Rechtsfortbildung durch den EuGH: Eine rechtsmethodische Untersuchung ausgehend von der deutschen und französischen Methodenlehre [1 ed.] 9783428528172, 9783428128174

Rechtsfortbildung durch den EuGH ist ein Thema, das in der aktuellen rechtspolitischen Diskussion wieder verstärkte Aufm

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Rechtsfortbildung durch den EuGH: Eine rechtsmethodische Untersuchung ausgehend von der deutschen und französischen Methodenlehre [1 ed.]
 9783428528172, 9783428128174

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Schriften zum Europäischen Recht Band 142

Rechtsfortbildung durch den EuGH Eine rechtsmethodische Untersuchung ausgehend von der deutschen und französischen Methodenlehre

Von Konrad Walter

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

KONRAD WALTER

Rechtsfortbildung durch den EuGH

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera · Detlef Merten Matthias Niedobitek · Karl-Peter Sommermann

Band 142

Rechtsfortbildung durch den EuGH Eine rechtsmethodische Untersuchung ausgehend von der deutschen und französischen Methodenlehre

Von Konrad Walter

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Universität Göttingen hat diese Arbeit im Jahre 2007 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 978-3-428-12817-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die Rechtsprechungstätigkeit – insbesondere seine Rechtsfortbildungen – sind in letzter Zeit erneut in die politische und wissenschaftliche Diskussion geraten. Meine Arbeit, welche sich diesem Thema widmet, ist in der Zeit von Sommer 2004 bis Sommer 2006 an der Juristischen Fakultät der Universität Göttingen am Lehrstuhl meines Doktorvaters Prof. Dr. Christian Starck entstanden. Ihm habe ich für die hervorragende Betreuung dieser Dissertation ebenso zu danken wie für die stete Förderung an seinem Lehrstuhl, an dem ich meine ersten Einblicke in das wissenschaftliche Arbeiten gewinnen durfte. Dank gebührt aber auch Frau Prof. Dr. Christine Langenfeld für ihre Bereitschaft, das Zweitgutachten für dieses Werk zu übernehmen und die zügige Erstellung desselben. Besonders verbunden bin ich meinem ehemaligen Lehrstuhlkollegen und Freund Herrn Privatdozent Dr. Thorsten Ingo Schmidt, mit dem ich zahlreiche sehr fruchtbare Diskussionen führen durfte und der die Mühe auf sich genommen hat, mein Manuskript vor der Abgabe kritisch durchzusehen. Den Herausgebern der Schriften zum Europäischen Recht danke ich für die Aufnahme meiner Dissertation in ihre Reihe. Abschließend möchte ich allen meinen Freunden – vor allem Ramona und Simon – und insbesondere auch meinen Eltern für ihre stete Unterstützung und den Glauben an dieses Werk danken. Lüneburg, im September 2008

Konrad F. Walter

Inhaltsverzeichnis § 1 Einleitung und Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 § 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Deutschland/Germanischer Rechtskreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Lückenproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Begriff der Lücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rechtstheoretische Möglichkeit einer Gesetzeslücke. . . . . . (1) H. Kelsen und die Reine Rechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Möglichkeit der Lückenhaftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Lückenarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Entstehungszeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Wille des Normgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Verhältnis zum Wortlaut. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Maß der Unvollständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Maßstab der Lückenfeststellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Zwischenergebnis zum Lückenproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Formen der Rechtsfortbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Herrschende Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Rechtsfortbildung praeter legem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Rechtsfortbildung contra legem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Drei-Bereiche-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kritik an der herrschenden Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung der Begriffsdefinitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begrifflichkeiten der richterlichen Rechtsfortbildung in Frankreich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Interprétation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Phänomen der richterlichen Rechtsfortbildung in der französischen Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Nichtexistenz eines Richterrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Droit jurisprudentiel/jurisprudence. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20 20 20 21 24 24 24 24 27 27 29 32 32 34 34 36 39 40 40 41 41 41 43 43 44 45 47 47 47 49 49 50

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Inhaltsverzeichnis cc) Der pouvoir créateur der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsfortbildung in Frankreich im Spannungsfeld zwischen Art. 4 und Art. 5 Code civil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis zur Begrifflichkeit in Frankreich . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis des Vergleichs zwischen Deutschland und Frankreich. . . III. Europäische Union/Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Terminologie des EuGH. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abgrenzung von Auslegung und Rechtsfortbildung in der Lehre a) Übertragung der deutschen Begrifflichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Problem der Mehrsprachigkeit und die Wortlautgrenze . . . aa) Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Anwendbarkeit der WVRK auf das Europarecht . . . . . . . . . cc) Art. 31 ff. WVRK als Grundsätze des Völkergewohnheitsrechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Bestimmung der Wortsinngrenze im Gemeinschaftsrecht anhand des Völkergewohnheitsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Vorrangige Sprache bei Auslegungszweifeln, Art. 33 Abs. 1 WVRK? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Vermutung derselben Bedeutung, Art. 33 Abs. 3 WVRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Teleologie oder „Supplementary means“?. . . . . . . . . . . . (a) Der Urtext als entscheidendes Moment. . . . . . . . . . . (b) Klarheitsregel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Vorrang des engeren Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Weiteste Wortbedeutung und eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Erfordernis einer Lücke im Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der allgemeine negative Satz im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . b) Die Lücke im Gemeinschaftsrecht in Lehre und Praxis . . . . . . . c) Arten von Lücken im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Dumon. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Versuch zur Einteilung von Lücken im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Bereichslücken (Gebietslücken) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Vertragslücken (Gesetzeslücken) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Normlücke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Teleologische Lücken bzw. Ausnahmelücken . . . . . . . . (5) Anfängliche (primäre) und nachträgliche (sekundäre) Lücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Schlussbetrachtung zu den Lückenarten . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50 51 53 53 54 55 58 58 59 59 60 61 64 64 66 66 67 70 71 72 75 76 76 78 80 80 83 83 85 86 86 87 89 89

Inhaltsverzeichnis 4. Exkurs: Beispiele für richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorrang des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Entwicklung des Grundrechtsschutzes durch den EuGH . . bb) Entwicklung bestimmter Grundrechte durch den EuGH. . . (1) Der allgemeine Gleichheitssatz in der Rechtssprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Recht auf Achtung des Privatlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Unmittelbare Wirkung von Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Staatshaftung der Mitgliedstaaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Rechtsgrundlagen der richterlichen Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Rechtsverweigerungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriff und Inhalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Geltungsgrund des Rechtsverweigerungsverbots . . . . . . . . . . . . . aa) Herleitung aus dem Wesen der Rechtsprechung . . . . . . . . . . bb) Geschlossenheit des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Gerechtigkeit als Postulat der Rechtsidee. . . . . . . . . . . . . . . . ee) Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkte richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 20 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 3 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Art. 19 Abs. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Art. 92 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Formale Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Materielle Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einfachgesetzliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Abschließende Stellungnahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Europäische Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Art. 10 EGV? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Art. 220 Abs. 1 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Gerichtshof. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Auffassung der Lehre und eigene Stellungnahme . . . . . . . . d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Rechtsverweigerungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis 4. Art. 288 Abs. 2 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Art. 6 Abs. 2 EUV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ergebnis zur Ermächtigungsgrundlage des EuGH für die Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Mittel richterlicher Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die nationalen Methodenlehren Deutschlands und Frankreichs. . . . . . 1. Die Analogie (argumentum a simili). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Voraussetzungen für einen Analogieschluss. . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Logische Struktur des Analogieschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung zur Analogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der Erst-recht-Schluss im Verhältnis zur Analogie . . . . . . . . . . . 2. Der Umkehrschluss? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die teleologische Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die teleologische Extension. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Rückgriff auf allgemeine Rechtsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Natur der Sache? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Mittel der Rechtsfortbildung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Analogie (argumentum a simili). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Beispielsfälle für eine Analogie in der Judikatur des EuGH. . . b) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Allgemeine Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Lückenhaftigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Herleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Wertende Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Normative Verankerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Beispielsfälle für die Rechtsfortbildung durch wertende Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze. . . . . (b) Staatshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Grundsätze des Verwaltungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . (d) Abschließende Betrachtung zu den Rechtsprechungsbeispielen und Zwischenergebnis. . . . . . . . . . (4) Ableitung allgemeiner Rechtsgrundsätze aus einer einzelnen Vertragsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verhältnis von Analogie und allgemeinen Rechtsgrundsätzen 3. Teleologische Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die „Cassis de Dijon“-Rechtsprechung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Rechtfertigungsgründe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Immanente Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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b) Die Keck-Rechtsprechung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Integration und effet utile als Mittel der Rechtsfortbildung? . . . . . a) Beispielsfälle für effet utile und Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Effet utile und Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Unmittelbare Wirkung von Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . (2) Entscheidungen und Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung der Mitgliedstaaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Effet utile und EG-Außenkompetenzen . . . . . . . . . . . . . . b) Analyse der Argumente „effet utile“ und „Integration“ i. R. d. Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Teleologische Extension? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anwendungsbereich vom üblichen bis zum möglichen Wortsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Herrschendes Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Untersuchung der Rechtsprechung zur unmittelbaren Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Bewertung der Rechtsprechung zur Verbindlichkeit von Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Untersuchung der rechtsfortbildenden Begründung der EG-Außenkompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Effet utile als Argument bei freier Rechtsschöpfung. . . . . . 5. Der Erst-recht-Schluss (argumentum a fortiori) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Umkehrschluss (argumentum e contrario) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Verdeckte Rechtsfortbildung durch Bezeichnung als Interpretation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Rechtsfortbildung in einem obiter dictum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Zusammenfassung zu den Methoden der Rechtsfortbildung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Versuch der abstrakten Kategorisierung von Grenzen . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beschränkung richterlicher Rechtsfortbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kompetenz als beschränkter Gegenstand und Folgerungen für das Gemeinschaftsrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grenzen der Rechtsfortbildung in der deutschen Rechtsordnung . . . . 1. Verfassungsrechtliche Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 103 Abs. 2 GG als Analogieverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 104 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Weitere verfassungsrechtliche Analogieverbote . . . . . . . . . . . . . . d) Rechtsstaatsprinzip/Kernbereichslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

187 189 189 189 189 190 191 192 193 196 196 197 198 199 200 201 202 203 203 205 206 207 208 210 210 211 211 212 213 213 214 215 216 217

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Inhaltsverzeichnis aa) Judikative im Verhältnis zur Legislative. . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Rechtsprechung praeter legem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Rechtsprechung contra legem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Die Radbruchsche Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Judikative im Verhältnis zur Exekutive. . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Demokratieprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . 2. Methodische Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis zu den Rechtsfortbildungsgrenzen im deutschen Recht III. Grenzen der Rechtsfortbildung in der französischen Rechtsordnung 1. Art. 5 Code civil als Grenze richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sonstige, sich aus dem französischen Verfassungsrecht ergebende Grenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 7 Déclaration des droits de l’homme et du citoyen . . . . . . b) Art. 8 S. 2 Déclaration des droits de l’homme et du citoyen . . c) Weitere aus der Verfassung fließende Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis zu den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vergleich der Grenzen in Deutschland und Frankreich. . . . . . . . . . . IV. Grenzen der Rechtsfortbildung im Europarecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 5 Abs. 1 EGV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kernbereiche nationaler Verfassungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Art. 23 Abs. 1 S. 1 und S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 2 und 3 GG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Struktursicherungsklausel, Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Staatsstrukturprinzipien für die Europäische Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips . . . . (cc) Im Wesentlichen vergleichbarer Grundrechtsstandard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Überblick über vergleichbare Bestimmungen in anderen EU-Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Kapitel 10 § 5 Schwedische Verfassung . . . . . . . . . . (b) Verfassungsbestimmungen weiterer Mitgliedstaaten (c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Art. 48 EUV als Grenze für die Vertragsfortbildung . .

217 217 218 219 220 220 221 221 222 223 224 224 225 225 226 226 227 227 227 228 228 228 230 231 232 232 235 236 237 240 240 242 244 246

Inhaltsverzeichnis (a) Die Mitgliedstaaten als Herren der Verträge . . . . . . (aa) Formen der „Vertragsänderung“ durch richterliche Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Vertragsänderung durch Kompetenzerweiterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Vertragsänderung durch Kompetenzbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Vertragsergänzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Abgrenzung Vertragsänderung durch Kompetenzerweiterung/Vertragsergänzung . . . . (bb) Beispiel vertragsändernder Rechtsfortbildung (a) Argumente gegen diese Rechtsfortbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) „Verfassungsrechtliche Dimension“ dieser Rechtsfortbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Exkurs: Der EuGH als „Motor der Integration“ und die Grenzen der Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Subsidiaritätsprinzip gem. Art. 5 Abs. 2 EGV als Grenze richterlicher Rechtsfortbildungsbefugnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anwendbarkeit des Subsidiaritätsprinzips auf den EuGH bb) Subsidiaritätsprinzip als mittelbare Rechtsfortbildungsgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Inhalt und Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips . . . . . . (a) Konkurrierende Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Maßnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Vorgaben für die Kompetenzausübung . . . . . . . . . . . (aa) Das Negativkriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Das Positivkriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Verständnis der Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Verständnis der Kommission . . . . . . . . . . . . (g) Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Ergebnis zur Rechtsfortbildungsgrenze aus Art. 5 Abs. 2 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung zu den Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsfortbildungsgrenzen zweiter Stufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Intraorgangrenzen für die Rechtsfortbildung des EuGH . . . . . . . aa) Art. 46 EUV als Grenze richterlicher Rechtsfortbildung? (1) Art. 46 lit. a) EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Art. 46 lit. b) EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Art. 46 lit. c) EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Art. 46 lit. d) EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 247 249 249 249 250 251 252 252 254 257 258 259 259 261 262 262 263 263 264 265 265 266 266 267 267 268 269 269 270 271 272 273

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Inhaltsverzeichnis (5) Art. 46 lit. e) EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Art. 46 lit. f) EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (7) Zusammenfassung zu Art. 46 EUV und Beispielsfälle bb) Art. 220 ff. EGV als Grenzen der Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das institutionelle Gleichgewicht als Interorgangrenze für die richterliche Rechtsfortbildungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Inhalt des Prinzips des institutionellen Gleichgewichts . . . bb) Einzelne Kernbereiche, die der richterlichen Rechtsfortbildungskompetenz Grenzen ziehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Haushaltsrecht – die Rs. 34/86 (Rat/Parlament) . . . . . . (2) Einschätzungsprärogative des Gemeinschaftsgesetzgebers beim Normerlass. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Der Nulla-poena-Grundsatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Normative Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Anwendungsbereiche im Gemeinschaftsrecht . . . . . (aa) Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Verhängung von Bußgeldern durch die EGKommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Disziplinarrecht der Gemeinschaften . . . . . . . . (4) Allgemeiner gemeinschaftsrechtlicher Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Grundlegung des Gesetzesvorbehalts im europäischen Gemeinschaftsrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Inhalt und Bedeutung des Gesetzesvorbehalts. . . . . (aa) Der Gesetzesvorbehalt in Deutschland. . . . . . . (bb) Der Gesetzesvorbehalt in Frankreich . . . . . . . . (cc) Der Gesetzesvorbehalt im Europäischen Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Judicial self-restraint als Grenze richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Inhalt und Bedeutung des judicial self-restraint . . . (b) Die political question doctrine . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Vergleichbarkeit von US Supreme Court und EuGH. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Political question doctrine – eine Rechtsfortbildungsgrenze für den EuGH? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Zwischenergebnis zum judicial self-restraint . . . . . . (6) Ergebnis zu den Rechtsfortbildungsgrenzen zweiter Stufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gesamtergebnis zu den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

274 274 275 278 280 281 283 284 286 289 290 291 291 294 296 297 298 299 299 300 301 303 304 304 306 308 308 309 310 310

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E. Rechtsfolgen grenzüberschreitender Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Wirksamkeit der grenzüberschreitenden Rechtsfortbildung . . . . . . . . . 1. Rechtsquellenqualität von Richterrecht?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Richterrecht ist Rechtsquelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Richterrecht ist keine Rechtsquelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtswirkungen einer grenzüberschreitenden Rechtsfortbildung durch den EuGH. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kompetenz zu Fehlurteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Keine Kompetenz zu Fehlurteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ultra-vires-Akt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Folgen der Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Urteile des EuGH als Ultra-vires-Akte i. e. S.. . . . . . . . . (2) Ultra-vires-Akte i. w. S.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das „Problem“ des letztentscheidenden Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtsschutz gegen unzulässige Rechtsfortbildung durch den EuGH 1. Letztentscheidendes Gericht bei der Verletzung von Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Auffassung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts und anderer Verfassungsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Letztentscheidendes Gericht bei den Rechtsfortbildungsgrenzen zweiter Stufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Einzelne Rechtsschutzmöglichkeiten gegen grenzüberschreitende Rechtsfortbildung durch den EuGH. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht bei Überschreitungen der Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe . . . . . . . . . . . aa) Verfassungsbeschwerde, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG . . . . . . . (1) Absinken des geforderten Grundrechtsstandards . . . . . . (2) Kontrolle von ausbrechenden Rechtsakten . . . . . . . . . . . bb) Konkrete Normenkontrolle, Art. 100 Abs. 1 GG . . . . . . . . cc) Abstrakte Normenkontrolle, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG . . . . dd) Art. 100 Abs. 2 GG analog? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Verbandskompetenzprüfungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verfahren vor dem EuGH bei Überschreitung der Grenzen zweiter Stufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Auslegungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

311 311 312 312 314 315 316 317 318 318 319 320 320 320 321 322 322 323 323 324 325 326 328 330 330 330 331 331 333 333 335 336 337 338 339 340

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Inhaltsverzeichnis bb) Das Verfahren der Urteilsberichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Wiederaufnahme des Verfahrens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Heilung grenzüberschreitender Rechtsfortbildung? . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Heilung kompetenzwidriger Rechtsfortbildung durch Erstarken zu Gewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Existenz und Voraussetzungen von Gewohnheitsrecht im europäischen Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bedenken gegen die Heilung grenzüberschreitender Rechtsfortbildung durch Erstarken zu Gewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . aa) Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Europäische Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Völkerrechtliche Position. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Gemeinschaftsrechtliche Position . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Differenzierende Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Eigene Stellungnahme und Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Heilung durch Akzeptanz der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis zur Heilung grenzüberschreitender Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Gesamtergebnis zu den Folgen grenzüberschreitender Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Kennzeichen gelungener Rechtsfortbildung durch den EuGH. . . . . . . . . . . I. Akzeptanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Übernahme in die Verträge oder den VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zugehörigkeit der Rechtsfortbildung zum acquis communautaire 3. Sonstige Anpassungen an Rechtsfortbildungen des EuGH . . . . . . . II. Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

343 343 344 344 345 345 349 349 350 351 353 353 354 355 356 358 359 360 361 362 363 363 365 366

§ 3 Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesenform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 § 4 Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 § 5 Résumé du thèse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412







Für die verwendeten Abkürzungen wird verwiesen auf: Kirchner, Hildebert/Butz, Cornelie (Bearb.): Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 5. Aufl., Berlin/New York, 2003.

§ 1 Einleitung und Problemstellung Rechtsfortbildung durch die Gerichte ist ein uraltes Phänomen. Schon seit langer Zeit beschäftigen sich Juristen immer wieder mit der Frage, ob es sich bei den Richtern um „Richterkönige“ oder um bloße „Subsumtionsautomaten“ handelt.1 Ist der Richter, der das in seinen Augen unvollständige Gesetz ergänzt und erweitert oder gar die Wortlautgrenzen des Normtextes überschreitet, trotz allem bloß „la bouche, qui prononce les paroles de la loi“2, wie noch Charles de Montesquieu die Aufgabe der Dritten Gewalt umschrieb, oder werden die Gerichte hier in gewisser Weise ergänzend zum Gesetzgeber normsetzend tätig, und inwieweit ist ihnen dieses gestattet? In meiner Arbeit möchte ich, ausgehend von der deutschen und französischen Methodenlehre, die Grundlagen, Methoden und Grenzen des Phänomens „Richterliche Rechtsfortbildung“ in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften näher beleuchten und dabei auch einige von ihm geschaffene Rechtsfiguren kritisch hinterfragen. Hierbei soll bewusst keine Beschränkung auf ein Teilgebiet des europäischen Gemeinschaftsrechts vorgenommen werden, sondern Beispiele für richterliche Rechtsfortbildung aus den verschiedensten Bereichen des Gemeinschaftsrechts angeführt werden. Primäres Ziel dieser Arbeit ist es nämlich nicht, eine bestimmte Rechtsfortbildung des Gerichtshofs darzustellen, sondern vielmehr der Versuch, eine methodische Grundlegung für jegliche Rechtsfortbildung durch den EuGH – wenn auch im Wesentlichen auf das Primärrecht beschränkt – zu entwickeln. Was erscheint reizvoll daran, sich gerade auf den EuGH und seine Judikatur zu konzentrieren? Nun, ich will zur Verdeutlichung auf ein Zitat zurückgreifen, welches auch das angesprochene Alter des Phänomens richterliche Rechtsfortbildung nachweist. Es stammt vom römischen Juristen Ulpian (170–228 n. Chr.) und ist den Digesten entnommen: „quoties lege aliquid vel alterum introductum est, bona occasio est, cetera, quae tendunt 1 Vgl. dazu etwa die historische Betrachtung zum 19. Jh. von R. Ogorek, passim. Eine ähnliche Fragestellung wirft auch B. Rüthers, FAZ, v. Dienstag, 2.2.2005, Nr. 27, S. 7 auf. 2 Charles de Montesquieu, De l’Esprit des lois, XI. Buch, VI. Kapitel; in deutscher Übersetzung vgl. Montequieu, Buch XI, Kapitel 6, S. 225. Dieses lehnt C. Tomuschat, FS Ress, S. 857 ff., für den EuGH mit Nachdruck ab.

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§ 1 Einleitung und Problemstellung

ad eandem utilitatem, vel interpretatione, vel certe iurisdictione suppleri.“ (Dig. 1, 3, 13).3 Ulpian scheint mir hier an einzelne Normen zu denken, die neu eingeführt werden und dann gute Gelegenheit bieten, durch Rechtsprechung ähnliche Normen zu ergänzen. Wenn aber schon einzelne Normen dem Richter diese Option eröffnen, um wie viel mehr muss die Möglichkeit der Ergänzung dann gegeben sein, wenn, wie bei den Europäischen Gemeinschaften geschehen, eine ganze Rechtsordnung neu eingeführt wird, über die ein eigenes Gericht, nämlich der EuGH – und seit dem Vertrag von Nizza natürlich auch das Gericht Erster Instanz, das zuvor dem EuGH lediglich beigeordnet war –4 gesetzt wird, um über sie zu wachen. Richterrecht und richterliche Rechtsfortbildung bilden eines der zentralen Probleme der Rechtstheorie, wobei mit Richterrecht im Rahmen meiner Untersuchung das Ergebnis des Prozesses richterlicher Rechtsfortbildung bezeichnet werden soll. Um so erstaunlicher erscheint es, dass im Hinblick auf die „immer enger werdende Union der Völker Europas“ (Art. 1 EUV) und der damit einhergehenden, stetig anwachsenden Bedeutung des europäischen Gemeinschaftsrechts, umfassende, rechtsmethodisch fundierte Untersuchungen zur Rechtsfortbildung auf dieser Ebene kaum bestehen.5 Des Weiteren erscheint die Aufgabe, diese Lücke in der monographischen Literatur zu schließen, deswegen von besonderem Interesse, weil sie wegen der Internationalität in der Besetzung des Gerichtshofs (vgl. Art. 221 Abs. 1 EGV) und damit der Vielfalt der durch seine Richter repräsentierten europäischen Rechtskulturen, einen Blick über den Tellerrand der nationalen Methodenlehre auf die Problemlösungen in anderen Rechtskreisen unerlässlich macht. Beispielhaft geht meine Untersuchung vom deutschen und französischen System aus, womit zugleich die beiden maßgeblichen Rechtsordnungen – 3 In deutscher Übersetzung lautet diese Stelle: „Sobald durch Gesetz irgendetwas so oder so eingeführt ist, besteht gute Gelegenheit, übrige Normen, die dem gleichen Zweck zuneigen, durch Auslegung oder natürlich Rechtsprechung zu ergänzen.“ 4 Zum europäischen Gerichtssystem nach dem Vertrag von Nizza siehe etwa J. Sack, EuZW 2001, 77 ff. 5 Hinzuweisen ist allerdings auf die Dissertation von J. Ukrow, in der jedoch einige zentrale Aspekte des Richterrechts, wie etwa die Folgen grenzüberschreitender richterlicher Rechtsfortbildung, außer Acht gelassen werden. Die Doktorarbeit von P. Mittmann, erschöpft sich hinsichtlich ihres Teils Rechtsfortbildung auf eine kurze, unkritische, ja teilweise wörtliche Wiedergabe des Beitrages von W. DänzerVanotti, RIW 1992, 773 ff. und kann nicht ernsthaft als rechtsmethodische Untersuchung zu diesem Problemkomplex angeführt werden.

§ 1 Einleitung und Problemstellung

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um eine Unterscheidung Fikentschers6 aufzugreifen – des mitteleuropäischgermanischen sowie des romanischen Rechtskreises erfasst sind. Am Rande soll aber auch das angloamerikanische System Beachtung finden. Die Beschränkung auf diese beiden Rechtskreise scheint deswegen hinnehmbar, weil damit auch sämtliche Rechtsordnungen der sechs Gründungsmitglieder der Gemeinschaften erfasst sind und es nahe liegt, dass gerade diese die Entwicklung des europäischen Richterrechts maßgeblich geprägt haben, ja diesem in den Anfangsjahren in einem solchen Ausmaße ihren Stempel aufgedrückt haben, dass spätere Beitritte die Methoden der richterlichen Rechtsfortbildung des EuGH kaum mehr beeinflusst haben dürften. Freilich hat der Beitritt der common-law-Länder Vereinigtes Königreich und Irland 1973 eine völlig andere methodische Auffassung in die Gemeinschaft eingebracht, doch ist es m. E. offensichtlich, dass die EU/EG kaum als maßgeblich vom common law geprägt verstanden werden kann. Die Bedeutung der (geschriebenen) Verträge sowie des Sekundärrechts ist hier nicht wegzudiskutieren. Folglich ist die Beschränkung auf Frankreich und Deutschland hinnehmbar. Auch ist nicht zu verkennen, dass die Rechtsfortbildung durch den EuGH bis zu diesem Beitritt bereits 20 Jahre Zeit hatte, sich zu entwickeln.7 Immer wieder soll aber auch das Völkerrecht in die Erwägungen mit einfließen. Der Gang der Untersuchung ist dabei folgendermaßen ausgestaltet: Zunächst sollen die Begrifflichkeiten geklärt werden (A.), sodann wird nach der Rechtsgrundlage für die Rechtsfortbildung gesucht (B.), bevor auf die Methoden des Richterrechts eingegangen wird (C.). Hiernach wendet sich die Untersuchung dem stets als zentral bezeichneten Problem richterlicher Rechtsfortbildung zu, nämlich dem der Grenzen derselben (D.), um schließlich zu versuchen, die Rechtsfolgen einer grenzübersteigenden Rechtsfortbildung zu klären (E.). Soweit möglich soll dabei zunächst die deutsche wie auch die französische Diskussion dargestellt werden, bevor deren Übertragbarkeit auf den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften geprüft wird und für diesen gegebenenfalls eigene Lösungen entwickelt werden. Am Ende der Arbeit (§ 3) werden die Ergebnisse der Untersuchung in Thesenform zusammengefasst (A.). Dieser Präsentation meiner Ergebnisse wird sich eine bewertende Stellungnahme des Richterrechts im europäischen Gemeinschaftsrecht anschließen (B.).

