Anhänger der Reformation in der Stadt erfolgte der Durchbruch erst nach gewalttätigen Unruhen 1529. In Bern, das seit 1353 zur Eidgenossenschaft gehörte und einer der dreizehn regierenden Orte war, gewann die Reformation ebenfalls früh an Boden, setzte sich aber erst 1528 mit der Berner Disputation durch. Schon Ende 1518 wurden Luther-Drucke in Bern verbreitet. Der Leutpriester und Chorherr Berchtold Haller, der wichtigste Reformator Berns, war seit 1520 mit Zwingli befreundet und begann 1523 in seinen Predigten mit der fortlaufenden Bibelauslegung. 1523 befahl der Rat den Predigern, nichts anderes als das Evangelium zu predigen. An Weihnachten 1525 hörte Haller damit auf, die Messe zu lesen. Zwingli hatte nach seinem Weggang aus Glarus 1516 weiterhin Verbindung mit seinem ersten Wirkungsort, ebenfalls einem der dreizehn regierenden Orte der Eidgenossenschaft. 1522 predigte er in der Stadtkirche von Glarus. Reformator des Glarnerlandes war Fridolin Brunner, der seit 1521/22 Priester in Mollis war und von 1523 an, als Pfarrer von Glarus, offen für die Reformation eintrat. Von 1525 an wurde im Hauptort Glarus evangelisch gepredigt, die traditionsreiche Landeswallfahrt nach Einsiedeln wurde im gleichen Jahr eingestellt. 1529 erlangten in Glarus die Anhänger der Reformation die Mehrheit, aber alt- und neugläubige Gemeinden existierten anschließend gleichberechtigt nebeneinander. Schaffhausen war – wie Basel – erst seit 1501 ein regierender Ort der Eidgenossenschaft. Ein früher Anhänger Luthers war der Abt des Benediktinerklosters Allerheiligen Michael Eggenstorfer. Schon 1520 las er Luthers Schriften und sandte einen Konventsangehörigen, Matthäus Peyer, zum Studium nach Wittenberg. Ebenfalls durch ein Studium in Wittenberg 1521/22 wurde Ludwig Öchsli reformatorisch geprägt und trat als Schulmeister, später Rektor in Schaffhausen für die Reformation ein. Der eigentliche Reformator Schaffhausens war jedoch der Franziskaner Dr. Sebastian Hofmeister, der 1520 in Zürich gelebt und Zwingli kennen gelernt hatte. Er predigte ab

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Abendmahlsstreit und Marburger Religionsgespräch

1522 den neuen Glauben und nahm 1523 an beiden Züricher Disputationen teil. 1525 wurde er allerdings aus der Stadt gewiesen und der Kleine Rat beschloss, an der Messe festzuhalten. Der Durchbruch der Reformation erfolgte durch Beschluss des Rates erst 1529. Graubünden war ein Zugewandter Ort der Eidgenossenschaft, Chur aber zugleich Bischofsstadt. In Chur war der Schulmeister Jakob Salzmann, ein alter Bekannter Zwinglis noch aus dessen Einsiedler Zeit, ein früher Förderer der Reformation. Schon 1519 las er Schriften Luthers. Entscheidend war dann das Wirken des von Zwingli geprägten Johannes Dorfmann, genannt Comander, der 1523 nach Chur berufen wurde und mit seinen reformatorischen Predigten großen Anklang fand. Schon 1523 erkannte der Bundestag Graubündens das Schriftprinzip an. 1524 beschloss er die kirchenreformerisch ausgerichteten Ilanzer Artikel. Ein Glaubensgespräch fand im Januar 1526 in Ilanz statt. Im Februar entschied der Bundestag, an der Messe und der Heiligenverehrung festzuhalten. Dennoch begann Comander an Ostern 1526 mit evangelischen Abendmahlsfeiern. Im Juni 1526 wurde in Ilanz erneut eine Artikelreihe verabschiedet, welche die Rechte des Churer Bischofs einschränkte und den Gemeinden die Möglichkeit zur freien Pfarrerwahl gab. In Chur erfolgte der Durchbruch der Reformation 1527. In Zürich selbst arbeiteten Zwingli und seine Anhänger weiter konsequent an der reformatorischen Umgestaltung. Bildungsgeschichtlich bedeutsam war die Gründung der „Prophezei“ im Jahre 1525, einer Bibelschule, die sich vor allem der Auslegung des Alten Testaments zuwandte. Zwinglis Interesse an der hebräischen Bibel war stark. 1526 holte er den berühmten Hebraisten Konrad Pellikan in die Stadt, der zuvor mit Reuchlin und Erasmus zusammengearbeitet hatte. 1524–1529 entstand, Luthers Bibelübersetzung aufgreifend und fortführend, die Zürcher Bibel. Noch vor Wittenberg besaß Zürich eine komplette Bibel in neuer Übersetzung. Die erste Druckausgabe der Vollbibel erschien 1531. Die Prophezei wurde zur Keimzelle der heutigen Universität Zürich.

Abendmahlsstreit und Marburger Religionsgespräch Über das Abendmahl oder – wie Zwingli sagte – Nachtmahl war es schon in den zwanziger Jahren zu einem Streit gekommen. Alle Richtungen der Reformation wollten zwar an der an das letzte gemeinsame Essen Jesu mit seinen Jüngern unmittelbar vor seinem Tod anknüpfenden rituellen Mahlfeier als Element des christlichen Gottesdienstes festhalten und sahen sie auch weiterhin, wie die Kir-

Graubünden

Zürich

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Zwingli und die Reformation in Zürich

symbolische Interpretation

Realpräsenz

Marburg

che des Mittelalters, als Sakrament an, doch bei der näheren theologischen Deutung sowie in der praktischen Durchführung schieden sich die Geister. Zwingli hatte intensiv über das Abendmahl nachgedacht und war 1524 zu einem neuen Verständnis dieser rituellen Handlung gekommen. Zwingli vertrat die Ansicht, dass es sich beim Abendmahlsbrot entgegen der Lehre der mittelalterlichen Kirche nicht um den wirklichen Leib Christi handle und beim Wein nicht um sein Blut, sondern um Symbole. Das „ist“ (lat.: est) in den bei der Feier zitierten Einsetzungsworten Jesu (1 Kor 11,24) sei im Sinne von „bedeutet“ (lat.: significat) zu verstehen. Christus sei bei der Feier zwar gegenwärtig, aber nicht mit Fleisch und Blut, sondern indem sich die Gemeinde an ihn erinnere und sich zu ihm bekenne. Diese symbolische Interpretation der Abendmahlshandlung verbreitete Zwingli von 1525 an auch in Druckschriften. Luther las sie und reagierte 1527 heftig. Er glaubte, dem Wortlaut der Bibel vertrauend, an die „Realpräsenz“, an die reale, wirkliche Gegenwart Christi, mit Leib und Blut in Brot und Wein. Die Züricher beschimpfte er als „Sakramentierer“. Zwingli ließ sich das aber nicht gefallen und antwortete in einem ebenso entschiedenen Ton. Im Hintergrund des Streits um das Abendmahl standen nicht einfach nur theologische Differenzen und Unterschiede in der Schriftauslegung, sondern auch unterschiedliche Frömmigkeitserfahrungen. Luther hat als Priestermönch viele Jahre lang einen täglichen, intimen Umgang mit dem Sakrament des Altars gepflegt und diesen Aspekt seines monastischen und priesterlichen Lebens so ernst genommen wie alle anderen. Die reale Gegenwart Christi im Sakrament bedeutete ihm Hilfe und Trost. Daran änderte sich nichts durch seine reformatorische Wende. Zwingli dagegen hatte solche Erfahrungen nie gemacht. Als Leutpriester war er von einer veräußerlichten Frömmigkeitspraxis geprägt; die Zwingli-Monstranz in Glarus zeugt davon noch heute. Ein radikaler Bruch mit der traditionellen Abendmahlstheologie und -frömmigkeit fiel ihm leicht, weil seine religiöse Existenz davon nicht berührt war. Der Streit der beiden großen Reformatoren missfiel den Politikern der Reformation, die – aus strategischen Gründen – ein Interesse an Einheit hatten. Landgraf Philipp von Hessen lud deshalb 1529 beide zu einem Religionsgespräch nach Marburg ein, bei dem über alle anstehenden Fragen, einschließlich der des Abendmahls, verhandelt werden sollte. Der Landgraf hatte den Wittenbergern im Vorfeld verheimlicht, dass auch Zwingli anreisen würde. Luther wäre ansonsten wohl nicht gekommen. Zum ersten – und zum letzten – Mal saßen sich Zwingli sowie Luther und Melanchthon gegenüber. Das Gespräch fand in Gegenwart des Landgrafen statt und musste, da er

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Abendmahlsstreit und Marburger Religionsgespräch

es selbst mitverfolgen wollte, in deutscher Sprache gehalten werden, was den Gelehrten, die sich in schwierigen theologischen Fragen nur lateinisch korrekt ausdrücken konnten, sichtlich schwer fiel. Es kam auch zu Missverständnissen, weil Luther den schweizerischen Dialekt Zwinglis nicht verstand und manche Äußerungen falsch interpretierte. Das Ziel, das sich der Landgraf gesteckt hatte, wurde nicht erreicht. In allen Punkten war man sich einig außer in der Frage des Abendmahls. Jeder beharrte auf seinem Standpunkt und der Streit eskalierte erneut. 15 Artikel2 hielten den Konsens wie den Dissens fest. Das Gespräch endete mit dem Verdikt Luthers, er könne Zwingli und die Schweizer nicht mehr als christliche Brüder ansehen, worum Zwingli mit Tränen in den Augen ausdrücklich gebeten hatte. Das Tischtuch blieb zerschnitten, auch unter Zwinglis Nachfolger Bullinger, obwohl sich Melanchthon gemäß seiner irenischen Natur über Jahre und Jahrzehnte um eine Einigung bemühte. Nur Straßburg und Wittenberg gelang es 1536, wieder durch eine Initiative des Landgrafen, mit der Wittenberger Konkordie3 eine Kompromissformel zu finden, der Bucer wie Luther zustimmen konnten und die den Weg für den Anschluss Straßburgs an die Wittenberger Reformation ebnete. Zürich war nicht einbezogen. Luthers für viele anstößige Position, beim Abendmahl die Gegenwart des Leibes Christi so real und unabhängig vom Glauben der Spender und der Empfänger zu begreifen, dass er von der „Speisung der Ungläubigen“ (lat.: manducatio impiorum) sprechen konnte, wurde dahingehend abgemildert, dass nicht explizit von Ungläubigen, sondern von der „Speisung der Unwürdigen“ (lat.: manducatio indignorum) gesprochen wurde. Eine vermittelnde Position nahm später Calvin ein, der sich die Gegenwart des Auferstanden als durch den Geist vermittelt vorstellte (Spiritualpräsenz). Doch während Calvin glaubte, damit dasselbe zu sagen wie die Wittenberger, erblickten die strengen Lutheraner darin nur eine Variante der zwinglischen Lehre. Erst 1973 konnte der die Kirchen der Reformation spaltende Streit um das Abendmahl in der Leuenberger Konkordie definitiv ausgeräumt werden. Am Reichstag in Augsburg 1530 waren Zürich und Zwingli nicht direkt beteiligt. Zwingli ließ es sich allerdings nicht nehmen, ein Privatbekenntnis einzureichen, als „Rechenschaft über den Glauben“ (Fidei ratio)4 adressiert an den Kaiser. Es war das dritte evangelische 2 KTGQ 3, S. 166–169. 3 Auszüge: KTGQ 3, S. 183–185. 4 Auszüge: KTGQ 3, S. 172–174.

Wittenberger Konkordie

Spiritualpräsenz

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Zwingli und die Reformation in Zürich

Bekenntnis neben der Wittenberger Confessio Augustana und der Straßburger Confessio Tetrapolitana, das in Augsburg vorlag; es fand aber keine Beachtung. Kurzbiografie: Zwingli 1484 1506 1516 1519 1523 1529 1531

Geburt in Wildhaus (1.1.) Leutpriester in Glarus Leutpriester in Einsiedeln Leutpriester am Großmünster Zürich Sieg in den beiden Züricher Disputationen Teilnahme am Marburger Religionsgespräch Tod in Kappel (11.10.)

Schlacht von Kappel und Tod Zwinglis (1531)

Bündnispläne

Krieg

Auch nach dem Scheitern des Marburger Religionsgesprächs und damit auch der politischen Einigung aller Protestanten suchten Zwingli und Zürich Bündnispartner zur Abwehr einer möglichen katholisch-eidgenössischen oder habsburgischen Bedrohung. Im Vordergrund stand dabei weiterhin der Versuch, sich mit Philipp von Hessen zu einigen. Mit ihm führte Zwingli einen regen Briefwechsel über politische Pläne und Ziele. Im November 1530 kam es zu einem formellen Bündnis zwischen Zürich, Basel, Straßburg und Hessen. Die Partner sicherten sich gegenseitige Unterstützung im Falle eines Angriffs zu. Ferner sondierte Zwingli, ohne Erfolg, in Venedig, Mailand und Paris. Sein Plan eines großen antihabsburgischen Bündnisses misslang. Zwingli und Zürich arbeiteten aber weiter erfolgreich an der Durchsetzung der Reformation auch in den Gegenden der Schweiz, die bislang noch der alten Kirche anhingen. Zwingli war dazu jedes Mittel recht. Seine einstigen pazifistischen Überzeugungen aufgebend, befürwortete er 1525/26 in seinem Plan zu einem Feldzug sogar kriegerische Maßnahmen zur Ausbreitung der Reformation. 1529 legte er in seinem Ratschlag über den Krieg dar, dass ein Angriff auf die altgläubigen Orte der Eidgenossenschaft berechtigt sei, und erörterte konkrete politische und militärische Maßnahmen. Auslöser war die Hinrichtung des aus Zürich gebürtigen evangelischen Predigers Jakob Kaiser in Schwyz, einem der altgläubigen Orte der Eidgenossenschaft. Auch die Altgläubigen rüsteten zum Kampf. Im Juni 1529 erklärte Zürich den Krieg. Bei Kappel stießen die beiden Heere aufeinander, kämpften aber nicht, sondern ließen verhandeln. Die in der

Schlacht von Kappel und Tod Zwinglis (1531)

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Abb. 8: Wirkungsstätten Zwinglis

Truppenstärke schwächere altgläubige Seite verpflichtete sich, ihr Bündnis mit den Habsburgern aufzugeben. Im Anschluss kam es zu weiteren Ausbreitungen der Reformation im Thurgau und im Rheintal. In den altgläubigen Kerngebieten der Eidgenossenschaft wurden jedoch weiter alle reformatorischen Ansätze im Keim erstickt. Im April 1531 forderte Zwingli einen Angriffskrieg. Die zunächst verhängte Nahrungsmittelblockade, die vor allem Salzlieferungen zu unterbinden trachtete, zeitigte keinen Erfolg. Als im Oktober Meinungsunterschiede über das weitere Vorgehen zwischen Bern und Zürich aufbrachen, nutzten die altgläubigen Orte ihre Chance und erklärten ihrerseits den Krieg. Am 11. Oktober 1531 kam es bei Kappel am Albis-Pass, südöstlich von Zürich, zu einer entscheidenden Schlacht. Zwingli war dabei, das Schwert in der Hand, nicht als Feldprediger wie einst bei den Glarner Einsätzen in Italien, sondern kämpfend wie eine große Anzahl weiterer Züricher Pfarrer. Die schlecht disponierten Evangelischen verloren und Zwingli kam ums Leben, sein Leichnam wurde geschändet und verbrannt. Luther interpretierte das Ereignis als gerechte göttliche Strafe für einen Mann, der die Christenheit verführt habe. Er wünschte sich, dass Zwingli selig würde, hätte dafür

11. Oktober 1531

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Zwingli und die Reformation in Zürich

Trauer

aber nur wenig Hoffnung. Ähnlich äußerte sich Erasmus. Melanchthon dagegen bekundete in einem Brief an den Straßburger Reformator Bucer seine Trauer, „im Namen der Kirche“.

Bullinger als Nachfolger Zwinglis

Bundestheologie

Zürich hatte, nicht einmal zehn Jahre nach Beginn der Reformation, seinen Reformator verloren. Die Nachfolge trat Heinrich Bullinger aus Bremgarten an, ein langjähriger Freund und Vertrauter Zwinglis, der die Geschicke der Züricher Reformation mit sicherer Hand lenkte, bis er 1575 einen friedlichen Tod fand. Bullinger hatte in Köln studiert und war humanistisch geprägt. Für Zürich schuf er eine Kirchen- und eine Gottesdienstordnung und bemühte sich auch um das Schulwesen. Mit Reformatoren aller Länder Europas stand er in einem regen Briefwechsel. Auch seine Schriften fanden europaweite Verbreitung, vor allem seine Sammlung von „50 Predigten“ (Sermonum decades quinque), die seine Theologie zusammenfassten. Dieses kurz Dekaden genannte Werk des reifen Bullinger wurde 1549–1551 gedruckt. Auch mit Kommentaren zum Neuen Testament ist er hervorgetreten. Theologiegeschichtlich bedeutsam sollte Bullingers Bundestheologie werden. Bullinger betrachtete das Heilshandeln Gottes als eine Abfolge verschiedener Bundesschlüsse und konnte so den Zusammenhang zwischen Altem und Neuem Testament und damit auch zwischen Israel und der Kirche hervorheben. Dieser theologische Ansatz stieß im reformierten Protestantismus auf starke Resonanz und wurde im 17. Jahrhundert in Holland weiter entfaltet. Im 18. Jahrhundert fand die Bundestheologie auch im Luthertum Eingang. Kurzbiografie: Bullinger 1504 1519–1522 1523–1529 1528 1529–1531 1531 1575

Geburt in Bremgarten (18. 7.) Studium in Köln Lehrer an der Klosterschule Kappel Teilnahme an der Disputation von Bern Pfarrer in Bremgarten Vorsteher (Antistes) der Züricher Kirche (9. 12.) Tod in Zürich (17. 9.)

Der Bundesgedanke war das zentrale Motiv von Bullingers Theologie. Den Anstoß dazu, den Begriff des Bundes aufzugreifen, hatte

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Literatur

ihm Zwingli gegeben, der ihn in seinen Auseinandersetzungen mit den Täufern verwendete. Der Sitz im Leben der neuen theologischen Idee war bei Bullinger wie bei Zwingli die mit den Täufern geführte Diskussion um die Bedeutung der Sakramente. Die Taufe wurde in Beziehung zur Beschneidung und das Abendmahl in Beziehung zum Passahmahl gesetzt und entsprechend gedeutet. Der Bund Gottes mit den Menschen war für Bullinger ein Gnadenbund im strengen Sinn und begann schon unmittelbar nach dem Sündenfall mit Gen 3,15. Durch den Bund verpflichtete sich Gott zur Gemeinschaftstreue, während der Mensch durch Gebote und Sakramente in die Pflicht genommen wurde. Durch den Tod Christi sah Bullinger den Bund bestätigt, befestigt, besiegelt und – entscheidend – ausgeweitet auf die Völker. Schließlich sind Bullinger auch noch zwei wichtige Bekenntnisse zu verdanken. 1536 entstand unter seiner Federführung das „Frühere Schweizer Bekenntnis“ (Confessio Helvetica Prior), das in der Schweiz das theologische Erbe Zwinglis sichern half, und 1566 das „Spätere Schweizer Bekenntnis“ (Confessio Helvetica Posterior), das zu einem der bedeutendsten reformierten Bekenntnisse überhaupt wurde. Literatur Fritz Büsser: Heinrich Bullinger (1504–1575). Bd. 1–2. Zürich 2004–2005. Ulrich Gäbler: Huldrych Zwingli. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk / Martin Sallmann (Nachw., Literaturnachträge). 3. Aufl. Zürich 2004. Eberhard Grötzinger: Luther und Zwingli. Die Kritik an der mittelalterlichen Lehre von der Messe als Wurzel des Abendmahlsstreites. Zürich 1980 (Ökumenische Theologie 5). Walther Köhler: Das Religionsgespräch zu Marburg 1529. Tübingen 1929 (Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte 140). Peter Opitz: Heinrich Bullinger als Theologe. Eine Studie zu den „Dekaden“. Zürich 2004. Martin Sallmann: Zwischen Gott und Mensch. Huldrych Zwinglis theologischer Denkweg im „De vera et falsa religione commentarius“ (1525). Tübingen 1999 (Beiträge zur Historischen Theologie 108).

Taufe

Bekenntnisse

&

5. Calvin und die Reformation in Genf

Bischofsstadt

Bedeutsamer und folgenreicher als die Reformation in Zürich war die in Genf. Mit Blick auf die gesamte Epoche und die spätere Geschichte gebührt Genf der Rang des bedeutendsten Reformationszentrums neben Wittenberg. Genf gehörte im 16. Jahrhundert nicht zur Eidgenossenschaft, sondern war eine Bischofsstadt, in der Sehnsucht nach mehr Eigenständigkeit schon lange lebendig war. Die Reformation bot gute Chancen, diesem Ziel näherzukommen. Die Anfänge der Genfer Reformation verbinden sich mit dem Namen Wilhelm Farel, prägend war jedoch Johannes Calvin. Luther, Melanchthon und Zwingli waren Reformatoren der ersten Generation, Calvin ein Reformator der zweiten. Beeinflusst war er gleichermaßen von Luther, Melanchthon und Zwingli. Als Zwingli kämpfte und starb, hatte Calvin aber noch nicht einmal seine Bekehrung erlebt, die ähnlich wie bei Zwingli aus einem Humanisten einen Reformator machte.

Calvins Entwicklung zum Reformator

Bekehrung

Johannes Calvin (franz.: Jean Cauvin) wurde am 10. Juli 1509 in Noyon in Frankreich geboren. Sein Vater war Sekretär des örtlichen Bischofs und bestimmte den Sohn zunächst für eine klerikale Laufbahn. 1523 begann er in Paris zu studieren und besuchte unter anderem das Collège Montaigu. Doch der Vater änderte seinen Plan, vermutlich wegen eines Streits mit seinem kirchlichen Arbeitgeber, und hielt den Sohn nunmehr dazu an, Rechtsgelehrter zu werden. Calvin studierte Jura in Orléans und Bourges und wurde weiter humanistisch geprägt. Er erlernte schon in dieser Zeit die – für den Juristenberuf nicht notwendige – griechische Sprache. Das Jurastudium schloss Calvin mit einer Promotion ab, doch sein eigentliches Interesse galt der klassischen Literatur. 1532 veröffentlichte er einen Kommentar zu Senecas De clementia (Von der Milde). In dieser Zeit widerfuhr Calvin eine, wie er es später einmal selbst formulierte, „unerwartete Bekehrung“ (lat.: subita conversio). Und er präzisierte die Bekehrung als eine „zur Gelehrigkeit“ (lat.: ad docilitatem). Wann, wo und warum ist jedoch nicht bekannt. Möglicher-

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Basel: Institutio (1535/36)

weise hatte Calvin Schriften Luthers gelesen oder hatte von aus Deutschland stammenden Gelehrten von Luther gehört. Infrage dafür kommt der deutsche Humanist Melchior Wolmar, der Calvin in die Anfangsgründe des Griechischen eingeführt hat und von dem bekannt ist, dass er später Paris wegen lutherischer Überzeugungen verlassen musste. Ferner ist an Calvins Vetter Pierre Robert Olivétan zu denken, der wie er aus Noyon stammte und den er in Orléans wieder traf. Olivetanus, wie sein Gelehrtenname lautete, gehörte auf jeden Fall später zu den Anhängern der Reformation und legte 1535 die erste evangelische Bibelübersetzung in die französische Sprache vor. Doch das alles bleiben Mutmaßungen.

Melchior Wolmar

Robert Olivétan

Kurzbiografie: Calvin 1509 1535/36 1536–1538 1538–1541 1541–1564 1564

Geburt in Noyon (10. 7.) Aufenthalt in Basel Reformator Genfs an der Seite Farels Leitung der französischen Gemeinde in Straßburg zweite Genfer Periode Tod in Genf (27. 5.)

Fest steht, dass Calvin im Winter 1533/34 aus Paris floh. Er war gefährdet, weil er ein langjähriger Freund von Nikolaus Cop war, der kurz zuvor Rektor der Sorbonne geworden war und als solcher am 1. November 1533 eine Rede gehalten hatte, die reformatorisches Gedankengut enthielt und die Calvin möglicherweise sogar verfasst oder mitverfasst hatte. Cop wurde angeklagt und zog es in dieser Situation vor, in das evangelische Basel zu fliehen. Im Laufe des Novembers kam es in Paris zu zahlreichen Verhaftungen. Im Jahr darauf eskalierten die Auseinandersetzungen, als in Paris und Umgebung Plakate ausgehängt wurden, in denen die Messe als Missbrauch des Abendmahls Christi verurteilt wurde. Der König ordnete die Unterdrückung der „lutherischen Sekte“ an.

Basel: Institutio (1535/36) Wegen der „Plakataffäre“ entschloss sich Calvin, Frankreich nunmehr ganz zu verlassen, und gelangte auf nicht näher bekannten Wegen im Januar 1535 nach Basel, wo er Cop wieder traf. Um sicherzugehen, benutzte er den Decknamen Martianus Lucianus, ein

Nikolaus Cop

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Calvin und die Reformation in Genf

Lehrbuch

Anagramm,1 das an Martin Luther erinnerte. Calvin wollte jedoch in Basel niemanden provozieren, sondern gedachte, seine gelehrten Interessen weiterzuverfolgen. Er suchte die Ruhe. In Kontakt kam er mit Männern wie Bucer, Bullinger und Farel, die in seinem späteren Leben noch eine Rolle spielen sollten, vermutlich aber nicht mit Erasmus. Calvin schrieb in Basel ein evangelisches Lehrbuch des christlichen Glaubens, mit dessen Vorbereitung er wahrscheinlich schon in Frankreich begonnen hatte. Es erschien 1536 im Druck, als Calvin Basel bereits wieder verlassen hatte und auf dem Weg nach Ferrara war, und trug den Titel „Unterricht in der christlichen Religion“ (Christianae Religionis Institutio). Vergleichbar mit Melanchthons Loci sollte dieses Werk Calvin durch sein ganzes weiteres Leben begleiten, es wurde verändert und erweitert und in viele Sprachen übersetzt. Der Unterricht war eigentlich ein Katechismus, allerdings nicht in Frage-Antwort-Form, sondern in der Form eines Traktats. Inspiriert war er vom 1529 veröffentlichten Katechismus Luthers, aber auch von Gedanken Melanchthons und Bucers. Calvin behandelte das Gesetz (Zehn Gebote), den Glauben (Apostolikum) und das Gebet (Vaterunser), ferner Taufe und Abendmahl sowie die von der Reformation verworfenen „Sakramente“ Beichte/Buße, Firmung, Ehe und Letzte Ölung (Krankensalbung) und schließlich die christliche Freiheit sowie Fragen des Kirchenverständnisses und der Obrigkeitslehre. Vorangestellt hat Calvin dem Werk eine Vorrede, gerichtet an den französischen König. In ihr verteidigte er die Evangelischen in Frankreich gegen den Vorwurf des Verrats und der revolutionären Umtriebe.

Genf: Reformator an der Seite Farels (1536–1538) Der erste Reformator Genfs war Wilhelm (franz.: Guillaume) Farel. Er stammte aus Gap in der Dauphiné, hatte in Paris studiert und war humanistisch geprägt. Um 1520 schloss er sich der Reformation an und hielt sich unter anderem in Basel und Straßburg auf. Von 1526 an war er im Auftrag Berns für die Reformation tätig und gelangte in diesem Zusammenhang 1535 nach Genf. Dort gab er der Reformation die ersten Anstöße. Farel war schriftstellerisch tätig, stärker jedoch wirkte er durch seine Predigten.

1 Buchstabenumstellung; Calvinus → Lucianus

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Genf: Reformator an der Seite Farels (1536–1538)

Abb. 9: Wirkungsstätten Calvins

Bei Calvin kam es 1536 zu einer weiteren Wende in seinem Leben. Noch immer von dem Vorhaben geleitet, als Gelehrter und in Ruhe zu leben, war er von Ferrara zurück nach Basel und weiter nach Paris gereist, um dort einige Dinge zu regeln. Er beabsichtigte, wieder nach Basel oder nach Straßburg zu gehen, musste aber wegen kriegerischer Auseinandersetzungen in der Region einen Umweg über Genf einschlagen. Dort traf er Anfang Juli 1536 Farel und der Reformator Genfs drängte den Gelehrten, zu bleiben und als Lektor der Heiligen Schrift zu wirken. In der Stimme Farels hörte Calvin den Willen Gottes und ließ sich zum zweiten Mal in seinem Leben aus der Bahn werfen. Er blieb und engagierte sich für die Reformation. Aus dem Humanisten war endgültig ein Reformator geworden. In Genf verfasste Calvin eine Gottesdienstordnung, einen Katechismus und ein Glaubensbekenntnis. Farel und Calvin hatten die Absicht, alle Bürger der Stadt eidlich auf die neue Lehre zu verpflichten. Doch das ging dem Rat der Stadt zu weit. Es kam zu Auseinandersetzungen mit den beiden Reformatoren, bei denen auch die Frage eine Rolle spielte, ob das Abendmahl in Genf nach dem Vorbild der Berner Reformationsordnung gehalten werden sollte. Im Frühjahr 1538 endete der Streit mit der Ausweisung der Reformatoren aus der Stadt.

Ferrara Paris

Genf

Lektor

Ausweisung

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Calvin und die Reformation in Genf

Straßburg: Reformator an der Seite Bucers (1538–1541) Leitung der französischen Flüchtlingsgemeinde

Martin Bucer

Heidelberger Disputation

Calvin begab sich nun nach Straßburg und übernahm dort die Leitung der französischen Flüchtlingsgemeinde. Hier konnte er in einer eigenen Gemeinde manches ausprobieren, was er in Genf nicht hatte verwirklichen können, unter anderem eine strenge „Kirchenzucht“ – die Reglementierung und Überwachung des sittlichen Lebens der Menschen – unter Einbeziehung der „Exkommunikation“, des Ausschlusses von der Abendmahlsteilnahme. Bis 1541 blieb er in Straßburg, lernte auf Reisen Melanchthon kennen und schätzen und unterschrieb die Confessio Augustana. Luther ist er allerdings nicht persönlich begegnet. Prägend wurden für ihn die Begegnung und die Zusammenarbeit mit Martin Bucer. Dem Straßburger Reformator Martin Bucer gebührt der Rang als dritter deutscher Reformator nach Luther und Melanchthon. Er wurde am 11. November 1491 als Sohn eines Handwerkers in der Reichsstadt Schlettstadt (Sélestat) im Elsass geboren. Nach dem Besuch der berühmten humanistischen Lateinschule seiner Heimatstadt trat er wahrscheinlich im Sommer 1507, fünfzehnjährig, als Novize in das dortige Dominikanerkloster ein. Weitere Studienorte waren Mainz, wo er die Priesterweihe erhielt, und Heidelberg. Hier wurde er 1517 eingeschrieben und sollte die Ausbildung im Rahmen des Generalstudiums seines Ordens mit der Promotion zum Doktor der Theologie abschließen. Dazu kam es jedoch nicht mehr, da Bucer Ende Januar 1521 das Kloster geradezu fluchtartig verließ. Der „entlaufene Mönch“ fand Zuflucht in Franz von Sickingens „Herberge der Gerechtigkeit“, der pfälzischen Ebernburg. Eine Schlüsselrolle in Bucers geistlicher und theologischer Entwicklung hatte der Besuch von Luthers Heidelberger Disputation am 26. April 1518 gespielt und ein ausführliches Gespräch mit dem Wittenberger Reformator am folgenden Tag. Wie andere humanistisch orientierte Studenten, die später die Reformation in Südwestdeutschland vorantrieben, war Bucer von Luthers Auftreten tief beeindruckt. Gerade noch rechtzeitig, bevor ein Ketzerprozess gegen ihn eröffnet wurde, erlangte Bucer im April 1521 den päpstlichen Dispens von seinen Ordensgelübden, wurde Weltpriester an verschiedenen Orten, zuletzt im elsässischen Weißenburg (Wissembourg), und heiratete im Sommer 1522 die ehemalige Nonne Elisabeth Silbereisen. Infolge der Exkommunikation durch den Speyerer Bischof musste er Weißenburg verlassen und kam so im Mai 1523 nach Straßburg. Er vermochte es, die anfängliche Zurückhaltung des Rates gegenüber ihm, dem verheirateten und exkommunizierten Priester, zu überwinden und seit 1524 als Pfarrer in der Stadt angestellt zu werden. Mehr

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Straßburg: Reformator an der Seite Bucers (1538–1541)

als 25 Jahre lang, bis zu dem durch das Augsburger Interim im Jahre 1549 erzwungenen Exil in England, war er hier für die Reformation tätig. Er wurde in den dreißiger und vierziger Jahren zum führenden protestantischen Vermittlungstheologen Deutschlands (→ Kap. 9). Weit über Straßburg hinaus hat er ferner an der Reformation in oberdeutschen Städten, in Hessen und zuletzt in England mitgearbeitet. Spektakulär war Bucers Mitwirkung an der Kölner Reformation. Kein Geringerer als der Erzbischof von Köln, Hermann von Wied, als Kurfürst einer der mächtigsten Männer des Reiches, sympathisierte als erster Bischof im Reich überhaupt offen mit der Reformation. Im Februar 1542 lud er Bucer in sein Jagdschloss Buschhoven im Kottenforst ein, um mit ihm und seinen Hoftheologen über Reformmaßnahmen zu beraten. Bucer war begeistert von dem Vorhaben des Kölners. Er bezog Melanchthon ein, der sich nach Bonn auf den Weg machte. 1543 arbeiteten die beiden eine reformatorische Kirchenordnung aus, die maßvolle Veränderungen vorsah. Starker Widerstand gegen das Ansinnen kam jedoch vom Domkapitel. Im Juli 1543 wurde in Köln das Abendmahl evangelisch, unter beiderlei Gestalt gefeiert. 1544 sagte sich der Erzbischof vom Papst los. Darauf drohte der Kaiser, ihm die politische Herrschaft zu entziehen, und forderte ihn ultimativ zur Abschaffung der Neuerungen auf. Rom exkommunizierte den Bischof 1546 und setzte ihn ab. Von Wied appellierte darauf an ein Konzil und an den Reichstag. Doch kaiserliche Kommissare kamen Ende 1546 in sein Fürstentum, riefen einen Landtag zusammen und entmachteten ihn. Kaiserliche Truppen im nahe gelegenen Herzogtum Geldern übten den dafür notwendigen Druck aus. Im Januar 1547 zog sich Hermann von Wied resigniert auf seine Privatgüter zurück. Der Versuch einer Reformation im Kölner Fürstbistum war gescheitert. Köln blieb altgläubig. Bucer versuchte im Herbst 1547 mit einem Offenen Brief die Evangelischen in Bonn zu trösten, indem er an biblischen Beispielen zeigte, wie Gottes Macht gerade da groß wird, wo Menschen ihre Niedrigkeit erfahren. Charakteristisch für Bucer war sein Bemühen, nicht nur für eine Wiederherstellung der rechten Evangeliumspredigt und Sakramentsverwaltung zu sorgen, sondern ebenso die Durchführung der Kirchenzucht voranzutreiben. Ihre Praktizierung sah er als konstitutiv für die Kirche an. Umfassend ausgeführt und eingehend biblisch begründet hat Bucer seine Überzeugung von der zentralen Bedeutung der Kirchenzucht in der 1538 erschienenen Schrift Von der wahren Seelsorge. Er sah in der Kirchenzucht ein Mittel der Seelsorge, um den Menschen zu bessern und in seiner inneren Entwick-

Vermittlungstheologe

Kölner Reformation

Kirchenzucht

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Calvin und die Reformation in Genf

lung zu fördern. Mindestens in zwei Straßburger Gemeinden entstanden Ende 1545 „Christliche Gemeinschaften“. Hier verpflichteten sich die Menschen ausdrücklich zu einem Leben in der Nachfolge Christi und zur gegenseitigen Begleitung durch Trost und Ermahnung, also zu einer konkreten Praktizierung der Kirchenzucht. Bucer war die treibende Kraft bei diesen Versuchen, ernste Christen in kleinen Gemeinschaften innerhalb der Kirche zu sammeln. Kurzbiografie: Bucer 1491 1518 1521 1524 1536 1549 1551

theologiegeschichtliche Bedeutung

Geburt in Schlettstadt (11.11.) Besuch der Heidelberger Disputation Flucht aus dem Kloster Pfarrer in Straßburg Wittenberger Konkordie Flucht aus Straßburg Tod in Cambridge (28. 2.)

Bucer ist nicht selbst unmittelbar konfessionsbegründend wirksam geworden. Auch hat er keine umfassende systematische Darstellung der Theologie vorgelegt. Gleichwohl kommt ihm eine eminente theologiegeschichtliche Bedeutung zu, weil Calvin von ihm wesentliche theologische Lehren übernommen hat, und zwar in einem Maße, dass man Bucer eigentlich als den originelleren der beiden Reformatoren bezeichnen müsste. Calvin hat seine Dankbarkeit dem älteren Freund gegenüber mehrfach zum Ausdruck gebracht. Calvins Römerbriefkommentar von 1540 lehnte sich ausdrücklich an den des Straßburger Reformators an. Beide teilten das aus der humanistischen Orientierung resultierende ethische Interesse. Wie Bucer hat Calvin Erwählung und Geistwirken Gottes als die entscheidenden Ausgangspunkte des Heilsgeschehens hervorgehoben, während Luther das Gewicht ganz auf die Predigt des Wortes legte, das der Glaube ergreift. Von Bucer übernommen hat Calvin ferner den Gedanken von der Kontinuität von Altem und Neuem Bund sowie die positive Aufnahme des alttestamentlichen Gesetzes. Anlehnungen an Bucer finden sich ferner in der Ämterlehre, der Liturgie und der Betonung der Pflicht der Obrigkeit, für die rechte Gottesverehrung zu sorgen. Auf diesem Wege hat Bucer über Calvin maßgeblich zur Gestaltwerdung der reformierten Theologie beigetragen.

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Ausbau Genfs zur Gottesstadt (1541–1564)

Ausbau Genfs zur Gottesstadt (1541–1564) 1541 rief der Rat von Genf Calvin zurück, er kam wieder und blieb bis zu seinem Tod. Die Straßburger Erfahrungen wandte Calvin nunmehr in Genf an und gab der dortigen Reformationskirche ein ganz eigenes Gepräge. Anders als Luther und die Wittenberger legte er großen Wert auf ein sittliches Leben der Christen. Es wurden vier verschiedene kirchliche Ämter geschaffen und die Laien dadurch in die Gemeindeleitung weitaus stärker einbezogen als im Luthertum, wo die Kirche auf dem Weg war, zu einer reinen Pastorenkirche zu werden. Hierbei griff Calvin direkt auf Straßburg und Ideen Bucers zurück. Sein Anliegen war es, die Kirche so zu organisieren, wie es im Wort Gottes vorgeschrieben und wie es in der Frühzeit der Kirche praktiziert worden sei. Das erste der vier Ämter war das des Hirten oder – lateinisch – Pastors. Ihm oblag die Verkündigung des Wortes, die Sakramentsverwaltung und die Seelsorge. Voraussetzung für die Zulassung in dieses Amt war die Reinheit der Lehre, die Fähigkeit zu unterrichten und zu organisieren sowie ein tadelloser Lebenswandel. Die Genfer Pfarrer mussten Vorbilder für ihre Gemeinde sein. In wöchentlichen Zusammenkünften wurden Bibeltexte besprochen und alle drei Monate die Lehre und das Leben der einzelnen Pastoren überprüft. Das zweite Amt war das der Gelehrten oder Doktoren. Ihre Aufgabe bestand darin, in den Schulen zu unterrichten. Die dritte Gruppe von Amtsträgern waren die Ältesten. Sie führten Aufsicht über das Leben jedes einzelnen Gemeindeglieds und berichteten darüber den Pfarrern. Die Diakone, die vierte Gruppe unter den kirchlichen Amtsträgern, hatten die Aufgabe, Geld einzusammeln und zu verwalten sowie an Bedürftige zu verteilen. Außerdem waren sie zuständig für das Krankenhaus, das zugleich Alten- und Kinderheim war. Geregelt wurden diese Dinge in der Kirchenordnung von 1541. Es sollte jedoch Jahre dauern, bis sie umgesetzt und die mit ihnen verbundenen Konflikte zwischen Kirche und weltlicher Obrigkeit ausgeräumt waren. Erst die Kirchenordnung von 1561 machte Genf vollends zur christlichen Modellstadt. Genf sah sich als Neues Jerusalem.

Ämter

Pastor

Doktor Ältester Diakon

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Calvin und die Reformation in Genf ►

Aus Calvins Kirchenordnung (1561):2 Vier Ämter in der Kirche

Es gibt vier Klassen und Arten von Aufträgen, die unser Herr für die Leitung seiner Kirche gestiftet hat, nämlich die Pastoren, dann die Doktoren [der Heiligen Schrift], hierauf die Ältesten, viertens die Diakone. (§ 2) Der Auftrag der Pastoren

Der Auftrag der Pastoren, die die Schrift hie und da auch Aufseher, Älteste und Diener nennt, ist, das Wort Gottes zur Lehre, zur Ermahnung, zur Zurechtweisung und zum Tadel öffentlich und den Einzelnen zu verkündigen, die Sakramente zu verwalten und zusammen mit den Ältesten [und Ratsbeauftragten] die brüderlichen Zurechtweisungen durchzuführen. (§ 4) Der Auftrag der Doktoren

Der den Doktoren eigentümliche Dienst ist, die Gläubigen in der gesunden Lehre zu unterweisen, damit die Reinheit des Evangeliums weder durch Unwissenheit noch durch Irrlehren verdorben werde. (§ 43) Der Auftrag der Ältesten

Die Ältesten haben die Aufgabe, über den Lebenswandel jedes Einzelnen zu wachen und die in Liebe zu ermahnen, die sie straucheln und ein ungeordnetes Leben führen sehen. Und nötigenfalls sollen sie der Körperschaft, die verordnet werden soll, um die brüderlichen Zurechtweisungen auszuüben, berichten und sie sollen dann zusammen mit den andern [Dienern] über die Ermahnungen Beschluss fassen. (§ 48) Entsprechend der Lage der hiesigen Kirche soll man dafür … [zwölf] Leute von gutem und ehrbarem Lebenswandel, untadelige Männer von gutem Ruf wählen, die vor allem gottesfürchtig und mit guter Klugheit in geistlichen Dingen ausgerüstet sein müssen. (§ 49) Der Auftrag der Diakone

In der Alten Kirche hat es immer zwei Arten [von Diakonen] gegeben: Die Aufgabe der einen war, das Armengut, aus den täglichen Almosen, dem Grundbesitz, den Zinsen und Renten bestehend, anzunehmen, zu verteilen und zu verwalten; die der anderen, die Kranken zu verbinden und zu pflegen sowie die Armen zu speisen. Deswegen gehört es sich, dass alle christlichen Städte sich danach richten, wie wir es auch versucht haben und auch weiterhin tun wollen. (§ 56) Akademie

Von größter Bedeutung für Genf war die Gründung einer Akademie im Jahre 1559. Calvin hatte seit 1536 Vorlesungen über die Bibel gehalten. In Straßburg lernte er das dort von Johannes Sturm gegründete und geleitete Gymnasium kennen. In seiner Kirchenordnung sah Calvin das Doktorenamt im Dienste von Kirche und Staat. 1558 schritt man in Genf zur Tat, suchte ein geeignetes Gebäude und gründete ein Gymnasium und eine Akademie. Der Anstoß war 2 Auszüge: KTGQ 3, S. 220–222.

Ausbau Genfs zur Gottesstadt (1541–1564)

aus Lausanne gekommen, der bislang bedeutendsten reformierten Akademie. Wegen eines Streits mit der Berner Regierung waren sämtliche Professoren nach Genf abgewandert. Den Titel Universität konnte die Akademie nicht führen, da sie nicht mit päpstlicher und kaiserlicher Genehmigung und den damit verbundenen Privilegien errichtet worden war. Auch Promotionen waren deshalb nicht möglich. Viele standen dem Vorhaben skeptisch gegenüber, aber im Jahr der Eröffnung ließen sich gleich 162 Studenten einschreiben. Bald kamen auch viele Ausländer. Die Studenten hatten bei der Immatrikulation das Genfer Bekenntnis zu unterschreiben. Zunächst wurde an der Akademie nur Theologie gelehrt und dabei so gut wie ausschließlich Exegese. Calvin selbst hielt Vorlesungen über das Alte Testament und legte Schritt für Schritt dessen Bücher aus. Er eröffnete seine Vorlesungen mit der Verlesung des hebräischen Textes, danach übersetzte er den Text ins Lateinische und anschließend trug er seine Auslegung vor. Dabei sprach er, ohne von irgendwelchen Aufzeichnungen Gebrauch zu machen. Er besaß ein fantastisches Gedächtnis. Nach Calvins Tod bekam die Akademie auch eine juristische und – zeitweise – eine medizinische Abteilung. Die Genfer Akademie war bis 1590 führend unter den reformierten Hochschulen und wurde zur Keimzelle der heutigen Universität Genf. Doch Calvin war nicht nur Exeget. In seiner Straßburger Zeit und in seiner zweiten Genfer Periode nahm er auch die Arbeit an seinem Unterricht (Institutio) wieder auf. Aus dem kurz gefassten Unterricht wurde, unter Beibehaltung des Titels, eine Gesamtdarstellung der Theologie mit großer Detailliertheit und gewaltigem Umfang, vergleichbar mit Melanchthons späten Loci. 1539 erschien eine erste Neuausgabe, eine weitere folgte 1559. Jedes Mal ließ Calvin seine neue Ausgabe auch von einer eigenen Übersetzung ins Französische begleiten. Die beiden Neuausgaben waren für Studenten der Theologie als Lehrbücher gedacht und stark von Melanchthons Loci beeinflusst. Die Ausgabe von 1559 ist in achtzig Kapitel gegliedert, die in vier Büchern präsentiert werden. Sie ist der Ausgangspunkt für eine zusammenfassende Darstellung der Theologie Calvins. Ein Fixpunkt von Calvins theologischem Denken war die von Melanchthon beeinflusste These, dass Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis in Zusammenhang stehen. Mit Gott kann man sich nicht an sich, nicht isoliert beschäftigen, sondern man kann ihn nur in seiner Beziehung zum Menschen betrachten. Quelle der Gotteserkenntnis ist die Heilige Schrift, wo Gott in Beziehung zu seinem Volk und zu auserwählten Menschen seines Volkes begegnet. Im Rahmen seiner Gotteslehre betont Calvin, anders als Luther und Melanchthon, aber mit Zwingli, das Bilderverbot.

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Gesamtdarstellung der Theologie

Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis

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Calvin und die Reformation in Genf ►

Aus Calvins Unterricht in der christlichen Religion (1559): Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis

All unsere Weisheit, sofern sie wirklich den Namen Weisheit verdient und wahr und zuverlässig ist, umfasst im Grunde eigentlich zweierlei: Die Erkenntnis Gottes und unsere Selbsterkenntnis. Diese beiden aber hängen vielfältig zusammen, und darum ist es nun doch nicht so einfach zu sagen, welche denn an erster Stelle steht und die andere aus sich heraus bewirkt. Es kann nämlich erstens kein Mensch sich selbst betrachten, ohne zugleich seine Sinne darauf zu richten, Gott anzuschauen, in dem er doch „lebt und webt“ (Apg 17,28). Denn all die Gaben, die unseren Besitz ausmachen, haben wir ja offenkundig gar nicht von uns selber. Ja, selbst unser Dasein als Menschen besteht doch nur darin, dass wir unser Wesen in dem einigen Gott haben. Und zweitens kommen ja diese Gaben wie Regentropfen vom Himmel zu uns hernieder und leiten uns wie Bächlein zur Quelle hin. Noch viel deutlicher aber wird gerade in unserer Armut der unermessliche Reichtum aller Güter erkennbar, der in Gott wohnt. Besonders zwingt uns der jämmerliche Zerfall, in den uns der Abfall des ersten Menschen hineingestürzt hat, unsere Augen emporzurichten: hungrig und verschmachtend sollen wir von Gott erflehen, was uns fehlt, aber zugleich auch in Furcht und Erschrecken lernen, demütig zu sein. … Wir empfinden unsere Unwissenheit, Eitelkeit, Armut, Schwachheit, unsere Bosheit und Verderbnis – und so kommen wir zu der Erkenntnis, dass nur im dem Herrn das wahre Licht der Weisheit, wirkliche Kraft und Tugend, unermesslicher Reichtum an allem Gut und reine Gerechtigkeit zu finden ist. So bringt uns gerade unser Elend dahin, Gottes Güter zu betrachten, und wir kommen erst dann dazu, uns ernstlich nach ihm auszustrecken, wenn wir angefangen haben, uns selbst zu missfallen. Denn [von Natur] hat jeder Mensch viel mehr Freude daran, sich auf sich selbst zu verlassen und das gelingt ihm auch durchaus – solange er sich selbst noch nicht kennt, also mit seinen Fähigkeiten zufrieden ist und nichts von seinem Elende weiß oder wissen will. Wer sich also selbst erkennt, der wird dadurch nicht nur angeregt, Gott zu suchen, sondern gewissermaßen mit der Hand geleitet, ihn zu finden. Aber andererseits kann der Mensch auf keinen Fall dazu kommen, sich selbst wahrhaft zu erkennen, wenn er nicht zuvor Gottes Angesicht geschaut hat und dann von dieser Schau aus dazu übergeht, sich selbst anzusehen. Denn uns ist ja ein mächtiger Hochmut geradezu angeboren und darum kommen wir uns stets durchaus untadlig, weise und heilig vor, wenn uns nicht handgreifliche Beweise unsere Ungerechtigkeit, Beflecktheit, Torheit und Unreinheit vor Augen halten und uns so überführen. Dazu kommt es aber gar nicht, wenn wir bloß auf uns selbst sehen und nicht zugleich auf den Herrn; denn er ist doch die einzige Richtschnur, nach der solch ein Urteil [über uns selbst] erfolgen kann. Wir sind ja von Natur alle zur Heuchelei geneigt und so befriedigt uns schon irgendein leerer Schein von Gerechtigkeit ebenso sehr, wie es die Gerechtigkeit selbst nur könnte. (Institutio I, 1, 1–2)

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Ausstrahlungen der Genfer Reformation

Eine Eigenart der Theologie Calvins, die viele Diskussionen ausgelöst hat, ist die Prädestinationslehre. Calvin geht von der Frage aus, wie es sein könne, dass einige Menschen glauben, andere jedoch nicht. Den Glauben sieht er als im Menschen von Gott gewirkt an und kommt zu der Auffassung, dass Gott vor aller Zeit einen unbegründbaren und unhinterfragbaren Ratschluss getroffen habe, aus der Masse der dem Sündenleben verfallenen Menschen einige auszuwählen und ihnen den Glauben und damit das Heil zu schenken. Calvin griff bei diesen Überlegungen auf Gedanken des Kirchenvaters Augustin zurück, mit dem er sich intensiv befasst hatte. Doch mit dieser Erwählung hätte Gott zugleich bewusst andere nicht auserwählt und sie der ewigen Verdammnis überlassen. Theologen in der Tradition Luthers konnten diesem Gedankengang nicht folgen, sondern hielten mit Tit 2,11 daran fest, dass Gott das Heil aller Menschen wolle. Widerspruch gegen Calvin gab es jedoch auch in Genf. Der aus Frankreich stammende, reformatorisch gesinnte Humanist und Arzt Hieronymus Bolsec erhob 1551 öffentlich den Einwand, durch Calvins Lehre werde Gott zum Urheber der Sünde gemacht. Der Mann wurde umgehend verhaftet, verhört und schließlich dauerhaft aus der Stadt verbannt. Er kehrte nach Frankreich zurück, schloss sich wieder der römisch-katholischen Kirche an und schrieb böse Bücher gegen den Genfer Reformator.

Prädestinationslehre

Hieronymus Bolsec

Ausstrahlungen der Genfer Reformation Calvin hatte, beginnend mit seiner zweiten Genfer Periode und über seinen Tod hinaus, eine große Ausstrahlung. Viele Evangelische in vielen Ländern, allen voran sind Frankreich, die Niederlande und England zu nennen, orientierten sich an seiner Theologie und an dem Genfer Vorbild. So entstand der Calvinismus als eine weitere Richtung evangelischer Theologie und Frömmigkeit sowie evangelischen Kirchenwesens neben dem Luthertum und dem Zwinglianismus. Zürich und Zwingli hatten aber keine vergleichbare Wirkung und die Einflüsse Bucers mündeten teilweise in das Luthertum, teilweise in den Calvinismus. Im Laufe der Geschichte sollte der Calvinismus das Luthertum schließlich überflügeln. Zwischen 1530 und 1560 hat sich die Genfer Bevölkerung durch den Zustrom von Glaubensflüchtlingen aus dem französischen Sprachraum auf etwa 21.000 Einwohner verdoppelt. Die Flüchtlinge trugen durch ihre im Exil weiterbestehenden Kommunikationsnetze, erst recht aber nach ihrer Rückkehr in ihre Heimat zur Ausbreitung des Calvinismus bei. Ferner wurden Calvins Schriften weit verbreitet.

Calvinismus

Flüchtlinge

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Calvin und die Reformation in Genf

Waldenser

Und auch durch seinen Briefwechsel gab Calvin seine Gedanken und seine Überzeugungen weiter. Als brieflicher Seelsorger, Berater und Fürsprecher engagierte sich Calvin vor allem für die französischen Protestanten. Auch an der Akademie wurden vor allem Männer für den kirchlichen Dienst in Frankreich ausgebildet. Kontakt hatte Calvin aber auch mit John Knox in Schottland, mit der französischen Flüchtlingsgemeinde in Frankfurt am Main, mit dem polnischen Reformator Johannes Laski, der zeitweise in Ostfriesland lebte, sowie mit Albert Hardenberg in Bremen. Mit Thomas Cranmer, dem Erzbischof von Canterbury, schmiedete er Pläne für ein großes, gesamteuropäisches Konzil aller Protestanten, das allerdings nie zustande kam. Briefe richtete Calvin auch an den Pfälzer Kurfürsten Friedrich III. Andere Herrscher, darunter der schwedische König Gustav I. Wasa und die englische Königin Elisabeth I., machte er durch Widmungen in seinen Büchern auf sich und seine Anliegen aufmerksam. Unter dem Einfluss Genfs schlossen sich auch die Waldenser in ihren norditalienischen Alpentälern der Reformation an. Die von dem Lyoner Kaufmann Waldes in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts gegründete Armuts- und Nachfolgebewegung war von der Kirche verketzert und verfolgt, aber nicht ausgelöscht worden.

Calvins letzte Jahre

Psalmenkommentar

Antitrinitarismus Michael Servet

In seinen letzten Lebensjahren beschäftigte sich Calvin vor allem mit dem Alten Testament. 1557 erschien sein später einflussreicher Psalmenkommentar. Auch seine Vorlesungen über Josua, Hosea, die Kleinen Propheten, Daniel, Jeremia und die Klagelieder sowie Ezechiel, überwiegend mitgeschrieben und redigiert von Hörern, wurden in den Druck gegeben und erschienen sowohl in lateinischer als auch französischer Sprache. Lebhaft setzte sich Calvin auch mit dem Antitrinitarismus auseinander, der Infragestellung der kirchlichen Trinitätslehre. 1553 wurde der Spanier Michael Servet als Gotteslästerer verurteilt. 1531 hatte er „Sieben Bücher gegen die trinitarischen Irrtümer“ (De trinitatibus erroribus libri septem) verfasst und in ihnen der in der Frühzeit der Christenheit definierten Lehre von drei göttlichen Personen und einem göttlichen Wesen widersprochen, einen strengen Monotheismus vertreten und in Jesus Christus eine Erscheinungsform Gottes, aber kein gottgleiches Wesen gesehen. Mit Zustimmung Calvins wurde Servet zum Tode verurteilt und lebendig verbrannt. Dies war die erste Ketzerverbrennung der Reformation. Auch in Witten-

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Beza als Nachfolger Calvins

berg klatschte man Beifall. In Basel allerdings erhob sich ein einsamer Protest: Sebastian Castellio, Humanist und selbst Anhänger der Reformation, schrieb eine Aufsehen erregende Schrift, die sich gegen Ketzerverbrennungen aussprach und für religiöse Toleranz plädierte. 1903 wurde für Servet in Genf ein Gedenkstein errichtet. 1558 kam es in Genf erneut zu öffentlichen Auseinandersetzungen um die trinitarische Frage. Insbesondere Italiener neigten dem Antitrinitarismus zu. Valentino Gentilis wurde dazu verurteilt, seine eigenen Schriften auf den Scheiterhaufen zu werfen. Später wurde er in Bern hingerichtet. 1561 ließ Calvin gegen ihn eine große Schrift ausgehen. Ferner setzte sich Calvin in weiteren Publikationen mit Georg Blandrata und Franciscus Stancarus auseinander. Calvin hat sehr viel gepredigt, etwa 250 Predigten im Jahr. Meist waren es fortlaufende Auslegungen. Dabei sprach er frei, allein auf Grundlage des biblischen Textes. Hörer schrieben aber mit. Am 27. Mai 1564 starb Calvin in Genf. Wunschgemäß wurde er anonym bestattet. Kein Grabstein zierte sein Grab und so ist der Ort, wo er liegt, nicht mehr bekannt. Calvin hatte nie viel Aufhebens um seine Person gemacht. Deshalb ist nur wenig von seinem Leben bekannt, deshalb gibt es auch, von bei Vorlesungen entstandenen Kritzeleien einiger Studenten einmal abgesehen, kaum Bilder von ihm. Er wollte immer nur der Sache dienen und wurde auch nicht von seinen Anhängern wie – zumindest tendenziell – Luther von seinen Anhängern zu einem evangelischen Heiligen gemacht. Die Nachfolge Calvins trat in Genf sein Schüler Theodor von Beza an, wie Calvin ein Franzose und ein Jurist, aber ein Adliger, der zuvor Gräzist in Lausanne und zuletzt Rektor der Genfer der Akademie gewesen war.

Sebastian Castellio

anonym bestattet

Beza als Nachfolger Calvins Theodor (von) Beza (eigentlich: de Bèze) lebte von 1519–1605. Seit den vierziger Jahren war er in Genf. Calvin wünschte sich ihn als seinen Nachfolger. Auch der Rat von Genf sprach sich dafür aus und die Pfarrer und Professoren stimmten zu, Beza das Leitungsamt – Modérateur – der Pfarrerversammlung (Vénérable Compagnie) zu übertragen. Jährlich, von 1580 an sogar wöchentlich, hatte aber eine Neuwahl zu erfolgen. Beza führte Genf noch strenger, noch gesetzlicher als Calvin. Anders als Calvin reiste er viel, kümmerte sich vor Ort um die bedrohten französischen Protestanten und nahm mehrfach an Religionsgesprächen teil, zum Beispiel 1561 in Poissy bei Paris. An der Akademie betätigte sich Beza als Exeget.

Modérateur

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Prädestinationslehre

Calvin und die Reformation in Genf

Die äußere Situation Genfs war schwierig. 1572 erzeugte die Ermordung von Evangelischen in Paris (Bartholomäusnacht) große Unruhe. Der katholische Herzog von Savoyen unternahm wiederholt Versuche, teilweise im Bündnis mit den altgläubigen innerschweizer Orten, die Stadt zurückzugewinnen. 1582 drohte ein Krieg, der nur knapp verhindert wurde. Genf bemühte sich mehrfach, in die Eidgenossenschaft aufgenommen zu werden, doch ohne Erfolg. Beza schrieb eine erste Calvin-Biografie und baute Calvins Theologie zu einem System aus, insbesondere in der Prädestinationslehre. Der Sündenfall war für ihn Teil von Gottes Heilsplan. Die Folge waren Auseinandersetzungen mit den Lutheranern, besonders nach 1571, aber auch innercalvinistische Konflikte, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts in den Niederlanden aufbrachen (→ Kap. 11). Kurzbiografie: Beza 1519 1549 1559 1564 1605

Geburt in Vézelay (24. 6.) Griechischprofessor in Lausanne Theologieprofessor in Genf Nachfolger Calvins Tod in Genf (13.10.)

Der Siegeszug des Calvinismus, auch in Deutschland Reformation oder Reformationen?

Von der Reformation spricht man in der Regel im Singular, obwohl es angemessener wäre, den Plural zu benutzen und von zu sprechen. Zwar kann man die Reformation als Einheit sehen, weil doch letztlich alles von Luther angestoßen war und weil der theologische Kern, die Erkenntnis von der Rechtfertigung des gottlosen Menschen allein aus Gnade, überall derselbe war, aber es gab schon kurz nach dem Wittenberger Startschuss vielerorts reformatorische Keime und Zentren. Es gab viele Männer, und sogar einige Frauen, die sich für die Reformation engagierten und ihr jeweils ein anderes örtliches oder regionales Profil gaben. Gleichzeitig wurden im Laufe der Zeit die Unterschiede so groß, dass das Gemeinsame manchmal übersehen wurde und die verschiedenen Flügel der Reformation einander zu beschimpfen und zu verurteilen begannen. Die eine Reformation gebar also verschiedene konkurrierende reformatorische Kirchen oder Konfessionen. Wittenberg und Genf waren die beiden wichtigsten Zentren der Reformation und Luther und Calvin die beiden führenden Persönlichkeiten. Am Ende der Reformationsepoche standen sich vor allem

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Der Siegeszug des Calvinismus, auch in Deutschland

zwei reformatorische Traditionen, Theologien und Kirchentypen gegenüber: Luthertum und Calvinismus. Beide gibt es bis heute, obwohl sich das jeweilige Profil verändert hat und im 19. Jahrhundert in Deutschland überdies einige beide Richtungen vereinende Unionskirchen entstanden. Unter der Bezeichnung „Calvinismus“ fasst man schon seit dem 16. Jahrhundert und bis heute den reformierten Protestantismus zusammen, obwohl in ihm auch die Theologie und die reformatorischen Impulse von Zwingli, Bucer und Bullinger weiterwirken. „Calvinisten“ war zunächst wie „Lutheraner“ ein Schimpfwort, geschaffen von Kritikern und Gegnern. Aufgekommen ist der Begriff in Basel nach der Verbrennung Servets. In Deutschland wurden die Calvinisten schon im 16. Jahrhundert auch als Reformierte bezeichnet. Als übergreifende Bezeichnungen für beide Richtungen der Reformation sind evangelisch, protestantisch und reformatorisch gebräuchlich (→ Einleitung). Das Luthertum und der Calvinismus waren durch klare geografische Grenzen voneinander getrennt. Die lutherische Reformation hatte in Teilen Deutschlands gesiegt und in den Ländern Skandinaviens. Der Calvinismus hatte in der Schweiz die Oberhand gewonnen und verbreitete sich in Frankreich und in den Niederlanden. Auch die Kirche Englands wurde calvinistisch und auf dieser Basis fasste der Calvinismus auch in Nordamerika Fuß. Kompliziert wurde die Lage in Deutschland, als auch hier der Calvinismus sich zu verbreiten und das Luthertum zurückzudrängen begann. Calvinismus und Luthertum konkurrierten miteinander und der Calvinismus erwies sich als zunehmend attraktiv. Luthertum und Calvinismus standen sich am Ausgang der Reformationsepoche feindselig gegenüber, bekämpften sich gegenseitig und brandmarkten den jeweils anderen wegen angeblicher Irrlehren. Trennend wirkten sich zwischen den beiden evangelischen Konfessionen vor allem das unterschiedliche Abendmahlsverständnis und die unterschiedliche Sicht der Prädestination aus. Aber auch in der Taufpraxis unterschieden sich die beiden Kirchen. In den reformierten Kirchen gab es keine Nottaufen mehr und sie verzichteten im Taufritual auf den „Exorzismus“, die ausdrückliche Absage an den Teufel, die im Luthertum nach alter Tradition üblich war. Daneben gab es weitere, wenn auch weniger gravierende Unterschiede im Aufbau und der Organisation des Kirchenwesens sowie in der Ethik. Calvinistische Gemeinden und Kirchen betrauten von Anfang an und konsequent Laien, normale Gemeindeglieder, mit kirchlichen Leitungsaufgaben und legten großen Wert auf die Kirchenzucht. Gerade das machte den Calvinismus manchem luther-

Calvinismus

Reformierte

Luthertum und Calvinismus

Unterschiede

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Calvin und die Reformation in Genf

zweite Reformation?

Kurpfalz

Brandenburg

ischen Landesherren, der mehr Zucht und Ordnung in seinem Lande wollte, attraktiv und ließ ihn an einen Bekenntniswechsel ernsthaft denken. Der Übergang lutherischer Territorien zum calvinistischen Bekenntnis, verbunden mit der Auffassung, damit die Reformation zu vollenden, indem man auf die Reformation der Lehre die Reformation des Lebens folgen lasse, wird in der Geschichtsschreibung manchmal als zweite Reformation bezeichnet. Diese Bezeichnung ist jedoch problematisch, weil sie weder dem Selbstverständnis der damals Handelnden entspricht noch dem geschichtlichen Sachverhalt gerecht wird. Die „erste Reformation“ war in jedem Fall bedeutender und einschneidender als die „zweite“ und beschränkte sich keineswegs auf die Reformation der Lehre. Deshalb sollte nur die „erste Reformation“ als Reformation bezeichnet werden und die „zweite“ als das, was sie wirklich war: ein innerprotestantischer Konfessionswechsel. Der Sachverhalt als solcher war aber spektakulär und hatte tiefgreifende Folgen. Das erste größere Territorium, das sich reformierten Positionen zuwandte, war gleich eines der bedeutendsten: die Kurpfalz. 1546 hatte sie die Reformation eingeführt und sich zunächst an Wittenberg orientiert. In den Jahren 1561–1571 wurde die Pfalz aber unter Kurfürst Friedrich III. calvinistisch, der damit über seinem Land die Gefahr eines Krieges heraufbeschwor. Wichtige Meilensteine waren die Einführung eines eigenen Katechismus im Jahre 1562 sowie die Schaffung einer Kirchenordnung im Jahre 1563. An der Universität Heidelberg wurde reformierte Theologie gelehrt und in den Gemeinden wurde die Sittlichkeit der Menschen kontrolliert. Friedrich sah sich und sein Land dennoch weiter an die Confessio Augustana gebunden und deshalb unter dem Schutz des Religionsfriedens stehend, allerdings an die variata von 1540, die auch Calvin unterzeichnet hatte. Der Kurpfalz folgten alsbald Grafschaften in Hessen und im Nordwesten Deutschlands sowie Bremen. Die Bevölkerung musste sich der neuen konfessionellen Orientierung ihrer Regenten fügen. Überzeugte Lutheraner verließen das Land. Spektakulär war schließlich der Übertritt des brandenburgischen Herrscherhauses zum reformierten Glauben im Jahre 1613. Ihm folgte allerdings keine Calvinisierung der Bevölkerung, sondern Kurfürst Johann Sigismund ließ seinen Untertanen ihren lutherischen Glauben. Die kirchengeschichtliche Bedeutung dieses Ereignisses und dieser Entscheidung war groß. Langfristig stellte sich die Frage, ob Lutheraner und Calvinisten nicht auch in einer Kirche vereint sein könnten. Im frühen 19. Jahrhundert kam es dann in Preußen, das an die Stelle Branden-

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Literatur

burgs getreten war, zum Zusammenschluss, zur Bildung einer Kirchenunion. Kleine reformierte Gemeinden existierten von 1564 an auch in römisch-katholischen Herrschaftsgebieten am Niederrhein und sind als „Kirche unter dem Kreuz“ in die Geschichte eingegangen. Literatur Paul-F[rédéric] Geisendorf: Théodore de Bèze. Génève 1949 (Repr. 1967). Martin Greschat: Martin Bucer. Ein Reformator und seine Zeit: (1491–1551). 2., überarb. u. erw. Aufl. Münster/Westf. 2009. Henri Heyer: Guillaume Farel. An Introduction to his Theology. Lewiston 1990 (Texts and Studies in Religion 54). Peter Opitz: Leben und Werk Johannes Calvins. Göttingen 2009. Georg Plasger: Johannes Calvins Theologie. Eine Einführung. 2., durchges. Aufl. Göttingen 2009. Herman J. Selderhuis (Hg.): Calvin Handbuch. Tübingen 2008 (Theologen-Handbücher). Herman J. Selderhuis: Johannes Calvin. Mensch zwischen Zuversicht und Zweifel. Eine Biografie. Gütersloh 2009. Willem Spijker: Calvin. Biographie und Theologie. Göttingen 2001 (Die Kirche in ihrer Geschichte 3, J 2). Christoph Strohm: Johannes Calvin. Leben und Werk des Reformators. München 2009 (Beck’sche Reihe 2469) (C.H. Beck Wissen). Christoph Strohm: Martin Bucer. Vermittler zwischen den Konfessionen. In: Martin H. Jung (Hg.), Peter Walter (Hg.): Theologen des 16. Jahrhunderts. Humanismus, Reformation, Katholische Erneuerung. Eine Einführung. Darmstadt 2002, S. 116–134.

