Reflexionen über Sein und Werden in der Rechtsgeschichte [1 ed.] 9783428409532, 9783428009534

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Reflexionen über Sein und Werden in der Rechtsgeschichte [1 ed.]
 9783428409532, 9783428009534

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Ulrich von Lübtow Reflexionen über Sein undWerden in der Rechtsgeschichte

Reflexionen über Sein und Werden

in der Rechtsgeschichte 'Von

Dr. Ulrich von Lübtow Professor der Rechte an der Freien Universität Berlio

DUNCKER

&

HUMBLO.TI BERLIN

Alle Rechte vorbehalten Gedruckt 1954 bei Berliner Buchdruckerei .Union" GmbH., Berlin SW 29

Geheimrat Prof. Dr. Rabel zum -achtzigsten Geburtstag am 28.Januar 1954 gewidmet

Inhalt 1. Einführung in das Problem

a) Sein und Werden als allgemeine Grundformen des Denkens

9

b) Die rechtliche Seins- lll)d Werdensforschung .. . ........... ... . .... 11 c) Statische und dynamische Rechtsbetrachtung ........... . ...... .. . . 14 2. Die historische Entwicklungslehre

a) Der Entwicklungsgedanke in Vergangenheit und Gegenwart

21

b) Spengler und die Schöpfung des prätorisehen Rechts . . . . . . . . . . . . . . 24 c) Naturrecht und Historische Schule ...... .. .................... .. 27 d)

Kulturpessimismus

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

e) Die genetische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3. D i e E n t w i c k 1 u n g s g e setz e a) Das Gesetz der Kontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 b) Das Gesetz der progressiven Abstraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 c) Das Di.trerenzierungs- oder Verzweigungsgesetz .................. 42 d) Das Gesetz des

Zweckw~dels

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

e) Das Transformationsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 f)

Das Gesetz der progressiven Expansion der Staatstätigkeit . . . . . . 46

g) Das Gesetz der Konvergenzerscheinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 4. Aufgabe, Ziel und Methode geschichte des Rechts

der

Entwicklungs-

a) Unmittelbare Sinnerschließung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . 49 b) Bedeutung der Hilfswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 c) Erforschung des römischen Rechts, wie es war . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 d) Befreiung des römischen Rechts von der nachantiken Inkrustation .. 52 e) Kritische Bewertung des römischen. Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 f) Die Rechtsnorm als historisches Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

"Die große philosophische Frage allet Zeiten, die das · moderne, vom Entwicklungsgedanken ausschließlich beherrschte Denken wieder .besonders bewegt, ist die Frage nach der Versöhnung des Seins und des Werdens, und in dieser Versöhnung hat man auch die Grundlage eines positiven Begriffs des Naturrechts zu suchen." Guglielmo Salvadori, Das Naturrecht und der Enwicklungsgedanke, 1905, S. VI.

1. Einführung in das Problem a) Sein und Werden als allgemeine Grundformen des Denkens Eine der Grundformen linSeres Denken.s :besteht darin, daß sich aJ.J.e Dilllge nach :iJhrem Sein und ihrem Weroen betrachten lassen. Die Ann:ahme eines Sich-gleich-Bleib~en, Festen, Bestimmten, Unbeweglichen ist ein geisUges Konst:rukti.onsgebilde, mit dessen Hilfe man die Zeit überwinden will. ·Es gehört nicllt der Welt der Wirklichkeit an1 . Der Mensch sieht sich zu der Unterscheidung zwischen Sein und Werden gezwungen, um sich überhaupt in der Welt zurechtzufinden2 • Sein Vorgehen wiro dadurch unterstützt, daß viele Dinlge sich im Zustand scheinbarer RUJhe befinldien, und rdie Veränderung sich so langsam vollzieht, daß sie aus dem Bewußtsein ausgeschaltet weiden kan:n3• Um das Problem Sein und Weroen hat schon die .griechische Philosophie in heißem Bemühen gerungen und es denkend zu bewältigen versucht4 • Ob das Werden das einzige Gesetz aller Dinge bildet oder ob es als letzten Gnmd das Sein voraUISISetzt, ist seit altersgl'1auer Zeit eine der wichtigsten Fmgen, die das menschliche Denken immer w:iJeder gequält und besch.äftilgt hat. Sein und Werden sind notwendige Denkweisen, auf die wir nicht verzichten können. Sie bedingen sich gegenseitig•, lassen sich aber nicht ohne logische Härten miteinander verbinden. Dennoch müssen wir das Auseinanderstrebende in einer GesamtatllSChauung vereinigen. Es gibt im Grunde kein ruhendes Sein, alLes Sein löst sidl auf zum Gescllehen. Es bewahrheitet sich das Wort Heraklits: alles fließt, a1!les bewegt sich. In der Schicksalswellt existiert nur ein "verhältnismäßiges Gleichbleiben in der Wiederkehr des erlebten t M i t s c h e r 1 i c h , Die Lehre von den beweglichen und starren Begriffen, 1936, 61. 2 Mitscher li c h a. a. 0. 82. a M i t s c h e r 1 i c h a. a. 0. 4 Es ist also nicht so, daß erst K an t diese Grundformen aufgestellt hat, wie Hedemann, Einf. in die Rechtswissenschaft, 131, annimmt. s H. M·i t t e i s, Die Rechtsgeschichte und das Problem der historischen Kontinuität, 1948, 6.