6 Vgl. dazu W. Fikentscher, Bd. II (Romanischer Rechtskreis) und Bd. III (Mitteleuropäisch-germanischer Rechtskreis). 7 Wenn man die Zeit als Gerichtshof der EGKS mit einbezieht. Ansonsten kommt man immer noch auf 15 Jahre. Gerade in diesen Anfangsjahren wurden aber maßgebliche Entscheidungen gefällt.

§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH A. Begriffsbestimmung Grundlage eines jeden wissenschaftlichen Arbeitens muss die Klarheit über die Begriffe sein. Bereits Aristoteles1 betonte in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Definitionen. Deshalb sollen in diesem ersten Teil zunächst die Begrifflichkeiten festgelegt und erläutert werden, die dann in der gesamten Arbeit stets in dem hier bestimmten Sinne verwendet werden sollen. Zu Anfang einer Untersuchung, welche sich mit Zulässigkeit, Begründung und Grenzen der Rechtsfortbildung durch den Europäischen Gerichtshof befasst, muss also festgelegt werden, was unter Rechtsfortbildung überhaupt zu verstehen ist.2 Zunächst soll das deutsche Begriffsverständnis untersucht werden (I.), sodann wird auf die französische Methodenlehre eingegangen (II.), bevor die Begrifflichkeiten für den EuGH (III.) festgelegt werden.

I. Deutschland/Germanischer Rechtskreis In Deutschland wird gemeinhin zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung unterschieden.3 Als Oberbegriff für beide möchte ich den Begriff „Rechtsfindung“ vorschlagen. Im Finden liegt nämlich einerseits ein Erkenntnisakt, der eher für die Auslegung kennzeichnend ist, zum anderen aber auch – man denke nur an erfinden – ein schöpferisches Element, was die Rechtsfortbildung charakterisiert.4 1 Bereits Aristoteles hebt die Bedeutung einer exakten Begriffsbestimmung mit der Einführung der Definitionsbestandteile genus proximum und differentia specifica klar hervor; siehe dazu etwa Topik I 5, 102a, wonach eine Definition eine Rede ist, die das Wesen anzeigt. Im VI. Buch der Topik formuliert Aristoteles dann Definitionsregeln. 2 Zu dieser methodischen Herangehensweise, wenn auch nicht auf den EuGH, sondern auf das deutsche Recht bezogen H.-J. Koch/Rüßmann, S. 247. 3 So die wohl allgemeine Meinung. Vgl. nur K. Larenz, Methodenlehre, S. 366, der allerdings betont, dass Auslegung und Rechtsfortbildung nicht wesensverschieden seien; ebenso D. Schmalz, Rn. 316. 4 Den Begriff Rechtsfindung wählt auch P. Koller, S. 188 zum Oberbegriff; wie hier wohl auch das Bundesverfassungsgericht, das im Hinblick auf die Rechtsfortbildung auch von „schöpferischer Rechtsfindung“ spricht, vgl. BVerfGE 34, 269, 286;

A. Begriffsbestimmung

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Um Rechtsfortbildung und Auslegung abzugrenzen, muss man sich folglich erst darüber bewusst werden, was mit beiden Begriffen bezeichnet wird. 1. Auslegung Die Auslegung hat ihren Ausgangspunkt im Wortlaut des Gesetzes. Man kann sie als methodisch geleitete Ermittlung des Sinngehalts einer Norm definieren, wobei sich diese Interpretation i. d. R. im Rahmen des üblichen Wortlauts bewegt, ihre Grenze aber jedenfalls im möglichen Wortlaut findet.5 Auslegung ist somit eine innerhalb des Wortsinns der abstrakten Norm konkretisierende, „erklärende und entwickelnde“ Deutung (Interpretation intra verba legis).6 Was hingegen nicht einmal mehr vom möglichen Sinngehalt des Normtextes erfasst werden kann, ist auch nicht mehr als Auslegung derselben zu bezeichnen.7 Was mit üblichem und möglichem Wortsinn gemeint ist, lässt sich verdeutlichen, wenn man sich das von Philipp Heck8 entwickelte Bild von Begriffskern und Begriffshof vor Augen führt. Dabei hat jeder Begriff einen Begriffskern, der dem üblichen Wortsinn entspricht, und einen diesen umgebenden Begriffshof, der vom (noch) möglichen Wortlaut gebildet wird. Fällt ein Sachverhalt in den Begriffskern eines Tatbestandsmerkmals, so handelt ablehnend hierzu B. Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 825. Im Zusammenhang mit dem Gemeinschaftsrecht wählt A. Bleckmann, GS Constantinesco, S. 61 ff. den Begriff der Rechtsschöpfung zum Obergbegriff für Auslegung und Rechtsfortbildung, vgl. S. 61. 5 Ebenso den möglichen Wortsinn als Grenze der Auslegung ansehend Larenz, Methodenlehre, S. 366; R. Zippelius, Methodenlehre, § 10 I; für die schweizerische Methodenlehre E. A. Kramer, S. 39. Lateinisch korrekt müsste es freilich interpretatio intra verba legis heißen. 6 So treffend Kramer, S. 39; D. Looschelders/Roth, S. 130 ff. sprechen von „textinterner Interpretation“. 7 Allgemeine Meinung. In diesem Sinn sogar – trotz des darin unverkennbar zum Ausdruck kommenden gesellschaftsverändernden, totalitären Herrschaftsanspruchs des Sozialismus – das Rechtslexikon, hrsg. vom Staatsverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1988, in welchem es zum Stichwort „Auslegung“ heißt: „Methode zur Ermittlung des Inhalts und der gesellschaftlichen Zielsetzung von Rechtsnormen. Die A. ist notwendige Bedingung, um Rechtsnormen, die als allgemeiner Verhaltensmaßstab abstrakt gefasst sein müssen, der sozialistischen Gesetzlichkeit und Gerechtigkeit gemäß wirksam anwenden zu können; mit ihr wird wesentlich ein einheitliches, dem staatlichen Willen des Gesetzgebers entsprechendes Verständnis der Rechtsnormen erreicht. [. . .] Die Auslegung kann in bestimmtem Umfang der Tatsache Rechnung tragen, daß sich die vom Regelungsumfang der Rechtsnorm erfassten gesellschaftlichen Verhältnisse während deren zeitlicher Geltungsdauer mehr oder weniger stark verändern; jedoch findet die A. in der sozialistischen Rechtsordnung ihre absolute Grenze im Wortlaut des Gesetzes.“ (Hervorhebung im Original); siehe auch Schmalz, Rn. 235. 8 Ph. Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, S. 107.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

es sich bei dem Subsumtionsvorgang zweifellos um einen Fall der Auslegung.9 Sofern aber ein Sachverhalt nicht mehr unter den üblichen Wortlaut der Norm zu fassen ist, sondern nur noch vom möglichen Wortlaut erfasst wird, fällt er in den Begriffshof. In diesem Bereich ist es dann auch nicht mehr so deutlich, ob es sich noch um Auslegung handelt oder, sollte man sich doch so weit vom Begriffskern entfernt haben, dass er gar an der Grenze des Begriffshofes liegt, es sich bereits um Rechtsfortbildung dreht. Die Grenze des Begriffshofes ist undeutlich und verschwommen, eine scharfe Grenzziehung zu dem, was gerade nicht mehr vom Begriffshof erfasst wird, ist hier nicht möglich.10 Zu ganz ähnlichen Ergebnissen und Einteilungen kommt unter etwas anderer Bezeichnung die analytische Sprachphilosophie, die Koch/Rüßmann für die Jurisprudenz fruchtbar zu machen suchen.11 Dabei soll die Anwendung vager – und damit auslegungsbedürftiger12 – Ausdrücke zu einer Situation führen, in welcher hinsichtlich einiger Gegenstände klar entschieden werden könne, dass der interpretationsbedürftige Begriff auf sie anwendbar ist (positive Kandidaten). Ebenso gebe es Fälle, die eindeutig nicht unter einen bestimmten Normtext zu fassen seien (negative Kandidaten). Es verbleibe schließlich eine Gruppe von Sachverhalten, hinsichtlich derer über die Anwendung bzw. Nichtanwendung der Norm nicht ohne weiteres entschieden werden könne. Für diese neutralen Kandidaten seien vielmehr weitere Wertungskriterien vonnöten.13 Um dieses Konzept zu verdeutlichen, sei ein praktisches Beispiel gebracht. Will man herausfinden, wer Träger der Menschenwürde i. S. d. Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG ist, wer also „Mensch“ ist, so lässt sich problemlos feststellen, dass jeder geborene Mensch zweifellos dem Schutz der Menschenwürde unterfällt, also positiver Kandidat ist. Bei einem Hund oder einer Katze hingegen handelt es sich um Tiere, also gerade nicht um einen Menschen, so dass diese als negative Kandidaten ausscheiden.14 Schwierig und folglich, da es sich um einen neutralen Kandidaten handelt, höchst umstritten ist hingegen, ob dem menschlichen Embryo 9

So auch Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, S. 107 ff.; ähnlich auch Kramer, S. 45. 10 So auch die allg. Meinung, vgl. etwa Larenz, Methodenlehre, S. 366; Kramer, S. 41; siehe auch F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S., 475, der eine Unterscheidung zwischen extensiver Auslegung und rechtsfortbildender Analogie für gänzlich überflüssig hält, was jedoch unzutreffend ist (siehe Kritik weiter unten). 11 Vgl. Koch/Rüßmann, S. 194 ff.; siehe auch H.-J. Koch, ARSP 1975, 27, 35; erläuternd Kramer, S. 45; weiterführend auch R. Wank, Die juristische Begriffsbildung, S. 25 ff.; aus der US-amerikanischen Literatur J. Waldron, 82 (1994) Cal. Law Rev., p. 509 ff. 12 Dazu J. Vogel, S. 102 ff., insbes. S. 103. 13 So Koch, ARSP 1975, 27, 35; Koch/Rüßmann, S. 194 ff.; ähnlich auch Koller, S. 287 f.

A. Begriffsbestimmung

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Menschenwürde zukommen soll. Hier scheint es sowohl möglich, dieses zu verneinen, wie auch ihm Menschenwürde zuzusprechen.15 Auslegung über den üblichen Wortsinn hinaus ist also nur bei den neutralen Kandidaten erforderlich, es bedarf hier eines erhöhten argumentativen Aufwands, der bloße Hinweis auf den eindeutigen Wortlaut kann hier nicht mehr verfangen.16 Vielmehr muss ein Ergebnis nun mit Hilfe der anderen Auslegungscanones17 oder durch andere Interpretationsmethoden, wie etwa der Folgenorientierung18 gefunden werden. Auch die Ergebnisse der analytischen Sprachphilosophie zeigen also auf, dass die Grenze der Auslegung die des möglichen Wortsinns ist. Zwar ist die Grenze des möglichen Wortsinns nicht ganz trennscharf zu ziehen, dennoch besteht sie. Bis zu dieser Grenze handelt es sich bei dem Subsumtionsprozess um Auslegung der Norm, was über sie hinausgeht, ist Rechtsfortbildung. Als bisheriges Ergebnis bleibt festzuhalten, dass unter Auslegung methodische geleitete Sinnermittlung bis zur Grenze des möglichen Wortsinns zu verstehen ist. 14 Vogel, S. 102 will bei solchen Sprachevidenzen ganz auf eine Auslegung verzichten. Dies ist wohl auch Sinn der analytischen Sprachphilosophie. Auslegungsbedarf und damit erhöhter Argumentationszwang besteht nur hinsichtlich der neutralen Kandidaten. Meiner Ansicht nach ist jedoch bereits die Feststellung, es handele sich um einen positiven Kandidaten, eine Auslegung. 15 Den Menschenwürdeschutz zu Recht befürwortend C. Starck, JZ 2002, 1065, 1069; ebenso W. Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1 Rn. 21; M. Herdegen, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 1 Rn. 55 ff. insbes. 61 f., der aber Gewicht auf die Nidation legt; für einen gestuften Würdeschutz spricht sich H. Dreier, in: ders., GG, Art. 2 Rn. 99 aus; ablehnend zum pränatalen Würdeschutz W. Heun, JZ 2002, 517 ff.; für einen rein objektiven Würdeschutz von Embryonen, mithin einen Würdeschutz ohne subjektive Würde macht sich J. Ipsen, JZ 2001, 989, 993 stark. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist insoweit nicht ganz deutlich, es geht aber wohl von einer Einbeziehung des Embryo (zumindest ab der Nidation) in den Menschenwürdeschutz aus, wenn es ausführt: „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm auch Würde zu.“, vgl. BVerfGE 39, 1, 37. 16 Ebenso Vogel, S. 103 f. 17 Auf die Auslegungscanones der juristischen Hermeneutik sei an dieser Stelle nicht weiter eingegangen. Zum einen dürften sie ohnehin hinlänglich bekannt sein, zum anderen können umfassende Abhandlungen mit zahlreichen weiterführenden Verweisen hierzu den einschlägigen Werken zur Methodenlehre entnommen werden, vgl. nur Larenz, Methodenlehre, S. 320 ff.; darstellend auch Zippelius, Methodenlehre, § 8; U. Huber, JZ 2003, 1 ff.; Koller, S. 211; Kramer, S. 39 ff.; H.-M. Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 359 ff.; zur historischen Grundlegung dieser Auslegungscanones siehe F. C. v. Savigny, § 33; zur teleologischen Interpretation siehe insbes. R. v. Ihering, S. 462. 18 Dafür etwa Zippelius: Juristische Methodenlehre, S. 59 ff.; H. Eidenmüller, JZ 1999, S. 53 ff.; Th. W. Wälde, passim; M. Deckert, JuS 1995, 480, 482.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

2. Rechtsfortbildung a) Begriff Hingegen soll es sich um Rechtsfortbildung handeln, wenn konkrete Fälle auf eine Weise entschieden werden, die zwar nicht mehr durch den möglichen Wortsinn der relevanten Rechtsvorschrift gedeckt ist, die aber dennoch durch gute Gründe, nämlich durch den Zweck dieser Vorschriften oder aber durch anerkannte Rechtsprinzipien als gerechtfertigt erscheint.19 Die Rechtsfortbildung kann dabei entweder in einer Ergänzung oder in einer Berichtigung jener Rechtsvorschriften bestehen.20 Das zentrale Element der auf Gesetzesergänzung und -berichtigung abzielenden Rechtsfortbildungsidee ist dabei die Lehre von der Lückenausfüllung. Sie bildet den Schlüssel zum Verständnis der Rechtsfortbildung.21 Deshalb soll zunächst auf das Lückenproblem eingegangen werden, bevor dann einzelne Kategorien herausgearbeitet werden. b) Lückenproblem Zunächst soll eine Definition des Begriffs der Lücke gefunden werden [aa)], sodann der Frage nachgegangen werden, ob ein lückenhaftes Gesetz, bzw. eine lückenhafte Rechtsordnung rechtstheoretisch überhaupt möglich ist [bb)], bevor einzelne Arten an Lücken vorgestellt werden sollen [cc)]. aa) Begriff der Lücke Die in der deutschen Methodenlehre wohl bekannteste Definition der Gesetzeslücke hat Claus-Wilhelm Canaris geprägt. Danach soll Lücke definiert werden als „planwidrige Unvollständigkeit innerhalb des positiven Rechts (d.h. des Gesetzes im Rahmen seines möglichen Wortsinnes und des Gewohnheitsrechts) gemessen am Maßstab der gesamten geltenden Rechtsordnung.“22 Dieser Definition ist weitgehend zuzustimmen. Bedenken begegnet allerdings die Einbeziehung des Gewohnheitsrechts in das positive Recht. Diese Ansicht scheint mir durch die zivilrechtliche Sichtweise, wonach 19

So Koller, S. 221. Vgl. Koller, S. 221; ebenso Zippelius, Methodenlehre, § 11 I. 21 Ähnlich und sehr treffend Zippelius, Methodenlehre, § 11 I (S. 65), der davon spricht, die Lehre von der Lückenausfüllung sei das griffigste Instrument der Rechtsfortbildung in Form von Gesetzesergänzung und -berichtigung. 22 Vgl. C.-W. Canaris, Feststellung von Lücken, S. 39, der die Herleitung dieser von ihm vorgeschlagenen Definition auch ausführlich in allen Elementen begründet, vgl. S. 17 ff.; so auch die ganz h. M. siehe etwa auch H.-P. Schwintowski, S. 83. 20

A. Begriffsbestimmung

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Art. 2 EGBGB Gesetz jede Rechtsnorm (und damit auch Gewohnheitsrecht)23 ist, geprägt. So fasst etwa die Schweizer Lehre aufgrund von Art. 1 Abs. 2 ZGB24, welcher das Gewohnheitsrecht zu den Mitteln der Lückenfüllung zählt, dieses nicht unter das positive Recht.25 Zudem scheidet im Bereich des Strafrechts zumindest strafbegründendes Gewohnheitsrecht aus,26 im Verwaltungsrecht ist dessen Annahme zweifelhaft,27 und auch im Verfassungsrecht ist es unter der Geltung des Grundgesetzes mit dem Gebot zur Textänderung in Art. 79 Abs. 1 GG allerhöchstens als ergänzendes denkbar.28 Da jedoch die Voraussetzungen der Entstehung von Gewohnheitsrecht, nämlich langandauernde Übung (longa consuetudo), die von der gemeinsamen Rechtsüberzeugung (communis opinio iuris) getragen ist,29 23 Vgl. dazu nur Staudinger-Merten, BGB, Art. 2 EGBGB Rn. 94; Palandt-Heinrichs, BGB, Art. 2 EGBGB Rn. 1; MünchKomm-Säcker, BGB, Einl. Bd. I, Rn. 78 unter Berufung auf die Materialien zum BGB; diese sind bei Staudinger-Merten a. a. O. abgedruckt. 24 Der Normtext des Art. 1 Abs. 2, 3 schweiz. ZGB lautet: „Art. 1 schweiz. ZGB (1) . . . (2) Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll der Richter nach Gewohnheitsrecht und, wo ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. (3) Er folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung.“ 25 Siehe etwa Kramer, S. 137, der sich bei seiner Lückendefinition auf Canaris beruft in seiner Wiedergabe desselben aber das Gewohnheitsrecht „unterschlägt“. 26 So ausdrücklich C. Roxin, § 5 Rn. 45 ff., insbes. Rn 47; ähnlich auch Jescheck/Weigend, § 12 IV 2. 27 Ablehnend zum Verwaltungsgewohnheitsrecht T. I. Schmidt, NVwZ 2004, 930 ff., 934; sehr kritisch (wenn auch nicht auf das Verwaltungsrecht beschränkt) ist auch Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 233, der Gewohnheitsrecht letztlich nur für das hält, was das jeweilige höchste Gericht dazu erkläre; skeptisch ist auch F. Ossenbühl, in Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 73; a. A. ist die h. M. etwa BVerwGE 8, 317, 321; E. Forsthoff, S. 144 ff.; H.-J. Wolff/O. Bachof/R. Stober, § 25 Rn. 12; nicht ganz deutlich, aber in der Tendenz eher kritisch, da (nachkonstitutionelles) Gewohnheitsrecht kein Gesetz i. S. d. Gesetzesvorbehalts sein könne H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 4 Rn. 22 unter Berufung auf BVerfGE 34, 293, 303; ähnlich K. Stern, Staatsrecht Bd. III Teilbd. 2, S. 442 ff. 28 Verfassungsgewohnheitsrecht gänzlich ablehnend Ch. Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, S. 74 ff., 81 ff., 132 ff. 145 ff.; J. Isensee, in Kirchhof/ders., HbStR VII, § 162 Rn. 64 mit Fn. 178; Zumindest gegen die Möglichkeit derogierenden Verfassungsgewohnheitsrechts K.-E. Hain, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 79 Rn. 14 m. w. N.; H. Maurer, Staatsrecht I, § 1 Rn. 45 erkennt auch derogierendes Verfassungsgewohnheitsrecht an, was mit Blick auf Art. 79 Abs. 1 GG zumindest bedenklich erscheint; als Beispiel für (ergänzendes) Verfassungsgewohnheitsrecht wird stets der Grundsatz der parlamentarischen Diskontinuität angeführt, vgl. etwa H. D. Jarass/B. Pieroth, GG, Art. 39 Rn. 4. 29 So die Bezeichnung der Voraussetzungen etwa bei BVerfGE 61, 149, 203; Staudinger-Merten, BGB, Art. 2 EGBGB Rn. 92; H. Gröpper, DVBl. 1969, 945;

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

andere sind, als jene, die eine richterliche Rechtsfortbildung rechtfertigen, bestehen letztlich keine Bedenken gegen die Einbeziehung von Gewohnheitsrecht – soweit dieses zulässig ist – in die Lückendefinition.30 Somit lautet die nur leicht modifizierte Lückendefinition in Anlehnung an Canaris, welche dieser Arbeit zugrundegelegt werden soll: „Eine Lücke ist eine planwidrige Unvollständigkeit des positiven Rechts (d.h. der Gesetzesordnung im Rahmen ihres möglichen Wortsinns und, soweit es zulässig ist, des Gewohnheitsrechts) gemessen am Maßstab der gesamten Rechtsordnung.“

Nun erhebt sich bei dieser Definition noch die Frage, auf wessen Plan es ankommen soll. Dieses soll sich aus dem Teilsatz „gemessen am Maßstab der gesamten Rechtsordnung“ ergeben. Während nämlich ein Teil der Lehre auf dem Standpunkt steht, es komme auf das Rechtsempfinden des Rechtsanwendenden31 bzw. das Rechtsgefühl der Allgemeinheit32 an, vertritt die h. M.33 richtigerweise die Position, es komme entscheidend auf die immanente Teleologie des Gesetzes an, um festzustellen, ob eine ergänzende Regelung gefordert sei oder nicht. Zur Begründung der letztgenannten Ansicht führt Canaris zutreffend aus, dem besonderen methodologischen Zweck des Lückenbegriffs, die Voraussetzungen der Ergänzung des Gesetzes festzulegen, werde nur die h. L. gerecht, denn die Rechtsfindung praeter legem sei ihrerseits durch die Befugnis des Richters gekennzeichnet, über die Anordnungen des positiven Rechts hinauszugehen; sie sei andererseits aber beschränkt durch die Bindung des Richters an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) und finde daher ihre Grenzen dort, wo gegen Anordnungen und Wertungen des geltenden Rechts verstoßen werde, also contra legem judiziert werde.34 Es kommt also auf die Wertungen der Rechtsordnung als solteilweise wird als dritte Voraussetzung eine rechtssatzmäßige Formulierung gefordert, etwa von Schmalz, Rn. 44; siehe auch Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 4 Rn. 21; zu Recht ablehnend Schmidt, NVwZ 2004, 930, 931. Statt von longa consuetudo spricht D. v. d. Pfordten, S. 205, von diuturnus usus. 30 Dies ist auch die Begründung von Canaris, Feststellung von Lücken, S. 29. 31 So H. Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, S. 224; ähnlich auch E. Jung, AcP 118 (1920), 1, 111 f. 32 Etwa H. Hildebrandt, S. 76. 33 Vgl. nur Larenz, Methodenlehre, S. 382 (ratio legis); Canaris, Feststellung von Lücken, S. 33; Kramer, S. 138; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 473 (rationes legis, also die dem Gesetz zugrundeliegenden Wertungen und Zwecke sowie – auf höherer Abstraktionsstufe – die Rechtsprinzipien); wenig aufschlussreich die Erläuterungen bei Röhl, S. 618, der das Fehlen an Reflexion, auf wessen Plan es ankomme in studentischen Arbeiten kritisiert, selbst aber nichts hierzu ausführt, dennoch ist wohl auch Röhl, S. 616 (vorausgehende Wertungen) der h. M. zuzurechnen; zweifelnd K. Engisch, FS Sauer, S. 85, 92, wobei Engischs Bedenken darauf beruhen, dass er die subjektive Auslegungstheorie zugrundelegt. 34 Mit Recht Canaris, Feststellung von Lücken, S. 33.