&

6. Täufer und Schwenckfelder

radikale Reformatoren

Täufer

In der Geschichte der Wittenberger Reformation gibt es zentrale Gestalten wie Luther und Melanchthon, ferner zu ihnen loyale Männer des zweiten Glieds wie Bugenhagen und Jonas. Doch es gab auch Männer, die der Wittenberger Reformation zugehörten, aber andere Wege gehen wollten und gegangen sind als Luther und Melanchthon. Berühmte Beispiele sind Karlstadt und Müntzer. Diese und andere, vergleichbare Männer zusammenfassend, sprach man früher von radikalen Reformatoren oder dem linken Flügel der Reformation. Als radikale Reformatoren wurden sie bezeichnet, weil sie tiefer gehende, weiter reichende und schneller voranschreitende Veränderungen wollten als Luther und Melanchthon. Als links wurden sie bezeichnet, weil sie stärker als Luther und Melanchthon auch soziale Veränderungen wollten, sich mit den gesellschaftlich Unterdrückten solidarisierten und die Obrigkeiten attackierten. Diese problematischen, politisch konnotierten und wertenden Begriffe sind aber heute kaum mehr gebräuchlich. Am ehesten spricht man noch von „Außenseitern“ der Reformation. Außenseiter waren sie, weil sie von der durch Luther und Melanchthon repräsentierten Hauptströmung abwichen. Neben Karlstadt und Müntzer lassen sich auch verschiedene Täuferführer sowie Kaspar von Schwenckfeld zu den Außenseitern der Reformationsbewegung rechnen. Karlstadt und Müntzer waren zu Lebzeiten wichtig, hatten jedoch keine unmittelbaren Nachwirkungen. Müntzer widerfuhr allerdings vorübergehend in der Erinnerungskultur der DDR große Beachtung, weil er sich anders als Luther für eine revolutionäre und sozialistische Vereinnahmung der Reformation zu eignen schien. Schon für die unmittelbare nachreformatorische Zeit wichtig, weil dauerhaft Kirchen bildend, waren Teile der Täuferbewegung sowie Schwenckfeld. Als Teil der Reformation entfaltete sich schon in deren Frühzeit eine Täuferbewegung, aus der später eigenständige evangelische Kirchen hervorgingen. Als Täufer werden evangelische Christen bezeichnet, welche die Kindertaufe ablehnen und konsequent die Erwachsenen- oder Glaubenstaufe praktizieren. Während die Mehrheit der Evangelischen mit der alten Kirche an der Kindertaufe festhielt und sie nicht nur als berechtigt und möglich, sondern – wegen der Erbsünde – sogar als notwendig propagierte, hielten andere Evangelische diese Taufpraxis für mittelalterlich, unbiblisch und überholt. Nur bereits Erwachsene und schon Glaubende dürften

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Das Sakrament der Taufe

getauft werden, nicht aber Kinder, die vom Glauben noch nichts wüssten. Weil die Kritiker der Kindertaufe auch die Gültigkeit bereits vollzogener Kindertaufen bestritten und sie sich deswegen als Erwachsene erneut taufen ließen, wurden sie im 16. Jahrhundert als Wiedertäufer und – mit dem gleichbedeutenden griechischen Fremdwort – Anabaptisten bezeichnet und verurteilt. Heute spricht man wertfrei von den Täufern und der Täuferbewegung. Die Frage nach der Berechtigung der Kindertaufe entwickelte sich in der Reformationszeit zu einem brisanten Streitthema neben dem Abendmahlsthema.

Wiedertäufer

Das Sakrament der Taufe Die Taufe verbindet alle Christen aller Kirchen und aller Zeiten. Durchweg wurde sie als Sakrament angesehen, das heißt als eine religiöse Zeichenhandlung, die – glaubend empfangen – göttliches Heil vermittelt. Nur selten gab es Streit über die Taufe. Sie wurde als gültig betrachtet, wenn sie korrekt vollzogen wurde, selbst dann, wenn der Taufende ein „Ketzer“ war. Die Anrufung des dreieinigen Gottes – Vater, Sohn und Geist – und das dreimalige Untertauchen oder Übergießen mit Wasser reichten aus. Luther hat schon 1519 die Abendmahlstheologie und -praxis seiner Zeit kritisiert, nicht aber die Tauftheologie und -praxis. Zwischen Protestanten und Altgläubigen gab es anfangs keinen Dissens hinsichtlich der Taufe. Ein Dissens entstand jedoch innerhalb des evangelischen Lagers und er hat Folgen bis heute. Luthers Katechismus (1529) zur Taufe:1

Was ist die Taufe? Die Taufe ist nicht allein schlicht Wasser, sondern sie ist das Wasser in Gottes Gebot gefasst und mit Gottes Wort verbunden. Welches ist denn dies Wort Gottes? Unser Herr Christus spricht bei Matthäus im letzten Kapitel: „Gehet hin in alle Welt und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Was gibt oder nützt die Taufe? Sie wirkt Vergebung der Sünden, erlöst vom Tode und Teufel und gibt die ewige Seligkeit allen, die es glauben, wie die Worte und Verheißung Gottes lauten. 1 Originalwortlaut: BSLK, S. 515–517.



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Täufer und Schwenckfelder Welches sind denn solche Worte und Verheißung Gottes? Unser Herr Christus spricht bei Markus im letzten Kapitel: „Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden.“ Wie kann Wasser solch große Dinge tun? Wasser tut's freilich nicht, sondern das Wort Gottes, das mit und bei dem Wasser ist, und der Glaube, der solchem Worte Gottes im Wasser traut. Denn ohne Gottes Wort ist das Wasser schlicht Wasser und keine Taufe; aber mit dem Worte Gottes ist's eine Taufe, das ist ein gnadenreiches Wasser des Lebens und ein Bad der neuen Geburt im Heiligen Geist; wie Paulus sagt zu Titus im dritten Kapitel: „Gott macht uns selig durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist, den er über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesus Christus, unsern Heiland, damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden, Erben des ewigen Lebens würden nach unsrer Hoffnung“. Das ist gewisslich wahr. Was bedeutet denn solch Wassertaufen? Es bedeutet, dass der alte Adam in uns durch tägliche Reue und Buße soll ersäuft werden und sterben mit allen Sünden und bösen Lüsten; und wiederum täglich herauskommen und auferstehen ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinheit vor Gott ewiglich lebe. Wo steht das geschrieben? Der Apostel Paulus spricht zu den Römern im sechsten Kapitel: „Wir sind mit Christus begraben durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln.“

Evangelische Kritik an der Kindertaufe

Beschneidung

Die Reformation förderte die Mündigkeit des Einzelnen und stellte ihn unmittelbar vor Gott. Damit vertrug sich nur schlecht die überkommene Praxis, unmündige Kinder durch die Taufe und nicht durch eine spätere mündige Entscheidung zu Christen zu machen. Außerdem fehlte dieser Praxis eine biblische Grundlage. Schon früh wurde deshalb in der Reformationszeit die Kindertaufe infrage gestellt, in Wittenberg von Karlstadt und in Zürich von Zwingli. Doch Luther sprach sich immer entschieden für die Kindertaufe aus und auch Melanchthon und Zwingli schlossen sich nach kurzer Zeit bereits der Befürwortung an. Sie hielten die Kindertaufe für biblisch begründet, da im Neuen Testament durch die Berichte der Apostelgeschichte belegt und durch das Jesus-Wort „Lasset die Kinder zu mir kommen …“ (Mt 19,14) legitimiert. Außerdem argumentierten sie mit der alttestamentlichen Beschneidung, die ebenfalls an

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Evangelische Kritik an der Kindertaufe

(männlichen) Säuglingen vollzogen wurde und deren Nachfolge die Taufe angetreten habe. Die Frage, wo denn bei der Kindertaufe der von Jesus in seinem Missionsbefehl (Mk 16,15 f.) ausdrücklich verlangte Glaube bleibe, wurde unterschiedlich beantwortet: Man verwies darauf, dass der Glaube ein Geschenk Gottes sei und somit auch in unmündigen Kindern bereits vorhanden sein könne, und auf den stellvertretenden Glauben der Eltern und Paten oder man erklärte, dass der Zusammenhang von Glaube und Taufe auch gewahrt werde, wenn ein zeitliches Nacheinander bestehe und der Glaube erst nach Jahren auf die Taufe folge. Den Argumenten der Täufer suchten einige Reformatoren ferner durch die an das alte, von der Reformation abgeschaffte Sakrament der Firmung anknüpfende Konfirmation zu begegnen. In Hessen wurde sie 1539 formell eingeführt. Durch die Kritik der Täufer an der Kindertaufe stand die Frage im Raum, ob es nicht doch eines Aktes der bewussten Entscheidung für den christlichen Glauben bedürfte. Bucer nahm sich in besonderer Weise dieser Angelegenheit an und schuf eine Konfirmationsordnung, die eine Wiederholung des Taufbekenntnisses, eine fürbittende Segenshandlung und eine Handauflegung vorsah und diese Konfirmation mit der Abendmahlszulassung als definitive Eingliederung in die Gemeinde verband. Fraglich ist, ob diese in den hessischen, aber auch in anderen reformatorischen Kirchenordnungen vorgesehene Konfirmation in den Gemeinden wirklich praktiziert wurde. Richtig und dauerhaft durchgesetzt hat sie sich auf jeden Fall erst mehr als 150 Jahre später unter dem Einfluss des Pietismus. Die unterschiedlichen Argumente und Strategien zur Rechtfertigung der Kindertaufe stellten die meisten Kritiker nicht zufrieden. Es entstanden kleine evangelische Gemeinden, die von der Kindertaufe Abstand nahmen und damit begannen, als Kinder getaufte Erwachsene noch einmal zu taufen. Letzteres war in den Augen der Kindertaufbefürworter besonders verwerflich, da die Wiederholung einer gültigen Sakramentsspendung dieses Sakrament generell infrage stellte und damit Gott selbst und seine Heilszusage herausforderte. Die erste Erwachsenen- und Wiedertaufe fand 1525 in Zollikon bei Zürich statt. Die Bewegung griff rasch um sich. Im Laufe der Zeit entstanden richtige evangelische Täuferkirchen. Bedeutende Führergestalten waren Balthasar Hubmaier, Melchior Hoffman und Menno Simons. Die Täufer versuchten nicht nur, ihre Taufpraxis an der Bibel zu orientieren, sondern machten strenger als die großen Reformatoren auch in anderen Lebensbereichen die wörtlich verstandene Bibel zur Norm und Richtschnur. Das täuferische Kirchenmodell stellte die überkommenen volks-

Konfirmation

erste Wiedertaufe

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Täufer und Schwenckfelder

kirchlichen Strukturen in Frage. Mit der Einführung der Erwachsenentaufe ging die Freiwilligkeit der Kirchenmitgliedschaft automatisch einher. Die großen Reformatoren wollten aber an der im Mittelalter herrschenden geschlossenen Kirchlichkeit festhalten. Jeder sollte, äußerlich betrachtet, der Kirche und der christlichen Religion angehören. Das aber konnte man nur durch die konsequente Praktizierung der Kindertaufe erreichen.

Anfänge der Täuferbewegungen und erste Wiedertaufen Zwingli

Disputation

Die Anfänge der Täuferbewegungen liegen in Zürich und bei Zwingli, der anfangs selbst die Kindertaufe infrage gestellt hatte. Ursprünglich hatte er nämlich der Taufe eine den Glauben stärkende Wirkung beigemessen. Deswegen hielt er es für richtig, Kinder erst zu taufen, wenn sie mündig geworden wären. Später jedoch sah er in der Taufe lediglich ein Zeichen für die Aufnahme in die Gemeinde, das sowohl an schon Glaubenden als auch an künftig Glaubenden vollzogen werden könne. Ein Gnadenmittel wie für Luther und Melanchthon war die Taufe für Zwingli nicht. Sie sei nicht heilsnotwendig. Notwendig sei die Taufe nur als Zeichen für die Zugehörigkeit zum Gottesvolk und weil zu ihm nach Mt 19,14 auch Kinder gehörten, dürfe man ihnen die Taufe nicht vorenthalten. Unter den Anhängern Zwinglis gab es viele, die der Kindertaufe nachhaltig kritisch gegenüberstanden. Die Kritik an der Kindertaufe verband sich mit einem radikalen Antiklerikalismus und mit einer im Züricher Untertanengebiet um sich greifenden Kritik an der Züricher Obrigkeit. Die Abgabe des Zehnten wurde in Frage gestellt und teilweise verweigert. Zwingli und die städtische Obrigkeit versuchten der zunehmenden Probleme durch ein bewährtes Mittel Herr zu werden und luden zum dritten Mal in der Geschichte der Züricher Reformation zu einer Disputation, die sich nun mit der Taufthematik befassen sollte. Sie fand am 17. Januar 1525 statt, brachte aber keine Klärung. Zwei weitere Täuferdisputationen folgten im Laufe des Jahres, ohne dass sich die Standpunkte annäherten oder die vorgeladenen Täufer überzeugt werden konnten. Die Züricher Obrigkeit drohte mit der Todesstrafe. Wenige Tage nach der Januar-Disputation kam es zur ersten Wiedertaufe und zur Gründung einer Täufergemeinde im nahen Zollikon. Zwingli forderte den Rat der Stadt auf einzuschreiten. Es folgten Verhaftungen, Ausweisungen und Hinrichtungen. Am 5. Januar 1527 wurde der Züricher Humanist und Täuferführer, der frühere

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Täufer-Bekenntnisse und Täufer-Verfolgungen

Zwingli-Anhänger Felix Manz in der durch Zürich fließenden Limmat ertränkt. Seit 2004 gibt es an der Stelle eine Gedenktafel.

Felix Manz ertränkt

Täufer-Bekenntnisse und Täufer-Verfolgungen Die Niederlage der Bauern im Bauernkrieg 1524/25 schwächte die gerade erst entstandene Täuferbewegung. Sie wurde aber auch zum Sammelbecken von Männern und Frauen, welche sich in ihrem Bemühen um die Wiederherstellung des wahren Christentums weiter für radikalere Reformen einsetzen wollten. Zunehmend gingen sie auf Distanz zu Luther und Zwingli und sympathisierten mit Positionen Müntzers und Karlstadts. Ein kleiner Kreis gründete im Februar 1527 in Schleitheim im Hegau die „Brüderliche Vereinigung“. Damit entstand im Dunstkreis des Züricher Täufertums eine erste reformatorische Freikirche. Ihre Grundsätze legte sie in sieben Artikeln nieder und schuf damit das erste evangelische Bekenntnis der Reformationszeit. Die Schleitheimer Artikel erhoben die Glaubenstaufe zum Grundsatz. Ferner war die Absonderung von der Welt oberstes Prinzip. In den Gemeinden sollten sich die wahrhaft Glaubenden sammeln. Gemeindeglieder, die den hohen Ansprüchen nicht genügten, wurden konsequent ausgeschlossen. Durch eine strenge Bannpraxis grenzten sich die Täufer von allen ab, die nicht zur Gemeinde gehörten. Den Eid verweigerten sie ebenso wie den Kriegsdienst. Sie trachteten danach, gemäß dem Gesetz Jesu, der Bergpredigt (Mt 5–7), zu leben. Weltliche Obrigkeiten wurden ebenfalls abgelehnt, da wahrhafte Christen sie nicht benötigten. Die Pfarrer, als Hirten bezeichnet, sollten frei gewählt werden. Das Abendmahl wurde nicht sakramental, sondern als Ausdruck der christlichen Gemeinschaft verstanden. Aus den Schleitheimer Artikeln (24. 2. 1527):2

Die Taufe soll allen denen gegeben werden, die über die Buße und die Änderung des Lebens belehrt worden sind und wahrhaftig glauben, dass ihre Sünden durch Christus hinweg genommen sind, und allen denen, die wandeln wollen in der Auferstehung Jesu Christi und mit ihm im Tod begraben sein wollen, auf dass sie mit ihm auferstehen mögen, und allen denen, die es in solcher Meinung von uns begehren und von sich selbst aus fordern. Damit wird jede Kindertaufe ausgeschlossen, des Papstes höchster und erster Gräuel. Dafür habt ihr Beweise und Zeugnisse in der Schrift und Beispiele bei den Aposteln. 2 Vollständig: DGQD 3, S. 290–297; Auszüge: KTGQ 3, S. 114–116.

Schleitheim

Bann



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Täufer und Schwenckfelder

Michael Sattler

Todesstrafe

Hans Peißker

Der Verfasser der Artikel, Michael Sattler, ein ehemaliger Prior eines Benediktinerklosters im Schwarzwald, der von 1525 an in Zürich gelebt hatte, wurde wenig später, im Mai 1527, im altgläubigen Rottenburg am Neckar lebendig verbrannt. Seit Pfingsten 1997 erinnert eine Gedenkstätte an seinen grauenvollen Tod. Wolfgang Capito, einer der Straßburger Reformatoren, war einer von wenigen, die gegen diese Hinrichtung protestierten. In der Folgezeit bildete das südwestdeutsche und Schweizer Täufertum weltabgewandte Gemeinden, die mehr und mehr erstarrten. Kleinstterritorien und abgelegene Gegenden boten ihnen Zufluchtsmöglichkeiten. Aber auch die Reichsstadt Straßburg duldete Täufer in ihren Mauern. Evangelische wie altgläubige Obrigkeiten empfanden die Täuferbewegung als Bedrohung. 1529 beschloss der Reichstag von Speyer, „Wiedertäufer“ und „Wiedergetaufte“ mit dem Tod zu bestrafen und ebenso alle, welche die Taufe von Kindern verweigerten. Evangelische und altgläubige Obrigkeiten waren sich einig, die Täuferbewegung gewaltsam zu bekämpfen. Luther und Melanchthon stimmten zu. Nur wenige Evangelische, zum Beispiel der südwestdeutsche Reformator Johannes Brenz und der hessische Landgraf Philipp von Hessen, vertraten einen milderen Kurs. Auch in Straßburg wurden keine Todesurteile gefällt. Viele Täufer an vielen Orten bezahlten jedoch ihre Überzeugung mit dem Leben. Melanchthon wirkte bei der Verhängung von Todesurteilen persönlich mit. Im Winter 1535/36 verhörte er in Thüringen – in Jena, auf der Leuchtenburg sowie in Kahla – mehrere inhaftierte Täufer, darunter einen Anführer namens Hans Peißker, einen Müller aus Kleineutersdorf bei Kahla an der Saale. In den darüber vorhandenen Dokumenten zeigt sich, dass Melanchthon zu differenzieren wusste. In mehreren Fällen plädierte er für die Freilassung, in anderen befürwortete er jedoch die Hinrichtung. Peißker wurde mit dem Tode bestraft. Ein Denkmal hat er in seiner Heimat bislang nicht bekommen. Erst im Jahre 2010 konnten sich die lutherischen Kirchen dazu durchringen, das Verhalten ihrer Ahnherren im Nachhinein zu verurteilen. Der Lutherische Weltbund entschuldigte sich offiziell bei den heutigen Nachfahren der reformationszeitlichen Täuferbewegungen.

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Täuferreformationen in Waldshut und Nikolsburg

Täuferreformationen in Waldshut und Nikolsburg In Waldshut am Hochrhein, in Nikolsburg in Mähren und in Münster in Westfalen erlangten Täufer trotz der nahezu flächendeckenden Verfolgungen zeitweise politische Macht und gestalteten Gemeinwesen nach ihren Vorstellungen. Besonders erfolgreich wirkte der Täuferführer Balthasar Hubmaier. Um 1480 geboren, aus Friedberg bei Augsburg stammend, absolvierte er ein Theologiestudium in Freiburg im Breisgau bei Johann Eck. Eine Promotion in Ingolstadt schloss sich an. Hubmaier ließ sich zum Priester weihen und wirkte von 1516 an als Domprediger in Regensburg, wo er sich als ein schlimmer Judenfeind und ein großer Förderer von Marienwallfahrten exponierte. 1519 ließ er die örtliche Synagoge in eine Marienkapelle umwandeln. Wenig später kam es zur Begegnung mit der reformatorischen Lehre. Im Winter 1520/21 besorgte er sich in Ulm Oekolampads „Stellungnahme zu Luther“. Eine Pfarrstelle in Waldshut, einer Stadt unter habsburgischer Oberherrschaft, übernahm er 1521 und begann dort spätestens 1523 reformatorisch zu predigen. Im Frühjahr 1523 traf er erstmals mit Zwingli zusammen. Im Oktober 1523 nahm er an der Zweiten Zürcher Disputation teil, wo er direkt neben Zwingli saß. Es gelang Hubmaier in Waldshut eine von der Obrigkeit organisierte Täuferreformation durchzuführen. 1524 erfolgte eine Gottesdienstreform verbunden mit einem Bildersturm. Eine freiwillige Züricher Schutztruppe wurde in Waldshut stationiert, um gegebenenfalls gegen Habsburg zu helfen. Im Frühjahr 1525 heiratete Hubmaier und an Ostern 1525 ließ er sich in Waldshut von Wilhelm Reublin, Pfarrer von Witikon bei Zürich, gemeinsam mit sechzig Anhängern taufen. Der Stadtrat Waldshuts und weitere 300 Menschen wurden anschließend von Hubmaier getauft. Das Abendmahl wurde in Waldshut nun als Gedächtnismahl, verbunden mit einer Fußwaschung, gefeiert. Anfang Dezember aber besetzten die Österreicher die Stadt und bereiteten dem Treiben ein Ende. Hubmaier floh nach Zürich, wo er allerdings nicht asyliert, sondern inhaftiert wurde. Die Züricher versuchten ihn zu zwingen, seine täuferischen Überzeugungen öffentlich zu widerrufen. Der erste Versuch scheiterte. Hubmaier trat auf die Kanzel des Fraumünsters, aber widerrief nicht, wie er zuvor versprochen hatte, sondern erklärte, er habe sich nicht geirrt. Darauf erklomm Zwingli eine andere Kanzel und griff ein. Mehrere Monate Gefängnis folgten. Dann hatte Hubmaier genug. Er widerrief nun drei Mal in drei Kirchen. Im April 1526 verließ Hubmaier Zürich und ging über Konstanz und Augsburg nach Mähren. 1526 konnte er dort einen Grundherrn

Balthasar Hubmaier

Wilhelm Reublin

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Täufer und Schwenckfelder

Jakob Huter

für das Täufertum gewinnen und erneut, in Nikolsburg (heute: Mikulov), eine obrigkeitliche Täuferreformation durchführen. Wegen des Türkenkriegs kam es allerdings in der Gemeinde zu Spannungen zwischen strengen Pazifisten – Stäbler genannt, weil sie wie biblische Hirten nur Hirtenstäbe, keine Waffen trugen – und den als Schwertler bezeichneten Täufern, die bereit waren, trotz ihrer pazifistischen Grundhaltung gegen die Türken Gewalt anzuwenden und sich gegen einen Angriff zu wehren. Die Stäbler verließen 1529 Nikolsburg und gründeten in Austerlitz (heute: Slavkov) eine neue Gemeinschaft, in der sie auch Gütergemeinschaft praktizierten. Zu dieser Gemeinde stieß später, 1533, der Tiroler Täuferführer Jakob Huter und die Gemeinde wurde durch ihn zur Kernzelle der Gemeinschaft der Hutterischen Brüder, die es in den USA und in Kanada, wohin sie im 19. Jahrhundert auswanderten, noch heute gibt. Balthasar Hubmaier war schon 1527, als in Böhmen Ferdinand von Österreich die Königsmacht erlangt hatte, verhaftet und nach Wien deportiert worden. 1528 starb er dort auf dem Scheiterhaufen. Eine Gedenktafel am Stubentor erinnert heute an sein Schicksal. Seine Frau wurde in der Donau ertränkt. Von Hubmaier gibt es insgesamt 25 Schriften. Er war der einzige wirklich profilierte Theologe der frühen Täuferbewegung.

Hoffman und das Münsteraner Täuferreich

Straßburg

Im niederdeutsch-niederländischen Raum etablierte sich ein Täufertum, dessen Wirkungslinien bis in die Gegenwart reichen. Seine Entstehung war eng verknüpft mit Melchior Hoffman. Er war zuerst erfolgreich als lutherischer Laienprädikant im Nord- und Ostseeraum tätig. Wegen seines kämpferischen Engagements, seiner Neigung zum Spiritualismus und seiner apokalyptischen Visionen kam es zum Bruch mit den Wittenberger Reformatoren. Ein Aufenthalt in Straßburg brachte Hoffman Ende der zwanziger Jahre in Kontakt mit den dort wie nirgendwo sonst zahlreich vertretenen Täufergruppen. Sein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein verunmöglichte ihm allerdings den Anschluss an eine der bestehenden Gemeinden. Vielmehr sammelte er einen eigenen Kreis um sich mit dem Ziel, Menschen zu Buße und Umkehr zu bewegen und sie durch die Taufe in die endzeitliche Gemeinde der Heiligen einzugliedern. Obwohl Hoffman von der unmittelbar bevorstehenden Abrechnung Gottes mit den Ungläubigen überzeugt war, rief er seine Anhänger nicht zu gewalttätiger Beförderung und Unterstützung dieses heraufziehenden Endgerichts auf.

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Hoffman und das Münsteraner Täuferreich

Nach seiner Flucht aus Straßburg gründete Hoffman 1530 im ostfriesischen Emden eine erste größere Täufergemeinde. Von hier aus fanden seine Ideen mittels zahlreicher Sendboten auch Eingang in die Niederlande, wo das Klima durch eine sich verschlechternde wirtschaftliche Lage bestens vorbereitet war für apokalyptische Weltdeutung und Agitation. Gleich die erste Missionskampagne führte dazu, dass sich viele Menschen taufen ließen. Die unmittelbar einsetzende massive Verfolgung seitens der politischen und kirchlichen Obrigkeiten beendete diesen Aufbruch aber in einem großen Blutbad, sodass Hoffman und seine übrig gebliebenen Gesinnungsfreunde das Taufen für zwei Jahre suspendierten.

Emden

Kurzbiografie: Hoffman ca. 1500 1523 1530 1533 1543

Geburt in Schwäbisch Hall Laienprediger in Livland Flucht aus Straßburg Haft in Straßburg Tod im Straßburger Gefängnis

1533 war Hoffman wieder in Straßburg und wurde erneut verhaftet. Andere übernahmen die Führung seiner Bewegung. In den Niederlanden war es der Bäcker Jan Matthijs aus Haarlem. Immer drängender wurde der apokalyptische Ruf zu Buße und Umkehr angesichts des bevorstehenden Gottesgerichts an allen Tyrannen und Gottlosen, dem man nur durch die Wiedertaufe und den Bruch mit der römischen Kirche entkommen könne. Gleichzeitig wurde nun auch die Ankunft des Neuen Jerusalem nach Apk 21 verkündigt, welches immer deutlicher mit dem westfälischen Münster in Verbindung gebracht wurde. Scharenweise brachen niederländische und niederdeutsche Taufgesinnte Schutz suchend dorthin auf, oft Familienangehörige sowie sämtliches Hab und Gut hinter sich zurücklassend. In der Bischofsstadt Münster war Anfang der dreißiger Jahre die Reformation eingeführt worden. Unter Leitung von Bernhard Rothmann, einem Kaplan, nahm sie schnell eine radikale Entwicklung. Bei einer Ratswahl erhielten die Taufgesinnten die Mehrheit. Der Bischof von Münster und andere Obrigkeiten zogen jedoch ihre Truppen zusammen. Vom Februar 1534 bis Juni 1535 wurde Münster belagert, was die eschatologische Stimmung unter den Täufern noch steigerte. Das Gemeinwesen wurde radikal umgestaltet und der Holländer Jan Bockelson regierte als „König Israels“ im „Neuen Jeru-

Jan Matthijs

Bernhard Rothmann

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Täufer und Schwenckfelder

Mehrehe

salem“. Andersdenkende wurden vertrieben oder getötet und unter Berufung auf das Alte Testament die Mehrehe – von den Gegnern als Vielweiberei verteufelt – eingeführt. Bockelson allein soll sechzehn Frauen zur Ehe genommen haben. Katholische und evangelische Obrigkeiten, finanziell unterstützt von den Fuggern, bereiteten der Täuferherrschaft ein blutiges Ende. Münster wurde wieder streng katholisch. Die Anführer starben unter den Qualen glühender Zangen und wurden anschließend in Käfigen am Kirchturm aufgehängt. Das Täufertum, das weithin pazifistisch eingestellt war, haben die Ereignisse in Münster nachhaltig diskreditiert. Fortan war „Wiedertäufertum“ ein Synonym für Anarchie, Aufruhr und Unzucht.

Menno und die Mennoniten

Witmarsum

Pingjum

Weitaus bedeutender als die bislang vorgestellten Spielarten des Täufertums war der nordwestdeutsche Täuferführer Menno Simons, denn er hatte eine dauerhafte, kirchenbildende Wirkung und auf ihn geht die heute weltweit verbreitete Kirche der Mennoniten zurück. Auch er war von Hoffman und seiner Bewegung inspiriert, lehnte Gewalt aber immer ab. Biografisch ist über Menno („Simons“ ist Bei-, nicht Nachname) nur wenig bekannt. Als Geburtsjahr wird heute 1496 angenommen. Fest steht das Todesjahr: 1561. Er wurde im westfriesischen Dorf Witmarsum geboren. Der nächste biografische Fixpunkt ist seine Weihe zum Priester im März 1524 und seine sich daran anschließende Berufung zum Vikar nach Pingjum, dem Heimatort seines Vaters unweit von Witmarsum. Über eine höhere oder gar akademische Ausbildung scheint er nicht verfügt zu haben. In Pingjum kamen dem fast 30-Jährigen offenbar erste Zweifel an Lehren der Kirche. Vor allem die Realpräsenz Christi in den Abendmahlselementen bereitete ihm Mühe. Wahrscheinlich stand er unter dem Einfluss der in den Niederlanden weit verbreiteten Sakramentskritik, die sich durch die ersten Nachrichten über die Reformation in Deutschland zusätzlich bestätigt und bestärkt sah. Weder Gespräche mit seinen Amtsbrüdern noch sein nunmehr beginnendes systematisches Lesen der Bibel ließen ihn zur Ruhe kommen. Er begann intensiv Erasmus, Luther, Bucer und Bullinger zu lesen und empfing wesentliche Impulse von ihnen. Als in Leeuwarden 1531 der Täufer Sikke Freerks hingerichtet wurde, reagierte er tief bewegt und begann selbst an der Berechtigung der Kindertaufe zu zweifeln. Ein erneutes Studium der Schrift sowie von Texten der Kirchenväter, Humanisten

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Menno und die Mennoniten

und Reformatoren ließen in ihm die Einsicht heranwachsen, dass die kirchliche Praxis auf einem Irrtum beruhe. Während Menno innerlich immer mehr auf Distanz zur Kirche ging, nahm er äußerlich seine Pflichten als Pfarrer weiterhin wahr. Noch fehlte ihm der Mut, die Sicherheit und das Ansehen seiner gut bezahlten Stelle preiszugeben. Er wechselte sogar Ende 1532 auf eine einträglichere Priesterstelle in seiner Geburtsstadt Witmarsum. Hier wurde er Anfang 1534 erstmals persönlich, durch Sendboten von Jan Matthijs, mit der rasch wachsenden Täuferbewegung konfrontiert. Anfang Mai 1535 wurden nach der Besetzung des Oldekloosters bei Bolsward Taufgesinnte von obrigkeitlichen Truppen erbarmungslos massakriert. Menno war tief bewegt und verstört. Unter den Hingerichteten befanden sich nicht nur vertraute Angehörige seiner damaligen wie auch seiner früheren Pfarrei, sondern sogar sein eigener Bruder. Diese dramatischen Ereignisse scheinen für Menno der letzte Anstoß gewesen zu sein, sein Doppelleben eines äußerlich noch gehorsamen Priesters, der innerlich aber mit seiner Kirche weitgehend gebrochen hatte, zu hinterfragen. Noch harrte er allerdings weitere neun Monate in seinem Amt aus – hin und her gerissen zwischen Fasziniertheit durch täuferische Bußfertigkeit und Leidensbereitschaft und Furcht vor einer ungewissen Zukunft.

Witmarsum

Kurzbiografie: Menno 1496 (?) 1531 1536 1539 1561

Geburt in Witmarsum Priesterweihe Anschluss an die Täufer Fundamentbuch Tod in Wüstenfelde (31.1.)

Im weiteren Verlauf des Jahres 1535 wandte sich Menno immer deutlicher den Täufern zu, trotz oder vielleicht gerade wegen der sich immer klarer abzeichnenden Katastrophe in Münster. Im Gespräch mit einigen friedfertigen Täufern wuchs er immer tiefer in die religiöse Welt des von Hoffman inspirierten Täufertums hinein. Im Januar 1536 – ein halbes Jahr nach dem blutigen Ende der Täuferherrschaft in Münster – legte er sein Priesteramt nieder und ließ sich von Obbe Philips taufen und Anfang 1537 in Groningen zum Ältesten einsetzen. Etwa in dieselbe Zeit dürfte auch die Heirat Mennos mit der ehemaligen Begine Geertruydt Hoyer aus Witmarsum fallen. Mennos Leben und das seiner Frau war von nun an gekennzeichnet durch stetige Verfolgung. In den Jahren 1537–1544 fand er

Taufe Heirat

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Täufer und Schwenckfelder Ostfriesland

Wanderungen

Köln

Missionstätigkeit

Zuflucht in Ostfriesland und Groningen. Von hier aus unternahm er zahlreiche ausgedehnte pastorale und missionarische Reisen in Friesland und Holland, allerdings in steter Sorge und Gefahr vor obrigkeitlichem Zugriff, der sowohl ihn selbst als auch seine Zuhörerinnen und Zuhörer jederzeit das Leben hätte kosten können. Bald schon war Menno zu einem überregional gesuchten Ketzer geworden, auf dessen Kopf ein kaiserlicher Erlass von 1542 einhundert Gulden ausgesetzt hatte. Während Hunderte von Männern und Frauen ihre täuferische Überzeugung mit dem Leben bezahlten, schaffte es Menno immer wieder, seinen Häschern zu entkommen und weiterzuziehen. Auf seinen Wanderungen sammelte und ermutigte er die Überreste der nach dem Fall Münsters verunsicherten und versprengten Taufgesinnten. Predigend und taufend fasste er die Gläubigen in fest gefügten Gemeinden zusammen. Trotz aller Unstetigkeit gelang es Menno in diesen Jahren viele Schriften zu verfassen, in denen er die wesentlichen Themen seiner Theologie und seiner pastoralen Praxis entfaltete, darunter das Fundamentbuch. Von seinem vorübergehenden Aufenthaltsort im vergleichsweise toleranten ostfriesischen Oldersum aus nahm Menno im Januar 1544 ein Angebot des Superintendenten der reformierten Emdener Flüchtlingsgemeinde, Johannes Laski, zu einer Disputation an. Obwohl Laski selbst recht milde mit den friedfertigen Täufern zu verfahren gedachte, verschlechterte sich die politische Lage aufgrund des zunehmenden habsburgischen Drucks so sehr, dass Menno aus Ostfriesland weichen musste. Begleitet vom Mitältesten Dirk Philips zog er ins Erzbistum Köln, wo eine mit dem Reformationsversuch des dortigen Erzbischofs zusammenhängende tolerante Religionspolitik ein gutes Wirkungsfeld bot. Wiederum entfaltete Menno eine umfangreiche und erfolgreiche Predigt- und Tauftätigkeit und erlebte die vielleicht glücklichste Periode seines reformatorischen Wirkens. Aus diesen Jahren stammt eine der wenigen Beschreibungen seiner Person. Darin wird er geschildert als „ein beleibter, fetter, schwerer Mann, uneben im Angesicht, mit einem braunen Bart“, dem das Gehen aufgrund einer früheren Verletzung schwer fiel und der sich deshalb mit einer Krücke behalf. Als sich nach dem Scheitern der Kölner Reformation und dem Herrschaftswechsel im Erzbistum ab Ende 1546 die Lage für die Täufer verschlechterte, floh Menno erneut und wandte sich in die Region der Hansestädte Lübeck und Wismar. Er entfaltete wiederum eine ausgedehnte Missionstätigkeit, die ihn entlang der Nord- und Ostseeküste bis nach Westpreußen führte. Geprägt sind die nun folgenden Jahre allerdings auch von einer Zunahme der Spannungen im eigenen täuferischen Lager. Die Bannpraxis rückte immer mehr

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Menno und die Mennoniten

ins Zentrum der Auseinandersetzungen um die Reinheit der Gemeinde. Im Sommer 1554 fand Menno eine neue Zuflucht in Wüstenfelde bei Oldesloe zwischen Hamburg und Lübeck. Hier gewährte ihm der Landesherr Bartholomäus von Ahlefeld aus Sympathie für den täuferischen Glaubenseifer und aus Mitleid angesichts der an Täufern verübten Gräueltaten eine Bleibe, welche Menno bis zu seinem Lebensende in Anspruch nehmen konnte. Hier richtete er sich eine kleine Druckerei ein und arbeitete an seinen Schriften. Einen unmittelbaren Einfluss auf die weitere Entwicklung des Täufertums im niederländisch-niederdeutschen Raum übte er nun aber nicht mehr aus. Bisweilen äußerte er sich zu einzelnen Besuchern bedauernd über seine früheren Zugeständnisse an die Befürworter einer härteren Bannpraxis und seinen Anteil an den in diesen Debatten um sich greifenden Zwistigkeiten und Lieblosigkeiten. Vielleicht war es der nahende Tod, der Menno in manchem milder stimmte und ihn eigenes Scheitern klarer sehen und ansprechen ließ. Nachdem seine Frau wohl noch vor 1557 verstorben war, gingen auch seine Lebenskräfte zur Neige. Krank und vereinsamt starb Menno Simons am 31. Januar 1561. Menno war überzeugt, dass grundlegende Veränderung und Erneuerung beim Menschen in einem weit größeren Ausmaß möglich ist, als dies Luther oder Calvin annahmen und lehrten. Die allen Menschen innewohnende Sündennatur kann nicht nur, sie muss nach Menno überwunden werden, wenn Erlösung und Heil konkret geschehen und erfahren werden sollen. Dieser optimistische anthropologische Ansatz hatte Konsequenzen für die Ekklesiologie und die Ethik. Für Menno war allerdings stets klar, dass dieses Potential zu grundlegender Erneuerung nicht in eigener menschlicher Kraft begründet lag, sondern ausschließlich im Wirken Gottes durch seinen Geist. Menno war überzeugt, dass Christus die Sünde überwunden hatte und dass Gott durch die Gabe des Geistes seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern bereits in diesem Leben gleichfalls Siege über die Sünde schenken wolle. Bei allem Optimismus hinsichtlich der Möglichkeit der menschlichen Neuwerdung vermied es Menno aber, absolute Sündlosigkeit zum Prüfstein für wahre Jüngerschaft zu erklären. Versuchung und Schuld blieben aus seiner Sicht ein Problem auch für Wiedergeborene. Gleichwohl wollte er bei ihnen nicht mehr von einer nicht zu durchbrechenden Beherrschung durch die Sünde sprechen. Menno ist von seinen modernen Anhängern bisweilen als vierter Reformator bezeichnet worden nach Luther, Zwingli und Calvin.

Wüstenfelde

31. Januar 1561

vierter Reformator?

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Täufer und Schwenckfelder

Mennoniten

Damit würde seine Bedeutung aber stark überschätzt. Er war kein Mann der ersten Stunde, er war kein Pionier und kein origineller Denker. Er hat allerdings einer bisweilen recht einflussreichen Bewegung seinen Stempel aufgedrückt, welche die frei- und friedenskirchliche Tradition der westlichen Christenheit begründete. Obwohl er nicht ihr eigentlicher Gründer war, ist Menno zum Namenspatron der Mennoniten geworden. Dieser zuerst nur lokal und als Schutzname verwendete Begriff ist im Laufe der Geschichte zu einer Sammelbezeichnung geworden für eine breite Palette von Gemeinschaften, welche ihre Wurzeln in den täuferischen Bewegungen des 16. Jahrhunderts haben. Zusammengeschlossen in einem weltweiten Dachverband, zählen die Mennoniten heute mehr als eine Million, in Deutschland 60.000. Die Bezeichnung als Mennoniten hat sich allerdings gerade in den Niederlanden, der Heimat Mennos, nicht durchgesetzt. Hier spricht man bis heute von den „Doopsgezinden“ (Taufgesinnten) und entspricht damit der Aufforderung Mennos, sich nicht nach Menschen zu richten oder auf Menschen zu setzen, sondern allein auf Christus. Baptisten – eine täuferische Freikirche

England

Puritaner

Die Mennoniten sind nicht die einzige und auch nicht die größte Täuferkirche in der gegenwärtigen Christenheit, aber sie sind mit den Hutterern die Einzigen, deren Wurzeln in der Reformationsepoche selbst liegen. Doch die Diskussionen um die Berechtigung der Kindertaufe ließen nicht nach und so sind auch in der späteren Kirchengeschichte mehrfach neue Täuferkirchen entstanden. Die in der Gegenwart zahlenmäßig größte Täuferkirche bilden die Baptisten mit weltweit etwa vierzig Millionen Anhängern. Die Baptisten haben ihre Wurzeln im calvinistischen England des frühen 17. Jahrhunderts. Die Bezeichnung „Baptisten“ war ursprünglich ein Schimpfwort für Menschen, deren eigentliches Anliegen die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat war, die das allgemeine Priestertum und strenge Kirchenzucht forderten, aber auch die Erwachsenentaufe für das einzig Richtige hielten. Eine erste Baptisten-Gemeinde wurde 1609 von englischen Puritanern im holländischen Exil gegründet. 1611/12 entstand auch bei London eine Baptistengemeinde. Ein erstes Bekenntnis, mit dem sich die Baptisten von den Mennoniten abgrenzten, wurde 1611 geschaffen. Die Baptisten erklärten, dass ein Christ obrigkeitliche Ämter innehaben, das Schwert führen und einen Eid leisten dürfe.

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Schwenckfeld und die Schwenkfelder Church

Die Baptisten spalteten sich bald schon wegen der im Calvinismus ständig virulenten Prädestinationsfrage in zwei Richtungen. Um 1640 formierte sich eine Gruppe, die den strengen prädestinatianischen Standpunkt vertrat, Christus sei nicht für alle Menschen, sondern nur für die von Gott Auserwählten gestorben. In der weiteren Geschichte wurden die Baptisten für Amerika wichtig, wo schon 1639, in Providence, eine erste Gemeinde gegründet worden war. Seit dem 19. Jahrhundert gibt es Baptisten in Deutschland. In Nordamerika zählen sie heute mehr als dreißig Millionen Anhänger. In Deutschland, wo sie zu den evangelischen Freikirchen gehören, sind es etwa 200.000. Sie besitzen aber keine geschlossene kirchliche Organisationsstruktur, sondern ihre unabhängigen Gemeinden sind zu verschiedenen „Bünden“ zusammengeschlossen.

Prädestinationsfrage

Schwenckfeld und die Schwenkfelder Church Den Täufern und den großen Reformatoren war die Wertschätzung der Sakramente gemeinsam. Sie stritten sich um konkrete Fragen der theologischen Interpretation und der kirchlichen Praxis. Andere Theologen jedoch sahen darin lediglich einen im Grunde unsinnigen Streit um Äußerlichkeiten und meinten, es komme letztlich immer nur auf den Geist und den Glauben an. Solche spiritualistische Ansichten finden sich bei Zwingli. Es gab aber auch weitaus entschiedenere Spiritualisten unter den Reformationsanhängern, darunter den schlesischen Adligen Schwenckfeld. Kaspar von Schwenckfeld wurde 1489 auf dem Gut Ossig bei Lüben, nahe Liegnitz in Schlesien, geboren. Nach eigenen Angaben studierte er zunächst von 1505–1507 in Köln. Dann wechselte er an die brandenburgische Universität in Frankfurt an der Oder. Hier widmete er sich wahrscheinlich juristischen Studien, ohne einen akademischen Abschluss zu erlangen. Seit 1510 versah er Hofdienste und kam 1521 zu Herzog Friedrich II. von Liegnitz. Zwischenzeitlich hatte Schwenckfeld nach eigenen Angaben göttliche „Heimsuchungen“ erlebt, die ihn zum Anhänger Luthers und zum religiösen Reformer werden ließen. Nach dem Reichstag in Worms wurde Schwenckfeld zum Führer der „Martianer“ genannten Reformationsanhänger in Schlesien. Seine Stellung am Liegnitzer Hof nutzte er, um die Reformation im Herzogtum zu fördern. 1524 ebnete ihr Herzog Friedrich II. den Weg. Im Verlauf der innerevangelischen Abendmahlsstreitigkeiten entwickelte Schwenckfeld eine eigene Position, die auf Luthers entschie-

Schlesien

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Täufer und Schwenckfelder

Straßburg

Ulm

Justingen

Esslingen

dene Ablehnung stieß. Dadurch kam es zu einem Zerwürfnis zwischen Schwenckfeld und dem Wittenberger Reformator, der ihn zusammen mit Zwingli verurteilte. Als Ferdinand von Österreich in seinem neuen böhmischen Machtbereich von 1528 an Mandate gegen „Sakramentsverächter“ erließ, wurde die Situation für Schwenckfeld und seine Anhänger schwierig. Der schlesische Adelige verließ schließlich 1529 seine Heimat und ging ins Exil. Bis 1534 lebte er in der Reichsstadt Straßburg. Doch auch dort geriet er wegen seiner Überzeugungen in Schwierigkeiten. Er wandte sich deshalb ins Württembergische. Schwenckfeld fand zahlreiche Anhänger bis in die höfischen gesellschaftlichen Kreise hinein, was ihm zeitweilig einen gewissen Wirkungsraum eröffnete. 1535 aber erließ Herzog Ulrich von Württemberg ein Mandat gegen alle „Sakramentierer“, „Wiedertäufer“ und „Sektierer“. Von 1535–1539 lebte Schwenckfeld in der evangelischen Reichsstadt Ulm. Dann zog er in die Reichsstädte Augsburg und Esslingen. Sein Lebensweg war durch zahlreiche Ortswechsel und eine damit verbundene Unstetigkeit geprägt. Erst 1541 fand er für sechs Jahre eine Bleibe im nahe bei Ulm gelegenen Justingen. In dieser Zeit veröffentlichte er etwa fünfzig Bücher und über zweihundert Briefe, in denen er unermüdlich für seine Auffassung christlicher Lehre und Existenz warb. Zudem unternahm er zahlreiche Reisen und trat dabei in Konkurrenz zu täuferischen Gemeinden. Als er nach der Niederlage des Schmalkaldischen Bundes Justingen verlassen musste, lebte er unter dem Namen Eliander unerkannt im Franziskanerkonvent in Esslingen und veröffentlichte dort weitere Schriften. Von 1554 an wirkte er ganz im Verborgenen, weil Herzog Christoph von Württemberg seine Verhaftung angeordnet hatte. Auch die Ulmer Obrigkeit sowie die Pfalz gingen gegen ihn vor. Nach seinem Tod 1561 in Ulm gab es weiter zahlreiche Anhänger, die sich in Gemeinschaften in Süddeutschland sammelten. In Schlesien waren die Schwenckfelder eine richtige Volksbewegung. Doch Verfolgungen durch lutherische wie altgläubige Obrigkeiten dezimierten ihre Zahl. Kurzbiografie: Schwenckfeld 1489 1525/26 1529 1537 1547 1561

Geburt in Ossig Bruch mit Luther Straßburg Ulm Esslingen Tod in Ulm (10. 12.)

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Schwenckfeld und die Schwenkfelder Church

Schwenckfeld war ein streitbarer Laientheologe, der sich wie andere zuvor vom Lutheranhänger zum Luthergegner entwickelte. Das Erleben der sittlichen und religiösen Zustände in den Gemeinden führte ihn zu einer zunehmend kritischer werdenden Auseinandersetzung mit Luthers Lehre. Er problematisierte den mangelnden sittlichen Fortschritt nach der Teilnahme am Abendmahl. Seine Kritik richtete sich vor allem gegen die Auffassung, dass der bloße Genuss des Sakraments Heil vermittle. Schwenckfeld vollzog eine scharfe Trennung zwischen dem alten und dem neuem Menschen und zwischen Geist und Kreatur. Er spiritualisierte das Abendmahl und fragte nach der Würdigkeit der Teilnehmer und dem Stand ihres Glaubens. Dabei erlag Schwenckfeld der Gefahr, ein zentrales Element christlicher Praxis ganz zu verlieren. Der sogenannte „Stillstand“, das Aussetzen der Abendmahlsfeiern bei Schwenckfeld und seinen Anhängern, war die praktische Konsequenz. Bei einem Besuch in Wittenberg 1525 diskutierte Schwenckfeld über ekklesiologische Themen. Er sprach auch mit Luther über die Frage, welcher Weg einzuschlagen sei, um rechte und falsche Christen zu trennen. Schwenckfeld zielte auf die Einführung des Kirchenbanns. Luther zeigte sich zurückhaltend, schlug aber vor, Kirchenregister einzuführen, auf den Lebenswandel der Gläubigen zu achten und ihnen in Klöstern besondere Gottesdienste zu halten. Dagegen insistierte Schwenckfeld auf einer erkennbaren Absonderung der wahren Christen. Die Kirche war für Schwenckfeld eine unsichtbare Größe, die Gemeinschaft der Auserwählten. Für die Vorstellung einer Volkskirche hatte er keinen Platz. Er kritisierte die äußerliche Reformation schließlich sogar als ein „totes Werk“, das „Gott dem Herrn ein Abscheu und Gräuel ist“. Für Schwenckfeld existierte die wahre Kirche unabhängig vom gepredigten Wort und vom Sakrament. Sie besteht aus den Auserwählten und von Christus Bekehrten, die weit entfernt voneinander leben können, ohne sichtbare Gemeinschaft. Sie zeichnet sich durch ein unmittelbares Verhältnis zu Christus aus. Sein spiritualistisches Kirchenverständnis bewegte Schwenckfeld zu einer religiös indifferenten und toleranten Haltung gegenüber den verschiedenen Erscheinungsformen der Kirche. Er lehnte es auch ab, den Antichristen mit einer konkreten Person oder einem konkreten Amt zu identifizieren, wie es in der Reformationszeit gang und gäbe war. Er wandte sich aber auch gegen den Absolutheitsanspruch der Täufer, die sich als sichtbar versammelte Gemeinde Gottes verstanden.

Abendmahl

unsichtbare Kirche

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Täufer und Schwenckfelder

Deifikation

innerliches Wort

Anhänger

Kirche

Die zweite Lebenshälfte Schwenckfelds wurde durch Auseinandersetzungen um die Christologie und um das Schriftverständnis geprägt. In den dreißiger Jahren stritt er sowohl mit Lutheranern als auch mit Zwinglianern über die Christologie. Seit 1528 bildete Schwenckfeld die eigentümliche Lehre von der Deifikation der menschlichen Natur Christi im Stand der Erniedrigung aus. Diese als allmähliche Entwicklung im irdischen Leben verstandene „Vergöttlichung“ fand ihren Abschluss mit Auferstehung und Himmelfahrt. Dem christologischen Streit folgte der Streit um das Verständnis des Gotteswortes. In einer Publikation aus dem Jahr 1551 legte Schwenkfeld seine Sicht der Dinge grundlegend dar. Dabei differenzierte er zwischen dem äußerlichen mündlichen Wort der Predigt und dem innerlichen Wort, das Gott selbst durch den Heiligen Geist rede. Die Bibel und ihre Auslegung zählten für ihn zu den äußeren Dingen. Diese aber können nicht den Glauben wirken. Schwenckfeld verwarf zwar nicht den Wert der Bibel, relativierte aber deren Bedeutung, wenn er erklärte, nur Christus selbst als das wahre Wort Gottes könne Ursprung des Glaubens sein. Darum stellte sich die Aufgabe, nicht auf die Schrift, sondern auf Christus selbst hinzuführen. Christus als Wort Gottes wirkt aus der Sicht Schwenckfelds durch den Heiligen Geist, ohne sich an äußerliche Mittel zu binden. Kaspar von Schwenckfeld wollte keine Kirche gründen, aber er hatte Anhänger, die sich sammelten und nach seinem Tod sein Andenken und seine Schriften bewahrten und seine Überzeugungen weiter tradierten. Im 16. Jahrhundert lebten Anhänger Schwenckfelds, die sich selbst als „Bekenner der Glorien Christi“ bezeichneten, in Schlesien und in der Grafschaft Glatz sowie in Südwestdeutschland. Einzig die schlesischen Schwenckfelder überlebten trotz periodischer Verfolgungen durch evangelische und römisch-katholische Obrigkeiten. Unter katholischem Druck floh ein Teil 1726 in die sächsische Oberlausitz und fand unter der Obhut des pietistischen Reichsgrafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf in Berthelsdorf Zuflucht. Die in Schlesien Zurückgebliebenen starben im 19. Jahrhundert aus. Die Flüchtlinge zogen nach wenigen Jahren, aus Sachsen ebenfalls vertrieben, nach Amerika, wo sie in Pennsylvanien kirchliche Strukturen aufbauten und eine „Schwenkfelder Church“ bildeten, die es bis heute gibt, die aber inzwischen nur noch etwa 2500 Mitglieder in fünf Gemeinden zählt.

137

Literatur Literatur Das Schleitheimer Bekenntnis 1527. Einleitung, Faksimile, Übersetzung und Kommentar / Urs B. Leu (Hg.), Christian Scheidegger (Hg.). Zug 2004. Klaus Deppermann: Melchior Hoffman. Soziale Unruhen und apokalyptische Visionen im Zeitalter der Reformation. Göttingen 1979. Hans-Jürgen Goertz: Die Täufer. Geschichte und Deutung. 2., verb. u. erw. Aufl. München 1988. J[ohn] D[avid] Hughey (Hg.): Die Baptisten. Stuttgart 1964 (Die Kirchen der Welt 2). Hanspeter Jecker: Ketzer, Rebellen, Heilige. Das Basler Täufertum von 1580–1700. Liestal 1998. Hanspeter Jecker: Menno Simons. Reformator im Untergrund. In: Martin H. Jung (Hg.), Peter Walter (Hg.): Theologen des 16. Jahrhunderts. Humanismus, Reformation, Katholische Erneuerung. Eine Einführung. Darmstadt 2002, S. 209–226. Thomas K. Kuhn: Caspar Schwenckfeld von Ossig. Reformatorischer Laientheologe und Spiritualist. In: Martin H. Jung (Hg.), Peter Walter (Hg.): Theologen des 16. Jahrhunderts. Humanismus, Reformation, Katholische Erneuerung. Eine Einführung. Darmstadt 2002, S. 191–208. Christian Lange (Hg.), Clemens Leonhard (Hg.): Die Taufe. Einführung in Geschichte und Praxis. Darmstadt 2008. Hubertus Lutterbach: Das Täuferreich von Münster. Ursprünge und Merkmale eines religiösen Aufbruchs. Münster/Westf. 2008. Andrea Strübind: Eifriger als Zwingli. Die frühe Täuferbewegung in der Schweiz. Berlin 2003. Christof Windhorst: Täuferisches Taufverständnis. Balthasar Hubmaiers Lehre zwischen traditioneller und reformatorischer Theologie. Leiden 1976 (Studies in Medieval and Reformation Thought 16).

&

7. Frauen der Reformationszeit

allgemeines Priestertum

Zu den in der Reformationszeit neu aufgebrochenen Fragen gehörte die nach der Stellung der Frau in Kirche und Gesellschaft. Das Christentum war, trotz interessanter Ansatzpunkte bei Jesus selbst und in der frühen Christenheit, eine patriarchalische Religion, in der in nahezu allen Bereichen die Männer das Sagen hatten und selbst das Gottesbild maskulin geprägt war. Die in der heidnischen Spätantike erreichte größere Selbstständigkeit der Frauen fand im christlichen Mittelalter keine Fortsetzung. Nur innerhalb des Mönchtums konnten Frauen Führungsfunktionen übernehmen, Ämter begleiten und sich als Laientheologinnen betätigen. Im späten Mittelalter jedoch erstarkte die Selbstständigkeit der Frauen in den Städten. Handwerkerinnen und Kauffrauen führten eigene Betriebe und es gab weibliche Zünfte. Die Reformation förderte zunächst implizit, von Luther und den anderen großen Reformatoren nicht intendiert, die Selbstständigkeit und Mündigkeit der Frauen durch die Propagierung des allgemeinen Priestertums. Ferner ermöglichte das reformatorische Schriftprinzip jedem, der die Bibel lesen konnte, in theologischen Fragen eine Position zu vertreten. Theologische Kompetenz hatte nicht den Besuch einer Universität zur Voraussetzung. Nicht programmatisch, aber im polemischen Diskurs konnte sich Luther sogar zu Spitzenaussagen versteigen und Frauen die Predigt- und Schriftauslegungskompetenz ausdrücklich zubilligen und sogar die Rollenverteilung im Haushalt umkehren, indem er den Mann die Windeln waschen ließ. Doch daneben stehen Äußerungen, in denen er Frauen für ungebildet und der Bildung nicht fähig erklärt und sich auch ganz grundsätzlich despektierlich über Frauen äußert. Auf dem Hintergrund der emanzipatorischen und aktivierenden Impulse wurden in der frühen Reformationszeit an verschiedenen Orten Frauen aktiv und traten in die Öffentlichkeit. Das interessanteste Beispiel dafür ist die Straßburger Reformatorenfrau Katharina Zell. Die zu Beginn des Reformationszeitalters übliche Geringschätzung der Frau und der Arbeit in Familie und Haushalt stand in Verbindung mit der Geringschätzung der Ehe als Lebensform. Die Reformatoren jedoch propagierten die Ehe als die eigentlich von Gott gewollte und auch für den Menschen selbst ideale Lebensform.

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Ehe und Ehelosigkeit als christliche Lebensformen

Ehe und Ehelosigkeit als christliche Lebensformen Im Christentum hatte sich, beginnend schon in der Zeit des Neuen Testaments, der freiwillige Verzicht auf Ehe und Sexualität als eine religiös nicht nur mögliche, sondern sogar besonders angesehene Lebensform entwickelt. Anders als Judentum und Islam entwickelte das Christentum körperfeindliche Züge, die theologisch legitimiert und verstärkt wurden durch die Auffassung, das sexuelle Begehren sei ein besonders deutlicher Ausdruck der Sündhaftigkeit des Menschen und beim Geschlechtsakt werde die Erbsünde – die Sünde Adams und Evas – an das neue Leben wie ein Krankheitskeim weitergegeben. Mönche und Nonnen lebten immer ehelos, Priester jedoch ursprünglich nicht. Im Laufe der ersten christlichen Jahrhunderte wurde zunächst von höheren Klerikern erwartet, dass sie ehelos blieben, und im Mittelalter dann von allen Priestern. Damit hatte sich die Verpflichtung zum Zölibat etabliert. Wer Priester sein wollte, musste ehelos leben. Die Kirche legitimierte diese Verpflichtung mit der Ehelosigkeit Jesu, aber faktisch spielten auch pragmatische Gesichtspunkte beim Aufkommen des Zölibatszwangs eine Rolle: Die Kirche wollte verhindern, dass Priester kirchlichen Besitz an Kinder und Kindeskinder weitervererbten. Der Zölibatszwang führte im Mittelalter zu vielerlei Missständen, weil die Männer und Frauen, die teilweise freiwillig, teilweise unfreiwillig in Klöstern lebten, nicht unbedingt auf Sexualität verzichteten. Auch sehr viele Priester empfanden sexuelle Bedürfnisse und lebten sie mit frei gewählten Partnerinnen, sogenannten Konkubinen, oder gut bezahlten Prostituierten aus. Zwingli beispielsweise pflegte regelmäßig Umgang mit Frauen und lebte zuletzt jahrelang unverheiratet mit einer Partnerin zusammen, die er nach seiner reformatorischen Wende ehelichte (→ Kap. 4). Die Reformatoren nahmen an diesen Missständen Anstoß, verlangten aber nicht ein strenges Einhalten des Keuschheitsversprechens, sondern stellten dieses infrage, da es keine biblische Grundlage habe und der Schöpfungsintention Gottes widerspreche. Die Priester wurden ermutigt zu heiraten und die Mönche und Nonnen in den Klöstern wurden aufgefordert auszubrechen und ebenfalls den Stand der Ehe zu wählen. Nur sehr wenige Menschen, so Luther, seien in der Lage, ehelos und sexualabstinent zu leben. Ihnen wollte es der Reformator nicht verwehren, meinte aber, dass diese Lebensform für die große Masse nicht geeignet sei und nur Probleme und Gewissensnöte erzeuge. Neben vielen anderen hörte und beherzigte diese Gedanken auch die Zisterzienserin Katharina von Bora, Luthers spätere Ehefrau.

Zölibat

Missstände

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Frauen der Reformationszeit

Katharina von Bora – eine Reformatorenfrau

Nimbschen

Flucht

Katharina von Bora wurde 1499 auf dem Adelsgut Lippendorf bei Leipzig geboren. Die Familie war arm, wie viele Adelsfamilien, und so war für Katharina, wie für viele Adelstöchter, der Weg ins Kloster vorgezeichnet. Sie wurde den Augustiner-Chorfrauen zu Brehna zur Erziehung übergeben und wechselte später zu den Zisterzienserinnen von Marienthron in Nimbschen, wo sie 1515, als Luther mit der Gerechtigkeit Gottes rang, die Mönchsgelübde ablegte und für ihr ganzes weiteres Leben Armut, Keuschheit und Gehorsam versprach. Die Reformation machte aber vor den Toren der abgeschiedenen Frauenklöster nicht halt. Luthers Schriften wurden von seinen Anhängern in die Klöster geschmuggelt und von den Nonnen gelesen, was sie anders als viele Frauen, die ein weltliches Leben führten, häufig konnten. Anfang 1522 hatte Luther eine auf der Wartburg geschriebene, Aufsehen erregende Schrift gegen die Mönchsgelübde veröffentlicht, obwohl er selbst damals noch zu den Mönchen zählte. Luther kritisierte die lebenslängliche Bindung durch Gelübde und speziell das Keuschheitsversprechen, weil es der von Gott geschaffenen menschlichen Natur nicht gemäß sei. Die Frauen seien nach Gottes Willen dazu da, Kinder zu bekommen, auch wenn sie darüber stürben. Diese Botschaft wurde nicht nur in Predigten und Schriften verbreitet, sondern auch durch Bilder. Ein Holzschnitt des Jahres 1524 kontrastiert die beiden Alternativen, die es für Frauen gab. Vor einer städtischen Kulisse befindet sich eine Hausfrau, vor einer Klosterkirche eine Nonne. Die beiden stehen einander gegenüber. Auf dem Kopf der Nonne sitzt ein Teufelsdrachen, auf dem der Hausfrau aber eine Taube als Symbol des Heiligen Geistes. Die Botschaft lautet: hier gottgefälliges Hausfrauen-Dasein, dort teuflisches Klosterleben. Ein Bauer überbringt der Nonne einen Brief. Sie grüßt ihn mit „Ave Maria“ und macht eine Segensgeste. Der Brief, so erfährt der Leser der ohne Verfasserangabe erschienenen, in Nürnberg gedruckten Flugschrift, erklärt der Nonne die Verderblichkeit ihres Standes und fordert sie zum Verlassen des Klosters auf. Die neuen Gedanken gelangten auch nach Nimbschen. Ob Katharina von Bora schon immer im Kloster unglücklich war oder ob sie erst durch Luthers Impulse mit ihrem Leben unzufrieden wurde, ist nicht bekannt. Auf jeden Fall verbündeten sich zwölf Nonnen, darunter von Bora, und planten gemeinsam die Flucht. Sie wählten dafür die Osternacht des Jahres 1523. Angeblich schaffte sie ein Händler in der Nacht vom 5. auf den 6. April, angeblich versteckt in leeren Heringstonnen, unbemerkt aus dem Kloster hinaus. Das

Katharina von Bora – eine Reformatorenfrau

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Ereignis erregte großes Aufsehen. Der Fluchthelfer hieß Leonhard Koppe. Er war Ratsherr in Torgau und ein Anhänger der Reformation. Katharina von Bora hat sich nie über die Gründe ihrer Klosterflucht geäußert. Andere entflohene Nonnen haben zur Rechtfertigung ihres Schrittes Schriften abgefasst, darunter Florentina von Oberweimar und Ursula von Münsterberg. Florentina ist 1524 aus Ursula von dem Zisterzienserinnen-Kloster Neu-Helfta bei Eisleben geflohen Münsterberg und Ursula 1528 aus dem Kloster der Heiligen Maria Magdalena von der Buße in Freiberg/Sachsen. Ihre Rechtfertigungsschriften hat Luther in den Druck gegeben und aus ihnen erfahren wir Details, die so oder ähnlich auch auf Katharina von Bora zutreffen könnten. Ursula nannte in ihrer Schrift sieben Gründe, warum die Klosterflucht geboten sei. An erster Stelle argumentierte sie mit der evangelischen Rechtfertigungslehre und sagte, nur der Glaube, nicht aber die Werke führten zum ewigen Leben, das Klosterleben und die Gelübde dagegen in die Verdammnis. Im Kloster würden äußerliche Werke verlangt, die vielfach unter Zwang geschähen. Das Wort Gottes, das zum Glauben locke, höre man dagegen nur selten. Ein weiterer wichtiger Punkt war für Ursula das Gebot der Nächstenliebe. Sie sagte, im 10: Agitation gegen das Klosterleben – teuflische Kloster sei es unmöglich, die von einem Abb. Nonne und göttliche Hausfrau (unbek. Künstler, 1524) Christenmenschen geforderte Nächstenliebe zu praktizieren. Die Flucht ebenso wie die Fluchthilfe waren strafbar und wurden von den weltlichen Obrigkeiten, sofern sie noch altgläubig waren, geahndet. Katharina von Bora und ihre Mitschwestern mussten nach ihrem Entkommen einen sicheren Ort aufsuchen und die meisten wählten Wittenberg. Dort wurden sie in verschiedenen Haushalten untergebracht und so provisorisch versorgt. Was sollte mit „entlaufenen Nonnen“ geschehen? Die Versorgung dieser Frauen war nicht unproblematisch, denn alleine konnte eine Frau in der Stadt eigentlich nicht leben. Entweder mussten die ehemaligen Nonnen zurück zu ihren Familien, wenn diese sie denn aufnehmen wollten, oder es musste ein Ehemann für sie gefunden werden. Häufig heirateten ehemalige Nonnen ehemalige Mönche oder ehemalige Priester.