10

1. Einführung in das Problem

Gesch€1hens", das wir eben aJs Zustand, als Sein erlassen und zu bewältigen suchen8 • Dem Verlangen nach Inseln eines festen Seins, die vom Strom des Geschehens nicllt berührt werden; liegt ein unauslöschliclles mensch.liclles Bed.ünfnis zu Grunde. Wer nur den ewigen Wechsel im Werden sieht, erliegt notwenwg den Gefahren des relativierenden Denkens, das zur Zerstörung aller Wer.t:e und demnächst in den .Abgtrund des ethischen Nihilismus :ffihr.t . Alles geistige Leben strebt nach EI'kenntnis der Wahrheit, die dem Gesetz der Vergänglich.k,eit nich.t unterworfen ist. Der Begriff einer wandelbaren Wahrheit enthält einen Widerspruch im Beisatz7 • Die Betrachtung des Werdens braucht eine ET!gänzung vom Bleihelliden her, und darzu muß sie einen zeitüberlegenen Standort gewinnen. Nur so kann die Geschichte für die GegenwaJrt wirklich von Wert sein. "Es heißt", so formuliert E u g e n D ü h ring in seiner kritischen Grnmd'legtung der Volikswi.rtslchaftslehre diesen Ö.edanken, "gerad€'ZU die Wissenschaft leugnen, wenn man in der Veränderung das Beha.rrenide verkennt. Letzteres gesclüeht aber durch diejenige einsetti1g geschichtliclle .AuffiaSSUlllg, welche über den Schematen, die für die einrzelnen Konfigurationen der verschiedenen Zeitalter .gelten, die übergreifenden Normen vergißt". Es gilt daher die wesentlichen und wertvollen 'Elemente verklungener Epochen von den zeitbedingten und nebensächlichen zu trennen8 , und diese Arbeit verlangt überdauernde, übergreifende Maßstäbe. D1e Erfahrungen und Erkennt:ni:sse der Verg~n:heit hedürfen eilner Einformung in eine ..~eitüberlegene und zeitumspannende" Gegenwart9 • Deshalb bezeichnet Rudolf von Ihering10 als den Zweck seines Werkes über den Geist des römischen Rechts, "nicht das römische Recht" darzustellen, "sondern das Recht, erforscht und veranschaulicht am romisch.en", und dementsprechend betrachtet er es al:s seine Aufgabe, "das Vergän~iche und rein Römische von dem Unvergänglichen und Allgemeinen zu sch.eilden" 11 • Nur auf diesem Wege glaubt er, die Frage nach dem Wert des römWchen Rechts_mi.t hinreichender Sicherheit beantworten zu können. J ed.e kritische Bewerlu.Ilig bedarf eines Maßstabes; er kann nicht dem fiücht~gen ·Augenblick der Gegenwart entnommen wer-den. I her in g sieht sich also angewiesen auf die al!lgemei:ne Lehre von der Natur und Erscheinungsform des Rechrts überhaupt12• Dabei fällt ihm auf, wie dürftig sie noch ist, und er hält ihre Vervollkommnung durch 8 Von Gott 1- 0 t t 1 i 1 i e n f e 1 d, Volk, Staat, Wirtschaft und Recht, 1936, 71. 7 E u c k e n , Geistige Strömungen der Gegenwart, 1916, 213, 267 f. s E u c k e n a. a. 0. 208. 9 E u c k e n 257 fl. 1o D.er Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung I, 1925, VII. u A. a. 0. 16. 12 A. a. 0. 23.

1. Einführung in das Problem

11

Rechtsphtiosophie, Empirie und Rechtsvergleichung für eine dringende Notwendigkeit. Er ist der Überzeugung, je größere Fortschritte hier erzielt würden, desto mehr ließe sich die Einsicht in daß wahre Wesen des römischen Rechts steigern13• Auch die Darstefirung der "Römischen Rechtsgeschichte" geht mehr vom Werden als vom Sein des Rechts aus, es überwiegt also wie in der "Deutschen Rechtsgeschichte" die genetische Methode!'. Der Ablaurf des Geschehens wird in Perioden zerlegt, die man als Für-sich-Sed.endes, Ruhendes betrachtet, um die Veränderlichkeit des Zeitmoments z;u überwi.nlden15, um eine gewiSse Ordnung ulild Einheit in d€m bunten Wechsel vorübengehender Erscheinungen :ru finden. B r u n n e r 18 verlangt, daß solche Zeit~abschnitte möglichst elastisch gesJtal:tet sein müssen. Und in der Tai gibt es j·a nur fließende Übergänge ohne scharfe Grenzen, so zum Beiispi:eol .zwischen Prinrzipat und Dominat. Bei der DarsteThmg des "Systems des röm.ische1 PrivaJtrechts" dagegen steht die dogmatische Metlhode im Vorde11grwnd. Demgemäß wird das PrilvaJtrecht von den Anfängen bis zu Justinian meist ohne Periodisiertllllg im Zusammenlhang dargestellt. Das entwicklungsgescllichtliche Moment tritt zurück, j:a es wird meist über G€1bühr vernachläss>iglt. b) Die rechtliche Seins- und Werdensforschung Soweit sich die rechtliche Seinsforschung auf die Vengangenh.eit richtet, darf sie :als h ii s t o ri: s c h e D o g m a t i k bezeichnet werden188• Sie läßt das stufenrweise V'Ol"Wärtsschreiten der Rechtsordnung zurücktreten und beobachtet und beschreibt den Rechtszustailld in einem bestimmten Abschnitt der Vergangenheit als seienden, endgültig ·a bgeschlossenen. Sie sieht vom Wenden des Rechts ab und be,trachtet es als UlllbewegHch, zeitlos, •als gewissermaßen in einem bestimmten Zeitpunkt der Vergangenheit plö:tiZlibaLd halten sie sich ungefähr die w~aa,ge, bald uberwiegt das eine, baLd das andere Element. Awf die harmonische Vereinigung kommt es an. In frühen Entwicklungsperioden pflegt das Recht me>hr statisch zu sein - Gaius IV, 11 nennt die Legisaktionen immutabiles -, aber allmählich wird das dynam.iscll.e MO!Illent stärker und stärker, bis dann ein Stillstand eintritt, und das Pendel wieder nach der anderen Seite zurückschlägt. Diese Entwicklung kann man deutlicll im Gange der römischen Rechtsgescllichte heobacllten. Bis zur Einführung des Prätoramtes im wesentli-chen statisch .u nd schwer beweglich, erhält das Recht in Gestad.t des Prätors einen dynamischen Motor. Die Rechtsentwicklung wird dem von der freien, amtlosen Jurisprudenz beratenen Jurisdiktionsmagistrat anvertraut. Als Sprecher der aequitas sollte er die starren Normen d€5. überlieferten ius civile vor Versteinerung bewahren UI1Jd dafür sorgen, daß die Gerechtigkeit in lebendigem Aufstieg ver:blieb30 - al!les in engstem Zusammenhang mit der Wirk"li.clJikeit des Lebens. Desihalb nennen die römischen Jiur:isten ihn die viva vox iuris civilis31 • Gleichzeitig aber sollte er der custos legum sein, und so wird er die Koinzidell!Z des Beharrenden und Bewegenden in einer Person. Wie der Efeu aJ:tersgraue Mauern, so umrankt das prätorisehe Recht geschmcidig und biegsam das ius civile. Er:st unter Hadrian hört der lebendige Strom dieses Rechts aiUf zu fließen. Aber das edictum perpetuum J'Ulians bedeutet keineswegs, wieS p e n .g l er32 behawpt~t, "das ,Ende der antiken Rechtsschöpfung überhaupt". Denn dank der Wirksamkeit der klassischen Jurisprud'elliZ bleibt die dynamische Schrwungkraft des Rechts gewahrt. Die Klassiker betr.achten es als ihre Aufgabe, täglich an der V·ervoll!kommnung des Rechts zu arbeiten33 . In der nachklassischen Zeit 39 A. 1. Vgl. auch Fra n z Beye r 1 e , Die Treuhand im Grundriß des deutschen Privatrechts, 1932, 41. H . M i t t e i s , Lehnrecht und Staatsgewalt, 1933, 8. H e c k , Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 54 f. V o n Schwer in , Grundzüge der deutschen Rechtsgesch. s, 1944, VII. T h i e m e, Festschr. Gierke, 274 f. 29