A. Begriffsbestimmung

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cher an. Lückenhaft können nur einzelne Gesetze sein, die Rechtsordnung als Ganze ist hingegen lückenlos. bb) Rechtstheoretische Möglichkeit einer Gesetzeslücke (1) H. Kelsen und die Reine Rechtslehre Hans Kelsen hat in seiner „Reinen Rechtslehre“ aber sogar die prinzipielle Möglichkeit der Lückenhaftigkeit des Gesetzes verworfen.35 Dies liegt an der Annahme eines allgemeinen negativen Satzes. Dessen Bedeutung erhellt sich, wenn Kelsen ausführt, dass „die Rechtsordnung menschliches Verhalten nicht nur positiv (regelt), indem sie ein bestimmtes Verhalten gebietet, das ist, zu diesem verpflichtet, sondern auch negativ, indem sie ein bestimmtes Verhalten dadurch erlaubt, daß sie es nicht verbietet.“36 Legt man diese Annahme seinen Überlegungen zugrunde, so erscheinen die Gesetze und damit in der Summe auch die Rechtsordnung als Ganze in der Tat lückenlos. So schließt Kelsen denn auch zum Lückenproblem: „Aus dem vorgehenden ergibt sich, daß eine Rechtsordnung von einem Gericht auf einen konkreten Fall immer angewendet werden kann, auch in dem Falle, dass die Rechtsordnung nach Ansicht des Gerichts keine generelle Norm enthält, durch die das Verhalten des Beklagten oder Angeklagten in positiver Weise, das heißt in der Weise geregelt ist, daß ihm die Pflicht zu einem Verhalten auferlegt ist [. . .]. Denn in diesem Fall ist sein Verhalten negativ, das heißt dadurch geregelt, daß ihm dieses Verhalten rechtlich nicht verboten und in diesem Sinne erlaubt ist.“37

Geht man also von der Existenz eines allgemeinen negativen Satzes aus, so kann tatsächlich jeder Rechtsfall relativ leicht entschieden werden. Existiert nämlich keine positivrechtliche Regelung, so ist die Klage auf den geltend gemachten Anspruch abzuweisen bzw. der Angeklagte freizusprechen.38 Die „angeblichen Lücken“, welche die traditionelle Jurisprudenz zu erkennen meine, rührten daher, so Kelsen, dass die Beseitungung eines Mangels an einer bestimmten Rechtsnorm vom rechtsanwendenden Organ als rechtspolitisch wünschenswert angesehen werde, weshalb die logisch eigentlich mögliche Anwendung des geltenden Rechts abgelehnt werde, weil es unbillig oder auch ungerecht sei.39 Hiergegen weist Kelsen mit Recht darauf hin, dass eine als rechtspolitisch unbillig empfundene Situation aller35

H. Kelsen, insbes. S. 251 ff. Kelsen, S. 248. 37 Vgl. Kelsen, S. 251. 38 Dieses Beispiel führt Kelsen, S. 248, selbst an. 39 Vgl. die Analyse bei Kelsen, S. 252; sehr kritisch zur ganzen von Kelsen vertretenen Auffassung hinsichtlich der Lücken im Recht F. Bydlinski, FS Gschnitzer, 36

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dings auch dann bestehen kann, wenn eine positiv regelnde Norm existiert.40 Diese Einbeziehung der Rechtspolitik widerstrebt jedoch der Grundvorstellung der Reinen Rechtslehre. Diese bezeichnet sich nämlich deshalb als eine reine Lehre vom Recht, „weil sie nur eine auf das Recht gerichtete Erkenntnis sicherstellen und weil sie aus dieser Erkenntnis alles ausscheiden möchte, was nicht exakt zu dem als Recht bestimmten Gegenstande gehört.“41 Als Theorie wolle sie ausschließlich und allein ihren Gegenstand erkennen. Sie versuche die Frage zu beantworten, was und wie das Recht sei, nicht aber die Frage, wie es gemacht werden solle. Sie sei Rechtswissenschaft, nicht aber Rechtspolitik.42 Die Vorstellung einer Lücke im positiven Recht kann sich also gar nicht in die Reine Rechtslehre einfügen, diese verlöre darob nämlich ihre Reinheit.43 In besondere Schwierigkeiten gerät Kelsens Theorie von der logischen Unmöglichkeit der Lückenhaftigkeit des Rechts jedoch angesichts von Vorschriften wie Art. 1 des schweizerischen ZGB und § 7 des österreichischen ABGB44, welche von der Möglichkeit einer Lückenhaftigkeit des Gesetzes gerade ausgehen. Hier droht die gesamte Reine Rechtslehre in sich zusammenzufallen.45 Kelsen versucht dem zu entgehen, indem er eine solche Bestimmung als Fiktion einstuft. Diese bestehe darin, dass ein auf einem subjektiven, moralisch-politischen Werturteil beruhender Mangel einer bestimmten Rechtsnorm innerhalb einer Rechtsordnung, als logische Unmöglichkeit ihrer Anwendung dargestellt werde.46 Der Grund für diese Fiktion soll in der Erkenntnis des Gesetzgebers liegen, mit einem allgemeinen Gesetz könne er nicht alle Fallgruppen gerecht erfassen, so dass es sich letztlich bei VorschrifS. 101, 105 ff., der davon spricht, dass sich die Reine Rechtslehre sogar zu offener Gesetzeswidrigkeit hinreißen lasse. 40 Kelsen, S. 252. 41 Vgl. dazu Kelsen, S. 1; so bereits in der 1. Aufl. der Reinen Rechtslehre, S. 1. 42 So Kelsen, S. 1; so bereits in der 1. Aufl. der Reinen Rechtslehre, S. 1. 43 In diese Richtung zielt auch die Kritik von Bydlinski, FS Gschnitzer, S. 101, 105 ff., der von einem „vernichtenden Ergebnis“ (S. 110) für die Reine Rechtslehre spricht, wenn er die Kritik auch vorwiegend vor dem Hintergrund der gesetzlich positivierten Lückenhaftigkeit des ABGB übt. Eine schöne Darstellung der Reinen Rechtslehre Kelsens mit Bezug auch auf das hier erörterte Problem findet sich bei J. Braun, S. 60. 44 § 7 des österr. ABGB bestimmt: „Läßt sich ein Rechtsfall weder aus den Worten, noch aus dem natürlichen Sinn eines Gesetzes bestimmen, so muss auf ähnliche, in den Gesetzen bestimmt entschiedene Fälle, und auf Gründe anderer damit verwandter Gesetze Rücksicht genommen werden. Bleibt ein Rechtsfall noch zweifelhaft, so muß solcher mit Hinsicht auf die sorgfältig gesammelten und reiflich erwogenen Umstände nach den natürlichen Rechtsgrundsätzen entschieden werden.“ 45 So auch Bydlinski, FS Gschnitzer, S. 101, 110; eine scharfe Kritik an Bydlinski übt K. Ringhofer, FS Kelsen, S. 198 ff. 46 Vgl. Kelsen, S. 253.

A. Begriffsbestimmung

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ten wie Art. 1 schweizerisches ZGB und § 7 österr. ABGB um Ermächtigungen des Gesetzgebers an den Richter handele, selbst von dem von ihm als rechtspolisch unerwünscht angesehenen Ergebnis abzuweichen und eine eigene Regelung zu schaffen.47 Selbstverständlich entgeht Kelsen nicht, was aus einer solchen These folgt. Da das geltende Recht immer anwendbar sei, da es keine Lücken in diesem Sinne habe, leiste die Formel der Ermächtigung zur Normsetzung in vom Gesetzgeber nicht beachteten Fällen, sofern man den fiktiven Charakter durchschaue, nicht die beabsichtigte Einschränkung der dem Gericht erteilten Ermächtigung, sondern deren Aufhebung.48 Akzeptiere aber auch das Gericht die Annahme, dass es im Recht Lücken gebe, könne diese theoretisch unhaltbare Fiktion die beabsichtigte Wirkung haben. Damit bleibt Kelsen also selbst für den Fall der gesetzlich festgeschriebenen Möglichkeit der Existenz von Lücken im Gesetz bei der Auffassung, dass ein Bestehen solcher Lücken rechtstheoretisch unhaltbar ist. Aber nicht nur Kelsen ging von der Existenz eines allgemeinen negativen Satzes aus, wenn er auch das Lückenproblem am deutlichsten erörtert hat. So hingen etwa sein rechtspositivistischer Vorgänger Karl Bergbohm49, aber auch Ernst Zitelmann50, ebenfalls dieser Vorstellung an. (2) Möglichkeit der Lückenhaftigkeit Die heute fast einhellige Meinung geht hingegen davon aus, dass ein Gesetz lückenhaft sein kann.51 Damit wird die Existenz eines allgemeinen negativen Satzes zumindest für jene Bereiche abgelehnt, in welchen es kein Analogieverbot etwa in Form des „nulla poena“-Grundsatzes (vgl. Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB) gibt. Sehr anschaulich beschreibt dies Enzensberger: „Auf den ersten Blick erwecken diese vielen Gesetze und Verordnungen den Eindruck der Lückenlosigkeit. Erst wenn man sie eingehend studiert, erkennt man das Prinzip, nach dem sie abgefasst sind. Diese Texte haben die Struktur eines Schweizer Käses.“52 47

So Kelsen, S. 253. Auf Grundlage seiner Hypothese zu Recht Kelsen, S. 254. 49 Die dem allgemeinen negativen Satz zumindest ähnliche Vorstellung findet sich bei K. Bergbohm, S. 367 ff. 50 Diesen hat E. Zitelmann, S. 1 ff., seiner Theorie zugrundegelegt, weshalb er auch von „unechten Lücken“ spricht. 51 So etwa Larenz, Methodenlehre, S. 366 f., 368; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 472 f.; ders., FS Gschnitzer, S. 101 ff.; K. Engisch, Einführung, S. 175 f.; ausdrücklich auch Kramer, S. 134; ebenso Zippelius, Methodenlehre, § 11 I a), b); die Lückenhaftigkeit der Rechtsordnung als solcher betonend F. Müller, FS 600 Jahre Heidelberg, S. 71 f.; ders. Juristische Methodik, S. 90 f.; wohl auch BVerfGE 34, 269, 286; weitgehend unklare Ausführungen zum Lückenbegriff macht Pawlowski, Methodenlehre, Rn 617 f.; ders., Einführung, Rn. 209 ff., insbes. 214a; ähnlich unverständlich Röhl, S. 618. 48

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Diese Ansicht hat viele Argumente vorgebracht, welche die Hypothese vom allgemeinen negativen Satz ernsthaft erschüttern, ja ihre Berechtigung gar in Frage stellen und damit die Auffassung stützen, dass eine Lückenhaftigkeit von Gesetzen rechtstheoretisch möglich ist. So wird insbesondere betont, der extrem positivistische Standpunkt Kelsens könne nicht überzeugen, weil er es unmöglich mache, selbst eklatante Ungereimtheiten, Widersprüche und Ungerechtigkeiten der gesetzlichen Vorschriften im Rahmen der richterlichen Entscheidungspraxis zu korrigieren.53 Sofern man also nicht von der Annahme ausgehe, dass die bestehenden Gesetze frei von Mängeln und Unzulänglichkeiten seien, sprächen gute Gründe dafür, richterliche Rechtsfortbildung innerhalb gewisser Grenzen für zulässig oder gar erforderlich zu halten.54 Nach Kramer überschätzt die Annahme eines allgemeinen negativen Satzes die limitative Wirkung des Wortsinns und vernachlässige damit gleichzeitig die Teleologie des Gesetzes, welcher nämlich selbst dann nicht mehr zum Durchbruch verholfen werden könne, wenn es offensichtlich sei, dass der zu beurteilende Sachverhalt – wenn auch vom Wortsinn nicht erfasst – von der Wertung her eindeutig jenen Fällen gleichzustellen sei, die gesetzlich bereits positiv geregelt seien.55 Durchschlagend ist aber letztlich die Überlegung, dass Gesetzgebung und Rechtsprechung durch Art. 1 Abs. 3 GG an den allgemeinen Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 1 GG gebunden sind. Dieser verbietet nun aber, wesentlich Gleiches ungleich und wesentlich Ungleiches willkürlich gleich zu behandeln.56 Dieses Gerechtigkeitspostulat, wesentlich Gleiches gleich zu behandeln, bringt es nun aber mit sich, dass wertungsmäßig offensichtlich gleiche Fälle, von denen der Gesetzgeber jedoch nicht alle positivrechtlich geregelt hat, im Rahmen der Rechtsanwendung den geregelten gleichgestellt werden müssen.57 Insoweit weist das entsprechende Gesetz nämlich ein Regelungsdefizit, also eine Lücke, auf. Die Annahme eines allgemeinen negativen Satzes, welcher solchen Lücken entgegenstünde, würde dazu führen, dass Gesetze schneller verfassungswidrig wären, da sie einen Gleichheitsverstoß ent52

Enzensberger, S. 203. So Koller, S. 224; dies gilt zumindest insoweit, als nicht eine, im Sinne Kelsens gesprochen, „Ermächtigungsnorm“ wie Art. 1 schweiz. ZGB oder § 7 ABGB besteht. Zumeist besteht eine solche Norm jedoch nicht, so dass der Einwand Kollers zutreffend ist. 54 Koller, S. 224. 55 Ausdrücklich Kramer, S. 136; so aber auch Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 236. 56 Vgl. etwa BVerfGE 49, 148, 165; 98, 365, 385; erläuternd etwa B. Pieroth/ B. Schlink, Rn. 436; siehe auch Starck, in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 10 m. w. N. 57 In diesem Sinne ebenfalls, wenn auch ohne Nennung der grundgesetzlichen Bestimmungen, Larenz, Methodenlehre, S. 381; dafür auch Kramer, S. 136. 53

A. Begriffsbestimmung

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hielten, aber eine Lückenausfüllung nicht möglich wäre, da sie vom Gesetzgeber mittels eines allgemeinen negativen Satzes ausgeschlossen wäre. Ein solches kann aber auch nicht vom Gesetzgeber gewollt sein. Der Schutz des Gerechtigkeitspostulats des allgemeinen Gleichheitssatzes ebenso wie der grundsätzliche Respekt vor dem Gesetzgeber, der jeder Rechtsordnung gewissermaßen immanent ist, gebieten es also, von der Annahme eines allgemeinen negativen Satzes abzusehen. Die Existenz eines allgemeinen negativen Satzes und damit einhergehend die Vorstellung von der rechtstheoretischen Unmöglichkeit der Lückenhaftigkeit der Gesetze, ist folglich abzulehnen. Dennoch muss beachtet werden, dass diese Vorstellung im Falle eines Analogieverbots, insbesondere hinsichtlich des „nulla poena sine lege“-Grundsatzes im Strafrecht (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB), zutreffend ist. Sofern nämlich ein Verhalten hier nicht positivrechtlich, also im Rahmen der Wortsinngrenze,58 geregelt, d.h. mit Strafe bedroht ist, ist es straflos.59 So wird denn auch die Existenz eines allgemeinen negativen Satzes für die Gesetze bejaht, in denen ein Analogieverbot besteht oder auch ein Umkehrschluss nahe liegt.60 Hinsichtlich des Umkehrschlusses scheint dieses jedoch nicht ganz zutreffend zu sein, kann der Umkehrschluss doch stets nur eine einzelne Norm betreffen. In diesem Fall ist es jedoch zu weitgehend, von einem allgemeinen negativen Satz zu sprechen. Beim Umkehrschluss dürfte es sich vielmehr um einen besonderen methodischen Ausschlussgrund für eine Rechtsfortbildung handeln, der in der Regel darin begründet sein wird, dass der geregelte und die ungeregelten Fälle nicht wesentlich gleich sind. Außerhalb des Strafrechts (sowie des Ordnungswidrigkeitenrechts)61 ist also die insbesondere von Kelsen62 propagierte Vorstellung eines allgemeinen negativen Satzes abzulehnen.63 58 Vgl. dazu etwa BVerfGE 92, 1, 13, wo das Bundesverfassungsgericht praktisch den allgemeinen negativen Satz formuliert, wenn es ausführt: „Würde erst eine über den erkennbaren Wortsinn der Vorschrift hinausgehende Deutung zur Strafbarkeit eines Verhaltens führen, so müsste sie zum Freispruch gelangen.“ Dazu C. Degenhardt, in: Sachs, GG, Art. 103 Rn. 70. 59 Vgl. nur BVerfGE 92, 1, 13; Degenhardt, in: Sachs, GG, Art. 103 Rn. 70; H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 103 II Rn. 39 f.; G. Nolte, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Art. 103 Rn. 157. 60 So von Kramer, S. 136. 61 Allerdings bleibt auch hier zu beachten, dass eine Analogie, und damit eine Lückenausfüllung, zugunsten des Täters selbstverständlich für zulässig erachtet wird. Vgl. dazu etwa Fischer, in Tröndle/Fischer, StGB, § 1 Rn. 10; Schönke/ Schröder-Eser, StGB, § 1 Rn. 31; H.-J. Hirsch, GS Tjong, S. 50 ff., der sich mit dem Verhältnis von Rechtfertigungsgründen und Analogieverbot auseinandersetzt. 62 Kelsen, S. 251; so aber auch Ringhofer, FS Kelsen, S. 198, 199; Zitelmann, S. 1 ff. 63 Ebenso mit Vehemenz Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 236; ders., FS Gschnitzer, S. 101, 104 ff.; siehe auch Kramer, S. 136.

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Folglich erscheint es rechtstheoretisch denkbar, dass Gesetze lückenhaft sind. cc) Lückenarten Die Literatur hat eine Vielzahl an verschiedenen Lückenarten herausgearbeitet. Dabei ergeben sich die unterschiedlichen Arten vor allem anhand des Differenzierungskriteriums. Im Folgenden wird also nicht nach Autoren oder Bezeichnungen vorgegangen, sondern es soll vielmehr der Versuch unternommen werden, verschiedene Gruppen anhand des Differenzierungskriteriums zu bilden. (1) Entstehungszeitpunkt Ein erstes Unterscheidungsmerkmal findet die Lehre im Entstehungszeitpunkt der Lücke.64 Man spricht hier entweder von anfänglichen und nachträglichen65 oder auch von primären bzw. sekundären66 Lücken. Maßgeblicher Zeitpunkt ist dabei jeweils der Erlass des Gesetzes.67 Eine planwidrige Unvollständigkeit, die schon bei Gesetzeserlass vorlag, ist dabei als anfängliche, eine solche die erst nach demselben durch eine Änderung der äußeren Umstände entstanden ist, als nachträgliche Lücke zu qualifizieren.68 Nachträgliche Lücken sollen aber auch solche sein, die sich durch Änderungen der der Rechtsordnung immanenten Wertungen ergeben.69 Eine weitere Unterscheidung im Bereich der anfänglichen oder primären Lücken treffen Wilhelm Sauer70 und ihm folgend Karl Engisch71, wenn sie von entschuldbaren und unentschuldbaren Lücken sprechen, je nachdem, ob die Lücken durch ein versehentliches Übersehen von möglichen Sachverhalten seitens des Normgebers entstanden ist oder ob das nicht der Fall war.

64 Etwa Larenz, Methodenlehre, S. 379; Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, S. 168 f.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 475 ist eher kritisch. 65 So Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, S. 168 f.; Engisch, FS Sauer, S. 85, 90. 66 Vgl. etwa Larenz, Methodenlehre, S. 379. 67 Erläuternd Canaris, Feststellung von Lücken, S. 135, der selbst eine andere Unterscheidung vornimmt, vgl. dazu a. a. O. S. 139 ff. 68 So etwa Larenz, Methodenlehre, S. 379; Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, S. 168 f.; Engisch, FS Sauer, S. 85, 90. 69 Larenz, Methodenlehre, S. 379; U. Klug, FS Nipperdey, Bd. 1, S. 71, 72. 70 Siehe W. Sauer, Juristische Methodenlehre, S. 284 f.; dazu Klug, FS Nipperdey, Bd. 1, S. 71, 72. 71 So bei Engisch, FS Sauer, S. 85, 90 f.

A. Begriffsbestimmung

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Bei den sekundären Lücken wird danach differenziert, ob die Lücke durch eine Änderung der Lebensverhältnisse oder durch eine Änderung der Wertung innerhalb der Rechtsordnung entstanden ist.72 Fraglich ist aber, ob diese von der Literatur z. T. vorgenommene Unterscheidung anhand des Entstehungszeitpunkts im Lückenbereich sinnvoll ist. Meiner Ansicht nach ist ein Differenzierungskriterium nur dann sinnvoll, wenn sich aus den aus ihm gewonnenen Gruppen verschiedene Folgen für die Ausfüllung der Lücke ergeben und ableiten lassen. Dies scheint mir nun aber beim Entstehungszeitpunkt nicht der Fall zu sein. So kann es, wenn eine wertende Betrachtung ergibt, dass eine Lücke im Gesetz vorliegt, keinen Unterschied machen, ob der Gesetzgeber gewisse Sachverhalte einfach nicht bedacht hat, oder ob sich die tatsächlichen Lebensumstände nach Erlass des Gesetzes derart geändert haben, dass sich eine planwidrige Unvollständigkeit auftut. Will man dem Richter die Befugnis zur Lückenschließung überhaupt zugestehen, so muss man sie ihm, sobald man die aktuelle und nicht etwa die historische Wertung des Gesetzes zugrundelegt,73 unabhängig davon gestatten, ob die Lücke zufällig schon bei Erlass des Gesetzes vorlag oder erst im Nachhinein aufgetreten ist. Eine gewisse Berechtigung kann diese Differenzierung allerdings dadurch erlangen, dass der Legitimationsaufwand für die Schließung nicht vorhersehbarer nachträglicher Gesetzeslücken geringer ist. Die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Lücken kann somit im Rahmen der Diskussion über Rechtsfortbildung beibehalten werden.

72

Vgl. Engisch, FS Sauer, S. 85, 90 f.; dieses erläutert auch Klug, FS Nipperdey, Bd. 1, S. 71, 72. 73 Meiner Anschauung liegt damit die objektive Auslegung zugrunde, die besagt, dass der „Wille des Gesetzes“ zu ermitteln sei und nicht primär der historisch reale Wille des Gesetzgebers, wie es die subjektive Theorie verlangt. Die heute h. M. steht auf dem Boden der objektiven Theorie, welche den von v. Savigny begründeten Auslegungscanones noch objektiv-teleologische Elemente zur Seite gestellt hat. So v. a. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 153 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 333; auch das Bundesverfassungsgericht teilt diese Ansicht, wenn es ausführt, dass der Wille des historischen Gesetzgebers nur insoweit berücksichtigt werden könne, als er im Gesetz selbst einen hinreichend bestimmten Ausdruck gefunden habe, vgl. BVerfGE 11, 126, 130. Vom Boden der subjektiven Theorie aus, welche dem Willen des historischen Gesetzgebers maßgeblichen Wert beimisst, und die heute mit Nachdruck v. a. von Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 806 ff. vertreten wird, mag die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Lücken relevanter sein, da hier der Wille des historischen Gesetzgebers tatsächlich gesellschaftliche Veränderungen nicht immer berücksichtigen kann.

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(2) Wille des Normgebers Eine weitere Differenzierung knüpft an den Willen des Gesetzgebers an.74 Dabei wird danach unterschieden, ob der Normgeber eine Lücke absichtlich offengelassen hat, um sie durch die Rechtsprechung und Lehre ausfüllen zu lassen (bewusste oder gewollte Lücke), oder ob sich der Gesetzgeber dieser Unvollständigkeit der Regelung nicht bewusst war (unbewusste oder ungewollte Lücke).75 Dieses Differenzierungskriterium erscheint sinnvoll. Denn im Falle einer gewollten Rechtslücke beruht die (einfachgesetzliche) Notwendigkeit zur Rechtsfortbildung darauf, dass der Gesetzgeber die Entscheidung einer bestimmten Problematik bewusst der Rechtsprechung (und auch der Lehre, die jedoch „nur“ Anregungen geben und Vorschläge machen kann) überlassen wollte.76 Der Begründungsaufwand zur Rechtfertigung der Schließung einer solchen bewussten Lücke ist geringer als bei einer unbewussten, muss das Gericht hierfür doch nur auf die, in der Regel in den Gesetzesmaterialien zu Ausdruck kommende gesetzgeberische „Ermächtigung“ zur Lückenschließung verweisen.77 Folglich sollte diese Unterscheidung von Lücken beibehalten werden. Sie erleichtert die Rechtfertigung der Rechtsfortbildung im Bereich der bewussten Lücken. (3) Verhältnis zum Wortlaut Des Weiteren wird zwischen offenen und verdeckten Lücken unterschieden.78 Eine offene Lücke soll dann gegeben sein, wenn das Gesetz für eine bestimmte Fallgruppe keine Regel enthalte, die auf sie anwendbar sei, obgleich es der eigenen Teleologie entsprechend eine solche enthalten 74

So Klug, FS Nipperdey, Bd. 1, S. 71, 72 f.; darstellend auch Canaris, Feststellung von Lücken, S. 134, der von der Stellungnahme des historischen Gesetzgebers spricht. 75 So etwa Klug, FS Nipperdey, Bd. 1, S. 71, 72; siehe aber auch z. T. darstellend Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, S. 162; Larenz, Methodenlehre, S. 367; Engisch, FS Sauer, S. 85, 89; A. Meier-Hayoz, S. 68; Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 463. 76 Zutreffend Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 463. 77 Ähnlich auch Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 463, der allerdings unzutreffend davon spricht, dass es einen Unterschied mache, ob das Gericht statt einer bewussten eine unbewusste Lücke schließt, die durch Wertewandel entstanden sei. Hierbei vermischt Pawlowski nun aber unbewusste und nachträgliche Lücken. Unbewusste Lücken entstehen aber auch durch das anfängliche Übersehen von Fällen, die regelungsbedürftig wären. Richtig dazu bereits Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, S. 162. 78 So vor allem von Larenz, Methodenlehre, S. 377; ebenso Meier-Hayoz, S. 62; nur darstellend Canaris, Feststellung von Lücken, S. 136 m. w. N. (Fn. 37).