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Frauen der Reformationszeit

Ehemann gesucht

Für Katharina von Bora wurde in Wittenberg ein Ehemann gesucht. Luther und Melanchthon waren daran beteiligt und hielten unter ihren Studenten Ausschau. Es bot sich ein junger Nürnberger an, Hieronymus Baumgartner, und der fand an dem Gedanken auch Gefallen, doch als er davon seinen Eltern berichtete, angesehenen Nürnberger Patriziern, war die Sache erledigt. Die Eltern Baumgartner wollten keine dem niederen Adel entstammende entlaufene Nonne als Schwiegertochter. In Wittenberg wurde also weiter gesucht. Die Blicke richteten sich schließlich auf Luther. Unter seinen Freunden machte sich die Überzeugung breit, Luther sei doch inkonsequent, wenn er die Ehe predige und die Auflösung der Klöster fordere, aber selbst nicht heirate. Luther, der noch im Frühjahr 1525 überhaupt nicht an eine Heirat gedacht hatte, überlegte sich die Sache gut und beschloss am Ende, Katharina von Bora, die er ursprünglich nicht besonders geschätzt hatte, zu ehelichen. Am 13. Juni 1525 fand die Hochzeit statt. In bescheidenem Rahmen wurde nach dem Kirchgang am 27. Juni gefeiert. Kurzbiografie: von Bora 1499 1515 1523 1525 1552

Herr Käthe

Geburt in Lippendorf (29. 1.) Klostergelübde in Nimbschen Flucht Ehe mit Luther Tod in Torgau (20.12.)

Katharina von Bora brachte sechs Kinder zur Welt und leitete den großen Haushalt im ehemaligen Kloster. Für wirtschaftliche und finanzielle Dinge war sie alleine zuständig. Sie wurde zum Idealbild und Muster einer evangelischen Pfarrfrau. Luther nannte sie respektvoll „Herr Käthe“ oder seine „Herrin“. Eigentliche Beiträge zur Wittenberger Reformation, außer dass sie ihrem Mann den Rücken frei gehalten hat, leistete von Bora aber nicht. Sie blieb immer im Hintergrund. Es gibt auch nur wenige Quellen, die Einblicke in ihr Alltagsleben und in ihre Gedankenwelt vermitteln. Erhalten blieben Briefe, Äußerungen in Tischreden und ihr Bild. 21 Briefe Luthers an seine Frau sind noch vorhanden, aber kein einziger Brief seiner Frau an ihn, obwohl sie ihm oftmals geschrieben hat, wenn er auf Reisen war. Um weitere Bildung scheint sich die ehemalige Nonne in Wittenberg nicht bemüht zu haben. Luther versuchte sie 1535, fünfzig Gulden als Belohnung versprechend, zur regelmäßigen Bibellektüre anzuhalten. Gleichwohl behaupteten Feinde Luthers, er würde nach den Anweisungen seiner Frau predigen, was ihn sehr erboste.

Katharina Zell – eine Frau als Reformatorin?

Wenn Luther mit seinen Gästen zu Tische saß und erzählte und dozierte, mischte sie sich manchmal ein, stellte Fragen oder gab eigene Gedanken preis. Die Quellen zeigen, dass Katharina von Bora über religiöse Fragen nachdachte und wohl auch etwas Latein konnte. Nach dem Tod ihres Ehemannes kamen für von Bora, obwohl sie Luther in seinem Testament als Alleinerbin eingesetzt hatte, schlimme Zeiten. Die Kriegsereignisse verwüsteten die Ländereien, von denen die Familie lebte. Katharina von Bora verarmte, man wollte ihr die Söhne wegnehmen und Vormündern zur Erziehung geben. Melanchthon setzte sich für sie ein. 1552 floh sie mit ihren Kindern aus Wittenberg, wo eine Seuche ausgebrochen war. Sie wollte sich in Torgau in Sicherheit bringen. Unterwegs scheuten die Pferde und die Kutsche drohte umzukippen. Von Bora sprang herab und verletzte sich dabei. Am 20. Dezember 1552 verstarb sie in Torgau und wurde, fern von Luther, in der Torgauer Marienkirche bestattet. Katharina von Bora ist die bekannteste Frau der Reformationszeit. Die interessanteste ist jedoch die Straßburger Reformatorenfrau Katharina Zell, die man als einzige wirklich als Reformatorin bezeichnen könnte. Auf jeden Fall aber war sie die bedeutendste Laientheologin der Reformationszeit.

143

nach Luthers Tod

Katharina Zell – eine Frau als Reformatorin? Katharina Zell wurde 1497 oder 1498 als Katharina Schütz geboren. Sie war die Tochter eines Handwerkers und konnte in Straßburg eine Schule besuchen. Schon als junges Mädchen empfing sie eine intensive religiöse Prägung. Sie hörte die Predigten von Johannes Geiler, der sich sehr für die Erneuerung der Kirche und der Gesellschaft einsetzte und auf religiöse Verinnerlichung drängte. Im Rückblick auf ihr Leben berichtete sie später allerdings von „Anfechtungen um des Himmelsreichs willen“, die sie als junge Frau erlitten habe. Trotz frommer Werke habe sie keinen Trost und keine Ruhe empfunden, denn sie sei sich „der Liebe und Gnade Gottes“ nicht sicher gewesen. Diese Anfechtungen erinnern an Luthers Krisen im Kloster. Luthers Ängste waren also durchaus die Ängste der Zeit. Sie machten Katharina Schütz für die reformatorische Botschaft von der freien Gnade Gottes empfänglich. So trat sie sofort auf die Seite der Reformation, als der Leutpriester Matthäus Zell, der wie Geiler aus Kaysersberg stammte und seit 1518 in Straßburg amtierte, 1521 in Straßburg als Erster evangelisch zu

Matthäus Zell

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Frauen der Reformationszeit

Schriften

Argula von Grumbach

predigen begann. Katharina Schütz gehörte zu seinen Anhängern und wenig später, 1523, heiratete sie den zwanzig Jahre älteren Mann. Sie beschränkte sich aber nicht darauf, für den Reformator den Haushalt zu führen und ihm den Rücken frei zu halten, sondern engagierte sich weiter, und zwar öffentlich und in zunehmendem Maß für die Reformation. Dieses Verhalten war so außergewöhnlich, dass in evangelischen Kreisen die spitze Bemerkung die Runde machte, Matthäus Zell werde „von seiner Frau beherrscht“. Schon in die ersten reformatorischen Auseinandersetzungen in Straßburg griff Katharina Zell aktiv ein und schrieb an den altgläubigen Bischof scharfe Briefe, die jedoch vernichtet wurden. Erhalten haben sich im Druck erschienene Schriften Zells, mindestens fünf kleinere und größere Bücher. Zwei erschienen im Jahre 1524. Die 27-jährige Frau verteidigte den Zölibatsbruch ihres Mannes und schrieb einen Trostbrief für die evangelisch gesinnten Frauen der Breisgaustadt Kenzingen, deren Männer aus ihrer Heimat verbannt worden und ins Exil nach Straßburg gegangen waren. Später gab sie ein Gesangbuch mit Liedern der Böhmischen Brüder heraus, veröffentlichte eigene Psalmen-Auslegungen und eine Vaterunser-Interpretation und zuletzt eine anspruchsvolle theologische Streitschrift, in der es um den rechten Umgang mit Täufern, Zwingli-Anhängern und Schwenckfeld geht. Zell gehört deshalb in die Reihe der Laientheologen der Reformationszeit und war zweifellos die profilierteste Frau unter diesen. Zells Schriften fanden in ihrer Zeit nur wenig Widerhall. Die meisten erlebten nur eine einzige Auflage. Das hing damit zusammen, dass sie nicht wie andere Flugschriftenautorinnen der Reformationszeit, allen voran die in Bayern wirkende Argula von Grumbach, nur die Altgläubigen angriff, sondern auch Dinge sagte, die den Reformatoren nicht angenehm waren. Sie vertrat eigene, radikale Gedanken, insbesondere plädierte sie für Toleranz unter den verschiedenen Flügeln der Reformation. Unerträglich fand es Zell, in den fünfziger Jahren von jungen Straßburger Predigern hören zu müssen, besser sei es „päpstlich“ zu sein als „täuferisch“. Ohne selbst eine Anhängerin der Taufbewegung zu sein, nahm sie die „armen Taufbrüder“ in Schutz und wehrte ihrer Ausgrenzung. Die Feindschaft, die zwischen Evangelischen und Evangelischen aufgekommen war, empfand Zell als unerträglich. Zwingli war für sie ein ebenso „frommer Lehrer und Prediger“ wie Luther. In Zell lebte bis zu ihrem Tod der Geist der frühen Reformation. Sie widersetzte sich neuen Zeremonien, die in den Kirchen eingeführt wurden, und beschwor die Gefahr eines neuen Papsttums. Ihr Wissen bezog Katharina Zell aus Gesprächen mit ihrem Mann

Katharina Zell – eine Frau als Reformatorin?

und mit anderen Theologen, aus ihrer regelmäßigen Teilnahme an Predigtgottesdiensten und aus intensiver Bibellektüre. Ferner besaß und las sie reformatorische Schriften. Sie versah sie sogar mit Randbemerkungen. Nachweislich kannte sie Werke Luthers und Melanchthons sowie anderer Reformatoren und die berühmte Toleranzschrift Castellios, mit der dieser gegen die Verbrennung Servets protestiert hatte (→ Kap. 5). Vereinzelt findet sich bei Katharina Zell bereits so etwas wie – modern gesprochen – feministische Theologie. Sie las die Bibel aus der Perspektive einer Frau und achtete beim Lesen auf das Auftreten und die Rolle von Frauen. In ihrer Vaterunser-Auslegung setzte sie sich mit der Vater-Anrede Gottes auseinander und verglich Gott mit einer Mutter, welche die Schmerzen der Geburt kenne und die Freude, ein Kind zu stillen. Zell betätigte sich nicht nur schriftstellerisch, sondern entfaltete auch breite soziale Aktivitäten. Sie engagierte sich in Straßburg für Bildungseinrichtungen und für ein Armenhaus, besuchte Gefangene und Trauernde und versorgte Flüchtlinge.

145

feministische Theologie

Kurzbiografie: Zell 1497/98 1523 1548 1558 1562

Geburt in Straßburg Ehe mit Matthäus Zell Witwe Flugschrift gegen Ludwig Rabus Tod in Straßburg (5. 9.)

Zell pflegte Kontakt zu führenden Köpfen der Reformation. 1529 wohnte Zwingli auf dem Weg zum Marburger Religionsgespräch vierzehn Tage lang in ihrem Haus. 1538 stattete sie gemeinsam mit ihrem Mann Luther und Melanchthon einen Besuch ab. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahre 1548 zog sie sich nicht zurück, sondern steigerte noch ihr Engagement. Dreimal hat sie sogar gepredigt, zwar nicht im Münster, aber bei Trauergottesdiensten auf dem Friedhof: einmal bei der Beerdigung ihres Mannes und zweimal 1562, als die örtlichen Pfarrer verstorbenen Täuferfrauen eine christliche Bestattung verweigerten. Die Straßburger Pfarrfrau und Laientheologin reflektierte gelegentlich über ihre Rolle als Frau in Kirche und Gesellschaft. Kurz vor ihrem Lebensende bezeichnete sie sich selbst im Rückblick auf ihr langes Leben mehrfach als eine „Kirchenmutter“. Sie wollte mit diesem Wort ausdrücken, dass sie sich um die Straßburger Christenge-

Predigten

Kirchenmutter

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Frauen der Reformationszeit

meinde gekümmert und für diese Gemeinde gelebt habe wie eine Mutter für ihre Kinder. Katharina Zell starb am 5. September 1562 und wurde unter großer Anteilnahme der Bevölkerung bestattet. Nach ihrem Tod geriet sie allerdings rasch in Vergessenheit. Nicht sie wurde zum Leitbild späterer evangelischer Frauen, sondern Katharina von Bora. Doch nicht nur unter den Befürwortern der Reformation fanden sich engagierte Frauen, sondern auch unter den Gegnern. Caritas Pirckheimer – prominente Gegnerin der Reformation

Willibald Pirckheimer

Klarakloster

Die Klarissin und Klosterhumanistin Caritas Pirckheimer (auch: Pirkheimer) war die profilierteste Frau unter den Gegnerinnen Luthers und der Reformation und mit dem reformatorischen Gedankengut bestens vertraut. Caritas Pirckheimer war eine Schwester von Willibald Pirckheimer, dem bekannten Humanisten (→ Kap. 1). Mit Melanchthon war er gut befreundet. Er unterstützte schon früh die Reformation und 1518 hatte er eine Begegnung mit Luther. Johannes Eck, den er noch 1517 neben Luther zu den modernen Theologen gerechnet hatte, verspottete er 1520 wegen dessen Gegnerschaft zu Luther in einer Satire mit dem provozierenden Titel „Der enteckte Eck“ (Eckius dedolatus). Das wird der Grund gewesen sein, dass ihm Eck im Herbst 1520 kurzerhand mit Luther den Bann androhte und er auch in der Originalfassung der Bannbulle (nicht aber in der Druckausgabe) als Mit-Ketzer aufgelistet wird. Doch wie Erasmus zog sich Pirckheimer aus der Öffentlichkeit zurück und distanzierte sich mehr und mehr von der Reformation, deren Gewalttätigkeiten er verurteilte. Ein wesentlicher Grund für seine Wandlung waren die Kämpfe, in die seine Schwester verwickelt wurde. Caritas Pirckheimer wurde als Barbara Pirckheimer 1467 in Eichstätt geboren. Sie entstammte einer angesehenen und wohlhabenden Nürnberger Patrizierfamilie, die eines der größten europäischen Handelshäuser besaß. Im Jahre 1479 kam sie wie Katharina von Bora zunächst zur Erziehung ins Kloster. Vermutlich 1483 legte sie ihre Gelübde ab und band sich dauerhaft. Als Ordensnamen wählte sie den Vornamen Caritas, der für Klarissinnen zugleich Programm war: Nächstenliebe. Anders als Katharina von Bora wurde ihr das klösterliche Leben nie zum Problem. Das schon im 14. Jahrhundert gegründete Nürnberger Klarakloster stand in der Tradition des Franz von Assisi. Klara von Assisi, auf die der Klarissenorden zurückgeht, war die erste Frau in der

Caritas Pirckheimer – prominente Gegnerin der Reformation

Gefolgschaft des Franziskus. Der Nürnberger Klarissenkonvent, zu dem rund sechzig Schwestern zählten, führte ein vorbildliches geistliches Leben. Pirckheimer wurde im Jahre 1503 zur Äbtissin gewählt. Sie war eine gebildete Frau, die sogar der lateinischen Sprache mächtig war. Sie besaß eine beachtliche Bibliothek und stand mit humanistischen Gelehrten in Briefkontakt. Dem großen Erasmus, dessen Bücher sie las, ließ sie über ihren Bruder Grüße bestellen. Ihm selbst zu schreiben, scheute sich die zur Demut verpflichtete Klarissin. Die Reformation veränderte jedoch das kontemplative, der Andacht und der Bildung zugewandte Leben hinter den Klostermauern. Zunächst wurde Pirckheimer gegen ihren Willen, aber nicht ohne ihr Zutun zu einer anti-reformatorischen Flugschriftenautorin. 1522 schrieb sie nämlich einen Brief an den altgläubigen Theologen Hieronymus Emser, einen ganz besonderen Feind Luthers, in dem sie sich kritisch über die Reformation äußerte und dem Adressaten Mut machte für seinen Kampf gegen die „Ketzerei“. Anhängern der Reformation kam der Text jedoch in die Hände und der Brief „an den hoch berühmten Bock Emser“ wurde im Jahr darauf, versehen mit bissigen Randbemerkungen, gedruckt. Das sollte dem Ansehen Pirckheimers schaden und hat dieses Ziel auch erreicht. Problematischer aber sollten für sie und ihren Konvent die Entwicklungen in Nürnberg selbst werden. Die Reichsstadt, die sich 1522 der Reformation zugewandt hatte, wollte Luthers Ideen in die Tat umsetzen und begann im Jahre 1524 mit der Auflösung der Klöster. Das funktionierte vielfach, besonders bei den Männerklöstern ohne Probleme, doch die Klarissinnen widersetzten sich einmütig und hartnäckig und wollten auch in der evangelischen Stadt ihr klösterliches Leben fortführen. Die evangelische Obrigkeit und die Reformatoren Nürnbergs aber waren nicht gewillt, das zu dulden. Den Schwestern wurden ihre franziskanischen Beichtväter entzogen und sie wurden gezwungen, evangelischen Predigern zuzuhören, die sie in ihren Predigten heftig beschimpften. Wenn sich die Schwestern zum Stundengebet im Chor ihrer Kirche versammelten, warfen evangelische Nürnberger Steine über den Lettner, der, wie damals in Klosterkirchen üblich, in der Form einer Mauer den Kirchen- vom Chorraum trennte, und störten so die Nonnen in der Andacht oder verletzten sie sogar körperlich. Evangelische Eltern, die ihren früheren Entschluss, sie ins Kloster zu geben, bereuten, stürmten das Kloster und entführten ihre Tochter mit Gewalt. Jämmerliche Szenen spielten sich ab. Geplant war vom Rat der Stadt, die Nonnen zu zwingen, weltliche Kleider zu tragen und aus ihren Rede-

147

Reformation

Auflösung der Klöster

Entführungen

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Frauen der Reformationszeit

Briefe und Eingaben

Melanchthon

Gelübde

fenstern, die den strengen Ordnungen der Klarissinnen gemäß keinen Blickkontakt erlaubten, Gesichtsfenster zu machen. Pirckheimer verteidigte ihren Konvent mit allen Kräften, schrieb Briefe und machte Eingaben. Dabei berief sie sich – wie Luther in Worms – auf ihr Gewissen und erinnerte die Evangelischen an die tolerante Haltung der Türken, die Andersgläubige unter ihrer Religion duldeten. Stundenlang sprach sie auch mit dem Nürnberger Reformator Osiander, der das gewaltsame Vorgehen jedoch richtig fand. Bei der Nürnberger Klosterreformation war er die treibende Kraft. Er rechtfertigte die Nonnenentführungen durch die Eltern mit dem 4. Gebot und empfahl dem Rat der Stadt 1525 in einem Gutachten, Pirckheimer aus der Stadt zu deportieren. Er bezeichnete sie als „Gottesverfolger“. Vermutlich war er auch dafür verantwortlich, dass 1522/23 Pirckheimers Emser-Brief abgefangen und gedruckt wurde, und vermutlich steckte er auch hinter der polemischen Flugschrift von 1524, die der heiligen Hausfrau eine teuflische Nonne gegenüberstellte (→ Abb. 9). In ihrer Not wandte sich Pirckheimer an ihren Bruder. Dieser schrieb im Frühjahr 1525 einen Brief an seinen Freund Melanchthon, schilderte ihm in herzergreifenden Worten die Situation und bat ihn zu intervenieren. Willibald Pirckheimer gab dabei zu erkennen, dass er selbst das Klosterleben ebenfalls kritisch sehe und den Lebensweg seiner beiden Töchter, die auch Nonnen geworden waren, inzwischen für falsch halte. Doch das rechtfertigte in seinen Augen keine Gewalt. Melanchthon trat im Herbst 1525 eine Reise nach Nürnberg an, allerdings nicht wegen des Streits um das Klarakloster, sondern wegen einer anstehenden Schulgründung. Doch Caritas Pirckheimer nutzte die Chance und gewann ein Ratsmitglied, Kaspar Nützel, für die Idee, Melanchthon zu einem Besuch im Kloster zu bewegen. Das Vorhaben gelang. Um den 18. November 1525 besuchte Melanchthon das Klarakloster und sprach unter vier Augen mit der Äbtissin. Zunächst meinte er, ihr die Anliegen der Reformation deutlich machen zu müssen, doch Pirckheimer zeigte ihm, dass sie diese Anliegen sehr wohl kannte. Dem – von ihr erwarteten – Vorwurf der Werkgerechtigkeit begegnete sie, indem sie betonte, sie und ihre Mitschwestern setzten ihre Hoffnungen nicht, wie die Reformatoren hartnäckig behaupteten, auf eigene Werke, sondern auf die Gnade Gottes. Melanchthon räumte ein, dass man im Kloster ebenso selig werden könne wie in der Welt, sofern man die Gelübde nicht als verdienstlich erachte. In der Frage der Gültigkeit der Gelübde waren sich die beiden jedoch nicht einig. Melanchthon meinte mit Luther, dass Gelübde nicht

Caritas Pirckheimer – prominente Gegnerin der Reformation

ewig bindend seien, während Pirckheimer der Ansicht war, dass man Gott gegebene Versprechen halten müsse. Trotz dieses Dissenses schieden die beiden in Freundschaft. Nach dem Gespräch setzte sich Melanchthon beim Rat der Stadt für die Klarissinnen ein. Er verurteilte den Entzug der Beichtväter sowie die Entführungen von Nonnen und sprach sich sehr deutlich gegen Gewaltmaßnahmen aus. In der Folge ließen die Nürnberger die Klarissinnen in Frieden. Nur eine Schwester hat im Jahre 1528 das Kloster freiwillig verlassen. Alle anderen blieben bis zu ihrem Tod. Allerdings durften keine neuen Nonnen mehr aufgenommen werden. Außerdem blieb den Klarissinnen weiterhin jede geistliche Betreuung durch altgläubige Priester verwehrt, sie konnten also nicht mehr die Beichte ablegen und mussten auf die Feier der Eucharistie und die Letzte Ölung verzichten. Wegen ihrer ausgeprägten Sakramentsfrömmigkeit litten die Frauen unter dieser Situation ganz besonders. Gegenüber Abgesandten des Rats beklagte Pirckheimer 1527 den Zustand mit den Worten: „Wir müssen sterben wie das Vieh.“ Bei der Feier des 25-jährigen Äbtissinnenjubiläums der Caritas Pirckheimer im April 1529 betrachteten die Nonnen das geweihte Brot und trösteten sich mit einer Überlegung, die auch Luther in der Frühphase der Reformation gebraucht hatte, um sich und seinen Anhängern über die Kelchverweigerung beim Abendmahl hinwegzuhelfen, mit dem von Augustin stammenden Gedanken eines geistlichen, im Glauben empfangenen Genusses des Sakraments: Glaube, so hast du gespeist (lat.: crede et manducasti).

149

Tolerierung

Kurzbiografie: Pirckheimer 1467 1479 1503 1525 1532

Geburt in Eichstätt (21. 3.) Gelübde in Nürnberg Äbtissin des Klaraklosters Begegnung mit Melanchthon Tod in Nürnberg (19. 8.)

Nachdem 1596 die letzte Nonne verschieden war, wurde das Kloster abgerissen. Erhalten geblieben ist nur die Klosterkirche. Pirckheimer war bereits 1532 gestorben und in der Klosterkirche bestattet worden. Ihr Grab wurde 1959 wieder aufgefunden. Heute erinnert ein nach ihr benanntes römisch-katholisches Bildungszentrum auf dem Gelände des Klosters an ihr Wirken in der evangelischen ehemaligen Reichsstadt.

Ende

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Frauen der Reformationszeit

Evangelische Damenstifte

Pirckheimer hat sich nach dem Zusammentreffen mit Melanchthon mehrfach positiv über die Begegnung und seine Person geäußert und den Wunsch ausgedrückt, dass doch alle Evangelischen so wären wie er. Doch sie waren anders. Die Auflösung der Klöster schritt voran, überall wo die Reformation Fuß gefasst hatte. Auch andernorts widersetzten sich am ehesten die Nonnen. Häufig wurden Klöster in Schulen umfunktioniert. Zu einem reformatorisch gewandelten Weiterbestehen von Klöstern, wie es sich Luther durchaus hatte vorstellen können, kam es nur vereinzelt. Vor allem im Gebiet des heutigen Niedersachsen gab es nach der Reformation Evangelische Damenstifte, in denen adlige Töchter auf evangelische Weise ein klösterliches Leben führten. Allerdings waren diese Einrichtungen letztlich Versorgungsstätten für überzählige Adelstöchter und sie hatten keinerlei kirchliche Relevanz. Auch das geistliche Leben in den Gemeinschaften scheint nicht besonders intensiv gewesen zu sein. Einige dieser Damenstifte bestehen bis heute und bemühen sich mitunter sogar, wie Börstel im Nordwesten von Osnabrück, um ein neues klösterliches Leben in evangelischem Geist. Zu klösterlichen Neuaufbrüchen im Protestantismus kam es im 19. und 20. Jahrhundert. Es gründeten sich Diakonissenhäuser und Kommunitäten. Seit einiger Zeit existieren sogar „Evangelische Benediktinerinnen“. Selbst in Luthers ehemaligem Erfurter Kloster kam es wieder zu – evangelisch geformtem – monastischem Leben. Folgen der Reformation für die Frauen

Vorurteile

Das in der reformatorischen Botschaft angelegte emanzipatorische Potential wurde nicht wirklich entfaltet. Insbesondere wurden aus der Lehre vom allgemeinen Priestertum keine Konsequenzen gezogen. Außerdem haben die meisten Reformatoren viele haarsträubende Ansichten und Vorurteile über Frauen nachhaltig zementiert, zum Beispiel die mit der Paradiesgeschichte begründete Behauptung, Frauen seien durch den Teufel leicht verführbar und hätten den Drang und die Kraft, ihrerseits die Männer zur Sünde zu verführen. Auch von einer angeborenen, gottgewollten Schwäche der Frauen im Leiblichen und im Geistigen wurde unter Berufung auf Aristoteles weiter gesprochen. Gerade bei Luther finden sich darüber hinaus viele despektierliche Äußerungen über Frauen. Hier war er, wie in manchen anderen Dingen auch, zeitlebens dem mönchischen Milieu verhaftet, das ihn von 1505 an geprägt hatte und zu dem – nicht überraschend für zölibatär lebende Männergemeinschaften – eine Frauen verachtende Haltung und Redeweise gehörte.

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Folgen der Reformation für die Frauen

Besonders schwer wiegt, dass die Reformation für Frauen keine Ämter in der Kirche geschaffen und sogar die bestehenden beseitigt hat. In den Reformationskirchen gab es keine Frauen in Leitungsfunktionen mehr, wie sie in der alten Kirche Äbtissinnen innehatten. Über Frauen als Diakoninnen wurde zwar in Straßburg in den Jahren 1532/33 diskutiert, aber der Vorschlag konnte sich nicht durchsetzen. Vergeblich war auch Katharina Zells Vorstoß im Jahre 1557, im „Blatternhaus“, einem Heim für Alte und Kranke, nicht nur einen „Hausvater“, sondern auch eine „Hausmutter“ einzusetzen. Nur in der von der alten Kirche und den Reformationskirchen gleichermaßen verfolgten Täuferbewegung waren die Frauen relativ gleichberechtigt, traten als Predigerinnen auf und übernahmen Führungsfunktionen. In dieser frommen Laienbewegung ohne Hierarchien spiegelte sich der Gleichheitsgedanke sogar in der Sprache. In Täufertexten fällt der Gebrauch einer inklusiven Sprache auf, in einer Zeit, als das noch ganz unüblich war. Bei den Täufern sprach man nicht von „Brüdern“ und meinte damit Männer und Frauen, sondern ausdrücklich von „Brüdern und Schwestern“. Bei den Mennoniten in Holland taten Diakoninnen ihren Dienst. Durch die Auflösung der Klöster wurde in den Ländern der Reformation eine Möglichkeit für Frauen, ihr Leben zu gestalten, beseitigt. Ein Leben in autonomen, nicht von Männern dominierten weiblichen Gemeinschaften war nicht mehr möglich. Auch die selbstständige Existenz einer unverheirateten Frau in der Stadt, wie sie im späten Mittelalter von vielen Handwerkerwitwen geführt worden war, fand keine Akzeptanz mehr. Das Leben in der Ehe und in der damit verbundenen strengen Unterordnung unter den Mann wurde für evangelische Frauen zur Norm. Das ehelose Leben war verpönt. Vorund außereheliche Sexualkontakte wurden, vor allem in Gegenden, wo sich reformierte Vorstellungen von Kirchenzucht durchsetzen konnten, streng sanktioniert. Witwen pflegten rasch wieder zu heiraten. Die Frauen wurden kategorisch und strenger als im Mittelalter an die Arbeit im Haushalt gebunden. Kurz- und mittelfristig brachte die Reformation für Frauen also mindestens ebensoviel Nach- wie Vorteile und Jahrzehnte, ja Jahrhunderte, der Stagnation. Die katholische Kirche dagegen konnte im 16. und 17. Jahrhundert an das Modell der Frauenorden anknüpfend für das kirchliche und gesellschaftliche Engagement von Frauen zukunftsweisende Perspektiven entwickeln. In neuen Orden und Kongregationen, in denen Frauen nicht mehr wie im Mittelalter streng hinter Klostermauern leben mussten, sondern sich gesellschaftlichen und kirchlichen Aufgaben zuwenden konnten, engagierten sich Frauen in der Sozial- und Bildungsarbeit, womit sie den

Diakoninnen

Täuferbewegung

Ehe

katholische Kirche

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Frauen der Reformationszeit

Kapuziner

Pietismus

Emanzipation

Gedanken der Berufstätigkeit der Frau förderten und indirekt der Frauenemanzipation Vorschub leisteten. Eine große Bedeutung hatte in diesem Zusammenhang der weibliche Zweig des Kapuzinerordens. Die protestantischen Kirchen ließen sich erst im 19. Jahrhundert von diesem Vorbild anregen, als eine weibliche Diakonie aufgebaut wurde. Im Pietismus waren Frauen allerdings schon im 18. Jahrhundert neue Chancen eröffnet worden. Hier wurde auf die Aufbrüche der Reformationszeit zurückgegriffen und zahlreiche Frauen entfalteten selbstständige Aktivitäten in der neuen Frömmigkeitsbewegung. Man bediente sich der alten Argumente, unter anderem der Lehre vom allgemeinen Priestertum (→ Kap. 2), und erinnerte sich der alten Vorbilder: Katharina Zell und Argula von Grumbach. Gleichberechtigte Frauenämter in Kirchengemeinden entstanden im Herrnhuter Pietismus. Auch im Bereich der Mädchenbildung hat der Pietismus Bahnbrechendes geleistet. Die Geschichte der Frauen in der Kirche wurde lange Zeit wenig beachtet. In den letzten Jahren ist jedoch über die Frauen der Reformation, besonders von Literatur- und Geschichtswissenschaftlerinnen, viel gearbeitet worden. Längst vergessene Pionierarbeiten sind allerdings in der theologischen Disziplin entstanden. Erinnert werden muss vor allem an ein bereits 1951 von der badischen Pfarrerin Maria Heinsius verfasstes Buch und an eine 1971 erschienene Arbeit des amerikanischen Theologieprofessors Roland Bainton, die freilich, und das ist symptomatisch, erst 1995 ins Deutsche übersetzt wurde. Die Emanzipation der Frau im 19. Jahrhundert war nicht kirchlichem Engagement zu verdanken, sondern eine Frucht der Aufklärung. Das Pfarramt für Frauen wurde erst im 20. Jahrhundert möglich, zunächst in reformierten und lutherischen Kirchen, später auch in der anglikanischen und der altkatholischen. Die römisch-katholische und die orthodoxen Kirchen sehen das Priesteramt weiterhin nur für Männer vor. Gleichwohl gibt es auch in diesen Kirchen Kräfte, die eine Änderung für geboten halten.

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Literatur Literatur Roland H[erbert] Bainton: Frauen der Reformation. Von Katharina von Bora bis Anna Zwingli. 10 Porträts. 3. Aufl. Gütersloh 1996. Sonja Domröse: Frauen der Reformationszeit. Gelehrt, mutig und glaubensfest. Göttingen 2010. Silke Halbach: Argula von Grumbach als Verfasserin reformatorischer Flugschriften. Frankfurt a. M. 1992 (Europäische Hochschulschriften, R. 23, 468). Maria Heinsius: Das unüberwindliche Wort. Frauen der Reformationszeit. München 1951. Martin H. Jung: Nonnen, Prophetinnen, Kirchenmütter. Kirchen- und frömmigkeitsgeschichtliche Studien zu Frauen der Reformationszeit. Leipzig 2002. Marion Kobelt-Groch: Aufsässige Töchter Gottes. Frauen im Bauernkrieg und in den Täuferbewegungen. Frankfurt a. M. 1993 (Geschichte und Geschlechter 4). Elsie Anne McKee: Katharina Schütz Zell. The Life and Thought of a Sixteenth-Century Reformer. Bd. 1–2. Leiden 1999 (Studies in Medieval and Reformation Thought 69). Martin Treu: Katharina von Bora. 3. Aufl. Wittenberg 2003. Sigrid Westphal: Frau und lutherische Konfessionalisierung. Eine Untersuchung zum Fürstentum Pfalz-Neuburg 1542–1614. Frankfurt a. M. 1994 (Europäische Hochschulschriften, R. 3, 594).

&

8. Reformation in England, Frankreich, Polen

Die Anfänge der Reformation verbinden sich mit Wittenberg, doch sie wurde rasch zu einem europäischen Ereignis. Dazu trugen die starke Mobilität der Menschen und die leichte Verbreitung der Texte bei und die Tatsachen, dass die Gelehrten überall dieselbe Sprache – Latein – verwendeten und dass der Resonanzboden, auf den die Ideen fielen, überall ähnlich war. Luther und die anderen großen Reformatoren Deutschlands und der Schweiz hatten ausgesprochen, was viele bewegte, und in Angriff genommen, was viele wollten. Die Reformation fand Anhänger in den skandinavischen Ländern (→ Kap. 3), aber – begrenzt – auch in Italien und Spanien. Besonders interessant und bis in die Gegenwart relevant waren die Entwicklungen in England, Frankreich und Polen. Auch hier bildeten sich „protestantische“ Kirchen.

Heinrich VIII. und der Anglikanismus

John Wyclif

Universität Cambridge

Luthers Gedanken fassten früh in England Fuß und verbanden sich mit Impulsen des Humanismus sowie mit einer noch aus den Zeiten John Wyclifs herrührenden kirchenkritischen Unterströmung. John Wyclif war ein englischer Pfarrer des 14. Jahrhunderts. Er war adliger Herkunft und hatte einen Lehrauftrag an der Universität Oxford. Er erhob seine Stimme gegen kirchliche Missstände und forderte die Trennung von Kirche und Staat. Theologisch kennzeichnete ihn ein strenger Biblizismus: Die Heilige Schrift fasste er als Gottes Gesetz auf, das streng zu befolgen sei. Er wandte sich gegen Heiligen-, Reliquien- und Bilderverehrung und gegen den Ablass. Brot und Wein bei der Feier der Eucharistie sah er nicht als Leib und Blut Christi, sondern als Symbole an. Damit erregte er Anstoß. Im Jahre 1377 wurde er von Papst Gregor XI. verurteilt. Dennoch starb er 1384 friedlich auf seiner Landpfarrei Lutterworth bei Oxford. 1428 wurde jedoch das Grab wieder geöffnet und seine Gebeine verbrannt. Seine Gedanken lebten unter als „Lollarden“ (von lat. lolium = Unkraut?) bezeichneten englischen Wanderpredigern fort. Die ersten Anhänger der Reformation in England, vor allem im Umfeld der Universität Cambridge, wurden blutig verfolgt. Seit 1509 herrschte Heinrich VIII., ein besonders diktatorisch und grausam regierender König, berüchtigt auch wegen seiner sechs Ehen und

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Heinrich VIII. und der Anglikanismus

zahlreichen Liebschaften. Doch gerade er sollte wenig später der englischen Reformation den Weg bereiten. Kurzbiografie: Heinrich VIII. 1491 1509 1509 1521 1531 1533 1533 1536 1540 1540 1543 1547

Geburt in Greenwich (28. 6.) Ehe mit Katharina von Aragón König Schrift gegen Luther Oberhaupt der Kirche von England Annullierung seiner Ehe mit Katharina von Aragón Ehe mit Anne Boleyn Ehe mit Jane Seymour Ehe mit Anna von Kleve Ehe mit Katharina Howard Ehe mit Katharina Parr Tod in Westminster (28.1.)

Heinrich wusste von Luther und den reformatorischen Umwälzungen in Deutschland. Im Jahre 1521 hat er selbst eine Schrift gegen Luthers Sakramentenlehre ausgehen lassen, wofür ihm Papst Leo X. den Titel „Verteidiger des Glaubens“ (lat.: defensor fidei) verlieh. Doch mit Clemens VII. sollte er sich 1531 überwerfen. Der Grund lag allerdings nicht im theologischen oder kirchlichen, sondern im privaten Bereich. Heinrich wollte sich scheiden lassen und ersuchte den Papst um die kirchliche Annullierung seiner Ehe. Doch dieser weigerte sich. Darauf sagte sich Heinrich von Rom los und erklärte sich selbst zum Oberhaupt der englischen Christenheit. Dieses „Supremat“ (= Oberhoheit) wurde ihm 1534 vom Parlament bestätigt. Zur Ehescheidung verhalf ihm Thomas Cranmer, der Erzbischof von Canterbury. Dieser entwickelte sich zur treibenden Kraft bei der reformatorischen Umgestaltung der englischen Kirche. Außerdem strömten von 1546 an, als Folge des Religionskrieges in Deutschland, evangelische Flüchtlinge nach England, darunter der Straßburger Reformator Bucer, und brachten ihre Ideen und Impulse mit. 1549 erhielt die Kirche eine neue Liturgie (Book of Common Prayer) und 1551 ein eigenes Glaubensbekenntnis, die „Zweiundvierzig Anglikanischen Artikel“ (Forty-Two Articles of Religion).

gegen Luther

Supremat

Bekenntnis

156

Reformation in England, Frankreich, Polen ►

Aus dem Suprematsgesetz des englischen Parlaments (3. 11. 1534):

Obgleich seine Majestät der König nach Recht und Gesetz das Oberhaupt der Kirche von England ist und sein soll und von der Geistlichkeit des Reiches in ihren Versammlungen als solches anerkannt worden ist, wird trotzdem … kraft der Gewalt dieses Parlaments verfügt, dass unser höchster Herr und König, seine Erben und Nachfolger, die Könige dieses Reiches, als das alleinige Oberhaupt der Kirche von England, genannt Anglicana Ecclesia, betrachtet, gelten und angesehen werden.

Puritanismus

Rekatholisierung

Elisabeth I.

Johannes Laski

Die Reformation in England entwickelte einen höchst eigenwilligen Charakter. Sie war eine Verbindung von Katholizismus und Calvinismus und empfing auch kräftige Impulse von Bullinger. Die englische Reformationskirche oder der Anglikanismus verknüpfte calvinistische Theologie mit katholischer Liturgie und katholischen Amtsstrukturen. Ferner entfaltete sich die Reformation in England unter äußerst komplizierten politischen Rahmenbedingungen. Beides trug dazu bei, dass schon im 16. Jahrhundert eine weitere kirchliche Bewegung in und neben dieser neuen Kirche aufkam, der Puritanismus, der eine richtige, konsequente, „reine“ (engl. pure = sauber, rein) Reformation anstrebte und dies in seinen eigenen Zirkeln auch praktizierte. Die Separation der Puritaner begann 1567. Schon 1572 gab es eine puritanische Gemeinde in London. Spektakulär war 1620 die Fahrt puritanischer „Pilgerväter“ nach Amerika und die Gründung der Kolonie Massachusetts. Die englische Reformation erlebte eine turbulente Geschichte. In den Jahren 1553–1558 kam es zu einer gewaltsamen Rekatholisierung unter der Regentschaft von Maria Tudor. Viele Anhänger der neuen Kirche, darunter Cranmer, wurden hingerichtet. Nun flüchteten viele Engländer auf den Kontinent. Zahlreiche Reformationsanhänger fanden Zuflucht in Zürich und in Genf. Im Jahre 1558 stellte Königin Elisabeth I. die evangelische englische Staatskirche wieder her, und das Parlament erneuerte ein Jahr später die königliche Suprematie. Die Flüchtlinge kehrten zurück und inspirierten die englische Kirche mit dem, was sie bei Bullinger und Calvin gelernt hatten. Der Katholizismus wurde unterdrückt. Bis heute ist die Kirche von England eine Staatskirche mit der Königin an der Spitze. Zu den Kontinentaleuropäern, die zeitweise im Dienste der englischen Reformation standen, gehörte der Pole Johannes Laski. 1548– 1553 lebte er in London, um dann, zutiefst geprägt vom englischen Calvinismus, in seinem Vaterland die Fäden in die Hand zu nehmen. Turbulent blieb die englische Geschichte und Kirchengeschichte auch im 17. Jahrhundert. Durch eine Revolution gelangten radikale Puritaner an die Macht und der fromm-fanatische Oliver Cromwell regierte 1653–1658 als „Lordprotektor“ wie ein Diktator. Konfes-

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Hugenotten in Frankreich

sionsgeschichtlich bedeutsam waren nicht nur im frühen 17. Jahrhundert die Entstehung des Baptismus im anglikanischen Religionsmilieu, sondern auch die Gründung der Quäker (eigentlich: Gesellschaft der Freunde) in der Mitte des Jahrhunderts (1652) und das Aufkommen des Methodismus im 18. Jahrhundert. Im 17. Jahrhundert blühte überdies die Erbauungsschriftstellerei, und viele in England verfasste Werke wurden auch in Deutschland gedruckt und gelesen, darunter die berühmte „Pilgerreise“ (The Pilgrim’s Progress) des baptistischen Predigers John Bunyan (1678).

Quäker

Hugenotten in Frankreich Im Königreich Frankreich regierte Franz I. von 1515–1547. Die Kirche war in der Hand des Staates. Es gab aber Humanisten und Reformkräfte. Der französische König opponierte gegen den Kaiser und den Papst und sympathisierte aus politischen Gründen mit den deutschen Lutheranern. Deshalb erfolgte die Rückführung Herzog Ulrichs nach Württemberg 1534 mit französischer Unterstützung. Zwingli und Melanchthon setzten große Hoffnungen auf Frankreich, doch es gelang dem Luthertum nicht, wirklich Einfluss zu gewinnen. Die Plakataffäre 1534 (→ Kap. 5) bereitete dem französischen Luthertum das Ende. Es kam zu heftigen Verfolgungen. Später gelang es dem Calvinismus, Einfluss auf Frankreich zu gewinnen. Die Genfer Akademie wurde zur Pflanzstätte des französischen Protestantismus. Auf Franz I. folgte Heinrich II. und regierte von 1547–1559. Unter ihm erstarkten die französischen Protestanten und schufen sich 1559 ein eigenes, 40 Artikel zählendes Bekenntnis, das von 1571 an Confessio Gallicana genannt wurde. Es gründete auf einem Entwurf Calvins. In Paris tagte erstmals eine Nationalsynode französischer Protestanten mit 72 Abgeordneten aus zwölf Kirchen. Der französische Protestantismus wurde in der Folge zur politischen Partei. Die französischen Protestanten wurden schon damals als Hugenotten bezeichnet. Der Hintergrund dieser Fremdbezeichnung ist nicht wirklich klar. Möglicherweise handelte es sich um eine Verballhornung von „Eidgenossen“. Die französischen Katholiken sahen in den Protestanten vom Schweizer Nachbarland geprägte Fremdkörper. Nach dem Tod Heinrichs II. regierte die aus Florenz stammende Katharina von Medici, die den Protestanten zunächst Duldung gewährte. 1561 fand in Poissy ein bedeutendes Religionsgespräch statt, an dem Beza teilnahm. Doch schon ein Jahr später kam es zu einem ersten Krieg. Spektakulär war 1572 die sogenannte Bartholo-

Franz I.

Confessio Gallicana

Hugenotten

Katharina von Medici

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Reformation in England, Frankreich, Polen

Edikt von Nantes



mäusnacht, ein Blutbad unter den Protestanten in Paris mit 5000– 10.000 Toten, an dem Katharina Mitschuld trug, wobei es aber nicht nur um religiöse, sondern auch um politische Antagonismen ging. 1598 folgte das Edikt von Nantes unter Heinrich IV., einem ehemaligen Protestanten, der zum Katholizismus konvertiert war, um König zu werden. Es gewährte den Evangelischen Gewissensfreiheit und bürgerliche Gleichberechtigung und ermöglichte ihnen, ihre Gottesdienste zu halten. Im Edikt von Nantes erklärte Heinrich IV. (13. 4. 1598):1

Um gar keinen Anlass zu Unruhen und Streitigkeiten zwischen Unseren Untertanen zu lassen, haben Wir erlaubt und erlauben denen von der besagten angeblich reformierten Religion, in allen Städten und Orten unseres Königreichs und den unserer Herrschaft unterworfenen Ländern zu wohnen und zu leben, ohne dass sie belangt, geplagt, bedrängt oder in Hinsicht der Religion zu irgendeiner Handlung gegen ihr Gewissen gezwungen noch aus Anlass derselben in den Häusern und Orten, in denen sie nach ihrer Wahl wohnen, aufgesucht werden dürfen … (§ 6) Wir befehlen, das in Betreff der besagten Religion kein Unterschied und keine Sonderung gemacht werde bei der Aufnahme von Schülern zum Unterricht an den Universitäten, Kollegien und Schulen noch der Kranken und Armen in den Hospitälern und Krankenhäusern sowie bei öffentlichen Almosen. (§ 22)

Flucht

Beinahe hundert Jahre lang gewährte das Edikt von Nantes den Hugenotten Schutz und ermöglichte ihnen, sich als Minderheit in einem weiter katholisch dominierten Land zu entfalten. Im Jahre 1685 jedoch wurde das Edikt von Nantes widerrufen. In der Folge verließen 200.000 französische Protestanten ihre Heimat und siedelten sich unter anderem in Deutschland an und verstärkten dort den calvinistischen Flügel unter den Reformationskirchen. In Frankreich erzeugte jedoch die neue absolute und intolerante Union von Staat und Kirche einen lebhaften Antiklerikalismus, der sich zunächst verbal in den Schriften der Aufklärer des 18. Jahrhunderts, allen voran Voltaires, entlud und 1789 in der Französischen Revolution, die eine radikale Trennung von Staat und Kirche und eine entschieden säkulare Politik zur Folge hatte, die für Frankreich bis heute charakteristisch ist.

1 Auszüge: KTGQ 3, S. 226–228.

Lutheraner, Calvinisten und Sozinianer in Polen

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Abb. 11: Die Verbreitung des Protestantismus in Europa um 1600

Lutheraner, Calvinisten und Sozinianer in Polen Wie in England und in Frankreich wurzelten auch in Polen die ersten reformatorischen Aufbrüche in den Ideen und Impulsen Luthers, aber später fasste wie in England und in Frankreich der Calvinismus Fuß und verdrängte das Luthertum. Wie in England entstand auch in Polen eine reformatorische Sonderkirche. Benannt nach ihrem Begründer Fausto Sozzini, etablierte sich der Sozinianismus später von Polen über Holland auch in England. Während in England die Reformation trotz aller Beschwernisse dauerhaft siegte, wurde sie in Polen später aber wieder an den Rand gedrängt und schließlich beinahe zur Gänze vernichtet. Polen wurde wieder ein katholisches Land und blieb es bis zum heutigen Tag. Der Sozinianismus war Teil des Antitrinitarismus. Bereits in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts opponierten humanistische Anhänger der Reformation – wie einst die Arianer – gegen die althergebrachte, auch von den großen Reformatoren geteilte Trinitätslehre, die von drei göttlichen Personen und einem göttlichen Wesen sprach.

Impulse Luthers

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Reformation in England, Frankreich, Polen Lelio Sozzini

Fausto Sozzini

Toleranz

Consensus Sendomirensis



Nach der Verbrennung Servets (→ Kap. 5) trat der Italiener Lelio Sozzini, der sich seit 1547 in Genf und Zürich und vorübergehend auch in Wittenberg aufhielt, zu Calvins Kirche in Distanz. Auch er zweifelte an der Trinitäts- und Zweinaturenlehre und an der Vorstellung von der Präexistenz Jesu Christi. Für ihn war Jesus ein ganz normaler Mensch, der als Sprachrohr Gottes gewirkt hatte. Lelio Sozzini hatte in Wittenberg Kontakt gefunden zu polnischen Studenten und 1551 Krakau besucht, starb aber 1562 in Zürich. Sein Neffe Fausto Sozzini lebte dagegen dauerhaft in Polen und setzte fort, was Lelio begonnen hatte. Er entschied sich dafür, die Heilige Schrift streng auf dem Boden der Vernunft zu interpretieren, und verfasste in Krakau einen Katechismus. In Südpolen bildeten sich zahlreiche kleine sozinianische Gemeinden. Sie nannten sich selbst Polnische Brüder. Wegen ihrer Betonung der Einheit und Einzigkeit Gottes wurden die Sozinianer auch Unitarier genannt (lat. unitas = Einheit). Unitarische religiöse Vereinigungen, teilweise neu konstituiert im Zeitalter der Aufklärung, gibt es bis heute in Rumänien, Deutschland, Großbritannien und den USA. Im Königreich Polen herrschte im 16. Jahrhundert religiöse Toleranz. Von 1548–1572 regierte Sigismund August. Er war zwar altgläubig, ließ aber der Entfaltung des Protestantismus freien Lauf. Neben den zahlenmäßig vergleichsweise unbedeutenden Sozinianern gab es Lutheraner, Calvinisten und böhmische Brüder (Hussiten). Von 1556 an gewann der nach Polen zurückgekehrte Laski Einfluss auf die Calvinisten. Er versuchte aber auch alle polnischen Protestanten zu einigen. Das gelang aber erst zehn Jahre nach seinem Tod. Vertreter der drei großen evangelischen Kirchen versammelten sich 1570 in Sandomir (poln.: Sandomierz) und beschlossen eine Konsensformel (Consensus Sendomirensis), ein Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft ermöglichendes Unionsbekenntnis, wie es der Protestantismus erst im 19. Jahrhundert wieder erleben sollte. Im Kernstück ging es um die Überbrückung der Lehrunterschiede in der Abendmahlsfrage, wobei die Realpräsenz Christi bei der Feier entgegen allgemeiner lutherischer Auffassung an den Glauben gebunden wurde. Aus dem Konsens von Sandomir (14. 4. 1570):

Was jenen unglücklichen Zwiespalt über das Abendmahl betrifft, so sind wir bezüglich der Einsetzungsworte übereingekommen, sie so aufzufassen, wie sie von den Kirchenvätern, insonderheit von Irenäus, rechtgläubig verstanden worden sind. Irenäus sagt, dass dieses Geheimnis aus zwei Dingen besteht, nämlich aus einem himmlischen und einem irdischen. Auch wir behaupten, dass die Elemente keineswegs nur leere Zeichen sind, sondern

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Literatur dass sie zugleich tatsächlich den Gläubigen bieten und im Glauben gewähren, was sie bezeichnen. Darum, um uns noch klarer und deutlicher auszudrücken: Wir sind übereingekommen zu glauben und zu bekennen, dass von der wesentlichen Anwesenheit Christi nicht nur so geredet wird, sondern dass im Abendmahl Leib und Blut Christi wahrhaftig für die Gläubigen zugegen sind, ausgeteilt und dargereicht werden, und zwar unter den durchaus nicht leeren Symbolen gemäß der Natur der Sakramente.

1573 wurde in Polen staatlicherseits allen Konfessionen Toleranz gewährt. Doch weder die Toleranz noch der Protestantismus konnten in Polen überleben. Spätere Könige förderten zunächst die katholische Kirche und bekämpften später die Evangelischen, beginnend mit den auch von den Evangelischen selbst ausgegrenzten Sozinianern. Im Laufe des 17. Jahrhunderts kam es zu einer umfassenden Rekatholisierung. Erste Schritte hierfür hatte bereits von 1564 an Stanislaus Hosius eingeleitet, ein aus Polen stammender, humanistisch gebildeter, aber treu zu seiner Kirche stehender Reformtheologe, der jahrelang in Rom verschiedenen Päpsten gedient hatte und 1561 zum Kardinal ernannt worden war. Literatur Auguste Bailly: La réforme en France jusqu’à édit de Nantes. Paris 1960. Roland H[erbert] Bainton: Michael Servet 1511–1553. Gütersloh 1960 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 178). Uwe Baumann: Heinrich VIII. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 6. Aufl. Reinbek 2009 (Rowohlts Monographien 446). Otto Fock: Der Socinianismus. Nach seiner Stellung in der Gesamtentwicklung des christlichen Geistes, nach seinem historischen Verlauf und nach seinem Lehrbegriff dargestellt. Kiel 1847 (Repr. 1970). Hans R[udolf] Guggisberg: Sebastian Castellio 1515–1563. Humanist und Verteidiger der religiösen Toleranz. Göttingen 1997. Lorenz Hein: Der Sandomirer Konsens von 1570. In: Kyrios 3 (1963), S. 65–77. Henning P. Jürgens: Johannes a Lasco in Ostfriesland. Der Werdegang eines europäischen Reformators. Tübingen 2002 (Spätmittelalter und Reformation, NR 18). Diarmaid MacCulloch: Die zweite Phase der englischen Reformation (1547–1603) und die Geburt der Anglikanischen Via Media / Heribert Smolinsky (Hg.). Münster/Westf. 1998 (Katholisches Leben und Kämpfen 58). Richard Rex: Henry VIII and the English Reformation. 2. Aufl. Basingstoke 2006 (British History in Perspective). Christoph Schmidt: Auf Felsen gesät. Die Reformation in Polen und Livland. Göttingen 2000 (Sammlung Vandenhoeck). Christoph Strohm (Hg.): Johannes a Lasco (1499–1560). Polnischer Baron, Humanist und europäischer Reformator. Beiträge zum internationalen Symposium vom 14.–17. Oktober 1999 in der Johannes-a-Lasco-Bibliothek in Emden. Tübingen 2000 (Spätmittelalter und Reformation, N.R. 14).

Rekatholisierung

&

9. Religionsgespräche, Religionskrieg, Religionsfriede

Krise der Reformation

Religionsfriede

Als sich in Zürich und in Genf ebenso wie in England und Frankreich die Verhältnisse stabilisierten und der Aufbau evangelischer Kirchen konsequent und erfolgreich vorangetrieben werden konnte, geriet die Reformation in Deutschland in große Gefahr. Während auf Religionsgesprächen in Hagenau, Worms und Regensburg die Einheit der Kirche gesucht wurde, stürzte die Doppelehe Philipps von Hessen die Reformation in eine moralische und politische Krise und ermöglichte es dem Kaiser, militärisch gegen ihre Anhänger vorzugehen. Der Schmalkaldische Krieg endete 1546/47 mit einer Niederlage der Evangelischen, und durch ein Interimsgesetz begann der Kaiser die alte Kirche wiederherzustellen. In einem zweiten Religionskrieg wendete sich das Blatt plötzlich zugunsten der Evangelischen. Der Kaiser wurde geschlagen, resignierte und dankte schließlich ab. Auf einem Reichstag in Augsburg wurde 1555 ein Religionsfriede beschlossen, der 63 Jahre, bis 1618, Bestand hatte, 1648 erneuert wurde und die deutsche Geschichte bis ins frühe 19. Jahrhundert prägte. Die Kehrseite des Friedens waren für Jahrzehnte und Jahrhunderte fest zementierte konfessionelle Grenzen im Land und in den Köpfen.

Die Reichsreligionsgespräche (1540/41)

Initiative des Kaisers

In den vierziger Jahren kamen theologische Vertreter des alten und des neuen Glaubens zu Religionsgesprächen zusammen und unternahmen damit einen ernsthaften Versuch einer friedlichen Einigung. Im Hintergrund stand eine Initiative des Kaisers. Treibende Kraft war der Reichskanzler Nicolas Perrenot de Granvelle, kurz Granvella. Der Weg war noch unbegangen, und er entsprach humanistischer Gesinnung. Es war der erste wirklich ernsthafte und zugleich der letzte Versuch, die Einheit der Kirche in Deutschland zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Bucer und Melanchthon spielten dabei eine wichtige Rolle. Kurfürst Joachim II. von Brandenburg, Erzherzog Ferdinand von Österreich, Kaiser Karl V. und Papst Paul III. verständigten sich darauf, diesen friedlichen Einigungsversuch zu unternehmen. Ein erster Schritt war, dass im April 1539 auf dem Bundestag der Schmalkaldener in Frankfurt am Main, an dem Bevollmächtigte des

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Die Reichsreligionsgespräche (1540/41)

Kaisers teilnahmen, der Frankfurter Anstand unterzeichnet wurde, der den Protestanten einen befristeten Religionsfrieden gewährte. Damit war der Weg zu Gesprächen geebnet. Für den 1. August 1539 war das erste angesetzt, doch es sollte sich verzögern. Melanchthon war widerwillig, aber pflichtbewusst bereit, sich auf die Gespräche einzulassen. Sehr dafür, diesen Versuch zu unternehmen, war dagegen Bucer. Sein Anliegen war es, Zugeständnisse zu machen, um die Reformwilligen unter den Altgläubigen zu gewinnen. Er hatte die Hoffnung, das Wort Gottes würde anschließend weiter verändernd wirken und das Seine tun. Bucer entwickelte sich in den dreißiger und vierziger Jahren zum führenden protestantischen Vermittlungstheologen Deutschlands. Er war schon die treibende Kraft bei dem Versuch gewesen, die Abendmahlsstreitigkeiten innerhalb des Protestantismus zu überwinden. Die von ihm mitgestaltete Wittenberger Konkordie von 1536 (→ Kap. 4) hatte erheblich zur Stabilisierung des Protestantismus beigetragen. Im Kontext der Religionsgespräche mit den Altgläubigen wurde Bucer für ein Jahrzehnt zum wichtigsten protestantischen Ansprechpartner des Kaisers, seines Reichskanzlers und der katholischen Reformtheologen. Vor allem drei allgemeine Charakteristika seiner Theologie prädestinierten ihn als Vermittlungstheologen: eine pragmatisch-undogmatische Grundorientierung, spiritualistische Neigungen und ethische Interessen. Das Auftaktgespräch fand erst im Juni 1540 in Hagenau im Elsass statt und verlief nicht gerade verheißungsvoll. Auf dem Weg zu ihm wurde Melanchthon krank und konnte seine Reise nicht fortsetzen. Bucer kam verspätet an. In Hagenau scheiterten die Verhandlungen schon bei der Frage, worüber überhaupt diskutiert werden und welche theologischen Maßstäbe gelten sollten. Zum zweiten Gespräch versammelten sich die Theologen im Winter 1540/41 in Worms. Melanchthon war anwesend. Zunächst unterhielten sich die Kontrahenten lange über Verfahrensfragen. Im Januar 1541 ging es dann zur Sache. Eck und Melanchthon disputierten drei Tage lang auf der Grundlage der Confessio Augustana über die Erbsünde. Dann wurde das Kolloquium wegen Uneinigkeit unter den Altgläubigen abgebrochen und auf den nächsten Reichstag vertagt, der in Regensburg stattfinden sollte. Doch in Worms gab es neben dieser offiziellen Verhandlungsebene eine zweite, inoffizielle. In Geheimverhandlungen, über die nur Philipp von Hessen informiert war, wurde auf Veranlassung Granvellas zwischen Bucer und Capito aus Straßburg, dem Reformtheologen Johannes Gropper aus Köln und Granvellas Sekretär Gerard Veltwijck ein umfangreiches Dokument, Wormser Buch

befristeter Religionsfriede

Bucer

Hagenau

Worms

Wormser Buch

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Religionsgespräche, Religionskrieg, Religionsfriede

Confessio Augustana variata

Regensburg

genannt, ausgearbeitet. Es behandelte in 23 Artikeln die Themen Rechtfertigung, Kirche, Sakramente, Zeremonien sowie Kirchenzucht und formulierte Kompromisse auf der Grundlage der Bibel und der kirchlichen Tradition. Beide Seiten machten Zugeständnisse, teilweise konnte aber auch nur der Dissens festgehalten werden. Der Text, eine Vorstufe zu einem möglichen Unionsbekenntnis, sollte in Regensburg als Vorschlag des Kaisers zur Verhandlungsgrundlage gemacht werden. Melanchthon, der an den Geheimverhandlungen nicht beteiligt war, bekam das Manuskript durch den Brandenburger Kurfürsten zur Einsicht. Ablehnend bezeichnete er den Vorschlag als Utopie und als „Hyäne“. In einem Traum hatte er nämlich ein grässliches Monstrum erblickt, eine Hyäne mit dem Gesicht einer Jungfrau und Flammenaugen. Diese Gestalt deutete er auf das Wormser Buch. Auch Luther legte ein Veto ein und erklärte, der Teufel sei Urheber dieses Textes. Doch damit war es nicht vom Tisch. Das Wormser Religionsgespräch sollte aber noch aus einem weiteren Grund Geschichte machen. Melanchthon hat damals das Augsburger Bekenntnis bearbeitet (Confessio Augustana variata). Vermutlich am 28. November übergab er den Altgläubigen ein Exemplar seiner Neufassung, die aber zunächst keine nähere Beachtung fand. Doch alle Neudrucke des Bekenntnisses orientierten sich fortan an dem veränderten Text, und so setzte sich dieser langsam durch. Erst von 1558 an stießen die Unterschiede, die vor allem die Abendmahlsfrage betrafen, auf verstärkte Aufmerksamkeit, und es entstand ein Streit um die Frage, ob das Bekenntnis in der Fassung von 1530 (invariata = unverändert) oder in der von 1540 Geltung habe. Im April 1541 begann das dritte Religionsgespräch, wie geplant in Regensburg. Der Kaiser war persönlich anwesend und nahm großen Einfluss auf die Gestaltung. Beteiligt waren wieder unter anderen Eck, Gropper, Melanchthon und Bucer, ferner Julius Pflug, der Bischof von Naumburg, ein Reformer, und Johannes Pistorius, ein wichtiger hessischer Theologe. Melanchthon war nur widerwillig bereit mitzumachen. Die Sache verfolgte ihn im Schlaf und bereitete ihm Alpträume. Verhandlungsgrundlage in Regensburg war das Wormser Buch. Unproblematisch verlief die Erörterung der Anthropologie und der Sündenlehre. In der Rechtfertigungslehre erarbeiteten Eck und Melanchthon einen neuen Kompromissvorschlag. Er wurde aber von der römischen Kurie abgelehnt. Luther dagegen hatte ihn trotz gewisser Vorbehalte für akzeptabel erkärt, verlangte aber, die Altgläubigen müssten ihre frühere Lehre ausdrücklich verurteilen. Ergebnislos verliefen in Regensburg die Erörterungen über die Irrtumslo-

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Die Reichsreligionsgespräche (1540/41)

sigkeit der Konzile und über die Sakramente, insbesondere über das Abendmahl (Transsubstantiationslehre) und die Beichte (Aufzählung aller Sünden). Im Juni unterbreitete der Kaiser das veränderte Wormser Buch, das nun Regensburger Buch genannt wurde, den Ständen. Im Juli lehnten zuerst die altgläubigen, dann die protestantischen ab. Das Unternehmen war nun also doch, trotz monatelanger harter Anstrengungen, gescheitert. Melanchthon fuhr Anfang August 1541 nach Hause. Bucer war schwer enttäuscht und resigniert. Aber er hatte in den Gesprächen erkannt, dass die Gegner ernstzunehmende Mitchristen seien. Positiver sahen für die Protestanten die allgemeinen Ergebnisse der Regensburger Reichsversammlung aus. Für den Fall, dass ein Generalkonzil unter römischer Beteiligung nicht zustande kommen sollte, wurde ein Konzil auf nationaler Ebene ins Auge gefasst. Der vorläufige Religionsfriede wurde verlängert. Den Protestanten wurde die „christliche Reformation“ von Kirchen und Klöstern zugestanden, die „landsässig“ waren, also der jeweiligen Landesherrschaft unterstanden. Weitere, aber unbedeutende Religionsgespräche folgten 1544 in Speyer, 1545 wieder in Worms und 1546 wieder in Regensburg. Doch der Kaiser betrieb die Sache nicht mehr entschlossen weiter, weil er wieder an eine militärische Lösung der Religionsfrage dachte. Wirklich bedenkenswert war der Regensburger Kompromiss zur Rechtfertigungslehre.1 Das Wormser Buch hatte von einer „doppelten Rechtfertigung“ gesprochen: Die Rechtfertigung geschehe erstens ohne Werke, aufgrund der Verdienste Christi, durch den Glauben und zweitens zugleich durch Werke, die mit Gottes Hilfe aus dem Glauben und der Liebe entstünden. Der erste Aspekt werde Wiedergeburt, der zweite Heiligung genannt. Die Heiligung sei aber immer unvollkommen, weswegen der Mensch sein Vertrauen ganz auf die Verdienste Christi stellen müsse. Mit dieser Lehre waren aber weder Melanchthon noch Eck einverstanden. Die Regensburger Kompromissformel hingegen klang weitgehend evangelisch, sogar das „sola fide“ kam vor. Die Formel betonte das Wirken des Heiligen Geistes im Rechtfertigungsgeschehen. Das altgläubige Anliegen, die tatsächliche Veränderung des Menschen und nach außen hin sichtbare Werke der Liebe, wahrte sie, indem sie sagte, durch den Heiligen Geist werde gleichzeitig mit dem Glauben die Liebe eingegossen, die den verdorbenen Willen des Menschen heile und so bewirke, dass er das Gesetz erfülle. Heilsgewissheit erlange der Glaubende aber nicht

1 Auszüge: KTGQ 3, S. 197–199.

Regensburger Buch

Rechtfertigungslehre

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Religionsgespräche, Religionskrieg, Religionsfriede

gute Werke



dadurch, dass er auf sich und die ihm einwohnende Gerechtigkeit blicke, sondern indem er auf die geschenkte Gerechtigkeit Christi schaue. Damit wurde auch das evangelische Anliegen der Heilsgewissheit und das den Evangelischen ebenfalls wichtige „extra nos“ (das Heil kommt von außen, von Christus) gewahrt. Gute Werke würden belohnt. Wer viele gute Werke tue, werde seliger als der, der nur wenige vorweisen könne. Aus dem Regensburger Buch (1541)2:

Von der Rechtfertigung Auch ist gewiss und bekannt bei allen Christen, dass kein Mensch mit Gott versöhnt und von der Gefangenschaft der Sünden befreit werden kann anders als durch Christus, den einzigen Mittler Gottes und der Menschen … Es ist deshalb eine beständige, gesunde Lehre, dass der Sünder durch lebendigen und tätigen [efficax] Glauben gerechtfertigt wird, denn dadurch werden wir Gott angenehm und gefällig um Christi willen … Das wird jedoch keinem zuteil, wenn nicht auch zugleich die Liebe eingegossen wird, die den Willen heilt, sodass der geheilte Wille anfängt, das Gesetz zu erfüllen … Das ist also der lebendige Glaube, der sowohl die Barmherzigkeit in Christus ergreift und glaubt, dass die Gerechtigkeit, die in Christus ist, ihm umsonst zugerechnet wird, als auch zugleich die Verheißung des Heiligen Geistes und die Liebe empfängt. … Und so werden wir durch den Glauben an Christus gerechtfertigt oder für gerecht gehalten, das heißt durch seine Verdienste angenommen, nicht um unserer Würdigkeit oder Werke willen. … Wiewohl deshalb das Erbe des ewigen Lebens den Wiedergeborenen aufgrund der Verheißung zusteht, sobald sie in Christus neu geboren sind, so will doch Gott gleichwohl auch die guten Werke belohnen, nicht nach ihrem Wesen oder danach, dass sie von uns kommen, sondern sofern sie im Glauben geschehen und vom Heiligen Geist stammen … Wer aber sagt „Allein durch den Glauben [sola fide] werden wir gerechtfertigt“, der soll zugleich die Lehre von der Buße, von der Gottesfurcht, vom Gericht Gottes, von den guten Werken weitergeben … 450 Jahre später

Der Regensburger Rechtfertigungskompromiss wurde 450 Jahre nach seinem Scheitern wieder aktuell. Gerade im Melanchthonjahr 1997, als des 500. Geburtstags des Reformators gedacht wurde, lag als Frucht jahrelanger Beratungen der Entwurf einer Konsenserklärung zur Rechtfertigungslehre vor, der von lutherischen und römi2 Weitere Auszüge: DGQD 3, S. 411–415.