A.a.O.

so Von L übt o w, Der Ediktstitel "Quod metus causa gestum erit", 10.

D.1, 1, 8. II, 76. as Vgl. unten S. 18.

3t

32

16

1. Einführung in das Problem

ebbt die Bewegung ab, und schließlich hört sie in der byzantin:isch.en Periode so gut wie ganz au:f. Die wahre Größe des rörniscll.en Rechts in sejner Blütezeit besteht in dem schon von S a v i g n y 34 gepriesenen "Ebenmaß der beharrlichen und fortbewegenden Kräfte", in dem Ausgewogensein von Fest :i! g k e i t , die dem Verllangen nach einer gesicherten Ordnung entspricht, und Beweg 1 ich k e i t, die das Recht mit dem herrschenden Rechtsbewußtsein, mit den modernen sittlichen und ,gesehlschaftlichen Anschauungen im Einkl:ang hält. S p e n .g 1er s scharf geschliffene Anltithese: "Das .antike Recht war ein Recht von Körpern, unser Recht ist das von F\unktionen. Die Römer schufen eine juristische Statik, unsere Aufgabe ist eine juriStische Dynamik" 35 hat ein 1ebhaftes Echo .gefunden und manchmal wüste Verheerungen angerichtet. Unter S p e n ·g 1 e r s Einfluß ha,t A r m in V o ß in sei-nem 1932 erschienenen Buch "Der Sinn des deutschen Schicksals, ein Blick in die deutsche Zukunft" die Recht$krise geradezu als eine "Stilfooge" bezeichnet, rund dem dynamischen deutschen Wesen das statischrömische entgegengesetzt: Das überwiegend dynamisch fühlende deutsche Volk müsse sich von. statisch. denkenden Richtern, "solchen Römern dem Geiste nach", richten l.assen, die Urteile dieser Richter seien ihm unbegreifÜch, daher die Rechtskrise! Wenn S p e n g 1er das römische juristische Denken gall!Z allgemein als "statisch" kennzeichnet, so beweist er da,mit, wie wenig ihm dessen Wesen offenbar geworden ist. Wie den J!;ngländern die Rechtsprech.ung ihrer Gerichte, so erscheint den Römern die rechtsschöpferische Tätigkeit ihrer Jurisprudenz als die beste Art der Rechtsfortbildung. Dem Kodifikations,g edanken gegenüber sind· beide Völker direkt feindlich eingestellt36• Denn mit unentrinnbarer Notweruti.gkeit wird die Dynamik des Rechts dureh die Schaffung eines Gesetzlbruches gehemmt, wie ein Wehr schaltet sich die Kodifikation in den lebendigen Strom der Entwickl;ung ein. Gerade weil "niemals etwas, so zu sagen, stille steht in .den menschlichen Dingen", hält Plato37 es rur das Ideal, nicht Gesetze entscheiden zu Lassen, sondern den ,,mit königlicher Einsicht waltenden Richter". Am Anfang des römischen Mittelalters steht allerdings die Kodifikation der XII Tafeln. Aber sie bleibt tausend Jahre die eill!Zige, einem v;ulkan.ausbruch vergleichbar, hervorgestoßen drurch die schweren innerpolitischen Kämpfe der Zeit, nicht etwa eine Frucht 34 Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814, 32. as Untergang 11, 78, 97. 3 6 D e B o o r, Methode des engl. Rechts, 22 ff. Von L üb t o w , Studi Arangio-Ruiz II, 359 f. Vgl. auch F. Sc h u 1 z, Prinzipien, 4 ff. Abweichend K os c hake r, Europa und das röm. Recht, 180. 37 Politicos, 294a, b, c.