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müsste.79 Hingegen wird eine verdeckte Lücke dann angenommen, wenn das Gesetz zwar eine auf Fälle solcher Art anwendbare Regel enthalte, diese aber ihrem Sinn und Zweck nach nicht passe, weil sie die für die Wertung gerade dieser Fälle relevante Besonderheit außer Acht lasse.80 Canaris hat richtig herausgearbeitet, dass das Differenzierungskriterium das Verhältnis zum Wortlaut ist, welcher entweder zu eng (offene Lücken) oder zu weit (verdeckte Lücken) ist.81 Auch bei dieser Unterscheidung stellt sich die Frage, inwieweit sie für die Lückenausfüllung und damit die Rechtsfortbildung, sinnvoll ist. Larenz bemerkt hierzu, dass zumindest bei den verdeckten Lücken deren Erkenntnis mit dem Wissen, wie die Lücke auszufüllen sei, zusammenfalle.82 Die Unterscheidung ist also insoweit von Nutzen, als dass man bei der Kennzeichnung einer Lücke als verdeckte weiß, dass das Mittel zu ihrer Schließung die teleologische Reduktion ist,83 während umgekehrt bei den offenen Lücken als Mittel der Lückenschließung zumeist die Analogie84 Anwendung finden dürfte.85 Folglich ist mit der Einteilung in offene und verdeckte Lücken durchaus ein Gewinn insoweit verbunden, als dass die einem bestimmten Verfahren der Lückenschließung zugrundeliegende Situation bezeichnet werden kann. Also soll auch diese Terminologie beibehalten werden. 79

Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 377. Siehe Larenz, Methodenlehre, S. 377; H.-F. Brandenburg, S. 60 ff. hält deshalb die Verwendung des Begriffs „Lücke“ in dieser Konstellation für überflüssig. Dazu bemerkt Larenz, Methodenlehre, S. 377 Fn. 24a: „Richtig ist, daß es hier an einer ihrem Wortsinn nach anwendbaren Vorschrift nicht fehlt. Die Lücke tritt erst dann hervor, wenn die gebotene Einschränkung in den Blick tritt. Geschieht das, so erscheint das Fehlen der einschränkenden Norm nunmehr als Lücke des Gesetzes.“ 81 So Canaris, Feststellung von Lücken, S. 136. 82 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 377 (Fn. 24a): „Die Erkenntnis, daß eine Lücke vorliegt und wie sie auszufüllen ist, fallen hier zusammen.“ 83 Zur teleologischen Reduktion als Mittel der Lückenausfüllung vgl. darstellend nur Larenz, Methodenlehre, S. 391; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 480 f.; Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 493 ff.; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 888, 902; knapp auch Röhl, S. 602. Eine umfassende Darstellung etlicher mit der teleologischen Reduktion im Zusammenhang stehender Fragen bietet Brandenburg, vgl. S. 60 ff. 84 Zur Analogie als Mittel der Rechtsfortbildung siehe nur Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 888 ff.; Engisch, Einführung, S. 186 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 475 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 381 ff.; Kramer, S. 146 ff.; Zippelius, Methodenlehre, § 11 II a); siehe zur logischen Struktur der Analogie U. Klug, Juristische Logik, S. 109 ff.; O. Weinberger, S. 355 f.; E. Schneider/F. Schnapp, S. 149 ff. 85 So insbesondere auch Larenz, Methodenlehre, S. 381 ff., 391 ff.; siehe aber auch Kramer, S. 146 ff., 161 ff. 80

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(4) Maß der Unvollständigkeit Anknüpfend an den Umfang der Unvollständigkeit der gesetzlichen Regelung hat insbesondere Larenz noch eine weitere Differenzierung zwischen Lückenarten getroffen.86 Dabei wird der Fall, dass eine Gesetzesnorm überhaupt nicht angewendet werden könne, ohne dass ihr eine weitere Bestimmung hinzugefügt werde, als Normlücke bezeichnet.87 Bei dieser Lückenform handelt es sich um die von Zitelmann als „echte“ Lücken qualifizierten Unvollständigkeiten im Gesetz.88 Als Beispiel wird § 904 S. 2 BGB angeführt, der demjenigen, in dessen Eigentum aufgrund von § 904 S. 1 BGB eingegriffen wurde, einen Schadensersatzanspruch zubilligt. Jedoch lässt das Gesetz eine Regelung darüber vermissen, gegen wen der Schadensersatzanspruch geltend gemacht werden kann. So kommen der Einwirkende89, der vom Eingriff Begünstigte90 oder auch beide zusammen als Gesamtschuldner91 als Anspruchsgegner in Frage. Ohne eine Bestimmung des Anspruchsschuldners ist § 904 S. 2 BGB also nicht anwendbar, so dass er insoweit ergänzungsbedürftig ist.92 Daneben kennt Larenz noch die Regelungslücken. Diese sollen vorliegen, wenn nicht bloß ein einzelner Rechtssatz, sondern eine bestimmte Regelung im Ganzen unvollständig sei, d.h. keine Regel für eine solche Frage enthalte, die nach der zugrundeliegenden Regelungsabsicht der Klärung bedürfe.93 Meist handelt es sich dabei auch um die von Zitelmann als „un86 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 372 ff.; siehe darstellend aber auch Canaris, Feststellung von Lücken, S. 137 f. 87 Larenz, Methodenlehre, S. 372 ff.; ähnlich bereits Zitelmann, S. 27 ff., der diese Form der Lücke als „echte“ bezeichnet; so auch Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 473, der von logischen Lücken spricht; bei Kramer, S. 141, werden diese Lücken als „offene“ (praeter verba legis) bezeichnet. 88 Vgl. Zitelmann, S. 27 f. 89 So die h. L. im Bürgerlichen Recht vgl. etwa BGHZ 6, 102, 105; Palandt-Bassenge, BGB, § 904 Rn. 5; F. Baur/R. Stürner, § 25 III 1c jeweils m. w. N. 90 Etwa MünchKomm-Säcker, BGB, § 904 Rn. 17; Staudinger-Seiler, BGB, § 904 Rn 38; Larenz/Canaris, Schuldrecht II, § 85 I 1b m. w. N. 91 So etwa M. Wolf, Sachenrecht, Rn. 334; ebenso H.-M. Pawlowski, BGB AT, Rn. 859. 92 Ein weiteres (allerdings fiktives) Beispiel wäre, dass ein Gesetz bestimmt, dass ein (Kollegial-)Organ durch Wahl bestimmt werden soll, nicht aber das Wahlverfahren regelt. Hier bedarf es, soll die Kreation des Organs stattfinden, einer Bestimmung über das Wahlverfahren. Diese wäre zu ergänzen. Dieses Beispiel ist Kelsens, Reiner Rechtslehre, S. 254 entnommen. Kelsen bestreitet a. a. O. vor dem Hintergrund des von ihm vertretenen Lückenlosigkeitsdogmas der Gesetze freilich, dass in einem solchen Fall eine Lücke vorliegt und erklärt jedes Wahlverfahren für zulässig, womit die Lückenlosigkeit vordergründig gewahrt bleibt. 93 So Larenz, Methodenlehre, S. 372.

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echte Lücken“ bezeichneten Gesetzesmängel.94 Dabei soll die unechte Lücke dadurch gekennzeichnet sein, dass „für besondere Tatbestände eine besondere, von der allgemeinen Regel abweichende rechtliche Behandlung im Gesetz vermisst wird.“95 Der Unterschied zu Larenz wird allerdings deutlich, wenn man bedenkt, dass Zitelmann unter der „allgemeinen Regel“ den allgemeinen negativen Satz versteht.96 Insoweit sind die Bezeichnungen Regelungslücke und unechte Lücke nicht deckungsgleich. Unter diese Fallgruppe dürften die allermeisten der analogen Anwendungen von Normen auf ungeregelte Sachverhalte fallen.97 In Bezug auf das Maß der Unvollständigkeit wird noch eine dritte Fallgruppe unterschieden. Diese kann als Gebietslücke bezeichnet werden.98 Sie soll vorliegen, wenn ein innerlich zusammenhängendes Gebiet, also ein ganzer Komplex an Normen, nicht gesetzlich geregelt worden ist.99 Ein Beispiel hierfür ist des Arbeitskampfrecht.100 Hier fehlt es an jeder einfachgesetzlichen Regelung. Auf Verfassungsebene ist lediglich Art. 9 Abs. 3 GG vorhanden, so dass die Rechtsprechung, namentlich das BAG, gezwungen war, das gesamte Arbeitskampfrecht zu entwickeln.101 Die Differenzierung nach dem Maß der Unvollständigkeit überschneidet sich mit der nach 94 Zitelmann, S. 24; sehr kritisch zu diesem Canaris, Feststellung von Lücken, S. 132. 95 So Zitelmann, S. 24. 96 So auch Canaris, Feststellung von Lücken, S. 132. 97 Das von Larenz, Methodenlehre, S. 372 f. gebrachte Beispiel der Rechtsfigur der positiven Vertragsverletzung dürfte das vor der Modernisierung des Schuldrechts und ihrer gesetzlichen Regelung in §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB n. f. das wohl bekannteste Beispiel hierfür gewesen sein. Grundlegend zur pVV deren „Erfinder“ H. Staub, S. 5 ff. 98 Diese Bezeichnung wählt etwa Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 855, 857 f.; kritisch hierzu Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 188 f., 353 ff., die sich gegen die Bezeichnung „Gebietslücke“ wenden, die nicht gleichzeitig Gesetzeslücke sei. Es fehle hier an der Planwidrigkeit, so dass nicht gesetzesimmanente, sondern gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung am Platze sei. Vgl. auch Larenz, Methodenlehre, S. 376 f. 99 Vgl. Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 857. 100 Ebenso G. v. Hoyningen-Huene, FS 600 Jahre Heidelberg, S. 353, 367; umfassend hierzu auch R. Richardi, FS E. Wolf, S. 549 ff.; vgl. auch Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 857. 101 Im kollektiven Arbeitsrecht sind weite Teile, insbesondere auch das Arbeitskampfrecht, ungeregelt, so dass „die Gerichte an die Stelle des untätigen Gesetzgebers treten“ und zum „Notgesetzgeber“ werden, so der Große Senat des BAG selbst in: BAG AP Nr. 43 zu Art. 9 Arbeitskampf (Bl. 315). Allein der Umfang der Entscheidungssammlung AP zu Art. 9 Arbeitskampf mit weit mehr als 160 (!) Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts spricht Bände über die richterliche Aktivität auf diesem Gebiet.

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dem Verhältnis zum Wortlaut. So gibt es offene und verdeckte Normlücken wie auch offene und verdeckte Regelungslücken.102 Näher zu untersuchen bleibt, ob die Unterscheidung nach dem Maß der Unvollständigkeit eines Gesetzes für die Frage nach richterlicher Rechtsfortbildung sinnvoll ist und aufrecht erhalten werden sollte. Tatsache ist, dass die Lücke in allen drei Fällen durch den Richter geschlossen werden muss, und zwar auch die Bereichslücken, so dass zumindest die Frage dahinstehen kann, ob letztere zum Lückenbereich zu zählen sind oder nicht.103 Meiner Einschätzung nach ist der Erkenntnisgewinn, den man aus der Unterscheidung von 1. Norm-, 2. Bereichs- und 3. Regelungslücken für die Rechtsfortbildung ziehen kann, nicht sonderlich groß. Zum einen scheint es mir kaum Fälle zu geben, in denen eine Normlücke tatsächlich gegeben ist. So taucht in der Literatur stets nur das Beispiel des § 904 S. 2 BGB auf. Auch Larenz räumt ein, dass Normlücken bei sorgsam gearbeiteten Gesetzen selten seien.104 Hier stellt sich rein praktisch – nicht theoretisch – die Frage, ob man für diese seltenen Fälle eine eigene Fallgruppe schaffen muss. Durchschlagender erscheint mir jedoch gegen die Unterscheidung von Norm-, Bereichs- und Regelungslücken zu sprechen, dass sie alle in der selben Weise aufgefüllt werden. So schreibt Larenz selbst, dass Normlücken wie auch Regelungslücken Lücken im Regelungszusammenhang des Gesetzes seien, und dass das Vorliegen einer solchen vom gesetzgeberischen Plan zu beurteilen sei.105 Dann aber muss auch die Lückenausfüllung dem gesetzgeberischen Plan folgen und somit sowohl bei Norm- wie auch bei Regelungslücken zumindest ähnlich verlaufen. Folglich ist eine Differenzierung für eine Theorie der Rechtsfortbildung überflüssig, da sich aus ihr für jene keine Konsequenzen ergeben. Somit soll diese Unterscheidung dieser Abhandlung nicht weiter zu Grunde gelegt werden.106

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Erläuternd dazu Canaris, Feststellung von Lücken, S. 137 f. So richtig auch Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 855; ablehnend zur Einbeziehung in den Lückenbereich Larenz, Methodenlehre, S. 376 f., der die Rechtsfortbildung im Bereich der Gebietslücken zur gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung zählen will. Dazu mit Recht kritisch Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 858, der darauf hinweist, dass es dadurch zu einer ungerechtfertigten begrifflichen Vermischung des Judizierens contra legem, also der richterlichen Gesetzesgehorsamsverweigerung und der notwendigen richterlichen Normsetzung im Lückenbereich komme. 104 Larenz, Methodenlehre, S. 372. 105 Vg. Larenz, Methodenlehre, S. 373. 106 Kritisch und im Ergebnis ebenfalls ablehnend Canaris, Feststellung von Lücken, S. 137. 103

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(5) Maßstab der Lückenfeststellung Die letzte Einteilungsmöglichkeit, die hier vorgestellt werden soll, ist von Canaris107 entwickelt worden und hat in der Folgezeit auch in der Literatur108 Anklang gefunden. Dabei nimmt er eine Dreiteilung vor, bei der er zwischen Anordnungs-, teleologischen und „Prinzip- oder Wertlücken“ unterscheidet. Bei Anordnungslücken soll es sich um solche Fälle handeln, in denen die Anordnungen des Gesetzes in Verbindung mit dem Rechtsverweigerungsverbot eine Ergänzung erzwingen.109 Man könnte also sagen, dass es sich hierbei um die echten bzw. die Normlücken handelt.110 Teleologische Lücken sollen solche sein, in denen der Zweck des Gesetzes die Rechtsfortbildung fordert, wo also Analogie, Erst-recht-Schluss, teleologische Reduktion und Extension zur Lückenfeststellung dienen.111 Im Falle der Prinzip- und Wertlücken soll die Lückenfeststellung mithilfe allgemeiner Rechtsprinzipien erfolgen. Ein solches allgemeines Rechtsprinzip lässt die rechtliche Bedeutung eines Falles erkennen und weist auch seiner Lösung die Richtung, ohne aber bereits eine bestimmte Rechtsfolge zu ergeben.112 Diese ist erst aufgrund teleologischer Überlegungen und falls diese nicht weiterführen, durch richterliche Eigenwertung zu bestimmen.113 Diese Unterscheidung an Lückenarten erscheint mir sinnvoll, da sich in Bezug auf das Verhältnis zwischen Lückenfeststellung und Lückenausfüllung deutliche Unterschiede ergeben.114 So ist bei Rechtsverweigerungslücken nur irgendeine Regelung erforderlich, da jede beliebige Regelung dem Rechtsver107

Siehe hierzu Canaris, Feststellung von Lücken, S. 139 ff. Ausdrücklich bei Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 473; wohl auch bei Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 865 ff., 868, der die Teleologie als ersten Anknüpfungspunkt annimmt, dann aber – und insoweit anders als Canaris – die Frage des Zeitpunkts (Entstehungs- und Anwendungszeitpunkt) und damit letztlich auch des Auslegungsstreits zwischen subjektiver und objektiver Theorie für zentral erklärt. 109 So Canaris, Feststellung von Lücken, S. 141. 110 So auch Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 473. 111 Vgl. Canaris, Feststellung von Lücken, S. 141; ebenso Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 474; vgl. auch Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 848, 867. 112 Vgl. Canaris, Feststellung von Lücken, S. 160 f.; Bydlinski, JBl. 1968, 222 f. entwickelt den Vorschlag, die Unterscheidung von Rechtsprinzipien und -werten, die Canaris, Feststellung von Lücken, S. 93 ff., 123 ff. trifft, als überflüssig und kaum durchführbar aufzugeben und die Differenzierung zwischen Rechtsanalogie und allgemeinem Rechtsprinzip danach zu treffen, ob sich durch den vorgenommenen Induktionsschluss bereits eine konkrete Rechtsfolge ergibt oder nicht; zu letzterem weiterführend Canaris, Systemdenken, S. 52. 113 So Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 474; vgl. auch Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 848. 114 Vgl. Canaris, Feststellung von Lücken, S. 142. 108

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weigerungsverbot Genüge tut.115 Bei den teleologischen Lücken fehlt hingegen eine ganz bestimmte Vorschrift, während bei den Prinziplücken die Erwartung bei der Lückenfeststellung nur im Grundsätzlichen bestimmt, im Einzelnen allerdings noch offen ist.116 Die von Canaris vorgeschlagene Lückeneinteilung ist also, da sie mit der Feststellung auch schon Hinweise auf die Ausfüllung der Lücke im Gesetz gibt, sinnvoll und soll deshalb dieser Dissertation zu Grunde gelegt werden. Zu beachten ist freilich, dass diese Differenzierung nicht konträr zu den vorher präsentierten Lückeneinteilungen ist, sondern sich mit ihnen überschneidet und sich mit diesen kombinieren lässt.117 Eine Ausnahme hiervon bilden die Rechtsverweigerungslücken, da diese stets nur offene Lücken sein können.118 dd) Zwischenergebnis zum Lückenproblem Festzuhalten bleibt, dass die Lücke im Gesetz das zentrale Element der Lehre von der Rechtsfortbildung ist. Es wurde gezeigt, dass eine Gesetzeslücke rechtstheoretisch möglich ist, und die Annahme eines allgemeinen negativen Satzes, wie sie noch von Kelsen propagiert wurde, fehlgeht. Vielmehr bestehen Gesetzeslücken, ist es einem Gesetzgeber doch kaum möglich, die Mannigfaltigkeit der Lebenswirklichkeit normativ allumfassend zu regeln, wollte er sich nicht ausschließlich Generalklauseln bedienen. Die Gesetzeslücke ist also ein Stück Gesetzeswirklichkeit und kann die Rechtsfortbildung erforderlich machen. c) Formen der Rechtsfortbildung Nunmehr sollen die ganz überwiegend von der Literatur vorgeschlagenen Formen der Rechtsfortbildung dargestellt und auf die an diesen geübte Kritik eingegangen werden.

115 So Canaris, Feststellung von Lücken, S, 142; dies deutet auch Kelsen, S. 254 an, wenn er ausführt, dass im Falle eines Fehlens einer Wahlverfahrensregel jedes beliebige Wahlverfahren zulässig sei. Zu beachten ist hier freilich, dass Kelsen, a. a. O., nicht vom Vorliegen einer Lücke ausgeht. 116 Dies streicht Canaris, Feststellung von Lücken, S. 142 heraus; ebenso Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 474. 117 So Canaris, Feststellung von Lücken, S. 141 f. 118 Ebenso Canaris, Feststellung von Lücken, S. 141 f.

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aa) Herrschende Einteilung Herkömmlich wird in der Lehre zwischen Rechtsfortbildung praeter legem und solcher contra legem unterschieden, wobei die Bezeichnungen allerdings uneinheitlich sind.119 (1) Rechtsfortbildung praeter legem Von Rechtsfortbildung praeter legem (über das Gesetz hinausgehend) kann man dann sprechen, wenn eine Entscheidung dem möglichen Wortsinn des Gesetzes zwar nicht widerspricht, sich aber auch nicht auf ihn stützt, sei es deswegen, weil das Gesetz die Entscheidung offen lässt oder weil Wortsinn und Zweck des Gesetzes einander widersprechen.120 Es handelt sich folglich bei der Rechtsfortbildung praeter legem maßgeblich um Lückenausfüllung, so dass dem Begriff der Gesetzeslücke eine Schlüsselfunktion zukommt. Nur eine solche planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes ist der Rechtsfortbildung praeter legem zugänglich.121 (2) Rechtsfortbildung contra legem Contra legem, also gegen das Gesetz, erfolgt eine Rechtsfortbildung, wenn die getroffene Entscheidung dem (noch) möglichen Wortsinn des Gesetzes zuwiderläuft und auch von dessen Zweck nicht zwingend gefordert wird.122 Eine Rechtsfortbildung contra legem ist also dann anzunehmen, wenn keine Lücke, sondern ein sonstiger Mangel der gesetzlichen Regelung 119 So namentlich Engisch, Einführung, S. 175; Canaris, Feststellung von Lücken, S. 19 ff., 31 ff.; V. Krey, NJW 1970, 1908; ders., JZ 1978, 361; Kramer, S. 131, 173 ff., der von gebundenem und gesetzesübersteigendem Richterrecht spricht; wohl auch Röhl, S. 621; ebenfalls für diese Zweiteilung Koller, S. 321 ff.; Koch/Rüßmann, S. 248 ff.; siehe auch Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 472 ff.; Göldner, S. 221 ff., 223 will den Begriff „contra legem“ durch die Bezeichnung „contra ius positivum“ ersetzen; Larenz, Methodenlehre, S. 370 ff., 413 ff., nennt neben der Ausfüllung von Lücken (gesetzesimmanente Rechtsfortbildung) die gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung über den Plan des Gesetzes hinaus sowie, quasi als Unterfall der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung, diejenige contra legem. 120 So auch die Definition bei Koller, S. 223. 121 Vgl. Engisch, Einführung, S. 175, 176 ff.; ebenso Kramer, S. 139 ff.; sehr deutlich auch bei Larenz, Methodenlehre, S. 370 ff., der die Rechtsfortbildung praeter legem als gesetzesimmanente Rechtsfortbildung oder auch – und dies verdeutlicht seinen Standpunkt – Ausfüllung von Gesetzeslücken bezeichnet; vgl. auch Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 472 ff.; Krey, NJW 1970, 1908; ders., JZ 1978, 361; siehe auch F. Säcker, ARSP 1972, 215, 235. 122 Koller, S. 223.

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angenommen wird, diese also etwa als unbillig, unsozial oder unzeitgemäß erscheint.123 Man könnte hier von einem rechtspolitischen Fehler sprechen, der vom Rechtsanwender behoben wird.124 Es handelt sich also um Gesetzeskorrektur.125 Als Anknüpfungspunkt für die Gesetzesberichtigung bieten sich sowohl der Tatbestand wie auch die Rechtsfolge an, so dass sich daraus drei denkbare Fallgruppen ergeben.126 Die erste Fallgruppe, die sich aus dieser Überlegung ergibt, ist die Veränderung des Tatbestandes, der trotz abschließend gemeintem Wortlaut und gegen Sinn und Zweck der Norm auf einen weiteren Fall ausgedehnt oder auch verengt wird.127 Zum Zweiten ist denkbar, dass der Richter auf eine Rechtsfolge erkennt, die das Gesetz eindeutig ausschließen wollte.128 Drittens kommt schließlich eine Kombination der beiden bereits genannten Fallgruppen in Betracht, so dass der Rechtsanwender sowohl den Tatbestand als auch die Rechtsfolge einer Norm contra legem verändert. Dadurch entsteht dann eine völlig neue Regelung. Diese Konstellation ist allerdings eher theoretisch, da durch Veränderung entweder des Tatbestandes oder der Rechtsfolge i. d. R. immer ein „gerechteres“ Ergebnis erzielt werden kann, als es das Gesetz ohne Rechtsfortbildung contra legem forderte. Auf die rechtstheoretischen und -methodischen Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Rechtsfortbildung contra legem aufwerfen, insbesondere die Bindung des Richters an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3, 97 GG), soll in diesem Kapitel, das vor allem der Begriffsdefinition gewidmet ist, noch nicht eingegangen werden, vielmehr werden diese Probleme im jeweiligen Sachzusammenhang behandelt, wo dann auch versucht wird, diese einer Lösung zuzuführen. 123 Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 827; grundlegend auch Engisch, Einführung, S. 175 ff., 222 ff.; interessant hierzu auch Schneider/Schnapp, S. 7 f. 124 So Krey, JZ 1978, 361, 362, der dies mit zahlreichen Beispielen vertiefend erläutert; siehe auch ders., JZ 1978, 428 ff.; 465 ff.; vgl. auch Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 497 f. 125 So auch Säcker, ARSP 1972, 215, 235; Krey, JZ 1978, 361, 362; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 827 ff.; ebenso auch Röhl, S. 621, der vom „Nachbessern“ der Gesetze spricht, sich hierzu allerdings sehr kritisch äußert. 126 Krey, JZ 1978, 361, 362 nennt zwei Fälle – nicht einmal Fallgruppen – und verkennt dabei die dritte, zumindest theoretisch mögliche Gruppe, nämlich die Kombination aus contra legem Fortbildung des Tatbestandes und der Rechtsfolge, was praktisch zu einer völlig neuen Norm führt; wenig deutlich ist auch die Unterscheidung der Variationen der Rechtsfindung contra legem bei Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 496 ff. 127 Diese Fallgruppe auch bei Krey, JZ 1978, 361, 362, der allerdings wohl nur von einer Verengung des Wortlauts ausgeht. 128 Siehe wiederum Krey, JZ 1978, 361, 362.

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(3) Drei-Bereiche-Modell Fasst man nun die Auslegung und die beiden Formen der Rechtsfortbildung zusammen, so ergibt sich ein „Drei-Bereiche-Modell“ der Rechtsfindung, welches sich aus Auslegung, Rechtsfortbildung praeter legem und Rechtsfortbildung contra legem zusammensetzt. Auslegung umfasst dabei den Bereich bis zur Grenze des möglichen Wortsinns der Norm. Rechtsfortbildung praeter legem nimmt den Raum zwischen der Überschreitung der Wortlautgrenze bis hin zu einer weiteren Grenze, der Unvereinbarkeit mit Wortlaut (also Rechtsfindung gegen den Wortlaut) und Teleologie des Gesetzes. Rechtsfortbildung contra legem ist schießlich anzunehmen, wenn die richterrechtlich geschaffene Norm weder mit dem Wortlaut der Norm zu vereinbaren ist und auch nicht von der Teleologie des Gesetzes getragen wird.129 bb) Kritik an der herrschenden Meinung An der Differenzierung zwischen Auslegung, Rechtsfortbildung praeter und solcher contra legem wurde in der Literatur verschiedentlich Kritik geübt.130 So verwirft etwa Josef Esser die Tauglichkeit der Dreiteilung für die Rechtsfindung.131 Dieser Vorbehalt gegen die herkömmliche Unterscheidung von Auslegung, gesetzesergänzender Lückenausfüllung und Gesetzeskorrektur beruht auf Essers Kritik am herrschenden Lückenbegriff als Abgrenzungskriterium für jene Differenzierung.132 So heißt es bei ihm etwa: „Aus dem ‚System-Begriff‘ ist diese Erwartungslage (i. e. das Fehlen einer Regelung; K. W.) nicht oder nur mittels eines Zirkelschlusses zu legitimieren. Die Feststellung, dass eine Regelung ‚fehlt‘, wo sie ‚eigentlich‘ vorhanden hätte sein 129 So die h. M.; vgl. ausdrücklich zum Drei-Bereiche-Modell Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 828 f.; Kramer, S. 134; vgl. aber auch Koller, S. 222; Koch/Rüßmann, S. 248, die in ihrer schematische Darstellung diese Funktionsbereiche der Rechtsprechung unterscheiden. An dem von ihnen vorgeschlagenen Schema der Fallgruppen wird auch deutlich, wie unscharf und schwierig zu trennen die drei Bereiche sind. Larenz, Methodenlehre, S. 370 ff., 413 ff., nennt neben der Ausfüllung von Lücken (gesetzesimmanente Rechtsfortbildung) die gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung über den Plan des Gesetzes hinaus sowie, quasi als Unterfall der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung, diejenige contra legem. 130 Ausdrücklich etwa J. Esser, Vorverständnis, S. 177, der das gesamte Drei-Bereiche-Modell verwirft. Auch H. P. Schneider, DÖV 1975, 443, 450 kritisiert die methodologische Unterscheidung zwischen Rechtsfortbildung praeter und contra legem als fragwürdig. 131 Vgl. Esser, Vorverständnis, S. 175. 132 Zu Essers Kritik am Lückenbegriff, Vorverständnis, S. 117, 174 ff. So führt Esser, a. a. O., S. 175 etwa aus: „[. . .] der Begriff der Lücke (ist) eine Selbsttäuschung.“

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müssen, hängt nicht von einer unkontrollierbaren Behauptung über den ‚Plan‘ des Gesetzes ab, sondern von dem Vorverständnis des betreffenden Konfliktes.“133

Folgt man Esser, so werden die drei Bereiche eins. Es gibt nicht, wie nach überwiegendem Verständnis, fließende Grenzen zwischen ihnen, sondern es gibt zwischen den jeweiligen Fällen höchstens Unterschiede hinsichtlich des Maßes des herangetragenen Vorverständnisses, letztlich ist aber das Problem der Gewinnung des Obersatzes stets nichts anderes, als was schon bei der Wahl zwischen „vorhandenen“ Regelungsmustern in die Verantwortung des Rechtsanwenders fällt.134 Die Lückenfüllung ist damit letztlich nichts anderes als die Auslegung, wenn auch auf einer anderen Stufe des Vorverständnisses.135 cc) Eigene Stellungnahme Nunmehr fragt sich, ob die Kritik an der herrschenden Auffassung durchschlagend ist, so dass diese aufgegeben werden sollte. Dagegen spricht jedoch, dass die Unterscheidung zwischen den Bereichen nicht etwa undurchführbar, sondern lediglich schwierig ist. Zwar sind die Abgrenzungskriterien Wortsinn und Normzweck vage, aber doch nicht so unsicher, dass ein Arbeiten mit ihnen nicht möglich wäre.136 Des Weiteren ist zu bedenken, dass die Unterscheidung der drei Stufen der Rechtsfindung aufgrund der verfassungsrechtlichen Schranken, welche der Rechtsfortbildung gezogen sind, sinnvoll ist.137 So ist die richterliche Kompetenz aufgrund von Art. 103 Abs. 2 GG im Strafrecht und wohl auch aufgrund des Erfordernisses des Gesetzesvorbehaltes im öffentlichen Recht, weitgehend auf die Auslegung beschränkt.138 133 So Esser, Vorverständnis, S. 175. Vgl. zu dem für die Theorie Essers zentralen Element des Vorverständnisses als Schlüssel zum besseren Verständnis der traditionellen Hermeneutik, ders., a. a. O., S. 133 ff.; grundlegend für die allgemeine Philosophie H. G. Gadamer, S. 250 ff., dort auch zum Problem des hermeneutischen Zirkels; M. Heidegger, S. 312 ff. 134 Vgl. Esser, Vorverständnis, S. 175. 135 So Esser, Vorverständnis, S. 177; der Verweis auf Larenz/Canaris, Methodenlehre in der Rechtswissenschaft, S. 273 bei Esser, a. a. O. Anm. 12 ist insoweit unzutreffend als es diesen nicht um die Auflösung der verschiedenen Stufen geht, sondern um die Betonung der Teleologie des Gesetzes für alle drei Bereiche, letztlich also genau um etwas, was Esser ablehnt. 136 So auch zu Recht Krey, JZ 1978, 361, 368; siehe auch Koller, S. 223; vgl. auch für den Normtext V. Krey, Studien, S. 152 ff. m. w. N., zum Zweck der Norm, S. 190 ff. m. w. N. 137 In diesem Sinne auch Kramer, S. 133; ebenso Krey, JZ 1978, 361, 368; umfassend auch ders., JZ 1978, 445 ff. 138 Siehe etwa J. Ipsen, Richterrecht, S. 235; ebenso Krey, JZ 1978, 361, 368. Ausführlich hierzu im Teil D. dieser Arbeit, s. u.