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Die Doppelehe Philipps von Hessen (1540)

schen Theologen erarbeitet worden war. Verhandlungspartner waren der Lutherische Weltbund und der Vatikanische Einheitsrat gewesen. Die Erklärung erhob den Anspruch, dass Lutheraner und Katholiken nunmehr imstande seien, „ein gemeinsames Verständnis des Glaubensinhaltes der Rechtfertigungslehre zu vertreten und zu artikulieren“. Das Papier ging von den biblischen Aussagen zur Rechtfertigung aus und formulierte unter Berufung auf zahlreiche Bibelstellen: Aus der Gemeinsamen Erklärung (1997/1999):

Gemeinsame Erklärung



Rechtfertigung meint Sündenvergebung, Befreiung von der herrschenden Macht der Sünde und des Todes, auch vom Joch des Gesetzes und Aufnahme in die Gemeinschaft mit Gott, schon jetzt, vollkommen aber in Gottes künftigem Reich. … All das kommt allein von Gott um Christi willen aus Gnade durch Glauben. Die Gerechtfertigten leben aus dem Glauben, der in der Liebe wirksam ist, und bringen Früchte des Geistes. … Allein aus Gnade und im Glauben an die Heilstat Christi, nicht auf Grund unseres Verdienstes, werden wir von Gott angenommen und empfangen den Heiligen Geist, der unsere Herzen erneuert und uns befähigt und aufruft zu guten Werken.

Doch anschließend schien sich die Geschichte zu wiederholen. Wie Melanchthon 1541 mit seiner Kompromissformel stieß nun das moderne Konsenspapier auf heftigen Widerstand, besonders bei vielen evangelischen Theologieprofessoren und -professorinnen Deutschlands. Dennoch haben die Präsidenten der beiden verantwortlichen Kommissionen den nachträglich mit einer Gemeinsamen offiziellen Feststellung ummantelten Text im Jahre 1999 unterschrieben. Bezeichnenderweise wählten die Kirchen als Datum den 31. Oktober und als Ort Augsburg.

Die Doppelehe Philipps von Hessen (1540) Neben dem Kurfürstentum Sachsen war die Landgrafschaft Hessen das wichtigste Land der Reformation. Sie wurde von 1518–1567 von Philipp regiert, dem der Beiname „der Großmütige“ beigelegt wurde. Er war am 13. November 1504 in Marburg geboren worden und übernahm schon 1518, als noch nicht einmal 14-Jähriger, vom Kaiser für mündig erklärt, die Regierung. 1521 besuchte er den Wormser Reichstag und sprach dort mit Luther, war aber noch gegen ihn eingestellt (→ Kap. 3). Im Laufe des Jahres 1524 wandte sich Philipp aber unter dem Einfluss Melanchthons selbst der Reformation zu.

Philipp von Hessen

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Religionsgespräche, Religionskrieg, Religionsfriede Melanchthon

Bündnis

Marburger Religionsgespräch

Augsburger Bekenntnis

Melanchthon hatte im Sommer 1524 erstmals seit seiner Berufung nach Wittenberg eine Urlaubsreise unternommen und seine kurpfälzische Heimat besucht. Auf der Rückreise – er war mit dem Pferd unterwegs – begegnete ihm hinter Heidelberg zufällig Philipp, der zu einem Adelsfest ritt. Philipp wusste von Melanchthon, erkannte ihn und verwickelte ihn in ein Gespräch über die aktuellen religiösen Fragen. Am liebsten hätte Philipp ihn mit sich nach Heidelberg genommen, um dort in der Herberge weiter mit ihm zu diskutieren. Aber Melanchthon wollte nicht umkehren und versprach Philipp eine schriftliche Antwort auf seine Fragen. Im September 1524 schrieb er in Wittenberg eine Zusammenfassung reformatorischer Grundgedanken nieder und schickte sie dem Landgrafen. Ein lebenslanges Vertrauensverhältnis verband die beiden nunmehr. Philipp war aus innerer Überzeugung evangelisch und suchte sein Glaubenswissen durch Bibelstudien zu vertiefen. Seine kriegerischen Ambitionen waren Melanchthon jedoch nie geheuer. Philipp war von Anfang an ein kriegsbereiter Anhänger der Reformation. 1525 kämpfte er gegen die aufständischen Bauern und trat mit seinen Truppen Thomas Müntzer entgegen. 1526 schloss er mit Johann von Sachsen ein Militärbündnis und 1528 leitete er einen Präventivschlag gegen altgläubige Fürsten ein (Packsche Händel), von denen er eine Kriegsgefahr ausgehen sah. Philipps großes Ziel war ein Bündnis aller evangelischen Kräfte unter Einschluss Zürichs. Doch Luther und Melanchthon widersprachen, weil sie die Einheit in der Lehre als Voraussetzung eines politisch-militärischen Bündnisses ansahen, diese war aber nicht gegeben. Aus diesem Grunde initiierte Philipp 1529 das Marburger Religionsgespräch (→ Kap. 4). Das Ziel, das sich Philipp gesteckt hatte, wurde nicht erreicht. In die Geschichte eingegangen ist das Ereignis dennoch. Beim Augsburger Reichstag unterstützte Philipp das Augsburger Bekenntnis. Anschließend betrieb er die Gründung des Schmalkaldischen Bundes und wurde neben dem sächsischen Kurfürsten einer seiner beiden Hauptleute. Kurzbiografie: Philipp von Hessen 1504 1518 1521 1523 1524 1526 1527

Geburt in Marburg (13.11.) Mündigerklärung Gespräch mit Luther Ehe mit Christina von Sachsen Hinwendung zur Reformation Religionsgespräch in Homberg Gründung der Universität Marburg

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Die Doppelehe Philipps von Hessen (1540) 1529 1540 1541 1547 1552 1567

Religionsgespräch in Marburg Ehe mit Margarete von der Saale Unterwerfung unter den Kaiser Gefangenschaft Freilassung Tod in Kassel (31. 3.)

1534 gelang Philipp mit militärischer Gewalt ein wichtiger Sieg für die Reformation. Er führte den aus seinem Land vertriebenen Herzog Ulrich nach Württemberg zurück. 1536 wurde Württemberg Mitglied des Schmalkaldischen Bundes. Im gleichen Jahr 1536 erntete Philipp mit der Wittenberger Konkordie einen weiteren Erfolg. Es gelang, in der Abendmahlsfrage eine Kompromissformel zu finden, der Bucer zustimmen konnte und die den Weg für den Anschluss Straßburgs an die Wittenberger Reformation ebnete (→ Kap. 4). Philipp war einer der erfolgreichsten Politiker der Reformation. Gleichzeitig war er jedoch mitverantwortlich dafür, dass der Kaiser den Krieg gegen die Protestanten wagen konnte und gewagt hat. Die Gründe für diese andere Seite des hessischen Landgrafen liegen im Privaten. Philipp war im Jahre 1523 standesgemäß mit Christina von Sachsen, einer Tochter Georgs des Bärtigen, verheiratet worden. Dynastische Erwägungen spielten bei dieser Ehe, wie bei allen fürstlichen Eheschließungen, die Hauptrolle. Wie alle Fürsten erlaubte sich auch Philipp neben seiner Ehe ein freies Liebesleben mit anderen Frauen. Anders als alle anderen Fürsten bekam Philipp jedoch wegen seines Verhaltens Gewissensbisse. Er war ein wirklich überzeugter Anhänger des evangelischen Glaubens und nahm die reformatorische Lehre ernst, auch was die persönlichen Konsequenzen anbelangte. In seiner Not wagte es Philipp nicht mehr, am Abendmahl teilzunehmen. Eine besonders intensive Hinneigung entwickelte Philipp 1539 zu der jungen Hofdame Margarete von der Saale. Doch sie zur Mätresse zu nehmen kam ebenso wenig in Frage wie die Ehescheidung. Philipp suchte einen Ausweg, kam auf die Idee einer Doppelehe und wandte sich an Bucer, Melanchthon und Luther. Die Reformationstheologen billigten die von ihm anvisierte Lösung in einem Gutachten3 und akzeptierten die von ihm vorgeschlagene biblische Begründung, die Patriarchen hätten verschiedene Ehefrauen besessen und Jesus habe die Vielehe nicht ausdrücklich verboten. Philipp war

3 DGQD 3, S. 395–401.

Württemberg Wittenberger Konkordie

Eheprobleme

Doppelehe

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Religionsgespräche, Religionskrieg, Religionsfriede

Bigamie

Unterwerfung

erleichtert und schenkte Luther zum Dank für seinen „Beichtrat“ ein Fass Rheinwein. Die zweite Ehe neben der bestehenden sollte, so die Reformatoren, heimlich geschlossen werden, um Unruhe und Nachteile für die Evangelischen zu vermeiden. Doch das ließ sich so nicht realisieren. Am 4. März 1540 heiratete Philipp seine Zweitfrau und schnell wurde die Sache bekannt. Auf Bigamie stand nach Reichsrecht die Todesstrafe, und der Kaiser strengte einen Prozess gegen den politisch führenden Mann der Reformation an. Der Skandal war offenkundig und unermesslich. Während Luther die Sache leicht nahm, bekam Melanchthon so heftige Gewissensbisse, dass er – just auf der Reise zum Hagenauer Religionsgespräch – schwer erkrankte, dem Tod ins Auge sah und auch selbst zu sterben wünschte. Er fühlte sich mitverantwortlich für die nun eingetretene Gefährdung der Reformation. Philipp war gezwungen, das Gespräch mit dem Kaiser und einen Kompromiss zu suchen, um den Bigamieprozess abzuwenden. Am 13. Juni 1541 unterwarf er sich dem Kaiser und versprach, gegen ihn keine Bündnisse mehr einzugehen. Der Hauptmann des bislang so erfolgreichen Schmalkaldischen Bundes war kaltgestellt. Der Kaiser konnte den Krieg wagen und wagte ihn 1546.

Der Schmalkaldische Krieg (1546/47)

Bündnisse

Türkenabwehr

Schon in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts drohte Deutschland ein Religionskrieg. Evangelische wie katholische Obrigkeiten schlossen deswegen Militärbündnisse. Das bedeutendste war der Schmalkaldische Bund, der 1531, nach dem Scheitern des Augsburger Reichstags, unter der Führung von Hessen und Kursachsen gegründet wurde. Doch zu militärischen Auseinandersetzungen kam es in Deutschland vorerst nicht, anders als in der Schweiz, wo bereits 1529 und dann noch einmal 1531 zu den Waffen gegriffen wurde. In Deutschland überwog das Interesse, einen Krieg zu verhindern, weil die Abwehr der Türken im Vordergrund stand und Ressourcen band und der Kaiser seine Kräfte immer wieder in Oberitalien in Auseinandersetzungen mit Frankreich verausgabte. Doch in den vierziger Jahren wendete sich das Blatt. Zunächst scheiterten die vom Kaiser anberaumten Religionsgespräche, dann gelang es ihm, den wichtigsten evangelischen Feldherrn, Philipp von Hessen, wegen seiner skandalösen Doppelehe handlungsunfähig zu machen, 1546 verloren die Evangelischen mit Luther ihre wichtigste

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Das Interim (1548–1552)

geistliche Führungspersönlichkeit und schließlich provozierten ihn die Evangelischen mit ihrer Ablehnung des Konzils. Bereits im Juni desselben Jahres blies der Kaiser zum Krieg. Weil der Kriegsgegner der Schmalkaldische Bund war, wird der Krieg als Schmalkaldischer Krieg bezeichnet. Alleine hätte der Kaiser den Krieg gegen das evangelische Militärbündnis nicht wagen können. Doch er fand namhafte Unterstützer, und zwar nicht nur altgläubige Staaten wie das Herzogtum Bayern, sondern auch ein wichtiges evangelisches Territorium: Das Herzogtum Sachsen, das sich 1539 der Reformation angeschlossen hatte, kämpfte gemeinsam mit dem altgläubigen Kaiser und den altgläubigen Fürsten, weil sich der Landesherr, Moritz von Meißen, davon politischen Gewinn versprach. Der Kaiser hatte ihm Gebietserweiterungen und die Erhebung zum Kurfürstentum zugesagt. Die Empörung im evangelischen Lager über den „Judas von Meißen“, den Verräter, war groß, aber das änderte nichts an der Tatsache. Den Sieg hatte der Kaiser schnell in der Tasche. Am 24. April 1547 endete die Schlacht bei Mühlberg an der Elbe mit einer Niederlage der Evangelischen. Von den Kämpfen war auch Wittenberg betroffen. Studenten und Professoren flohen und die Universität wurde geschlossen. Nur Melanchthon harrte in der Stadt aus, solange es möglich war. Am 19. Juni 1547 wurde Philipp von Hessen vom Kaiser, der zuvor die Reichsacht über ihn verhängt hatte, gefangen genommen. Damit brach der Kaiser ein Versprechen, das er Moritz von Meißen, dem Schwiegersohn Philipps, gegeben hatte. Fünf Jahre verbrachte Philipp in Mecheln in den Niederlanden in Gefangenschaft. Als gebrochener Mann kehrte er 1552 heim. Seinen früheren Einfluss konnte er nicht wiedergewinnen und hat es auch gar nicht versucht. Sein Land teilte er unter seine vier Söhne aus der Ehe mit Christina auf. Margaretes Söhne wurden mit Ämtern abgefunden. Hessen hatte in der deutschen Politik dauerhaft an Gewicht verloren. Philipp starb 1567 in Kassel und wurde in der dortigen Martinskirche begraben.

Krieg

Moritz von Meißen

Schlacht bei Mühlberg

Gefangennahme Philipps

Das Interim (1548–1552) Von September 1547 bis Juni 1548 tagte in Augsburg wieder ein Reichstag. Man hat ihn später wegen der Schärfe in Stil und Sache den „geharnischten“ genannt. Der Kaiser setzte ein Religionsgesetz durch, das den Evangelischen katholisches Brauchtum und katholische Lehre vorschrieb sowie die Unterwerfung unter den Papst, den

Reichstag in Augsburg

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Religionsgespräche, Religionskrieg, Religionsfriede

Augsburger Interim



„obersten Bischof“, und ihnen nur den Laienkelch und die Priesterehe zugestand. Da diese Bestimmungen interimistische Geltung haben sollten, bis zu einer endgültigen Lösung des Konflikts durch ein Konzil, sprach man vom Augsburger Interim. Die Reformation schien, dreißig Jahre nachdem sie begonnen hatte, am Ende. Mit der Macht der Gewehrläufe wurde vor allem in Süddeutschland den neuen Religionsbestimmungen Geltung verschafft. Viele evangelische Geistliche flohen oder gingen in den Untergrund. Aus Der Römischen Kaiserlichen Majestät Erklärung, wie es der Religion halber im heiligen Reich bis zum Austrag des allgemeinen Konzils gehalten werden soll (30. 6. 1548):4

Vom obersten Bischof und anderen Bischöfen Und auf dass die Kirche, die eines Haupts, das ist des Herrn Christus einiger Leib ist, desto leichter in Einigkeit erhalten würde, wiewohl sie viele Bischöfe hat, welche das Volk, das Christus durch sein teures Blut erworben hat, regieren, und das aus göttlichen Rechten, so hat man doch einen obersten Bischof, der den anderen allen mit voller Gewalt vorgesetzt ist, Schismata und Trennung zu verhüten, und das nach dem Prärogativ und Vorzug, der Petrus verliehen ist. Und wie nützlich solches sei, die Trennungen in der Kirche zu verhüten, beweist sich aus dem, dass aus Verachtung dieses hohen Priesters oftmals Trennung und Spaltung entstanden sind, wie es auch Cyprianus schreibt und das Werk selbst bezeugt. Wer nun den Stuhl Petri innehat als oberster Bischof, der soll mit dem Recht, das Petrus von Christus empfangen hat, da er sprach (Joh 21,16): „Weide meine Schafe“, die ganze Kirche regieren und verwalten. Aber er soll seine Gewalt, die er hat, gebrauchen nicht zur Zerstörung, sondern zur Erbauung. … Und sollen alle Christen dem obersten Bischof und ein jeder seinem Bischof sonderlich gehorsam sein, wie der Apostel sagt (Hebr 13,17): „Seid gehorsam euren Vorstehern, die da wachen für eure Seelen.“ (Art. 13) Bucer

Melanchthon

Bucer war beispielsweise nicht gewillt, sich dem Diktat des vom Kaiser auferlegten Gesetzes zu beugen. Er verließ in der Nacht vom 5. auf den 6. April 1549 – buchstäblich bei Nacht und Nebel – Straßburg. Seine letzte Wirkstätte bis zu seinem Tod im Februar 1551 wurde das Königreich England. Mit anderen vom Kontinent geflohenen Reformatoren unterstützte er Erzbischof Thomas Cranmer bei der Reformation der englischen Kirche. Bucer übernahm eine Stelle als Theologieprofessor am Corpus Christi College in Cambridge. Melanchthon jedoch verfolgte in seiner Heimat einen anderen Plan. Als Konsequenz der Niederlage der Evangelischen war Witten4 Auszüge: KTGQ 3, S. 200–202.

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Der Fürstenkrieg (1552)

berg mit seiner Universität dem Herzogtum Sachsen einverleibt worden, und dieses erhob der Kaiser wie versprochen tatsächlich zum Kurfürstentum. Das ehemalige Kursachsen dagegen war territorial beschnitten, zum Herzogtum degradiert und sein Landesherr, Johann Friedrich, in Gefangenschaft. Melanchthon, der wichtigste noch lebende Repräsentant der Wittenberger Reformation, war nunmehr also Untertan des „Judas“. Seiner humanistischen Gesinnung gemäß setzte er aber nicht auf Widerstand, sondern auf Verhandlungen. Er befürwortete für das neue Kursachsen ein Sondergesetz, welches das Augsburger Interim umgehen sollte. Sein Vorhaben sah so aus, dass evangelische Lehre weiterhin praktiziert und nur in äußerlichen Dingen wie den Feiertagen und den gottesdienstlichen Gewändern Zugeständnisse gemacht werden sollten. So hoffte er die evangelische Kirche wenigstens im Kerngebiet der Reformation zu retten. Melanchthons in Kontakt mit kursächsischen Beamten und dem Kurfürsten erarbeitetes Programm wurde als Leipziger Interim bezeichnet. Das Vorhaben erlangte zwar nie Gesetzeskraft, weil sich die politische Lage erneut veränderte, doch Melanchthon erntete ob seines Vorhabens heftige Kritik. Er wurde, sogar von früheren Schülern und Freunden, als Verräter der Reformation angefeindet, was ihn zutiefst verletzte.

Leipziger Interim

Der Fürstenkrieg (1552) Das Leipziger Interim trat nicht in Kraft, weil Moritz von Sachsen 1552 einen weiteren Krieg führte und gewann, diesmal allerdings – mit katholisch-französischer Unterstützung – gegen den Kaiser. Der zweifache Verräter stand nach dem „Fürstenkrieg“ als doppelter Sieger da und die Reformation war gerettet. Schon 1550 hatte sich die Wende angebahnt. Der Erste, der etwas gegen den Kaiser und seine Religionspolitik zu unternehmen trachtete, war Markgraf Hans von Küstrin, der 1546/47 auf der Seite des Kaisers gestanden hatte, aber das Augsburger Interim nicht zu akzeptieren bereit war. Norddeutsche Fürsten sowie Dänemark und Polen wollte er miteinander verbünden. Zunächst gelang es ihm, Preußen und Mecklenburg für den „Fürstenbund“ zu gewinnen. Gleichzeitig orientierte sich Moritz von Sachsen neu, weil ihn die fortdauernde Gefangenschaft Philipps von Hessen, seines Schwiegervaters, ärgerte und verletzte und weil der Kaiser auch ansonsten nicht alle seine Versprechungen erfüllt hatte. Moritz nahm Verbindung mit Frankreich auf, erweiterte sein Heer und trat an den Fürstenbund heran. Es gelang ihm im Mai 1551, den Bund zu erweitern

Wende

Frankreich

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Religionsgespräche, Religionskrieg, Religionsfriede Hessen

Krieg

Passauer Vertrag

und auch den hessischen Landgrafen Wilhelm einzubeziehen. Als Ziele wurden die Bewahrung des Augsburger Bekenntnisses und die Befreiung Philipps definiert. Im Januar 1552 wurde der Bund durch ein Abkommen mit Frankreich gestärkt. Der katholische französische König Heinrich II. unterstützte die evangelischen deutschen Fürsten mit Geld und bekam als Gegenleistung die Zusage, dass er Cambrai, Metz, Toul und Verdun in Besitz nehmen dürfe. Karl V. unterschätzte den Ernst der Lage und die Entschlossenheit des sächsischen Kurfürsten. Im März 1552 schlugen Moritz und seine Verbündeten los und zogen mit ihren Truppen nach Süddeutschland. Der Kaiser weilte gerade in Innsbruck. Im April kam es in Linz zu ersten Verhandlungen, wobei sich Ferdinand von Österreich, der ja seit 1531 mit dem Titel „Römischer König“ bekleidet war (→ Kap. 2), als Vermittler betätigte. Nachdem sie ohne Ergebnisse geblieben waren, drang Moritz mit seinen Truppen nach Tirol vor. Der Kaiser ergriff die Flucht und brachte sich über den Brenner in Villach in Sicherheit. Nur knapp war er einer Gefangennahme entgangen. Im Juni wurde erneut verhandelt, nunmehr in Passau. Trotz seiner Niederlage war der Kaiser nicht bereit, den Protestanten den von ihnen geforderten Religionsfrieden zuzugestehen. Doch diesen forderten inzwischen auch die neutralen Fürsten und sogar viele altgläubige, ja sogar geistliche Fürsten. Auch König Ferdinand wollte Frieden im Reich und sah sich anders als sein Bruder nicht in der Pflicht, nach alter Tradition mit der Reichsacht gegen Ketzer vorzugehen. In Passau kam es zu einer Einigung, die allerdings vom Kaiser zunächst abgelehnt wurde. In zähen Verhandlungen wurden weitere Kompromisse geschlossen und schließlich von allen Beteiligten gebilligt. Der Passauer Vertrag5 gewährte den Protestanten Religionsfrieden, allerdings nur bis zum nächsten Reichstag, der innerhalb von sechs Monaten einberufen werden sollte. Dieser Termin verstrich, und damit verlängerte sich die Friedensphase, was die Protestanten zur weiteren Konsolidierung ihrer Kräfte nutzten. Erst im Winter 1553/54 bereitete der Kaiser den Reichstag vor und rief ihn schließlich Anfang 1555 nach Augsburg zusammen.

5 DGQD 3, S. 462–466.

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Augsburger Reichstag und Augsburger Religionsfriede (1555)

Augsburger Reichstag und Augsburger Religionsfriede (1555) 1555 tagte in Augsburg ein weiterer Reichstag, der einen Religionsfrieden beschloss, der die Angehörigen der Confessio Augustana den Anhängern des alten Glaubens gleichstellte und ausdrücklich bestimmte, dass jeder Landesherr das „Reformationsrecht“ habe (lat.: ius reformandi) und selbst entscheiden dürfe, ob er dem alten oder dem neuen Glauben angehören wolle. Damit war der Religionsfreiheit Bahn gebrochen, aber nur auf der Ebene der Regierenden, denn die Untertanen mussten ihrem Landesherrn folgen. Wer regierte, bestimmte die Religion, lateinisch: cuius regio, eius religio; die viel zitierte Formel wurde allerdings erst 1612 geschaffen. Doch auch für die Untertanen änderte sich etwas. Es wurde ihnen, falls sie einem anderen Glauben anhingen, ein erstes Grundrecht eingeräumt: das Recht auszuwandern (lat.: beneficium emigrandi). Mit diesen generellen Regelungen waren zwei Sonderbestimmungen verbunden, betreffend die Reichsstädte und die geistlichen Fürstentümer. Bischöfen sowie Äbten von reichsunmittelbaren Klöstern wurde das Reformationsrecht nicht zugestanden. Sollten sie evangelisch werden, mussten sie ihr Bistum oder ihr Kloster verlassen und die Herrschaft einem Katholiken übergeben. Diese als „geistlicher Vorbehalt“ bezeichnete Sonderbestimmung sollte verhindern, dass aus geistlichen Fürstentümern Zug um Zug weltliche würden und die alte Kirche auf diese Weise in Deutschland ihre wichtige territoriale Basis verlöre. Der Reiz für Bischöfe und Reichsäbte, vom Reformationsrecht Gebrauch zu machen und für sich – und die eigene Familie – ein weltliches, vererbbares Herrschaftsgebiet aufzubauen, wäre fern jeder denkbaren religiösen Motivation einfach zu groß gewesen. Für die Reichsstädte hat der Augsburger Religionsfriede gemischtkonfessionelle Verhältnisse akzeptiert und damit an einem weiteren Punkt neben dem Auswanderungsrecht den Weg der Toleranz bestritten. In den meisten Reichsstädten gab es sowohl Evangelische als auch Katholiken und das sollte so bleiben. Der Fachbegriff für diese Gleichstellung lautet Parität (lat. par = gleich). In kleineren Reichsstädten führte das dazu, dass eventuell auch die Hauptkirche von beiden Konfessionen gemeinsam benutzt werden musste, also die unterschiedlichen Gottesdienste hintereinander gefeiert werden mussten. Der Fachbegriff für diese gemeinsame Nutzung lautet Simultaneum (lat. simul = zugleich). Konfliktfrei verlief dieses eingeräumte oder besser aufgezwungene Miteinander nicht, da die beiden Konfessionen ja nicht aufhörten, gegeneinander zu agitieren. Auch in den östlichen Teilen der Schweiz (Thurgau, Toggenburg,

ius reformandi

cuius regio, eius religio

beneficium emigrandi

geistlicher Vorbehalt

Parität

Simultaneum

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Religionsgespräche, Religionskrieg, Religionsfriede

Friedensperiode



Rheintal, Graubünden) kam es im 16. und im frühen 17. Jahrhundert zur Bildung gemischtkonfessioneller Gemeinschaften. Im Zuge der Bewältigung der damit verbundenen Konflikte etablierte sich die konfessionelle Parität sowohl in Kirchgemeinden als auch in einzelnen Kantonen und auf gesamteidgenössischer Ebene. Freilich sollten die Augsburger Bestimmungen nur interimistisch gelten bis zu einer immer noch erhofften Klärung der theologischen Fragen durch ein Konzil. Doch die Augsburger Regelungen hatten Bestand und bescherten Deutschland eine lange Friedensperiode, bis 1618, als der Dreißigjährige Krieg begann. Und Melanchthons Bekenntnis von 1530 war – streng genommen in der Fassung von 1540 (Confessio Augustana variata) – in den Rang eines Verfassungsdokumentes des Reiches erhoben worden. Mit dem Religionsfrieden endete die Reformation in Deutschland und das Jahr 1555 wird häufig und aus guten Gründen wie das Jahr 1517 als Epochengrenze gewählt. Aus dem Augsburger Religionsfrieden (25. 9. 1555):6

Wir setzen fest, ordnen an, wollen und gebieten, dass künftig niemand um keinerlei Ursache willen den anderen befehden, bekriegen, berauben soll. Und damit solcher Landfriede auch in Bezug auf die Religionsspaltung desto beständiger aufgerichtet und gehalten werde, sollen die kaiserliche Majestät, auch Kurfürsten, Fürsten und Stände des heiligen Reiches keinen Stand des Reiches der Augsburgischen Konfession wegen gewaltsam überziehen oder sonst gegen sein Gewissen, Wissen und Wollen von dieser Augsburgischen Konfession wegen gewaltsam überziehen oder sonst gegen sein Gewissen, Wissen und Wollen von dieser Augsburgischen Konfession, Religion, Glaube, Kirchengebräuche, Ordnungen und Zeremonien in andere Wege drängen, sondern bei solcher Religion friedlich bleiben lassen. Dagegen sollen die Stände, die der Augsburgischen Konfession zugehörig sind, jene Reichsstände, die der alten Religion anhängen, geistliche oder weltliche, gleicherweise bei ihrer Religion unbehelligt bleiben lassen. Doch sollen alle anderen, die den beiden genannten Religionen nicht anhängen, in diesem Frieden nicht gemeint, sondern gänzlich ausgeschlossen sein. Wo ein Erzbischof, Bischof oder Prälat oder ein anderer geistlichen Standes von unserer alten Religion abtreten würde, hat derselbe sein Erzbistum, Bistum, Prälatur und andere Benefizien alsbald zu verlassen. Wo aber unsere Untertanen, der alten Religion oder der Augsburgischen Konfession anhängig, wegen dieser ihrer Religion mit Weib und Kindern an andere Orte ziehen und sich niederlassen wollten, denen soll solcher Abund Zuzug, auch Verkauf ihrer Habe und Güter unverhindert zugelassen und bewilligt sein. 6 Auszüge: KTGQ 3, S. 208 f.

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Literatur Nachdem aber in vielen freien und Reichsstädten die beiden Religionen bisher eine Zeitlang nebeneinander in Gang und Gebrauch gewesen sind, sollen dieselben auch künftig so bleiben.

Der Religionsfriede regelte die religiösen Angelegenheiten im Reich klar und dauerhaft. Er bildete die Basis für die weitere Ausgestaltung der Reformation in den Gebieten, wo sie Fuß gefasst hatte; dieser Prozess wird als Konfessionalisierung bezeichnet. Der Friede bildete aber auch die Basis für Versuche, durch eine konfessionelle Neuorientierung der jeweiligen Obrigkeiten die Reformation wieder zurückzudrängen; in diesem Zusammenhang wird von Gegenreformation gesprochen. Die katholische Kirche reagierte auf die Reformation jedoch nicht nur mit Aus- und Abgrenzungen, sondern auch mit einer inneren Erneuerung; sie wird als Katholische Reform (→ Kap. 10) oder Katholische Erneuerung bezeichnet. Als Folge der reichsrechtlichen Akzeptanz machte die Reformation zunächst noch weitere Fortschritte: 1567 wurde das Bistum Verden evangelisch, 1568 das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel, 1583 das Bistum Minden. 1580 konvertierte der Kölner Erzbischof, aber gemäß den Augsburger Bestimmungen ohne Konsequenzen für die Konfessionszugehörigkeit seines Fürstbistums. Allmählich gewann dann aber der Katholizismus wieder an Boden und das Blatt begann sich erneut zu wenden. Literatur Das Wormser Buch. Der letzte ökumenische Konsensversuch vom Dezember 1540 in der deutschen Fassung von Martin Bucer / Richard Ziegert (Hg.), Cornelis Augustijn (Bearb.). Frankfurt a. M. 1995. Der Schmalkaldische Bund und die Stadt Schmalkalden. Seminar am 13./14. Oktober 1995 in Schmalkalden / Verein für Schmalkaldische Geschichte und Landeskunde (Hg.). Schmalkalden 1996. Irene Dingel (Hg.): Politik und Bekenntnis. Die Reaktionen auf das Interim von 1548. Leipzig 2006 (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 8). Thomas Fuchs: Konfession und Gespräch. Typologie und Funktion der Religionsgespräche in der Reformationszeit. Köln 1995 (Norm und Struktur 4). Axel Gotthard: Der Augsburger Religionsfrieden. Münster/Westf. 2004 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 148). Wibke Janssen: „Wir sind zum wechselseitigen Gespräch geboren“. Philipp Melanchthon und die Reichsreligionsgespräche von 1540/41. Göttingen 2009 (Forschungen zur Kirchenund Dogmengeschichte 98). Athina Lexutt: Rechtfertigung im Gespräch. Das Rechtfertigungsverständnis in den Religionsgesprächen von Hagenau, Worms und Regensburg 1540/41. Göttingen 1996 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 64). Joachim Mehlhausen (Hg.): Das Augsburger Interim. Nach den Reichstagsakten deutsch und lateinisch. 2., erw. Aufl. Neukirchen-Vluyn 1996 (Texte zur Geschichte der evangelischen Theologie 3). Volkmar Ortmann: Reformation und Einheit der Kirche. Martin Bucers Einigungsbemühungen

Konfessionalisierung

Fortschritte der Reformation

&

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Religionsgespräche, Religionskrieg, Religionsfriede bei den Religionsgesprächen in Leipzig, Hagenau, Worms und Regensburg 1539–1541. Mainz 2001 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 185: Abteilung für abendländische Religionsgeschichte). Heinz Schilling (Hg.), Heribert Smolinsky (Hg.): Der Augsburger Religionsfrieden 1555. Wissenschaftliches Symposium aus Anlaß des 450. Jahrestages des Friedensschlusses. Augsburg 21. bis 25. September 2005. Gütersloh 2007 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 206). Bernd Christian Schneider: Ius reformandi. Die Entwicklung eines Staatskirchenrechts von seinen Anfängen bis zum Ende des Alten Reichs. Tübingen 2001 (Ius ecclesiasticum 68). Gury Schneider-Ludorff: Der fürstliche Reformator. Theologische Aspekte im Wirken Philipps von Hessen von der Homburger Synode bis zum Interim. Leipzig 2006 (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 20). Luise Schorn-Schütte (Hg.): Das Interim 1548/50. Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt. [Gütersloh] 2005 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 203). Lothar Vogel: Das zweite Regensburger Religionsgespräch von 1546. Politik und Theologie zwischen Konsensdruck und Selbstbehauptung. Gütersloh 2009 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 82).

10. Das Konzil von Trient (1545–1563) und die Katholische Reform

In den ersten Jahren der Reformation riefen Luther und die Reformatoren in seinem Umfeld nach einem Konzil, einer allgemeinen Bischofsversammlung. Dort sollten die anstehenden Fragen diskutiert und Korrekturen in Angriff genommen werden. Im 15. Jahrhundert hatten zwei große Konzile stattgefunden und gezeigt, dass die Bischöfe bereit waren, sich auch gegen die Päpste durchzusetzen. Doch gerade aus diesem Grund wollten die Päpste der Reformationszeit kein Konzil. Insbesondere Leo X., der in den entscheidenden Jahren 1513–1521 regierte, sträubte sich vehement gegen den Konzilsgedanken. Dasselbe galt 1523–1534 für Clemens VII., der um die öffentliche Diskussion seiner unehelichen Abstammung fürchtete. Als sich Päpste schließlich, zunächst unter dem Druck des Kaisers, später auch aus eigener Einsicht, bereit fanden, ein Konzil einzuberufen und durchzuführen, verweigerten die Evangelischen die Teilnahme. Das Konzil von Trient, lateinisch Tridentinum oder Concilium Tridentinum, das im Jahre 1545 begann und 1563 endete, wurde so zu einer rein innerkatholischen Angelegenheit. In dieser Hinsicht war es aber außerordentlich wirkungsvoll und gab der katholischen Kirche ein neues Gesicht. Das Konzil mündete in die Katholische Reform.

Tridentinum

Konzilsgedanken bei den Reformatoren Seit dem 4. Jahrhundert wurden in der Christenheit tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten in theologischen und praktischen Fragen von Konzilen entschieden. Zu Konzilen versammeln sich Bischöfe und Ordensobere mit ihren theologischen Experten und Ratgebern. Im Mittelalter gelangten die Konzile mehr und mehr unter die Macht der Päpste. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts jedoch gab es spektakuläre Reformkonzile in Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449), die sich sogar gegen Päpste auflehnten. Von vielen Theologen und Bischöfen wurde die Position vertreten, dass nicht der Papst, sondern das Konzil die oberste kirchenleitende Instanz sei. Diese Auffassung wird als Konziliarismus bezeichnet und dem Papalismus, einem papstzentrierten Kirchenverständnis, gegenübergestellt. Das Konstanzer Konzil hat 1417 die Päpste zur

Reformkonzile

Konziliarismus

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Das Konzil von Trient (1545–1563) und die Katholische Reform

Luther

Zwingli

Bullinger

Calvin

regelmäßigen Abhaltung von Reformkonzilen verpflichtet (Dekret Frequens). Durchgesetzt hat sich der Konziliarismus jedoch nicht. Im 16. Jahrhundert lag es also nahe, die Klärung der durch die Reformation aufgeworfenen Fragen und die Beseitigung der allenthalben beklagten kirchlichen Missstände von einem Konzil zu erwarten. Luther forderte ein solches Konzil, kritisierte 1520 in seiner Adelsschrift aber auch die Auffassung der Päpste, nur sie könnten ein Konzil einberufen. Luther hoffte auf ein Konzil, das nicht unter dem Einfluss eines Papstes stehe, und liebäugelte mit einem vom Kaiser einberufenen Konzil, einem Nationalkonzil. Auch für solche von Kaisern einberufene und von Kaisern geleitete Konzile gab es Beispiele aus der Geschichte. Ganz grundsätzlich und von vornherein war ferner klar, dass sich Luther niemals einem wie auch immer zustande gekommenen Konzilsbeschluss fügen würde, der dem widerspräche, was er selbst aus der Heiligen Schrift als richtig erkannt habe. Denn Luther hatte schon 1519 in Leipzig, unter Verweis auf zahlreiche geschichtliche Beispiele, erklärt, dass auch Konzile irren könnten. Zwingli stand dem Konzilsgedanken kritischer gegenüber als die Wittenberger. Schon 1522 erkannte er keine Lehrautorität von Konzilen mehr an. Die Heilige Schrift war ihm alleinige Grundlage für Lehre und Leben. Als im Januar 1523 bei der Ersten Zürcher Disputation ein Konzil zur Klärung der anhängigen Fragen gefordert wurde, erklärte Zwingli, die Disputationsveranstaltung selbst sei eine christliche Versammlung im alten Sinn und eine besondere Lehrinstanz nicht nötig. In seiner im Anschluss verfassten Auslegung seiner Thesen unterschied er zwischen der unsichtbaren, weltweiten, allgemeinen Kirche und der sichtbaren örtlichen Gemeinde. Konzile hatten in diesem Kirchenmodell keinen Platz. Dennoch verschloss sich sein Nachfolger Bullinger nicht völlig dem Konzilsgedanken. Im August 1546 verfasste er dazu ein Gutachten und bekundete die prinzipielle Bereitschaft der Evangelischen, über ihren Glauben Rechenschaft abzulegen. Das Fernbleiben Zürichs begründete er mit der offenkundigen Parteilichkeit der Trienter Versammlung und damit, dass kein sicheres Geleit gewährt wäre. Weitere Gutachten erstellte Bullinger 1551 und 1562 und verdeutlichte in ihnen, dass es sich bei der in Trient tagenden Versammlung um kein „apostolisches“ Konzil, kein Konzil nach dem Vorbild der altkirchlichen Konzile handle. Calvin war weder Anhänger noch Gegner des Konzilsgedankens, vertrat jedoch mit Entschiedenheit die Position, nicht der Papst habe das letzte Wort über ein Konzil, sondern die Schrift. Mit dem Trienter Konzil verband er schon im Vorfeld keine großen Erwartungen

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Mühsame Wege zum Konzil

und veröffentlichte 1547 eine Zusammenstellung von Dekreten, Kanones und einer Rede mit einem eigenen, plakativ als „Gegengift“ (Antidotum) titulierten Kommentar, in dem er die Beschlüsse von Trient kritisch sichtete. Auch 1551, in einer Vorrede zu einer Sammelausgabe seiner Kommentare zu den Katholischen Briefen des Neuen Testaments, wandte er sich vehement gegen in Trient getroffene Entscheidungen. Im Laufe der Jahre trat der Konzilsgedanke auch bei den Wittenberger Reformatoren in den Hintergrund. Immer weniger erwarteten sie sich von einem Konzil und stellten außerdem die Bedingung, dass sie nur einem Konzil zustimmen könnten, das „frei“ und „christlich“ wäre, also nicht unter der Macht des Papstes stünde, sondern allein der Heiligen Schrift verpflichtet sei. Ein solches Konzil jedoch wollten die Päpste nicht.

Konzilsgedanke verblasst

Mühsame Wege zum Konzil Auch in der katholischen Kirche vollzogen sich in der Reformationsepoche tiefgreifende Wandlungen. Die katholische Kirche der Neuzeit ist eine andere als die Kirche des Mittelalters. Grundlegend für die innerkirchlichen Neuerungen war das Konzil von Trient. Der katholischen Kirche gelang es nicht, die Reformation zu besiegen, weil die Päpste zu verhalten auf Luther reagierten, die katholischen Theologen ihm zu wenig entgegensetzten und die Bischöfe zu spät mit den von allen für notwendig erachteten innerkirchlichen Reformen begannen. Als das von Luther und anderen Reformatoren von Anfang an und in Anknüpfung an die Reformbewegungen des späten Mittelalters geforderte Konzil zur Lösung der anstehenden Fragen endlich einberufen wurde, hatte sich die Reformation bereits so stark gefestigt, dass seine Beschickung rundweg abgelehnt wurde und abgelehnt werden konnte. Die Päpste hatten auf dem Hintergrund ihrer schlechten Erfahrungen mit Konzilen im späten Mittelalter zunächst kein Interesse an einer Kirchenversammlung, auf der über Reformen gesprochen werden sollte. Anders wurden die Dinge im Jahre 1534, als Paul III. den Papstthron bestieg. Gedrängt vom Kaiser, der sich von einem Konzil die Lösung der anstehenden Probleme erhoffte, berief er 1535 ein Konzil nach Mantua ein. Doch es kam nicht zustande. Im Jahre 1542 nahm Paul seine Bemühungen wieder auf und ließ ein förmliches Einladungsschreiben ausgehen.1 Im Juli 1544 mischte 1 DGQD 3, S. 416–429.

Paul III.

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Das Konzil von Trient (1545–1563) und die Katholische Reform

Spannungen zwischen Papst und Kaiser

Trient

drei Perioden

sich Karl V. ein und erklärte, er werde sich für ein „allgemeines, freies und christliches Konzil“ einsetzen. Paul reagierte erbost mit einer „väterlichen Ermahnung“ und warf dem Kaiser ein eigenmächtiges, ohne Rücksprache erfolgtes Vorgehen vor. Spannungen zwischen dem Papst und dem Kaiser durchzogen die Geschichte des Trienter Konzils. Unterschiedlich waren und blieben die mit dem Konzil verbundenen Interessen vom Anfang bis zum Schluss. Während der Kaiser eine Kirchenreform erreichen wollte, zielten die Päpste vor allem auf die Verurteilung der Evangelischen. Als Tagungsort wurde beim nächsten und letzten Anlauf Trient gewählt, ein zum Reich gehörender, aber von Rom nicht zu weit entfernter Ort. Nach mehrfachen weiteren Verschiebungen wurde das Konzil am 13. Dezember 1545 tatsächlich eröffnet, allerdings waren zunächst nur 4 Kardinäle, 4 Erzbischöfe, 21 Bischöfe und 5 Ordensobere vertreten und kein einziger Evangelischer. Bei späteren Sitzungen sollte die Teilnehmerzahl jedoch auf über 200 klettern, sogar einige Evangelische reisten dann an. Das Konzil von Trient tagte in drei Perioden unter drei verschiedenen Päpsten und behandelte drei verschiedene Themenkomplexe.

Trienter Konzil: 1. Phase (1545–1547)

Tradition Rechtfertigung

Luthers Lehren verurteilt

Die erste Konzilsphase reichte von 1545–1547 und fand noch unter Paul III. statt. Die Evangelischen verweigerten sich geschlossen. Verabschiedet wurden eine Reihe dogmatischer Dekrete, durch die sich die katholische Kirche von den Kirchen der Reformation abgrenzte. Die Konzilsväter bekannten sich zur Vulgata, der lateinischen Bibel, die von den Reformatoren als fehlerhaft kritisiert und zu Gunsten der hebräischen und griechischen Originaltexte verdrängt worden war. Neben der Heiligen Schrift erklärte das Konzil die kirchliche Tradition zur verbindlichen Grundlage des kirchlichen Lebens und zu einer Quelle der göttlichen Offenbarung.2 Auch mit der Rechtfertigungslehre befassten sich die Konzilsväter und definierten, dass der Mensch nicht, wie es die Reformatoren behaupteten, allein durch den Glauben von Gott als Gerechter angesehen werde, sondern durch gute Werke dazu beitragen müsse. Ausdrücklich wurden einzelne Lehren Luthers verurteilt und verdammt, wodurch die Beziehungen zwischen katholischen und evangelischen Christen für Jahrhunderte vergiftet wurden.

2 Auszüge: KTGQ 3, S. 253 f.

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Trienter Konzil: 2. Phase (1551–1552) Aus dem Dekret über die Rechtfertigung (13. 1. 1547):3



Wenn jemand behauptet, dass der gottlose Mensch allein durch den Glauben gerechtfertigt werde, und es so versteht, nichts anderes werde erfordert, wodurch er zur Erlangung der Rechtfertigungsgnade mitwirkt, und in keiner Weise sei notwendig, dass er sich mit der Bewegung seines Willens bereite oder vorbereite: Der sei im Bann. (Lehrsatz 9) Wenn jemand behauptet, die Menschen würden gerechtfertigt allein durch die Anrechnung der Gerechtigkeit Christi oder allein durch den Nachlass der Sünden unter Ausschluss der Gnade und Liebe, die in ihren Herzen durch den Heiligen Geist ausgegossen wird und ihnen anhaftet, oder sogar, die Gnade, durch die wir gerechtfertigt werden, sei nur die Gunst Gottes: Der sei im Bann. (Lehrsatz 11) Wenn jemand behauptet, der rechtfertigende Glaube sei nichts anderes als das Vertrauen auf die göttliche Barmherzigkeit, die um Christi willen die Sünden nachlässt, oder dieses Vertrauen allein sei es, wodurch wir gerechtfertigt werden: Der sei im Bann. (Lehrsatz 12)

Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnten sich Repräsentanten der katholischen Kirche dazu durchringen, von den Trienter Verdammungsurteilen abzurücken, indem sie diese als die gegenwärtige Lehre der evangelischen Kirchen nicht mehr treffend bezeichneten. An die erste Sitzungsperiode in Trient schloss sich noch eine bis 1548 reichende in Bologna an, auf dem Territorium des Kirchenstaates, während der allerdings keine Beschlüsse mehr gefasst wurden. Das Konzil wurde von Trient nach Bologna verlagert und schließlich ganz eingestellt, weil es infolge der Niederlage der Evangelischen im Schmalkaldischen Krieg nicht mehr nötig zu sein schien.

20. Jahrhundert

Bologna

Trienter Konzil: 2. Phase (1551–1552) Die zweite Konzilsphase umfasste die Jahre 1551 und 1552 unter Papst Julius III. Behandelt wurde die Sakramentenlehre. In Abgrenzung von den Positionen der Reformation wurde festgelegt, dass es in der Kirche sieben und nicht nur zwei Sakramente gebe, also neben Abendmahl/Eucharistie und Taufe auch Buße, Firmung, Ehe sowie Krankensalbung (auch: letzte Ölung, Sterbesakrament) und das Weihesakrament. Die Wirkung der Sakramente ergebe sich, wie die mittelalterlichen Theologen gelehrt hatten, „aus dem vollzogenen Werk“ (lat.: ex opere operato), also durch ihren korrekten Vollzug. Im 3 Auszüge: KTGQ 3, S. 254–259.

Julius III. Sakramente

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Das Konzil von Trient (1545–1563) und die Katholische Reform

Bußlehre

Zusammenhang mit der Eucharistielehre hat das Konzil die Lehre von der Wesensverwandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi dogmatisiert, allerdings ohne die innere Natur dieser Wandlung – zum Beispiel durch die Verwendung der aristotelischen Kategorien Substanz und Akzidenz – näher zu bestimmen. Bei der Bußlehre wurde die Notwendigkeit der Genugtuung (lat.: satisfactio) durch gute Werke bekräftigt.

Protestanten auf dem Weg nach Trient

Einladung

Brenz

Melanchthon

Abbruch

Zu allen Sitzungsperioden des Konzils wurden die Protestanten ausdrücklich eingeladen. Natürlich galt die Einladung nicht den Reformatoren selbst als Repräsentanten der evangelischen Theologie, sondern den evangelischen Reichsständen, also den sich zur Reformation bekennenden Territorien und Reichsstädten. Aber nur an der zweiten Sitzungsperiode waren Vertreter der Evangelischen – unter kaiserlichem Zwang – beteiligt. Württemberg, Straßburg, Kursachsen und Brandenburg schickten 1551 zunächst politische Gesandte, später auch Theologen nach Trient. Straßburg vertrat gleichzeitig weitere Reichsstädte: Esslingen, Reutlingen, Biberach und Ravensburg. Johannes Brenz, der württembergische Reformator, reiste nach Trient und hatte zu diesem Zweck gemeinsam mit anderen Theologen seines Heimatlandes eine evangelische Bekenntnisschrift, die Confessio Virtembergica (Württembergisches Bekenntnis) verfasst. Sie wurde auch von Straßburg mitgetragen. In Leipzig war die Confessio Saxonica (Sächsisches Bekenntnis) entstanden, die Melanchthon den Konzilsvätern erläutern sollte. Doch auf der Reise in den Süden blieb der Wittenberger, den in Trient Protestanten und Katholiken gleichermaßen sehnlich erwarteten, infolge kriegerischer Ereignisse auf dem Boden Süddeutschlands in Nürnberg stecken. Viel bewirkt hätte seine Teilnahme allerdings nicht. Die nach Trient gereisten Evangelischen kamen verschiedentlich zu Wort, fanden aber kein Gehör. Die deutschen Bischöfe in Trient, unter ihnen Friedrich Nausea von Wien und Julius Pflug aus Naumburg, konferierten lebhaft und freundlich mit den anwesenden Protestanten. Auch die reformerisch gesinnten spanischen Bischöfe erwiesen sich gegenüber den deutschen Protestanten wohlwollend. Der Militärschlag des Moritz von Sachsen gegen den Kaiser zerstörte jedoch das keimende Vertrauen restlos. Wieder kam es zu einem Abbruch der Verhandlungen infolge des neuerlichen Krieges. Moritz überrumpelte den Kaiser ausgerechnet in Innsbruck, wo dieser sich nur und gerade deshalb

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Trienter Konzil: 3. Phase (1562–1563) und Abschluss (1564)

aufhielt, um dem Konzil nahe zu sein und auf das Konzil Einfluss zu nehmen im Sinne einer Kirchenreform.

Trienter Konzil: 3. Phase (1562–1563) und Abschluss (1564) Zum dritten und letzten Mal tagte das Konzil 1562–1563 unter Pius IV., einem Papst, der deutlicher als seine Vorgänger nicht nur das Konzil, sondern auch die Reform der Kirche wirklich wollte. Folglich verabschiedete es zahlreiche Reformdekrete, allerdings keine das Papsttum selbst betreffenden. Verbessert wurden die Ausbildung der Geistlichen (Seminardekret) und die Kontrolle der Geistlichen und der Klöster durch die Bischöfe. Den Bischöfen wurde der Aufenthalt in ihrem Bistum vorgeschrieben (Residenzpflicht) und die Durchführung regelmäßiger Kontrollen (Visitationen). Ein weiteres Thema war der Gottesdienst. Gegen die reformatorische Lehre bekräftigte das Konzil die Vorstellung, dass die Messfeier eine Opferhandlung darstelle und dass den Laien bei der Eucharistiefeier der Kelch mit dem Wein nicht gereicht werden solle. Die Lehre vom Fegefeuer wurde dogmatisiert und die Anrufung der Heiligen als Fürbitter. Außerdem griffen die Konzilsväter auch das Thema auf, von dem die Reformation ihren Ausgang genommen hatte: den Ablass. Sie beschlossen, dass zwar weiterhin Ablass angeboten werden solle, aber nicht mehr gegen Geld. Auch in der dritten Sitzungsperiode gab es Versuche, Evangelische für die Teilnahme zu gewinnen. Kardinal Stanislaus Hosius bemühte sich höchstpersönlich im Jahre 1561, unterstützt von Pius IV., Herzog Albrecht von Preußen dazu zu bewegen, das Konzil zu beschicken. Doch dieser blieb, bestärkt von seinem Hoftheologen, dem Melanchthonschüler Johannes Aurifaber Vratislaviensis, hartnäckig und lehnte ab. Kein einziger Vertreter der evangelischen Kirchen beteiligte sich an den Reformdiskussionen. Aber auch die katholischen Bischöfe Deutschlands blieben dem Konzil fern, um in ihrer Heimat nicht in den Verdacht zu geraten, sie würden den Augsburger Religionsfrieden verletzen. Die Italiener gaben den Ton an. Das Konzil von Trient erstreckte sich über einen Zeitraum von achtzehn Jahren, wobei die eigentlichen Arbeitsperioden allerdings nur fünf Jahre ausmachten. Die Beschlüsse und Ergebnisse, die 1564, einige Wochen nach der letzten Sitzung, durch die päpstliche Bestätigung Rechtskraft erlangten, sollten die katholische Kirche dauerhaft prägen. Pius IV. beanspruchte in seiner Bestätigungsbulle Benedictus Deus gleichzeitig das alleinige Recht auf Interpretation und Auslegung der Beschlüsse.

Pius IV.

Seminardekret, Residenzpflicht, Visitationen

Fegefeuer

Ablass

Bilanz

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Das Konzil von Trient (1545–1563) und die Katholische Reform

Das Trienter Konzil gehört zu den bedeutenden Ereignissen der Kirchengeschichte. Konzile waren und sind selten. Im 17. und 18. Jahrhundert gab es kein Konzil. Erst im 19. Jahrhundert, 1869–1870, und im 20. Jahrhundert, 1962–1965, wurden wieder Konzile abgehalten und erneut gestalteten sie die katholische Kirche auf eine mit Trient vergleichbare Weise um.

Die Katholische Reform nicht Reformation, aber Reform

Kirchenreform im Mittelalter

Evangelismus

Nicht Reformation, aber Reform lautete die Devise führender katholischer Theologen und Kirchenmänner. Doch während der Begriff „Reformation“ schon sehr lange gebräuchlich ist, spricht man von der „Katholischen Reform“ erst seit rund fünfzig Jahren. Der Begriff stammt von dem katholischen Kirchenhistoriker Hubert Jedin, dem maßgeblichen Erforscher des Trienter Konzils. Die mit diesem Konzil begonnene, auf die Reformation reagierende innere Erneuerung der katholischen Kirche hat er in Abgrenzung von der evangelischen Reformation so bezeichnet. Die Reformation hat nicht nur neue Kirchen hervorgebracht, sondern indirekt auch die katholische Kirche verändert. Freilich wurzeln sowohl die protestantische Reformation als auch die katholische Reform in den Reformbestrebungen des späten Mittelalters und im Humanismus. Obwohl oder gerade weil im späten Mittelalter der Versuch einer Kirchenreform mit Hilfe von Konzilen gescheitert war, kam es im ganzen Bereich der Kirche im 15. und frühen 16. Jahrhundert zu einer Vielzahl reformerischer Aufbrüche. Allen voran regenerierten sich die Orden und orientierten sich neu an ihren ursprünglichen Idealen. Vielerorts bemühten sich Bischöfe um die Verbesserung der kirchlichen Verhältnisse, in Spanien war es das Königspaar Ferdinand und Isabella. Die Individualisierung und Spiritualisierung des religiösen Lebens und eine neue Ausrichtung an der Bibel sowie an altkirchlichen Theologen wie Augustin beeinflusste Kleriker und Laien gleichermaßen. In Italien bildete sich eine Erneuerungsbewegung, in der lebhaft über den Heilsweg diskutiert wurde, der Evangelismus. Paul III. war ein von Reformgedanken erfüllter Papst. Er berief neue Kardinäle und setzte eine Reformkommission ein. An die Reformbemühungen des 15. und frühen 16. Jahrhunderts konnte das Trienter Konzil bei seinen Reformbeschlüssen nahtlos anknüpfen. Und gleichzeitig war unvermittelt eine Kraft gewachsen, die willens und in der Lage war, praktische Veränderungen auch um- und durchzusetzen: der neue Orden der Jesuiten.

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Die Jesuiten im Dienst der Reform

Die Jesuiten im Dienst der Reform Während die Reformation in Deutschland und der Schweiz ihre Triumphe feierte, entstand in Italien ohne direkten Bezug zum Reformationsgeschehen ein neuer katholischer Mönchsorden, der später zum entscheidenden Opponenten des Protestantismus werden sollte: der Orden der Jesuiten. Sein erstes und ursprüngliches Anliegen war jedoch spiritueller Art, und es wurzelte in der Lebenserfahrung von Ignatius, einem Adligen ausLoyola in Spanien. Ignatius wurde 1491 im Baskenland geboren und erhielt eine höfische Erziehung. Er diente als Offizier, doch eine Verwundung im Jahre 1521 führte zu einer neuen Lebensrichtung. Er las Heiligenlegenden und mystische Schriften und machte eigene spirituelle Erfahrungen. Eine Wallfahrt ins Heilige Land folgte. Zum Studium ging Ignatius unter anderem nach Paris. Dann ließ er sich in Rom nieder und es kam zur Ordensgründung. Die Anfänge gehen zurück auf das Jahr 1534, als sich Ignatius und einige Freunde in Rom zu einer Gemeinschaft verbanden. 1539 entstand der eigentliche Orden mit einer eigenen, neuen Ordensregel und wurde 1540 von Papst Paul III. bestätigt, allerdings zunächst mit einer Beschränkung auf 60 Mitglieder, die erst 1543 aufgehoben wurde. Der neue Orden nannte sich „Gesellschaft Jesu“ (Societas Jesu, abgekürzt SJ), die Kurzform Jesuiten hat sich jedoch eingebürgert. Der Orden wurde zum wichtigsten Träger der Gegenreformation und der Katholischen Reform sowie zum wichtigsten Instrument der katholischen Konfessionalisierung (→ Kap. 13). Ignatius lebte von 1537 an konstant in Rom und arbeitete für den Orden. Er führte einen ausgedehnten Briefwechsel und war auch als Schriftsteller tätig. 1556 ist er in Rom gestorben und wurde dort auch begraben. 1609 hat ihn die Kirche selig und 1622 heilig gesprochen. Bis in die Gegenwart bedeutsam ist die geistliche Dimension von Ignatius’ Lebenswerk. Aus seinen mystischen Erfahrungen und aus seiner Tätigkeit als Exerzitienmeister, bei der er andere zu religiösen Übungen anleitete, entstand ein Exerzitienbuch (Exercitia spiritualia),4 eine Anleitung für die alltägliche Frömmigkeitspraxis in Form eines vierwöchigen Kurses. Es geht um Gewissenserforschung, um Meditation und geistliche Betrachtungen und um das Beten. Ziel ist es, unreine Neigungen von sich zu entfernen, den göttlichen Willen zu erfahren und so dem Heil der Seele zu dienen. Der Anfänger beginnt damit, den Tag zu strukturieren. Zum Beispiel nimmt er sich

4 Auszüge: KTGQ 3, S. 252 f.

Ignatius von Loyola

Ordensgründung

Exerzitien

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Das Konzil von Trient (1545–1563) und die Katholische Reform

Selbsterforschung

Theologie

vor, an einem bestimmten Punkt sein Leben zu ändern, sich von einem Fehler zu befreien. Ignatius empfiehlt, morgens beim Aufstehen diesen Punkt ins Auge zu fassen. Nach dem Mittagessen findet eine Selbsterforschung statt. Es wird geprüft, wie oft dennoch der ins Auge gefasste Fehler begangen wurde, und nach dem Abendessen noch einmal. Zu dieser inneren Erforschung kommt eine äußerliche Übung hinzu. Für jeden Fehler schlägt sich der Gläubige mit der Hand auf die Brust, um Schmerz zu empfinden. Über die Selbsterforschung werden Aufzeichnungen gemacht und Tag mit Tag und Woche mit Woche verglichen, um die Veränderungen zu sehen. Eine wichtige Rolle spielte für Ignatius auch die Beschäftigung mit der Lebensgeschichte Jesu, insbesondere mit seiner Leidensgeschichte. Beim Beten wurde das Vaterunser meditierend gesprochen, indem man bei jedem einzelnen Wort verweilte, sodass insgesamt etwa eine Stunde lang gebetet wurde, natürlich kniend und mit geschlossenen oder auf einen festen Punkt gerichteten Augen. Auch für die Mahlzeiten gab Ignatius Empfehlungen. Beim Essen soll der Gläubige meditieren, sich Christus vorstellen oder über ein Heiligenleben nachdenken, damit er sich nicht auf die Speise und ihren Geschmack konzentriert und dabei angenehme Empfindungen hegt. Außerdem soll die nächste Nahrungsaufnahme vorbereitet werden in einer Zeit, in der noch kein Hunger besteht, um nüchtern, ohne Heißhunger, entscheiden zu können, was und wie viel ein paar Stunden später gegessen wird. Ignatius und sein Orden haben das Gesicht der katholischen Frömmigkeit der folgenden Jahrhunderte maßgeblich beeinflusst. Innerlichkeit einerseits verband sich mit äußerlich-sinnlichen Formen andererseits. Hierzu gehörten die Heiligenverehrung, der regelmäßige Empfang der Kommunion, die ewige Anbetung der Hostie, der Herz-Jesu-Kult – eine speziell an das Herz Jesu als Symbol seiner Liebe gerichtete Andacht – und die Intensivierung der Beichtpraxis, unterstützt durch neue kasuistische Beichtanleitungen. Der Orden des Ignatius hat auch die katholische Theologie geprägt. An zahlreichen Kollegien und Hochschulen, besonders an dem 1551 gegründeten „Collegium Romanum“, haben die Jesuiten zur Ausbildung des katholischen Klerus beigetragen, für den seit dem Seminardekret des Trienter Konzils (1563), anders als in den vorangegangenen Jahrhunderten, eine wissenschaftliche Ausbildung vorgeschrieben war. Die Jesuiten lehnten sich in ihrer Theologie an Thomas von Aquin an, suchten zugleich aber das Gespräch mit dem zeitgenössischen Denken, was sie etwa in der Frage des Zusammenspiels von göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit in heftigen, an die Luther-Erasmus-Kontroverse erinnernden Streit mit Theolo-

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Literatur

gen des Dominikanerordens, allen voran Domingo Báñez, brachte, die sich streng an Thomas von Aquin orientierten. Diese Diskussion wurde durch die seit Mitte des 16. Jahrhunderts, vor allem in Löwen, feststellbare Renaissance des augustinischen Denkens beeinflusst. Wichtig wurden die Jesuiten auch für die Kolonial- und Missionsgeschichte. Nachdem schon im 16. Jahrhundert der Dominikaner Bartolomé de Las Casas für die Rechte der Indianer eingetreten und ihre Misshandlung mit der Geißelung Christi verglichen hatte, schufen die Jesuiten von 1608 an in Paraguay Schutzzonen (Reduktionen) für die Indianer. Die Jesuiten wurden zu einem Wegbereiter der Moderne, allerdings wider Willen. Sie haben den typisch modernen Aktivismus gefördert, der auf verinnerlichten Normen basiert, und sie haben Disziplin durch Selbstdisziplin ersetzt. Im 18. Jahrhundert begann allerdings ein dramatischer Niedergang. Die Aufklärung schürte den Hass auf die Jesuiten. Es kam zu ersten Verboten. Ein von Portugal niedergeschlagener Indianeraufstand in Paraguay führte zur Vertreibung der Jesuiten aus Portugal 1759 und aus allen portugiesischen Kolonien. 1764 verbot der französische König den Orden, 1767 geschah dasselbe in Spanien. 1773 wurde der Jesuitenorden vom Papst aufgelöst, 1814 jedoch wiederhergestellt. 1847 folgte ein Verbot in der Schweiz, das erst 1973 aufgehoben werden konnte, da es in der Verfassung fixiert war. 1872 begann ein Verbot in Deutschland, das bis 1917 dauerte. Seine alte Bedeutung hat der Orden anschließend nie wieder erlangt. Literatur Remigius Bäumer (Hg.): Concilium Tridentinum. Darmstadt 1979 (Wege der Forschung 313). Cándido de Dalmases: Ignatius. Versuch einer Gesamtbiographie / Pia Fessler (Übers.). Neuausg. München 2006 (Große Gestalten der Christenheit). Rolf Decot (Hg.): Konfessionskonflikt, Kirchenstruktur, Kulturwandel. Die Jesuiten im Reich nach 1556. Mainz 2007 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Mainz. Beiheft 77: Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte). Helmut Feld: Ignatius von Loyola. Gründer des Jesuitenordens. Eine Biographie. Köln 2006. Peter Claus Hartmann: Die Jesuiten. München 2001 (Beck'sche Reihe 2171: C. H. Beck Wissen). Hubert Jedin: Geschichte des Konzils von Trient. Bd. 1, Bd. 2–3, Bd. 4. Freiburg i. Br. 31977, 2 1978, 1975. Dietz Lange (Hg.): Überholte Verurteilungen? Die Gegensätze in der Lehre von Rechtfertigung, Abendmahl und Amt zwischen dem Konzil von Trient und der Reformation – damals und heute. Göttingen 1991. Michael A. Mullett: The Catholic Reformation. London 1999. John W. O'Malley: Die ersten Jesuiten. Würzburg 1995. Albrecht Pius Luttenberger: Katholische Reform und Konfessionalisierung. Darmstadt 2006 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit – Freiherr-vom-SteinGedächtnisausgabe 17).

Niedergang

&

190

Das Konzil von Trient (1545–1563) und die Katholische Reform Paolo Prodi (Hg.): Das Konzil von Trient und die Moderne. Berlin 2001 (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 16) (Studienwoche 38). André Ravier: Ignatius von Loyola gründet die Gesellschaft Jesu / Josef Stierli (Bearb.). Würzburg 1982. Klaus Schatz: Allgemeine Konzilien. Brennpunkte der Kirchengeschichte. 2. Aufl. Paderborn 2008 (UTB 1976, Theologie). Christopher Spehr: Luther und der Konzil. Zur Entwicklung eines zentralen Themas in der Reformationszeit. Tübingen 2010 (Beiträge zur historischen Theologie 153). [José] Ignacio Tellechea: Ignatius von Loyola. „Allein und zu Fuß“. Eine Biographie. 2. Aufl. Zürich 1998.

11. Anfänge des Konfessionellen Zeitalters

Seit dem 4. Jahrhundert besaß das Christentum Bekenntnisse, lateinisch confessiones. Doch erst im Reformationszeitalter begannen sich die neu entstehenden Kirchen durch Bekenntnisse zu definieren und von anderen Kirchen abzugrenzen. Auf diesem Hintergrund bürgerte es sich im 19. Jahrhundert ein, die einzelnen christlichen Kirchen als Konfessionen zu bezeichnen. Die Konfessionen bildeten sich im Reformationszeitalter, und anschließend dienten die jeweiligen Bekenntnisse der Selbstdefinition und Abgrenzung. Aus diesem Grund führte der protestantische Heidelberger Theologe und Kulturphilosoph Ernst Troeltsch vor gut hundert Jahren für die auf die Reformation folgende Epoche den Begriff „Konfessionelles Zeitalter“ ein. Er ließ es mit dem Jahr 1648 enden, aber die Konfessionen bestimmten weit über das Konfessionelle Zeitalter hinaus nicht nur die Religiosität, sondern auch den Alltag der Menschen. Das konfessionelle Denken und Handeln – der viele Lebensbereiche erfassende Konfessionalismus – begann erst im 18. Jahrhundert nachhaltig zu schwinden und löste sich erst im frühen 19. Jahrhundert wirklich auf.