1. Einführung in das Problem

11

systematischer Neigungen. Die Hauptmasse des römischen Recltts bild~ auf den Gebieten des Privatrechts und Zi'Vilprorresses das Juristenrecht, nicht das Gesetz.esrecht, das sclwn rein teclmisch gesehen nur schwach entwickelt ist. Es ist daher grundfalsch, daß bei den Römern das Gesetz den Ausdruck für den Sinn des Rechts gebildet habe88• Nicht durch ihr Gesetzesrecht, sondern durch das zur höchsten Vollendung emporentwickelte Recht ihrer praktischen Wissen:sch.aft haben sie sich den Ehrennamen eines Rechtsvolkes in ihrem geschichtlichen Weroegang erkämpft. Allgemeine Theorien aufzustellen, lag den Römern genau wie den Engländern fern. Das Wesentliche war ihnen immer die angemessene Entscheidung des Einzelfalles, worin sie es mit intuitiver Sicherheit zur Meisterschaft brachten. Es fethJ:te ihnen keineswegs das Bewußtsein des dem Recht ianmanenten Systems. Ihr Werk erweist sich ·als eine von hohem sittlichem Empfinden getragene, aus einheitlichen Grundaluffassungen geflossene Leistung; allerdings blieb die Systematik mehr ooer weniger latent89, während sie bei der englischen JurisprudeJliZ an dem Mangel selbst latenter Grundauffassungen leidet40. In der Formulierung allgemeiner Grundsätze hatten die Klassiker keine glückliche Hand; sie mißlingt meistens4 1, eben weil ihr Denken so beweglich. und flüssig ist42, können sie es so schwer in s4u'r:e Formeln bannen, die immer die Gefahr des Begriffsrealismus mit sich bringen. "Gefrorenes Denlren43 " halten sie denn auch für eine nie versiegende Fehlerquelle. Diese Unvollkommenheit der Sprache, einen Gedanken allumfassend wiederzugeben, hat wohl aUJCh. S c h i 11er gemeint, wenri er in den Votivtafeln sagt44 : "Warum kann der leben-dige Geist dem Geist nicht erscheinen? Spricht die Seele, so spricllt ach! Schon die Seele nicht mehr." Omnis definitio in iure civili periculosa; rarum est enim, ut non subverti possit, warnt J avole111US45 • Seme Worte sind der Ausdruck für das Ver.langi:m, daß Raum sein soll für die Entstehung von Neuem. Es besteht immer So Schön f e 1d, Festschr. Schultze, 387. Siehe dazu die Ausführungen B e t t i s Tijdskrift voor Rechtsgesch., 15, 9 ff. und die dort Anm. 10 angeführten Arbeiten L a P i r a s. Ferner Sec k e 1, Das röm. Recht und seine Wissenschaft im Wandel der Jahrhunderte, 10, F. Sc h u 1z, Prinzipien, 36 ff., und K o s c hake r, Europa und das römische Recht, 90 A. 5. 40 Ger 1 an d, Engl. Gerichtsverf., 945 A. 2 und der dort zitierte B r y c e. 41 Bett i a. a. 0. 10. 4:t K u n k e 1 , RPR., 36. 49 I h e r i n g , Geist li 2, 445. u S c h i 11 e r s Ausspruch wird schon von I h e r i n g a. a. 0. in demselben Zusammenhang zitiert, ebenso von Schön f e 1 d, Festschr. Schultze, 321. 45 D. 50, 17, 202. Dazu etwa von L übt o w, Festschr. Wenger I, 230 f. as

39

2 L ü b t o

w. Reflexionen

18

1. Einführung in das Problem

die Gefahr, d!aß der Begriff fest wird und das ewig Fließende versteinert, daß er die Dinge aus dem Zus:amanenhiang reißt, sie künstliiCh. isoliert. Man kann mit dem Begriff nicht wie .mit einer Zaihl rechnen. In dem Augenblick, wo er nicht mehr als nu-r behelfsmäßige Ordnung betrach.~ tet; sondern als selbständige Ma.ch:t aufgefaßt, verabsolutiert wird, gerät er in ein falsches Ve:I1hältnis zur WirkHch.kcit. Das Verhältnis zwischen Wirklichk,eit und Gedanke dreht sich um; der Begriff setzt sich an die Stelle der WJrklichkeit, obwohl er nur ihr Spiegelbild sein sollte; er verzerrt d:ann das wirklich Lebendige. Es entsteht der "Begriffsrealismus". Es ist nun aber nicht so, daß die römische Jurisprudenz gLaubt, ohne Begriff.e auskommen zu können, aber sie will nicht in Begriffen, d. h. jenseLts der Wirklichkeit leben. Deshalb sagt Paulus46 :

Regula (= definitio)41 est, quae rem, quae est, breviter enarrat. non ex regula ius sumatur, sed ex iure, quod est, regula fiat. per regulam igitur brevis rerum narratio traditur, et, ut ait Sabinus, quasi causae coniectio est, quae simul cum in aliquo vitiata est, perdit officium suttm.

Der Begriff ist eine kurze Zusammenfassung dessen, was ist. Aus der konkreten Wirklich:kci't des Rechtsil;ebens selbst muß er hera'USgearbeitet werden. Ins Innere der Dinge muß man sich versetzen; :aui das verstehende Nacherleben, die unmittelbare Anschauung des Richtigen kommt es an. Der Begriff verliert sofort seine Bedeutung, wenn er sich im Einzelfall als unrichtLg gebildet erweist. Er ist nicht fest und unwandel:bar4 8 ; denn weil er von der Wirklichkeit erzeugt wird, paßt er s~ch ihr an und wird von d.hren Bedürfnissen begrenzt. Das Recht ist nicht etwas Immer.gleiches, ein für allemal Gegebenes. Es ist der Ausdruck des SchöpferwiUens der Jurisprudenz. Es ist kein stabiler Besitz, sondern das Wesentliche an ihm ist das tägliche Ringen der Juristen nach seiner Verbesserung und VervollkommnUil!g: Constare non potest ius, heißt es bei Pomponirus49 , nisi sit aliquis iuris peritus, per quem possit cottidie in melius produci. Aus demselben Lebensgefühl hellaus negiert Ulpian50 eine Philosophie, die weitabgewandt apriorischen Gedankengängen nachjagt: 48