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In der übrigen Rechtsordnung mag dem Richter zwar grundsätzlich das Recht zustehen, lückenfüllend tätig zu werden, also praeter legem zu judizieren, es verstieße jedoch gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz des Art. 20 Abs. 3 GG, ihm dieses Recht, von ganz seltenen Ausnahmefällen einmal abgesehen,139 auch für die Gesetzeskorrektur, also die Rechtsfortbildung contra legem, zuzubilligen.140 Insoweit erscheint die Einteilung in die drei Bereiche Auslegung, Rechtsfortbildung praeter und Rechtsfortbildung contra legem von Nutzen. Somit kann der überwiegend befürworteten Dreiteilung zugestimmt werden. Sie liefert insbesondere im wichtigen Bereich der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung brauchbare Differenzierungskriterien. An den beiden Arten der Rechtsfortbildung soll also neben der Auslegung festgehalten werden. 3. Zusammenfassung der Begriffsdefinitionen Abschließend sollen noch einmal alle Definitionen, die gefunden wurden und wie sie in der deutschsprachigen Methodenlehre gebräuchlich sind, festgehalten werden: Auslegung ist methodisch geleitete Ermittlung des Sinngehalts einer Norm, wobei sich die Interpretation in der Regel im Rahmen des üblichen Wortlauts bewegt, ihre Grenze aber jedenfalls im möglichen Wortsinn findet.141 Rechtsfortbildung liegt vor, wenn konkrete Fälle auf eine Weise entschieden werden, die zwar nicht durch den Wortlaut der relevanten Rechtsvorschriften gedeckt ist, also eine Lücke im Gesetz vorliegt, die aber dennoch durch gute Gründe, nämlich durch den Zweck dieser Vorschriften oder aber durch anerkannte Rechtsprinzipien, als gerechtfertigt erscheint.142 Dabei kann man zwischen Rechtsfortbildung praeter legem (gesetzesergänzender) und solcher contra legem (gesetzesübersteigender) unterscheiden. Praeter legem ist eine Rechtsfortbildung dann, wenn eine Entscheidung dem möglichen Wortsinn des Gesetzes zwar nicht widerspricht, sich aber auch nicht auf ihn stützt, sei es deswegen, weil das Gesetz die Entschei139 Zu denken wäre hier etwa an Fälle, in denen die Radbruchsche Formel Anwendung finden könnte. Zu dieser vgl. G. Radbruch in: SJZ 1946, 105, 107 = ders., GRGA 3 Rechtsphilosophie III, 83, 88 f. Andeutungsweise, jedoch ohne Hinweis auf die Radbruchsche Formel und die Notwendigkeit des Rückgriffs auf überpositives Recht ablehnend C. Gusy, DÖV 1992, 461, 465. 140 So etwa Krey, JZ 1978, 361, 368; Ipsen, Richterrecht, S. 231 ff. 141 Ähnlich Larenz, Methodenlehre, S. 366; Zippelius, Methodenlehre, § 9 I (S. 45), § 10 I (S. 48); Kramer, S. 39. 142 So auch Koller, S. 221.

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dung offen lässt oder weil Wortsinn und Zweck des Gesetzes einander widersprechen.143 Als contra legem wird hingegen eine Rechtsfortbildung bezeichnet, wenn die getroffene Entscheidung dem (noch) möglichen Wortsinn des Gesetzes zuwiderläuft und auch von dessen Zweck nicht zwingend gefordert wird.144 Das Ergebnis des Rechtsfortbildungsprozesses, also die durch den Richter geschaffene Norm, kann man als Richterrecht bezeichnen. Eine Lücke ist eine planwidrige Unvollständigkeit des positiven Rechts (d.h. der Gesetzesordnung im Rahmen ihres möglichen Wortsinns und – soweit es zulässig ist – des Gewohnheitsrechts) gemessen am Maßstab der gesamten Rechtsordnung.145 Als Lückenarten sollen die folgenden definiert werden, die sich aufgrund unterschiedlicher Differenzierungskriterien auch überschneiden können: Bewusste (gewollte) Lücken sind solche, bei denen der Normgeber absichtlich, d.h. wissentlich, keine Regelung getroffen hat, weil er deren Ausfüllung Rechtsprechung und Lehre überlassen wollte (teilweise wird deshalb auch von Delegationslücken gesprochen).146 Unbewusste (ungewollte) Lücken sind jene, bei denen sich der Gesetzgeber der Unvollständigkeit seiner Regelung nicht bewusst war, sondern vielmehr an die Vollständigkeit seiner Regelung glaubte.147 Eine offene Lücke ist dann gegeben, wenn das Gesetz für eine bestimmte Fallgruppe keine Regel enthält, die auf sie anwendbar ist, obgleich es nach der eigenen Teleologie eine solche enthalten müsste, der Wortlaut also zu eng ist.148 Eine verdeckte Lücke ist hingegen dann anzunehmen, wenn das Gesetz zwar auch eine auf Fälle dieser Art anwendbare Regel enthält, diese aber ihrem Sinn und Zweck nach nicht passt, weil sie die für die Wertung gerade dieser Fälle relevante Besonderheit außer Acht lässt.149 Bei Anordnungslücken handelt es sich um solche, bei denen die Anordnungen des Gesetzes in Verbindung mit den Rechtsverweigerungsverbot die Ergänzung erzwingen.150 Teleologische Lücken sind hingegen solche, in de143 144 145 146

So auch die Definition bei Koller, S. 223. Koller, S. 223. In Anlehnung an Canaris, Feststellung von Lücken, S. 39. Hierzu etwa Klug, FS Nipperdey, Bd. 1, S. 71, 72; Engisch, FS Sauer, S. 85,

89. 147 Klug, FS Nipperdey, Bd. 1, S. 71, 72; Larenz, Methodenlehre, S. 367; MeierHayoz, S. 68. 148 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 377. 149 So auch Larenz, Methodenlehre, S. 377. 150 Diese Definition stammt von Canaris, Feststellung von Lücken, S. 141.

A. Begriffsbestimmung

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nen die Teleologie des Gesetzes die Rechtsfortbildung fordert, wo also Analogie, Erst-recht-Schluss, teleologische Reduktion und Extension zur Lückenfeststellung und -schließung dienen.151 Im Falle von Prinziplücken hat die Lückenfeststellung mithilfe allgemeiner Rechtsprinzipien zu erfolgen, was die rechtliche Bedeutung des Falles erkennen lässt und auch seiner Lösung die Richtung weist, ohne aber bereits eine konkrete Rechtsfolge zu ergeben. Diese ist erst aufgrund teleologischer Überlegungen und, falls diese nicht weiterführen, durch richterliche Eigenwertung zu bestimmen.152

II. Frankreich 1. Begrifflichkeiten der richterlichen Rechtsfortbildung in Frankreich Einen eigenen Begriff für das Phänomen Rechtsfortbildung gibt es in der französischen Doktrin nicht. Dies liegt wohl daran, dass der Art. 5 des französischen Code civil es dem Richter untersagt, im Wege des Urteils, allgemeine Rechtsregeln zu schaffen. Damit soll der Gewaltenteilung Rechnung getragen werden. Aus diesem Grund firmiert die richterliche Rechtsfortbildung häufig unter dem Oberbegriff der interprétation. a) Interprétation In der französischen Methodenlehre wird interprétation also bei weitem umfassender verstanden, als in der deutschen Rechtsordnung. Dies wird ersichtlich, wenn etwa François Chabas153 ausführt: „L’interprétation est créatrice – lorsqu’il faut donner d’un texte imprécis ou incomplet une interprétation claire ou plus étendue. On pourrait affirmer, sans beaucoup d’exagération, que toute interprétation véritable est créatrice d’une règle de droit nouvelle.“154. Hier wird, wenn von einer erweiterten Auslegung eines unvollständigen Gesetzestextes gesprochen und die schöpferische Kraft der 151 Canaris, Feststellung von Lücken, S. 141; vgl. auch Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 474; ebenso Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 848, 867. 152 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 474 f.; Canaris, Feststellung von Lücken, S. 160 f. 153 So Chabas, p. 166 (Rn. 93). 154 „Die Auslegung ist schöpferisch sofern es darum geht, einem unklaren oder ungenauen Text eine klarere oder weitere Auslegung zu geben. Man kann ohne erhebliche Übertreibung betonen, dass jede echte Auslegung Schöpferin einer neuen Rechtsregel ist.“

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Auslegung betont wird, ein etwas weiterer Begriff der Auslegung zugrundegelegt als in Deutschland. Unter interprétation fällt damit nämlich nicht nur die gewissermaßen ebenfalls rechtsschöpferische Auslegung, sondern auch die Lückenausfüllung, bei der der Gesetzesanwender nach französischem Verständnis den Willen des Gesetzgebers zu erforschen hat, um die Lücke (lacune) auszufüllen.155 Demgegenüber ist der Begriff der interprétation an anderer Stelle auch wieder beschränkter als der deutsche Begriff der Auslegung. Ist nämlich eine gesetzliche Regelung aus sich heraus verständlich und eindeutig auf einen Sachverhalt anzuwenden, so kommt die doctrine de l’acte clair zum Zuge.156 Danach handelt es sich bei der Anwendung eines solchen acte clair auf einen Lebenssachverhalt nicht um interprétation, sondern es handelt sich um schlichte Gesetzesanwendung; in diesem Falle ist der Richter nach französischem Verständnis tatsächlich nur der Mund des Gesetzgebers.157 Ist ein bestimmter Lebenssachverhalt also von einer gesetzlichen Regelung klar erfasst, so bedarf es keiner interpretatorischen Tätigkeit durch den Richter, dieser hat vielmehr lediglich festzustellen, dass der Gesetzgeber den Fall in einer bestimmten Weise geregelt hat.158 Es gilt der Grundsatz: interpretatio cessat in claris159.160 Der Begriff der interprétation umfasst also sowohl die richterliche Präzisierung des Tatbestandes bei seiner Anwendung auf einen bestimmten Sachverhalt, als auch die Auffüllung von Gesetzeslücken.161 Die Rechtsfortbildung wird also vom Begriff der interprétation mit umfasst.

155

Chabas, p. 166 (Rn. 93). Zur doctrine de l’acte clair vgl. etwa Malaurie/Morvan, Introduction générale, Rn. 399 ff., insbes. Rn. 401. 157 So sind die Ausführungen von Malaurie/Morvan, Introduction générale, Rn. 399, zu verstehen. 158 Siehe dazu das Urteil des frz. Cour de cassation v. 22.11.1932, Recueil Dalloz hebdomanaire 1933, 2: „Si en principe le recours aux travaux préparatoires est permis lorsqu’un texte nécessite une interprétation, le juge doit, au contraire, se l’interdire lorsque le sens de la loi, tel qu’il résulte de sa rédaction, n’est ni obscur ni ambigu et doit, par conséquent, être tenu pour certain. 159 In freier Übersetzung: „Die Auslegung erübrigt sich in klaren Fällen.“ 160 So Malaurie/Morvan, Introduction générale, Rn. 399; ebenso E. Laferrière, p. 448. 161 So ausdrücklich Malaurie/Morvan, Introduction générale, Rn. 400, die auch auf die deutsche Lehre und Kelsens Vorstellung von der Lückenlosigkeit hinweisen. 156

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b) Das Phänomen der richterlichen Rechtsfortbildung in der französischen Lehre Nunmehr soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit die französische Lehre, trotz des weiten Begriffsverständnisses von interprétation, richterliche Rechtsfortbildung anerkennt und für grundsätzlich zulässig hält. aa) Nichtexistenz eines Richterrechts Ein Teil der Lehre ist der Ansicht, dass es ein eigenständiges, durch die Gerichte geschaffenes Recht nicht gebe.162 Die Rechtsordnung sei umfassend und, auch wenn die Gerichte eine Norm herausarbeiteten, die so nicht im Gesetz verankert sei, so sei diese doch bereits in der Rechtsordnung angelegt gewesen.163 Den Gerichten kommt damit beim Herausarbeiten keine wirkliche schöpferische Eigenleistung zu, sondern sie benennen bloß, was ungeschrieben schon vorhanden war. Diese von Ripert verfochtene Auffassung tendiert stark dahin, eine richterliche Rechtsfortbildung gänzlich abzulehnen. Ripert begründet dieses damit, dass von einem positivistischen Standpunkt aus kein Recht neben dem Gesetzesrecht bestehen könne.164 Diese Ansicht fußt historisch auf dem klassischen Bild des Richters nach der montesquieuschen Gewaltenteilung, auch wenn dieses nicht zum Ausdruck kommt. Letztlich scheint mir dahinter eine der diskutierten kelsenschen Vorstellung von der Lückenlosigkeit des Rechts gar nicht so unähnliche Ansicht zu stehen. Legt man diese Sichtweise zugrunde, so existiert im französischen Recht keine richterliche Rechtsfortbildung, vielmehr ist der Richter stets la bouche, qui prononce les paroles de la loi. Jedoch wird diese These von der notwendigen Allumfassendheit der geschriebenen Gesetze (plénitude nécessaire de la législation écrite) in der französischen Lehre kaum noch vertreten und erfuhr bereits sehr früh deutliche Kritik durch einen der bedeutendsten französischen Methodenlehrer des frühen 20. Jahrhunderts, François Gény.165 Die Diskussion erinnert ein wenig an die Diskussion um die Lückenhaftigkeit des Rechts bei Kelsen. 162 G. Ripert, p. 385 führt etwa aus: „Il n’y a pas autre droit positif que celui qui est établi par le pouvoir, sous la forme d’une loi ou d’un acte ayant valeur de loi. Le pouvoir d’interprétation du juge consiste simplement à dégager nettement le sens du texte, et, par conséquent, à préciser la règle.“ Zitiert nach Boulanger, Rev. trim. de droit civil 1961, 417, 422. 163 So Ripert, p. 385. 164 Ripert, p. 385. 165 Eine harsche Kritik an der These der plénitude übt F. Gény, No. 81 ff., dort allerdings nicht zu Ripert, p. 385.

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bb) Droit jurisprudentiel/jurisprudence Freilich ist aber auch weiten Teilen der französischen Lehre nicht entgangen, dass es gewisse Besonderheiten bei durch richterliche Tätigkeit geschaffenen Regelungen bestehen. Deshalb existiert auch der Terminus des droit jurisprudentiel, also des Richterrechts. Auch wird mit dem droit judiciare gleichbedeutend das Phänomen der jurisprudence angeführt.166 Droit jurisprudentiel ist nun nicht exakt dasselbe, wie richterliche Rechtsfortbildung, sondern beschreibt vielmehr das Ergebnis des richterlichen Rechtsschöpfungsprozesses, lässt sich also treffend mit Richterrecht übersetzen.167 Jedoch wird – vergleichbar mit der Diskussion in der deutschen Methodenlehre – auch für die Zulässigkeit eines droit jurisprudentiel eine Gesetzeslücke (lacune de droit) gefordert.168 Auch in Frankreich wird die rechtsfortbildende Gewalt in die Rechtsfortbildung contra legem und die Rechtsfortbildung praeter legem unterteilt.169 Auch wird der Begriff der lacune so verstanden wie in der deutschen Methodenlehre, also als eine planwidrige Unvollständigkeit des geschriebenen Rechts.170 Dass Gesetze lückenhaft sein können, macht schon der Art. 4 des Code civil171 deutlich, der es dem Richter verwehrt, sich auf die Lückenhaftigkeit eines Gesetzes zu berufen.172 cc) Der pouvoir créateur der Rechtsprechung Ferner wird die richterliche Rechtsfortbildung – gleichbedeutend mit dem droit jurisprudentiel – auch unter dem Begriff des pouvoir créateur diskutiert.173 Jean Boulanger174 führt dazu aus: 166 Etwa O. Dupeyroux, Mélanges Maury, tome II, p. 349, 353 ff., der sich v. a. mit der Rechtsquellenqualität des Richterrechts auseinandersetzt. 167 Zu diesem differenzierenden Verständnis von Richterrecht und Rechtsfortbildung siehe oben § 2 A. I. 2. a), 3. 168 P. Malaurie/P. Morvan, Introduction générale, Rn. 357, 400. 169 Vgl. etwa P. Malaurie, Mélanges Savatier, 603, 604. 170 So Malaurie, Mélanges Savatier, 603, 604 ebenfalls J. Boulanger, Rev. trim. de droit civil 1961, 417, 422; Malaurie/Morvan, Introduction générale, Rn. 400. 171 Art. 4 frz. Code Civil lautet: „Le juge qui refusera de juger, sous prétexte du silence, de l’obscurité ou de l’insuffisance de la loi pourra être poursuivi comme coupable de déni de justice.“ Auf deutsch bedeutet dies in etwa: „Ein Richter, welcher sich unter dem Vorwande des Schweigens, der Unklarheit oder der Unzulänglichkeit des Gesetzes weigert, Recht zu sprechen, kann wegen Justizverweigerung verfolgt werden.“ 172 Ebenso i. E. Malaurie/Morvan, Introduction générale, Rn. 357.

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„La jurisprudence est créatrice dans la mesure où, [. . .] un certain contenu intellectuel, fabriqué et mis au point par les décisions précédentes fait corps avec le texte lui-même, quand il ne se substitue pas à lui [. . .]. Encore n’ai-je raisonné jusqu’ici qu’en supposant l’existence d’un texte, qui se rapporte indirectement et indiscutablement à la question à résoudre. Il va de soi que le rôle créateur de la jurisprudence est beaucoup plus marqué si, comme l’article 4 du Code civil a pris le soin de prévoir, le texte est insuffisant et, à plus forte raison, si, comme il arrive, il n’y a pas de texte du tout.“175

Boulanger zählt hier die verschiedenen Bereiche auf, in denen der Richter rechtsschöpferisch tätig werden kann. Es handelt sich dabei zum einen um eine gewisse rechtschöpferische Komponente, die auch der Auslegung nicht abzusprechen ist, zum anderen – und hier erfolgt auch der Verweis auf den Art. 4 Code civil – die Rechtsschöpfung bei Ungenügen oder Lückenhaftigkeit des Textes.176 An diesen Äußerungen wird, ähnlich dem in der deutschen Lehre verbreiteten 3-Bereiche-Modell, deutlich, dass es sich bei der Rechtsgewinnung um einen fließenden Prozess handelt, bei dem Auslegung und Rechtsfortbildung ineinander übergehen. Ferner kann man hieran wiederum erkennen, dass in Frankreich keine klare begriffliche Trennung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung besteht, sondern der Rechtsprechung im Rahmen der interprétation auch ein pouvoir créateur zugebilligt wird. 2. Rechtsfortbildung in Frankreich im Spannungsfeld zwischen Art. 4 und Art. 5 Code civil Die Diskussion um das Richterrecht bewegt sich in Frankreich im Spannungsfeld zwischen Art. 4 Code civil und Art. 5 Code civil.177 Ersterer 173 Vgl. etwa Malaurie, Mélanges Savatier, 603, 604: „le pouvoir créateur des juges reste très vif, lorsque, praeter legem, il vient de combler les lacunes du droit, que seules les dispositions schématiques.“ 174 So Boulanger, Rev. trim. de droit civil 1961, 417, 422. 175 Die Rechtsprechung ist in dem Maße (rechts-)schöpferisch in dem ein bestimmter geistiger Inhalt, der durch die vorhergehenden Entscheidungen herausgearbeitet und auf den Punkt gebracht worden ist, mit dem Gesetzestext verschmolzen wird, wenn er sich nicht gar an seine Stelle setzt. Auch habe ich bislang nur mit der Unterstellung argumentiert, es bestehe ein Gesetzestext, der sich indirekt und unzweifelhaft auf die zu lösende Frage bezieht. Es ist selbstverständlich, dass die schöpferische Rolle der Rechtsprechung viel stärker ausgeprägt ist, wie der Art. 4 des Code civil umsichtig vorgesehen hat, der Text ungenügend oder es gar, wie es geschieht, gar kein Text vorhanden ist. 176 Boulanger, Rev. trim. de droit civil 1961, 417, 422. 177 Auf dieses Spannungsverhältnis weisen mit Nachdruck etwa F. Terré, p. 275 ff. (Rn. 278 f.); Malaurie/Morvan, Introduction générale, Rn. 357, 359 f., hin.

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schreibt das Rechtsverweigerungsverbot fest, während letzterer ein Verbot für den Richter determiniert, gesetzgeberisch tätig zu werden. So ist es den Gerichten nach Art. 5 Code civil untersagt „par voie de disposition générale et réglementaire“ über die Fälle zu entscheiden, die vor sie gebracht werden. Soll damit richterliche Rechtsfortbildung in Frankreich, zumindest im Bereich des Zivilrechts, gänzlich ausgeschlossen werden? Hiergegen spricht systematisch der Art. 4 Code civil, der das Rechtsverweigerungsverbot statuiert und es dem Richter unter Strafandrohung (vgl. die Strafbarkeit des déni de justice in Art. 434-7-1 Code pénal) untersagt, einen Rechtsstreit unter Berufung auf die Lückenhaftigkeit oder Unklarheit des Gesetzes nicht zu entscheiden.178 Mit der Vorschrift des Art. 5 Code civil kann also die richterliche Rechtsfortbildung nicht komplett ausgeschlossen sein, sollen die beiden Vorschriften noch einen Sinn ergeben. Eine verständige Lösung dieses Konflikts findet sich bei Terré: „La prohibition des arrêts de règlement n’empêche pas le juge d’émettre des principes généraux de solution du litige. En d’autres termes, ce que l’article 5 interdit au juge – même au juge de cassation –, c’est de créer des normes, et ce en dehors de tout litige. Cela n’exclut pas la création de normes prétoriennes dans le cadre de l’activité juridictionnelle.“179

Legt man dieses Verständnis zugrunde, so ist durch Art. 5 Code civil nicht die Schaffung richterrechtlicher Normen (normes prétoriennes) ausgeschlossen, verhindert werden soll lediglich, dass die Gerichte Normen schaffen, welche mit dem konkreten Rechtsstreit in keinem Zusammenhang stehen. Dieses Verständnis lässt sich auch historisch abstützen.180 In der Zeit vor der Revolution von 1789 hatten die Gerichte des Ancien Régime, die sog. Parlements, nämlich durchaus arrêts de règlement erlassen, also allgemeine Rechtssätze postuliert, was kein Problem darstellte, waren sie doch Teil der absoluten Souveränität des französischen Königs.181 Jedoch waren diese arrêts dem Ständesystem verbunden und negierten folglich den während der französischen Revolution aufkeimenden Gedanken der Gleichheit aller Menschen, wie er schließlich auch in Art. 1 der Déclaration des droits de l’homme et du citôyen von 1789 ihren Ausdruck fand. Dieser Ständerechtsprechung sollte der Art. 5 Code civil, aufbauend auf dem während 178 Vertiefend zu den arrêts de règlement und deren Verbot durch Art. 5 Code civil A. Audinet, Mélanges Brethe de la Gressaye, p. 99 f.; A. Sériaux, Mélanges Mouly, tome I, p. 171 f.; R. Libchaber, Rev. trim. de droit civil, 1998, 785 f.; Terré, p. 277 f. (Rn. 279 f.). 179 So wörtlich Terré, p. 278 (Rn. 281). 180 Siehe etwa Terré, p. 277 (Rn. 279); vgl. zu den berüchtigten Parlements des Anciens Régime Malaurie/Morvan, Introduction générale, Rn. 35. 181 Terré, p. 277 (Rn. 279); Malaurie/Morvan, Introduction générale, Rn. 35.