Konfessionelles Zeitalter

Konfessionsbildung, Konfessionalisierung, Konfessionalismus „Konfessionelles Zeitalter“ ist ein statischer Begriff für eine Epoche, die in Wirklichkeit von einer ihr eigenen Dynamik gekennzeichnet war. Die Konfessionen waren zwar geschaffen, mussten aber erst noch zur Geltung gebracht und durchgesetzt werden. Für diesen Prozess hat sich in der neueren Geschichts- und Kirchengeschichtsschreibung der Begriff Konfessionalisierung eingebürgert. Auf die Konfessionsbildung folgte also die Konfessionalisierung und schuf ein Konfessionelles Zeitalter, dessen Konfessionalismus weit über dieses Zeitalter hinaus wirkte. Die Kirchen der Reformationszeit hatten mit Ausnahme der Sozinianer eine gemeinsame Basis in den drei altkirchlichen Bekenntnissen: dem Apostolikum, dem Nizänum und dem Athanasianum. Während das Apostolische Glaubensbekenntnis in den westlichen Kirchen der Gegenwart noch ständig und das Bekenntnis von Nizäa noch gelegentlich verwendet wird, spielt das Athanasianum keine Rolle mehr. Entstehungshintergrund der altkirchlichen Bekenntnisse

altkirchliche Bekenntnisse

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Anfänge des Konfessionellen Zeitalters

lutherische Bekenntnisse

reformierte Bekenntnisse

Entkonfessionalisierung

waren Lehrstreitigkeiten vorwiegend um Fragen der Trinitätslehre und Christologie im 3., 4. und 5. Jahrhundert. Im Mittelalter waren keine neuen Bekenntnisse fixiert worden. In der Reformationszeit entstand erstmals 1527 mit den Schleitheimer Artikeln ein neues Bekenntnis, das aber nur in Täuferkreisen von Relevanz war. Zum bedeutendsten reformatorischen Bekenntnis wurde die 1530 geschaffene Confessio Augustana. Lehrstreitigkeiten im Luthertum brachten als abschließendes lutherisches Bekenntnis der Reformationszeit 1577 die Konkordienformel hervor. Die Schmalkaldischen Artikel von 1537 waren ein Privatbekenntnis Luthers, das erst nachträglich offiziellen Rang erhielt. Weitere lutherische Bekenntnisse entstanden auf der Ebene einzelner Landeskirchen, zum Beispiel in Württemberg 1551 die Confessio Virtembergica und in Kursachsen ebenfalls 1551 die Confessio Saxonica. Weitaus mehr Bekenntnisse als das Luthertum brachten die reformierten Kirchen hervor. Die Konfessionsbildung erstreckte sich hier sogar weit über das Reformations- und das Konfessionelle Zeitalter hinaus. In der Schweiz entstand zunächst 1536 die Confessio Helvetica Prior und 1566 die bedeutendere Confessio Helvetica Posterior. Für die Reformierten in Deutschland wurde der 1562 geschaffene, 1563 veröffentlichte Heidelberger Katechismus1 wichtig. Eigene Bekenntnisse schufen auch die Calvinisten in Frankreich 1559 mit der Confessio Gallicana2 und 1552 in England mit den Zweiundvierzig Artikeln. In Schottland galt von 1560 an die Confessio Scotica und in den südlichen Niederlanden entstand 1561 die Confessio Belgica. Weitere calvinistische Bekenntnisse folgten 1646 in England mit der Westminster Confession of Faith. Auch in der Schweiz wurde 1675 noch einmal ein neues Bekenntnis geschaffen, die Helvetische Konsensformel. Im 18. und 19. Jahrhundert verloren die Bekenntnisse generell an Bedeutung. Manche evangelische Kirchen erklärten sich sogar für bekenntnisfrei. In den USA gliederten sich die verschiedenen protestantischen Kirchen nicht nach Konfessionen, sondern bezeichneten sich als Denominationen (wörtl.: Benennungen). Auf das Konfessionelle Zeitalter und den Konfessionalismus folgte eine Epoche der Entkonfessionalisierung. Gleichzeitig erwies die Confessio Augustana ihre einigende Kraft und entfaltete ihr ökumenisches Potential, indem sie in Deutschland Bekenntnisgrundlage für Lutheraner und Reformierte verbindende Kirchenunionen wurde. Parallel zum allgemeinen Bedeutungsverlust der Bekenntnisse 1 Auszüge: KTGQ 3, S. 222–224. 2 Auszüge: KTGQ 3, S. 224 f.

193

Lehrkonflikte im Luthertum

keimte jedoch im 19. Jahrhundert unter Lutheranern wie unter Reformierten eine neue Wertschätzung derselben. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Bekenntnisfrage schließlich wieder hoch aktuell. Im Jahre 1934 entstand mit der Barmer Theologischen Erklärung ein neues, lutherischen und reformierten Christen gemeinsames, auf aktuelle Herausforderungen und Bedrohungen reagierendes Bekenntnis, das in kurzer Zeit annähernd so viel Gewicht erhielt wie die Confessio Augustana. Die römisch-katholische Kirche dagegen sah keine Notwendigkeit, sich durch neue Bekenntnisse neu zu definieren. Sie begnügte sich mit den altkirchlichen Bekenntnissen und schuf keine neuen. Strittige Glaubensfragen wurden durch Dogmen – verbindliche, endgültige, universal gültige Lehraussagen – geregelt, die von Konzilen verabschiedet oder auch von Päpsten erlassen wurden. Den Anfang machte das Konzil von Trient.

katholische Dogmen

Lehrkonflikte im Luthertum Im Luthertum brachen schon zu Lebzeiten Luthers und erst recht nach seinem Tod mehrere Streitherde auf um teilweise zentrale, teilweise periphere theologische Fragen. Es ging um das Abendmahl, die Christologie und die Ethik, aber auch um die Handauflegung bei der Ordination. In viele dieser Lehrkonflikte war Melanchthon verwickelt. Die lutherischen Theologen beschimpften und verketzerten sich gegenseitig, teilweise auch vor den Augen der Katholiken, die über diese Selbstzerfleischung des Protestantismus offene Freude empfanden. Weniger die Theologen als vielmehr die lutherischen Landesfürsten sahen diese Zustände als untragbar an und suchten ein friedliches Miteinander und theologischen Konsens in zentralen Fragen wiederherzustellen. In mühsamen Verhandlungen entstand in den siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts die Konkordienformel als abschließendes Bekenntnis des Luthertums. Der erste innerlutherische Streit war der antinomistische, der nach einem Vorspiel im Jahre 1527 (1. antinomistischer Streit; → Kap. 3) 1537 erneut entflammte (2. antinomistischer Streit) und sich dann bis etwa 1567 hinzog. Urheber des ersten wie des zweiten Streits war Johann Agricola, der Leiter der Lateinschule von Eisleben, der meinte, die Buße sei Folge der Predigt des Evangeliums, nicht der Predigt des göttlichen Gesetzes. 1537 veröffentlichte Luther Thesen gegen die „Antinomer“ (Gesetzesfeinde) und veranstaltete in Wittenberg eine theologische Disputation über diese Frage. Er meinte, die

antinomistischer Streit

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Anfänge des Konfessionellen Zeitalters

Höllenstreit

Ordinationsstreit

adiaphoristischer Streit

Heilige Schrift sowie die menschliche Erfahrung bewiesen, dass der Mensch zur Buße angetrieben werde, wenn er sich die Gebote Gottes vor Augen stelle. 1540 musste Agricola wegen seiner Haltung Kursachsen verlassen und ging nach Kurbrandenburg. Andere lutherische Theologen machten sich jedoch seine Position zu Eigen. Zentren der Auseinandersetzung waren Wittenberg, Nordhausen und Frankfurt/Oder. 1542 entbrannte in Hamburg ein Höllenstreit, der ein innerlutherisches Vorspiel eines späteren lutherisch-reformierten Konflikts bildete. Superintendent Johannes Aepinus (eigentlich: Johannes Hoeck), ebenfalls ein ehemaliger Melanchthonschüler, interpretierte den vom Neuen Testament erwähnten und im Glaubensbekenntnis rezitierten Höllenaufenthalt Christi als Ausdruck seiner Erniedrigung und als Strafersatzleistung. Andere Hamburger Theologen und Melanchthon selbst sahen die Höllenfahrt Christi aber als dessen Sieg über die Hölle an. Später kam es zu einem Gegensatz zwischen Reformierten und Lutheranern in dieser Frage, weil die reformierte Theologie mit Aepinus die Höllenfahrt nicht als Sieg, sondern als Erniedrigung, als tiefste seelische Qual der Gottverlassenheit am Kreuz ansah. 1547 brach in Pommern der Ordinationsstreit aus. Es ging um die Frage, ob evangelische Pfarrer ordiniert werden müssten und ob dabei der Ritus des Handauflegens angewandt werden sollte. Die Reformation hatte ja das Sakrament der Weihe beseitigt, und das Handauflegen konnte an die Weihe erinnern. Johannes Freder, Superintendent auf Rügen, war gegen die Handauflegung, ja gegen die Ordination überhaupt. Melanchthon erklärte die Handauflegung für „an sich nicht notwendig“, hielt aber eine ordentliche Einsetzung in ein Kirchenamt für geboten. 1556 konnte der Streit beigelegt werden. 1548 begann der interimistische oder adiaphoristische Streit. Er endete aber nicht mit der Interimszeit 1552, sondern setzte sich danach noch fort bis Ende der fünfziger Jahre und vermischte sich mit verwandten Themen. Die Bezeichnung „interimistisch“ nennt den historischen Anlass, die Bezeichnung „adiaphoristisch“ nennt das Thema: angebliche Nebensächlichkeiten oder Mitteldinge (griech.: ἀδιάφορα/adiaphora) und der Umgang mit ihnen im Konfliktfall. Ein konkretes Beispiel: Ist das Tragen eines katholischen Messgewands für einen evangelischen Pfarrer unproblematisch oder ist es in einer Situation, in der wie 1547–1552 der evangelische Glaube als solcher bedroht war, verwerflich? Melanchthon und viele andere waren zu Kompromissen bereit, doch ein prominenter Schüler Melanchthons, Matthias Vlacich aus

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Lehrkonflikte im Luthertum

Istrien, genannt Flacius Illyricus, widersprach scharf und erklärte: Nihil est adiaphoron in casu confessionis et scandali (Wenn es um das Bekenntnis geht, gibt es keine nebensächlichen Äußerlichkeiten.). Flacius, der 1541 als Glaubensflüchtling nach Wittenberg gekommen war, hatte es leicht, diese radikale Position zu vertreten, denn er war angesichts der sich abzeichnenden Niederlage der Evangelischen aus Wittenberg geflohen, hatte seine Professur aufgegeben und seine Studenten im Stich gelassen. Er trug keine Mitverantwortung für die Kirchenpolitik eines großen Territoriums, sondern lebte hinter den Mauern des widerspenstigen, vom Kaiser bereits geächteten Magdeburg. Der Sohn eines Kroaten und einer Italienerin hatte einen streitbaren Charakter. Vier Jahre nachdem er 1557 einen Lehrstuhl in Jena bekommen hatte, wurde er aus der Stadt vertrieben, weil er nun das landesherrliche Kirchenregiment kritisiert hatte. Wenig später überwarf er sich auch noch mit seinen letzten Anhängern, weil er zu lehren begann, der Mensch sei wesenhaft böse, die Erbsünde sei die Substanz der gefallenen menschlichen Natur. Von nun an galt er auch unter seinen Gesinnungsfreunden, den strengen Lutheranern, als Ketzer. Als Bahnbrecher der Geschichtskunde wird Flacius allerdings noch heute geschätzt. Er verfasste die Magdeburger Zenturien, die erste universale Darstellung der Welt- und Kirchengeschichte aus protestantischer Feder. Die Anregungen für dieses Werk verdankte er aber weitgehend seinem Lehrer Melanchthon. Die Grobgliederung folgt, wie schon der Titel sagt, den Jahrhunderten (lat. centuriae = Jahrhunderte), die Feingliederung dagegen inhaltlichen Kriterien. Der adiaphoristische Streit dauerte viele Jahre und über den Tod des Flacius im Jahre 1570 hinaus. Er überschattete das Wormser Religionsgespräch 1557 und konnte auch durch den Frankfurter Rezess 1558 nicht beigelegt werden. Jenenser Theologen erneuerten den Streit mit dem Weimarer Konfutationsbuch im selben Jahr. Erst der Konkordienformel gelang es 1577 den Konflikt zu beruhigen. Seit 1548 polemisierte Theobald Thamer, Theologieprofessor in Hessen, gegen einen werklosen Glauben und löste sich mehr und mehr von der reformatorischen Rechtfertigungslehre. Melanchthon versuchte vergeblich, auf ihn Einfluss zu nehmen. In den fünfziger Jahren konvertierte Thamer zum Katholizismus und wurde Professor in Freiburg im Breisgau. 1549 begannen Jena und Wittenberg heftig um die Herausgabe der Werke Luthers zu streiten. Wittenberg hatte 1545 als erste Universität mit der Edition der Werke Luthers begonnen. Jena, die

Matthias Flacius

Theobald Thamer

Werke Luthers

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Anfänge des Konfessionellen Zeitalters

osiandrischer Streit

majoristischer Streit

Hochburg der aus ihrer Sicht strengen Lutheraner, folgte 1555 mit einer eigenen Lutherausgabe und dem Anspruch besser, vor allem authentischer zu sein. Der Streit setzte sich bis 1565 fort. Am Schluss gab es eine Wittenberger und eine Jenaer Lutherausgabe. Von 1549–1566 wurde innerhalb des Luthertums heftig um die Zentrallehre der Reformation, die Rechtfertigungslehre, gestritten. Andreas Osiander, der bedeutende Reformator Nürnbergs, hatte ihn ausgelöst. Deshalb ist er nach ihm benannt worden und als osiandrischer Streit in die Geschichte eingegangen. Bis 1548 war Osiander in Nürnberg. Dann verließ er die Stadt wegen des Interims und ging nach Königsberg in Preußen. Dort begann er eine neue Sicht der Rechtfertigung zu lehren und gegen Melanchthon und sein forensisches Verständnis der Rechtfertigung zu polemisieren. Osiander vertrat eine Position, die der des Mittelalters und somit der katholischen näher stand und auch ein Anliegen des Pietismus vorwegnahm. Er glaubte, damit besser als Melanchthon den Ansichten Luthers zu entsprechen. Osiander war eine bloße Gerechtsprechung, wie sie Melanchthon lehrte, zu wenig. Er meinte, durch die Rechtfertigung erfolge eine tatsächliche Veränderung des Menschen, er werde gerecht gemacht und erneuert. Osiander lehrte ein „effektives“ Verständnis der Rechtfertigung. Die Gerechtmachung erklärte Osiander aber nicht wie die Altgläubigen dadurch, dass dem Menschen Glaube und Liebe eingegossen werden, sondern er behauptete, dass die göttliche Natur Christi im Glaubenden Wohnung nehme. Rechtfertigung war für Osiander die reale Einwohnung der substantiellen Gerechtigkeit Christi in den Glaubenden. Dagegen opponierten andere preußische Theologen, Königsberger Melanchthonschüler. Der Streit war mit Osianders Tod 1552 nicht zu Ende. Osiander fand aber nur wenig Zustimmung. Johannes Brenz suchte zu vermitteln. In der Konkordienformel wurde Osianders Position schließlich „verworfen und verdammt“. 1552 begann der majoristische Streit, benannt nach dem in Wittenberg als Theologieprofessor wirkenden Melanchthonschüler Georg Major. Dieser vertrat die Heilsnotwendigkeit der guten Werke, allerdings der Werke, die aus dem Glauben folgten. Nicht als Heil bringenden Verdienst (lat.: meritum) wollte Major die Werke begreifen, sondern als Gott geschuldete Verpflichtung (lat.: debitum). Dagegen erklärte Nikolaus Amsdorf, Theologischer Berater seines Landesherrn in Eisenach und ehemals enger Freund Luthers, extrem zugespitzt, gute Werke schadeten der Seligkeit. Natürlich dachte er dabei an Werke, die mit Verdienstdenken verbunden sind, meinte aber, schon die Forderung guter Werke könne ein verderbliches Verdienstdenken wieder auslösen. Die öffentlichen Auseinandersetzun-

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Lehrkonflikte im Luthertum

gen um die guten Werke und damit um das Verhältnis von Rechtfertigung und Heiligung endeten 1558, nachdem es Melanchthon gelungen war, mäßigend auf Major einzuwirken. Die beiden Streithähne jedoch blieben unversöhnt bis in den Tod. Von 1552 an kam es zu neuen Abendmahlsstreitigkeiten, zunächst in Hamburg und Bremen. In Altona, vor den Toren Hamburgs, hatten sich mit Genehmigung der Ortsherrschaft, des Grafen von Schaumburg, Flüchtlinge aus England angesiedelt. Mit ihrer calvinistischen Abendmahlsauffassung erregten sie Anstoß. Joachim Westphal, Hamburger Pfarrer und Melanchthonschüler, schrieb deswegen 1552 scharf gegen Calvin und dessen Abendmahlstheologie. In Bremen dagegen verbreitete ein anderer Melanchthonschüler, Albert Rizaeus Hardenberg, spiritualistische, dem Denken Calvins nahe stehende Abendmahlslehren und wurde deswegen 1555 von dem früheren Reformator Bremens, Johannes Timan, jetzt in Emden, angegriffen. Obwohl Melanchthon Hardenberg unterstützte, wurde er verurteilt und 1561 aus der Stadt gewiesen. In Heidelberg brach 1559 ein Streit um das Abendmahl aus. Auch in ihm war mit Tilemann Heshusius (Heßhus) ein Melanchthonschüler involviert, der wie Flacius vielerorts in viele Streitigkeiten verwickelt war. In Heidelberg wandte sich Heshusius, der an der Spitze von Konsistorium und theologischer Fakultät stand, gegen Diakon Wilhelm Klebitz und seine calvinistische Abendmahlslehre. Angeblich soll er sogar versucht haben, ihm bei einer Abendmahlsfeier den Kelch zu entreißen. Melanchthon erstellte 1559 ein Gutachten gegen Heshusius und rückte ihn in eine Reihe mit den „Papisten“. Im Jahr darauf warf Melanchthon strengen Lutheranern wie Heshusius vor, aus dem Abendmahl einen „Brotkult“ zu machen. In Heidelberg entließ der Kurfürst beide Theologen aus ihren Ämtern. 1556 begann im neuen Kurfürstentum Sachsen der synergistische Streit und griff das zwischen Luther und Erasmus 1524/25 umstrittene Thema der Willensfreiheit auf. Es ging um die Mitwirkung (griech. συνεργέω/synergeo = mitwirken) des menschlichen Willens oder der menschlichen Kräfte bei der Erlangung des Heils, um die Zustimmung oder Ablehnung des göttlichen Gnadenangebots. Johann Pfeffinger in Leipzig und Victorin Strigel in Jena vertraten basierend auf Positionen des späten Melanchthon die Ansicht, der menschliche Wille müsse mitwirken, und formulierten prägnant: „Der Mensch ist kein Holzklotz.“ Flacius, nunmehr in Jena, vertrat die Gegenposition und bestritt jede Mitwirkung des Menschen. Die Auseinandersetzungen brachten Strigel im Jahre 1559 ins Gefängnis und endeten im Jahr darauf. 1559 löste der aus Mantua stammende, aber in Polen lebende

Abendmahlsstreit

synergistischer Streit

198 Zweinaturenlehre

Anfänge des Konfessionellen Zeitalters

Franciscus Stancarus einen Streit um die Zweinaturenlehre und die Mittlerschaft Christi aus, indem er erklärte, Christus sei nur nach seiner menschlichen, nicht auch nach seiner göttlichen Natur Mittler zwischen Gott und Mensch. Dagegen opponierte Andreas Musculus (eigentlich: Meusel), Theologieprofessor in Frankfurt an der Oder, und auch Melanchthon nahm ausführlich Stellung und rückte die Lehre Stancarus’ in die Nähe des Antitrinitarismus. Die Reformation wurzelte in einer theologischen Erkenntnis und hat von Anfang an dezidiert theologisch argumentiert und die Relevanz der Theologie für die christliche Religion auch dadurch gestärkt, dass sie die Zahl der Theologen erheblich vermehrt hat. Mit einer stärkeren Betonung der Lehre musste eine Zunahme theologischer Streitigkeiten zwangsläufig einhergehen. Auch Fragen der Praxis und der Frömmigkeit, ja Fragen der Politik wurden auf die Ebene der Lehre verlagert und mit theologischen Argumenten ausgetragen. Gleichzeitig witterten die Theologen hinter jeder Abweichung und hinter jedem Neuansatz eine Infragestellung von Kernpositionen. Nur so ist zu erklären, warum manchmal auch über Kleinigkeiten so anhaltend und heftig gestritten wurde.

Konkordienformel und Konkordienbuch

abschließendes lutherisches Bekenntnis

Beigelegt wurden manche innerlutherische Streitthemen erst in der Konkordienformel (Formula Concordiae)3 1577, deren Zustandekommen den Theologen Jakob Andreae, Martin Chemnitz und Nikolaus Selnecker, aber vor allem dem Betreiben weltlicher Obrigkeiten, die an einem Ausgleich interessiert waren, zu verdanken ist. Sie ist die abschließende lutherische Bekenntnisschrift und markiert dogmengeschichtlich betrachtet das Ende der lutherischen Reformation. Ihrem Selbstverständnis nach wollte die Konkordienformel kein Bekenntnis sein, sondern ein vermittelnder Kommentar zum Augsburger Bekenntnis. Die Konkordienformel hat den Umfang eines theologischen Kompendiums und eignet sich nicht wie andere Bekenntnisse zum Auswendiglernen oder für liturgische Zwecke. Sie bietet eine melanchthonisch abgemilderte lutherische Theologie. Deutliche Abgrenzungen finden sich zu den „Rotten“ und „Sekten“, wie in diffamierender Weise andere evangelische Strömungen bezeichnet werden. Die Formel besteht aus drei Teilen: einer Vorrede, der Epitome

3 BSLK, S. 735–1135; Auszüge: KTGQ 3, S. 233–235.

199

Konkordienformel und Konkordienbuch

(Kurzfassung) und der Solida Declaratio (ausführliche Fassung). Das war eine Folge der komplizierten Entstehungsgeschichte des Bekenntnisses. Die Themen, die in der Epitome und in der Solida Declaratio parallel verhandelt werden, sind: Erbsünde, Willensfreiheit, Glaube und Werke, Gesetz und Evangelium, Abendmahl, Christologie, Kirchengebräuche, Prädestination. Beispielhaft kann der Argumentationsstil der Konkordienformel an der Höllenfahrt Christi veranschaulicht werden, die im 9. Artikel diskutiert wird. Die Formel greift auf eine Predigt Luthers zurück, die dieser 1533 in Torgau gehalten hatte. Mit Luther werden spitzfindige Erörterungen dieses Ereignisses grundsätzlich zurückgewiesen. Es reiche aus zu wissen, dass Christus in die Hölle gefahren ist und diese für die Gläubigen zerstört und die Gläubigen von Tod, Teufel und Verdammnis befreit habe. Präzisierend wird dann aber doch hinzugefügt, Christus sei als Ganzer – Gott und Mensch – in die Hölle gefahren und habe dort den Teufel besiegt. Die Höllenfahrt wird also letztlich als Sieg interpretiert. Die Hölle wird wie im Mittelalter als ein konkreter Ort aufgefasst, während sich bei Luther durchaus häufig eine spirituelle Deutung der Hölle findet, wenn er sie mit den Anfechtungen im Gewissen gleichsetzt. Die Konkordienformel lenkte – nicht nur an diesem Punkt – entgegen ihrer Intention die theologische Argumentation nicht zurück auf Luther und die Reformation, sondern erneuerte mittelalterliche Vorstellungen, die Luther und die Reformation eigentlich überwunden hatten. Sie festigte also konfessionelle Positionen mit Baustoffen des Mittelalters. Die Konkordienformel wurde 1580 mit dem Augsburger Bekenntnis in der ursprünglichen Fassung von 1530 (invariata) sowie weiteren im Luthertum hoch geachteten Texten (den drei altkirchlichen Symbolen, der Apologie zur Confessio Augustana, den Schmalkaldischen Artikeln, Melanchthons Traktat über die Macht des Papstes4 sowie Luthers Katechismen von 15295) in einem Sammelband, dem Konkordienbuch, zusammengefasst und veröffentlicht. Viele lutherische Territorien akzeptierten dieses Buch als Sammlung der verbindlichen Bekenntnisschriften und verpflichteten ihre Pfarrer, Lehrer und Beamten hinfort durch Unterschrift auf diese Texte. Im Laufe der Jahre wurde die Konkordienformel von 86 Reichsständen und über 8000 Theologen unterschrieben. Das ist imposant, aber anzumerken ist, dass eine ganze Reihe wichtiger lutherischer Territorien der Konkordienformel nicht beigetreten sind: Pommern, 4 BSLK, S. 469–498. 5 BSLK, S. 499–733.

Höllenfahrt

Konkordienbuch

200

Anfänge des Konfessionellen Zeitalters

Dogmatisierung

Holstein, Anhalt, Hessen-Kassel, Pfalz-Zweibrücken, Wetterau, Bremen und verschiedene süddeutsche Reichsstädte. Die Zurückhaltung hing teilweise mit dem starken Einfluss von Melanchthonschülern zusammen. Die im Luthertum gewollte Einigung wurde also nur partiell erreicht. Gleichwohl ließen Zahl und Intensität der innerlutherischen theologischen Konflikte im ausgehenden 16. Jahrhundert dauerhaft nach. Zu den Folgen der Lehrkonflikte gehörte eine weitere Dogmatisierung und Intellektualisierung des Glaubensguts. Bis ins 16. Jahrhundert hinein war die Christenheit mit einem Minimum verpflichtender Dogmen ausgekommen. Nun aber war bei den Katholiken ebenso wie bei den Evangelischen sehr viel festgelegt und die „reine Lehre“ wurde – entgegen den ursprünglichen Gedanken der Reformation – zum Hauptmerkmal der wahren Kirche. Philippisten, Gnesiolutheraner, Kryptocalvinisten

Wittenberg

Jena

Christologie

neue Dogmen

Schon gleich nach Luthers Tod und deutlicher noch nach dem Ableben Melanchthons formierten sich die Anhänger und Nachfahren der Wittenberger Reformation in theologisch und kirchenpolitisch unterschiedlichen Fraktionen. Während in Wittenberg zunächst noch, bis zur Jahrhundertwende, die Melanchthonanhänger stark waren, sammelten sich die nach ihrem Anspruch echten Lutheraner um die neu gegründete Universität Jena. Durch seine Schüler hatte Melanchthon große Wirkungen. Viele bewegten sich allerdings schon zu seinen Lebzeiten und erst recht nach seinem Tod auf den von ihm eröffneten Bahnen weit über ihn hinaus und vielfach auf den Calvinismus zu. Im Kern ging es um die Abendmahlsfrage. Aber damit hingen auch Fragen der Christologie zusammen, weil die Anhänger einer strengen Realpräsenzlehre diese christologisch fundierten, indem sie in Erweiterung der altkirchlichen Zweinaturenlehre der menschlichen Natur des Auferstandenen kraft ihrer Teilhabe an der göttlichen Natur und des damit verbundenen „Austauschs der Eigenschaften“ (lat.: communicatio idiomatum) Allgegenwart (Ubiquität) zubilligten. Melanchthon hielt nichts von diesem beispielsweise von Brenz vertretenen „neuen Dogma“. Eine Annäherung an den Calvinismus hatte aber nicht nur theologische, sondern auch politische Aspekte: Calvin bestimmte das Verhältnis der Kirche zum Staat anders als die Lutheraner. Er sah die Kirche als kritisches Gegenüber der Obrigkeit und räumte den Untertanen ein Widerstandsrecht ein. Für jeden, der in Deutschland mit dem Calvinismus sympathi-

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Philippisten, Gnesiolutheraner, Kryptocalvinisten

sierte, stellte sich ferner das Problem der reichsrechtlichen Absicherung. Luthertum und Katholizismus waren vom Augsburger Religionsfrieden legitimiert, der Calvinismus jedoch nicht. Für lutherische Territorien konnte eine Annäherung an den Calvinismus deshalb problematisch, ja gefährlich sein. Im neuen, albertinischen Kursachsen, zu dem jetzt die alte Universität Wittenberg gehörte, dominierten die Philippisten. Diese nannten sich aber nicht selbst so, sondern wurden von ihren Gegnern mit diesem nach Melanchthons Vornamen gebildeten Begriff beschimpft. Überwiegend waren es Männer, die zwischen 1520 und 1540 geboren und von Melanchthon beeinflusst, aber nicht unbedingt Theologen waren. Beispiele sind Melanchthons Schwiegersohn Kaspar Peucer, der Leibarzt des Kurfürsten, der Wittenberger Theologieprofessor Christoph Pezel, der Mediziner Joachim Cureus, Arzt in Glogau (heute: Glogów), und die schon erwähnten Theologen Major in Wittenberg und Strigel in Jena, der zuletzt in Heidelberg lehrte. In Kursachsen war noch zu Lebzeiten Melanchthons – er schrieb am 16. Februar 1560, sich seines Geburtstags erinnernd, die Vorrede – eine Sammlung von Melanchthonschriften zur Lehrnorm erhoben worden: das Corpus Doctrinae Christianae, auch Corpus Doctrinae Misnicum (nach der Residenz Meißen) oder Corpus Doctrinae Philippicum (nach Philipp Melanchthon) genannt. Die melanchthonsche Theologie war damit für Universitätslehrer und Pfarrer in Kursachsen verbindlich. Zum Corpus Doctrinae gehörten die altkirchlichen Bekenntnisse, die Confessio Augustana in der veränderten Fassung von 1540 (variata), die Confessio Saxonica (auch als Repetitio [= Wiederholung] Confessionis Augustanae bezeichnet) von 1551, Melanchthons Loci von 1559, seine Publikation gegen Stancarus von 1553, ferner Schriften gegen die Inquisition in Bayern sowie gegen Servet und die „Wiedertäufer“ und das Examen ordinandorum in seiner deutschen Fassung von 1552, eine ursprünglich für Mecklenburg geschaffene Kirchenordnung, die große Resonanz und weite Verbreitung fand. Die Philippisten wollten die Bildung fördern und die Welt erneuern. Schulische und kirchliche Interessen waren verbunden. Mit den jeweiligen Obrigkeiten arbeiteten sie eng zusammen, hatten aber kein Interesse an volkstümlicher Breitenwirkung. In theologischen Fragen waren sie eher offen, grenzten sich aber scharf ab von Zwinglianern, Wiedertäufern und Antitrinitariern. Eine Gegengruppe formierte sich im neuen, ernestinischen Herzogtum Sachsen mit der Universität Jena und erhob den Anspruch, anders als die Philippisten das unverfälschte Erbe Luthers zu bewah-

Philippisten

Corpus Doctrinae

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Anfänge des Konfessionellen Zeitalters

Gnesiolutheraner

Kryptocalvinisten

zweite kryptocalvinistische Periode

ren. Sie bezeichneten sich selbst als Gnesiolutheraner (griech. γνήσιος/gnesios = ehelich, echt, recht). Weitere Zentren eines strengen Luthertums waren Lübeck, Lüneburg, Hamburg, Magdeburg, Braunschweig, Regensburg, Nordhausen und Tübingen. Die Repräsentanten der Gnesiolutheraner waren überwiegend Theologen, darunter die beiden Melanchthonschüler Nikolaus Amsdorf und Matthias Flacius, ferner der Regensburger Superintendent Nikolaus Gallus, der in Wismar als Pfarrer wirkende Matthäus Judex (eigentlich: Richter) und der Jenenser, zuletzt Königsberger Theologieprofessor Johann Wigand. Die Gnesiolutheraner waren unter sich in vielem uneinig und zerstritten. Überwiegend hatten sie aber ein apokalyptisches Geschichtsbild, lehnten staatliche Eingriffe in innerkirchliche und theologische Angelegenheiten ab und verurteilten Andersdenkende scharf. Sie drängten in die Öffentlichkeit und suchten die Menschen durch Erbauungsschriften zu erreichen. In seinem Stammland Kursachsen geriet der Philippismus in den siebziger Jahren in eine große Krise, und es kam zu einer regelrechten Verfolgung. Die Philippisten wurden beschuldigt, „Kryptocalvinisten“ zu sein, also heimliche (griech. κρυπτός/kryptos = verborgen, geheim) Calvinisten, und einen Umsturz zu planen. Einige Männer aus der Umgebung des sächsischen Kurfürsten sympathisierten tatsächlich mit dem Calvinismus und beobachteten den Weg der Kurpfalz mit Wohlwollen. Umsturzpläne, hinter denen westeuropäische Calvinisten gestanden hätten, gab es in Kursachsen jedoch nicht. Bei dem durchgreifenden Stimmungsumschwung in Kursachsen scheinen aber auch außenpolitische Gründe eine Rolle gespielt zu haben. Kurfürst August ging aus Sorge, über die Kurpfalz in Konflikte in den Niederlanden hineingezogen zu werden, nach der Bartholomäusnacht (→Kap. 8) auf Distanz zur Kurpfalz und wandte sich dem Kaiser zu. 1574 schritt Kurfürst August gegen die Philippisten in seinem Land ein. Viele wurden inhaftiert, darunter Peucer, viele des Landes verwiesen. Manche Philippisten radikalisierten sich in der Folge und wurden nun wirklich zu Calvinisten. Und in Kursachsen wurde die Konkordienformel zur Lehrnorm erhoben. Von 1586 an erholte sich der Philippismus in Kursachsen unter der Regentschaft Christians I. Diese sogenannte zweite kryptocalvinistische Periode endete jäh mit dem Amtsantritt von Christian II. im Jahre 1591. Der Kanzler Nikolaus Crell, der höchste Politiker des Landes, wurde 1601 hingerichtet. Er hatte die Verpflichtung der Staats- und Kirchendiener auf die Konkordienformel wieder abschaf-

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Lutherische Orthodoxie

fen und den Exorzismus bei der Taufe streichen wollen. Er hatte aber auch enge Kontakte zur Kurpfalz geknüpft und eine profranzösische, antihabsburgische Politik durchzusetzen versucht und war wegen seines selbstherrlichen Regierungsstils in Konflikt mit den Ständen und mit dem Hofbeamtentum geraten. Ein weiteres Zentrum des Philippismus war Ansbach von 1558– 1588. Verschiedene Melanchthonschriften, u. a. die Loci, galten neben den altkirchlichen Symbolen und Lutherschriften als Lehrnorm. Ein einflussreicher Melanchthonschüler, Georg Karg, hatte hier als Oberster Superintendent der Markgrafschaft prägend gewirkt. Auch in Ansbach kam es zu einem philippistischen Streit, hier als Kargsche Händel bezeichnet. Wieder ging es um das Abendmahl. Karg stellte die polemische Frage, ob der Leib Christi in den Bauch gehe. Im Zusammenhang mit der Rechtfertigung kritisierte er die Imputationslehre. 1570 wurde Karg seines Amtes enthoben. Eine Reise nach Wittenberg und dort geführte Gespräche brachten ihn aber zum Einlenken. Nach seiner Rückkehr wurde er wieder in sein Amt eingesetzt. Philippistisch geprägt war auch Nürnberg, und zwar noch weit ins 17. Jahrhundert hinein. Ferner gab es Philippisten in Böhmen und Ungarn. Kerndaten des Konfessionellen Zeitalters 1555 1577 1580 1598 1613 1618/19 1618–1648 1648 1685

Augsburger Religionsfriede Konkordienformel Konkordienbuch Edikt von Nantes Konfessionswechsel des Kurfürsten von Brandenburg Synode von Dordrecht Dreißigjähriger Krieg Friede von Münster und Osnabrück Aufhebung des Edikts von Nantes

Lutherische Orthodoxie Kirchengeschichtlich betrachtet folgt auf die Reformation das Konfessionelle Zeitalter, theologiegeschichtlich betrachtet das Zeitalter der Orthodoxie. Die beherrschende Theologie des Konfessionellen Zeitalters war die Orthodoxie. Auf der Basis und im Umfeld der Konkordienformel etablierte sich die lutherische Orthodoxie mit einer streng konfessionsgebundenen

Ansbach

Nürnberg

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Begriff Orthodoxie

Anknüpfung an die Scholastik

Anfänge des Konfessionellen Zeitalters

Theologie, die weit über das Konfessionelle Zeitalter hinaus in ihren Ausläufern bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts hineinreichte. Der Begriff Orthodoxie bedeutet wörtlich Rechtgläubigkeit (griech. ὀρθός/orthos = gerade, richtig; griech. δοκέω/dokeo = glauben) und wird im Christentum in unterschiedlichen Kontexten verwendet. Als orthodoxe Kirchen werden die Kirchen Osteuropas und des Orients bezeichnet, die das Erbe der christlichen Frühzeit treu bewahren und allen Modernisierungen von Theologie und Liturgie abhold sind. In der Kirchengeschichte Mitteleuropas findet der Begriff Verwendung für Entwicklungen innerhalb der dortigen Reformationskirchen. Auf die Auf- und Umbruchsepoche der Reformation folgte eine Periode, in der es den Kirchenmännern vor allem um die Bewahrung des Erbes der Reformation ging, der rechten Lehre, wie sie in den neu geschaffenen Bekenntnissen niedergelegt war. In den Kirchen der Wittenberger Reformation entfaltete sich ebenso eine Orthodoxie wie in der Kirche Zürichs und in den Kirchen der Genfer Reformation. Man spricht von lutherischer und reformierter Orthodoxie. Das Anliegen und die Methodik waren identisch, die Inhalte und Positionen aber teilweise unterschiedlich. Die jeweiligen Bekenntnistexte dienten der orthodoxen Theologie als Grundlage. Im Calvinismus gab es von Anfang an verschiedene Bekenntnisse. Das Luthertum hatte das Bekenntnis von Augsburg als allen gemeinsame theologische Basis. 1577 war als Folge heftiger Lehrkonflikte die Konkordienformel hinzugekommen, konnte sich aber nicht überall durchsetzen. Humanismus und Reformation hatten der Theologie nicht nur inhaltliche Impulse geliefert, sondern auch die Form des Theologisierens durch die Hinwendung zur Bibel und die Abkehr vom Aristotelismus sowie durch Laienengagement und Praxisbezug verändert. Doch die orthodoxe Theologie knüpfte an manchen Punkten wieder an die mittelalterliche Scholastik an. Ihre Lehrbücher strebten wie die mittelalterlichen Summen Vollständigkeit an und suchten alles genau zu durchdenken. Erneut wurden nach mittelalterlichem Vorbild Fragen (Quästionen) gestellt und unter Zuhilfenahme des Instrumentariums der Logik Antworten gesucht, bei denen die korrekte Unterscheidung und Definition von Begriffen eine große Rolle spielte. Aristoteles lieferte wieder die entscheidenden Grundlagen für das Denken. Gemäß dem reformatorischen Schriftprinzip wurde aber fast ausschließlich mit der Bibel argumentiert, was durch Theorien über die Verbalinspiration der Bibel abgesichert wurde. Das einstmals so befreiende reformatorische Schriftprinzip nahm damit Züge der Unfreiheit und Enge an. Der Sitz im Leben dieser Theologie war wieder die Universität,

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Lutherische Orthodoxie

nicht die Gemeinde. Ihr Ziel war die Ausbildung und Zurüstung von Geistlichen für die Auseinandersetzungen, die sie beim Dienst in der Öffentlichkeit zu bestehen hatten. Die Theologie wurde auf lehrhafte und lernbare Weise entfaltet. Zu einer Hochburg des orthodoxen Luthertums wurde nach dem Ende der kryptocalvinistischen Streitigkeiten die Universität Wittenberg. Hier lehrte von 1596–1616 der aus Nellingen bei Ulm stammende Leonhart Hütter (auch: Hutterus). In seiner Zeit gerieten Melanchthons Loci als theologisches Lehrbuch außer Gebrauch und auch sein Bild wurde aus dem großen Hörsaal entfernt. Dass es Hütter herabgerissen und zertrampelt habe, ist freilich eine Legende. Hütter selbst verfasste ein eigenes, sehr erfolgreiches Lehrbuch der Theologie, das Compendium locorum theologicorum (1610),6 das nach Altersstufen gegliedert war und wie ein Katechismus die theologische Lehre im Frage-Antwort-Stil entfaltete. Hütter wollte den reinen, unverfälschten Luther wieder ans Licht bringen und alles von Melanchthon Stammende wegschieben. Später ehrte ihn das Luthertum deswegen mit dem aus seinem Namen gebildeten Anagramm als „Lutherus redonatus“ (wiedergeschenkter Luther). Ein strenges Luthertum etablierte sich auch in Tübingen. Matthias Hafenreffer gehörte zu den frühen Vertretern der Orthodoxie in Württemberg. Nach mehreren Jahren als Gemeindepfarrer und zuletzt in kirchenleitender Funktion wirkte er von 1592 an bis zum seinem Tod 1619 als Theologieprofessor in Tübingen. Auch er verfasste ein Lehrbuch der Theologie, nach Melanchthons Vorbild Loci theologici (1600) genannt, das weit verbreitet war und sogar in Schweden verwendet wurde. Gegenüber dem Astronomen Johannes Kepler, der im lutherischen Württemberg beruflich nicht vorankommen konnte und deshalb ins katholische Österreich auswanderte, drängte er nachhaltig, aber ohne Erfolg, auf die Anerkennung der Konkordienformel. Trotz allem ging es Hafenreffer nicht ausschließlich um die rechte Lehre. Er hatte auch die christliche Praxis im Blick. Sein Lehrbuch enthält im Anschluss an die Entfaltung der Lehre zu jedem Thema Hinweise zu ihrer praktischen Relevanz. Hafenreffers Buch beschäftigt sich auch mit den Engeln und er geht natürlich auch darauf ein, welchen praktischen Nutzen es hat, sich in der Theologie damit zu befassen. Er nennt, wie häufig bei seinen praktischen Nutzanwendungen, drei Punkte. Erstens verspricht er sich von der Engellehre Trost, weil sie zeige, dass der Mensch außer Gott, dem „treuesten Beschützer“, auch Engel als „schützende

6 Auszüge: KTGQ 3, S. 236 f.

Leonhart Hütter

Matthias Hafenreffer

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Anfänge des Konfessionellen Zeitalters

Gießen

Johann Gerhard

Soldaten“ um sich habe. Zweitens sieht er in dem Gedanken, dass Menschen von Engeln bei all ihrem Tun begleitet und beobachtet werden, einen Anstoß „zur Frömmigkeit und Sittenreinheit“, denn wie man unter den Augen ehrenwerter Menschen nicht sündige, so würde man sich erst recht davor hüten, im Angesicht der Engel eine Sünde zu begehen. Und drittens sieht Hafenreffer in den Engeln auch noch Vorbilder für die fromme Lebensgestaltung, denn das Wissen um die Engel und ihr Beispiel ständigen Betens könne die Menschen zum eifrigen Gotteslob anregen. Zu einer weiteren Hochburg lutherischer Theologie entwickelte sich die 1607 neu gegründete Universität Gießen. Sie war eine dezidiert lutherische Gründung des Landgrafen von Hessen-Darmstadt als Reaktion auf die Calvinisierung der Universität Marburg, die in dem Landesteil Hessens lag, der 1605 in das reformierte Lager gewechselt war. Führende Theologen der Frühzeit waren Johannes Winckelmann und Balthasar Mentzer. Zwischen dem lutherischen Gießen und dem lutherischen Tübingen entstand 1619 ein Lehrkonflikt um eine Frage der Christologie, der als Kenosis-Krypsis-Streit in die Geschichte eingegangen ist und zeigt, wie spitzfindig und zugleich ausgrenzend nun wieder Theologie getrieben wurde. Es ging um die Frage, ob Jesus Christus als Mensch, der ja nach allgemein christlicher Lehre zugleich Gott war, seine göttlichen Eigenschaften und Befähigungen nur verborgen, so die „kryptische“ Tübinger Position (griech. κρύπτω/krypto = verbergen), oder ob er sie entäußert (griech. κενόω/kenoo = ausleeren) habe, so die „kenotische“ Gießener Theologie. Der bekannteste orthodoxe Theologe des Luthertums war Johann Gerhard. Er wird oftmals als „Kirchenvater“ der lutherischen Orthodoxie bezeichnet. Diesen Ruhm hat er vor allem seinem Hauptwerk zu verdanken, seinen 1610 begonnenen Loci theologici, einer umfassenden Gesamtdarstellung der Theologie, welche die Summa des Thomas von Aquin, aber auch die Loci Melanchthons um ein Vielfaches übertrifft. Nach einigen Jahren in kirchenleitender Tätigkeit wirkte er mehr als zwanzig Jahre lang, bis zu seinem Tod im Jahre 1637, als Theologieprofessor in Jena. Gerhard hat sich auch als Erbauungsschriftsteller betätigt. 1606 veröffentlichte er seine Meditationes sacrae (Heilige Betrachtungen), 1612 sein Exercitium pietatis (Frömmigkeitsübung) und 1622/23 seine Schola pietatis, eine – nach ihrem Untertitel – „Christliche und Heilsame Unterrichtung / Was für Ursachen einen jeden wahren Christen zur Gottseligkeit bewegen sollen / auch welcher Gestalt er sich an derselben üben soll“. Dass es Gerhard nicht nur um die rechte Lehre, sondern auch um die lebendige Frömmigkeit ging, zeigt auch sein systematisch-theolo-

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Lutherische Orthodoxie

gisches Hauptwerk, die erwähnten Loci theologici. Hier geht er nach dem Vorbild Hafenreffers häufig am Ende der einzelnen Kapitel auf den „Usus practicus“ (die praktische Nutzanwendung) seiner Lehre ein, nämlich auf die Frage, worin denn ganz allgemein und ganz grundsätzlich die Bedeutung des theologischen Sachverhalts für das praktische Leben des Christen liege. Ganz und gar erbauliche Anliegen verfolgte auch der wegen seiner heute noch gesungenen Lieder allgemein bekannte Paul Gerhardt. Geboren 1607 in Gräfenhainichen wirkte er nach einem Studium in Wittenberg von 1643 an in Berlin zunächst als Hauslehrer und publizierte 1647 erste Lieder, darunter „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ (EG 83). Doch auch er war ein harter Kämpfer für die rechte Lehre. Als Pfarrer an der Berliner Nikolaikirche widersetzte er sich als strenger Lutheraner und Anhänger der Konkordienformel hartnäckig der von seinem reformierten Landesherrn geforderten Religionstoleranz und wurde deshalb 1666 seines Amtes enthoben. Das orthodoxe Denken versiegte im Laufe des 18. Jahrhunderts. Doch im 19. Jahrhundert kam es zu einem überraschenden Neubeginn. Um die Orthodoxie des 16.–18. Jahrhunderts von der des 19. Jahrhunderts zu unterscheiden, spricht man einerseits von der altprotestantischen, andererseits von der neuprotestantischen Orthodoxie. Beide Spielarten gab es sowohl bei den Lutheranern als auch bei den Reformierten.

Paul Gerhardt

Überblick: wichtige Territorien und ihre Konfessionen um 1610

Als Folge der Reformation wurde Deutschland ein konfessionell kompliziert gegliedertes Land. Neben katholischen, lutherischen und reformierten Territorien existierten auch Territorien, wo die Obrigkeiten einer anderen Konfession angehörten als die Untertanen sowie gemischtkonfessionelle Territorien. ► katholisch: Kurfürstentum Mainz, Kurfürstentum Trier, Kurfürstentum Köln, Fürstbistum Münster, Fürstbistum Hildesheim, Fürstbistum Würzburg, Fürstbistum Augsburg, Fürstabtei Fulda, Herzogtum Bayern, Markgrafschaft Baden-Baden, Reichsstadt Konstanz ► lutherisch: Kurfürstentum Sachsen, Herzogtum Sachsen, Herzogtum Braunschweig-Lüneburg, Herzogtum Württemberg, Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel, Herzogtum Holstein, Herzogtum Lauenburg, Herzogtum Pommern, Erzbistum/Herzogtum Bremen, Landgrafschaft Hessen-Darmstadt, Fürstentum Ansbach, Grafschaft Oldenburg-Delmenhorst, Grafschaft Hohenlohe, Reichsstadt Nürnberg, Reichsstadt Ulm, Reichsstadt Frankfurt, Reichsstadt Speyer, Reichsstadt Straßburg, Reichsstadt Esslingen, Reichsstadt Reutlingen,

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Anfänge des Konfessionellen Zeitalters Reichsstadt Heilbronn, Reichsstadt Memmingen, Stadt Hildesheim, Stadt Erfurt ► reformiert: Kurfürstentum Pfalz, Landgrafschaft Hessen-Kassel, Grafschaft Bentheim, Grafschaft Ostfriesland, Grafschaft Lippe, Grafschaft Nassau-Dillenburg, Stadt Bremen ► reformierte Obrigkeit, lutherische Bevölkerung: Kurfürstentum Brandenburg (ab 1613), Markgrafschaft Baden-Durlach (bis 1604) ► gemischtkonfessionell: Fürstbistum Osnabrück, Reichsstadt Ravensburg, Reichsstadt Augsburg, Reichsstadt Biberach, Reichsstadt Leutkirch

Reformierte Orthodoxie

Johann Buxtorf

Gisbert Voetius

Analog zum Luthertum bildete sich auch bei den Reformierten eine Orthodoxie heraus. Sie hatte wichtige Zentren in Leiden, Saumur, Herborn, Basel und Genf. Die reformierten Theologen besaßen ein ausgeprägtes exegetisches Interesse. In diesem Zusammenhang entwickelte sich im Protestantismus erstmals eine Hebraistik, eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der hebräischen Sprache und der hebräischen Literatur. Hierfür stand in erster Linie Johann Buxtorf in Basel und sein gleichnamiger Sohn und Nachfolger. Die Familie stammte eigentlich aus Westfalen. 1591 übernahm Johann Buxtorf d. Ä. eine Professur für die hebräische Sprache in Basel und schuf zahlreiche grundlegende wissenschaftliche Werke. Retardierend wirkte sich jedoch sein Festhalten am Inspirationsglauben aus: Selbst die Vokalzeichen der hebräischen Bibel sah Buxtorf als göttlichen Ursprungs an. Ein weiterer wichtiger Impuls ging von einem Niederländer aus, der wie die Buxtorfs ein großer Exeget, aber gleichzeitig auch ein großer Systematiker war: Gisbert Voetius, Professor in Utrecht, geboren 1589, gestorben 1676. Puritanische Anliegen aufgreifend, forderte er nicht nur Rechtgläubigkeit, sondern auch „Precisheyt“ (Genauigkeit, Gewissenhaftigkeit), das heißt eine mit dem Gesetz Gottes übereinstimmende Lebensweise. Hierzu gehörte zum Beispiel eine strenge Sonntagsheiligung. Damit begann die Frömmigkeitsbewegung des „Präzisismus“ und damit wurde Voetius zu einem wichtigen Wegbereiter des Pietismus in den reformierten Kirchen. Erwähnenswert ist ferner, dass zu Voetius’ Studenten – wohl erstmals in der Geschichte des Protestantismus – auch eine Frau gehörte: Anna Maria van Schurman. Sie konnte jedoch nicht offiziell an seinen Lehrveranstaltungen teilnehmen, sondern musste sich hinter einem Vorhang verstecken. Ihr theologisches Interesse und ihre

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Die Synode von Dordrecht (1618/19) und der Arminianismus

Begabung anerkennend, hat ihr Voetius 1655 eine Sammlung theologischer Disputationen gewidmet. Neben Voetius war ein weiterer niederländischer Theologe von Bedeutung, der eigentlich aus Deutschland stammte: Johannes Coccejus (eigentlich: Koch). Geboren wurde er 1603 in Bremen, gestorben ist er 1669 in den Niederlanden. Er war als Professor in Leiden ebenfalls ein großer Bibelausleger, hat aber auch einen zukunftsweisenden systematisch-theologischen Impuls gegeben. Er begründete, dabei an Bucer und Bullinger anknüpfend, die sogenannte Föderaltheologie, eine Theologie, welche die Geschichte Israels und der Kirche unter dem Aspekt des von Gott mit dem Menschen geschlossenen Bundes (lat. foedus = Bund) betrachtete. Es war eine an der Bibel orientierte, auf die Geschichte blickende und die Juden einbeziehende Theologie. Sie wurde auch im Luthertum und später vor allem im Pietismus rezipiert. Coccejus beschreibt die Heilsgeschichte durch die Aufeinanderfolge verschiedener Bundesschlüsse. Dabei konkurrieren für ihn ständig der „Werkbund“ und der „Gnadenbund“. Der Werkbund verheißt das ewige Leben aufgrund der Erfüllung des Gesetzes, der Gnadenbund aufgrund des Glaubens an Christus. Der Gnadenbund beginnt schon vor aller Zeit innertrinitarisch durch die Prädestination. Für Adam und Eva galt zunächst der Werkbund, der aber durch den Sündenfall gebrochen wurde. Darauf begann mit dem sogenannten Protevangelium – Gen 3,15 – der Gnadenbund, zunächst in der Form der Ankündigung, dann mit dem Neuen Testament in der Form der Erfüllung. Stufenweise tritt der Werkbund in den Hintergrund. Mit dem Eingehen des Menschen in die ewige Gemeinschaft mit Gott kommt der Gnadenbund an sein Ziel. Coccejus war gegen die von Voetius geforderte strenge Sonntagsheiligung, weil er sie als einen Rückfall in die durch den Gnadenbund überholte Gesetzlichkeit ansah.

Die Synode von Dordrecht (1618/19) und der Arminianismus Eine bleibende Herausforderung bildete für die reformierte Theologie die Prädestinationslehre, die nach Calvins Tod zunächst von seinem Nachfolger Beza weiter entfaltet und systematisiert worden war. Anders als Calvin rückte Beza die Prädestinationsfrage ins Zentrum seiner theologischen Reflexion und versuchte die Schwierigkeiten dieser Lehre mit den Mitteln der aristotelischen Logik zu lösen. Während Calvin die Prädestination im Zusammenhang mit der Heilsgewissheit des Glaubens behandelte, wurde sie bei Beza zu

Johannes Coccejus

Föderaltheologie

Gnadenbund

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Anfänge des Konfessionellen Zeitalters doppelte Prädestination

Beza

Jacobus Arminius

Remonstranten

einem Teil der Gotteslehre. Dezidiert sprach er von einer doppelten Prädestination: Gott habe schon vor der Grundlegung der Welt einen Teil der späteren Menschen zur Seligkeit und den anderen zur Verdammnis bestimmt. Nicht der Sündenfall sei die eigentliche Ursache der Verdammnis und nicht der Erlösungstod Christi die primäre Ursache der Seligkeit, sondern beides sei in einem unerforschlichen Ratschluss Gottes begründet und Ausdruck seiner unendlichen Größe und Allmacht. Natürlich fragten sich die Menschen, ob sie zu den Erwählten oder zu den Verworfenen gehörten. Woran lässt sich das erkennen? Während Calvin das Problem im Grunde unbeantwortet ließ und die Menschen dazu anhielt, auf den in Christus offenbarten Heilswillen Gottes zu vertrauen, fand Beza eine logisch konsequente, aber die Menschen zugleich tief verunsichernde Antwort: Buße, Glaube, Rechtfertigung und Heiligung seien Kennzeichen der Erwählten. Der Glaube und die Glaubenswerke erlaubten einen Rückschluss auf die Erwählung. Die individuelle Frage nach dem Prädestiniert-Sein wurde mit einer logischen Schlussfolgerung aus der Praxis beantwortet, einem syllogismus practicus. In der Folge bemühten sich die Menschen sich selbst – und anderen – durch Taten zu beweisen, dass sie zu den Erwählten gehörten. Die „Werke“ wurden plötzlich wieder wichtig, zwar nicht, um Gerechtigkeit vor Gott zu erwerben, aber als Nachweis, dass man zu den aus Gnade Gerechtfertigten gehörte. Um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert kam es in den Niederlanden zu einem großen Streit. Der Leidener Theologieprofessor Jacobus Arminius relativierte die Lehre von der göttlichen Vorherbestimmung, indem er den Menschen die Möglichkeit einräumte, Gottes Gnade anzunehmen oder abzulehnen. Die Gegner beschimpften diese Position als Arminianismus. 1610 reichten die Arminianer der Obrigkeit eine „Remonstratie“ (lat. remonstrare = Einwände erheben) ein und bezeichneten sich fortan als Remonstranten. Den Regierenden der Niederlande missfiel der Konflikt innerhalb der Kirche und sie riefen die streitbaren Theologen deshalb zu einer Synode zusammen, die 1618/19 in Dordrecht tagte und von vielen reformierten Kirchen, auch aus England und Schottland, beschickt wurde. Hier wurde eine theologische Erklärung nach Art eines Bekenntnisses verabschiedet, die eine strenge Prädestinationslehre festschrieb: Gottes Gnade kann der Mensch nicht widerstehen, Gottes Erwählungshandeln geschah schon vor dem Sündenfall und war unabhängig vom Glauben der Menschen, Christus ist nur für die Erwählten gestorben.

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Die Synode von Dordrecht (1618/19) und der Arminianismus Aus den Dordrechter Lehrsätzen (Mai 1619):

Erstes Lehrstück Von der göttlichen Vorherbestimmung Artikel 7 Die Erwählung … ist ein unveränderlicher Vorsatz Gottes, durch den er vor Grundlegung der Welt aus dem gesamten Menschengeschlecht, das aus der anfänglichen Unschuld durch seine eigene Schuld der Sünde und dem Verderben verfallen war, nach freiem Belieben seines Willens, aus reiner Gnade, eine bestimmte Menge von Menschen, die weder besser noch würdiger als andere waren, sondern mit ihnen im gemeinschaftlichen Elend lagen, zum Heil auserwählt hat in Christus, den er auch von Ewigkeit her zum Mittler und Haupt aller Erwählten sowie zum Grund der Seligkeit bestimmt hat. Und so hat er auch sie ihm zur Rettung zu übergeben und sie wirksam zur Gemeinschaft mit ihm durch das Wort und seinen Heiligen Geist zu berufen und zu führen oder sie mit dem wahren Glauben an ihn zu beschenken, sie zu rechtfertigen, sie zu heiligen und, nachdem er sie mächtig in der Gemeinschaft mit seinem Sohn bewahrt hat, endlich zu verherrlichen beschlossen, um seine Barmherzigkeit und den Ruhm des Reichtums seiner gepriesenen Gnade zu zeigen … Artikel 9 Eben diese Erwählung ist nicht geschehen nach vorhergesehenem Glauben und gläubigem Gehorsam, nach Frömmigkeit oder irgendeiner anderen guten Eigenschaft oder Beschaffenheit, als wenn ein Grund oder eine Bedingung in dem zu erwählenden Menschen vorher erforderlich wäre, sondern zum Glauben, zu gläubigem Gehorsam, zur Frömmigkeit usw. … Artikel 12 Von dieser seiner ewigen und unveränderlichen Erwählung zur Seligkeit erhalten die Erwählten zu seiner Zeit, wenn auch in verschiedenen Abstufungen und in ungleichem Maße, Kunde, und zwar nicht, indem sie die Geheimnisse und Tiefen Gottes neugierig erforschen, sondern indem sie die untrüglichen Früchte der Erwählung, die im göttlichen Wort bezeichnet sind (wie da sind wahrer Glaube an Christus, kindliche Gottesfurcht, Schmerz über die Sünden gegen Gott, Hunger und Durst nach Gerechtigkeit usw.), an sich mit geistlicher Freude und heiligem Vergnügen wahrnehmen. Artikel 18 Demjenigen aber, der gegen diese Gnade der unverdienten Erwählung und die Strenge der gerechten Verwerfung murrt, setzen wir die Worte des Apostels entgegen: „O Mensch, wer bist du, dass du Gott gegenüber redest?“ (Röm 9,20). …

Die meisten, aber nicht alle reformierten Kirchen und Gemeinden schlossen sich der Dordrechter Erklärung an. Die Beschlüsse der Synode bekamen Bekenntnisrang in vielen reformierten Kirchen und waren somit ein erstes von mehreren neuen Bekenntnissen, die der



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Anfänge des Konfessionellen Zeitalters

reformierte Protestantismus im 17. Jahrhundert hervorbrachte. Die Remonstranten fügten sich jedoch nicht, bildeten eine eigene Kirche und gaben sich 1621 ein eigenes Bekenntnis.

&

Literatur Christian Bunners: Paul Gerhardt. Weg, Werk, Wirkung. 2., überarb. u. erg. Aufl. Göttingen 2007. Stephen G. Burnett: From Christian Hebraism to Jewish Studies. Johannes Buxtorf (1564– 1629) and Hebrew Learning in the Seventeenth Century. Leiden 1996 (Studies in the History of Christian Thought 68). Irene Dingel (Hg.): Reaktionen auf das Augsburger Interim. Der Interimistische Streit (1548– 1549). Göttingen 2010 (Controversia et Confessio 1). Irene Dingel: Concordia controversa. Die öffentlichen Diskussionen um das lutherische Konkordienwerk am Ende des 16. Jahrhunderts. Gütersloh 2006 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 63). Stefan Ehrenpreis, Ute Lotz-Heumann: Reformation und konfessionelles Zeitalter. 3., unver. Aufl. Darmstadt 2011 (Kontroversen um die Geschichte). Martin Friedrich: Von Marburg bis Leuenberg. Der lutherisch-reformierte Gegensatz und seine Überwindung. Waltrop 1999. Martin H. Jung: „Coelestis doctrina“ und „Praxis Christiana“ in der altlutherischen Orthodoxie. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 96 (1996), S. 30–58. Ernst Koch: Das konfessionelle Zeitalter. Katholizismus, Luthertum, Calvinismus (1663–1675). Leipzig 2000 (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen 2/8). Theodoor Marius van Leeuwen (Hg.): Arminius, Arminianism, and Europe. Jacobus Arminius (1559/60–1609). Leiden 2009 (Brill's Series in Church History 39). Ulrike Ludwig: Philippismus und orthodoxes Luthertum an der Universität Wittenberg. Die Rolle Jakob Andreäs im lutherischen Konfessionalisierungsprozeß Kursachsens (1576– 1580). Münster/Westf. 2009 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 153). Johann Anselm Steiger: Johann Gerhard (1582–1637). Studien zu Theologie und Frömmigkeit des Kirchenvaters der lutherischen Orthodoxie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1997 (Doctrina et pietas, Abt. 1, 1). Ernst Walter Zeeden: Die Entstehung der Konfessionen. Grundlagen und Formen der Konfessionsbildung im Zeitalter der Glaubenskämpfe. München 1965. Ernst Walter Zeeden: Konfessionsbildung. Studien zur Reformation, Gegenreformation und katholischen Reform. Stuttgart 1985 (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit 15). Walter Ziegler: Die Entscheidung deutscher Länder für oder gegen Luther. Studien zu Reformation und Konfessionalisierung im 16. und 17. Jahrhundert. Gesammelte Aufsätze. Münster/Westf. 2008 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 151).

12. Barockscholastik, romanische Mystik, Jansenismus

In der katholischen Kirche kam es auf dem Hintergrund der Reformation und auf der Basis der Beschlüsse des Trienter Konzils (→ Kap. 10) in Theologie und Frömmigkeit zu Entwicklungen, die in manchem mit denen im Bereich der evangelischen Kirchen verwandt, in anderem jedoch völlig von ihnen verschieden waren. Entscheidende Impulse gingen von Italien, Spanien und Frankreich aus.

Barockscholastik: mittelalterliche Theologie in neuem Gewand In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts kam es im Katholizismus zu einer Neubelebung mittelalterlicher schulischer – scholastischer – Formen des Theologisierens. Parallel zur Katholischen Reform entfaltete sich die zweite Scholastik, Spätscholastik oder auch Barockscholastik, womit ein Begriff für einen Kunststil des 17. und 18. Jahrhunderts als Epochenbegriff verwendet und so auf die Theologie angewandt wird. Am Beginn steht der spanische Dominikaner Francisco de Vitoria, ein Zeitgenosse Luthers, und die von ihm begründete Schule von Salamanca. Doch während de Vitoria noch ein relativ freier Geist war, pflegten seine Nachfolger einen strengen und engen Thomismus, wie eine Theologie genannt wird, die sich Thomas von Aquin und seinem theologischen Kompendium (Summa theologica) verpflichtet sieht. Als Folge der Barockscholastik wurde Thomas zu dem autoritativen Theologen für den Katholizismus der Neuzeit, was im 19. Jahrhundert noch einmal eine Verstärkung erfuhr, indem sein Denken „hinsichtlich seiner Weisheit“ zur Norm und zum Vorbild aller katholischen Theologie erklärt wurde. Diese Festelgung traf Papst Leo XIII. im Jahre 1879. Intensiv setzten sich die Barockscholastiker mit der protestantischen Lehre auseinander. Hierfür steht insbesondere der Jesuit Robert Bellarmin (auch: Bellarmini, Bellarmino). Er lebte von 1542– 1621. Bellarmin war Italiener, wirkte als Professor in Rom und hatte außer seiner Professur auch andere kirchliche Ämter inne. Er war theologisch sehr gebildet, hatte u. a. in Rom, Florenz, Padua und Löwen studiert und im Rahmen dieser Studien auch Griechisch und Hebräisch gelernt, eine Seltenheit unter katholischen Theologen jener Zeit. Bellarmin führte eine scharfsinnige und nicht übermäßig

Francisco de Vitoria

Robert Bellarmin

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Barockscholastik, romanische Mystik, Jansenismus

Staatslehre

Kirche

im Dienst des Papstes

polemische Auseinandersetzung mit der protestantischen Theologie. In drei Bänden legte er in der Form von Disputationen Auseinandersetzungen mit allen wichtigen Themen des evangelischen Denkens vor. Zum Beispiel erklärte er zur Verwerfung des Traditionsprinzips durch die Protestanten spitzfindig, auch deren Position, die Bibel und nicht die Tradition der Kirche sei die höchste Autorität, entstamme doch der Tradition. Bellarmin war „Kontroverstheologe“: Er suchte die Auseinandersetzung mit den konfessionellen Gegnern. Die herausgeforderten Protestanten ließen sich darauf konstruktiv ein. Sie lasen seine Bücher und suchten ihn in ihren eigenen Schriften zu widerlegen. Direkte Begegnungen gab es allerdings nicht. Mit der Staatslehre beschäftigte sich Bellarmin ebenfalls. Die fürstliche Gewalt leitete er aus der Souveränität des Volkes her. Anders als die lutherischen Theologen erklärte er, das Volk habe ein Recht, seinen Fürsten abzusetzen. Auch zum Papsttum hatte er eine eigene Meinung, wenn er erklärte, der Papst sei in weltlichen Dingen nur auf indirekte Weise der oberste Herr, denn er dürfe in sie nur eingreifen, wenn es um das Heil der Seelen gehe. An diesem Punkt erntete Bellarmin Widerspruch – vom Papst. Interessant ist auch Bellarmins Kirchenverständnis. Die Kirche war für ihn zunächst einmal zweigeteilt in Lehrende und Hörer, Hirten und Schafe, Spender und Empfänger. Lehrer, Hirten und Spender, also die geistliche Gewalt, war in sich, wie schon die drei Begriffe anzeigen, dreigeteilt. Die geistliche Gewalt in der Kirche hat drei Aspekte, nämlich erstens die Lehre, zweitens die Leitung und drittens die Sakramentsverwaltung. Diese Einteilung der geistlichen Gewalt erinnert an Calvin, der allerdings noch ein viertes Amt, das Amt des Diakons, kannte (→ Kap. 5). Doch Bellarmin war höchstens ganz nebenbei von Calvin beeinflusst, den er natürlich im Zusammenhang mit seiner Auseinandersetzung mit dem Protestantismus gelesen hatte. Bellarmin hat seine Lehre von der dreifachen geistlichen Gewalt in Anlehnung an das Christuszeugnis der Bibel formuliert, seine Ekklesiologie wurzelte also in seiner Christologie. Die Bibel spricht von einem dreifachen Amt Jesu Christi. Er ist Prophet, Hirte und Priester, also Lehrer, Leiter und Sakramentsspender, und das spiegelt sich in den Ämtern der Gemeinde. Aus dem DreiÄmter-Schema hat Bellarmin auch Kriterien für die Kirchengliedschaft abgeleitet. Zur Kirche gehört, wer seinen Glauben bekennt, den schuldigen Gehorsam leistet und die Sakramente empfängt. Bellarmin war ein ungeheuer fleißiger Mann. Er verfasste viele Schriften und hatte zahlreiche Ämter inne. Voll und ganz stand er im Dienst des Papstes und seines Hofes. Seine Umgebung nannte

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Romanische Mystik: neue Frömmigkeitsformen und neue Orden

ihn deshalb das „Faktotum der Kurie“, den Alleskönner oder Allesmacher des päpstlichen Hauses. 1930 wurde er heilig gesprochen, 1931 zum Kirchenlehrer – doctor ecclesiae – erhoben. Diesen besonderen Titel verleiht die römisch-katholische Kirche seit dem 18. Jahrhundert Personen, die sich in hervorragender Weise durch ein heiliges Leben, orthodoxen Glauben und überzeugende Lehre auszeichneten.