47

D. 50, 17, 1. Regula bedeutet hier nicht Rechtssatz, sondern Begriffsbestimmung.

S:e c k e·l- Heumann, s. v. regula; deflnitio. Jung, Das Problem des natürlichen Rechts, 1912, 322. 48 Vgl. auch Mau r i c e B o u c her, Heimat Vaterland Menschheit, Leben und Krankheit der Begriffe, 1953, 5. .49 D. 1, 2, 2, 13. Dazu von L übt o w , Blüte und Verfall . der röm. Freiheit, 1953, 149. 50 D. 1, 1, 1, 1. Dazu von L übt o w, ZSSt. 66, 461 f. Wenger, Quellen, 6,

1. Einführung fn das Problem

19

iustitiam namque coZimus et boni et aequi notitiam profitemur, aequum ab iniquo separantes, Zicitum ab iZlicito discernentes, ... veram nisi fallor phiZosophiam, non simula.tam a f f e c t a n t e s. In der Energie dieser Negation gibt sich kund, was als unverträglich mit dem ureigensten Wesen der Jurisprudem: empfUiliden wird. Der wahre Empirismus der Jurisprudenz, das Erfassen der Wirklichkeiten, ist für Ulpian die wahre Philosophie. Die Rech.tswi&senschaf,t fühlt sich verpflichtet, die retiche Wirklichkeit mit ihren .A!btönungen, Feinheiten und Verwiekhingen anzuschauen, zu fühlen :und Z'l,l erfassen, sich nicht auf begriffliche Vorstellungen, :auf Theorien und Dogmen so zu versteifen, daß ein unmittelbares Verhältnis zur Wirkl.ichkeit ausgeseh1ossen wiro. Mit immanenter Wucht setzt sich .bei den römischen Klassikern immer wieder die ihnen in Fleisch und Blut übergeg,angene kasUJistische Methode durch und überwiegt alle Systematik; sie waren un'Cl blieben sich selbst treu als die geborenen genialen Praktiker des Rechts51 ; ihre ständige Berührung mit dem praktischen Leben bewahrte sie ebenso wie die englischen Juristen vor einseitiger aprioristischer Spekulat1on, vo~ jener erstarrenden Orthodoxie, die uns bei den Völkern des Orients begegnet, .und hielt das klassische Recht in einem "flüssigen Ag.g rel§atzustand52". Das klassische Recht ist im wesel1Jtlichen ein Akti.onenrecht; das heißt, die Klassiker sehen den Tatbestand im Licht des ZivHprozesses, sie prüfen das Arbeitsfeld der Aktionen, Ziel und Zweck ihres Daseins53• Das materielle Recht liegt hinter den Aktioneri verborgen. Genauso verfuhren die geborenen Juristen des deutschen Vol:kes54 , die Lang.obarden55. Der Rechtsgang zeilgt ja gerade die lebendige Bewe-· gung des Rechts, das Recht im Zustand der Dynamik, nicht der Statik. Und trotz aller Traditionsgebundenheit versuch·e n die Klassiker stets, dem Recht, das mit ihnen geboren, zum Sieg 2!U verhelfen. Erst die byzantindsche Jurispruderuz erstarrt in kontemplativer Betrachtung der "Natur" der Rechtsverhältnisse58 , Theorie und Praxis trennen sich, das Recht wird zum Tummelplatz juristischer Dialektik, scholastischer Spitzfindd.gkeit. Die Scholastik hält ihren Einzug in die Rechtswissen51 Von M a y r, RRg. li 1, 87. S p eng 1er, Il, 70. 52 Sec k e 1- L e v y, ZSSt. 47, 169. , 58 ·Von L übt o w, Ediktstitel, 244. Vgl. auch F. Sc h u 1 z a. a. 0. 21, 29 . . 54 So h m- Mitte i s- Wenger, Institutionen, 1930. 139. S eh ö n.., felda.a.0 .. 284. .55 Schön f e 1 d a. a. 0. 357 f. 56 Vgl. von M a y r, RRg. IV, 117. S t o ll, Arch ziv Prax. 126, 186. Rabe 1, Grundzüge, 405 A; 1 bezeichnet die natura actionis und die natura contractus als "zwei Haupthebel der Byzantiner" . . 2*

1. :Einführung in das Problem

scha.ft57, die sich vom Leben und seinen Bedürfnissen abwendet. Die Dinge der Außenwelt, um die man sich nicht bekümmert, haben sich nach den Begriffen ru richten, nicht umgekehrt. Dürre und Dunkelheit verdrän~n, durc9. eine schillernde Sprache übertüncht, die klassische Frische und Klarheit. Die reale Kasuistik weicht einer bloß erdachten. Ehdlose Distinktionen und Subdistinktionen bilden die Formen des juristischen Denkprozesses58• Diese ga~e Methode schenkt dem Werdeprozeß des Rechts keine Beachtung mehr. "Die schöpferische Tätigkeit der Juristen versiegt, das ius civile verknöchert, und ·die Bildung neuer Rechtssätze ist wenigstens nach der herrscllenden Vorstellung •auf die Gesetzgebung angewiesen. " 59

ll7 Rabel, Grundzüge, 405. Partsch, Vom Beruf, 57. Kübler, Gesch. des röm. Rechts, 426. S t o 11 a. a. 0. 185. K a s er, Röm. Rechtsgesch., 212. H. J. Wo 1 f f, Roman Law, 157. Vgl. auch E. Jung, Süddeutsche Monatshefte 26. Jahrg., 272 ff., und K o s c hake r, Europa und das römische Recht, 337 f., der die These vertritt, die systematische Rechtswissenschaft sei bis auf den heutigen Tag Scholastik geblieben, weil sie ein geltendes Recht voraussetze, das nur ex auctoritate bestehen könne. 58 Pr in g s heim, Lenel-Festschr. 1921, 204 ff. su E h r 1 i c h , .Juristische Logik, 49.