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der Revolution verwirklichten Gedanken der Gewaltenteilung, einen Riegel vorschieben.182 Damit sollte es aber nicht unmöglich gemacht werden, Gesetzeslücken zu schließen. 3. Zwischenergebnis zur Begrifflichkeit in Frankreich Eine besondere Schwierigkeit ergibt sich in Frankreich bei der Diskussion der richterlichen Rechtsfortbildung daraus, dass diese Frage stets auch mit der Frage nach der Rechtsquellenqualität des Richterrechts verknüpft wird.183 Damit werden aber zwei verschiedene Fragen vermischt. Die Frage nach der Methodik und Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung hängt nicht zwangsläufig mit derjenigen nach der Rechtsquellenqualität des Ergebnisses des Rechtsfortbildungsprozesses, also der des Richterrechts zusammen, sondern dieses sind zwei voneinander getrennt zu erörternde Fragen. An der Vermischung dieser Fragen dürfte es auch liegen, dass es in der französischen Literatur zu keiner klaren Begrifflichkeit hinsichtlich der richterlichen Rechtsfortbildung gekommen ist. Vielmehr wird der Rechtsprechung im Rahmen der Auslegungstätigkeit auch eine rechtsschöpferische Befugnis eingeräumt. Am ehesten erscheint mir nun der Begriff des pouvoir créateur de la jurisprudence, den Vorgang der richterlichen Rechtsfortbildung treffend zu umschreiben, während der des droit jurisprudentiel das Ergebnis der Lückenausfüllung bezeichnet, also das, was im Deutschen unter Richterrecht verstanden wird. 4. Ergebnis des Vergleichs zwischen Deutschland und Frankreich Ein Unterschied zwischen der deutschen und französischen Lehre ist darin auszumachen, dass in Frankreich das Phänomen der Rechtsfortbildung stets im Zusammenhang mit der Frage nach dem Rechtsquellencharakter des Richterrechts diskutiert wird, während man in der deutschen Methoden182

Terré, p. 277 (Rn. 279); Malaurie/Morvan, Introduction générale, Rn. 35,

359. 183

So werden die aufgezeigten Fragen stets unter dem Kapitel sources du droit erörtert, so etwa bei Malaurie/Morvan, Introduction générale, Rn. 399 ff.; Chabas, p. 176 ff (Rn. 105 ff.); Larroumet, p. 159 ff. (Rn. 260 ff.); Terré, p. 273 (Rn. 274) überschreibt sein Kapitel hingegen mit „composantes du droit“, erörtert unter diesem Oberbegriff aber die Normen, die Gebräuche (= das Gewohnheitsrecht) und die Rechtsprechung, so dass man letztlich auch bei ihm sagen kann, diskutiere das Richterrecht im Rahmen der Rechtsquellenlehre.

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lehre den Vorgang der richterlichen Rechtsfortbildung als in der Rechtswirklichkeit nicht zu leugnendes Faktum von der Zulässigkeit und dem Rechtsquellencharakter des Richterrechts als Ergebnis des Rechtsfortbildungsprozesses getrennt erörtert. In der engen Verknüpfung mit der Rechtsquellenproblematik mag auch die Schwierigkeit, eine klare französische Terminologie herauszuarbeiten, begründet sein. Jedoch lassen sich auch zahlreiche Parallelen aufzeigen. Zuvörderst ist im Ergebnis festzuhalten, dass in beiden Rechtsordnungen die Zulässigkeit einer gewissen Rechtsschöpfung durch die Gerichte diskutiert und weitgehend – wenn auch selbstverständlich in gewissen Grenzen – bejaht wird. Aber auch darüber hinaus lassen sich Parallelen nachweisen. So wird sowohl im deutschen als auch im französischen Recht von der Notwendigkeit einer Gesetzeslücke (lacune) ausgegangen. Auch die Begrifflichkeiten des Richterrechts praeter oder contra legem finden sich gleichbedeutend in beiden Methodenlehren. Als Begriff für das Phänomen der richterlichen Rechtsfortbildung lässt sich also am ehesten der nicht ganz deckungsgleiche Begriff des pouvoir créateur de la jurisprudence anführen, während man für das Richterrecht als Ergebnis des Rechtsfortbildungsprozesses den Terminus des droit jurisprudentiel verwenden kann. Letzteres wird als die von den Gerichten erzeugte, so dem Gesetz oder der coûtume (also dem Gewohnheitsrecht), nicht unmittelbar zu entnehmende Lösung eines Rechtsproblems verstanden. Da also die deutsche und französische Methodenlehre als in der Gemeinschaftsrechtsordnung zentrale kontinentale Rechtssysteme zu sehr vergleichbaren Lösungen für dieselben Probleme gekommen sind, ist an eine Übertragung dieser Lösungen auch auf das Gemeinschaftsrecht zu denken. Da dieses in seiner gesetzestechnischen Anlage weitestgehend auf dem kontinentaleuropäischen System des geschriebenen Gsetzesrechts beruht und nicht etwa als common-law-Rechtsordnung einzustufen ist, liegt es nahe, dass dem ihm ein im Wesentlichen dem deutschen und französischen vergleichbares Verständnis zugrundegelegt werden kann.

III. Europäische Union/Gemeinschaften Versuche einer Begriffbestimmung bezüglich der Rechtsprechungstätigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) finden sich nur sehr vereinzelt. Ganz überwiegend wird in der deutschsprachigen Literatur einfach von Auslegung und Rechtsfortbildung184 und in der französi184 So beispielsweise von W. Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733 ff.; U. Everling, JZ 2000, 217 ff., der das Problem der Begrifflichkeit jedoch als „bekannt“ voraussetzt

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schen allgemein von interprétation185 gesprochen und damit die deutsche bzw. französische Begrifflichkeit ohne näheres Zusehen auf das Gemeinschaftsrecht übertragen. Doch auch in den Fällen, in welchen eine Begriffsbestimmung vorgenommen wird, wird dieser meines Erachtens zu wenig Raum zugestanden.186 Dabei läuft man jedoch Gefahr, wichtige Problemfelder, welche das Gemeinschaftsrecht aufwirft, zu übergehen. Zunächst soll untersucht werden, welche Terminologie der EuGH zur Beschreibung seiner Rechtsprechung selbst wählt (1.), sodann wird die Überlegung angestellt, welche Terminologie, die deutsche oder die französische, sinnvoll auf das Gemeinschaftsrecht übertragen werden kann oder ob dieses gar eine eigene Begrifflichkeit benötigt. Die bei einer Übertragung einer Terminologie gegebenenfalls erforderliche Modifizierungen sollen vorgenommen und sich ergebende Probleme einer Lösung zugeführt werden (2.). 1. Die Terminologie des EuGH Der EuGH – insoweit folgt er der französischen Lehre, die wie oben gezeigt, nicht zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung unterscheidet – spricht einheitlich von „interprétation“, welches vor dem Hintergrund der französischen Lehre nur unzureichend mit Auslegung/Interpretation übersetzt wird.187 Da der Gerichtshof die Problemkreise Auslegung und Rechtsfortbildung nicht trennt, findet sich bei ihm auch keine Abgrenzung zwischen diesen beiden Erscheinungsformen richterlicher Tätigkeit.188 So spricht der EuGH selbst in Fällen, die man – folgte man der deutschen Terminologie – bedenkenlos als Rechtsfortbildung bezeichnen würde, etwa bei der Ausformung von Ziel- und Programmsätzen des Vertrages zu Grundfreiheiten mit unmittelbarer Wirkung189 und der Entwicklung eines Grundrechtekatalogs für die Unionsbürger190, dennoch von Auslegung der und es somit zumindest andeutet (s. S. 218 mit Fn. 11); eine Begriffsbestimmung fehlt auch gänzlich bei T. Stein, FS 600 Jahre Heidelberg, S. 619 ff. Selbst bei Ukrow, findet sich keine Begriffsbestimmung. 185 So Schweitzer/Hummer, Rn. 451. 186 Um eine Begriffsbestimmung und Abgrenzung bemüht zeigen sich aber etwa C. Buck, S. 28 ff., 50 ff. und Schweitzer/Hummer, Rn. 451 ff., 540. 187 In diese Richtung tendieren auch Schweitzer/Hummer, Rn. 451. 188 Ebenso Buck, S. 51. Zu den Auslegungsmethoden siehe auch A. Thiele, S. 29 ff. 189 Etwa EuGH, Urt. v. 8.2.1983, RS. 124/81 (Kommission/Vereinigtes Königreich), Slg. 1983, S. 234 (Rn. 10): „Der freie Warenverkehr ist ein Recht, dessen Ausübung nicht von einem Ermessen oder einer Konzession der nationalen Verwaltung abhängen kann.“ 190 Siehe dazu etwa die Übersicht der Rechtsprechungsentwicklung von C. Picheral, Revue trimestrielle des droits de l’homme 17 (2001), 615 ff.

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Verträge.191 Da nach Ansicht des EuGH seine gesamte Tätigkeit in der „interprétation“ der Verträge besteht, erscheint es notwendig, sich in der gebotenen Kürze darüber klar zu werden, welcher Auslegungsmethoden und Begründungsansätze sich der Gerichtshof bedient. Sichtet man dazu die umfangreiche Literatur192, so ergibt sich ein nicht ganz eindeutiges Bild. Die überwiegende Ansicht steht dabei allerdings auf dem Standpunkt, dass sich der EuGH der klassischen Auslegungsmittel bediene.193 Dabei sollen die teleologische wie auch die systematische Auslegung im Vordergrund stehen. Diese Einschätzung erscheint mir – ohne dies vertieft untersucht zu haben – aus der Lektüre der Urteile zutreffend zu sein. Albert Bleckmann194 hingegen sieht eine mehr völkerrechtliche Herangehensweise in der Methodik des EuGH, dies vor allem vor dem Hintergrund der Argumentationsfigur des effet utile, die dem Völkerrecht entstammen soll, ohne dass er dabei allerdings die klassischen Interpretationstopoi für das Gemeinschaftsrecht aufgibt.195 Jedoch stellt auch der effet utile – mag er zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge auch verbreitet sein – letztlich nur ein teleologisches Element dar, da jeder Rechtsordnung der Sinn und Zweck innewohnt, Rechtswirkungen zu erzeugen.196 In jüngster Zeit wurde allerdings die soeben erörterte, allein auf die klassischen Auslegungsmethoden abstellende (überwiegende) Lehrmeinung durch Mariele Dederichs angegriffen, die in ihrer Untersuchung zu dem Schluss 191

So auch die Feststellung von Schweitzer/Hummer, Rn. 451; Buck, S. 50 f. Aus der monographischen Literatur etwa jüngst M. Dederichs, Die Methodik des EuGH, passim; siehe auch Buck, passim; J. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, passim; Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, § 5 (S. 91 ff.) zum Primärrecht; K. Riesenhuber, in: ders., Europäische Methodenlehre, § 8 (S. 186 ff.) zum Sekundärrecht; aus der Aufsatzliteratur etwa A. Bleckmann, NJW 1982, 1177 ff.; M. Zuleeg, EuR 1969, 97 ff.; H. Kutscher, Methoden der Auslegung, S. I-1 ff.; darstellend auch Koenig/Haratsch, Europarecht, Rn. 313 f.; Schweitzer/Hummer, Rn. 451 ff.; Waelbroeck, in: Louis/Vandersanden/Waelbroeck/Waelbroeck, Art. 164 Rn. 11. 193 Siehe etwa Zuleeg, EuR 1969, 97, 108; Koenig/Haratsch, Europarecht, Rn. 313 f.; Schweitzer/Hummer, Rn. 451 ff., sämtlich unter Verweis auf grammatikalische, systematische und teleologische Auslegung. Der historischen Auslegung kommt wegen der Unzugänglichkeit der travaux préparatoires zu den Verträgen kaum eine Rolle zu. 194 Bleckmann, NJW 1982, S. 1177 ff. = ders., Zu den Auslegungsmethoden des Europäischen Gerichtshofs, in: Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 1 ff.; ders. Teleologische und dynamische Auslegung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, in Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 17 ff.; ders., Die systematische Auslegung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 8 f. 195 Vgl. Bleckmann, NJW 1982, 1177, 1180. 196 Ebenso Koenig/Haratsch, Europarecht, Rn. 313; Buck, S. 208 ff.; vgl. auch Zuleeg, EuR 1969, 97, 103 ff. 192

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kommt, die wichtigste Auslegungsmethode(!) des EuGH sei der Verweis auf seine frühere Rechtsprechung.197 Zu diesem Schluss kommt sie aufgrund einer Auswertung sämtlicher Urteile des Jahrgangs 1999, bei dem sie die Häufigkeit des jeweils genannten Kriteriums (Wortlaut etc.) zugrundelegt.198 Dabei verkennt Dederichs allerdings völlig den eigentlichen Zweck des Verweises auf frühere Rechtsprechung. Dieser erspart nämlich nur einen erneuten Auslegungs- und Begründungsaufwand. Wäre sie den Verweisen nachgegangen, so wäre sie schließlich auch auf die klassischen Auslegungstopoi gestoßen. Zudem erscheint mir auch die Methode, die dieser Arbeit zugrunde gelegt wurde, nämlich die Bedeutung eines Arguments an seiner Häufigkeit zu messen,199 zweifelhaft. Auch in der Methodenlehre muss gelten, dass nicht die Quantität, sondern die Qualität der Argumente letztlich ausschlaggebend für deren Bedeutung ist. Folglich ist dem Ansatz von Dederichs keine weitere Beachtung zu schenken, so dass festzustellen bleibt, dass sich der EuGH letztlich der klassischen Auslegungstopoi bedient. Für die vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften verwendete Terminologie bleibt in Bezug auf die Abgrenzung von Auslegung und Rechtsfortbildung folgendes festzuhalten. Selbst wenn offensichtlich ist, dass der Gerichtshof die Befugnis zu richterlicher Rechtsfortbildung für sich in Anspruch nimmt,200 spricht er dennoch nicht von richterlicher Rechtsfortbildung oder gar richterlicher Rechtssetzung, sondern ganz allgemein von Auslegung.201 Dieser Mangel an Begriffsdifferenzierung ist vor dem Hintergrund der französischen Methodenlehre – letztlich als ein Überbleibsel der école de l’exegèse und dem montesquieuschen Richterbild als bloßer Mund des Gesetzes202 – zu sehen.203 Wie bereits zur französischen Methodenlehre 197 So Dederichs, Die Methodik des EuGH, passim; ebenso dies., EuR 2004, 345, 347. Kritisch anzumerken ist, dass die Wahl des Jahrganges 1999 relativ willkürlich erscheint. Eine tragfähige empirische Untersuchung müsste wohl mehrere Jahrgänge umfassen. Zudem fanden etliche wichtige Rechtsprechungsentwicklungen wie etwa der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, die unmittelbare Wirkung von Richtlinien, die Grundrechte oder die mitgliedstaatliche Staatshaftung bereits vor 1999 statt. 198 Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 7 ff.; dies., EuR 2004, 345, 346 legt ihrer Arbeit die Inhaltsanalyse zugrunde, eine ursprünglich der empirischen Sozialforschung entstammende Methode. 199 So aber Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 7 ff.; dies., EuR 2004, 345, 346 ff. 200 So hat der EuGH schon früh das Verbot der Rechtsverweigerung für sich als verbindlich erachtet, vgl. EuGH, Urt. v. 12.7.1957 1957, verb. RS. 7/56 u. 3–7/57 (Algera u. a./Gemeinsame Versammlung), Slg. 1957, S. 83 ff., 118. 201 So auch Schweitzer/Hummer, Rn. 451; Beisse, StVj 1992, 41; Buck, S. 50. 202 Vgl. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Buch XI, Kapitel 6, S. 225; der Richter fand sich nach der Vorstellung Montesquieus, um eine strikte Gewaltentrennung zu verwirklichen, in der Rolle eines Subsumtionsautomaten wieder, dessen Rolle auf die bloße Verkündung der pensée de la loi beschränkt war. Dies wird be-

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erläutert, steht dahinter ein besonderes Gewaltenteilungsverständnis, das impliziert, dass es nicht Aufgabe des Richters sei, allgemeine Normen zu setzen.204 Dies schließt aber nicht dessen Befugnis, ja Verpflichtung, aus, im konkreten Fall das Gesetz - gegebenenfalls analog – anzuwenden. Die bloße Verwendung des Begriffs Auslegung in den Urteilen des EuGH gibt also in deutscher Sprache nur unvollständig wieder, was in französischer Sprache mit interprétation ausgedrückt wird. Legt man zugrunde, dass die Beratungssprache des Gerichtshof französisch ist und folglich der vielschichtigere Begriff interprétation verwendet wird, so spricht trotz der Tatsache, dass in den Urteilen nur von Auslegung die Rede ist, nichts dagegen, in diese auch die Rechtsfortbildung mit einzubeziehen, also von Auslegung und Rechtsfortbildung zu sprechen, wo es interprétation heißt. 2. Abgrenzung von Auslegung und Rechtsfortbildung in der Lehre Angesichts der methodischen Unterschiede, die zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung bestehen und insbesondere auch mit Blick auf die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung erscheint es mir trotz der vom EuGH (zumindest ausdrücklich) unterlassenen Differenzierung zwischen beiden Phänomenen sinnvoll, zwischen diesen zu unterscheiden. Fraglich ist jedoch, ob die deutsche Begrifflichkeit ohne weiteres auf das Gemeinschaftsrecht übertragen werden kann. a) Übertragung der deutschen Begrifflichkeit Ausdrücklich erklärt Beisse205, mit „Rechtsfortbildung“ einen Begriff aus der deutschen juristischen Terminologie an die Judikatur des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften heranzutragen. Auch Wolfgang DänzerVanotti206 weist auf die deutsche Methodenlehre hin und charakterisiert als Abgrenzungskriterium zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung die Wortlautgrenze. Überwiegend wird der Begriff jedoch ohne nähere Erläuterung207, beziehungsweise mit ausdrücklichem Hinweis auf das bekannte sonders deutlich wenn man den zweiten Halbsatz des bekannten Zitats, der häufig unterschlagen wird, betrachtet: „. . . les juges de la nation ne sont [. . .] que la bouche, qui prononce les paroles de la loi; des êtres inanimés qui n’en peuvent modérer ni la force ni la rigeur.“ 203 Siehe dazu oben § 2 A. II. 1. 204 Zu beachten ist hierbei auch, dass Art. 5 des frz. Code civil es dem Richter verbietet, allgemeine Normen zu setzen. 205 So Beisse, StVj. 1992, 41, 42 f. 206 Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 734.

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deutsche Verständnis des Begriffs208 übernommen. Demnach ließen sich die oben gewonnenen Begriffsdefinitionen auf das Gemeinschaftsrecht übertragen. Auslegung des Gemeinschaftsrechts nähme folglich ihren Ausgangspunkt im Vertrag bzw. in einem Gesetz im materiellen Sinn, also etwa einer Verordnung. Man könnte sie dann als methodisch geleitete Ermittlung des Sinngehalts einer Norm verstehen, wobei sich die Interpretation in der Regel im Rahmen des üblichen Wortlauts bewegen würde, ihre Grenze aber jedenfalls im möglichen Wortsinn fände. Sie wäre eine innerhalb des Wortsinns der abstrakten Norm konkretisierende, erklärende und entwickelnde Normdeutung. Was aber nicht einmal mehr vom möglichen Wortlaut des Normtextes erfasst werde, könne auch nicht mehr als Auslegung bezeichnet werden.209 Rechtsfortbildung läge demzufolge dann vor, wenn konkrete Fälle auf eine Weise entschieden würden, die zwar nicht mehr durch den möglichen Wortsinn gedeckt wären, welche aber dennoch durch gute Gründe, nämlich den Zweck dieser Vorschriften oder durch allgemeine Rechtsprinzipien als gerechtfertigt erschienen. Die Rechtsfortbildung könne dabei entweder in einer Ergänzung oder in einer Berichtigung jener Rechtsvorschriften bestehen.210 Als Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung müsste also, überträgt man, wie es das deutschsprachige Schrifttum tut, unhinterfragt die deutsche Terminologie, auch im Gemeinschaftsrecht jene des möglichen Wortsinns gelten.211 b) Das Problem der Mehrsprachigkeit und die Wortlautgrenze Fraglich ist, ob die Wortsinngrenze auch auf das europäische Gemeinschaftsrecht übertragen werden kann, was nicht selbstverständlich erscheint. aa) Problemstellung Gerade dieses Differenzierungskriterium wird aber im Gemeinschaftsrecht kaum hinterfragt, obwohl es meines Erachtens gerade dort ganz er207

V.a. T. Stein, FS 600 Jahre Heidelberg, S. 619 ff.; A. v. Bogdandy, GS Grabitz, S. 17 ff.; K.-D. Borchardt, GS Grabitz, S. 29 ff.; C. Callies, NJW 2005, 929 ff.; R. Streinz, Europarecht, Rn. 567 ff.; W. Dänzer-Vanotti, FS Everling I, S. 205 ff. leider auch P. Mittmann, S. 223 f.; J. Ukrow, S. 68 ff. 208 So U. Everling, JZ 2000, 217, 218 mit Fn. 11. 209 Angelehnt an die oben mit Bezug auf das nationale Recht gefundene Definition von Koller, S. 214. 210 Wiederum nach Koller, S. 214. 211 In diesem Sinne auch Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 734; ebenso auch Beisse, StVj. 1992, 41, 43; wohl auch Everling, JZ 2000, 217, 218, der auf die deutsche Methodenlehre verweist.

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hebliche Probleme aufwirft. Die Grenze des möglichen Wortlauts mag in einer Rechtsordnung wie der deutschen, in welcher nur eine Sprache herrscht, noch relativ präzise sein, selbst wenn hier schon stets betont wird, dass die Übergänge zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung schwammig seien.212 Für das Gemeinschaftsrecht hingegen stellt sich hier ein viel größeres Problem. Art. 314 EGV bestimmt nämlich, dass der Wortlaut des Vertrages in jeder Sprache gleichermaßen verbindlich sei. Entsprechende Vorschriften finden sich in Art. 225 EAGV und Art. 53 EUV, sowie in Art. IV-448 VVE.213 Durch die Vielzahl authentischer Vertragsfassungen (die sich durch den Beitritt Bulgariens und Rumäniens 2007 auf 23 erhöht haben) wird die Wortlautgrenze jedoch erheblich unsicherer und schwerer zu ermitteln. Es stellt sich deshalb die Frage, ob sie als Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung überhaupt noch geeignet erscheint, oder ob nicht nach einer anderen Differenzierung gesucht werden muss. Eine Lösung dieses Wortlautproblems, welches sich auch für die Auslegung an sich stellt, sehen die Verträge nicht vor, so dass sie in allgemeinen Rechtsgrundsätzen bzw. im allgemeinen Völkerrecht zu suchen ist. Einen Anhaltspunkt könnte hier Art. 33 WVRK liefern, der das Problem von Verträgen mit mehreren Sprachfassungen behandelt.214 bb) Anwendbarkeit der WVRK auf das Europarecht Fraglich ist, ob man die Bestimmungen der WVRK, insbesondere deren Art. 31 ff., auf die Verträge zu den Europäischen Gemeinschaften und den EUV anwenden kann. Art. 4 WVRK bestimmt, dass diese nicht rückwir212 Siehe dazu statt (fast) aller nur Larenz, Methodenlehre, S. 366: „Gesetzesauslegung und richterliche Rechtsfortbildung dürfen nicht als wesensverschieden angesehen werden, sondern nur als voneinander verschiedene Stufen desselben gedanklichen Verfahrens. [. . .] Als Grenze der Auslegung im engeren Sinne haben wir die des möglichen Wortsinns erkannt.“ 213 Demgegenüber ergab sich für den EGKS-Vertrag aus dessen Art. 100, dass nur die französische Vertragsfassung die maßgebliche sprachliche Fassung sei. 214 Zu Problem der Mehrsprachigkeit – jedoch sämtlich nicht explizit vor dem Hintergrund der Abgrenzung von Auslegung und Rechtsfortbildung – aus völkerrechtlicher Sicht M. Hilf, Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 83 ff.; aus sprachwissenschaftlicher Sicht mit Bezug auf die Rechtsprechung des EuGH P. Braselmann, EuR 1992, 55 ff.; aus europarechtlicher Sicht I. Schübel-Pfister, passim; das Problem zumindest streifend Zuleeg, EuR 1969, 96, 100. Zum Mehrsprachigkeitsproblem im Zusammenhang mit der Rechtsfortbildung durch den EuGH auch Mittmann, S. 223 ff., allerdings ohne dort auf die Bedeutung für die Wortlautgrenze einzugehen, sondern eine völkerrechtliche Auslegungsmethode der Rechtsprechung des EuGH propagierend.

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kend auf Verträge anwendbar ist, die vor Inkrafttreten der WVRK geschlossen wurden.215 Auf die Römischen Verträge von 1957 wäre das erst am 23. Mai 1969 geschlossene und erst nach und nach ratifizierte216 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge demnach nicht, zumindest nicht direkt, anwendbar.217 Dagegen spräche allein der zeitliche Aspekt bei der Einheitlichen Europäischen Akte, den Vertragsrevisionen von Maastricht, Amsterdam und Nizza, dem EUV und – sollte er denn dann noch in Kraft treten – der Vertrag über eine Verfassung für Europa – für sich noch nicht gegen eine Anwendbarkeit des Wiener Übereinkommens. Dennoch dürfte gegen eine unmittelbare Anwendbarkeit anzuführen sein, dass nicht sämtliche Mitgliedstaaten die WVRK ratifiziert haben,218 so dass sie für diese keine Verbindlichkeit erlangen kann. Eine Lösung des Problems der Mehrsprachigkeit der Verträge und damit auch der Schwierigkeit, die Wortsinngrenze zu bestimmen, anhand eines Abkommens, dem nicht sämtliche Mitgliedstaaten angehören, muss jedoch ausscheiden. Somit können die Art. 31 ff. WVRK unmittelbar nicht auf die Gemeinschaftsverträge angewendet werden. cc) Art. 31 ff. WVRK als Grundsätze des Völkergewohnheitsrechts Die Auslegungsregeln für (mehrsprachige) völkerrechtliche Verträge, welche im Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge festgehalten sind, könnten jedoch dann Anwendung auf die Europäischen Verträge finden, wenn es sich bei ihnen um Völkergewohnheitsrecht handelt. Ein solches wäre nämlich für sämtliche Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften/Union verbindlich, sofern man die Regeln des Völkerrechts auf das 215 Authentischer Wortlaut der WVRK: United Nations Conference on the Law of Treaties, Off. Rec., Documents of the Conference (UN Doc. A/CONF.39/11/ Add. 2), New York 1971, p. 287. 216 Das Übereinkommen ist am 27.1.1980 in Kraft getreten, nachdem 35 Staaten durch Beitritt oder Ratifikation Partei dieses Übereinkommens geworden waren. Für die Bundesrepublik Deutschland ist das Abkommen am 20.8.1987 in Kraft getreten (Bek. v. 26.11.1987, BGBl II 757) mit einer Übersicht über Vorbehalte, Erklärungen und Einsprüche anderer Vertragsparteien. Zitiert nach D.-E. Khan (Hrsg.), Sartorius II, Nr. 320 Anm. 2. 217 Ebenfalls kritisch Herdegen, Völkerrecht, § 9 Rn. 34; siehe auch Hilf, Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 229 f.; der betont, dass die von ihm zu den völkerrechtlichen Verträgen gefundenen Ergebnisse nicht ohne weiteres auf die Anwendung des Gemeinschaftsrechts übertragbar wären; zweifelnd auch Mittmann, S. 223. 218 So hat zum Beispiel Frankreich das Übereinkommen noch nicht ratifiziert. Bis zum 1.10.2000 wurden insgesamt 91 WVRK-Parteien gezählt, jedoch fehlen darunter einige wichtige Staaten, neben Frankreich etwa die Vereinigten Staaten, vgl. dazu W. Graf Vitzthum, in: ders., Völkerrecht, 1. Abschn. Rn 115.