Kirchenlehrer

Romanische Mystik: neue Frömmigkeitsformen und neue Orden Vor Herausforderungen wurde die katholische Kirche schon im 16. und vermehrt im 17. und 18. Jahrhundert durch neue Entwicklungen im Bereich der Mystik gestellt, die sich vor allem in Spanien, Italien und Frankreich vollzogen und deswegen zusammenfassend als romanische Mystik bezeichnet werden. Häufig wurden hier Gedanken vertreten, die einzelnen Momenten des evangelischen Glaubens nahe standen. Deshalb haben sich auch Protestanten für diese neue Mystik interessiert. Mystik ist eine in vielen Religionen vorkommende Sonderform des Umgangs mit dem Göttlichen. Es gibt sie auch im Judentum und im Islam. Schon die aus dem Griechischen stammende Bezeichnung deutet darauf hin, dass es sich um eine zurückgezogene und elitäre Form von Religiosität handelt: Das griechische myo (μύω) bedeutet schließen, verschweigen. Mystik war nie ein Massenphänomen, sondern Sache Einzelner, denen Auditionen und Visionen zuteil wurden, in denen sie auf innige Weise die Nähe Gottes, ja die Verschmelzung mit Gott erfuhren. Im 16. Jahrhundert war zunächst Spanien das Zentrum der neuen katholischen Mystik. An erster Stelle steht der Name einer Frau: Teresa (auch: Theresia) aus Ávila in Kastilien. Später nannte man sie Teresa de Jesús. Obwohl zu Lebzeiten umstritten und verfolgt, ja beinahe verketzert, erlangte diese Frau für die katholische Frömmigkeit so große Bedeutung, dass sie schließlich im Jahre 1970 von Papst Paul VI. zum „Kirchenlehrer“ ernannt wurde, als erste Frau überhaupt. Eine weibliche Form dieses Titels gab es damals noch nicht. Inzwischen zählt die römisch-katholisch Kirche drei Frauen zu ihren Kirchenlehrerinnen. Teresa wurde 1515 geboren und ist 1582 gestorben. Sie war Karmelitin, gehörte also einem Orden an, der bereits im 13. Jahrhundert im Zusammenhang mit den Kreuzzügen am Berg Karmel im Heiligen Land entstanden war und sich als Bettelorden vor allem in Italien, Frankreich und England verbreitet hatte. Gegen ihren Willen

Spanien, Italien, Frankreich

Mystik

Teresa aus Ávila

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Barockscholastik, romanische Mystik, Jansenismus

Visionen

war sie als 20-Jährige 1535 von ihren Eltern ins Kloster gezwungen worden. Durch eine schwere Erkrankung wurde sie von 1554 an zur Mystikerin, empfing Visionen und führte fortan ein streng kontemplatives Leben. Sie kritisierte die veräußerlichten, ritualisierten Formen der Religiosität. Ihr Anliegen war eine intensive, innerliche, persönliche Frömmigkeit, die ihr Zentrum im Gebet hatte. Das Gebet war für sie keine religiöse Leistung, auch kein Mittel zur Erlangung äußerlicher Ziele, sondern ein Weg zu einer intensiven Gotteserfahrung, ein Weg, der zur Erfahrung der mystischen Unio mit Gott führen sollte. Teresa trat darüber hinaus für Frauenbildung ein und verlangte, gegen den Adel gerichtet, soziale Gleichheit. Kurzbiografie: Teresa von Ávila 1515 1535 1539 1554 1562 1566/67 1582

Klostergründung

Johannes vom Kreuz

Franz von Sales

Geburt in Ávila (28. 3.) Karmelitin Krankheit Bekehrung Klostergründung Weg der Vollkommenheit Tod in Alba de Tormes (4.10.)

Ihre Lebensgrundsätze brachte Teresa in eine Klostergründung ein. Es entstand der Orden der „Unbeschuhten Karmeliten“, so die zunächst volkstümliche Fremdbezeichnung für die asketische, aber auf Schuhkleidung nicht wirklich verzichtende Reformbewegung innerhalb des Karmelitenordens. 32 Klöster hat Teresa selbst gegründet. Sie war auch schriftstellerisch tätig. Ihr neunbändiges Gesamtwerk erlebte bis heute rund 400 Auflagen. Sie führte ferner einen intensiven geistlichen Briefwechsel, von dem aber nur 650 Briefe der Nachwelt erhalten blieben. Als zweiter Vertreter der neuen katholischen Mystik ist ein Mann zu nennen, der Spanier Johannes vom Kreuz (Juan de la Cruz). Geboren wurde er 1542, gestorben ist er 1591. Er war studierter Theologe und Priester und lebte ebenfalls als Karmelit. Mit Teresa hatte er persönlichen Kontakt und arbeitete für den Aufbau des männlichen Zweigs des von Teresa gegründeten Ordens. Auch er war schriftstellerisch tätig und verband mystische Frömmigkeitsanliegen mit theologischen Reflexionen. Der dritte in der Reihe ist Franz von Sales, ein Bischof von Genf mit Sitz in Annecy. Er lebte von 1567–1622 und stammte aus Savoyen. Er förderte die Mystik als Beichtvater vornehmer Personen

217

Jansenius und Jansenismus: Augustin-Renaissance im Katholizismus

und hatte Einfluss auf viele Frauen, unter ihnen Johanna Franziska von Chantal, eine Baronin. Sie lebte von 1572–1641 und stammte aus Dijon. 1610 stiftete sie gemeinsam mit von Sales den Orden der Salesianerinnen oder Visitantinnen (so benannt nach der visitatio Mariae, der „Heimsuchung“ der Maria, gemeint ist der ihr die Schwangerschaft verkündende Engelsbesuch nach Lk 1). Sie widmeten sich unter anderem der Mädchenerziehung. Einen Höhepunkt erreichte die neue mystische Bewegung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit dem spanischen Priester Michael (Miguel) de Molinos und der französischen Adligen JeanneMarie Guyon, geborene Bouvier de la Motte, kurz: Frau von Guyon. Für ihre nach innerer und äußerer Ruhe strebende Mystik, in der sich auch der evangelische Rechtfertigungsglaube wiederfinden konnte, wurde die Bezeichnung Quietismus geprägt (lat. quies = Ruhe). Die romanische Mystik ist ein Beispiel für die Aufweichung konfessioneller Milieus im Konfessionellen Zeitalter. Ein weiteres Beispiel hierfür war der gleichzeitig entstandene Jansenismus.

Michael de Molinos, Jeanne-Marie Guyon

Jansenius und Jansenismus: Augustin-Renaissance im Katholizismus Während des Dreißigjährigen Krieges erschien im katholischen Löwen ein Buch, das unter Katholiken und Protestanten Aufmerksamkeit erregte und innerhalb der katholischen Kirche eine Erneuerungsbewegung entfachte. Das Buch beschäftigte sich mit dem Kirchenvater Augustin, sein Autor war Cornelius Jansenius d. J., Bischof von Ypern, und die Bewegung wurde nach ihm Jansenismus benannt. Augustin war der Theologe der alten Christenheit, der den Reformatoren die meisten Impulse gegeben hatte. Luther, Zwingli und Calvin haben in den Auseinandersetzungen ihrer Zeit immer mit Augustin und seinem Verständnis der göttlichen Gnade argumentiert. Jansenius beschäftigte sich seit 1618, als er Theologieprofessor in Löwen geworden war, intensiv mit dem Kirchenvater und 1640, zwei Jahre nach seinem Tod, erschien sein Buch Augustinus, in dem er Positionen vertrat, die andere Katholiken sogleich an die Positionen der Reformatoren erinnerten: Der menschliche Wille ist nicht frei und ist aus sich selbst heraus weder zum guten noch zum bösen Handeln fähig, sondern unterliegt und folgt in jeder Einzelentscheidung einer Grundorientierung; sich der Gottesliebe zuwenden kann der Mensch nur infolge der göttlichen Gnade, die ihm als freies Geschenk Gottes zukommt.

Cornelius Jansenius

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Barockscholastik, romanische Mystik, Jansenismus

Port-Royal

&

Resonanz fand Jansenius vor allem in Frankreich und vor allem in der angesehenen Zisterzienserinnen-Abtei Port-Royal mit ihren beiden Zentren in Paris und Versailles. Obwohl die Päpste und die französischen Könige den Jansenismus unter Anwendung von Gewalt bekämpften, konnte sich die innerkatholische Erneuerungsbewegung halten und über Frankreich hinaus ausbreiten. In Frankreich hat sie gemeinsam mit der Aufklärung der Revolution den Boden bereitet. Literatur Jutta Burggraf: Teresa von Ávila. Humanität und Glaubensleben. Paderborn 1996. Thomas Dietrich: Roberto Bellarmino. Zwischen Tradition und Neuanfang. In: Peter Walter (Hg.), Martin H. Jung (Hg.): Theologen des 17. und 18. Jahrhunderts. Konfessionelles Zeitalter, Pietismus, Aufklärung. [Eine Einführung]. Darmstadt 2003, S. 35–53. Ulrich Dobhan, Reinhard Körner: Johannes vom Kreuz. Die Biographie. Freiburg i. Br.: Herder, 1992. Ute Egner-Walter: Das innere Gebet der Madame Guyon. Münsterschwarzach 1989 (Schriften zur Kontemplation 6). Frank Grunert: Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur spanischen Spätscholastik. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 68). Leonhard Hell: Cornelius Jansenius. Konservativer Augustinismus zwischen den Fronten. In: Peter Walter (Hg.), Martin H. Jung (Hg.): Theologen des 17. und 18. Jahrhunderts. Konfessionelles Zeitalter, Pietismus, Aufklärung. [Eine Einführung]. Darmstadt 2003, S. 70–87. Hartmut Lehmann (Hg.): Jansenismus, Quietismus, Pietismus. Göttingen 2002 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 42). Fernando Domínguez Reboiras: Francisco de Vitoria. Ein unabhängiger Theologe mit Blick für die Zukunft. In: Martin H. Jung (Hg.), Peter Walter (Hg.): Theologen des 16. Jahrhunderts. Humanismus, Reformation, Katholische Erneuerung. Eine Einführung. Darmstadt 2002, S. 172–190. Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. 2–4. München 1993–1999. Hildegard Waach: Franz von Sales. Das Leben eines Heiligen. 3. Aufl. Eichstätt 1986.

13. Dreißigjähriger Krieg (1618–1648) und Westfälischer Friede (1648)

Passauer Vertrag und Augsburger Religionsfriede bescherten Deutschland die mit 66 Jahren bis vor kurzem längste Friedensperiode seiner Geschichte, aber 1618 kam es zum Krieg. Die nicht mit Toleranz, sondern mit aggressiv konkurrierenden Wahrheitsansprüchen einhergehende, Deutschland und halb Europa erfassende Kirchenspaltung führte in Verbindung mit machtpolitischen Interessen und Rivalitäten zu einer gewaltsamen Entladung. Dreißig Jahre lang wurde gekämpft, und am Schluss gab es keinen Sieger. Der Friedensschluss von 1648 bestätigte den Augsburger Religionsfrieden und hatte für die europäische Geschichte eine ebenso große Bedeutung wie dieser.

Konfessionalisierung, Rekatholisierung, Gegenreformation In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts standen sich ein durch den Religionsfrieden gesicherter Protestantismus und ein durch das Konzil gefestigter Katholizismus gegenüber. Zunächst konnte der Protestantismus seinen Siegeszug fortsetzen, aber dann zeitigten die Katholische Reform und das Engagement der Jesuiten Früchte, und es gelang dem Katholizismus evangelisch gewordene Regionen zurückzugewinnen. Der Prozess der Zurückdrängung des Protestantismus wird traditionell als Gegenreformation bezeichnet. In manchen Regionen erstreckte sie sich bis in das 18. Jahrhundert und verbuchte Erfolg um Erfolg. Beispiele vollendeter Gegenreformationen finden sich unter anderem in den Bistümern Münster, Fulda, Würzburg und Basel, im Königreich Polen sowie im Bistum Salzburg. Überzeugungsarbeit und Bildungsanstrengungen spielten dabei ebenso eine Rolle wie Gewalt. Die für den katholischen Glauben wiedergewonnenen Gebiete wurden entschieden und konsequent nach den in Trient definierten kirchlichen Normen umgeprägt. Das öffentliche und das privaten Leben der Menschen wurde in einer Weise, wie es das Mittelalter nicht gekannt hatte, den Maßstäben der Konfession unterworfen. Für diesen Formierungsprozess hat sich in der neueren Geschichtsschreibung der Begriff Konfessionalisierung eingebürgert. Die Gegenreformation ging einher mit einer katholischen Konfessionalisierung, der gleiche Sachverhalt lässt sich aber auch und deutlich frü-

Gegenreformation

Konfessionalisierung

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Barockscholastik, romanische Mystik, Jansenismus

Württemberg

Braunschweig

Osnabrück

her schon in lutherischen und in reformierten Gebieten beobachten. Man spricht dann von lutherischer und von reformierter Konfessionalisierung. Eine lutherische Konfessionalisierung lässt sich gut am Herzogtum Württemberg beschreiben. Das Territorium wurde im Jahre 1534 durch seinen Landesherrn, Herzog Ulrich, dem evangelischen Glauben zugeführt. Durch das Instrument der Visitation sowie durch eine Kirchenordnung wurde das Land rasch und geschlossen umgewandelt. Auch die Universität Tübingen wurde reformiert. 1547/48 kam es zu einem Einschnitt, als in der Folge des Schmalkaldischen Kriegs spanische katholische Truppen das Land besetzten. 1552 fand diese Episode ein Ende. Das Land wurde wieder evangelisch. Schlusspunkt der Reformation und zugleich Ausgangspunkt der konsequenten evangelischen Konfessionalisierung war die Große Württembergische Kirchenordnung von 1559. Ein bedeutender Faktor waren die energischen Bemühungen der Regenten zur Verbesserung des Bildungssystems. Viele Klöster Württembergs wurden in evangelische Schulen umgewandelt. Im Herzogtum Braunschweig war die Reformation zunächst in einigen Städten verankert. Der Landesherr widersetzte sich ihr. 1542 griff der Schmalkaldische Bund ein und vertrieb den Regenten. Visitationen wurden veranlasst und eine Kirchenordnung eingeführt. 1568 machte ein neuer Herzog, Julius, die Reformation zu seiner Sache und führt sie erfolgreich zum Ziel. Ein wichtiger Markstein war die Gründung der Universität Helmstedt im Jahre 1576 und die Zusammenstellung verbindlicher Lehr- und Bekenntnistexte (Corpus doctrinae Julium) im gleichen Jahr. Zur Festigung des evangelischen Glaubens wurden auch Lieder und Katechismen eingesetzt. 1569 wurde der württembergische Theologe Basilius Sattler nach Wolfenbüttel berufen und engagierte sich zuletzt als Oberhofprediger (von 1586 an) und Generalsuperintendent (von 1589 an) bis zu seinem Tod im Jahre 1624 für die braunschweigische lutherische Kirche. Auch im Fürstbistum Osnabrück hatten die reformatorischen Ideen, schon 1521, Fuß gefasst. 1542/43 kam es, wie zeitgleich in Köln, zu dem reichsweit ansonsten außergewöhnlichen Projekt einer fürstbischöflichen Reformation: Bischof und Rat gemeinsam führten in der Hauptstadt des geistlichen Staates die Reformation ein. Der evangelische Glaube verbreitete sich rasch. Als Folge der Niederlage der Evangelischen im Schmalkaldischen Krieg musste die reformatorische Umgestaltung jedoch bereits 1548 wieder gestoppt werden. Die Evangelischen ließen sich allerdings nicht mehr zurückdrängen und es kam zu einer reichsweit gesehen sehr seltenen konfessionellen Koexistenz. Eine Konfessionalisierung fand nicht statt und es entwi-

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Konfessionalisierung, Rekatholisierung, Gegenreformation

ckelten sich sogar konfessionelle Mischformen im kirchlichen Leben. Erst in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, anhebend mit dem Jahr 1623, begann eine katholische Konfessionalisierung. Marksteine waren die Gründung eines Jesuitengymnasiums und einer Jesuitenuniversität. Doch die schwedischen Truppen beendeten die Episode bereits im Jahr darauf wieder. Die bikonfessionellen Verhältnisse setzten sich fort. Eine erfolgreiche katholische Konfessionalisierung kann am Beispiel des Fürstbistums Münster betrachtet werden. Hier hatte in den Jahren 1532–1535 die Reformation in Form der Täuferherrschaft Fuß gefasst. Nach deren gewaltsamer Niederschlagung durch eine gemeinsame Militäraktion evangelischer und katholischer Mächte folgten zunächst Jahre der Unsicherheit. Der evangelische Glaube hatte noch immer starken Rückhalt in der Stadt und in den Stiftslanden. Erst Ende des 16. Jahrhunderts konsolidierte sich der römische Katholizismus. 1588 wurden die Jesuiten in die Stadt gerufen. Schritt für Schritt wurde das Territorium jetzt rekatholisiert. Hierbei spielten Visitationen eine wichtige Rolle. Die konfessionelle Geschlossenheit wurde aber erst in der Mitte des 17. Jahrhunderts wieder erreicht. Damit kam die katholische Konfessionalisierung zu ihrem Abschluss. Vorreiter der Gegenreformation, Träger der Katholischen Reform und Motor der Konfessionalisierung waren in erster Linie die Jesuiten und für die Kernländer der Reformation, Deutschland und Schweiz, spielte ein Mann eine wichtige Rolle, der als der erste deutsche Jesuit in die Geschichte eingegangen ist: Petrus Canisius. Geboren wurde er 1521 im niederländischen Nijmegen, exakt an dem Tag, als über Luther die Reichsacht verhängt wurde. Er studierte in Köln, trat 1543 in den Orden ein und wurde 1546 zum Priester geweiht. Er spielte eine Rolle bei der Niederschlagung der Kölner Reformation, beteiligte sich am Trienter Konzil und besuchte verschiedene Religionsgespräche. Dadurch stand er im Kontakt zu den Mächtigen in Kirche und Reich. Von großer Wirkung waren seine Katechismen,1 die teilweise hunderte von Auflagen erlebten. Neben einer Professur in Ingolstadt wirkte er von 1556 an als Provinzial der oberdeutschen Jesuitenprovinz und war damit zuständig für Elsass, Schweiz, Süddeutschland, Österreich, Böhmen und Polen. Hier gründete er zahlreiche Jesuiten-Schulen und 1564 in Dillingen die erste Jesuiten-Universität Deutschlands, ferner 1582 ein Kolleg in Freiburg (Fribourg) in der Schweiz. Dort ist er 1597 gestorben. 1864 wurde er

1 Auszüge: KTGQ 3, S. 264–267.

Münster

Petrus Canisius

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Barockscholastik, romanische Mystik, Jansenismus

Congregatio Germanica

Inquisition Index

Kalenderreform

selig gesprochen und wenig später, 1897, vom Papst als „zweiter Apostel Deutschlands“ tituliert. Mit seiner Heiligsprechung 1925 verbunden war seine Erhebung zum „Kirchenlehrer“. 1568 gründete Rom eine spezielle Einrichtung zur Unterstützung der Arbeit der Jesuiten im Reich, die Congregatio Germanica, eine Kardinalskongregation, das heißt eine ständige, aus einer bestimmten Anzahl von Kardinälen zusammengesetzte Behörde der Kurie. Diese Gründung zeigte den hohen Stellenwert, den die deutsche Angelegenheit nun für Rom hatte. Schon 1542 war die im Mittelalter zur Ketzerverfolgung eingerichtete Inquisition neu organisiert und 1557 ein offizielles Verzeichnis („Index“) verbotener Bücher eingeführt worden. Radikale Protagonisten der innerkirchlichen Erneuerung wurden verfolgt, der italienische Evangelismus der Häresie verdächtigt. Auch die keimenden modernen Naturwissenschaften bekamen den neuen römischen Rigorismus zu spüren. Kopernikus’ Hauptwerk kam 1616 auf den Index und Galileo Galilei wurde 1633 zum Widerruf der kopernikanischen Lehren gezwungen. Auf dem Scheiterhaufen landete 1600 in Rom der Dominikaner und Philosoph Giordano Bruno, der im Anschluss an Kopernikus gelehrt hatte, das Weltall sei unendlich und berge in sich nicht nur eine, sondern viele Welten. Roms vielfältige Bemühungen waren von Erfolg gekrönt. Es gelang sowohl die moderate innere Erneuerung der katholischen Kirche als auch die äußere Rückgewinnung katholischer Gebiete und ihre Konsolidierung. Dies führte um 1600 zu einem katholischen Übergewicht im Reichstag. Das Blatt hatte sich, ein halbes Jahrhundert nach Abschluss der Reformationsepoche, wieder gewendet. Deutschland war ein tief von Konfessionen geprägtes und konfessionell gespaltenes Land. Landesgrenzen waren zugleich Konfessionsgrenzen und wurden zu Sprachgrenzen. Die Menschen lebten getrennt. Die Kontakte über die Konfessionsgrenzen hinweg waren auf ein Minimum reduziert. Von 1582 an lebten Evangelische und Katholiken zudem nach einem unterschiedlichen Kalender. Papst Gregor XIII. hatte, ohne konfessionalistische Hintergedanken, eine astronomisch und mathematisch wohl begründete, zehn Tage aufholende Kalenderreform erlassen, indem er auf den 4. Oktober 1582 den 15. folgen ließ, der sich die evangelischen Obrigkeiten aber aus konfessionalistischer Enge widersetzten. Es sollte regional teilweise über hundert Jahre dauerten, bis die evangelischen Machthaber einlenkten und zugestanden, dass der julianische Kalender überholt und der gregorianische der bessere war. Das evangelische Deutschland übernahm den neuen Kalender im Jahre 1700. In der Schweiz jedoch verzögerte sich die Anpassung mancherorts bis 1812.

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Der Dreißigjährige Krieg und seine Folgen

Der Dreißigjährige Krieg und seine Folgen Der Krieg begann im Jahre 1618 in Böhmen. Der böhmische König, der Habsburger Ferdinand II., machte sich Verletzungen des sogenannten Majestätsbriefs schuldig, den sich der protestantische böhmische Adel erst 1609 erkämpft hatte, und der Adel reagierte mit einem Aufstand. Zwei kaiserliche Räte und einer ihrer Sekretäre wurden in Prag von Protestanten aus dem Fenster des Hradschin – der Prager Burg – geworfen, was an den Beginn der Hussitenkriege im Jahre 1419 (1. Prager Fenstersturz) erinnerte. Der Adel wählte im August 1619 den evangelischen Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz zum neuen König. Doch Ferdinand, der im selben Jahr zum Kaiser gewählt wurde, besiegte den „Winterkönig“ bereits im Jahre 1620 und machte sich mit aller Kraft an die Rekatholisierung nicht nur Böhmens, sondern auch der Rheinpfalz und der Oberpfalz. Die berühmte Heidelberger Bibliothek, Palatina (lat., „Die Pfälzische“) genannt, wurde nach Rom geschafft. Der wichtigste katholische Feldherr war der in Belgien geborene und in Spanien geschulte Generalleutnant Johann Tserclaes Graf von Tilly. Die kaiserlichen Truppen wendeten sich auch nach Norddeutschland, wo zwar der evangelische dänische König Christian IV. zu Gunsten der Protestanten eingriff, aber ebenfalls rasch besiegt wurde. 1629 erließ der auf ganzer Linie erfolg- und siegreiche Kaiser ein Restitutionsedikt, in dem er den Evangelischen befahl, alle seit dem Passauer Vertrag 1552 eingezogenen geistlichen Güter zurückzugeben (lat.: restituere). Das 1555 den konfessionellen Minoritäten eingeräumte Auswanderungsrecht wurde neu interpretiert als Verpflichtung, die Heimat zu verlassen. Die in Deutschland zwischenzeitlich stark expandierten Reformierten rechnete das Edikt den rechtlosen „Sekten“ zu. Das den Protestanten entzogene Kirchengut wurde vielfach den Jesuiten zugespielt, die es für die Gründung gegenreformatorisch engagierter Bildungsinstitutionen verwendeten. In dieser für die Protestanten schwierigen Situation griff Gustav II. Adolf von Schweden in den Krieg ein, der zuvor schon siegreich gegen Dänemark, Russland und Polen gekämpft hatte und nicht zuletzt die schwedische Machtstellung im Ostseeraum weiter ausbauen wollte. Die deutschen Protestanten feierten Gustav Adolf, der im Juli 1630 auf Usedom landete, als Werkzeug Gottes und neuen Josua. Der Schwede, dessen Soldaten vor Schlachten betend auf die Knie fielen, errang große Erfolge und gelangte bis nach Süddeutschland. Spektakulär verlief die Schlacht bei Breitenfeld am 17. September 1631, in der Nähe von Leipzig, bei der sich die Schweden neuartiger Kriegstaktiken bedienten. Am Ende des Kampftages lagen 7000

Fenstersturz

Graf von Tilly

Restitutionsedikt

Gustav Adolf

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Barockscholastik, romanische Mystik, Jansenismus

Frankreich

Plünderungen

tote und verwundete kaiserliche Soldaten auf dem Schlachtfeld. Doch im November 1632 fiel der unter Anspielung auf Jes 41,25 als der „Held aus dem Norden“ gefeierte König in der Schlacht bei Lützen in Sachsen. Die Protestanten waren entsetzt und bestürzt und gedachten seiner in zahlreichen Leichenpredigten. Im gleichen Jahr, schon im Frühjahr, war auch Tilly nach einer Verwundung in Ingolstadt gestorben. Die kriegerischen Auseinandersetzungen unter Beteiligung Schwedens gingen nach dem Tod Gustav Adolfs weiter. 1635 mischte sich auch das katholische Frankreich ein, und der Krieg nahm damit endgültig europäische Dimensionen an. Die Schlachten forderten ihre Opfer, aber der Krieg war auch begleitet von Seuchen, Fluchtbewegungen und Hungersnöten. Die Folgen für die Menschen, die Landschaft und die Kultur waren verheerend. Die Truppen plünderten Dörfer, auch Kirchen und Klöster, zerstörten Felder und Städte und vergewaltigten Frauen. Für die Bevölkerung machte es keinen Unterschied, ob kaiserliche oder schwedische Soldaten durchzogen. Katholische und evangelische Kriegsleute verhielten sich in gleicher Weise inhuman gegenüber den einfachen Menschen. In verschiedenen Regionen Deutschlands kam es zur Zerstörung und Entvölkerung ganzer Landstriche. Die Einwohnerzahl Deutschlands reduzierte sich um etwa vierzig Prozent. Die Christen suchten das Geschehen, angeleitet durch Prediger sowie durch Trost- und Erbauungsschriften, religiös zu deuten als göttliche Strafe. Es blühten auch apokalyptische Erwartungen. Im Herzogtum Sachsen-Gotha wurden von 1643 an wöchentlich Bußpredigten und Betstunden abgehalten.

Der Friede von Münster und Osnabrück

Westfälischer Friede

Die am Krieg beteiligten Mächte strebten jedoch von 1640 an nach einer Verhandlungslösung. 1641 wurden konkrete Friedensverhandlungen vereinbart und 1644 tatsächlich aufgenommen. Kaiser Ferdinand III., der seit 1637 regierte, war anders als sein Vorgänger und Vater auf Ausgleich bedacht. Als Verhandlungsort wurde Westfalen gewählt, und zwar die beiden Orte Münster und Osnabrück. 1648 erfolgte der Friedensschluss, der als Westfälischer Friede in die Geschichte einging und bis 1806 im Reich im Rang eines Grundgesetzes stehen sollte. Die wichtigsten Ergebnisse waren die Bestätigung des Religionsfriedens von 1555 und seine Ausdehnung auf die Calvinisten, die dazu reichsrechtlich als Angehörige des Augsburger Bekenntnisses definiert wurden. Als Stichdatum („Normaljahr“) für

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Der Friede von Münster und Osnabrück

die Klärung konfessioneller Besitz- und Machtverhältnisse wurde das Jahr 1624 gewählt. Das 1555 festgelegte Reformationsrecht (ius reformandi) der Landesherren blieb im Prinzip erhalten, wurde aber insofern eingeschränkt, als hinfort konfessionelle Minderheiten geduldet werden sollten. Wenn ein Landesherr seine Konfession veränderte, durfte die Bevölkerung nicht mehr zum Wechsel gezwungen werden, worauf ja Brandenburg schon 1613 verzichtet hatte. Für Reichstage wurden für evangelische und katholische Reichsstände getrennte Verhandlungsgremien vorgeschrieben, die es fortan unmöglich machten, dass eine Konfession die andere überstimmte. Zu den gewichtigen allgemeinpolitischen Entscheidungen des Friedensschlusses zählte die Anerkennung der Unabhängigkeit der Niederlande und der Schweiz. Beide Länder gehörten fortan nicht mehr zum Reich. Aus dem Instrumentum Pacis Osnabrugensis (IPO), dem Friedensvertrag von Osnabrück (1648):

Reformationsrecht eingeschränkt



Den Augsburgischen Konfessionsverwandten, die im Besitz von Kirchen waren, … soll in kirchlichen Dingen der Zustand des Jahres 1624 erhalten bleiben, und den übrigen, die es wünschen werden, soll die Ausübung der Augsburgischen Konfession sowohl öffentlich in Kirchen zu festgesetzten Stunden als auch privat in eigen oder fremden hierzu bestimmten Häusern durch ihre oder benachbarte Diener des göttlichen Wortes freigestellt sein. (Art. IV, 19 IPO) Der im Jahre 1552 zu Passau abgeschlossene Vertrag und der im Jahre 1555 darauf gefolgte Religionsfriede … soll in allen seinen mit einmütiger Zustimmung des Kaisers, der Kurfürsten, Fürsten und Stände beider Religionen angenommenen und beschlossenen Artikeln für gültig gehalten und gewissenhaft und unverletzlich beobachtet werden. … (Art. V, 1 IPO) Auch ist mit einmütiger Zustimmung der kaiserlichen Majestät und aller Reichsstände beschlossen worden, dass sämtliche Rechte und Vergünstigungen, welche sowohl alle anderen Reichssatzungen als besonders der Religionsfriede und dieser öffentliche Vertrag … den katholischen und der Augsburgischen Konfession zugetanen Ständen und Untertanen erteilen, auch denen unter ihnen, die Reformierte genannt werden, zukommen sollen. … (Art. VII, 1 IPO)

Das Jahr 1648 war ein wichtiges Jahr der deutschen und der europäischen Geschichte. Wegen der damals erreichten großen Fortschritte auf dem Gebiet der Toleranz wurde dieses Jahr schon als der eigentliche Beginn der Neuzeit angesehen. Im Text des Friedensvertrags war explizit vom „freien Gewissen“ (lat.: conscientia libera) die Rede. Allerdings ist zu bedenken, dass es eine sehr begrenzte Toleranz war.

Toleranz

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Barockscholastik, romanische Mystik, Jansenismus

Proteste

Osnabrück

alternierende Sukzession

Drei Konfessionen waren akzeptiert und nicht alle auf dem Boden der Reformation entstandenen Kirchen. Wirkliche, umfassende religiöse Toleranz wurde erstmals von 1681 an in der von dem englischen Quäker William Penn gegründeten Kolonie Pennsylvanien in Amerika praktiziert. Viele Menschen, die in Deutschland und Europa wegen ihrer religiösen Haltung verfolgt wurden, wanderten anschließend dorthin aus. Gegen den Frieden und seine Konsequenzen protestierten in Deutschland sowohl einige strenge Lutheraner, insbesondere aus Kursachsen, als auch einige engstirnige Jesuiten. Ersteren missfiel die Gleichstellung der Reformierten, letzteren weiterhin die Tolerierung der Evangelischen überhaupt. Auch der Papst, Innozenz X., protestierte gegen den Vertrag von Münster und Osnabrück förmlich im September 1650. Doch die überwiegende Mehrzahl der Menschen freute sich über den Frieden und feierte ihn. Große öffentliche Feste gab es im Sommer 1650. Fünf Jahre später wiederholten sich die Friedensfeiern anlässlich des hundertsten Jahrestags des Augsburger Religionsfriedens. Wichtige, für die Toleranzgeschichte ebenfalls bedeutsame Beschlüsse betrafen auch einen der beiden Verhandlungsorte selbst, nämlich Osnabrück. In diesem – naturgemäß katholischen – Fürstbistum mit einer überwiegend evangelischen Bevölkerung sollten hinfort nicht nur Protestanten und Katholiken gleichberechtigt nebeneinander leben, sondern auch die Regentschaft sollte im regelmäßigen konfessionellen Wechsel ausgeübt werden. Auf den 1648 regierenden katholischen Fürstbischof hatte ein lutherischer zu folgen und anschließend dann wieder ein Katholik. Diese „alternierende Sukzession“ in der Herrschaftsausübung währte bis 1802. In keinem anderen Territorium Deutschlands gab es eine vergleichbare, auf den konfessionellen Ausgleich bedachte Regelung. Freilich führte die politisch verordnete Toleranz in Osnabrück nicht zu einem toleranten Miteinander der Menschen, sondern das Gegenteil war der Fall: In der Bevölkerung hielten sich scharfe konfessionelle Spannungen.

Krieg als Gericht, Friede als Geschenk, Reform als Konsequenz Als Folge des Krieges und seiner Deutung als göttliches Strafgericht, das zu Buße und Umkehr rufe, wurde in vielen Regionen Deutschlands unabhängig voneinander schon in der Mitte des 17. Jahrhunderts über die Reform von Kirche und Gesellschaft nachgedacht. Die Prediger fragten nach einem erneuerten, Gott wohlgefälligen Leben.

227

Krieg als Gericht, Friede als Geschenk, Reform als Konsequenz

In Straßburg entwickelten die Theologieprofessoren Johann Schmidt, Johann Georg Dorsche und Johann Konrad Dannhauer Reformvorstellungen. Schmidt forderte und förderte eine verstärkte katechetische Unterweisung der Jugend und engagierte sich für die Verbreitung englischer Erbauungsliteratur. Dorsche wollte eine Studienreform und wandte sich gegen den permanenten Streit unter den Theologen. Dannhauer nahm in seiner Ethik puritanische Einflüsse auf und forderte eine strenge Sonntagsheiligung. In eindrücklichen Predigten legte er den Katechismus aus, um die Menschen mit den Grundlagen des christlichen Glaubens und Lebens besser vertraut zu machen. Im Herzogtum Sachsen-Gotha engagierte sich der Landesherr, Ernst der Fromme, für die Erneuerung der Kirche und des gesellschaftlichen Lebens. Der Alltagswandel der Bevölkerung wurde streng kontrolliert, das Schulwesen verbessert und eine neue, mit Erläuterungen versehene Bibelausgabe veranstaltet. Im Herzogtum Württemberg kam es unter der Leitung des lutherischen Theologen Johann Valentin Andreae zu einem Reformschub. Die Menschen sollten besser als zuvor mit der Bibel bekannt gemacht und zu einem sittlichen Leben gedrängt werden. Bei einer Reise nach Genf hatte Andreae die dort übliche Kirchenzucht und Sonntagsheiligung kennen gelernt. Auch die allgemeine Schulpflicht wurde eingeführt, um das Bildungsniveau der Bevölkerung zu heben. Johann Valentin Andreae stammte aus Herrenberg in Württemberg und war der Enkel von Jakob Andreae, der entscheidend zum Zustandekommen der Konkordienformel beigetragen hatte. 1619 verfasste Johann Valentin Andreae in lateinischer Sprache einen utopischen Roman, die Reipublicae christianopolitanae descriptio (Beschreibung der Christenstadt), kurz Christianopolis genannt.2 Es war die erste und blieb lange Zeit die einzige von einem deutschen Lutheraner verfasste Utopie. Romanartig beschrieb er die fiktive Reise aus dem „Reich der Tyrannei“ zur Insel „Caphar Salama“ (Friedensdorf) und den Besuch der darauf gelegenen Republik Christiansburg, wo aus ihrer Heimat vertriebene Lutheraner leben. Die erdachte Christenstadt auf der Insel benutzte Andreae, um zu beschreiben, wie eine vorbildliche christliche Gesellschaft aussehen müsse. Er zeigte, wie die Menschen dort die Einheit von Leben und Lehre, von Glauben und Handeln verwirklichten. Das Thema Bildung war für Andreae besonders wichtig. Alle Kinder beiderlei Geschlechts werden in Christiansburg nach dem sechs-

2 Auszüge: KTGQ 3, S. 243–245.

Straßburg

Ernst der Fromme

Johann Valentin Andreae

Bildung

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Barockscholastik, romanische Mystik, Jansenismus

Kirchenreform

Georg Calixt

Ausgleich der Konfessionen

ten Lebensjahr eingeschult. Die Schulen sind Internate, die Kinder wachsen in einer Gemeinschaft auf. Alle Kinder aller Eltern sind so auf die beste Weise versorgt. Die Speisen sind schmackhaft und gesund, die Betten reinlich, die Kleider sauber. Die Kinder werden regelmäßig gebadet und fleißig gekämmt. Die Beschreibung begleitet Andreae mit einer unverhohlenen Kritik am Schulwesen seiner Gegenwart: „Wie unflätig sind unsere Schulen, wie wüst und ekelhaft Speise und Lager, wie unwirsch und rauhaarig die Lehrer. Das bezeugen alle Kinder mit kläglicher Stimme und Verwünschungen und mit ihrem lebenslang siechem Leib.“ Zur Kirchenreform hatte sich Andreae erstmals 1622 in seinem Theophilus geäußert, einer in Dialogform abgefassten Schrift. In kirchenleitender Stellung versuchte Andreae nach dem Ende der langen Kriegszeit, in Württemberg das Kirchen- und Schulwesen wiederzubeleben. Er trat entschieden ein für eine strenge Kirchenzucht. Die Pfarrer sollten gemeinsam mit der jeweiligen örtlichen Obrigkeit streng über die Sitten der Gemeindeglieder wachen und diese nicht nur durch Worte, sondern auch durch Disziplinarmaßnahmen zur Zucht und zu einem frommen Leben anhalten, insbesondere zur Sonntagsheiligung. Während sich Männer wie Andreae um innerkirchliche und gesellschaftliche Veränderungen bemühten, suchten andere den Ausgleich zwischen den Konfessionen, um künftigen Religionskriegen vorzubeugen. Der wichtigste Repräsentant solcher Ausgleichsbemühungen war der lutherische Theologe Georg Calixt (eigentlich: Kalissen). Er lebte von 1586–1656, stammte ganz aus dem Norden Deutschlands, aus einem kleinen Ort nordwestlich von Flensburg und war Sohn eines Pfarrers. Calixt wurde 1614 Professor an der Universität Helmstedt. Er stand in der Tradition Melanchthons, pflegte die humanistische Philologie, widmete sich dem Studium der Kirchenväter und unternahm Reisen nach England, Holland und Frankreich. Das alles und das Erleben des Dreißigjährigen Krieges brachte ihn auf neuartige theologische Ideen und ließ ihn zum führenden lutherischen Ireniker der Zeit werden. Calixt forderte die Beschränkung der heilsnotwendigen Glaubensartikel (lat.: articuli fundamentales) auf das Dogma der fünf ersten christlichen Jahrhunderte, das allen Konfessionen gemeinsam sei (lat.: consensus antiquitatis, consensus quinquesaecularis). Dadurch sollte ein Ausgleich zwischen den drei Konfessionen möglich werden. Calixt verfolgte ganz konkrete Einigungspläne. 1645 kam es in Polen zu einem evangelisch-katholischen Unionsversuch auf Initiative des Königs. Daran war Calixt beteiligt und hat in Thorn drei

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Literatur

Monate mit verhandelt. Die Pläne sind jedoch gescheitert und hatten auch nie reale Chancen. Wittenberg, die Hochburg des strengen Luthertums, opponierte gegen diese Ideen und erhob gegen Calixt den alten Vorwurf des Kryptocalvinismus und den neuen des Synkretismus. Es kam zu einer Auseinandersetzung, die als synkretistischer Streit in die Geschichte eingegangen ist. Calixt hatte mit seinen Ideen keinerlei Erfolg. Er fand auch nur wenig Anhänger. Er war ein einsamer Vorläufer der ökumenischen Bewegung des 20. Jahrhunderts. Innerevangelische Unionspläne verfolgte von 1633 an auch ein Reformierter, der Schotte John Dury (auch: Durie, Duraeus). Er hatte in Sedan und Leiden studiert. 1630–1633 und 1654–1674 bereiste er Deutschland, Holland und die Schweiz und verhandelte mit dem Ziel eines „evangelischen Generalkonzils“ auf der Grundlage des Vaterunsers, der Zehn Gebote und des Apostolikums. Auch er blieb erfolglos und starb fern seiner Heimat 1680 in Kassel. Weitere, auf Deutschland begrenzte Initiativen, Lutheraner und Reformierte durch Religionsgespräche einander näherzubringen, gab es 1631 in Leipzig, 1661 in Kassel und 1662/63 in Berlin. Sie scheiterten jedoch schon im Keim an der theologischen Unnachgiebigkeit der beteiligten Lutheraner. Literatur Veronika Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens. Die Reformen Herzog Ernsts des Frommen von Sachsen-Gotha und ihre Auswirkungen auf Frömmigkeit, Schule und Alltag im ländlichen Raum (1640–1675). Leipzig 2002 (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 1). Klaus Garber (Hg.), Held, Jutta (Hg.): Der Frieden. Rekonstruktion einer europäischen Vision. Bd. 1–2. München 2001. Martin H. Jung: Toleranz im Dreißigjährigen Krieg. In: Landesgeschichte im Landtag. Hannover 2007, S. 696–701. Thomas Kaufmann: Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur. Tübingen 1998 (Beiträge zur Historischen Theologie 104). Julius Oswald (Hg.), Peter Rummel (Hg.): Petrus Canisius. Reformer der Kirche. Festschrift zum 400. Todestag des zweiten Apostels Deutschlands. Augsburg 1996 (Jahrbuch des Vereins für Augsburgische Bistumsgeschichte 30). Armin Reese: Pax sit Christiana. Die westfälischen Friedensverhandlungen als europäisches Ereignis. Düsseldorf 1988 (Historisches Seminar 9). Wolfgang Reinhard (Hg.), Heinz Schilling (Hg.): Die katholische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposion der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum und des Vereins für Reformationsgeschichte 1993. Münster/Westf. 1995 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 135). Hans-Joachim Müller: Irenik als Kommunikationsreform. Das Colloquium Charitativum in Thorn 1645. Göttingen 2004 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 208). Hans-Christoph Rublack (Hg.): Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Wissen-

synkretistischer Streit

John Dury

&

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Barockscholastik, romanische Mystik, Jansenismus schaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1988. Gütersloh 1992 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 197). Georg Schmidt: Der Dreißigjährige Krieg. 8., durchges. u. aktual. Aufl. München 2010 (Beck’sche Reihe 2005). Wolfgang Seegrün, Gerd Steinwascher: 350 Jahre Capitulatio perpetua Osnabrugensis (1650–2000). Entstehung, Folgen, Text. Osnabrück 2000 (Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen 41). Ernst Walter Zeeden (Hg.): Gegenreformation. Darmstadt 1973 (Wege der Forschung 311).

14. Juden und Christen im 16. und 17. Jahrhundert

Die Einbeziehung der jüdischen und christlich-jüdischen Geschichte in Darstellungen der Kirchen-, Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte ist bislang nicht selbstverständlich. Sie ist aber geboten, und zwar nicht nur, weil das Christentum eine Religion unter Religionen ist und im Grunde als Teil der die ganze Geschichte übergreifenden und die ganze Welt umgreifenden Religionsgeschichte betrachtet werden muss, sondern auch, weil das Judentum die Religion ist, in der das Christentum selbst wurzelt, und weil es eine Religion ist, mit der das Christentum während seiner ganzen Geschichte und in nahezu allen Weltgegenden zu tun hatte. Hinzu kommt, dass die Schoah – die Ermordung von rund sechs Millionen Juden in der Zeit des Nationalsozialismus, das mit Abstand gewaltigste Menschheitsverbrechen der Geschichte – gerade die Kirchen und die Theologie in Deutschland dazu zwingt, nach der eigenen Mitverantwortung zu fragen. Hat die kirchliche und theologische Judenfeindschaft dazu beigetragen, dass es zur Schoah kommen konnte? Die Nationalsozialisten jedenfalls beriefen sich auf Luther.

Erwartungen der Juden an die Reformation Im späten Mittelalter waren die Juden aus vielen Territorien und Städten des Reiches vertrieben worden. Eine Welle von Vertreibungen erstreckte sich bis ins frühe 16. Jahrhundert hinein: Thüringen 1401, Trier 1418, Österreich 1421, Köln 1424, Bern 1427, Sachsen 1432, Zürich 1436, Konstanz 1440, Augsburg 1440, Bayern 1442/ 1450, Würzburg 1453, Mainz 1470, Schaffhausen 1472, Bamberg 1475, Passau 1478, Esslingen 1490, Mecklenburg 1492, Magdeburg 1493, Schwarzburg 1496, Nürnberg 1498, Württemberg 1498, Salzburg 1498, Ulm 1499, Brandenburg 1510, Ansbach-Bayreuth 1515, Regensburg 1519, Hessen 1524. In Regensburg war Balthasar Hubmaier, der spätere Täuferführer, verantwortlich für die Vertreibung der Juden aus der Stadt und die Zerstörung ihrer Synagoge und in Hessen lastete die Verantwortung auf dem Landgrafen Philipp, der im Jahr der Vertreibung bereits ein Anhänger der Reformation war. In Straßburg lebten schon seit 1388 und in Basel seit 1397 keine Juden mehr. Aus Wittenberg waren sie mehrfach, zuletzt 1440, vertrieben worden.

Vertreibungen

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Juden und Christen im 16. und 17. Jahrhundert

judenfreundliche Signale

Kontaktaufnahmen

Diese Schreckensjahre im Hintergrund beobachteten einige gebildete Repräsentanten des europäischen Judentums die Reformation in Deutschland mit hoffnungsvoller Aufmerksamkeit, ja mit erwartungsvollem Wohlwollen. Die Juden in Deutschland rechneten sich zumindest eine Verbesserung ihrer Lage aus und einige hegten sogar messianische Erwartungen. Juden sahen deutliche Gemeinsamkeiten zwischen sich und den Reformatoren: die Zentralstellung der Bibel im Gottesdienst, die Ablehnung der Heiligenverehrung, die Verurteilung des Bilderkults, die Mündigsprechung der Laien. Auch die Entmachtung des privilegierten Klerikerstandes und die Distanzierung vom Mönchtum ließ die Reformation als judaisierende Form des Christentums erscheinen. Juden hegten die Erwartung, Christen würden sich nunmehr dem jüdischen Glauben anschließen und Luther selbst schien Einzelnen ein heimlicher Jude zu sein. Eine Nähe zum Judentum wurde der Reformation auch von ihren Gegnern unterstellt. Verschiedene Altgläubige gaben den Juden sogar die Schuld an der Reformation und Luther haben sie als Halbjuden diffamiert. Von Luther selbst kamen 1523 judenfreundliche Signale. In seiner Schrift Dass Jesus Christus ein geborner Jude sei forderte er, die Juden nicht als Hunde und Unmenschen zu behandeln, sondern sie „freundlich anzunehmen“, ihnen Liebe zu erweisen und sie unter Christen wohnen zu lassen und sie nicht von Handel und Gewerbe auszuschließen. Sogar Ehen zwischen Juden und Christen wollte er zulassen. Luther verband diese Zugeständnisse mit der Hoffnung, so würden sich vielleicht einige Juden bekehren und zu Christen werden, natürlich zu evangelischen Christen. Die Nachrichten über Luther und die Reformation verbreiteten sich unter den Juden schnell und weit. Sogar Gelehrte, die in Jerusalem lebten, wussten durch Briefe und mündliche Berichte Bescheid. Juden, die von den Ereignissen gehört hatten, beschränkten sich aber nicht darauf, aus der Ferne zu beobachten, sondern es kam zu Kontaktaufnahmen. Wie viele interessierte Christen reisten auch Juden nach Wittenberg, um Luther kennen zu lernen und zu sprechen. Luther selbst berichtet: „Drei gelehrte Juden kamen zu mir, in der Hoffnung, sie würden einen neuen Juden an mir finden, weil wir hier zu Wittenberg Hebräisch anfingen zu lesen.“ Dieser Besuch hat um 1526 stattgefunden und ist die einzige sicher bezeugte direkte Begegnung Luthers mit Juden. Sie endete allerdings mit einem Eklat, nachdem Luther mit ihnen über die Auslegung des Alten Testaments gestritten und sie ihm erklärt hatten, sie würden ihren Rabbinern mehr trauen als ihm. Andere Juden suchten brieflich Kontakt zu Luther und glaubten

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Erwartungen der Juden an die Reformation

wie die drei Besucher, in Luther einen Christen zu finden, der ihnen wohl gesonnen sei. Zwischen 1519 und 1521 schrieben von der Ausweisung bedrohte Regensburger Juden einen Brief an Luther, in dem sie mittels einer Abschrift des Psalms 130 „Aus tiefer Not“ Luthers Blick auf ihre traurige Lage zu lenken versuchten. Über eine Antwort des Reformators ist nichts bekannt. Eine briefliche Kontaktaufnahme gab es 1537 von Seiten Josephs von Rosheim aus dem Elsass. Er hatte seit 1529 unter der Judenschaft des Reichs eine Führungsposition inne und wirkte als deren „Befehlshaber“. Er besuchte die Reichstage, um für die Juden und ihre Interessen einzutreten. Auch Josel, wie Joseph allgemein genannt wurde, begegnete dem Reformationsgeschehen mit Interesse und Wohlwollen. Mehrmals besuchte er in Straßburg die Predigten des Reformators Capito, und zwar nicht, weil er erwog, Christ zu werden, sondern weil er sich für die Botschaft der Reformation interessierte. 1537 wandte sich Josel, unterstützt von Capito und dem Rat Straßburgs, brieflich an Luther mit der Bitte, er möge beim sächsischen Kurfürsten, Luthers Landesherrn, für die Juden eintreten. Dieser hatte nämlich im Jahr zuvor, 1536, angeordnet, den Juden jeden Aufenthalt im Kurfürstentum, auch die Durchreise, zu verbieten. Luther lehnte ab und schrieb Josel einen zynisch-freundlichen Brief, in dem er überhaupt nicht auf das konkrete Anliegen einging, sondern die von Josel gar nicht angesprochene jüdische Position zur Messiasfrage zurückwies und mit umständlichen Worten erklärte, weil ein Gunsterweis seinerseits den Juden nur zur weiteren „Verstockung“ gereichen, sie also nur noch fester machen würde in ihrer Ablehnung Christi, sollten sie ihr Anliegen besser über andere Mittelsmänner vorbringen. Luther verweigerte mithin aus theologischen Gründen jede Unterstützung. Von seiner 1523 formulierten Haltung war Luther also inzwischen abgerückt. Mehr Erfolg hatte Josel in einer ähnlichen Angelegenheit bei Melanchthon, mit dem er 1539 in Frankfurt am Main am Rande einer Fürstenversammlung ein Gespräch führte. Der Jude konnte erreichen, dass sich der Reformator für die Juden Brandenburgs einsetzte und den Kurfürsten Joachim I. dazu bewog, dass die Tötung und die Vertreibung von Juden im Jahre 1510 als unrechtmäßig erkannt und die Juden rehabilitiert und in Brandenburg wieder zugelassen wurden. Die Erwartungen der Juden an die Reformation wurden in vielerlei Hinsicht enttäuscht. Die Reformation war kein judaisierendes Christentum, Luther war kein heimlicher Jude, die Reformation tat nichts für die Verbesserung der jüdischen Lebensumstände, die erhoffte Zeitenwende trat nicht ein. Die Kirchen der Reformation erwiesen

Joseph von Rosheim

Rehabilitation in Brandenburg

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Juden und Christen im 16. und 17. Jahrhundert

sich zum Bedauern vieler Juden nicht als judenfreundlicher als die alte Kirche. Als Luther 1546 gestorben war, wünschte ihm Josel, er möge „mit Seele und Leib“ in der Hölle schmachten. Der Grund für diese Verwünschung waren Luthers Judenschriften der vierziger Jahre.

Luthers Judenfeindlichkeit und ihre Folgen

Brief wider die Sabbater

Von den Juden und ihren Lügen

Von 1538 an trat Luther mit judenfeindlichen Schriften an die Öffentlichkeit. Anlass gab der sogenannte Sabbatismus in Mähren, eine Täuferbewegung, die neben dem Sonntag als Auferstehungstag den Samstag als Sabbat, als alttestamentlich-jüdischen Ruhetag, feierte. Luther witterte Juden am Werk und schrieb einen Brief wider die Sabbater, nachdem er vernommen hatte, dass sich Christen in Mähren beschneiden ließen und die jüdischen Ritualgesetze beachteten. Er fürchtete, die mährischen Christen würden der jüdischen Gesetzlichkeit erliegen. Luther bestritt die Gültigkeit des jüdischen Gesetzes mit theologischen, historischen und exegetischen Argumenten. Das biblische Sabbatgebot interpretierte er nicht als Verpflichtung zum Ruhen, sondern als Aufforderung zum Lehren und Hören von Gottes Wort. Auf die Luther-Schrift gab es eine nicht erhalten gebliebene jüdische Reaktion, die ihn zu einer neuen, weitaus schärferen Schrift veranlasste. Um den Jahreswechsel 1542/43 schrieb er Von den Juden und ihren Lügen. Luther distanzierte sich pauschal und gänzlich vom Judentum, indem er sagte, er wolle von den Juden nichts lernen, sie auch nicht bekehren und mit keinem mehr etwas zu tun haben. Aus seiner Sicht stand fest, „dass die Juden gewisslich von Gott verworfen und nicht mehr sein Volk sind, er auch nicht mehr ihr Gott sei.“ Man solle mit Juden deshalb nicht über den Glauben diskutieren. Es gebe für sie keine Hoffnung, bis sie durch ihr Elend mürbe würden und so gezwungen würden, sich zu Jesus zu bekennen. „Musst du oder willst du mit ihnen reden, so sprich nicht mehr, denn also: Hörest du, Jude, weißt du auch, dass Jerusalem und eure Herrschaft samt dem Tempel und dem Priestertum zerstört ist, nun über 1460 Jahre?“ Die Faktizität der Geschichte wurde für Luther zum schlagenden Argument gegen die jüdische Religion. Zur jüdischen Messiashoffnung erklärte er: „Wenn mir Gott keinen anderen Messias geben wollte, als wie die Juden ihn begehren und hoffen, so wollte ich viel, viel lieber eine Sau, denn ein Mensch sein.“ Luther übte Kritik am jüdischen „Hochmut“ und erhob den Vorwurf, Juden stießen Lästerungen gegen Christus und die Christen aus, würden Brunnen

Luthers Judenfeindlichkeit und ihre Folgen

vergiften und Morde begehen. Sie seien Wucherer, die im Land zu haben ein Unglück sei wie eine Pest. Luther machte in seiner Schrift konkrete Vorschläge, wie man gegen die Juden vorgehen solle. Er forderte die Niederbrennung der Synagogen und die Vernichtung der jüdischen Wohnhäuser, die Einziehung der Gebetbücher und der Talmudschriften, Lehrverbot für die Rabbiner, Reisebeschränkungen und ein Verbot der Geldleihe gegen Zinsen. Die Obrigkeiten sollten den Juden Gold und Silber abnehmen und sie zur körperlichen Arbeit zwingen oder aus dem Lande weisen. Die Arbeit von Christen am Sabbat in jüdischen Haushalten müsse ebenfalls untersagt werden. Noch im selben Jahr 1543 folgte eine weitere Schrift Luthers: Vom Schem Hamephorasch und vom Geschlecht Christi. Ausgangspunkt waren nun die antichristlichen jüdischen Erzählungen, die Jesus als Zauberer darstellten, der den „verborgenen Gottesnamen“ gebraucht und missbraucht habe. Luther wollte die Christen erneut vor den Juden „warnen“ und verglich sie mit „den Teufeln selbst“. Er hatte keine Hoffnung, sie zu bekehren, und bezeichnete die aus Röm 11 abgeleitete, auf das ganze Volk bezogene endzeitliche Bekehrungshoffnung als einen „Wahn“. Paulus habe mit „ganz Israel“ die Kirche aus einigen Juden und vielen Heiden gemeint. Die Bekehrung einzelner Juden hielt Luther für möglich, glaubte aber, die Getauften würden weiter ihren jüdischen Charakter bewahren und häufig vom christlichen Glauben wieder abfallen. Wolle man sicher gehen, dass die Getauften dem neuen Glauben treu blieben, so müsste man sie bei der Taufe gleich ertränken, bemerkte Luther voller Sarkasmus. Wieder redete er außerdem der Vertreibung das Wort, indem er konstatierte, dass Gottes Zorn auf sich ziehe, wer Juden im Lande dulde. Sie seien „giftige, böse Würmer“. Luther sprach von den „SauJuden“ in ihren „Sau-Schulen“. Dabei hatte der Reformator die an der Wittenberger Stadtkirche, seiner Predigtkirche, an der Außenfassade angebrachte Judensau vor Augen, ein mittelalterlich-antijüdisches Spottbild, das Juden zeigte, die an den Zitzen eines Schweins saugten und seinen After küssten. Zwischen Luthers Positionen von 1523 und diesen Äußerungen liegen Welten. Über die Gründe für den Umschwung des auch in anderen Fragen wandlungsreichen Mannes wurde viel nachgedacht. Neben Enttäuschung über nicht eingetretene Judenbekehrungen und Wut über die sich im evangelischen Lager ausbreitende neue „Gesetzlichkeit“ wurden Krankheiten Luthers und eine sich damit verändernde Persönlichkeitsstruktur vermutet. Gleichzeitig wurde darauf hingewiesen, dass sich antijüdische Äußerungen schon beim jungen Luther finden, man also nicht von zwei Phasen und einem

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Vom Schem Hamephorasch

Gründe für den Umschwung

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Juden und Christen im 16. und 17. Jahrhundert

Umschwung, sondern von Kontinuität und einem – wie auch immer begründeten – begrenzt judenfreundlichen Intermezzo sprechen müsse. Luther war 1505–1525 Bettelmönch, Augustiner-Eremit. Die Bettelorden waren im späten Mittelalter die Speerspitze des Antijudaismus. Luther hatte also möglicherweise schon in seinem Erfurter Kloster seine feste und bleibende antijüdische Prägung empfangen. Abb. 12: Die Wittenberger Judensau, Kupferstich (unbek. Die Luther-Forschung hat die BedeuKünstler, 1600) der an der Stadtkirche angebrachten tung von Luthers Judenschriften über Skulptur eine lange Zeit hinweg heruntergespielt. Die mit Luther befassten Theologen sprachen von einer zeitbedingten sprachlichen Schärfe, die nicht überbewertet werden dürfe, differenzierten zwischen einem angeblich nicht so schlimmen religiösen Antijudaismus und einem angeblich viel schlimmeren rassistischen Antisemitismus und behaupteten, wirkungsgeschichtlich betrachtet seien Luthers Schriften nebensächlich gewesen. Diese apologetische Sicht der Dinge ließ sich jedoch nicht halten. Neuere Forschungen zeigten, dass nicht alle Gelehrten des frühen 16. Jahrhunderts judenfeindlich eingestellt waren und sich einer aggressiven Sprache bedienten, dass die Verbindungslinien vom Antijudaismus zum Antisemitismus groß und deutlich waren und dass Luthers Schriften gelesen und in handfesten praktischen Konflikten verwendet wurden. Zu den negativen Auswirkungen der Reformation auf die Juden gehörte eine Forcierung der Vertreibungsidee. Die Reformation hat nicht nur die spätmittelalterlichen Judenvertreibungen bestätigt, sonVertreibungen dern auch zu neuen Vertreibungen geführt aus Städten und Territorien, in denen noch Juden lebten und die sich der Reformation anschlossen. Durch die anerkannte Lehrautorität Luthers wurden die Möglichkeiten zur Begründung antijüdischer Politik um einen Aspekt reicher. In den Kirchen, die in Deutschland aus der Reformation hervorgegangen waren, herrschte eine judenfeindliche Grundstimmung. Gegen Juden gerichtete Predigten evangelischer Geistlicher sind im ausgehenden 16. und im frühen 17. Jahrhundert bezeugt. Die Aversion gegen die Juden wurde durch Publikationen geschürt wie den Jüden-Feind des Gießener Pfarrers Georg Nigrinus, 1570 erschienen, und die von Nikolaus Selnecker 1577 vorgenommene Neuherausgabe von Luthers Judenschriften. In Frankfurt am Main wurden

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Philosemiten in Holland und England

1613 und 1617 Luthers antijüdische Schriften neu herausgegeben. Dies koinzidierte mit der Vertreibung der Juden aus dieser Stadt und aus dem nahe gelegenen Worms. Auch in den evangelischen Herzogtümern Braunschweig-Wolfenbüttel und Württemberg äußerte sich die judenfeindliche Stimmung in Vertreibungsforderungen und Vertreibungsaktionen sowie in Unterdrückungsmaßnahmen unterschiedlicher Art. Im Jahre 1611 bat das lutherische Hamburg die theologischen Fakultäten Jena und Frankfurt/Oder um Gutachten zur Frage der Judentolerierung. In Hamburg waren viele aus Portugal geflohene Juden eingewandert. Jena und Frankfurt befürworteten die Tolerierung. Johann Gerhard wollte sie jedoch an strenge Auflagen knüpfen. Neue Synagogen zu errichten, sollte ihnen nicht erlaubt sein, nur baufällige sollten sie reparieren dürfen. Jüdische Riten könnten nur genehmigt werden, falls sie die christliche Religion nicht verletzten. Ferner hielt es Gerhard für legitim, die Juden zum Besuch christlicher Predigten zu zwingen und ihnen ihre religiösen Bücher wegzunehmen. Verglichen mit Luther war das eine moderate Haltung. Gerhard war kein Antisemit. Ausgesprochene Judenfreunde – Philosemiten – gab es in der altprotestantischen Orthodoxie in Deutschland keine, wohl aber in Holland und England.

Tolerierung

Philosemiten in Holland und England In den zum Königreich Spanien gehörenden Niederlanden begannen die überwiegend evangelisch geprägten nördlichen Provinzen unter der Führung der Provinz Holland im Jahre 1568 einen Unabhängigkeitskrieg, der bis 1648 andauerte, als die Republik der Vereinigten Niederlande durch die Friedensverträge von Münster und Osnabrück die Souveränität erlangte. Schon vor dem Erreichen der Unabhängigkeit wurden die kämpfenden Provinzen zu einem Hort religiöser Freiheit und zu einem Zentrum der Gelehrsamkeit. Seit 1578 fanden hier christliche Minderheiten wie die beinahe überall verfolgten Täufer und die verfemten Sozinianer ebenso Zuflucht wie aus Spanien oder anderen Ländern vertriebene Juden. In den Niederlanden lebten ferner späte Vertreter des Humanismus und frühe Vertreter der Aufklärung. 1530 begann die Einwanderung von Marranen, wie zwangsgetaufte spanische und portugiesische Juden und ihre Nachfahren genannt wurden. Zunächst ließen sie sich vorwiegend in Antwerpen nieder. Nach Kriegsbeginn zogen sie in den Norden nach Holland, vor allem nach Amsterdam, wo sie als „portugiesische Juden“ prob-

Marranen

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Juden und Christen im 16. und 17. Jahrhundert

Hugo Grotius

Manasse ben Israel

Mischna

Modell des Tempels

lemlos wieder ihren jüdischen Glauben praktizierten und sich als Kaufleute betätigten. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurden erneut Tausende Marranen aus Spanien und Portugal vertrieben, und viele von ihnen wanderten wieder nach Holland. Von 1630 an stießen zu diesen sephardischen Juden aschkenasische aus Mittel- und Osteuropa hinzu. Das jüdische Leben in den Niederlanden blieb von Diskriminierungen und Verfolgungen verschont. Zum wichtigsten städtischen Zentrum der Juden entwickelte sich Amsterdam. Relativ früh gab es in den Niederlanden Bemühungen, die Stellung der Juden auf neue und tolerante Weise rechtlich zu regeln. Der reformierte Theologe und Rechtsgelehrte Hugo Grotius arbeitete im Jahre 1615 im staatlichen Auftrag eine Judenordnung aus. Er plädierte für die Duldung der Juden und begründete dies mit dem jedem Menschen von Natur aus zustehenden Recht auf Gemeinschaft und der naturrechtlich gebotenen Gastfreundschaft Fremden gegenüber. 1657 wurden in den Niederlanden die Angehörigen der „jüdischen Nation“ durch ein Dekret als Untertanen der Republik anerkannt. Die volle Emanzipation erfolgte 1796. Zu den bedeutendsten Repräsentanten des niederländischen Judentums zählte im 17. Jahrhundert der von portugiesischen Marranen abstammende Manasse ben Israel. Als 18-Jähriger wurde er 1622 Prediger und Talmudlehrer an der Amsterdamer Newe Schalom-Synagoge. 1626 gründete er die erste hebräische Druckerei in der Stadt. Sein Ziel war es, die jüdische Identität unter den aus Spanien und Portugal geflüchteten ehemaligen Marranen zu stärken. 1644 wurde er Präsident einer neu gegründeten, von reichen jüdischen Großhändlern finanzierten Akademie. Ben Israel unterhielt Kontakt zu zahlreichen christlichen Gelehrten in ganz Europa. Unter den von niederländischen Juden erbrachten gelehrten Leistungen ragen die Veranstaltung einer vokalisierten und kommentierten Ausgabe der Mischna und der Bau eines Tempelmodells hervor. Die Mischna-Ausgabe war eine christlich-jüdische Koproduktion und wurde von dem niederländischen reformierten Theologen Adam Boreel in Middelburg gemeinsam mit dem sephardischen Rabbiner Jehuda Leon in Angriff genommen. Ein großer Erfolg war Leons Modell des salomonischen Tempels. Die detailgetreue Nachbildung wurde von dem Rabbiner selbst gebaut und von seinem christlichen Partner Boreel finanziert. Das in Amsterdam aufgestellte Modell zog zahlreiche Besucher an. Der Rabbiner publizierte auch eine Beschreibung desselben und ließ sich wegen seines Erfolg fortan Leon Templo nennen. In der Mitte des 17. Jahrhunderts machten sich im westeuropäischen Protestantismus endzeitliche Erwartungen breit. Lebhaft

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Philosemiten in Holland und England

wurde die Aufrichtung des Gottesreichs auf Erden erwartet, des Tausendjährigen Reichs (auch: Millennium; lat. mille = tausend) nach Apk 20. Die Chiliasten, wie die Anhänger dieser Ideen genannt wurden (griech. χιλία/chilia = tausend), rechneten auch mit einer Kollektivbekehrung des jüdischen Volkes. Eine starke Basis hatte der Chiliasmus in Amsterdam. Ein Faktor für seinen Aufschwung war der Sieg des Puritanismus in England. Gleichzeitig spielte die Tatsache eine Rolle, dass sich infolge von Bezas Auslegung von Röm 11 im reformierten Protestantismus der Niederlande der Glaube an eine endzeitliche Judenbekehrung fest etabliert hatte. Chiliasten begegneten dem Judentum interessiert und freundlich und förderten das Studium der hebräischen Sprache. In Amsterdam bildete sich ein Kreis ausgesprochener Philosemiten. Zu ihm gehörten Männer unterschiedlicher Herkunft, die teilweise als Flüchtlinge ins Land gekommen waren, wie John Dury, der schottische Kirchenvereiniger, Samuel Hartlib, ein aus Preußen stammender, in England lebender Universalgelehrter, Petrus Serrarius/Serrurier, ein in Flandern geborener religiöser Schriftsteller, ferner der berühmte Pädagoge Johann Amos Comenius und der schon erwähnte Boreel. Sie wollten dem Christentum seinen antijüdischen Charakter nehmen, unter den Christen Verständnis für das gegenwärtige Judentum wecken und unter den Juden ein neues Verständnis des Judentums voranbringen, das ihnen eine neue, positive Sicht des Christentums ermöglichen sollte. Dury hatte auch die Absicht, durch eine Übersetzung des Neuen Testaments ins Hebräische zur Bekehrung der Juden beizutragen. In England wurzelte der Philosemitismus in dem von der Reformation angestoßenen Interesse an der hebräischen Sprache. Für die Puritaner war das Hebräische nicht einfach nur die Sprache, in der das Alte Testament verfasst war, sondern es war die Sprache, durch die Gott das Weltall aus dem Nichts geschaffen hatte. Sie sahen in ihr ferner die Ursprache der Menschheit, die Sprache, aus der alle anderen entstanden seien. Im Hebräischen, so wurde behauptet, entsprächen sich Wörter und Sachen exakt, sodass die Wirklichkeit zuverlässig abgebildet werde. Durch die Beschäftigung mit dem Hebräischen glaubte man den Geheimnissen des Universums näherzukommen. Im Kontext von Chiliasmus und Messianismus entstand unter judenfreundlichen Christen und christenfreundlichen Juden der Niederlande der Plan, in England 350 Jahre nach ihrer Vertreibung das Wiederansiedlungsrecht für Juden zu erwirken. Für dieses Ziel setzte sich insbesondere Manasse ben Israel ein. Allerdings wurde es erst lange nach seinem Tod verwirklicht. Auslöser der englischen Wiederzulassungspläne war die puritani-

Philosemiten

England

Wiederansiedlung

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Juden und Christen im 16. und 17. Jahrhundert

Oliver Cromwell

Whitehall Conference

sche Revolution. Auf der Insel blühten auf Israel bezogene eschatologische Erwartungen, was sich in einer eigentümlichen Vorliebe für alttestamentlich-hebräische Namen niederschlug. Oliver Cromwell, der England von 1653 an diktatorisch regierte, war infolge seiner biblizistischen Haltung judenfreundlich eingestellt. Er und viele puritanische Engländer glaubten, die Briten selbst seien Nachfahren der verlorenen zehn Stämme. Die Diskussion um die Wiederzulassung begann 1649. Seit dem zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts forderten Puritaner die Wiederaufnahme. Ihr Hauptmotiv war neben wirtschaftlichen Begründungen und allgemeinen Toleranzgedanken die Erwartung, England und den Juden in England käme bei den erwarteten endzeitlichen Ereignissen eine besondere Bedeutung zu. In der Mitte des 17. Jahrhunderts lebten trotz des Aufenthaltsverbots etwa hundert Juden in England, außerdem eine größere Zahl aus Spanien und Portugal stammende Marranen, die offiziell der katholischen Kirche angehörten. Manasse fasste den Plan, Cromwell von der Wiederzulassung zu überzeugen und reiste deswegen im September 1655 nach England. Stillschweigend ließ Cromwell bereits 1655/56 die Einwanderung von Juden zu. Neben religiösen Gründen spielten bei ihm wirtschaftliche Erwägungen eine Rolle. Er hoffte, die Juden würden dringend benötigtes Geld ins Land bringen. Eine grundsätzliche Entscheidung sollte die sogenannte Whitehall Conference treffen, die von Cromwell persönlich im Dezember 1655 eröffnet wurde. Gegen die Wiederzulassung opponierten vor allem die Kaufleute, aber auch ein Teil der Geistlichkeit. Die Befürworter brachten wirtschaftliche, humanitäre und religiöse Gründe vor. Zwei Wochen lang wurde ohne Ergebnis und ohne Folgen verhandelt. Die Konferenz rückte jedoch die kleine jüdische Gemeinde Londons ins Rampenlicht. In einer Petition wandten sich die Gemeindeleiter Antonio Ferdinando Carvajal und Antonio Rodrigues Robles an Cromwell und forderten die offizielle Tolerierung. 1656 veröffentlichte Manasse seine „Rettung der Juden“ (Vindicae Judaeorum), ein apologetisches Werk, mit dem er nach dem Scheitern der Whitehall Conference erneut die Wiederzulassung der Juden in England vorantreiben wollte, indem er den Engländern u. a. die wirtschaftlichen Vorteile klarzumachen trachtete. Er setzte sich auch mit antijüdischen Vorurteilen wie dem Ritualmord-Vorwurf auseinander und bestritt nachhaltig eine grundsätzlich christenfeindliche Einstellung der Juden. Die Diasporaexistenz des jüdischen Volkes interpretierte er als Vorbedingung und Weg zur Erlösung und widersetzte sich ihrer Deutung als göttliche Strafe.