2. Die historische Entwicklungslehre a) Der

Entwicklungsgedanke in Ver ·g angenheit und Gegenwart

Es liegt auf der Hand, daß das Problem Seih und Werden auf dem ,Gebiete der geschichtlichen Betrachtungsweise eine besondere Rolle spielt. K a r 1 R o t h e n b ü c h e r 1 unterscheidet sogar zwei Arten der Geschichtswissenschaft, die er als "völlig entgegengesetzt" bezeichnet: Die Werdens- und die Sei.nsforschung. Diese Art erlaßt die Zuständ~ der Verg·angenheit in 1lhrem Sein, jene macht das Werden .z um Gegenstand der Forschung, erblickt das "Geschichtliche" im "Geßchehen", in der rastlosen Bewegung, dem ununterbrochenen Wandel. Beide Arten stehen sich indessen nicht so unversöhnlich und unausgleichbar gegenüber, wie Rot h e n b ü c her ·imnilmmt. Zum Ziel kann auch hier nur eine· harmonische Synthese führen. Eine mathematisch saubere Scheidung ist WlS-erem Denken überhaupt unmöglich. Allerdings steht fest, daß die geschichtlid1e Betrach.tungsweise das gedankliche Ü~gewicht nicht auf das . Gewordensein, sond-ern auf das Werden und Wl8cllsen zu legen hat. Der Gedanke des sich immer wieder erneu-ernden Werdens enthüllt nach den Worten Kurt B r e y s i g s 2 in der Tat "den innerstenKernaller Geschichtsanschauung~'.3 "Und dieser bleibt"- so fährt er fort- "wahrlich der g.eschichtlichste von allen Geschichtsgedanken; sobald man nur unter dem deskriptiven Wortverstand die tiefere Schicht ein-er WisseillScltaft vom Weroen ahnt" oder, wie man wohl genauerund klarer zu sagen hat, sobald man unter dem Werden den E n tw i c k 1u n g s g e da n k e n erfaßt. Die Entstehung dieses Gedankens und seine Bedeutung für Natur"' und Geisteswissenscltaften darzustellen, würde ein besonderes, umfangreiches Werk erfoniern•. Es handelt sich um einen Zentrialbegriff, über das Wesen des Geschichtlichen, 1926. Gestaltungen des Entwicklungsgedankens, 1940, 11. 3 Siehe auch S p eng 1 er I, 155: "Geschichte ist diejenige Art der Weltfassung, in welcher alles Gewordne dem Werden eingefügt wird". ' Vgl. Ru d o 1 f Eu c k e n, Geistige Strömungen der Gegenwart, 1916, 182 ff. Hein r i c h Sc h m i d t, Geschichte der Entwicklungslehre, 1918. E. B r a n d e n b u r g , Det Begriff der Entwicklung in seiner Anwendung auf die Geschichte; 1941. R. H i 1 d e brand t, Über das Problem einer allgemeinen Entwicklungsgeschichte des Rechts und der Sitte, 1894. Ernst Neukamp, Entwicklungsgeschichte des Rechts I: Einleitung, 1895. t

2

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2. Die historische Entwicklungslehre

der, aus naturwissenschaftlicller Werkstatt namentlicll Lama .r c k s und Darwins stammend, auf dem Wege über Goethe, Herder, H e g e 1 , S p e n c er .und B er g so n , in alle Wissensgebiete eingedrungen ist und nunmehr die ruatürliche GrundLage der wisseru;chaftlichen Ar:beit bildet. Auch auf dem Gebiet der Rechtsgeschicllte bedeutet er eine geradezu kopernikanische Wendung. Ihm hier zur Geltung verholfen zu haben, ist das Verdienst der Historischen Schule. Der Entwicklungsgedanke lieferte das Schmelzmittel, das die Welt der Rechtsgeschicllte aus ihrer Erstarrung befreite. Wir können uns das Ret, gewissermaßen verewigt, der Wechsel der Zeit wird in ·einem Grade aufgehoben, den wir uns heute nur schwer vonstellen können 6• Desh:allb findet "das Wort Entwicklnmg in den kLassischen Sprachen kaum eine Ü'bersetzung und deshalb in den kLassischen Kulturen keine Resönanz" .7 Heraklits erkenntnistheoretisches Wort: 1r6:V"1'a l>ei bedeutet nicht EntwickLung; sond,ern ein ewi:ges W echse1n urud Verfließen. Hemklit bekLagt den ewigen Fluß der Dinge. Er glaubt deshalb an den ·ol"dnenderi Logos, an die :rlhytb:mische Wiederkehr der Dinge, um so Halt und Sinn in die unausgesetzte Bewegung ·zu bring,en8 • Zwjschen dem heraklitischen und unserem Werden liegt die Welt der Biologie. _: . ' ..

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G u g 1 i e 1m o S a 1 v a d o r i, Das Naturrecht und _der Entwicklungsgedanke, 1905. Fra n z Beye r 1 e , Der Entwicklungsgedanke im Recht, 1938. Dazu auch T h i e m e, Festschr. Gierke, 1950, 271 ff. H. Mi t t e i s, Festscht. Kaufmann, 1950, 265 ff. S i b er , Röm. Verfassungsrecht, 5. Muß , Gesch. des abendländischen Geistes II, 417 ff. s Untergang des Abendlandes I, 1931, 10 ff. .. . , s Vgl. ·da:z;u J o e 1, Geschichte der antiken Philosophie!, 1921, 77, 82 ff., w~

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Joel a.a.o. 77. s VgL Kranz, Gesch. d. Philosophie, 1941, 56 ff. Nest 1 e , Vom .Mythos zum Logos,l942, 95ft'. Windelband-Heimsoeth; Lehrb. der Gesch. der Philosop.bie, 1935, 30 f . 7