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Gemeinschaftsrecht anwenden kann.219 Vereinzelt wird die Übertragbarkeit bzw. Anwendbarkeit der im Völkerrecht geltenden Regeln auf das Gemeinschaftsrecht jedoch bestritten und die Besonderheit des europäischen Gemeinschaftsrechts betont.220 Die Verträge ließen sich nicht mehr mit den Auslegungskriterien des Völkerrechts erfassen, sondern bildeten die Grundlage einer eigenen Rechtsordnung, bei der die Mitgliedstaaten dem Europäischen Gerichtshof innerhalb gewisser Grenzen auch die Befugnis übertragen haben, solche durch die Mehrsprachigkeit entstehenden Schwierigkeiten autonom zu lösen.221 Zwar ist etwa Herdegen darin zuzustimmen, dass sich das Europarecht weitgehend zu einer selbständigen Rechtsordnung entwickelt hat, dennoch hat es sich noch nicht vollständig von seinen völkerrechtlichen Wurzeln gelöst. Dies zeigt sich etwa deutlich am Vertragsrevisionsverfahren nach Art. 48 EUV. Eine der Übertragbarkeit der allgemeinen völkerrechtlichen Regeln entgegenstehende Besonderheit könnte sich allerdings daraus ergeben, dass es sich bei den Verträgen um „law-making treaties“ handelt. Als solche werden Verträge bezeichnet, die es erlauben Sekundärrecht zu setzen, wie es EG-Vertrag, EAG-Vertrag, sowie der bislang noch nicht ratifizierte Vertrag über eine Verfassung für Europa und in gewissen Grenzen auch der EU-Vertrag gestatten.222 Solche rechtssetzenden Verträge könnten nun aber eigenständigen Auslegungskriterien unterworfen sein. So werden völkergewohnheitsrechtlich Verträge, welche die Verfassung einer Internationalen Organisation bilden, teleologisch-funktional ausgelegt.223 Hierbei kommt etwa die implied-powers-Doktrin zur Anwendung,224 die aber das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge bewusst nicht auf219 Zum Völkergewohnheitsrecht und dessen Verbindlichkeit vgl. K. Doehring, Völkerrecht, § 4 Rn. 285 ff., insbes. Rn. 292; Herdegen, Völkerrecht, § 16; siehe auch B. Simma, FS Zemanek, S. 95 ff.; siehe allgemein K. Zemanek, FS Bernhardt, S. 289 ff.; grundlegende Aussagen zu den Elementen des Völkergewohnheitsrechts finden sich in der Judikatur des Internationalen Gerichtshofs, insbesondere im Nordseefestlandsockelfall, vgl ICJ Reports 1969, p. 3, 43 (Nr. 74) zur Dauer; 44 (Nr. 77) zur Rechtsüberzeugung und 42 (Nr. 73) zur maßgeblichen Rechtsgemeinschaft der Staaten. 220 Mit Bezug zu der hier erörterten Problematik etwa Herdegen, Völkerrecht, § 15 Rn. 34; vorsichtig zweifelnd auch Hilf, Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 229. 221 Herdegen, Völkerrecht, § 15 Rn. 34; ähnliches schwebt wohl auch Hilf, Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 229, 230 vor, wenn er die Besonderheit des Gemeinschaftsrechts betont. 222 Zu law-making treaties etwa Doehring, Völkerrecht, Rn. 394 unter der Bezeichnung rechtssetzende Verträge. 223 Man spricht auch von dynamischer Auslegung, vgl. dazu etwa Herdegen, Völkerrecht, § 15 Rn. 32; Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 11 Rn. 15 f.; wie hier unter der Bezeichnung der (objektiv) teleologisch-funktionellen Auslegung Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 494 (§ 780). Doehring, Völkerrecht, Rn. 395 spricht von extensiver Auslegung.

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genommen hat, da sie keine allgemeine Gültigkeit hat.225 Dieses kann jedoch keinen Einwand gegen eine völkergewohnheitsrechtliche Geltung der Auslegungsgrundsätze des letztlich hier allein interessierenden Art. 33 WVRK im Gemeinschaftsrecht bilden, besteht doch letztlich kein Konflikt zwischen diesem und dem Ziel der teleologisch-funktionalen Auslegung. Vielmehr formuliert Art. 33 WVRK lediglich einen Vorschlag, wie mit Verträgen, für welche mehrere authentische Sprachfassungen bestehen, umzugehen ist. Folglich spricht nichts dagegen, die im Völkerrecht für das Problem der Grenze der Auslegung mehrsprachiger Verträge gefundenen Lösungsansätze auf das Gemeinschaftsrecht zu übertragen. Denn das Problem der Auslegung eines Vertrages mit mehreren authentischen Sprachfassungen stellt sich hier in voller Schärfe und die in Art. 33 WVRK gefundenen Kriterien erscheinen vernünftig. Soweit man also die für die Bestimmung der Wortlautgrenze bei Verträgen mit mehreren authentischen Sprachen zentrale Norm des Art. 33 WVRK als kodifiziertes Völkergewohnheitsrecht betrachten kann, kann man diese zumindest dem Inhalte nach auf das europäische Gemeinschaftsrecht anwenden.226 Dazu müssten die Auslegungsregeln nun Gewohnheitsrecht darstellen. In der völkerrechtlichen Literatur wird allgemein davon ausgegangen, dass es sich bei den in den Art. 31 ff. WVRK niedergelegten Auslegungsgrundsätzen um Völkergewohnheitsrecht handelt.227 Auch werden die Auslegungskriterien völkerrechtlicher Verträge, wie sie in Art. 31 WVRK kodifiziert sind, nicht bloß in der Literatur als allgemeine Regeln des Völkergewohnheitsrechts betrachtet. So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in der Rechtssache Golder ausgeführt, er habe diese Auslegungsgrundsätze schon vor der Erarbeitung des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge als allgemeine Interpretationskriterien herangezogen.228 Entscheidend dürfte aber letztlich auch sein, 224

So auch Doehring, Völkerrecht, Rn. 396; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 494 (§ 780); zur Bedeutung der „implied powers“-Lehre im Europäischen Gemeinschaftsrecht siehe H. F. Köck, FS Seidl-Hohenveldern, S. 279 ff. 225 Sehr deutlich Vitzthum, in: ders., Völkerrecht, 1. Abschn. Rn. 124; siehe auch Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 493 (§ 780). 226 Ähnlich auch Mittmann, S. 224; siehe auch J. Kokott, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 314 Rn. 4. 227 Aus der deutschen völkerrechtlichen Literatur etwa Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 390; Doehring, Völkerrecht, Rn. 390 ff.; Vitzthum, in: ders., Völkerrecht, 1. Abschn. Rn. 114 ff.; W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, Kap. 4 Rn. 11, 22; Herdegen, Völkerrecht, § 15 Rn. 28 ff.; S. Torres Bernárdez, Liber amicorum Seidl-Hohenveldern, S. 721 ff. 228 EGMR, Urt. v. 21.2.1975, Ser. A, No. 18, p. 14 para. 29 (Golder): „Articles 31 to 33 ennuciate in essence generally accepted principles of international law to which the Court has already referred on occasion.“

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dass die Vertragsparteien des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge bei der Paraphierung des Vertrages davon ausgingen, lediglich geltendes Gewohnheitsrecht zu kodifizieren.229 Seit Inkrafttreten der Wiener Vertragsrechtskonvention haben Staaten in verschiedenen Fällen ihrer Auffassung Nachdruck verliehen, dass die Art. 31 ff. WVRK lediglich den Stand des Völkerrechts wiedergeben.230 Demnach besteht unter den Staaten als maßgeblicher Rechtsgemeinschaft die Überzeugung, dass es sich bei den Regeln, die in Art. 31 ff. WVRK zum Ausdruck kommen, um Recht handelt, und sie richten sich danach aus, so dass sowohl die allgemeine Rechtsüberzeugung (opinio iuris) wie auch die ständige Übung (longa consuetudo) vorliegen, die zur Entstehung von Gewohnheitsrecht erforderlich sind. Demnach können die Interpretationsgrundsätze der Art. 31 ff. WVRK als Ausdruck allgemeiner Regeln des Völkergewohnheitsrechts auch zur Bestimmung der Wortlautgrenze auf die Europäischen Gemeinschaftsverträge und den EUV angewendet werden. dd) Bestimmung der Wortsinngrenze im Gemeinschaftsrecht anhand des Völkergewohnheitsrechts Das Problem der besonderen Schwierigkeit der Ermittlung der Wortsinngrenze bei mehreren authentischen Sprachfassungen in den Gemeinschaftsverträgen würde sich dann erledigen und dem Problem der Wortsinngrenze im nationalen Recht vergleichbar werden, falls nach der in Art. 33 WVRK zum Ausdruck kommenden Regel bei mehreren authentischen Sprachen bei Auslegungszweifeln eine Sprache vorginge, sofern sich dieses aus dem in Rede stehenden Vertrag ergibt.231 (1) Vorrangige Sprache bei Auslegungszweifeln, Art. 33 Abs. 1 WVRK? Betrachtet man den Art. 314 EGV, so scheint klar, dass die in Art. 33 Abs. 1 WVRK niedergelegte Vorrangregel für das Gemeinschaftsrecht aus229

Siehe dazu insbesondere den Vertreter Schwedens H. Blix, in: Conférence des Nations Unies sur le droit des traités, Deuxième Session, Vienne, 9 avril–22 mai 1969, Documents Officiels, New York 1969, p. 344: „Il est généralement reconnu, que la plus grande partie de la présente convention, n’est que l’expression de règles de droit international coutumier.“ 230 Siehe dazu M. Villinger, p. 334–338. 231 Zum linguistischen Aspekt Braselmann, EuR 1992, 55 ff.; Hilf, Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 82 äußert sich zumindest vorsichtig kritisch.

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scheidet, da Art. 314 EGV bestimmt, dass die Sprachen gleichermaßen verbindlich sind. Somit lässt sich dem EG-Vertrag nicht entnehmen, dass eine der authentischen Sprachen bei Auslegungszweifeln Vorrang genießen soll. Eine solche Vorrangregel könnte sich höchstens daraus ergeben, dass Art. 314 Abs. 1 EGV festschreibt, der jeweilige Wortlaut der deutschen, französischen, italienischen und niederländischen Fassung sei „gleichermaßen verbindlich“, während die übrigen Sprachfassungen nach Art. 314 Abs. 2 EGV lediglich als „verbindlich“ bezeichnet werden. Hieraus könnte man ableiten, dass es zwischen den „gleichermaßen verbindlichen“ Sprachfassungen zwar kein Vorrangverhältnis bei Abweichungen in der Wortbedeutung gibt, diese „gleichermaßen verbindlichen“ Sprachen aber bei Auslegungszweifeln jedoch den Fassungen des Vertrages in den Sprachen später beigetretener Mitglieder vorgehen, die lediglich verbindlich sind. Abgesehen davon, dass sich damit das Mehrsprachigkeitsproblem nur reduzieren, nicht aber erledigen würde, ginge eine solche Auslegung des Art. 314 EGV (vergleichbar Art. 225 EAGV) fehl. Solcherart führende authentische Sprachen, welche den anderen vorgehen, bestehen nicht. Art. 314 EGV geht schon aufgrund des im Gemeinschaftsrecht dominierenden Gedankens der Staatengleichheit davon aus, dass sämtliche Amtssprachen gleichberechtigte Textfassungen sind. Auch vor dem Hintergrund der insoweit anders formulierten Art. 53 EUV und Art. IV-448 VVE, welche sämtliche Sprachen anführen und diese alle als gleichermaßen verbindlich bezeichnen, kann für Art. 314 EGV (Art. 225 EAGV) nichts anderes gelten. Man wird vielmehr davon auszugehen haben, dass diese Bestimmungen alle deckungsgleich sind, so dass sämtliche Sprachfassungen gleichermaßen verbindlich sind.232 Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache FERAM/Hohe Behörde, kann man ebenfalls eine Ablehnung einer führenden Sprache ableiten, wenn es dort auch nur darum ging, ob der Gerichtshof von einem Schriftstück Kenntnis haben müsse, welches nicht in der Verfahrenssprache verfasst sei.233 Die dortige Betonung der Gleichberechtigung sämtlicher Sprachen, welche untrennbar mit dem Diskriminierungsverbot verknüpft sei und dem Gebot der Achtung sämtlicher souveräner Mitgliedstaaten,234 spricht nämlich, wie bereits dargelegt, gegen 232

Die beeindruckende Zahl von 23 als verbindlich bezeichneten Sprachen in Art. IV-448 VVE macht schon selbst deutlich, wie groß die Gefahr einer Abweichung zwischen den gleichermaßen verbindlichen Textfassungen ist. Braselmann, EuR 1992, 55, 57, spricht schon in ihrer Untersuchung, zu deren Zeit noch nicht so viele Sprachfassungen verbindlich waren, von einer „Potenzierung der Unklarheiten“. 233 Vgl. zum Sachverhalt EuGH, Urt. v. 10.5.1960, RS. 1/60 (FERAM/Hohe Behörde), Slg. 1960, S. 356 ff. 234 EuGH, Urt. v. 10.5.1960, RS. 1/60 (FERAM/Hohe Behörde), Slg. 1960, S. 356, 370.

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eine führende Sprache. Der EuGH sei, „wie alle Organe der drei Gemeinschaften als viersprachig235“ anzusehen.236 Folglich lässt sich den europäischen Verträgen keine authentische Sprache entnehmen, welche bei Auslegungszweifeln den Vorrang vor den anderen genießen soll. Der in Art. 33 Abs. 1 WVRK zum Ausdruck kommende, völkergewohnheitsrechtliche Ansatzpunkt der Lösung von Unsicherheiten in der Interpretation bei mehrsprachigen Verträgen kann somit keine Hilfestellung bei der Ermittlung des maßgeblichen möglichen Wortsinns als Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung bieten. (2) Vermutung derselben Bedeutung, Art. 33 Abs. 3 WVRK Nach dem in Art. 33 Abs. 3 niederlegten völkergewohnheitsrechtlichen Grundsatz zur Auslegung mehrsprachiger Verträge wird vermutet, dass allen Begriffen in den verschiedenen authentischen Sprachen dieselbe Bedeutung zuzumessen sei. Diese Bestimmung hilft als solche nicht weiter, Textdivergenzen zwischen den authentischen Sprachen zu überwinden und so zu einer hinreichend klaren Abgrenzung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung zu gelangen. Für die Wortsinngrenze mag Art. 33 Abs. 3 WVRK zu entnehmen sein, dass diese bei mehrsprachigen Verträgen mit mehreren verbindlichen Sprachfassungen ebenso bestehen muss wie in einer Rechtsordnung mit bloß einer Sprache – haben doch alle Ausdrücke des Vertrages in jedem authentischen Text dieselbe Bedeutung – jedoch vermag nicht die Frage zu beantworten, wie genau diese Grenze bei mehreren authentischen Sprachen zu bestimmen ist. Es bedarf hierfür also zusätzlicher Kriterien. (3) Teleologie oder „Supplementary means“? Ein hierzu weiterführender Ansatz lässt sich allerdings Art. 33 Abs. 4 WVRK entnehmen, wonach letztlich diejenige Bedeutung zugrunde gelegt wird, die unter Berücksichtigung von Ziel und Zweck des Vertrages die Wortlaute am besten miteinander in Einklang bringt. Dieses gilt allerdings nur insofern, als der Bedeutungsunterschied nicht durch die Anwendung der Art. 31 und 32 WVRK ausgeräumt werden kann. Im Völkerrecht haben sich zusätzlich zu den Auslegungskriterien und -mitteln, welche Art. 31 vorsieht, die aber hier zur Bestimmung der Wort235 Zur Zeit der Entscheidung bestanden nur die vier Amtssprachen Deutsch, Französisch, Italienisch und Niederländisch. Mittlerweile müsste der Gerichtshof ausführen, er sei 23-sprachig. 236 EuGH, Urt. v. 10.5.1960, RS. 1/60 (FERAM/Hohe Behörde), Slg. 1960, S. 356, 370.

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lautgrenze nicht weiterhelfen,237 andere ergänzende Auslegungsregeln herausgebildet, welche gegebenenfalls zur Findung einer Wortlautgrenze in Zweifelsfällen führen können.238 Diese können als ergänzende Auslegungsmittel (supplementary means) in Art. 32 WVRK verortet werden,239 so dass zunächst zu prüfen ist, ob die Wortsinngrenze bei mehrsprachigen Verträgen sich nach diesen ermitteln lässt, bevor auf die „teleologische Lösung“ gem. Art. 33 Abs. 4 WVRK zurückgegriffen werden kann. Da jedoch auf das Gemeinschaftsrecht wie oben dargelegt das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge nicht unmittelbar Anwendung findet, sondern dieses nur als Ausdruck des Völkergewohnheitsrechts herangezogen werden soll, müssen die im Folgenden behandelten Auslegungskriterien sozusagen als allgemeine Lösungsmöglichkeiten des Mehrsprachigkeitsproblems betrachtet werden, die der teleologischen Lösung vorgehen. (a) Der Urtext als entscheidendes Moment Die Stellung des Urtextes zur Auslegung wird unterschiedlich bewertet.240 Unter Urtext wird dabei derjenige Vertragsentwurf verstanden, auf den sich die Vertragsparteien geeinigt haben, und der dann in die anderen authentischen Sprachen übersetzt wurde.241 Sowohl in der internationalen Rechtsprechung242 wie auch zumeist in der völkerrechtlichen Lehre243, 237 So auch Hilf, Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 87, wenn er ausführt: „Im einzelnen soll auf die in Art. 31 aufgestellten allgemeinen Regeln nicht eingegangen werden, zumal sie für die harmonisierende Auslegung mehrsprachiger Verträge von untergeordneter Bedeutung sind.“ 238 Siehe zu diesen Mitteln im Einzelnen Hilf, Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 88 ff.; A. N. Makarov, En Hommage à Paul Guggenheim, S. 403, 412; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 493 f. jeweils mit weiteren Nachweisen. 239 Dort verankert jedenfalls Hilf, Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 87 die nachfolgenden Gesichtspunkte. 240 Durchaus positiv und befürwortend äußern sich etwa Makarov, En Hommage à Paul Guggenheim, S. 403, 417 ff., 424 f.; H. Dölle, RabelsZ 26 (1961), 4, 37 f.; siehe auch Verdross, Völkerrecht, 5. Aufl., S. 174; kritisch zeigt sich hingegen Hilf, Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 90 ff. 241 Ähnlich auch Verdross, Völkerrecht, S. 174, der von Originaltext spricht. Die Bezeichnung Urtext bzw. ursprünglicher Text wird von Makarov, Hommage à Paul Guggenheim, S. 403, 417 ff. gebraucht. 242 So etwa der Ständige Internationale Gerichtshof in der Sache „Interprétation de la convention de 1919 concernant le travail de nuit des femmes“, CPJI, Série A/B, No. 50; vgl. auch CPJI „Affaire des concessions Mavrommatis en Palestine“, Série A, No. 2, p. 15, 19. 243 Dölle, RabelsZ 26 (1961), 4, 37 f.; Verdross, Völkerrecht, S. 174; Makarov, Hommage à Paul Guggenheim, S. 403, 417 ff.; J. Mössner, ArchVR 15 (1971/72), S. 273, 289.

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wird in Zweifelsfällen dem Urtext, in dem ein Abkommen redigiert wurde, ein gewisser Vorrang eingeräumt. Verdross etwa spricht hier von der „führenden Sprache“.244 Ein bekanntes Beispiel ist das Gutachten des Ständigen Internationalen Gerichtshofs zur Nachtarbeit für Frauen. Dort245 heißt es: „il convient d’observer que les textes français et anglais ne sont pas en harmonie, que le terme anglais, dans cette phrase, est „women workers“; or Miss Smith, qui à présentée le rapport, était Anglaise et s’exprimait dans sa langue.“246

Diese Äußerung kann nur bedeuten, dass der englische Text des Abkommens, welches der Ständige Internationale Gerichtshof auszulegen hatte, genauer dessen Inhalt widergegeben hat als die gleichermaßen authentische französische Fassung, was darin begründet lag, dass der Urtext von Miss Smith, einer Engländerin, verfasst wurde.247 Sofern also der Urtext zu ermitteln ist, wird diesem ein gewisser Vorrang bei Auslegungszweifeln eingeräumt. Aber selbst wenn der Urtext nicht ermittelt werden konnte, kann nach der Rechtsprechung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs eine Vermutung genügen. Ein Beispiel hierfür liefert das Urteil zu den MavrommatisKonzessionen248, in dem der Ständige Internationale Gerichtshof ausführt: „Cette conclusion s’impose [. . .] avec d’autant plus de force qu’il s’agit d’un acte réglant les obligations de la Grande-Bretagne en tant que puissance mandataire pour la Palestine et dont le texte primitif a probablement été rédigé en anglais.“249

Unter Rückgriff auf einen vorrangigen Urtext lässt sich die Wortsinngrenze, ähnlich wie im nationalen Recht, relativ präzise bestimmen. Für das europäische Gemeinschaftsrecht dürfte dies bedeuten, dass dem Französischen die Rolle der führenden Sprache zumindest für EGV und EAGV zukäme. Damit wäre das Französische die maßgebliche Sprache, auf die es bei der 244

Völkerrecht, S. 174. CPJI, „Interprétation de la convention de 1919 concernant le travail de nuit des femmes“, Série A/B, No. 50, p. 379. 246 Es ist festzustellen, dass die englischen und französischen Texte nicht übereinstimmen; nunmehr war aber Ms. Smith, die den Referentenentwurf vorgelegt hat Engländerin und drückte sich in ihrer Sprache aus. 247 Ebenso J. Hardy, British Yearbook of International Law 1961 (XXXVII), p. 74, 103 f.: „No doubt the Court merely meant that, since Miss Smith had drawn up the report in English, the English text was a more accurate expression of the Committee’s opinions despite officially bilingual character of the document . . .“ Siehe auch Makarov, Hommage à Paul Guggenheim, S. 403, 420. 248 Vgl. CPJI, „Affaire des concessions Mavrommatis en Palestine“, Série A, No. 2, p. 19. Hervorhebung von mir. 249 Dieser Schluss drängt sich um so stärker auf, als es sich um einen Rechtsakt handelt, welcher die Verpflichtungen Großbritanniens als Mandatsmacht für Palästina regelt und dessen Urtext möglicherweise in englischer Sprache abgefasst wurde. 245

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Ermittlung der Grenze des möglichen Wortsinns einer Norm der Verträge ankäme. Jedoch erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass es sich bei den neueren Vertragsrevisionen (Maastricht, Amsterdam, Nizza) anders verhalten hat und das Englische hier den Urtext bildet, jedenfalls ist nicht offensichtlich, in welcher Sprache der Urtext verfasst worden ist. Die hierdurch entstehende Unsicherheit kann bei der Ermittlung der Wortsinngrenze nicht hingenommen werden. Neben diesen reinen Praktikabilitätserwägungen, sprechen aber auch theoretische Aspekte gegen eine Bevorzugung des Urtextes zur Ermittlung der Wortsinngrenze bei den europäischen Gemeinschaftsverträgen. So erscheint mir die Bevorzugung des Urtextes bei gleichermaßen authentischen Sprachen als Umgehung des Art. 33 Abs. 1 WVRK, welcher gerade die (ausdrückliche) Bevorzugung einer authentischen Sprache bei Auslegungszweifeln verbietet. Eine solche Privilegierung nun noch einmal über Art. 33 Abs. 4 i. V. m. Art. 32 WVRK ungeschrieben für den Urtext gelten zu lassen, ist m. E. nicht mit dem Inhalt des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge zu vereinbaren und kann damit auch nicht als völkergewohnheitsrechtlicher Grundsatz überzeugen. Dennoch finden sich leichte Anklänge einer Bevorzugung des Urtextes in den Schlussanträgen des Generalanwalts Karl Roemer in der Rechtssache Stauder/Stadt Ulm.250 Dort hatte sich zwischen dem niederländischen und dem deutschen Text einer Richtlinie einerseits und deren französischer und italienischer Fassung andererseits eine sprachliche Divergenz ergeben. Es ging dabei um Gutscheine für verbilligte Butter, für deren Bezug die deutsche und niederländische Fassung eine Namensnennung forderten („auf ihren Namen ausgestellt“, „op naam gestellde bon“), während die französische und italienische Version („bon individualisé“, „buono individualizzato“) eine bloße Individualisierbarkeit forderten.251 Hier schloss Roemer aus der Entstehungsgeschichte, dass der französische Text der Urtext sei und die niederländische und die deutsche Regelung deshalb im Lichte der französischen auszulegen seien.252 Der EuGH hat diese Argumentation allerdings nicht in sein Urteil aufgenommen.253 Es erscheint mir auch mit dem Grundsatz der Staatengleichheit innerhalb der Gemeinschaft kaum zu vereinbaren, dem Urtext eine solcherart bevorzugte Stellung zuzuweisen, 250 Vgl. Schlussanträge des GA K. Roemer, v. 29.10.1969, RS. 29/69 (Stauder/ Stadt Ulm), Slg. 1969, 427, 428 f. 251 Zum Sachverhalt vgl. EuGH, Urt. v. 12.11.1969, RS. 29/69 (Stauder/Stadt Ulm), Slg. 1969, 419 ff. 252 So GA Roemer, Schlussanträge v. 29.10.1969, RS. 29/69 (Stauder/Stadt Ulm), Slg. 1969, 427, 428 f. 253 Der EuGH, Urt. v. 12.11.1969, RS. 29/69 (Stauder/Stadt Ulm), Slg. 1969, 419, 422, lässt diese zwar anklingen, begründet sein Urteil aber letztlich (überzeugender) mit der geringeren Eingriffsintensität der französischen und italienischen Bestimmung.