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Judenmission und Judentaufen

Manasse hatte mit seiner Wiederansiedlungsinitiative keinen direkten Erfolg. 1657 verließ er England wieder und starb auf der Rückreise nach Amsterdam in Middelburg. Erst 1698 wurde die jüdische Religion vom englischen Parlament gesetzlich anerkannt, und Juden durften hinfort wieder ungehindert in England leben.

Judenmission und Judentaufen Auch ohne kirchliche Missionsbemühungen gab es immer einzelne Juden, die von sich aus begehrten, Christen zu werden. In der Frühen Neuzeit waren es nicht viele, die sich entschlossen, die Taufe anzustreben. Zwischen 1591 und 1648 lassen sich nur achtzig Judentaufen im evangelischen Deutschland nachweisen. Eine größere Taufbewegung entwickelte sich unter deutschen Juden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Motive der Taufbewerber im 16. und 17. Jahrhundert lassen sich nur schwer ergründen. Religiöse Überzeugungen können eine Rolle gespielt haben, aber ein Jude konnte auch hoffen, sich als Christ materiell besser zu stellen. Die Masse der Juden war arm und lebte vom Kleinhandel, ihre Situation glich beinahe der von Bettlern. Besonders arm waren die Lehrer und die Rabbiner und ihre Söhne. Sie blickten oftmals in eine materiell völlig ungesicherte Zukunft. Anders als man es erwarten könnte, empfingen die Kirchen jüdische Taufbewerber nicht mit offenen Armen. Taufwilligen Juden begegneten sie vielmehr mit Argwohn, ja mit Ablehnung, denn ihnen wurden unehrliche Motive und Betrugsabsichten unterstellt. Misstrauen getauften Juden gegenüber gab es schon im Mittelalter und es vermehrte sich im Zusammenhang mit den Marranen. Auch aus organisatorischen und finanziellen Gründen sahen sich die zuständigen kirchlichen Stellen vielfach nicht in der Lage, taufwillige Juden zu betreuen. Beides führte dazu, dass Taufbegehren schlicht abgeschlagen wurden, manchmal sogar ohne nähere Überprüfung. Wenn ein Jude Christ werden wollte, meldete er sich in der Regel bei einem Pfarrer oder direkt bei der Kirchenleitung. Die Entscheidung, ob er in den Taufunterricht aufgenommen wurde oder nicht, traf die Kirchenleitung, nicht der einzelne Pfarrer. Vor der Entscheidung wurde der Jude im Normalfall befragt und man holte Erkundungen über ihn ein. Wenn etwas Negatives über ihn ans Licht kam, wurde er abgelehnt. Wenn der Taufbewerber Erfolg hatte, kam er zu einem Pfarrer in den Katechismusunterricht. Dieser konnte Wochen oder Monate dauern. Während der Unterrichtsphase wurde der Bewerber aus

Taufbewerber

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Juden und Christen im 16. und 17. Jahrhundert

Taufe

Versorgung

kirchlichen Mitteln versorgt und verpflegt. Dieses Versorgt-Sein war für einen armen Juden ein attraktiver Seitenaspekt der Taufvorbereitung. Von Zeit zu Zeit erstatteten die für den Unterricht zuständigen Pfarrer ihren Vorgesetzten Bericht. Der Tag der Taufe erregte wegen der Seltenheit eines solchen Ereignisses immer großes Aufsehen. Häufig erschienen anschließend sogar gedruckte Berichte darüber. Die Kirchen waren überfüllt mit neugierigen und innerlich bewegten Menschen. In einem feierlichen Gottesdienst musste der Bewerber ein ausführliches Katechismusexamen ablegen, das durchaus 30–60 Minuten dauerte. Dabei hatte er dem Judentum abzuschwören. Anschließend folgte die Taufe. Die Patenschaft übernahmen meistens prominente Personen. Bei der Taufe wurde der ehemalige Jude neu eingekleidet und bekam ein großzügiges Geldgeschenk. Auch dies war für einen Juden armer Herkunft ein willkommener Nebenaspekt. Der neue Christ erhielt einen neuen Namen, wobei häufig Namen verliehen – oder vom Betroffenen ausgewählt – wurden, die ihn als entschiedenen Christen, damit indirekt aber auch als ehemaligen Juden kennzeichneten wie Christian, Gottlieb, Christhold, Christmann, Frommann, Christfreund. Mit den auffälligen Taufnamen korrespondierte die Tatsache, dass getaufte Juden wie schon im Mittelalter, so auch in der Neuzeit zeitlebens weiter als Juden angesehen wurden. Sie waren nicht Christen wie andere, sondern Proselyten aus dem Judentum, ehemalige Juden, getaufte Juden. Die auffälligen Namen hatten die Funktion, auf ihre Herkunft aus dem Judentum hinzuweisen. Jeder, dem ein Christian Christhold oder ein Leberecht Frommann begegnete, wusste sofort: Das ist ein Jude, der sich hat taufen lassen. Wenn Konflikte entstanden, konnte es vorkommen, dass Proselyten Jahrzehnte nach der Taufe angeblich angeborene jüdische Eigenarten vorgeworfen wurden. Die Überzeugung, ein Jude habe unabhängig von seiner Religionszugehörigkeit bestimmte Charaktereigenschaften, war schon lange vor dem Aufkommen des rassischen Denkens gängig. Ein großes Problem war die Versorgung der Neubekehrten nach ihrer Taufe. In der Regel fristeten ehemalige Juden als Bettler ihr Dasein. Sie reisten von Ort zu Ort, zeigten ihren Taufschein vor und baten um Almosen. Die Begabteren, zum Beispiel ehemalige Rabbiner, verfassten kleine christliche Traktate, häufig mit antijüdischer Stoßrichtung, um ihre standhafte christliche Gesinnung zu demonstrieren. Für die Übergabe solcher Traktate wurden sie von kirchlichen Stellen mit Geld belohnt und sie konnten hoffen, vielleicht einmal irgendwo als Hebräischlehrer eingestellt zu werden. Die frühneuzeitliche Gesellschaft war in der Regel nicht bereit, getauften Juden eine

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Judenmission und Judentaufen

Ausbildung und eine normale Berufstätigkeit zu ermöglichen und sie zu integrieren. Das klägliche Los der Bekehrten wurde theologisch verklärt zum Kreuz, das sie als Christen in der Nachfolge Jesu zu tragen hätten. Außerdem sollten durch dieses Vorgehen Juden abgeschreckt werden, die nicht aus Glaubens-, sondern aus wirtschaftlichen Gründen den Religionswechsel vollziehen wollten. Anders wurden die Rahmenbedingungen für jüdische Konvertiten erst im 19. Jahrhundert. Die gute Versorgung der Proselyten während der Taufvorbereitung und ihre gute Ausstattung anlässlich der Taufe einerseits sowie die Defizite in der Integration und Versorgung nach der Taufe andererseits waren mitverantwortlich dafür, dass sich einige Juden mehrfach auf die Taufe vorbereiten und mehrfach taufen ließen und somit zu sogenannten Taufbetrügern wurden. Das war allerdings ein riskantes Unterfangen. Nach Reichsrecht wurde die Wiedertaufe – auch in solchen Fällen – mit dem Tode bestraft, und es sind Beispiele bekannt, wo Taufbetrüger tatsächlich hingerichtet wurden. Einen Einblick in den Ablauf einer Judentaufe vermittelt ein Bericht aus Hildesheim. Dort wurde im Jahre 1595 der neunzehn Jahre alte, in Bodenwerder geborene Michael Dülke getauft. Zuvor war er fünf Wochen lang anhand von Luthers Kleinem Katechismus im christlichen Glauben unterrichtet worden. Die Taufe fand nicht in einer Kirche, sondern auf dem Marktplatz statt, wo ein Podest errichtet worden war. Eine große Menschenmenge fand sich ein. Die Taufpredigt hielt der lutherische Superintendent der Stadt, Heinrich Heshusius. In seiner Predigt griff er das Judentum an und warf ihm Verstocktheit vor. Er zitierte Luthers Juden-Lügen-Schrift und forderte die Vertreibung der kleinen jüdischen Gemeinde aus Hildesheim. Auf die Taufpredigt folgte ein öffentliches Taufexamen. Der Jude, der im Begriff war, Christ zu werden, musste Rede und Antwort stehen und über sein Leben ebenso Auskunft geben wie über seinen christlichen Glauben. Ausdrücklich musste er sich vom Judentum distanzieren. Beim Taufakt assistierten dem Superintendenten alle elf in der Stadt tätigen lutherischen Pastoren. Der Täufling bekam einen neuen Namen: Jakob. Die Taufe in Hildesheim hatte noch eine Besonderheit, die nicht unerwähnt bleiben darf. Direkt nach der Taufe wurde der Neuchrist Jakob Dülke aus der Stadt hinaus auf den Richtplatz geführt und gehängt, denn er war kurz vor der Taufe des wiederholten Diebstahls überführt worden. Außerdem hatte er in Hildesheim verschwiegen, dass er sich zuvor schon in Kassel um die Taufe beworben hatte. Zu den bekanntesten Proselyten aus dem Judentum gehörte Christian Gerson, geboren in Recklinghausen 1569 und getauft in Halber-

Taufbetrüger

Hildesheim

Christian Gerson

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Juden und Christen im 16. und 17. Jahrhundert

stadt 1600, gestorben als Pfarrer in Dröbel bei Bernburg/Anhalt 1627. Er veröffentlichte 1607 ein umfangreiches Buch über den Talmud und seine Widerlegung (Der Jüden Thalmud), das 1609, 1613, 1618, 1659, 1685, 1698 und 1722 erneut gedruckt und selbst noch im späten 19. Jahrhundert (Neudruck Wien 1895) für wertvoll erachtet wurde. Gerson betonte nach altem Vorbild den Unterschied zwischen dem Talmud und dem Alten Testament, warf dem Talmud Lästerungen gegen Christus und die Apostel vor und bezeichnete seine Verfasser, die Rabbinen, als Werkzeuge des Teufels. Gleichwohl forderte er nicht die Vernichtung des Werks. Für die Judenmission hielt er genaue Kenntnisse des Judentums für notwendig und verlangte den Verzicht auf jeden Zwang und Druck.

&

Literatur Martin Friedrich: Zwischen Abwehr und Bekehrung. Die Stellung der deutschen evangelischen Theologie zum Judentum im 17. Jahrhundert. Tübingen 1988 (Beiträge zur Historischen Theologie 72). Michael J. Halvorson: Heinrich Heshusius and Confessional Polemic in Early Lutheran Orthodoxy. Farnham 2010 (St Andrews studies in Reformation history). Martin [H.] Jung: Die württembergische Kirche und die Juden in der Zeit des Pietismus (1675– 1780). Berlin 1992 (Studien zu Kirche und Israel 13). Martin H. Jung: Christen und Juden. Die Geschichte ihrer Beziehungen. Darmstadt 2008. Rotraud Ries: Jüdisches Leben in Niedersachsen im 15. und 16. Jahrhundert. Hannover 1994 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 35) (Quellen und Untersuchungen zur allgemeinen Geschichte Niedersachsens in der Neuzeit 13). Rotraud Ries: Zum Zusammenhang von Reformation und Judenvertreibung. Das Beispiel Braunschweig. In: Civitatum Communitas. Studien zum europäischen Städtewesen. Festschrift Heinz Stoob zum 65. Geburtstag / Helmut Jäger (Hg.), Franz Petri (Hg.), Heinz Quirin (Hg.). T. 2. Köln 1984, S. 630–654. Rotraud Ries: Zur Bedeutung von Reformation und Konfessionalisierung für das christlich-jüdische Verhältnis in Niedersachsen. In: Aschkenas 6 (1996), S. 353–419.

15. Pietismus, Aufklärung und das Ende des Konfessionellen Zeitalters

Das Jahr 1648 war ein Epochenjahr der deutschen und der europäischen Geschichte mit größter kirchengeschichtlicher Relevanz. Ernst Troeltsch ließ mit ihm das Konfessionelle Zeitalter enden und dieser Epochenabgrenzung haben sich viele angeschlossen. Sie ist jedoch nur begrenzt richtig, denn das Ende des Konfessionellen Zeitalters war in Wirklichkeit ein sich langsam hinziehender Prozess, an dessen Schlusspunkten weitere europäische Epochenjahre stehen, nämlich das Jahr 1789 mit der Französischen Revolution, die in Europa einen gesellschaftlich-kulturellen Paradigmenwechsel einleitete, sowie das Jahr 1815 mit dem Wiener Kongress, der Mitteleuropa politisch-geografisch neu ordnete. Der Friede von Münster und Osnabrück 1648 gewährte den Menschen mehr politische und religiöse Freiheit, beendete aber nicht das konfessionelle Denken und Handeln. Der Konfessionalismus hatte einen langen Atem, und noch sterbend bäumte er sich mehrfach auf und stürzte Menschen immer neu ins Unglück. 1685 vertrieb Frankreich die Hugenotten nach einem Jahrhundert der Duldung. 1689 erneuerte England das Verbot des Katholizismus. 1731/32 erreichte die Vertreibung der Protestanten aus Salzburg ihren Höhepunkt. 1744/45 wurden alle Juden aus Prag vertrieben. Für den mentalen und den geschichtlichen Sieg über den Konfessionalismus sollten zwei geistige Bewegungen entscheidend werden, die schon im Konfessionellen Zeitalter ihren Anfang genommen haben: Pietismus und Aufklärung. Die Aufklärung steht in einem Zusammenhang mit dem Epochenjahr 1789 und der Französischen Revolution. Die Revolution in Frankreich hatte ihre Wurzeln in der Aufklärung. Die Aufklärung mündete in die Revolution. Der Pietismus begann mit dem Jahr 1675. Damals erschien in Frankfurt am Main die Programmschrift des Pietismus mit dem lateinischen Titel Pia Desideria, die zu Reformen aufforderte und „bessere Zeiten“ verhieß. Auch mit dem Jahr 1675 kann man das Ende des Konfessionellen Zeitalters beginnen sehen, weil es das Ende des konfessionellen Denkens und Handelns einläutete. Die Anfänge des Pietismus wurzelten in einer Frömmigkeitskrise um 1600.

Konfessionalismus

Aufklärung

Pietismus

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Pietismus, Aufklärung und das Ende des Konfessionellen Zeitalters

Frömmigkeitskrisen und Frömmigkeitsaufbrüche

Krisenphänomene

Kleine Eiszeit

Um das Jahr 1600 war der reformatorische Elan verflogen. Die Reformation war längst Geschichte geworden. Die reformatorische Bewegung war in Kirchentümern mit fest gefügten Ordnungen, wie sie die Christenheit zuvor nicht gekannt hatte, erstarrt. Nahezu alles war genau geregelt, und die Pfarrer waren gut situierte staatliche Beamte. Der Geist war der Routine gewichen. Schwerer noch wog, dass sich die Hoffnungen und Versprechungen der Reformation nicht erfüllt hatten. Die Evangelischen waren keine besseren Christen als die Katholiken. Das sittliche Leben in evangelischen Gebieten war nicht anders als das in katholischen. „Gute Bäume“ mit „guten Früchten“ waren weitaus seltener, als Luther geglaubt hatte. Und selbst strenge Kirchenzucht konnte die Menschen in den calvinistischen Kirchenwesen nicht davon abhalten, weiter zu sündigen. Auch außerhalb des kirchlichen Bereichs stellten sich Krisenphänomene ein. Auf eine lange wirtschaftliche Aufschwungphase folgte eine Periode der Depression. Der Ausbau der Wirtschaft und insbesondere der Landwirtschaft hielt nicht mehr Schritt mit der demografischen Entwicklung. Es kam zu Schwierigkeiten bei der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln. Die unteren Schichten der Gesellschaft verarmten. Soziale Spannungen nahmen zu, und die Formen der Herrschaftsausübung wurden repressiver. Begleitet und mit verursacht wurde diese Entwicklung durch eine Klimaverschlechterung, die sogenannten Kleine Eiszeit. Die klimatischen Bedingungen der Frühen Neuzeit waren schlechter als die des Mittelalters. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts häuften sich nasse und kalte Sommer sowie lange und dunkle Winter. Als Folge stellten sich Missernten ein. Erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts stabilisierten sich die Klimaverhältnisse wieder und es begann eine bis heute andauernde Wärmeperiode, die durch klimatische Folgen der im 19. Jahrhundert beginnenden Industrialisierung noch verstärkt wurde. Länder- und konfessionsübergreifend erhoben im ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert prophetische Mahner ihre Stimme und interpretierten die allgemeine Lage mit religiösen Kategorien. Manche wähnten das Ende der Welt und das Jüngste Gericht nahe, andere forderten zur Buße und Umkehr auf und legten damit die Keime für neue Entwicklungen in Theologie und Frömmigkeit.

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Weigel und Böhme: Mystik im Protestantismus

Weigel und Böhme: Mystik im Protestantismus Im deutschen Luthertum dominierte im Konfessionellen Zeitalter das orthodox-lehrhafte Denken, aber es gab auch, wie schon in der Reformationszeit, spiritualistisch und mystisch gestimmte Einzelgänger und Außenseiter. Die bedeutendsten und bekanntesten waren Valentin Weigel und Jacob Böhme. Kurzbiografie: Weigel 1533 1567 1572 1578 1588

Geburt in Großenhain (7. 8.) Pfarrer in Zschopau Vom wahren seligmachenden Glauben Vom Leben Christi Tod in Zschopau (10. 6.)

Valentin Weigel gehörte noch ganz in das 16. Jahrhundert. 1533 wurde er geboren, 1588 ist er gestorben. Er wirkte äußerlich als ein ganz normaler lutherischer Pfarrer in Zschopau bei Chemnitz. Nachgelassene Schriften zeigen jedoch, dass er heimlich Mystiker, Spiritualist war. Erst von 1609 an, also lange nach seinem Tod, wurden seine Schriften in Drucken verbreitet. Für Weigel waren das innere Leben, die inneren Erfahrungen das Entscheidende. Die wahre Kirche hielt er für eine unsichtbare Größe. Obwohl er gegen die „Mauerkirche“, die äußerlich sichtbare, aus Kirchengebäuden und äußerlichen Gottesdiensten bestehende Kirche polemisierte, wollte er keinen offenen Widerstand. Weigel fand im 17. Jahrhundert immer wieder Anhänger. Der sogenannte „Weigelianismus“ war eine von lutherisch-orthodoxen Theologen gefürchtete Häresie. Jacob Böhme war eine der originellsten Gestalten an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert. Geboren wurde er im Jahre 1575 in Görlitz, gestorben ist er in seinem Heimatort im Jahre 1624. Er stammte aus einer Bauernfamilie und verdiente sich sein Einkommen als Schuster. Gleichzeitig war er Laientheologe, Mystiker, Theosoph und Esoteriker. Alle diese Begriffe wurden und werden angewandt, um sein umfassendes und nachhaltiges Wirken zu kennzeichnen. Man hat ihm auch den Ehrentitel „Philosophus teutonicus“, deutscher Philosoph, beigelegt. Er selbst hat sich, gelehrt-akademisches Wissen ablehnend, als „Philosoph der Einfältigen“ bezeichnet. Kurzbiografie: Böhme 1575 Geburt in Alt-Seidenberg 1600 erste Erleuchtung

Valentin Weigel

Jacob Böhme

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Pietismus, Aufklärung und das Ende des Konfessionellen Zeitalters 1610 1612 1613 1618 1624

Visionen

Schreibverbot

zweite Erleuchtung Morgenröte im Aufgang Schreibverbot Wiederaufnahme der Schriftstellerei Tod in Görlitz (17.11.)

Wie wurde der Bauernsohn zu einem Denker und Schriftsteller? In den Jahren 1600 und 1610 hatte Böhme visionäre Erlebnisse, vom ihm selbst als Erleuchtungen bezeichnet. Sie vermittelten ihm erste Einblicke in Gottes Wesen und in die Geheimnisse der Schöpfung. Er las daraufhin intensiv die Bibel, wobei ihm besonders die Genesis wichtig wurde, und Werke der jüdischen und christlichen Mystik, ferner beschäftigte er sich mit Schwenckfeld und Weigel, außerdem mit dem 1541 in Salzburg verstorbenen Naturphilosophen Paracelsus sowie der Kabbala und der Alchemie. Böhmes Wissen war also nicht vom Himmel gefallen, sondern er hatte es sich durch Lektüre erworben. Als Kind hatte er eine Schule besucht und Lesen und Schreiben gelernt und ist somit ein schlagkräftiger Beweis für den Erfolg der reformatorischen Bildungsbemühungen. 1612 schrieb Böhme sein erstes Werk, die Morgenröte im Aufgang, auch Aurora genannt. Es kursierte zunächst als Manuskript und wurde abgeschrieben. So gelangte es auch in die Hände des örtlichen Pfarrers, der gar nicht erfreut war. Der Schuster geriet unter den Verdacht der Irrlehre und wurde verhaftet und das Manuskript wurde beschlagnahmt. Die Sache endete glimpflich, indem Böhme nur ein Schreibverbot erteilt wurde. Dennoch setzte er später seine Aufzeichnungen fort. Mit seinen rasch zahlreich werdenden Anhängern tauschte er eifrig Briefe aus. 1624 erschienen erstmals BöhmeSchriften im Druck. Erneut wurde der Autor heftig angegriffen. Er erkrankte und lag im Sterben. Bevor er das letzte Abendmahl genießen durfte, wurde er über seinen Glauben verhört. Die meisten Schriften Böhmes erschienen erst lange nach seinem Tod. Im Jahre 1730 wurde eine Gesamtausgabe in elf Bänden veröffentlicht. Im Pietismus war Böhme geschätzt, und in Esoterik-Kreisen der Gegenwart findet er noch immer Resonanz. Die Schriften haben teilweise einen philosophisch-spekulativen Charakter, teilweise sind es aber auch Anleitungen zum geistlichen Leben, darunter viele Gebetstexte. Es geht um die Natur und den Kosmos, um Himmel und Erde, Licht und Dunkel, Gut und Böse, Sterben und Leben, um den Geist, um Wiedergeburt, Gelassenheit und Buße. Naturerfahrung war für Böhme ein Weg zur Gotteserkenntnis.

Arndt und das „Wahre Christentum“

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Arndt und das „Wahre Christentum“ Von höchster Bedeutung für die Frömmigkeitsgeschichte des Protestantismus im 17. und 18. Jahrhundert war der lutherische Theologe Johann Arndt. Wie kein anderer wurde er später von pietistischen Autoren rezipiert und zitiert. Neben der Bibel gehörten seine Bücher zu den im Pietismus am meisten gelesenen Werken. Im 18. Jahrhundert stand Arndt in gebildeten evangelischen Familien fast in jedem Bücherschrank. Arndt wurde 1555, im Jahr des Augsburger Religionsfriedens, in Anhalt geboren. Er war Sohn eines Pfarrers und studierte Theologie. Fünfzig Jahre nach der Einführung der Eheerlaubnis für Pfarrer war es bereits üblich, dass Pfarrersöhne selbst Pfarrer wurden und dass Pfarrer in der Regel einem Pfarrhaus entstammten. Die neue, evangelische Pfarrerschaft rekrutierte sich aus sich selbst. Aber das galt damals auch für andere Berufsgruppen. Söhne folgten im Beruf ihrem Vater und bei Mädchen wurde darauf geachtet, dass sie eine standesgemäße Ehe schlossen. Auch die Pfarrfrau entstammte häufig einem Pfarrhaus oder der Beamtenschicht. Sein Studium führte Arndt nach Helmstedt, Wittenberg, Straßburg und Basel. Das war für die damalige Zeit ungewöhnlich. Normalerweise pflegten die jungen Männer, anders als im Mittelalter, nur an der Universität ihres Heimatlandes zu studieren. Reisen und Aufenthalte in der Fremde erweitern aber den Horizont. Neben der Theologie interessierte sich Arndt für die Medizin. Gerade in Basel hat er sich mit Medizin beschäftigt. Mit reformierten Traditionen kam er dort allerdings weniger in Kontakt, denn in der alten Bischofsstadt am Rheinknie regierte zur Zeit Arndts Simon Sulzer, welcher der Baseler Kirche und Theologie vorübergehend eine lutherische Ausrichtung gab. Nach seinem Studium war Arndt Pfarrer an verschiedenen Orten im Fürstentum Anhalt. Theologisch war er, geprägt vom Studium in Wittenberg, strenger Lutheraner. Bezeichnend ist der Grund, warum er 1590 seine anhaltinische Heimat verlassen musste. Sein Landesherr hatte sich der reformierten Theologie angenähert und beschlossen, bei der Taufe den Exorzismus abzuschaffen, die ausdrückliche Absage an den Teufel. Arndt verweigerte als einziger Pfarrer des Fürstentums die Zustimmung und musste sich deshalb eine neue Existenzgrundlage suchen. Arndt wirkte anschließend in Quedlinburg, bis er 1599 nach Braunschweig kam. Hier schrieb er sein Hauptwerk, die Vier Bücher vom wahren Christentum,1 von denen das erste im Jahre 1605 1 Auszüge: KTGQ 3, S. 239 f.

Johann Arndt

Anhalt

Quedlinburg

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Pietismus, Aufklärung und das Ende des Konfessionellen Zeitalters

Lehre genügt nicht

erschien. Die vier Bücher, die später durch Anhänge auf sechs Bücher erweitert wurden, handeln, wie der Untertitel mitteilt, von heilsamer Buße, herzlicher Reue und vom Leid über die Sünde, vom wahren Glauben und vom heiligem Leben und Wandel der rechten, wahren Christen. Fragen der christlichen Praxis werden also thematisiert. Arndt forderte die Erneuerung des Menschen durch wahre Buße, durch die Abwendung von der Welt, durch ein Leben in der Liebe. Die rechte Lehre zu haben genüge nicht, auch der rechte Lebenswandel sei nötig. Gleichzeitig betonte Arndt das innere Gottesverhältnis des Menschen mit dem Ziel der Vereinigung mit Gott. Kurzbiografie: Arndt 1555 1583 1590 1590 1599 1605 1609 1611 1612 1621

Braunschweig

Celle

Geburt in Ballenstedt oder Edderitz (27.12.) Pfarrer in Ballenstedt Entlassung Pfarrer in Quedlinburg Pfarrer in Braunschweig Von wahrem Christentum Pfarrer in Eisleben Generalsuperintendent in Celle Paradies-Gärtlein Tod in Celle (11. 5.)

Arndts Werk löste sofort nach dem Erscheinen einen erbitterten Streit aus. Lutherische Theologen bestritten Arndts Rechtgläubigkeit und warfen ihm Fanatismus, Papismus, Schwärmerei und – wie fünfzig Jahre zuvor Flacius dem Melanchthonschüler Strigel (→ Kap. 11) – Synergismus vor. Sie beschuldigten ihn einer Theologie, in welcher der Mensch nicht – wie in der Reformation gelehrt – allein durch Gottes Gnade gerecht werde, sondern – wie im Katholizismus – die Werke, die Praxis, das fromme und sittlich gute Leben in irgendeiner Weise wichtig oder sogar notwendig sei. Als Folge dieser Kritik wurde Arndt in Braunschweig verboten, Weiteres ohne Zustimmung der örtlichen Pfarrerschaft in den Druck zu geben. Durch strenge Zensur sollte ihm also Einhalt geboten werden. Doch Arndt konnte dem Braunschweiger Hexenkessel entkommen, als er 1608 nach Eisleben gerufen wurde. 1611 holte ihn dann der Herzog von Braunschweig-Lüneburg in das Amt eines Generalsuperintendenten nach Celle, wo er 1621 starb. Der Streit um Arndts Buch dauerte die ganzen Jahre hinweg an und setzte sich auch nach seinem Tod fort. Gleichwohl – oder vielleicht gerade deshalb – wurde das Wahre Christentum zum erfolg-

Descartes und die „Grundlage der Philosophie“

reichsten Erbauungsbuch der lutherischen Kirche. Es wurde in viele Sprachen übersetzt, und bis 1740 erschienen insgesamt 123 Auflagen. Hunderttausendfach war es also in Deutschland verbreitet. Theologiegeschichtlich bedeutsam an Arndts Büchern war nicht nur die Tatsache, dass er die Erneuerung des Lebenswandels und die Frömmigkeitspraxis zum Hauptthema machte, sondern auch, dass er ungeniert – allerdings ohne ausdrücklich darauf hinzuweisen – aus katholischen Quellen schöpfte. Er hatte sich intensiv mit der katholischen Mystik des späten Mittelalters beschäftigt. Er kannte und benutzte Bernhard von Clairvaux, Johann Tauler, Thomas von Kempen, Raimund von Sabunde und die Deutsche Theologie (auch: Theologia Deutsch), eine anonyme Erbauungsschrift aus dem Jahre 1497. Außerdem verwertete er die Offenbarungen von Angela von Foligno, einer italienischen Franziskanerin aus dem 13. Jahrhundert. Es ist bezeichnend, dass in einer Zeit schärfster Abgrenzung von der Papstkirche von einem Lutheraner unter der Hand die Traditionen der anderen Konfession rezipiert wurden. Es gab im Protestantismus offenbar ein unbefriedigtes Bedürfnis nach religiöser Innerlichkeit, nach unmittelbarer religiöser Erfahrung. Daran knüpfte später der Pietismus an. Erfahrung wurde jedoch auch ein Leitbegriff der Aufklärung.

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katholische Quellen

Descartes und die „Grundlage der Philosophie“ Was Arndt für den Pietismus, das war Descartes für die Aufklärung. René Descartes stammte aus Frankreich, lebte aber um der Freiheit des Denkens willen überwiegend in den Niederlanden. Der gläubige Katholik, von Jesuiten erzogen, dem in Frankreich wegen seines Bruchs mit Aristoteles die Todesstrafe drohte, betätigte sich als Mathematiker und Naturforscher. Cartesius, wie sein lateinischer Name lautete, versuchte die Grundlage für eine autonome Philosophie zu entwickeln, die auf Beobachtungen und rationalen Prinzipien beruht und über den Zweifel erhaben ist. Über den Zweifel erhaben war für Cartesius die Tatsache des Zweifelns, also das Denken und somit das psychische Sein. Mit seinem viel zitierten Kernsatz „Ich denke, also bin ich“ (Cogito ergo sum) gründete er die Philosophie auf die Selbstgewissheit des denkenden Subjekts und entwickelte damit nach Jahrhunderten der Abhängigkeit der Philosophie von der Theologie erstmals wieder eine selbstständige, von der Theologie unabhängige philosophische Weltanschauung.

René Descartes

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Pietismus, Aufklärung und das Ende des Konfessionellen Zeitalters

Kurzbiografie: Descartes 1596 1619 1628 1637 1642 1649 1650

Gottesbeweis

Geburt in La Haye (31.3.) visionäres Erlebnis Auswanderung in die Niederlande Discours de la méthode Voetius greift Descartes an Auswanderung nach Stockholm Tod in Stockholm (11. 2.)

Seine diese Überlegungen dem Publikum präsentierende „Abhandlung über die Methode“ (Discours de la méthode) ist 1637 in Leiden erschienen. 1641 folgten dann seine ebenso berühmten „Untersuchungen über die Grundlage der Philosophie“ (Meditationes de prima philosophia), eine Metaphysik, die unter anderem auf neue Weise die Existenz Gottes zu beweisen suchte aus der dem Menschen innewohnenden Idee der Vollkommenheit, die, da der Mensch selbst unvollkommen sei, nur von einem vollkommenen Wesen stammen könne und somit auf dieses zurückschließen lasse. Von 1642 an war Descartes heftigen Angriffen des reformierten Theologen Voetius ausgesetzt, der ihn beschuldigte, eine neue Lehre zu verbreiten, die der orthodoxen Theologie widerspeche. Descartes folgte darauf einer Einladung der schwedischen Königin und emigrierte nach Stockholm. Die katholische Kirche setzte Descartes 1663 auf den Index der verbotenen Bücher.

Pietismus und Aufklärung als Bahnbrecher der Moderne

Aufklärung

Die Geistesbewegung der Aufklärung und die Frömmigkeitsbewegung des Pietismus bekämpften und beendeten das konfessionelle Denken und Handeln und bahnten der Moderne den Weg. Beide Bewegungen haben ihre Wurzeln im 17. Jahrhundert, entfalteten sich aber erst im 18. Jahrhundert. Im 17. Jahrhundert begann in Europa die Länder- und Konfessionsgrenzen übergreifende Geistesbewegung der Aufklärung. Sie war keine christliche Bewegung, entfaltete sich aber auf der Basis einer vom Christentum geprägten Kultur und erfasste und veränderte auch das Christentum und das Judentum. Das moderne westliche Christentum und das moderne westliche Judentum sind durch die Aufklärung umgeformt worden und haben auf dieser Basis die Fähigkeit und Bereitschaft entwickelt, sich mit der eigenen Theologie

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Pietismus und Aufklärung als Bahnbrecher der Moderne

und Frömmigkeit und insbesondere mit der eigenen Tradition kritisch auseinanderzusetzen. Die Aufklärung wollte mit Hilfe der Vernunft Dunkles erhellen, Wissenschaft auf Erfahrung gründen und die Lebensbedingungen der Menschen verbessern. Sie unterwarf die gesamte Wirklichkeit der Kritik und stellte sämtliche Traditionen infrage. Sie rückte den Menschen in den Mittelpunkt ihres Denkens und ihrer Bemühungen und glaubte an den Fortschritt, insbesondere an die Vervollkommnung des Menschen. Sie forderte Bildung und verlangte nach Toleranz. Damit trat sie in gewissem Maße das Erbe des Humanismus an. Sie hatte auch eine feste Basis in einem Land, wo zuvor der Humanismus stark gewesen war: in Holland. Eine direkte Verbindungslinie zwischen dem Humanismus und der Aufklärung gibt es dennoch nicht. Die Aufklärung begann mit Descartes. Gleichzeitig mit ihm wirkte in Holland Hugo Grotius (niederl.: Huigh de Groot), ein Anhänger des Remonstrantismus (→ Kap. 11), der später in Frankreich Asyl fand. Er wurde in Delft im Jahre 1583 geboren und ist 1645 in Rostock auf einer Reise gestorben. Er war Jurist, Rechtstheoretiker und Humanist. Für die Theologie ist er bedeutend als Begründer einer undogmatischen, einen überkonfessionellen Standpunkt einnehmenden grammatisch-historischen Exegese des Alten Testaments. Grotius lebte zeitweise in Schweden und in Paris. Er setzte sich auch für die Einheit der Kirchen ein und wollte sie ähnlich wie später Calixt auf der Basis der Glaubensgrundlagen der drei ersten christlichen Jahrhunderte erreichen. Bereits der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gehören der Jansenist Blaise Pascal in Frankreich und der Jude Baruch Spinoza in Holland an. In Deutschland begann die Aufklärung erst um die Jahrhundertwende mit dem lutherischen Staatsmann und Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz. Große Gestalten des 18. Jahrhunderts waren Voltaire und Rousseau in Frankreich sowie Christian Thomasius und Christian Wolff in Deutschland. Im Laufe des 18. Jahrhunderts entwickelte sich in Deutschland auch eine Aufklärungstheologie. Die mittel- und langfristigen Folgen der Aufklärung für Theologie und Kirche waren gravierend. Der kritische Geist der Aufklärung, ihre Vernunftorientierung, ihre Anthropozentrik und ihr Perfektibilitätsglaube hatten tiefgreifende Wirkungen. Die Wissenschaften, insbesondere die Philosophie, befreiten sich aus der Vorherrschaft der Theologie. Sie stellten fortan die Theologie infrage, forderten sie damit heraus und gaben ihr direkt oder indirekt auch neue, förderliche Impulse. Das biblische Weltbild wurde nachhaltig bestritten. Die Gestalt des Kosmos und der Erde sowie die Entstehung und Ent-

Definition

Grotius

Folgen der Aufklärung

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Pietismus, Aufklärung und das Ende des Konfessionellen Zeitalters

Pietismus

Spener

Francke

Zinzendorf Bengel

wicklung des Lebens und des Menschen wurden mit neuen Augen gesehen. Die Theologie sah sich in der Folge gezwungen, zwischen Kernaussagen der Bibel und zeitbedingten, nun aber überholten Vorstellungen der biblischen Autoren zu unterscheiden. Ferner wurde die christliche Ethik relativiert und festgestellt, dass auch Nichtchristen gute Menschen sein könnten. Besonders in Frankreich entwickelte sich eine heftige Kirchenkritik. Weniger heftig war sie in Deutschland. Die Aufklärung forderte Freiheit und Gleichheit und entlarvte Theologie und Kirche als Freiheit und Gleichheit unterdrückende Instanzen. Es kam zu einer inneren Umformung der Theologie. Neue Methoden im Umgang mit der Bibel und mit der Geschichte entwickelten sich und setzten sich durch. Damit verbunden war die Relativierung der Bekenntnisbindung der Kirchen. Das Christentum wurde zu einer modernen Religion, die sich selbst historisch und kritisch betrachtete und den eigenen Wahrheitsanspruch relativierte. Parallel zu Jansenismus (→ Kap. 12) und romanischer Mystik (→ Kap. 12) im Katholizismus entwickelte sich im Protestantismus der Pietismus, die bislang bedeutendste Erneuerungs- und Frömmigkeitsbewegung im kontinentaleuropäischen Protestantismus. Als Erneuerungsbewegung war er verwandt mit der Reformation und als Frömmigkeitsbewegung mit dem Puritanismus. Er wurzelte in der Frömmigkeit Arndts, begann als Bewegung jedoch erst ein halbes Jahrhundert später mit Spener. Der Pietismus nahm seinen Anfang um das Jahr 1670 in Frankfurt am Main im Umfeld des lutherischen Theologen Philipp Jakob Spener. Hier wurde, um 1674, auch erstmals vom „Pietismus“ gesprochen. Die Bezeichnung signalisierte Frömmigkeit – lateinisch: pietas – als Hauptanliegen der Bewegung. Ein Schlüsseljahr war 1675, als Speners Programmschrift Pia Desideria erschien. Hier entfaltete er seine Reformvorschläge, die auf Verbreitung und Lektüre der Bibel ebenso abzielten wie auf die Verwirklichung des allgemeinen Priestertums. An Spener, der mit Recht als der „Vater des Pietismus“ bezeichnet wird, schloss sich August Hermann Francke in Halle an der Saale an, der sich als großer Pädagoge einen Namen machte. In der Oberlausitz, südöstlich von Dresden, gründete Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf eine pietistische Gemeinschaftssiedlung: Herrnhut. In Württemberg beschäftigten sich die Pietisten, vor allem repräsentiert von Johann Albrecht Bengel, intensiv mit eschatologischen Fragen und erwarteten die Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden. Mit seiner Ausrichtung auf die praktische Frömmigkeit reduzierte der Pietismus die Relevanz der kirchlichen Bekenntnisse und der

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Pietismus und Aufklärung als Bahnbrecher der Moderne

theologischen Lehre für das Christsein und bereitete der Entkonfessionalisierung den Weg. Die Mauern zwischen Lutheranern und Reformierten fielen und auch mit Katholiken pflegte man einen freundlichen Umgang. Eine zuvor unbekannte Offenheit stellte sich auch gegenüber dem Judentum ein. Pietismus und Aufklärung kooperierten in ihren Anfangsjahren und bekämpften gemeinsam die Orthodoxie mit ihren Denkverboten. Wenig später jedoch kam es zum Konflikt und Pietismus und Aufklärung standen sich fortan feindlich gegenüber. Groß waren die Unterschiede in einigen moralischen und religiösen Kernfragen, weil die Aufklärung mit ihrer Kritik auch vor der Bibel nicht Halt machte und den Wahrheitsanspruch des Christentums und die Verbindlichkeit seiner Ethik relativierte. Die anfänglichen, teilweise sogar dauerhaften Gemeinsamkeiten von Pietismus und Aufklärung wurden darüber rasch vergessen.

Kooperation

Überblick: Gemeinsamkeiten von Pietismus und Aufklärung

Die Gemeinsamkeiten von Pietismus und Aufklärung waren nicht unerheblich, weshalb Pietismus und Aufklärung gemeinsam als Bahnbrecher der Moderne angesehen werden können. ► Beide Bewegungen hatten einen fortschrittlichen Charakter. Sie nahmen Impulse aus den verschiedenen Wissenschaften ihrer Zeit auf und strebten nach einer Weiter- und Fortentwicklung des Denkens ebenso wie der Gesellschaft. ► Sie hatten einen optimistischen Charakter. Sie glaubten, dass die Welt ebenso wie der einzelne Mensch grundsätzlich verbesserbar sind, sie glaubten an eine bessere Zukunft und wollten dieser Zukunft entgegenarbeiten. ► Sie hatten einen subjektivistischen Charakter. Das glaubende und denkende menschliche Subjekt wurde in den Vordergrund gestellt. Der Einzelne sollte persönliche Überzeugungen ausbilden und nach Wahrhaftigkeit streben. Die Lehrnormen und die Traditionen wurden demgegenüber zweitrangig. ► Sie hatten einen praktischen Charakter. Der Praxisbezug der Wissenschaft wurde betont. Die Lehre sollte sich im Leben auswirken. Betont wurde die Ethik, die Moral, die Sittlichkeit. In die Lehre wurden Bezüge zur Praxis eingebracht und die Erfahrung, das Erlebnis und das Experiment fanden Beachtung. ► Sie hatten einen irenischen Charakter. Sie wandten sich gegen Polemik und Streitsucht. Sie suchten den Ausgleich, die Verbindung, den Dialog mit anderen Konfessionen, auch anderen Religionen, und mit anderen Völkern und anderen Ländern.

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Pietismus, Aufklärung und das Ende des Konfessionellen Zeitalters ► Sie hatten einen populären Charakter. Sie protestierten gegen die Theologenherrschaft in der Kirche, trieben die Verwendung der deutschen Sprache voran und förderten die Laien, auch die Frauen. Sie wollten ihre Erkenntnisse und Ideale in der Bevölkerung verbreiten und das allgemeine Bildungsniveau erhöhen.

Unter Pietisten und Aufklärern waren Werte und Ideale des 19. und 20. Jahrhunderts schon im 17. und 18. Jahrhundert präsent. Pietismus und Aufklärung bereiteten dem Konfessionellen Zeitalter in geistesgeschichtlicher Hinsicht ein definitives Ende, indem sie den Konfessionalismus aus den Köpfen der Menschen verbannten. Anfang des 18. Jahrhunderts entstand ein antikonfessionelles Lehrbild, das als Titelkupfer der konfessionskritischen Schrift Von der wahren Kirche des reformierten Mystikers und Spiritualisten Wolf de Metternich beigegeben war. Es zeigt drei Männer, Repräsentanten der drei großen Konfessionen, mit ihren jeweiligen Bekenntnisschriften in der Hand. Der reformierte Prediger deutet auf die Beschlüsse der Dordrechter Synode (1618/19), der lutherische Pfarrer auf die Konkordienformel (1577) und der katholische Kleriker auf die Trienter Konzilsbeschlüsse (1545–1563), und jeder behauptet: „Hier ist Christus!“ Dass etwas nicht stimmen kann, wenn drei dasselbe behaupten, dabei aber auf einander widerstreitende Grundlagen verweisen, versteht sich von selbst. Das Bild zeigt, wo Christus nach der Sicht Metternichs wirklich zu finden ist: Nicht in den Büchern, nicht in den Bekenntnissen, sondern auf dem Weg der Nachfolge. Im Bildhintergrund erklimmen zwei hagere Kreuzträger die himmlischen Höhen, wo sie Gott – symbolisiert durch ein Dreieck mit dem Tetragramm (den vier hebräischen Konsonanten des Gottesnamens) – erwartet. Die im Bild untergebrachten Bibelverse illustrieren zusätzlich dessen Botschaft: Nicht alle, die zu Jesus „Herr, Herr“ sagen, werden in den Himmel Abb. 13: antikonfessionelles pietistisches Lehrbild (unbek. Künstler, 1717) kommen, sondern nur diejenigen, die

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Literatur

seinen Willen tun (vgl. Mt 7,21). Auf die Nachfolger dagegen trifft zu, was Jesus Joh 10,27 sagt: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir.“ Wie der Lohn der Nachfolge aussieht, teilt der darauf folgende, im Bild nicht zitierte, aber implizit enthaltene Vers (Joh 10,28) mit: „Ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen.“ Nicht das Hier und Heute, sondern die Zukunft, das Jenseits war für den Pietismus letztlich entscheidend. Pietisten kritisierten die bestehenden Kirchen, fragten nach der wahren Kirche und versuchten diese sichtbar zu realisieren. Weil sich wahres Christentum für sie nicht durch die Bindung an Bekenntnisse erwies, sondern in der Heiligung, in der Nachfolge Jesu, wurden die traditionellen Konfessionsgrenzen durch eine Nachfolge-Jesu-Ekklesiologie nachhaltig relativiert und dem Konfessionellen Zeitalter die letzten Stützen entzogen. Literatur Albrecht Beutel: Aufklärung in Deutschland. Göttingen 2006 (Die Kirche in ihrer Geschichte 4, O 2). Albrecht Beutel: Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium. Göttingen 2009 (UTB 3180 Theologie, Religion). Geschichte des Pietismus / Martin Brecht (Hg.), Klaus Deppermann (Hg.), Ulrich Gäbler (Hg.), Hartmut Lehmann (Hg.). Bd. 1–4. Göttingen 1993–2004. Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie. Bd. 1–5. 4. Aufl. Gütersloh 1968 (Repr. 2000). Martin [H.] Jung: Die württembergische Kirche und die Juden in der Zeit des Pietismus (1675– 1780). Berlin 1992 (Studien zu Kirche und Israel 13). Martin H. Jung (Bearb., Hg.): Mein Herz brannte richtig in der Liebe Jesu. Autobiographien frommer Frauen aus Pietismus und Erweckungsbewegung. Aachen 1999 (Theologische Studien). Martin H. Jung: Frauen des Pietismus. Von Johanna Regina Bengel bis Erdmuthe Dorothea von Zinzendorf. Zehn Porträts. Gütersloh 1998 (Gütersloher Taschenbücher 1445). Martin H. Jung: Ein Prophet bin ich nicht … Johann Albrecht Bengel. Theologe, Lehrer, Pietist. Stuttgart 2002 (Calwer Taschenbibliothek 97). Martin H. Jung: Nachfolger, Visionärinnen, Kirchenkritiker. Kirchen- und frömmigkeitsgeschichtliche Studien zum Pietismus. Leipzig 2003. Martin H. Jung: Pietismus. Frankfurt a. M. 2005 (fischer kompakt). Harm Klueting (Hg.): Katholische Aufklärung. Aufklärung im katholischen Deutschland. Hamburg 1993 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 15). Thomas K. Kuhn: Religion und neuzeitliche Gesellschaft. Studien zum sozialen und diakonischen Handeln in Pietismus, Aufklärung und Erweckungsbewegung. Tübingen 2003 (Beiträge zur Historischen Theologie 122). Hans Otte (Hg.), Hans Schneider (Hg.): Frömmigkeit oder Theologie. Johann Arndt und die „Vier Bücher vom wahren Christentum“. Göttingen 2007 (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 40). Hans Schneider: Der fremde Arndt. Studien zu Leben, Werk und Wirkung Johann Arndts (1555–1621). Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 48). Peter Schicketanz: Der Pietismus von 1675 bis 1800. Leipzig 2001 (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen 3/1).

Nachfolge-JesuEkklesiologie

&

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Pietismus, Aufklärung und das Ende des Konfessionellen Zeitalters Johannes Wallmann: Der Pietismus. 2. Aufl. Göttingen 2005 (UTB 2598 Theologie, Religion). Winfried Zeller: Die „alternde Welt“ und die „Morgenröte im Aufgang“. Zum Begriff der „Frömmigkeitskrise“ in der Kirchengeschichte. In: Theologia Viatorum 12 (1973/74), S. 197–211 und in: Winfried Zeller: Theologie und Frömmigkeit. Gesammelte Aufsätze / Bernd Jaspert (Hg.). Bd. 2. Marburg 1978 (Marburger theologische Studien 15), S. 1–13.

Ausblick: Die Nachwehen des Konfessionellen Zeitalters und das Erbe der Reformation in der Moderne

Pietismus und Aufklärung hatten das konfessionelle Denken aus den Köpfen der Menschen verbannt, aber die konfessionelle Prägung des Lebens in Deutschland löste sich erst im 19. Jahrhundert auf. „Säkularisation“ – die Auflösung geistlicher Territorien (wörtl.: Verweltlichung) – und „Mediatisierung“ – die Integration von kleinen in größeren Territorien (wörtl.: Mittelbarmachung) – erzeugten in Deutschland überall gemischtkonfessionelle Verhältnisse. In jedem Teilstaat, im Königreich Hannover ebenso wie im Großherzogtum Oldenburg und im Fürstentum Hohenzollern lebten nun gleichermaßen und gleichberechtigt Lutheraner und Reformierte und Katholiken, wenn auch noch nicht in jeder Stadt und jedem Dorf. Eine weitere konfessionelle Durchmischung erfolgte nach 1945 durch eine darauf abzielende Flüchtlingspolitik. Nun gab es keinen Ort mehr in Deutschland, in dem nicht Angehörige verschiedener Konfessionen neben- und miteinander lebten. Der Einfluss des Konfessionellen schwand mit der Französischen Revolution 1789 und den auf die napoleonischen Kriege folgenden Umgestaltungen Deutschlands und Europas. Doch die Erosionserscheinungen begannen schon viel früher. Ein erster Schritt weg vom Konfessionalismus war der Übertritt des Herrscherhauses von Brandenburg zur reichsrechtlich noch nicht anerkannten reformierten Konfession 1613 ohne gleichzeitigen Konfessionswechsel der Bevölkerung. Ein weiterer Schritt zur Erosion konfessioneller Grenzen war die Aufnahme reformierter Flüchtlinge durch Brandenburg. Schritt für Schritt etablierten sich gemischtkonfessionelle Verhältnisse, die Brandenburg-Preußen im 19. Jahrhundert zum Vorreiter der Unionsidee werden ließen. Als sich im 19. Jahrhundert, nicht ohne Druck des Königs, lutherische und reformierte Gemeinden und Kirchen zu einer evangelischen Unionskirche vereinigten, separierten sich strenge Lutheraner und bildeten eine lutherische Freikirche und trugen somit zu einer weiteren Pluralisierung der konfessionellen Lebensverhältnisse bei. Auch in Sachsen erodierten die konfessionellen Grenzziehungen, als 1697 der machtbewusste Kurfürst Friedrich August I. zum Katholizismus konvertierte, um die polnische Krone erwerben zu können. Der lutherischen Bevölkerung stand nunmehr ein katholisches Herr-

Säkularisation, Mediatisierung

Konfessionswechsel

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Säkularisierung

Ausblick

scherhaus gegenüber. Eine ähnliche Situation trat 1710 in Braunschweig-Wolfenbüttel ein, wo Herzog Anton Ulrich konvertierte. Auch im evangelischen Württemberg, wo der Pietismus tiefe Wurzeln geschlagen hatte, war das Herrscherhaus von 1734 an katholisch. Im 19. Jahrhundert kamen große katholische Gebiete hinzu, und Württemberg wurde zu einem paritätischen Land. Während Säkularisation und Mediatisierung nahezu überall in Deutschland gemischtkonfessionelle äußere Strukturen herbeiführten, veränderte die „Säkularisierung“ die Mentalitäten nachhaltig: Das Denken, Empfinden und Handeln der Menschen wurde mehr und mehr von säkularen – weltlichen – Gesichtspunkten bestimmt. Religion und Konfession beherrschten nicht mehr das ganze Leben und Denken der Menschen, sondern nur noch einige und außerdem ständig kleiner werdende Teilbereiche. Mit der Internationalisierung aller Lebensbereiche ging der Aufbau einer christlichen Ökumene einher, durch die konfessionelle Strukturen vom Christentum selbst aufgebrochen wurden. Während die Nachwirkungen des Konfessionellen Zeitalters in der Gegenwart nur noch gering sind und seine Wertschätzung ebenso, sind die gegenwartsrelevanten Nachwirkungen der Reformation immer noch stark und ihre Wertschätzung ungebrochen. Die Rückbesinnung auf die Reformation blieb nach dem Ende des Konfessionellen Zeitalters und nach dem Ende des Konfessionalismus weiter identitätsstiftend und wurde immer in diesem Sinne genutzt, manchmal aber auch missbraucht. Sowohl im 19. als auch im 20. Jahrhundert wurde die Reformation nationalistisch und militaristisch interpretiert und instrumentalisiert. Nicht nur die evangelischen Kirchen bedienten sich der Reformation zum Zwecke der Selbstdefinition, sondern auch die Politik in den Hauptländern der Reformation, in Deutschland und der Schweiz.

Überblick: Konfessionsverteilung in der Gegenwart

Das Christentum ist nicht nur in Deutschland und in Europa, sondern in der ganzen Welt konfessionell strukturiert. Die Gewichtungen sind jedoch sehr unterschiedlich. Deutschland (1997) ► Katholiken: 27 Mio. ► Lutheraner: 13 Mio. ► Reformierte: 0,5 Mio. ► Unierte: 13 Mio. ► Pfingstgemeinden: 0,1 Mio. ► Evangelische Freikirchen: 0,3 Mio.

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Ausblick Welt (Schätzungen) ► Katholiken: 1000 Mio. ► Lutheraner: 74 Mio. ► Calvinisten: 80 Mio. ► Baptisten: 40 Mio. ► Pfingstgemeinden: 523 Mio.

Unabhängig von der Rezeption und Instrumentalisierung der Reformation, ihrem Gebrauch und Missbrauch, sind ihre objektiven, bis in das Heute andauernden Wirkungen. Die westliche Kultur der Gegenwart ist in vielfältiger Weise von Prinzipien und Errungenschaften der Reformation geprägt, die allerdings häufig nicht in einer direkten und klaren Linie ihren Weg durch die Geschichte gefunden haben, sondern auf Umwegen. Dem genuin reformatorischen Freiheitsgedanken beispielsweise haben nicht Theologie und Kirche zum Durchbruch verholfen, sondern die Aufklärung. Die heutige kirchliche Struktur Deutschlands und Europas ist eine direkte Folge der Reformation. Ohne Kenntnis der Reformation lässt sich das kirchliche, gesellschaftliche und kulturelle Gepräge Deutschlands und Europas nicht verstehen und somit auch nicht gestalten. Innerkirchlich ist die starke Stellung der Laien auf die Reformation zurückzuführen und die Verbindung der Religion mit der Bildung und des Glaubens mit der Wissenschaft. Bibel- und wortbezogene Frömmigkeitsformen sind ebenso reformatorisches Erbe wie Verinnerlichung, Individualismus, Subjektivismus und Gewissensbindung. Die Selbstverständlichkeit, mit der heute in der westlichen Welt die Predigt, verstanden als aktualisierende Auslegung der Heiligen Schrift, unverzichtbarer Teil des Gottesdienstes ist, stellt ein reformatorisches Erbe dar. Das Gleiche gilt für den festen Platz, den überall das Gemeindelied als gesungene Theologie und intoniertes Bekenntnis gefunden hat. Die wichtigste Errungenschaft der Reformation ist es, die Religion als einen Ort und Hort der Freiheit anzusehen, nicht des Zwangs. Identität und Wert jedes Menschen werden unabhängig von Geschlecht und Stand sowie materiellen, ethischen und religiösen Leistungen allein in der ihm widerfahrenden Anerkennung durch Gott begründet. Die damit jedem Einzelnen zugesprochene Freiheit und Würde impliziert gesellschaftliche Konsequenzen. Weltabgeschiedene Formen des Christseins wie ein äußerlich abgekapseltes Leben hinter Klostermauern oder eine innerlich abgekapselte Existenz in mystischer Versenkung wurden von der Reformation abgelehnt und traten als Folge der Reformation im abendländischen Christentum in den Hintergrund. Die theologisch-ethisch reflektierte

kirchliche Struktur

Freiheit

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Ausblick

Katholizismus

Protestantismus

Grundgedanken der Reformation

Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung wurde ein unverzichtbarer Teilaspekt des Christseins. Selbst die in der Neuzeit oft antikirchlich motivierte Trennung von Staat und Kirche wurzelte letztlich in der von der Reformation vollzogenen Unterscheidung zwischen geistlichen und weltlichen Bereichen bei gleichzeitiger Aufhebung der Unterscheidung zwischen einem geistlichen und einem weltlichen Stand. Der römische Katholizismus wurde im Laufe der Jahrhunderte, vor allem aber in den letzten Jahrzehnten als Folge auch des Zweiten Vatikanischen Konzils in vielen Bereichen evangelisch umgeformt. Hervorzuheben sind insbesondere die Stärkung der Laien und die Wertschätzung der Bibel. In einem Bereich ist die katholische Kirche bereits evangelischer als viele evangelische Kirchen: Im Kirchenraum wurden die Altäre in die Mitte der Gemeinde gerückt, die Priester zelebrieren im Gottesdienst der Gemeinde zugewandt und die Laien werden konsequent in die Liturgie einbezogen. Andere Herausforderungen, vor denen die römisch-katholische Kirche der Gegenwart steht, erinnern allerdings in geradezu frappierender Weise an die des frühen 16. Jahrhunderts. Manche antikatholische Polemik Luthers und anderer Reformatoren zu den Themen Papsttum, Priesteramt, Zölibat, Sexualethik, Heiligenkult ist nahezu unverändert aktuell. Aber auch der Protestantismus hat sich im Laufe der Jahrhunderte verändert und hat sich behutsam rekatholisiert. Dazu zählt die Wiedereinführung des Bischofsamts in lutherischen Kirchen, die Aufwertung der Liturgie, der Rituale und der Sakramente, die Auffassung des Glaubens als Entscheidung, die Betonung der Nachfolge und der Ethik, die Wiederbelebung monastischer Lebensformen und die Neuentdeckung des Pilgerns. Gleichzeitig haben aber die kirchen- und frömmigkeitsgeschichtlich im Protestantismus verwurzelten evangelikalen und charismatisch-pfingstlerischen Bewegungen weltweit betrachtet die klassischen protestantisch-konfessionellen Kirchen längst überflügelt und gewinnen auch in Deutschland zunehmend an Boden. Die theologischen Grundgedanken der Reformation sind auch in der Gegenwart noch aktuell. Dazu zählen Gotteslehre und Anthropologie, Ekklesiologie und Sakramentenlehre. Wichtig ist ferner die Unterscheidung zwischen Weltlichem und Geistlichem, zwischen Politik und Religion trotz ihrer Bezogenheit. Wenig bietet das reformatorische Gedankengut aber für den aktuellen schöpfungstheologischen Diskurs, und in der Friedensethik macht man weniger bei Luther und Zwingli als bei den Außenseitern, zum Beispiel bei den Täufern, für heute hilfreiche Entdeckungen. Als bleibend aktuell erweist sich immer wieder neu das Hauptbekenntnis der Reforma-

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Ausblick

tion, die Confessio Augustana. In der Evangelischen Kirche in Deutschland ist 2009 eine Diskussion darüber geführt worden, ob das Augsburger Bekenntnis nicht zur offiziellen Grundlage des deutschen Protestantismus gemacht werden sollte. Seine einigende Kraft hatte es ja schon in der Reformationszeit sowie im 19. und im 20. Jahrhundert erwiesen. Die evangelische Theologie der Gegenwart allerdings hat sich stark von ihrem reformatorischen Erbe gelöst. In der systematisch-theologischen Reflexion spielt die Bezugnahme auf die Bibel fast keine Rolle mehr. Dagegen ist die Tradition zu neuer Macht gelangt, allerdings nicht die vorreformatorische, sondern die des 19. und 20. Jahrhunderts, allen voran Schleiermacher. Ob es wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts nun im 21. vielleicht im Kontext der großen Reformationsjubiläen zu einer neuen, die ganze Theologie erfassenden Lutherrenaissance kommt, lässt sich nicht prognostizieren. Zu wünschen wäre dann aber, es möge keine bloße Luther-, sondern eine umfassende Reformationsrenaissance sein, die alle Spielarten der Reformation neu zur Geltung bringt und Luther und die anderen Großen mit ihren Licht-, aber auch mit ihren Schattenseiten zu sehen in der Lage ist. Literatur Alexander Deeg (Hg.): Aufbruch zur Reformation. Perspektiven zur Praxis der Kirche 500 Jahre danach. Leipzig 2008. Berndt Hamm, Michael Welker: Die Reformation. Potentiale der Freiheit. Tübingen 2008. Martin H. Jung: Der Protestantismus in Deutschland von 1815 bis 1870. Leipzig 2000 (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen 3/3). Martin H. Jung: Der Protestantismus in Deutschland von 1870 bis 1945. Leipzig 2002 (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen 3/5). Perspektiven für das Reformationsjubiläum 2017 / Kuratorium „500 Jahre Reformation – Luther 2017“. Lutherstadt Wittenberg: Geschäftsstelle der EKD in Wittenberg, [2010]. URL: http://www.luther2017.de/559_DEU_HTML.htm (1. 12. 2010). Ratlos vor dem Reformationsjubiläum 2017? Leipzig 2011 (Berliner Theologische Zeitschrift 28, 2011, 1). Refo500. URL: http://www.refo500.nl/de Soll das Augsburger Bekenntnis Grundbekenntnis der Evangelischen Kirche in Deutschland werden? Ein Votum der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für Theologie. Hannover 2009 (EKD Texte 103).

evangelische Theologie

&

Anhang

Glossar Abendmahl lutherische Bezeichnung für die rituelle christliche Mahlfeier mit Brot und Wein Ablass Erlass von Sündenstrafen, die nach dem Tod im → Fegefeuer verbüßt werden müssten Abschied Schlusserklärung bei einem → Reichstag Acht → Reichsacht Adelsschrift Luthers Schrift An den christlichen Adel ad fontes „zu den Quellen“; humanistischer und reformatorischer Grundsatz Adiaphora Mitteldinge; Sachverhalte, die weder gut noch böse sind adiaphoristischer Streit innerlutherischer Streit in der Interimszeit 1548 ff. um die Akzeptabilität katholischer Frömmigkeitselemente Akademie (Genfer) 1559 gegründete Genfer Hochschule, die sich aus formalen Gründen nicht Universität nennen durfte Alchemie Kunst, unedle Stoffe in edle umzuwandeln allgemeines Priestertum theologische Lehre, die nicht nur (geweihten) Priestern, sondern allen Gläubigen ein unmittelbares Verhältnis zu Gott und das Recht, mit Glaubensdingen umzugehen, zuspricht alternierende Sukzession wechselnde Amtsfolge (eines katholischen und eines lutherischen Fürstbischofs in Osnabrück) altgläubig ursprünglich nicht negativ konnotierte Bezeichnung für die Gegner der Reformation, die Anhänger des alten Glaubens, der alten Kirche Amt offiziell übertragene Aufgabe/Funktion in der Kirche Ämterkumulation Ansammlung von Ämtern bei einer bestimmten Person Anthropologie theologische/philosophische Lehre vom Menschen Anthropozentrik eine den Menschen in den Mittelpunkt stellende Position Antinomismus theologische Position, die biblische Gebote als für Christen irrelevant ansieht Antitrinitarismus kirchliche Bewegung, die die → Trinitätslehre ablehnt apokalyptisch auf das Weltende und das Jenseits bezogen Apologie (der Confessio Augustana) von Melanchthon verfasste, gegen die → Confutatio gerichtete Verteidigung des Augsburger Bekenntnisses Arianer → Arianismus Arianismus auf Arius von Alexandrien zurückgehende Bewegung des 4. Jahrhunderts, die Jesus Christus nicht als wahren Gott, sondern als Geschöpf Gottes ansah Arminianer Anhänger des J. Arminius, der die Prädestinationslehre modifizierte