2. Die historische Entwicklungslehre

Trotzdem ist es U:lliZUtreffend, wenn S p eng 1 e r 9 · den rön:iiscllen Juristen und ihrem Volke den historiSchen Sinn abspricltt i.und daraus das Wesen der römischen Rechtsbildung bestirmni. ·GeWiß: · Der Sinn der Geschichte als einer Entwicklung war ihnen tilioch nicht kLar geworden; diesen Mangel teilen sie mit den langobaxid:ischen10, den englisclien Juristen Wld ~ie1en modernen "reinen" Dogmatikern. Aber ein Völk, das so auf Tradition hält, so reine Vergangenheit ehrt und achtet wie die Römer, hatte ein geschichtliches Bewußtsein. Sie sahen den Sinn der Geschichte in der Einheit der vergangenen, .g egenwär·tigen .u nd zukünftigen Geschlechter. Schön f e 1 d 11 nennt diese Denkweise,_wgilr die "echte Gesch1chtlichkeit", die "waihre Natürlich!keit", .m1 der wir zurückkehren müßten; daJbei verkennt er aber wohl doch ßie umw,älzende Bedeutung des Entwick1ungsgedanken& Das Einsgefühl von VJerg.ang•enheit, Gegenwart ·und Zu~unft ist der Grund dafür, daß die Klassiker - von einigen antiquarischen Äußerungen abgesehen ni_c ht zu einer. Entwick,lungsgeschichte ihrer Rechtseinrichtungen gelangt sind. und ihre Bedeutung für das Verständnis des gelt·enden Rechts und seiner Krittk überhaupt nicht erfassen konnten. Dadurch erklären sich manche Schwächen und archaische Eigentürnlichkei:ten de5 klassischen Rechts12, die sonst vermieden worden wäreli.. zti große UIWUttäglichkeiten jedoch: ausblieben, S() ~t da~r auf den glänzenden . Wirklichkeitssilln der Klassiker zurückzuführen, der ~i~ das. Recht aus dem Leben ihrer Zeit hellausbilden lie"ß. Die römische Jur{sprutienz hielt es für, ihre Aufgabe, das lebende und. in der täglieiche hel1enistisclle, philosophis.che und christliche Rechtsgedan:ken. Viele der von ihnen erfundenen Dogmen sind in das Werk Jusltinians übergegangen und von dort in die Wissenschaft und die Gesetzgebung der Neuzeit, sie wirkenkraftdes Gesetzes der Trägheit bis in die Gegenwart fort6 • Es besteht daher alle Veranlassung, in die Gedankenwelt dieser Spätz·eit einzudringen7 • d) B e frei u n g des r ö misch. e n Rechts v o n der nachantik ·e n Inkrustation Ferner ist es unsere Au:figalbe; das römische Recht von seiner nacha n .t i k e n I n k r u s t a t i o n zu befreien. Man muß sich hüten, Gedanken ·als römisches Recht aJUSZugeben, die erst im Mittelalter und in der Neuz,eit hineingetragen wurden, und die kein römischer Jurist als römisch anerkennen würde8 • Es war ja ein besonders verhängnisvoller Fehler, daß man alle möglichen und unmöglichen Sätze in das römi:sche Recht hineinlas9 und aus ih:m entnahm, die man eben h.aben wollte, seine wich!tigste, im klassischen Recht zu höchster Vollendung aus.g es Oben S. 19 f. Man denke an das Dogma der Unzulässigkeit einer Eigentümerservitut (von L üb t o w , Schenkungen der Eltern, 1949, 69 ff.) und der gleitenden Bereicherung (v o n L üb t o w, Beiträge zur Lehre von der Condictio, 1952, 6

51, 157 ff.).

7 P a r t s c h a. a. 0. 54 ff. S t o 11 , Arch ziv Prax. 126, 184 ff. S c h w a r z , Pandektenwissenschaft, 24. ~ A. B. Schwarz a.a.O. 11. g Vgl. Mo m m s e n , Reden und Aufsätze, 204.

A.

B.

4. Aufgabe, Ziel und Methode der Entwicklungsgeschichte des Rechts 53

prägte Eilgenschaft aber verkannte: Die lebensnahe ebeillllläßige Fortbildung des Rechts, die geniale Synthese von Recht und Billigkeit, von Regelrecht und materieller Gerechtigkeit1o. Die tiefsten Grunde dieser eigenartigen Erscheinung liegen in der von S p e n g 1 e r 11 aufgezeigten Art und Weise der Berührung zwischen den Kulturen, einer lebenden und der Formenwelt einer toten. Jedes Volk, das eine fremde Kultur übernimmt, legt in die Formelemente seine eigene Seele hinein. Das ze~gt S p e n ·g I er an dem "Fortwirken" der grilechiscllen Philosophie und des Christentums. Es sind :im Grunde nur die Worte, die man vernJimmt, und die der Hörer in se:iJnem Sinn interpretiert, ohne sich in die Seele der fremden Kultur hineinzuversetzen. "Nicht das Geschaffene wirkt ein", sondem das Schaffende "nimmt an". So mt es eine vollkommen mystische Vorstellung, daß das römische Recht sich "mit der Kraft eines W:asserfalls" 12 auf das deutsche ge;türzt, das Dasein des deutschen Volkes sich unterworfen und es gezwungen hätte, römisch statt deutsch zu den1ken. Vielmehr nalhm man von vornherein auf, was man haben wollte, traf seine Auswaihl., sah dlas Aufgenommene so, wie man es wünschte, nicht wie der Schöpfer es ·g emeint rhatte oder verstanden wissen wollte. Dariiber dachte man nicht emstlieh nach. Nirgends zeigt sich wohl bei der Übernahme einer fremden Kultur "die Kunst des planmäßigen Mißverstehens"13, der planmäßigen Umdeutung deutlicher als hier, und sie dauert bis in die Gegenwart fort. W~e die Theruogie gl:aJuibte, daß alle der Menschheit notwendigen Erkenntnisse in der Offenbarung, in der Bibel schon enthalten seien und durch richtige Auslegung ermittelt werden könnten, so war die gemeinrechtliche Jurisprudenz davon überzeugt, im Gesetzbuch J;ustinians die ewige Wahrheit gefunden zu haben. Jeder Satz des Corpus iuris galt den Juristen - wie den Theologen der Eilbeltext - als unabänderlich und in .gle~em Maße wertvoll. Der Glaube ersetzte die Beweis·g ründe. Dieses starre Festhalten am Üiberlieferten Text mußte die durch den Kulturfortschritt der Völlker bedingten Wandlungen im Rechtsleben stören. Das Recht wurde nicht meihr wie einst in Rom unmittelbar aus dem Leben hera'llSgebildet, sondem es trat j.e tzt dem Leben als fester, unverrückbarer Maßstab gegenüber. Große Schwierigkeiten ibot die Anknüpfung des auligenommenen Rechts an Rechtsverhältnisse, die ihm völlig fremd waren14• Denn d1e mittelalterliche Sec k e 1, Das röm. Recht und seine Wissenschaft, 10. Untergang li, 62 ff. 12 So Feh r, Recht u. Wirklichkeit, 90. 1s S p eng 1 er a. a. 0. 67. 14 Darüber handelt eindrucksvoll E h r 1 i c h , Grundlegung der Soziologie , des Rechts, 239 ff., 257 ff. Siehe auch seine Juristische Logik, 48 ff. Vgl. ferner K o s c hake r, Europa und das röm. Recht, 93. 10