Glossar Artes liberales die Fächer des universitären Grundstudiums im Mittelalter Artistenfakultät Fakultät der Universität, an der die → Artes liberales unterrichtet werden aschkenasische Juden aus Mittel- und Osteuropa stammende Juden Aufklärung europäische Geistesbewegung, die der Vernunft zum Durchbruch verhelfen wollte Augsburger Interim in Augsburg verabschiedetes Reichsgesetz, das 1548 die Religionsangelegenheiten der → Protestanten einschränkend regelte Augustiner-Eremiten ein nach der Regel Augustins lebender → Bettelorden Badener Disputation evangelisch-katholisches Religionsgespräch in Baden im Aargau 1526 Bann Exkommunikation, Ausschluss aus der Kirche Barockscholastik die → Scholastik der Barockzeit Bartholomäusnacht Mordnacht in Paris, der 1572 viele Protestanten zum Opfer fielen Bauernkrieg Erhebung reformatorisch gesinnter Bauern 1524/25 Beichte Aufzählung begangener Sünden, ganz persönlich vor einem Priester/Pfarrer („Ohrenbeichte“) oder einem Mitchristen, aber auch in der Stille unmittelbar vor Gott Bettelmönch Angehöriger eines → Bettelordens Bettelorden Mönchsorden, der vom Betteln lebt bikonfessionell zwei Konfessionen verbindend/tolerierend Bischof leitender Geistlicher, der die Aufsicht hat über ein größeres Teilgebiet der Kirche Blutbeschuldigung Vorwurf gegen Juden, Kinder zu töten Bundestheologie Theologie, die die Geschichte Gottes mit den Menschen als eine Abfolge göttlicher Bundesschlüsse mit den Menschen ansieht Bulle päpstliches Schriftstück Buße das Bekennen und Bereuen von Schuld calvinistisch Bezeichnung für den an Calvin orientierten Flügel der Reformation und für die auf die Genfer Reformation zurückgehenden Kirchen, anfangs als Schimpfwort gebraucht Christologie theologische Lehre über Jesus Christus Christozentrik theologische Lehre, die Jesus Christus ins Zentrum stellt Confessio Augustana das 1530 in Augsburg verabschiedete lutherische Bekenntnis Confessio Augustana invariata die → Confessio Augustana in der Originalfassung von 1530 Confessio Augustana variata die → Confessio Augustana in der veränderten Fassung von 1540 Confessio Belgica 1561 im Süden der Niederlande entstandenes evangelisches Bekenntnis Confessio Gallicana 1559 entstandenes Bekenntnis der französischen Protestanten Confessio Helvetica Posterior 1566 entstandenes Bekenntnis des Schweizer Protestantismus

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Anhang Confessio Helvetica Prior 1536 entstandenes Bekenntnis des Schweizer Protestantismus Confessio Saxonica 1551 für das Konzil von Trient geschaffenes Bekenntnis Kursachsens Confessio Scotica 1560 entstandenes calvinistisches Bekenntnis Schottlands Confessio Tetrapolitana Vierstädtebekenntnis; 1530 in Augsburg vorgelegtes Bekenntnis von Straßburg, Lindau, Memmingen und Konstanz Confessio Virtembergica 1551 für das Konzil von Trient geschaffenes Bekenntnis Württembergs Confutatio Widerlegung (des Augsburger Bekenntnisses), 1530, verfasst von ca. 20 katholischen Theologen, darunter J. Eck Corpus Doctrinae Christianae/Misnicum/Philippicum 1560 in Kursachsen für verbindlich erklärte Sammlung von theologischen Texten Melanchthons Corpus Doctrinae Julium 1576 in Braunschweig-Wolfenbüttel von Herzog Julius veranlasste Zusammenstellung autoritativer theologischer Texte Damenstift evangelisch geführte klösterliche Einrichtung für Frauen Deus absconditus der verborgene Gott; Gott, dessen Handeln die Menschen nicht verstehen Deutschland Kerngebiet des → Reichs, in dem deutsch gesprochen wurde Diaspora Zerstreuung, das Judentum außerhalb des Heiligen Landes Disputation (universitäre) Diskussion Dogma verbindliche theologische Lehre doppelte Prädestination → Prädestination eines Teils der Menschen für den Himmel und eines anderen für die Hölle Dreißigjähriger Krieg mitteleuropäischer Religionskrieg 1618–1648 Ekklesiologie theologische Lehre von der Kirche Entkonfessionalisierung Zurückdrängung des Einflusses von Konfessionen Epoche Zeitabschnitt der Geschichte mit deutlichen Gemeinsamkeiten Erbauung religiöse Stärkung Erbsünde auf den Sündenfall Adams und Evas zurückgehende sündhafte Grundstruktur des Menschen Erwachsenentaufe Taufe von mündigen Erwachsenen, die sich bewusst für das Christsein entschieden haben Erwählung göttliche Auswahl eines Menschen (zum Heil) Eschatologie theologische Lehre von zukünftigen Dingen Esoterik geheime, nur Eingeweihten zugängliche (religiöse) Lehre Eucharistie wörtl. „Danksagung“; kath. Bezeichnung für das Abendmahl und die Abendmahlselemente Evangelismus katholische kirchenreformerische Bewegung in Italien Examen ordinandorum 1551 von Melanchthon geschaffene → Kirchenordnung Exerzitien religiöse Übungen Exkommunikation Ausschluss aus der Kirche Exorzismus im Rahmen der Taufhandlung Absage an den Teufel

Glossar Feg(e)feuer Reinigungsort zwischen Erde und Himmel Föderaltheologie Theologie, die die Geschichte Gottes mit den Menschen als Aufeinanderfolge verschiedener Bundesschlüsse begreift forensische Rechtfertigungslehre theologische Lehre, die sich die → Rechtfertigung des Menschen wie eine Freisprechung einer Person in einem Gerichtsverfahren vorstellt Formula Concordiae lutherische Konsenserklärung, die 1577 Lehrstreitigkeiten beendete. Frankfurter Anstand 1539 in Frankfurt a. M. vom Kaiser den Protestanten gewährte vorübergehende Tolerierung Frankfurter Rezess 1558 in Frankfurt a. M. versuchter Ausgleich innerlutherischer Lehrstreitigkeiten Freiheitsschrift Luthers Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen Frömmigkeitsbewegung religiöse Bewegung, die auf die Intensivierung der Frömmigkeit abzielt Frühe Neuzeit auf das Mittelalter folgende Geschichtsepoche von ca. 1500 bis ca. 1800 Fürstbistum das politische Herrschaftsgebiet eines Bischofs in Deutschland Fürstenbund 1552 geschlossenes Bündnis von Fürsten gegen den Kaiser Fürstenkrieg zweiter deutscher Reformationskrieg 1552 Gegenreformation katholische Reaktion auf die Reformation, Zurückdrängung der Reformation, Rekatholisierung geistlicher Vorbehalt Sonderregelung des Augsburger Religionsfriedens 1555, die den geistlichen Fürsten das → Reformationsrecht vorenthält geistliches Fürstentum das politische Herrschaftsgebiet eines Bischofs oder Abtes Gelübde Gott gegebene religiöse Versprechen zum Beispiel eines Mönches Gemeindereformation Reformationsprozesse in Dörfern und Kleinstädten Generalsuperintendent hohes kirchenleitendes Amt im Luthertum Genesis auch „1. Mose“, das 1. Buch der Bibel Glaubenstaufe die Taufe eines Glaubenden im Gegensatz zur Taufe eines unmündigen, noch nicht glaubensfähigen Kindes Gnesiolutheraner besonders strenge Lutheranhänger Habsburg katholisches Herrschergeschlecht mit Österreich als Stammland, das häufig die Kaiser stellte Häresie theologische Irrlehre Hebraistik wissenschaftliche Beschäftigung mit der hebräischen Sprache. Heidelberger Disputation Diskussion Luthers 1518 in Heidelberg mit Mönchen aus seinem Orden Heidelberger Katechismus 1563 veröffentlichter reformierter → Katechismus der Kurpfalz Heil zeitliche und ewige, versöhnte Gemeinschaft mit Gott Heiliges Römisches Reich deutscher Nation offizielle Bezeichnung des vom → Kaiser im späten Mittelalter und in der Reformationszeit regierten → Reichs

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Anhang Heiligsprechung ein förmliches Verfahren der katholischen Kirche, in dem ein Verstorbener zu einem Heiligen erklärt wird Heiligung die auf die → Rechtfertigung folgende gottgefällige Ausrichtung des Lebenswandels Heilsgeschichte die Geschichte Gottes mit den Menschen, in der er dem → Heil zum Durchbruch verhilft Helvetische Konsensformel 1675 geschaffenes Bekenntnis des Schweizer Protestantismus Hermeneutik Lehre vom rechten Verstehen (der Heiligen Schrift) Hostien Oblaten, die beim → Abendmahl Verwendung finden Hostienfrevel Beschädigung oder Vernichtung von → Hostien Hugenotten französische Protestanten Humanismus Gelehrtenbewegung in der Zeit der → Renaissance Hussiten Anhänger von J. Hus Hussitenkriege auf die Hinrichtung von J. Hus folgende Kriege in Böhmen und Mähren Imputationslehre begreift die → Rechtfertigung des Menschen als ihm widerfahrende Anrechnung der Gerechtigkeit Christi Index Verzeichnis (der für Katholiken verbotenen Bücher) Inquisition römische Behörde zur Aufspürung von Ketzern Inspiration göttliche Einhauchung Interim Zwischenlösung; → Augsburger Interim; → Leipziger Interim Invokavit-Predigten Predigtreihe Luthers, beginnend am Sonntag Invokavit Ireniker Friedensfreund Jansenismus auf C. Jansenius und seine augustinische Gnadenlehre zurückgehende Bewegung im Katholizismus Jesuiten neuer Mönchsorden des 16. Jahrhunderts, gegründet von Ignatius von Loyola Judaisieren Kirche oder Theologie jüdischem Denken annähern Jüngstes Gericht göttliches Gericht am Ende der Welt Kabbala mystische Geheimlehre des mittelalterlichen Judentums Kaiser Titel des obersten Regenten des → Heiligen Römischen Reichs Kalenderreform 1582 von Papst Gregor XIII. veranlasste Anpassung des Kalenders an das Sonnenjahr Kapuziner 1525 gegründeter franziskanischer Ordenszweig Kardinal hoher Funktionsträger der katholischen Kirche direkt unter dem Papst Katechismus Lehrbuch zur allgemeinen Unterweisung in der kirchlichen Lehre katholisch wörtliche Bedeutung: „allgemein“, „umfassend“ Katholische Reform die parallel zur Reformation beginnende innerkatholische Erneuerungsbewegung Ketzer Irrlehrer Kindertaufe Taufe von unmündigen Säuglingen und Kindern, im Gegensatz zur → Glaubens- und → Erwachsenentaufe

Glossar Kirche unter dem Kreuz kleine evangelische Gemeinden in katholischen Gebieten am Niederrhein Kirchenbann → Bann Kirchenlehrer in der katholischen Kirche Bezeichnung für erstrangige theologische Lehrer Kirchenordnung Gesetzessammlung, die in evangelischen Kirchen Gottesdienst, Amtsführung und Kirchenstruktur regelte Kirchenzucht kirchliche Strafmaßnahmen im evangelischen Bereich zur Wahrung der Sittlichkeit Klarissinnen Angehörige des auf Klara von Assisi zurückgehenden franziskanischen Ordens Kleine Eiszeit Kälteperiode in der Frühen Neuzeit Kleriker Priester und andere mit dem Sakrament der Weihe versehene Personen Kölner Reformation gescheiterter Reformationsversuch des Kölner Erzbischofs 1542–1547 Konfession wörtlich Bekenntnis, aber auch eine durch ein Bekenntnis definierte Kirche Konfessionelles Zeitalter 1555 beginnende, bis 1648 (in Ausläufern noch weiter) reichende Geschichtsepoche, in der konfessionelle Zugehörigkeiten das Leben der Menschen prägten Konfessionalisierung auf die Reformation folgender Prozess, in welchem nicht nur Religion, sondern Gesellschaft, Kultur und Politik eines Territoriums nach den Prinzipien der jeweiligen Konfession geprägt wurden Konfessionalismus Absolutsetzung und enge Orientierung am jeweiligen Bekenntnis Konfirmation Bekräftigung des Christseins durch ein nachgeholtes Taufversprechen. Kongregationen ordensähnliche Gemeinschaften im Katholizismus der Neuzeit Konkordienbuch 1580 entstandene Sammlung lutherischer Bekenntnisschriften Konkordienformel 1577 geschaffenes Bekenntnis, das im Luthertum jahrelange Streitigkeiten beilegte Kontroverstheologie neuzeitliche Theologie, die die Auseinandersetzung mit anderen Konfessionen sucht Konvertit Religionswechsler Konzil große Kirchenversammlung Konziliarismus theologische Position, die → Konzile als die entscheidenden kirchenleitenden Instanzen ansieht Kreuzzüge gegen Ungläubige, vor allem gegen Moslems gerichtete bewaffnete Pilgerfahrten im Mittelalter Kryptocalvinisten heimliche Anhänger des Calvinismus in lutherischen Kirchen Kurfürst zur Kaiserwahl (Kur/Kür = Wahl) berechtigter Fürst Kurwürde das Recht, den Kaiser wählen zu dürfen Laien Nicht-Theologen, Nicht-Kleriker

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Anhang Laienkelch Kurzformel für die Austeilung des Abendmahlsweins im Kelch auch an Nicht-Priester (Laien) Laientheologe → Laie, der sich als Theologe betätigt landesherrliches Kirchenregiment Leitung evangelischer Kirchen durch den Landesherrn Landeskirche evangelisches Kirchenwesen in Deutschland auf dem Boden eines (Bundes-)Landes mit staatskirchlichem Charakter bis 1918 Leibeigenschaft sklavenähnliche persönliche Abhängigkeit eines Menschen von seinem Herrn Leipziger Disputation Diskussion Luthers und Karlstadts mit Eck in Leipzig 1519 Leipziger Interim geplantes, nicht in Kraft getretenes kursächsisches Alternativgesetz zum → Augsburger Interim Leuenberger Konkordie 1973 getroffene theologische Vereinbarung zwischen lutherischen und reformierten Kirchen, die Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft ermöglichte Leutpriester Priester, der nicht als Mönch im Kloster lebt, sondern den Menschen (süddt.: Leute) dient Lollarden auf J. Wyclif zurückgehende Bewegung von Wanderpredigern in England Magdeburger Zenturien von M. Flacius geschaffenes apologetisches Geschichtswerk majoristischer Streit von G. Major ausgelöster Streit um die Notwendigkeit guter Werke Marranen aus Spanien und Portugal kommende, zwangsgetaufte Juden Martinianer Anhänger von Martin (Luther) Mediatisierung 1803 ff. vollzogene Mittelbarmachung, d. h. Unterstellung von zuvor reichsunmittelbaren, d. h. selbstständigen Territorien unter ein anderes, stärkeres Territorium Messe Gottesdienst mit → Eucharistie Messianismus von einer akuten Messiaserwartung erfüllte religiöse Stimmung Mischna spätjüdische Sammlung religiöser Gebote Moderne Epochenbegriff für das 19. und 20. Jahrhundert monastisch mönchisch Monstranz kostbares Gefäß zum öffentlichen Vorzeigen (lat.: monstrare) von → Hostien Mystik elitäre, innerliche Frömmigkeitsform mit Auditionen und → Visionen Nachtmahl schweizerische Bezeichnung für das → Abendmahl Neues Jerusalem endzeitliche irdische Gottesstadt nach Apk 21 neugläubig ursprünglich polemische Bezeichnung für die Anhänger der Reformation Neuzeit Epochenbegriff für die mit dem 16. Jahrhundert beginnenden Jahrhunderte Nottaufe bei einem in Lebensgefahr schwebenden Täufling durch Hebammen oder Eltern vollzogene Taufe

Glossar Nürnberger Anstand 1532 in Nürnberg den Protestanten vom Kaiser gewährte vorübergehende Tolerierung Ökumene die Christenheit in ihrer Gesamtheit Ordination Beauftragung eines evangelischen Pfarrers mit der Wortverkündigung und der Sakramentsverwaltung Orthodoxie Rechtgläubigkeit; streng auf die rechte Lehre achtende Strömungen und Theologien im Protestantismus osiandrischer Streit von A. Osiander ausgelöster Streit um das Verständnis der Rechtfertigung Packsche Händel von O. v. Pack 1528 durch falsche Anschuldigungen ausgelöste Gefahr eines Religionskrieges Palatina die pfälzische, d. h. Heidelberger (Bibliothek), die 1620 nach Rom geschafft wurde Papistisch polemische Bezeichnung für päpstliche Dinge und die vom Papst geleitete katholische Kirche Parität Gleichstellung verschiedener Konfessionen Passauer Vertrag 1552 geschlossenes Friedensabkommen zwischen evangelischen und katholischen Territorien Pelagianismus nach Pelagius (5. Jh.) benannte, die Heilsnotwendigkeit guter Werke betonende Position Philippisten Anhänger Philipp Melanchthons Philosemiten Judenfreunde Pietismus → Frömmigkeitsbewegung des späten 17. und des 18. Jahrhunderts Pilgerväter englische → Puritaner, die 1620 nach Amerika auswanderten Plakataffäre aufsehenerregende Aktion von Pariser Reformationsanhängern 1534, bei der Plakate gegen die Messe ausgehängt wurden Prädestination (göttliche) Vorherbestimmung Prädikant Prediger Prager Manifest religiöses Programm T. Müntzers 1521 Präzisismus auf religiöse Konsequenz achtende niederländische → Frömmigkeitsbewegung Primat Vorrangstellung (des Papstes) Prophezei Züricher Bibelschule Proselyt Religionswechsler (idR zwischen Juden- und Christentum) Protestation der Protest der evangelischen auf dem Reichstag von Speyer 1529 Protevangelium die als Hinweis auf Christus interpretierte Bibelstelle Gen 3,15 Puritaner nach religiöser Reinheit strebende evangelische Christen in England und Nordamerika Quäker auf H. Fox zurückgehende religiöse Sondergemeinschaft Rabbiner jüdischer Gottesgelehrter radikale Reformatoren besonders konsequente, in ihren Maßnahmen weit gehende Reformatoren Realpräsenz die wirkliche, leiblich verstandene Gegenwart Jesu Christi bei der Abendmahlsfeier

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Anhang Rechtfertigung göttliche Gerechtsprechung oder -machung eines Sünders; seine gnädige Annahme durch Gott Reformation wörtlich Zurückformung; Überbegriff für die von Luther, Zwingli und Calvin ausgelöste Kirchenreform des 16. Jahrhunderts Reformationsrecht Recht der Landesherren, in ihrem → Territorium die Reformation durchzuführen reformatorische Hauptschriften drei (manchmal auch vier) wichtige Schriften Luthers aus dem Jahr 1520 reformiert Bezeichnung für die auf die Reformation Calvins ausgerichteten Kirchen Deutschlands sowie für die auf die Reformationen Zwinglis, Oekolampads und Hallers zurückgehenden Kirchen der Schweiz Reformkatholizismus reformwillige Strömung im Katholizismus des 16. Jahrhunderts Reformkonzile Konzile des 15. Jahrhunderts, die die Reform der Kirche in Angriff zu nehmen versuchten Regensburger Buch theologisches Konsenspapier von evangelischen und katholischen Theologen, das 1541 dem Regensburger Reichstag vorlag Reich von einem gewählten → Kaiser regiertes Herrschaftsgebiet, bestehend aus weitgehend selbstständigen Einzelherrschaften Reich Gottes innerlich oder äußerlich, gegenwärtig oder zukünftig aufgefasste Wirklichkeit, in der Gott spürbar regiert Reichsacht förmlicher Ausschluss aus der Lebensgemeinschaft und Bedrohung mit dem Tode Reichsstadt selbstständige Stadt des → Reichs, die nur dem → Kaiser unterstehen Reichstag Versammlung aller selbstständigen Städte und → Territorien im → Reich mit dem → Kaiser Religionsfriede 1555 geschlossener, 1648 bekräftigter Gewaltverzicht zwischen katholischen und lutherischen, von 1648 an auch reformierten → Territorien im → Reich Religionsgespräche theologische Verhandlungen zwischen Angehörigen verschiedener Konfessionen Reliquien Überbleibsel (von Heiligen) Remonstranten in der Prädestinationsfrage von den Mehrheitspositionen abweichende Calvinisten in den Niederlanden Renaissance Kunst- und Kulturepoche des 14.–16. Jahrhunderts vor allem in Italien, die sich neu an antiken Vorbildern orientierte Restitutionsedikt 1629 erlassenes Edikt Kaiser Ferdinands II., das die Rückgabe eingezogener kirchlicher Besitztümer an die katholische Kirche vorsah Ritualmord (angeblich von Juden) aus rituellen Gründen begangene Kindstötungen Sacco di Roma Plünderung Roms durch kaiserliche Truppen 1527 Sakrament religiöse Zeichenhandlung Säkularisation Einziehung kirchlichen Besitzes und Auflösung geistlicher Territorien, besonders 1803 ff. Säkularisierung Verweltlichung, Entkirchlichung der Lebensverhältnisse

Glossar Schlacht bei Franckenhausen Entscheidungsschlacht im → Bauernkrieg 1525 Schlacht bei Kappel Schweizer Religionskrieg, Tod Zwinglis 1531 Schlacht bei Mühlberg Entscheidungsschlacht im → Schmalkaldischen Krieg 1547 Schleitheimer Artikel 1527 geschaffenes Bekenntnis einer Täufergruppe Schmalkaldische Artikel 1537 in Schmalkalden vorgelegtes Privatbekenntnis Luthers Schmalkaldischer Bund 1531 in Schmalkalden geschlossenes evangelisches Militärbündnis Schmalkaldischer Krieg Krieg des Kaisers gegen den → Schmalkaldischen Bund 1546/47 Scholastik „schulische“ Form der Theologie im Mittelalter und in der Neuzeit Schriftprinzip strenge Orientierung der Theologie an der Bibel Schwärmer polemische Bezeichnung für Christen, die mit vom biblischen Wort gelösten Wirkungen des Heiligen Geistes rechnen Semipelagianismus gemäßigter → Pelagianismus sephardische Juden Juden spanischen und portugiesischen Hintergrunds Septembertestament Luthers im September 1522 veröffentlichte Übersetzung des Neuen Testaments sola fide allein durch den Glauben (wird der Mensch gerechtfertigt) sola gratia allein aus (göttlicher) Gnade (wird der Mensch gerechtfertigt) sola scriptura allein die Heilige Schrift (ist Grundlage der Theologie) solus Christus allein Jesus Christus (verbürgt die Erlösung des Menschen und steht im Zentrum der Theologie) Sonntagsheiligung Feier des Sonntags als Tag der Auferstehung Christi durch Gottesdienstbesuch und Verzicht auf Arbeit Sozinianer von F. Sozzini geprägte Kirche, die der Trinitätslehre widersprach Spätscholastik späte (16. Jh.) Form der mittelalterlichen → Scholastik Spiritualismus eine mit aktuellen, von der Bibel unabhängigen Wirkungen des Heiligen Geistes rechnende Haltung Staatskirche von der staatlichen Obrigkeit gelenkte Kirche Sukzession Amtsfolge, z. B. von Bischöfen Superintendent leitende Person in evangelischen Kirchen Supremat(ie) Oberhoheit (über die Kirche) Syllogismus practicus Rückschluss aus dem praktischen Leben auf das göttliche Erwähltsein eines Menschen symbolische Abendmahlslehre sieht die Abendmahlselemente Brot und Wein als Symbole für den Leib und das Blut Christi an Synagoge jüdisches Gotteshaus Synergismus theologische Lehre, die ein menschliches Mitwirken bei der Erlangung des Heils für notwendig hält synergistischer Streit Streit um die Frage, ob der Mensch bei der Erlangung des Heils mitwirken muss Synkretismus Mischung verschiedener Religionen

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Anhang synkretistischer Streit innerlutherischer Streit um konfessionsverbindende Positionen von G. Calixt Synode leitende kirchliche Versammlung Talmud neben der Bibel stehende Sammlung von religiösen Erzählungen und Gesetzen im Judentum Taufbetrüger Jude, der die Taufe nur wegen materieller Vorteile begehrt und sich deshalb mehrfach um die Taufe bemüht Täufer Befürworter der Erwachsenentaufe Territorium staatsähnliches selbstständiges politisches Herrschaftsgebiet im → Reich Theosoph philosophisch und spekulativ denkender Gottesgelehrter Thomismus auf Thomas von Aquin basierende Theologie Tischreden Aussprüche und Erzählungen Luthers gegenüber Besuchern Traditionsprinzip Festhalten an der autoritativen Bedeutung der Tradition neben der Bibel Trinitätslehre die im 4. Jahrhundert definierte christliche Lehre vom einen göttlichen Wesen in drei gleichermaßen göttlichen Personen Trierer Fehde Franz von Sickingens Kampf gegen den Trierer Erzbischof 1522/23 Ubiquität Allgegenwart Unionskirchen evangelische Kirchen, zu denen → lutherische und → reformierte Christen gleichermaßen gehören Unitarier Anhänger einer die Einheit und Einzigkeit Gottes betonenden, die → Trinitätslehre zurückweisenden Lehre Verbalinspiration wörtliche göttliche Einhauchung (des Bibeltextes in seine Verfasser) Vermittlungstheologen nach Vermittlung zwischen evangelischen und katholischen Positionen strebende Theologen der Reformationszeit Verstockung von Gott bewirkte, die religiöse Wahrnehmung verhindernde Verhärtung Vision Gesicht; visuelles religiöses Erlebnis Visitation Besuch (von kirchlichen Oberen bei Pfarrern und in Gemeinden, um nach dem Rechten zu sehen) Weimarer Konfutationsbuch 1558 in Weimar geschaffene, gegen die → Philippisten gerichtete theologische Erklärung weltliches Fürstentum im Gegensatz zum → geistlichen Fürstentum ein Territorium, das von einem Fürsten beherrscht wird, der nicht geistlichen Standes ist Werkgerechtigkeit religiöse Haltung, die durch gute Taten danach strebt, von Gott Anerkennung zu erfahren. Westfälischer Friede Friedensschluss von Münster und Osnabrück 1648, der den 30-jährigen Krieg beendete Westminster Confession of Faith 1646 in England entstandenes Bekenntnis Wiedertäufer polemische Bezeichnung für Befürworter der Erwachsenentaufe, weil sie Erwachsene, die als Kind getauft worden waren, noch einmal tauften

Literatur Wittenberger Konkordie 1535 in Wittenberg zwischen Straßburger und Wittenberger Theologen erzielter Konsens in der Abendmahlslehre Wittenberger Unruhen gewaltsame Maßnahmen zur Kirchenreform in Wittenberg im Winter 1521/22 Wormser Buch 1540 bei einem Religionsgespräch in Worms entstandene gemeinsame evangelisch-katholische Erklärung Wormser Edikt Vom Kaiser 1521 in Worms erlassene Verfügung, die über M. Luther die → Reichsacht verhängte Wucherer polemische Bezeichnung für Geldhändler, die für die Geldleihe Zinsen nehmen Zehnt zehnprozentige Abgabe vom Erwirtschafteten zugunsten der Obrigkeit Zisterzienser nach der Benediktsregel lebender, im 12. Jahrhundert entstandener Mönchsorden Zölibat Ehelosigkeit (der Priester und der Mönche) Zürcher Bibel Bibelübersetzung Zwinglis und weiterer Züricher Theologen Zürcher Disputation(en) Diskussionsveranstaltung Zwinglis 1523 zur Durchsetzung der Reformation Zürcher Wurstessen Fastenbruch in Zürich 1522 Zweinaturenlehre 451 definierte Lehre, die Jesus Christus als wahren Menschen und zugleich wahren Gott bekennt Zweites Vatikanisches Konzil 1962–1965 tagende katholische Kirchenversammlung Zwickauer Propheten prophetisch auftretende, aus Zwickau stammende Reformationsanhänger im Winter 1521/1522 in Wittenberg Zwölf Artikel reformatorische Programmschrift der aufständischen Bauern aus dem Jahr 1525

Literatur Theologisches Fach- und Fremdwörterbuch. Mit einem Verzeichnis von Abkürzungen aus Theologie und Kirche / Friedrich Hauck, Gerhard Schwinge. 11., veränd. Aufl. Göttingen 2010. Wörterbuch Latein für Philosophie und Theologie / Manfred Marquardt, Christof Voigt. Lizenzausg. Darmstadt 2009 (Studium).

Quellen und Abkürzungen BSLK = Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Confession DGQD = Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung KTGQ = Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen

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Anhang

Personenregister Aepinus, Johannes (um 1499–1553) 194 Agricola, Johann (um 1493–1566) 71, 193 f Ahlefeld; Bartholomäus von (gest. 1568) 131 Albrecht von Mainz (1490/1514– 1545) 29, 32 Albrecht von Preußen (1490/1511– 1568) 185 Amsdorf(f), Nikolaus (1483–1565) 196, 202 Andreae, Jakob (1528–1590) 198, 227 Andreae, Johann Valentin (1586– 1654) 227 f Anton Ulrich, Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel (1633– 1714) 260 Antonius, Mönch u. ev. Prediger in Bergen (erw. 1526) 81 Aristarch von Samos (3. Jh. v.Chr.) 23 Aristoteles (384–322) 23, 33, 204, 251 Arminius, Jacobus (1560–1609) 210 Arndt, Johann (1555–1621) 249–251, 254 August II. von Polen → Friedrich August I. von Sachsen Augustin (354–430) 28, 79, 111, 186, 217 f Aurifaber, Johannes (1517–1568) 185 Báñez, Domingo (1528–1604) 189 Baumgartner, Hieronymus (1498– 1565) 142 Bellarmin, Robert (1542–1621) 213 f Bengel, Johann Albrecht (1687–1752) 254 Berlichingen, Götz von (um 1480– 1562) 48 Bernhard von Clairvaux (1090–1153) 79, 251 Bertschi, Markus (1483–1566) 92 Beza, Theodor von (1519–1605) 113 f, 157, 209 f Blandrata, Georg (um 1515–1588) 113

Bockelson, Jan (1508–1536) 127 f Bodenstein, Andreas → Karlstadt Böhme, Jacob (1575–1624) 247 f Boleyn, Anna (1501 oder 1507–1536) 155 Bolsec, Hieronymus (gest. um 1584/ 85) 111 Bora, Katharina von (1499–1552) 43, 139–143, 146 Boreel, Adam (1601–1665) 238 f Brenz, Johannes (1499–1570) 124, 184 Brunner, Fridolin (1499–1570) 92 Bruno, Giordano (1548–1600) 222 Bucer, Martin (1491–1551) 56, 95, 98, 102, 104–106, 115, 128, 155, 162–165, 169, 172, 209 Bugenhagen, Johannes (1485–1558) 81, 118 Bullinger, Heinrich (1504–1575) 95, 98 f, 102, 115, 128, 156, 180, 209 Bunyan, John (1628–1688) 157 Buxtorf I., Johann (1564–1629) 208 Buxtorf II., Johann (1599–1664) 208 Cajetan [eigentl. Thomas de Vio] (1469–1534) 32 Calixt, Georg (1586–1656) 228 f Calvin, Johannes (1509–1564) 11 f, 23, 95, 100–117, 131, 156, 180, 197, 200, 209 f, 214, 217 Canisius, Petrus (1521–1597) 221 Capito [eigentl. Köpfel], Wolfgang (1481–1541) 124, 163, 233 Carvajal, Antonio Fernandez (um 1590–1659) 240 Castellio, Sebastian (1515–1563) 113, 145 Chantal, Johanna Franziska von (1572–1641) 217 Chemnitz, Martin (1522–1586) 198 Christian I. von Sachsen (1560–1591) 202 Christian II. von Dänemark (1481– 1559) 81

Personenregister Christian II. von Sachsen (1583– 1611) 81, 202 Christian III. von Dänemark (1503– 1559) 81 Christian IV. von Dänemark (1577– 1648) 223 Christina von Sachsen (1505–1549) 168 f, 171 Christoph von Württemberg (1515– 1568) 134 Clarenbach, Adolf (vor 1500–1529) 56 Clemens VII. (1478–1534) 71, 155, 179 Coccejus, Johannes (1603–1669) 209 Comander [eigentl. Johannes Dorfmann] (um 1482–1557) 93 Comenius, Johann Amos (1592– 1670) 239 Cop, Nikolaus (um 1501–1540) 101 Cranach, Lukas d. J. (1515–1586) 67 Cranmer, Thomas (1489–1556) 112, 155 f, 172 Crell, Nikolaus (1552–1601) 202 Cromwell, Oliver (1599–1658) 156, 240 Cureus, Joachim (1532–1573) 201 Dannhauer, Johann Konrad (1603– 1666) 227 Descartes, René (1596–1650) 251– 253 Dorfmann, Johannes →Comander Dorsche, Johann Georg (1597–1659) 227 Dülke, Michael (um 1576–1595) 243 Dury, John (1596–1680) 229, 239 Eck, Johannes (1486–1543) 34, 91, 146, 163–165 Eggenstorfer, Michael (um 1473– 1552) 92 Elisabeth I. von England (1533–1603) 112, 156 Emser, Hieronymus (1478–1527) 147 Erasmus von Rotterdam (1466 oder 1469–1536) 20 f, 41, 49, 52–55, 58, 70, 86–89, 93, 98, 128, 146 f, 188, 197

Ernst der Fromme von SachsenGotha (1601–1675) 227 Faber Stapulensis, Jacobus (um 1455 oder 1460–1536) 41, 86 Fabri, Johannes (1478–1541) 89 Farel, Guillaume/Wilhelm (1489– 1565) 100, 102 f Ferdinand I., Kaiser (1503–1564) 37, 72 f, 80, 126, 134, 162, 174 Ferdinand II. von Aragón (1452– 1516) 186 Ferdinand II., Kaiser (1578–1637) 223 Ferdinand III., Kaiser (1608–1657) 224 Ferdinand von Österreich → Ferdinand I. Flacius Illyricus, Matthias (1520– 1575) 194 f, 197, 202, 250 Florentina von Oberweimar (geb. um 1506) 141 Francke, August Hermann (1663– 1727) 254 Franz I. von Frankreich (1494–1547) 62, 157 Franz von Assisi (1181/82–1226) 146 Franz von Sales (1567–1622) 216 Freder, Johannes (1510–1562) 194 Frederik I. von Dänemark (1471– 1533) 81 Freerks, Sikke (gest. 1531) 128 Friedrich August I. von Sachsen (1670–1733) 202, 259 Friedrich der Weise (1463–1525) 32, 40 Friedrich II. von Liegnitz (1480– 1547) 133 Friedrich III. von der Pfalz (1515– 1576) 112, 116 Friedrich III. von Sachsen → Friedrich der Weise Friedrich V. von der Pfalz (1596– 1632) 223 Froschauer, Christoph (um 1490– 1564) 88 Fuchs, Heinrich (erw. 1524) 57 Fugger, Jakob (1459–1525) 29, 51 f Galilei, Galileo (1564–1642) 222

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Anhang Gallus, Nikolaus (1516–1570) 202 Geiler von Kaysersberg, Johannes (1445–1510) 19, 143 Gelasius I. (gest. 496) 76 Gentilis, Valentino (um 1520–1566) 113 Georg III. von Sachsen 52, 72, 169 Georg III. von Waldburg-Zeil (1488– 1531) 49 Gerhard, Johann (1582–1637) 206, 237 Gerhardt, Paul (1607–1676) 207 Gerson, Christian (1569–1627) 244 Granvelle, Nicolas Perrenot de (1484/ 5–1550) 162 f Gregor XI. (1329–1378) 154 Gregor XIII. (1572–1586) 222 Greifenklau, Richard von (1467– 1531) 44 Gropper, Johannes (1503–1559) 163 Grotius, Hugo (1583–1645) 238, 253 Grumbach, Argula von (1492–1556/ 7) 144, 152 Gustav I. Wasa, König von Schweden (1496/97–1560) 82, 112 Gustav II. Adolf von Schweden (1594–1632) 223 f Gutenberg, Johannes (um 1400– 1468) 23 Guyon, Jeanne-Marie (1648–1717) 217 Gyrfalk, Thomas (gest. 1560) 92 Hafenreffer, Matthias (1561–1619) 205–207 Haller, Berchtold (1490 oder 1494– 1536) 11, 92 Hans von Küstrin (1513–1571) 173 Hardenberg, Albert Rizaeus (um 1510–1574) 112, 197 Hartlib, Samuel (um 1600–1662) 239 Hecker, Gerhard (gest. 1536) 56 Heinrich II. von Frankreich (1519– 1559) 157, 174 Heinrich IV. von Frankreich (1553– 1610) 158 Heinrich VIII. von England (1491– 1547) 154–157 Hermann von Wied (1477–1552) 105

Heshusius, Heinrich (1556–1597) 243 Heshusius, Tilemann (1527–1588) 197 Hoeck, Johannes → Aepinus, Johannes Hoffman(n), Melchior (um 1500– 1543) 121, 126–129 Hofmeister, Sebastian (1476–1533) 92 Hosius, Stanislaus (1504–1579) 161, 185 Howard, Katharina (zw. 1521 u. 1525–1542) 155 Hoyer, Geertruydt (gest. zw. 1553 u. 1558) 129 Hubmaier, Balthasar (um 1480–1528) 121, 125 f Hus, Johannes (um 1370–1415) 34 Huter, Jakob (um 1500–1536) 126 Hutten, Ulrich von (1488–1523) 21, 23, 44 Hütter, Leonhart (1563–1616) 205 Ibach, Hartmann (um 1487–um 1533) 57 Ignatius von Loyola (1491–1556) 187 f Immeli, Jakob (um 1485–1543) 92 Innozenz X. (1574–1655) 226 Isabella I. von Kastilien (1451–1504) 186 Jakob der Reiche → Fugger, Jakob Jansen(ius), Cornelius (1585–1638) 217 f Joachim I. von Brandenburg (1484– 1535) 233 Joachim II. Hector von Brandenburg (1505–1571) 162 Johann der Beständige → Johann von Sachsen Johann Friedrich der Großmütige → Johann Friedrich I. von Sachsen Johann Friedrich I. von Sachsen (1503–1554) 173 Johann Sigismund von Brandenburg (1572–1619) 116 Johann von Brandenburg-Küstrin → Hans von Küstrin

Personenregister Johann von Sachsen (1468–1532) 51 f, 72, 168 Johannes vom Kreuz (1542–1591) 216 Jonas, Justus (1493–1555) 39, 118 Joseph von Rosheim (um 1478–um 1554) 233 f Judex, Matthäus (1528–1564) 202 Julius III. (1487–1555) 183 Julius von Braunschweig-Lüneburg (1528–1589) 220 Kaiser, Jakob (gest. 1529) 96 Karg, Georg (1512/13–1576) 203 Karl der Große (747/8–814) 14 Karl V., Kaiser (1500–1558) 36–38, 71 f, 74, 162, 174, 182 Karlstadt [eigentl. Bodenstein, Andreas] (1486–1541) 42, 118, 123 Katharina von Aragón (1485–1536) 155 Kepler, Johannes (1571–1630) 205 Klara von Assisi (1193/94–1253) 146 Klebitz, Wilhelm (um 1533–1568) 197 Kleve, Anna von 155 Knox, John (1514[?]-1572) 112 Kolumbus, Christoph (1451–1506) 22 Kopernikus, Nikolaus (1473–1543) 23, 222 Köpfel, Wolfgang → Capito Koppe, Leonhard (erw. 1523) 141 Las Casas, Bartolomé de (1484–1566) 189 Laski (a Lasco), Johannes (1499– 1560) 112, 130, 156, 160 Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646– 1716) 253 Leo X. (1475–1521) 36, 71, 155, 179 Leo XIII. (1810–1903) 213 León, Jakob Jehuda (1602/3–1675) 238 Lotzer, Sebastian (um 1490–nach 1525) 47 f Lüthard, Johannes (gest. 1542) 92 Luther, Martin (1483[?]-1546) 10–12, 15 f, 23, 25–61, 63–72, 74 f, 77–81, 85–95, 97, 100–102, 104, 106 f,

109, 111, 114, 118–120, 122–125, 128, 131, 135, 138–143, 145–150, 154 f, 159, 164, 167–170, 179–182, 188, 192 f, 195–197, 199–201, 205, 213, 217, 221, 231–237, 243, 246, 262 f Major, Georg (1502–1574) 196, 201 Manz, Felix (um 1500–1527) 123 Margarete von der Saale (1522–1566) 169, 171 Maria I. Tudor (1516–1558) 156 Matthijs, Jan (um 1500–1534) 127 Maximilian I., Kaiser (1459–1519) 37 Medici, Katharina (1519–1589) 157 f Melanchthon, Philipp (1497–1560) 23, 30, 48, 57–85, 94 f, 98, 100, 102, 104 f, 109, 118, 120, 122, 124, 142 f, 145 f, 148 f, 157, 162–165, 167–173, 176, 184, 193–197, 199– 201, 205 f, 228, 233 Menasse ben Israel (1604–1657) 238– 241 Menno Simons (1496[?]-1561) 121, 128–132 Mentzer, Balthasar (1565–1627) 206 Metternich, Wolf de (1665–1730) 256 Molinos, Miguel de (1628–1696) 217 Moritz von Meißen → Moritz von Sachsen Moritz von Sachsen (1521–1553) 171, 173 f, 184 Münsterberg, Ursula von (um 1491– nach 1534) 141 Müntzer, Thomas (1489–1525) 45– 52, 118, 123, 168 Musculus, Andreas (1514–1581) 198 Napoleon (1769–1821) 14 Nausea, Friedrich (1496–1552) 184 Nigrinus, Georg (1530–1602) 236 Nikolaus von Kues (1401–1464) 76 Nützel, Kaspar (um 1471–1529) 148 Öchsli, Ludwig (gest. 1569) 92 Oekolampad, Johannes (1482–1531) 11, 91 f Olivétan, Pierre Robert (um 1506– 1538) 101 Osiander, Andreas (1496 oder 1498– 1552) 56, 148, 196

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Anhang Pack, Otto von (um 1480–1537) 72 Paracelsus (1493/94–1541) 248 Parr, Katharina (1512–1548) 155 Pascal, Blaise (1623–1662) 253 Paul III. (1468–1549) 78, 162, 181 f, 186 f Paul VI. (1897–1978) 215 Peißker, Hans (gest. 1536) 124 Pellikan, Konrad (1478–1556) 93 Penn, William (1644–1718) 226 Petri, Olaus (1493–1552) 82 Peucer, Kaspar (1525–1602) 201 f Peyer, Matthäus (gest. um 1560) 92 Pezel, Christoph (1539–1604) 201 Pfeffinger, Johann (1493–1573) 197 Pflug, Julius (1499–1564) 164, 184 Philipp von Hessen (1504–1567) 52, 56, 63 f, 66, 78, 94, 96, 162 f, 167– 171, 173 f, 231 Philips, Dirk (1504–1559) 130 Philips, Obbe (um 1500–1568) 129 Pirckheimer, Caritas (1467–1532) 146–150 Pirckheimer, Willibald (1470–1530) 146, 148 Pistorius, Johannes (1502/03–1583) 164 Pius IV. (1559–1565) 185 Raimund von Sabunde (gest. 1436) 251 Reinhart, Anna (1484–1538) 91 Reublin, Wilhelm (um 1484–nach 1558) 125 Reuchlin, Johannes (1455–1522) 21, 58 f, 93 Rink, Melchior (um 1493–nach 1551) 57 Robles, Antonio Rodrigues (gest. 1678) 240 Rörer, Georg (1492–1557) 30 Rothmann, Bernhard (1495[?]-1535) 127 Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778) 253 Salzmann, Jakob (um 1485–1526) 93 Sattler, Basilius (1549–1624) 220 Sattler, Michael (um 1490–1527) 124, 220

Schappeler, Christoph (1472–1551) 47 f Schleiermacher, Friedrich (1768– 1834) 263 Schmidt, Johann (1594–1658) 227 Schnabel, Tilmann (um 1475–1559) 56 Schütz, Katharina → Zell, Katharina Schwenckfeld, Kaspar von (1489– 1561) 118, 133–136, 144 Selnecker, Nikolaus (1530–1592) 198, 236 Serrarius, Petrus (1600–1669) 239 Servet, Michael (1511–1553) 112, 115, 145, 160 Seymour, Jane 155 Sickingen, Franz von (1481–1523) 44 f Sigismund II. August von Polen (1520–1572) 160 Silbereisen, Elisabeth (gest. 1541) 104 Sozzini, Fausto (1539–1604) 159 f Sozzini, Lelio (1525–1562) 160 Spalatin, Georg (1484–1545) 65 Spener, Philipp Jakob (1635–1705) 254 Spinoza, Baruch (1632–1677) 253 Stancarus, Franciscus (um 1501– 1574) 113, 198 Strigel, Victorin (1524–1569) 197, 201, 250 Sturm, Johannes (1507–1589) 108 Süleiman II. (1494–1566) 72 Sulzer, Simon (1508–1585) 249 T(h)eresa (auch Theresia) von Ávila (1515–1582) 215 f Tauler, Johann (um 1300–1361) 251 Thamer, Theobald (1502–1569) 195 Thomas von Aquin (um 1225–1274) 188 f, 206, 213 Thomas von Kempen (1379/80– 1471) 251 Thomasius, Christian (1655–1728) 253 Tilly, Johann Tserclaes Graf von (1559–1632) 223 Timan, Johannes (vor 1500–1557) 197

Sachregister Ulrich von Württemberg (1487– 1550) 78, 157, 169, 220 Vasco da Gama (1469–1524) 22 Veltwijck, Gerard (gest. 1555) 164 Vio, Thomas de → Cajetan Vitoria, Francisco de (1483[?]-1546) 213 Vlacich, Matthias → Flacius, Matthias Voetius, Gisbert (1589–1676) 208 f, 252 Voltaire (1694–1778) 253 Weigel, Valentin (1533–1588) 247 f Westphal, Joachim (1510–1574) 197 Wigand, Johann (1523–1587) 202 Wilhelm IV. von Hessen (1532– 1592) 174 Winckelmann, Johannes (1551–1626) 206

Wissenburg, Wolfgang (1496–1575) 92 Wolff, Christian (1679–1754) 253 Wölflin, Heinrich (1470–um 1533) 85 Wolmar, Melchior Rufus (1497– 1561) 101 Wyclif, John (um 1330–1384) 154 Zell, Katharina (1497/98–1562) 143– 146, 151 f Zell, Matthäus (1477–1548) 56, 143– 145 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von (1700–1760) 136, 254 Zwingli, Ulrich/Huldrych (1484– 1531) 11 f, 44, 48, 85–100, 109, 111, 115, 120, 122 f, 125, 131, 133 f, 139, 144 f, 157, 180, 217, 262

Sachregister Abendmahl, Abendmahlsstreit 42, 56, 60, 67, 76, 80, 90–94, 99, 103, 105, 115, 123, 125, 133, 135, 160 f, 163– 165, 169, 197, 200, 203 Ablass 19 f, 29–31, 86 f, 154, 185 Acht → Reichsacht ad fontes 20 Adelsschrift 35, 44, 46, 79 Adiaphora, adiaphoristischer Streit 194 Akademie (Genfer) 108 f, 112 f, 157 Alchemie 248 allgemeines Priestertum 35, 46, 65, 132, 138, 150, 152, 254 alternierende Sukzession 226 Älteste 107 f Amt 107, 151 Ämterkumulation 17, 65 Anabaptisten → Wiedertäufer Anfechtungen 143 Anglikanismus 156 Anthropozentrik 253 Antichrist 135

Antiklerikalismus 17, 55, 122, 158 Antinomismus, antinomistischer Streit 71, 193 Antisemitismus 236 Antitrinitarismus 112 f, 160, 198 Apokalyptik 126 f, 224 Apologie (der Confessio Augustana) 75 Arianer, Arianismus 160 Armenfürsorge 42, 66 Armer Konrad 46 Arminianer 210 Artes liberales 22 Artistenfakultät 22 aschkenasische Juden 238 Aufklärung 189, 245, 251–255 Aufklärungstheologie 253 Aufruhr 46 Augsburger Bekenntnis → Confessio Augustana Augsburger Interim 105, 172 f Augsburger Reichstage 74, 95, 171, 175–177

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Anhang Augsburger Religionsverwandte 80, 225 Augustiner-Eremiten 26 Auswanderungsrecht 175, 223 Badener Disputation 91 Baltringer Haufen 46 Bann 37 f, 123, 130 f, 135, 146, 183 Baptisten 132 f, 157 Barmer Theologische Erklärung 193 Barockscholastik 213 Bartholomäusnacht 114, 157 f, 202 Bauern 45 f, 88 Bauernkrieg 45, 52, 123 Beichte 70, 90, 165 Bekehrung 100 Bekenntnis(se) 78, 95 f, 99, 155, 184, 191 f, 198 f, 204, 210–212, 254, 256 beneficium emigrandi → Auswanderungsrecht Berner Disputation 92 Beschneidung 120 Bettelmönch 26 Betteln, Bettler 66, 242 Bettelorden 19, 81, 215 Bibel 18, 39, 51, 53 f, 67, 121, 136, 180, 254, 262 f Bibelkritik 41, 255 Bibelübersetzung 40 f, 60, 93, 101 Biblizismus 41, 154 Bigamie 170 Bikonfessionalität 221 Bilder 90 Bildersturm 125 Bilderverbot 109 Bischof 16 f, 65, 262 Book of Common Prayer 155 Brüderliche Vereinigung 123 Brunnenvergiftung 235 Buchdruck 23, 55 Bücherverbrennung 38, 60 Bulle 37 f, 146 Bund (Gottes) 99, 209 Bundestheologie 98 Bündnisse 72–74, 77 f, 96, 168, 170, 173 Bundschuh-Aufstände 46 Buße, Bußlehre 29 f, 69 f, 79, 120, 127, 184, 194, 226, 249

calvinistisch, Calvinismus 11, 111, 115, 159, 200 Chiliasmus 239 Christliche Vereinigung 48 Christologie 136, 206, 214 Christozentrik 35 Collegium Romanum 188 communicatio idiomatum 200 Concilium Tridentinum → Konzil von Trient Confessio Augustana 74–76, 96, 104, 116, 174, 192 f, 201, 263 Confessio Augustana invariata 164, 199 Confessio Augustana variata 164, 176, 201 Confessio Belgica 192 Confessio Gallicana 157, 192 Confessio Helvetica Posterior 99, 192 Confessio Helvetica Prior 99, 192 Confessio Saxonica 184, 192, 201 Confessio Scotica 192 Confessio Tetrapolitana 75, 96 Confessio Virtembergica 184, 192 Confutatio 75 Congregatio Germanica 222 Consensus Sendomirensis 160 f Corpus Doctrinae Christianae/Misnicum/Philippicum 201 Corpus Doctrinae Julium 220 cuius regio eius religio 175 Damenstift 68, 150 Deifikation 135 Denominationen 192 Deus absconditus 54 Deus revelatus 54 Deutschland 14 Diakon 107 f Diakoninnen 151 Diakonissen(häuser) 150 Diaspora 240 Disputation 30 Dogma, Dogmen 193, 200 Doppelehe 169 f doppelte Prädestination 210 Dordrechter Synode 210–212, 256 Dreißigjähriger Krieg 217, 219–230 Edikt von Nantes 158

Sachregister Ehe 66, 68, 138 f, 142, 151 Ehescheidung 155 Eidgenossen 157 Einheit der Kirche 162 Emanzipation 150, 152 Engel 205 f Entdeckungen 22 Entkonfessionalisierung 192, 255 Epoche 9, 191, 245 Erbauung, Erbauungsschriften 34, 157, 206 f, 227, 251 Erbsünde 118, 139, 163, 195 Erfahrung (religiöse) 251 Erwachsenentaufe 118 Erwählung 106, 111, 211 Eschatologie 61, 240 Esoterik 247 f Ethik 36, 254 f Eucharistie (s. auch → Abendmahl) 149, 154, 184 Evangelische Benediktinerinnen 150 Evangelismus 186, 222 Evangelium 41, 193 ewige Anbetung 188 Examen ordinandorum 201 Exegese 253 Exerzitien 187 Exkommunikation 37, 104 Exorzismus 115, 203, 249 Feg(e)feuer 19, 30 f, 89, 185 feministische Theologie 145 Föderaltheologie 209 forensische Rechtfertigungslehre 77 Formula Concordiae → Konkordienformel Fortschritt 253, 255 Forty-Two Articles of Religion → Zweiundvierzig Artikel Frankfurter Anstand 163 Frankfurter Rezess 195 Französische Revolution 158, 245 Frau(en) 138–153 Freiheit 36, 47, 52, 71, 88, 102, 158, 188, 237, 261 Freiheitsschrift 35, 41, 79 Freikirche(n) 123, 133, 259 Frömmigkeit, Frömmigkeitsbewegung 206, 246

Frühe Neuzeit 12 Fürstbistum 17 Fürstenbund 173 Fürstenkrieg 173 f Fürstenpredigt 51 Gebet 61, 68, 70 f, 187 f, 216 Gegenreformation 177, 187, 219 geistlicher Vorbehalt 175 geistliches Fürstentum 17, 175 Gelübde 25, 68, 75, 140, 141, 146, 148 Gemeindereformation 45 Gemeinsame Erklärung (zur Rechtfertigungslehre) 167 Gerechtigkeit Gottes 27 f Gericht (göttliches) 69, 127, 226 Gesellschaft Jesu → Jesuiten Gesetz 41, 193, 234 Gewalt 44, 48, 128, 146, 148 f, 219 Gewissen 39, 42, 62, 148, 158, 199, 225, 261 Glaube 51, 90, 121, 136, 141, 183 Glaubensgerechtigkeit 28 Glaubenstaufe 118, 123 Gnade 88, 217 f, 250 Gnadenbund 209 Gnesiolutheraner 202 Gottesbeweis 252 Gottesdienst 42 f, 66 f, 125, 185 Gotteserkenntnis 109 f göttliches Recht 48 Grundrecht 175 gute Werke 70, 166, 196, 250 Gütergemeinschaft 126 Hagenauer Religionsgespräch 170 Hebraistik 208 Heidelberger Disputation 33, 104 Heidelberger Katechismus 192 Heil 18 f, 53 f, 111, 119, 131, 135, 166, 187 Heilige 18, 42, 67, 185, 188 Heilige Liga von Cognac 62, 71 Heilige Schrift → Bibel Heiliger Geist 54, 90, 136 Heiliges Römisches Reich deutscher Nation 14 Heiligung 165, 197 Heilsgewissheit 55, 166, 209 Helvetische Konsensformel 192

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Anhang Herz-Jesu-Kult 188 Höllenfahrt Christi 199 Höllenstreit 194 Hospital 66 Hugenotten 157 f, 245 Humanismus 20 f, 23, 52, 58 f, 85 f, 98, 100 f, 111, 113, 146 f, 154, 157, 160, 237, 253 Hussiten 160 Hussitenkriege 223 Hutterische Brüder 126 Ilanzer Artikel 93 Imputationslehre 77, 203 Index (verbotener Bücher) 222, 252 Indianer 189 Individualismus 261 Inquisition 222 Inspiration 208 Interim 171–173 interimistischer Streit → adiaphoristischer Streit Invokavit-Predigten 42 Irenik/Ireniker 58, 228, 255 Islam 23 ius reformandi 175, 225 Jansenismus 217 Jesuiten 187–189, 213, 221 Judas von Meißen (scil. Herzog Moritz von Sachsen) 171 Juden 231–244 Judenbekehrung 229 f, 239 Judenfeindlichkeit 234–236 Judenfreundschaft 232 Judenmission 244 Judensau 235 f Judentaufen 241–244 Judenvertreibungen 231, 236 f Jüngstes Gericht 246 Kabbala 248 Kaiser 14, 36 f Kalenderreform 222 Kapuziner 152 Kargsche Händel 203 Karmeliten 215 f Katechismus 43, 79, 102, 116, 160, 221, 227, 242 f katholisch 11 f

Katholische Erneuerung → Katholische Reform Katholische Reform 177, 186 f Kenosis-Krypsis-Streit 206 Ketzer 18, 32, 36 f, 91, 104, 112 f, 119 f, 130 f, 146, 222 Kindertaufe 42, 118, 120 Kirche 76, 90, 107, 135, 214, 247 Kirche unter dem Kreuz 117 Kirchenbann → Bann Kirchenkritik 30, 87, 254 Kirchenlehrer/innen 215 Kirchenmutter 145 Kirchenordnung 42, 63, 81 f, 105, 107 f, 116, 201, 220 Kirchenreform 186, 227 f Kirchenregister 135 Kirchenunion 117, 192, 228 f Kirchenzucht 104–106, 115, 132, 151, 227 f, 246 Klarakloster (in Nürnberg) 146 Klarissen 146–150 Kleine Eiszeit 246 Kleriker 17 Klosterauflösung 68, 142, 147, 151 Klosterflucht 141 Klosterhumanismus 146 Kölner Reformation 105, 130 Kommunitäten 150 Konfession(en) 191 Konfessionalisierung 177, 191, 219– 221 Konfessionalismus 191, 245, 259 Konfessionelles Zeitalter 10, 191–212 Konfirmation 121 Kongregationen 151 König 37 Konkordienbuch 198 f Konkordienformel 192 f, 195 f, 198– 200, 202–205, 207, 227, 256 Konsens von Sandomir → Consensus Sendomirensis Konstanzer Konzil 179 Kontroverstheologie 214 Konversionen, Konvertiten 158, 177, 195, 243, 260 Konzil 62, 73, 78, 112, 165, 172, 176, 179–186, 229

Sachregister Konzil von Trient 179–186, 256 Konziliarismus 179 Krankenfürsorge 66 Kreuzzüge 19, 215 Krieg 44, 58, 62, 71 f, 86, 96, 168–171, 174, 184 Kritik 253, 255 Kryptocalvinismus 202, 229 Kurfürst 36 Laien 12, 31, 49, 107, 115, 256 Laienkelch 43, 75 f, 172, 185 Laienprediger 47, 126 f Laientheologen/innen 135, 138, 143– 145, 247 landesherrliches Kirchenregiment 65, 195 Landeskirche 63 lectio continua 87 Leibeigenschaft 45, 47, 49 Leipziger Disputation 34, 60 Leipziger Interim 173 Leuenberger Konkordie 95 Leutpriester 86 f linker Flügel der Reformation 118 Lollarden 154 Lutheraner 34 Lutherausgaben 196 lutherisch, Luthertum 11, 80–82, 111, 115, 205 Mädchenerziehung 217 Magdeburger Zenturien 195 majoristischer Streit 196 manducatio impiorum 95 manducatio indignorum 95 Marburger Religionsgespräch 94, 145, 168 Marranen 237 f, 240 Mart(in)ianer 50, 56, 133 Mediatisierung 259 Mehrehe 128 Mennoniten 128, 132, 151 Messe 17, 75, 185 Messopfer 75, 185 Messpriester 17, 86 Metaphysik 252 Millennium → Tausendjähriges Reich Mischna 238 Mission 189

Modérateur 113 Moderne 12 Mystik 215, 247 f, 251, 256 Nachfolge 106, 122, 243, 256 f Nächstenliebe 141, 146 Nachtmahl → Abendmahl Nationalkirche 82 Nationalkonzil 180 Naturwissenschaft 222 Neues Jerusalem 107, 127 Neuzeit 23, 225 Nottaufe 115 Nürnberger Anstand 78 Obrigkeit 46 f, 71, 77 f, 90, 106, 132, 200 Ökumene 260 Optimismus 255 Ordination, Ordinationsstreit 194 orthodoxe Kirchen 204 Orthodoxie 203–205, 207 osiandrischer Streit 196 Packsche Händel 72, 168 Palatina 223 Papalismus 179 Papismus 250 Papsttum 16, 72, 144, 172, 185, 214 Parität 175 f Passauer Vertrag 174, 223 Pazifismus, Pazifisten 126 Pfarrerwahl 47, 93 Pfarrfrau 142 Philippismus, Philippisten 201–203 Philosemitismus 237–241 Philosophie 251, 253 Pietismus 152, 245, 252–258 Pilgerväter 156 Plakataffäre 101, 157 Plünderungen 48 Pluralisierung 83 Polemik 54 f Prädestination 54, 111, 114, 115, 133, 209 Prädikant 19, 45, 47 Präexistenz (Jesu Christi) 160 Prager Fenstersturz 223 Prager Manifest 50 Präzisismus 208

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Anhang Predigt 18, 56, 69, 76, 87, 113, 136, 145, 261 Primat 16 Prophet(ie) 42, 87, 246 Prophezei 93 Proselyten 242–244 Protest(ation) von Speyer 73 Protestantismus 154 Protevangelium 209 Puritanismus, Puritaner 132, 208, 227 Puritanismus 156, 239 f Quäker 157, 226 Quietismus 217 radikale Reformatoren/Reformation 118 Realpräsenz 80, 94, 128, 160, 200 Rechtfertigung, Rechtfertigungslehre 27, 77, 141, 164–167, 182 f, 195 f, 203 Reduktionen (Paraguay) 189 Reformation 10, 55, 82 f, 85, 114, 116 Reformationsrecht → ius reformandi reformatorische Hauptschriften 35 reformiert, Reformierte, Reformiertentum 11, 115, 225 Reformkatholizismus 81 Reformkonzile 179 Regensburger Buch 165 Reich 14 f Reich Gottes/Christi 48, 254 Reichsacht 38 f, 73, 171 Reichsstädte 56, 134, 175 Reichstage 38, 73 Rekatholisierung 156, 161 Religionsfreiheit 175 Religionsfriede 163, 174–177 Religionsgespräche 94, 157, 162–166, 229 Reliquien 18, 66 Remonstranten 210, 253 Renaissance 16, 26 Residenzpflicht (der Bischöfe) 185 Restitutionsedikt 223 Ritualmord 240 romanische Mystik 215–217 Römischer König 174 Sabbat 234 f Sacco di Roma 71

Sakramente 67, 133, 155, 183 Sakramentierer 94 Säkularisation 73, 259 Säkularisierung 260 Salesianerinnen 217 Satan → Teufel Säuglingstaufe → Kindertaufe Schlacht bei Breitenfeld 223 Schlacht bei Franckenhausen 49 Schlacht bei Kappel 97 Schlacht bei Leipheim 49 Schlacht bei Lützen 224 Schlacht bei Mühlberg 171 Schleitheimer Artikel 123, 192 Schmalkaldische Artikel 78, 192 Schmalkaldischer Bund 77, 168, 170 Schmalkaldischer Krieg 171, 220 Scholastik/scholastisch 20, 204, 213 Schriftprinzip 35, 46, 93, 138, 204 Schulpflicht 227 Schulen/Schulwesen 64, 66, 228 Schwäbischer Bund 48 Schwärmer 90 Schwenkfelder Church 133, 136 Selbsterforschung 188 Selbsterkenntnis 109 f Seminardekret 185, 188 sephardische Juden 238 Septembertestament 41, 79 Sermone 34 Simultaneum 175 Skepsis 53 sola fide 35, 165 f sola gratia 35, 77 sola scriptura 35 solus Christus 35, 77 Sonntagsheiligung 208 f, 227 f Sozinianismus, Sozinianer 159 Spätscholastik 213 Speyerer Reichstag(e) 62, 72 Spiritualismus 90, 126, 135, 256 Spiritualpräsenz 95 Staatskirche 65, 81 f, 156 Staatslehre 214 Stipendien 64 Subjektivismus 255, 261 Sukzession 226 Sünde 90, 111, 131, 139, 250

Sachregister Supremat(ie) 155 f syllogismus practicus 210 symbolische Abendmahlslehre 94, 154 Synergismus, synergistischer Streit 197, 250 Synkretismus, synkretistischer Streit 229 Talmud 235, 244 Taufbetrug 243 Taufe 35, 51, 90, 99, 115, 118–133, 144, 241 f, 249 Täufer(bewegung) 118–133, 151 Täuferreformation 125 f Tausendjähriges Reich 239 Tempelmodell 238 Territorien 14, 56, 207 Teufel 40, 45, 53, 88, 150, 235, 244 Theosophie 247 Thesen (Luthers) 29, 33, 59, 79, 85, 89 Thesen (Zwinglis) 89 Thomismus 213 Tischreden 43, 142 Toleranz 113, 144, 148, 160 f, 175, 207, 225 f, 253 Tradition, Traditionsprinzip 182, 214, 263 Transsubstantiationslehre 165, 184 Tridentinum → Konzil von Trient Trierer Fehde 44 Trinitätslehre 112, 160 Tübinger Stift 64 Türken 23, 42, 55, 72, 78 f, 148, 170 Turmerlebnis 27 Ubiquität 200 Umsturz 202 Unionskirchen 115 Unitarier 160 Universitäten 20, 63, 109 Utopie 227 Vénérable Compagnie 113 Verbalinspiration 204 Verdienst 196 Vermittlungstheologie 105, 163 Vernunft 253

Verstockung 233 Vielehe → Mehrehe Vielweiberei 128 Vision(en) 42, 126, 215 f, 248 Visitantinnen 217 Visitation 63, 65, 68 f, 185, 220 f Vulgata 182 Waldenser 112 Wallfahrt 92, 187 Wandlungslehre → Transsubstantiationslehre Weigelianismus 247 Weimarer Konfutationsbuch 195 Weingartener Vertrag 49 Werkbund 209 Werkgerechtigkeit 36, 148 Westfälischer Friede 224–226 Westminster Confession of Faith 192 Whitehall Conference 240 Widerstandsrecht 51, 77, 200 Wiedertaufe, Wiedertäufer 119, 121 f, 243 Wiener Kongress 245 Willensfreiheit 33, 52 f, 70, 90, 197, 218 Winterkönig 223 Wittenberger Konkordie 95, 163, 169 Wittenberger Unruhen 42, 88 Wormser Buch 164 f Wormser Edikt 39, 62 Wormser Reichstag 38, 56, 167 Wucher 235 Zehnt(e) 45–47, 87, 122 Zölibat 17, 75, 86, 88, 139 Zürcher Bibel 93 Zürcher Disputation(en) 89 f, 122, 125 Zürcher Wurstessen 88 Zweifel 251 Zweinaturenlehre 160, 198, 200 zweite Reformation 116 Zweites Vatikanisches Konzil 186 Zweiundvierzig Artikel 155, 192 Zwickauer Propheten 42 Zwölf Artikel 47–49

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Anhang

Nachweis der Abbildungen Abb. 3: Holzschnitt aus: Ain anzaigung wie D. Martinus Luther zu Wurms auff dem Reichs tag eingefaren durch K. M. Jn aygner person verhört vnd mit jm darauff gehandelt. Augsburg: Melchior Ramminger, 1521, Titelblatt (Privatsammlung Martin H. Jung) Abb. 4: Holzschnitt, Lukas Cranach d. Ä., 1545 (GW Nürnberg, GNM: HB 24747S/1335) Abb. 6: Holzschnitt, Lukas Cranach d. J., um 1547 (Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlung Dresden) Abb. 7: Holzschnitt aus: Das hond zwen schweytzer bauren gemacht. Fürwar sy hond es wol betracht. [Zürich: Christoph Froschauer], 1521, Titelblatt (Privatsammlung Martin H. Jung) Abb. 10: Holzschnitt aus: Ayn bezwungene antwort vber eynen Sendtbrieff / eyner Closter nunnen / an jr schwester imm Eelichen standt zuogreschickt / darinn sy jr vil vergebner vnnützer sorg fürhelt / vnn jre gaistliche weißheit vnn gemalte hayligkait zuo menschlichem gesicht aff mutzet. [Nürnberg: Hieronymus Höltzel], 1524, Titelblatt (Privatsammlung Martin H. Jung) Abb. 12: Kupferstich aus: Johann Wolfius: Lectionum memorabilium et reconditarum centenarii XVI. Bd. 1–2. Lauingen: Rheinmichel, 1600, Bd. 2, S. 1031 (Privatsammlung Martin H. Jung) Abb. 13: Kupferstich aus: [Wolf von Metternich]: Die Wahre Kirche / was und wo sie sey / Von ihren Eigenschafften und Kennzeichen / Auch Was die Geist- und Weltliche Obrigkeiten für Recht über sie haben […]. Andere Edition Mit 2. Capiteln vermehrt. Frankfurt: ohne Verl., [1717], Titelblatt (Privatsammlung Martin H. Jung) Abb. 1, 2, 5, 8, 9, 11: Vandenhoeck & Ruprecht