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54 4. Aufgabe, Ziel und Methode der Entwicklungsgeschichte des Rechts

Gesellschaft befand sich auf einer .ganz anderen Entwicklrttni~tufe als die römische. Die En1schcidungen des Corpus iuris wandte man auf allle Fälle an, die den entschledenen eini,germaßen ähnlich waren, und mit dem argurnenturn e contrario, e silentio und all den anderen Folterwerkzeugen wurde aus den Quellen die Antwort auf Fragen heraiUSgepreßt, an die in ihn"e'.ll nicht ged:acht war. In der Meinung, alle Rechtsfragen müßten schon im Corpus iuris vorgedacht und geregelt sein, Las man die erwünschten Vorschrif,ten aus ihm heraus und noch öfter in das Gesetz hinein. DaJdlurch wurde natürlich nicht selten der Sinn der lex Romana verfälscht. Um die römischen Begriffe brauchbar zu machen, W'1ll"den sie immer abstrakter gestaltel So schu:f die J~ri­ sprudenz den ·abs.traikten ElgentumSJbegriff, indem sie von al·l en metajuristi:sch.e!n Bindungen, denen das Eigentum in Rom unterworfen war, abstrahierte. Es entstand' eine Begriffs- und Konstruktionsjurisprudenz, die oft ganz willkürlich mit den Quellen .umsprang. Diese ~rt der Anwendung des rezipie11ten Rechts war es vor allem, die zu Mißhelligkeiten führte und die Klagen über das. fremde Recht hervorrief. Alierdings befand sich die Jurisprudenz in einer Zwangslage. Betrachtete sie das Corpus iuris als· geltendes Recht, so blieb 1!hr wohl kaum ein anderer Weg, als seine Sätze im Wege der Konstruktion ZIUrechtrubiegen. Keine ernsthaften Schwierigkeiten hätte es gegeben, wenn man das römische Recht der klassischen Zeit, deren Geistesarbeit in der justini:anischen Komplikation vorliegt, als wissen s c h a f tliches Beispi·el, als Schule der Rechtsschöpfung betrachtet !hätte. Denn das Bekenntnis zur au.sscliließlichen Deduktion Ji,eß keinen Raum für eine sachgemäße, lebensnahe FortbiLdung des Rechts. Jedoch ist es eine offene Frage, ob die Jurisprudenz schon damals die Kraft gehabt hätte, mit Hilfe der Met'hod.e indJuktiver ErmittLung Er1kenntn:isse aus Beobachtung und Erfahrung, wie sie den römischen Klassikern zu eigen war, ein gemeines .deutsches Recht zu schaffen. e) Kritisch.e Bewertun>g des römischen Reclhts MLt der entwicklungsgeschichtlichen und geistesgeschichtlichen Methode bat sich fortlaufend die k r i t i s c h e Betrachtung und Beurteilung des römischen Rechts zu verbinden, insbesondere der Fragen, ob die ·antilkenJuristen auf dem richtigen Wege waren, sodann, ob :iJhre Problemlösungen auch heute noch zweckmäßig erscheinen. Das Programm einer geschichtsphi1osophischen Kritik, des römischen Rechts hat ebenfalls schon I hering15 aufgestellt und dem juristischen Positivismus zum VolW'Url gemacht, daß es ihm nur auf die reine Dar15

Geist I, 16 ff.

4. Aufgabe, Ziel und Methode der Entwicklungsgeschichte des Rechts 55

stellru.ng der Tatsachen ankomme, nicht dagegen a!U.f eine Wertung des über!k.ommenen Materials. Der Verzicht auf eigene Stellungnahme gehört zum Wesen des relativierenden Historismus. Gerade deshalb erblickt Furt w ä il g 1e r 16 in dem Vermögen historischen Den.kens ein waJhres Verhängnis, weil es nicht nur zum bloßen Zuscltauertum zwinge, sondern auch vom Zwang, selber SteUun.g zu nehmen und zu werten, befreie. Es islt eine Grundfrage geschichtlichen Denikens, ob der Geschichtsschreiber sich gewissermaßen selbst auslöschen und nur beschreiben solle, wie es wirklich gewesen sei, oder ob er auch wertJen. drü.rfe, ja müsse. Beide Auffassungen bi1den in W.ahr'heit keine unvereinbaren Gegensätze. Gewiß soll der Historiker mit peinlicher Gewissenhaftigkeit und strengster Unbefangenheit auf Grund genauesten QueHenstudiums die Tatsachen feststellen. Aber die Ausschaltung aUer Werturteile ist unmöglich. Eine absolute Voraussetzungslooigkeit in der Darstellung des Geschehens ·g ibt es nicht. Demgemäß hat L e o p o 1 d Wen g er wiederholt die Auffassung vertreten, daß sich der Historiker nicht mit der ,;Feststellung desi Geschehens einer Summe bunter Ereignisse" begnügen s'Olle, sondern auch vor einer wertenden Beoder Verurteilung tatsächlicher Ereignisse wie auch der Rechtsordnungen selbst nicht zu.rückschrecken dürfe, und daß den Beurteilung">