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ein Gedanke, der sich, wenn auch in anderem Zusammenhang, in der Rechtsprechung des EuGH wiederfindet.254 Folglich scheidet dieses Kriterium aus, um die Wortsinngrenze im Gemeinschaftsrecht zu ermitteln. (b) Klarheitsregel Gelegentlich wird zur Ausräumung von Bedeutungsunterschieden in mehrsprachigen Verträgen auch eine Klarheitsregel vorgeschlagen, nach der einem unklaren oder ungenauen Ausdruck der klarere, zutreffendere oder speziellere vorzuziehen sei.255 Hierzu kann man auch diejenigen Fälle rechnen, bei denen in einer der authentischen Sprachen ein juristischer terminus technicus gewählt wurde, während in anderen Sprachen ein allgemeinsprachlicher Ausdruck verwendet wurde.256 Eine Auslegung anhand des präziseren Begriffs hat der EuGH, wenn auch unter beträchtlichem Aufwand bei der Sprachvergleichung, in der Rechtssache Folci/Amministrazione delle Finanze dello Stato vorgenommen.257 Es ging dabei um eine Zollbestimmung für „ganze Pilze“, die mit einem niedrigeren Zoll belegt waren. Der Gerichtshof hat schließlich die englische Fassung gewählt, welche ihm am präzisesten erschien.258 Hieran zeigt sich zumindest, dass keineswegs etwa die Mehrheit der Sprachfassungen den Ausschlag geben muss. Vielmehr haben auch Systematik und insbesondere die Teleologie ein besonderes Gewicht bei der Auslegung, wenn anhand ihrer der präzisere Begriff ermittelt wird und dieser dann als maßgeblich erachtet 254 Vgl. wiederum EuGH, Urt. v. 10.5.1960, RS. 1/60 (FERAM/Hohe Behörde), Slg. 1960, S. 356, 370. 255 Vgl. die Erläuterungen bei Dölle, RabelsZ 26 (1961), 4, 35; Mössner, ArchVR 15 (1971/72), 273, 285; Hardy, British Yearbook of International Law 1961 (XXXVII), 72, 87 ff.; Makarov, Hommage à Paul Guggenheim, S. 403, 414 f. 256 So Hardy, British Yearbook of International Law, 1961 (XXXVII), 72, 90, unter Verweis auf einen Schiedsspruch der Reparation Commission (United Nations, Reports of International Arbitral Awards, vol. 2, p. 792), in welchem es um Reparationszahlungen aus dem Vertrag von Versailles ging, über die Diskrepanz zwischen der englischen Fassung des § 20 des Anhangs II zu Teil VIII Abschnitt I des Versailler Vertrages „legal or equitable interests“ als im englischen fest umrissener terminus technicus und dem viel vageren französischen Vertragstext (tous droits et interêts legitimes). 257 EuGH (2. Kammer), Urt. v. 16.10.1980, verb. RS. 824 u. 825/79 (Folci/Amministrazione delle Finanze dello Stato), Slg. 1980, 3053 ff.; aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist auch EuGH (2. Kammer), Urt. v. 16.10.1980, RS. 816/79 (Mecke & Co./HZA Bremen-Ost), Slg. 1980, 3029 ff. zur Unterscheidung von Spinnfasern und Scherstaub. 258 EuGH (2. Kammer), Urt. v. 16.10.1980, verb. RS. 824 u. 825/79 (Folci/Amministrazione delle Finanze dello Stato), Slg. 1980, 3053, 3059 ff. (Rn. 4 ff., insbes. Rn. 10).

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wird.259 Doch sind gegen diese Regel Bedenken anzumelden. Häufig dürfte es sehr schwierig sein zu bestimmen, welcher Ausdruck der klarere ist, hängt dieses doch nicht zuletzt mit der Sprachkompetenz des Interpreten zusammen.260 Bei juristischen termini technici ist des weiteren nicht sicher, ob diese in ihrer ursprünglichen nationalstaatlichen Bedeutung einfließen sollten. So hat der EuGH vielfach Begriffe autonom ausgelegt und ihnen eine spezifisch europarechtliche Bedeutung zugemessen, ohne dabei auf die nationale Fachsprache zurückzugreifen.261 Als Mittel zur Bestimmung der Wortsinngrenze bei den europäischen Gemeinschaftsverträgen muss die Klarheitsregel also ausscheiden. (c) Vorrang des engeren Textes Eine weitere Möglichkeit, Unklarheiten in einem mehrsprachigen Verträgen zu beseitigen und eine Wortsinngrenze festzulegen, besteht darin, sich auf den engsten Wortlaut, d.h. die engste Sprachfassung, zu beschränken.262 Dies wird damit begründet, dass der engere Wortsinn vom weiteren mitumfasst ist, so dass zumindest dieser vom gemeinsamen Willen der Vertragspartner getragen ist.263 Dieser Ansatz hat ebenfalls im MavrommatisUrteil seinen Ausdruck gefunden: „La Cour estime que, placée en présence de deux textes investis d’une autorité égale, mais l’un parait avoir une portée plus étendue que l’autre, elle a le devoir d’adopter l’interprétation restreinte qui peut se concilier avec les deux textes et qui, dans cette mesure, correspond sans doute à la commune intention des Parties.“264

Folgte man dieser Auslegungsregel, so bedeutete dieses für die Wortsinngrenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung, dass stets nur die engste Sprachfassung zu berücksichtigen wäre, der EuGH also bereits dann die Verträge fortbildete, sobald er eine Auslegung vornähme, die mit dem Wortsinn etwa der deutschen oder französischen Fassung nicht mehr zu verein259 Zu diesem Schluss kommen auch die Analysen von Braselmann, EuR 1992, 55, 61 und Buck, S. 155, 156, letzter allerdings nicht zur Rechtssache Folci. 260 So die Kritik bei Mössner, ArchVR 15 (1971/72), 273, 285 f.; kritisch auch Dölle, RabelZ 26 (1961), 4, 35. 261 Zur autonomen Auslegung durch den EuGH siehe etwa Streinz, Europarecht, Rn. 570 ff. 262 Dazu etwa Hardy, British Yearbook of International Law 1961 (XXXVII), p. 72, 76 ff.; siehe auch Makarov, Hommage à Paul Guggenheim, S. 403, 414 f.; kritisch äußert sich Mössner, ArchVR 15 (1971/72), S. 273, 284 f. und Dölle, RabelZ 26 (1961), 4, 26. 263 Makarov, Hommage à Paul Guggenheim, S. 403, 414 f.; darstellend auch Mössner, ArchVR 15 (1971/72), S. 273, 284 f. 264 CPJI, Affaire des Concessions Mavrommatis en Palestine, Série A, No. 2, p. 19.

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baren wäre, wohl aber im Einklang mit sämtlichen anderen Sprachfassungen stünde und auch dem erkennbaren Willen der Vertragsparteien entspräche. Gegen diesen Ansatz, sprachliche Divergenzen auszuräumen und somit letztlich zu einer klaren Wortsinngrenze zu gelangen, wird in der allgemeinen völkerrechtlichen Literatur eingewendet, dass sie lediglich dann Anwendung finden könne, wenn die Wortbedeutung einer Sprache weiter sei als die einer anderen oder sich die Wortbedeutungen überschnitten.265 Dies ist zwar zutreffend, jedoch dürfte einzuräumen sein, dass es sich bei Ersterem um die wohl häufigsten Fälle sprachlicher Abweichungen handeln dürfte. Überzeugender, und die Regel an sich in Frage stellend, ist allerdings folgendes Argument. Hat nämlich ein Wort in einer auszulegenden Norm in der Sprache x die Bedeutung a und b und in der Sprache y die Bedeutung b und c, so ist nicht in jedem Falle b gewollt. Denn mit „a und b“ beziehungsweise „b und c“ kann etwas anderes ausgedrückt werden, als bloß mit „b“. Etwas anderes gilt allerdings, sofern das Wort in der Sprache x die Bedeutung a oder b hat und ihm in der Sprache y die Bedeutung b oder c beizumessen ist. Dann ist der Schnittmengenansatz, den die Auffassung von der engesten Wortbedeutung verfolgt, nämlich durchaus fruchtbringend für die Grenzziehung anzuwenden. Er vermag jedoch nicht alle Fälle sprachlicher Differenzen zwischen mehrsprachigen Verträgen befriedigend lösen. Die engste Wortbedeutung wäre prinzipiell zwar dazu geeignet, um eine Wortsinngrenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung bei mehrsprachigen Verträgen zu bestimmen, jedoch spricht gegen diesen Ansatz, dass er eben nicht alle Fälle zu lösen im Stande ist, es folglich für diese sprachlichen Abweichungen eines weiteren Kriteriums zur Auffindung der Wortsinngrenze bedürfte. Dieses soll aber im Interesse einer möglicht einheitlichen Lösung der Problematik vermieden werden. Somit soll der Ansatz des engsten Wortlauts nicht gewählt werden, um die Wortsinngrenze bei mehrsprachigen Verträgen festzulegen. (d) Weiteste Wortbedeutung und eigene Stellungnahme Ein weiterer Lösungsversuch, der mir im Hinblick auf die Festlegung einer Wortsinngrenze am vielversprechendsten erscheint, findet sich in der schweizerischen Lehre, die bereits in ihrem nationalen Recht mit dem Mehrsprachigkeitsproblem umzugehen hat.266 In dieser wird nämlich vereinzelt vertreten, dass der weiteste Wortlaut zur Auslegung herangezogen 265

So Mössner, ArchVR 15 (1971/72), 273, 284 f. Vgl. hierzu erläuternd Dölle, RabelsZ 26 (1961), 4, 14 f. unter Verweis auf A. Bolla, Festgabe für den Schweizerischen Juristenverein, p. 56, 58 f. 266

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werden müsse.267 Unabhängig von der Frage, ob diese Maxime stets zur richtigen Auslegung führt – hier dürften Vertragszweck und Systematik wohl manches Mal ein anderes Ergebnis nahe legen – scheint mir dieser Ansatz aber zumindest für die Festlegung der Wortsinngrenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung zutreffend zu sein. Eine Rechtsfindung, die noch mit dem möglichen Wortsinn einer authentischen Sprachfassung in Einklang steht, wird man schwerlich als Rechtsfortbildung bezeichnen können, mag sie auch aus Sicht anderer Sprachfassungen als solche erscheinen. Ist eine Rechtsfindung allerdings dem möglichen Wortsinne nach mit keiner authentischen Sprachfassung mehr zu vereinbaren, so liegt es auf der Hand, dass in diesem Fall nicht mehr von Interpretation gesprochen werden sollte, sondern es sich dann vielmehr um Rechtsfortbildung handelt. Als Beispiel für die hier vorgeschlagene Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung kann man das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Koschniske/ Raad van Arbeid anführen.268 Nicht, dass sich der Gerichtshof in diesem Urteil Gedanken über diese Unterscheidung machen würde, doch verdeutlicht die Rechtssache die Konsequenzen der Wahl der weitesten Sprachfassung für die Differenzierung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung. In diesem Fall ging es um eine verheiratete Arbeitnehmerin, welche gegen einen Bescheid des Raads van Arbeid Hengelo vorging, durch welchen ihr eine (ihr nach niederländischem Recht ursprünglich zustehende) Familienbeihilfe aberkannt wurde. Der Raad als zuständige Behörde stützte sich dabei auf Art. 10 der Verordnung EWG 878/73. Dieser besagte, dass Ansprüche auf Familienbeihilfen entfallen, falls der Ehepartner aus einem anderen Mitgliedstaat eine solche beziehe, was bei dem Ehemann der Klägerin zutraf, da dieser in Deutschland arbeitete und dort Kindergeld erhielt. Der Fall gelangte auf Vorlage des Raads van Beroep Zwolle als Vorabentscheidungsverfahren an den EuGH, da sich folgendes sprachliche Problem auftat: In der niederländischen Fassung des fraglichen Artikels war die Rede von „echtgenote“, was einzig für Ehegattin nicht aber auch für Ehegatte (echtgenoot) steht.269 Nähme man den niederländischen Text wörtlich, so müsste man zu dem Ergebnis kommen, dass die Beihilfe nur entfiele, wenn die Ehefrau in einem anderen Mitgliedstaat Kindergeld erhalte, nicht aber, wenn der Ehemann ein solches beziehe. Danach hätte die Klägerin einen Anspruch auf die Familienbeihilfe in den Niederlanden gehabt.270 Dass die267 So Bolla, Festgabe für den Schweizerischen Juristenverein, p. 56, 58 f.; tendenziell auch Dölle, RabelsZ 26 (1961), 4, 14 f. 268 EuGH (1. Kammer), Urt. v. 12.7.1979, RS. 9/79 (Koschniske/Raad van Arbeid), Slg. 1979, 2717 ff. 269 Vgl. J. van Dale, deel 1 (a–i), Stichwort „echtgenote“. 270 EuGH (1. Kammer), Urt. v. 12.7.1979, RS. 9/79 (Koschniske/Raad van Arbeid), Slg. 1979, 2717, 2718 ff.; eine knappe Schilderung des Sachverhalts wie

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ses Ergebnis schon allein aus Gründen der Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht richtig sein konnte, lag auf der Hand. Interessant ist aber die Begründung des EuGH, welche meine These vom möglichen Wortsinn der weitesten Sprachfassung als Grenze der Auslegung zu stützen scheint. Der EuGH weist nämlich, ebenso wie der Generalanwalt Henri Mayras in seinen Schlussanträgen, darauf hin, dass in den anderen Sprachen der Verordnung anstelle von „echtgenote“ Begriffe gewählt worden sind, welche von ihrer Bedeutung her sowohl „Ehemann“ wie auch „Ehefrau“ umfassten.271 So sei der verwendete Terminus im Englischen „spouse“, im Französischen „conjoint“, im Italienischen „coniuge“ und im Deutschen „Ehegatte“.272 Folglich sei – nicht zuletzt aus Gründen der Gleichberechtigung von Frau und Mann – das Niederländische „echtgenote“ auch als „echtgenoot“ zu lesen.273 Hierbei hat der EuGH den Wortlaut der niederländischen Fassung der Vorschrift offensichtlich überdehnt.274 Die Grenze auch des möglichen Wortsinns ist bei dem (zutreffenden) Ergebnis Ehegattin („echtgenote“) ist auch der Ehegatte („echtgenoot“) überschritten, da zumindest in den germanischen wie auch den romanischen Sprachen die weibliche Form die männliche nicht mitumfasst, sondern vielmehr die männliche die weibliche.275 Dennoch erscheint es hier nicht nötig, von Rechtsfortbildung des EuGH zu sprechen, da das letztlich gefundene Ergebnis von den anderen Sprachfassungen getragen war und auch Sinn und Zweck der Regelung entsprach. Es handelt sich zwar um eine teleologische Extension der niederländischen Fassung der Verordnungsbestimmung, der Anwendungsbereich der Verordnung als ganzer wird jedoch nicht erweitert. An diesem Beispiel zeigt sich meines Erachtens, dass die hier vorgeschlagene Grenze des möglichen Wortsinns der jeweils weitesten Sprachfassung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung sinnvoll ist.

auch des sprachwissenschaftlichen Problems findet sich bei Braselmann, EuR 1992, 55, 61. 271 EuGH (1. Kammer), Urt. v. 12.7.1979, RS. 9/79 (Koschniske/Raad van Arbeid), Slg. 1979, 2717, 2724 (Rn. 7 ff.); GA Henri Mayras, Schlussanträge v. 28.6.1979, RS. 9/79 (Koschniske/Raad van Arbeid), Slg. 1979, 2726, 2727. 272 EuGH (1. Kammer), Urt. v. 12.7.1979, RS. 9/79 (Koschniske/Raad van Arbeid), Slg. 1979, 2717, 2724 (Rn. 7) auch unter Verweis auf das dänische ægtefælle. Zur linguistischen Einordnung der verschiedenen Sprachfassungen vgl. die aufschlussreiche Analyse bei Braselmann, EuR 1992, 55, 62 f. 273 So der zweite Leitsatz von EuGH (1. Kammer), Urt. v. 12.7.1979, RS. 9/79 (Koschniske/Raad van Arbeid), Slg. 1979, 2717. 274 Zu diesem Schluss kommt auch Braselmann, EuR 1992, 55, 62, welche drastisch aber zutreffend davon spricht, das Urteil sei zwar gerecht, „vergewaltige“ aber das Niederländische. 275 Darauf weist Braselmann, EuR 1992, 55, 62 zutreffend hin.

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(e) Zwischenergebnis Durch den Ansatzpunkt, die weiteste Sprachfassung als Grenze des möglichen Wortsinns bei mehrsprachigen Verträgen zugrunde zu legen, wird der Auslegung ein etwas erweiterter Raum zugestanden. Unter diese sind dann nämlich auch jene Fälle zu fassen, die nach einigen Sprachfassungen nicht mehr vom möglichen Wortlaut der Vorschrift gedeckt sind, jedoch mindestens noch unter eine Sprachfassung subsumiert werden können. Diese leichte Abweichung von der deutschen Grenzziehung ist der Mehrsprachigkeit der Gemeinschaftsverträge geschuldet. Die geringe Erweiterung der Auslegung auf Kosten der Rechtsfortbildung praeter pactum spricht nicht dagegen, die grundsätzliche terminologische Unterscheidung aufrechtzuerhalten und das Kriterium der Grenze des möglichen Wortsinns für das Gemeinschaftsrecht zu übernehmen, zumal auch hier, wie im nationalen Recht, die Übergänge letztlich fließend sind.276 Wortsinn bedeutet dann den möglichen Wortsinn aller Sprachfassungen zusammen und erst dort, wo es zu einer Überschreitung des derart verstandenen umfassenden Wortlauts kommt, erreicht man den Bereich der Rechtsfortbildung. Unter Zugrundelegung der weitesten Sprachfassung als Wortsinngrenze lässt sich also an der in der deutschsprachigen Methodenlehre getroffenen Unterscheidung festhalten. Demnach findet Auslegung ihren Ausgangspunkt im Wortlaut der Norm. Man kann sie als methodisch geleitete Ermittlung des Sinngehalts einer Norm verstehen, wobei sich diese im Rahmen des üblichen Wortlauts bewegt, ihre Grenze aber jedenfalls im möglichen Wortsinn der jeweils weitesten Sprachfassung findet. Sie ist eine innerhalb des Wortsinns einer Norm konkretisierende, erklärende und entwickelnde Normdeutung. Was aber nicht einmal mehr vom Wortsinn der weitesten Sprachfassung erfasst wird, kann auch nicht mehr als Auslegung bezeichnet werden. Rechtsfortbildung ist hingegen dann gegeben, wenn konkrete Fälle auf eine Weise entschieden werden, die zwar nicht einmal mehr durch den möglichen Wortsinn der weitesten Sprachfassung einer bestimmten Norm gedeckt wird, die aber dennoch durch gute Gründe, nämlich den Zweck dieser Vorschriften als gerechtfertigt erscheint. Die Rechtsfortbildung kann dabei entweder in einer Ergänzung (Rechtsfortbildung praeter pactum) oder einer Berichtigung jener Rechtsvorschriften bestehen (Rechtsfortbildung contra pactum). Von Rechtsfortbildung contra pactum kann man dann sprechen, wenn die Überschreitung des möglichen Wortsinnes der weitesten Sprachfassung nicht einmal mehr von der Teleologie der Vertragsbestimmung getragen wird. 276

Vgl. hierzu im nationalen Recht etwa Koch/Rüßmann, S. 248.

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Die anfangs aufgeworfene Frage, ob die deutsche Terminologie auf das Gemeinschaftsrecht übertragen werden kann, ist also zu bejahen. Zu beachten ist lediglich, dass eine gewisse Modifikation hinsichtlich der Wortsinngrenze notwendig ist. Hieraus ergibt sich dann die als Abildung 1 im Anhang angefügte schematische Darstellung für die Bereiche der Auslegung, der Rechtsfortbildung praeter legem und der Rechtsfortbildung contra legem, die das in der deutschen Methodenlehre verbreitete Drei-Bereiche-Modell277 auf das Europäische Gemeinschaftsrecht leicht modifiziert überträgt. 3. Das Erfordernis einer Lücke im Europarecht Geht man von der soeben formulierten, auf der deutschen Methodenlehre beruhenden Terminologie und Begriffsbestimmung auch für den EuGH aus, so wird rasch ersichtlich, dass auch im Europarecht die Frage nach der Gesetzes- oder – auf das Primärrecht bezogen präziser – Vertragslücke aufgeworfen werden muss. Auch hier erscheint es sinnvoll, so man denn überhaupt die Möglichkeit der Lückenhaftigkeit der Gemeinschaftsverträge anerkennen möchte, die oben festgelegte Lückendefinition zu übertragen.278 a) Der allgemeine negative Satz im Gemeinschaftsrecht Die Frage nach der Lücke im Gemeinschaftsrecht (von einer solchen kann man nur sprechen, soweit die Rechtsordnung als solche vollständig ist279) stellt sich im Gemeinschaftsrecht etwas anders als im nationalen Recht. Der für dieses bereits verworfene allgemeine negative Satz,280 könnte möglicherweise aufgrund der fehlenden Kompetenzkompetenz der supranationalen Gemeinschaften und des daraus resultierenden Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung zu bejahen sein. Der Streit entzündet sich an der Planwidrigkeit der Unvollständigkeit einer Regelung, hier der Gemeinschaftsverträge. Man könnte sich nämlich auf den Standpunkt stellen, dass aufgrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung und des aus 277 So die h. M.; vgl. ausdrücklich zum Drei-Bereiche-Modell Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 828 f.; Kramer, S. 134; vgl. aber auch Koller, S. 222; Koch/Rüßmann, S. 248, die in ihrer schematischen Darstellung diese Funktionsbereiche der Rechtsprechung unterscheiden. Larenz, Methodenlehre, S. 370 ff., 413 ff. 278 Vgl. dazu bereits oben § 2 A. I. 2. b). 279 Hierauf weist für das Gemeinschaftsrecht H. Kutscher, Methoden der Auslegung, S. I-10 f. zutreffend hin. 280 Zu diesem insbesondere Kelsen, S. 254 ff. Ausführlich hierzu oben § 2 A. I. 2. b) aa).

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dem Völkerrecht stammenden Grundsatzes „in dubio mitius“, der besagt, dass völkerrechtliche Verträge so auszulegen seien, dass Souveränitätsbeschränkungen der Mitgliedstaaten möglichst restriktiv angenommen werden sollen,281 die gesamte Gemeinschaftsrechtsordnung bewusst lückenhaft sei. Damit käme man quasi zu einem allgemeinen negativen Satz des Europarechts, der lauten würde: „Was durch die Mitgliedstaaten der Gemeinschaften nicht ausdrücklich in den Gemeinschaftsverträgen geregelt ist, ist gleichsam negativ mitgeregelt.“

Ungeschriebenes „Recht“ könnte allein aufgrund der Souveränität der Mitgliedstaaten Rechtsqualität erlangen. Sofern die Vertragsstaaten dem ungeschriebenen Recht aber nicht dadurch Geltung verleihen, dass es ausdrücklichen Niederschlag im Wortlaut der Gemeinschaftsverträge gefunden hat, ist die Gemeinschaftsrechtsordnung zwar abgeschlossen, aber nicht lückenhaft. In die vermeintlichen Lücken tritt dann nämlich das nationale Recht und füllt diese aus. Gegen diese Annahme spricht jedoch, dass die Mitgliedstaaten mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht durchaus eine eigenständige und damit letztlich geschlossene (Teil-)Rechtsordnung schaffen wollten.282 Der Grundsatz „in dubio mitius“ kann insoweit nicht verfangen; die Möglichkeit der Rechtssetzung durch Verordnung unmittelbar in den Mitgliedstaaten, ohne das Erfordernis eines Umsetzungsaktes spricht ebenso gegen seine Anwendung auf die Gemeinschaftsverträge, wie die von diesen postulierte fortschreitende Integration, die im Gegenteil eine integrationsfreundliche Auslegung der Verträge verlangt. Dass das Gemeinschaftsrecht prinzipiell eine eigenständige und für seinen Anwendungsbereich vollständige Rechtsordnung bilden will, hat der Europäische Gerichtshof zu Recht betont.283 Der Ablehnung eines bestehenden allgemeinen negativen Satzes innerhalb dieser Ordnung steht auch nicht das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und damit die fehlende Kompetenzkompetenz der Gemeinschaften entgegen. Dieses soll nämlich lediglich verhindern, dass die Gemeinschaftsorgane die Befugnisse der Gemeinschaften eigenmächtig erweitern. Damit 281 Darstellend zur Auslegungsmaxime „in dubio mitius“ etwa Doehring, Völkerrecht, Rn. 393; Heintschel-von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 11Rn. 20. 282 Von einer eigenständigen Rechtsordnung geht der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften jedenfalls seit EuGH, Urt. v. 5.2.1963, RS. 26/62 (van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung), Slg. 1963, 1, 25 („neue Rechtsordnung des Völkerrechts“) aus und hat diese Rechtsprechung in EuGH, Urt. v. 15.7.1964, RS. 6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1964, 1251, 1269 („eigene Rechtsordnung“) noch einmal bestätigt und präzisiert. Siehe zur Eigenständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung auch W. Schroeder, in: v. Bogdandy: Europäisches Verfassungsrecht, S. 407 ff. 283 So ausdrücklich in EuGH, Urt. v. 15.7.1964, RS. 6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1964, 1251, 1269 („eigene Rechtsordnung“).

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trifft es aber keine Aussage darüber, ob dies bedeuten soll, dass sämtliche Kompetenzen, die nicht ausdrücklich den Gemeinschaften übertragen worden sind, den Mitgliedstaaten verbleiben oder ob es nicht doch, vergleichbar den Annexkompetenzen und den Kompetenzen kraft Sachzusammenhangs, implied powers der Gemeinschaften geben kann. Insoweit wird man von der rechtstheoretischen Möglichkeit der Lückenhaftigkeit des Primärund Sekundärrechts auszugehen haben.284 Die Geltung des allgemeinen negativen Satzes im Gemeinschaftsrecht ist aus denselben Gründen abzulehnen wie auch im nationalen Recht. So muss auch hier anerkannt werden, gerade weil das Gemeinschaftsrecht auch unmittelbar für den Bürger wirksame Regelungen treffen kann, dass der allgemeine Gleichheitssatz gegen eine strikte Anwendung eines allgemeinen negativen Satzes spricht. Das Gerechtigkeitspostulat, wesentlich Gleiches gleich zu behandeln, bringt es nun aber mit sich, dass wertungsmäßig offensichtlich gleiche Fälle, von denen der Gesetzgeber jedoch nicht alle positivrechtlich geregelt hat, im Rahmen der Rechtsanwendung den geregelten gleichgestellt werden müssen,285 was auch für das Gemeinschaftsrecht gelten muss. Somit kann auch in der Gemeinschaftsrechtsordnung eine Lücke in den Verträgen oder Sekundärrechtsakten bestehen.286 b) Die Lücke im Gemeinschaftsrecht in Lehre und Praxis Obwohl das soeben erörterte Problem der rechtstheoretischen Möglichkeit einer Lücke im Gemeinschaftsrecht weitestgehend keine Beachtung findet, wird in der Literatur die Lückenhaftigkeit des Gemeinschaftsrechts, soweit sie überhaupt erörtert wird, weitgehend als bestehend anerkannt und zwar sowohl bei Vertretern des germanisch-mitteleuropäischen287 wie auch bei solchen des romanischen288 Rechtskreises. So weisen etwa Hans Kutscher289, aber auch Fréderic Dumon290 ausdrücklich auf dessen Lückenhaf284 Dazu allgemein, ohne auf das hier erörterte Problem einzugehen R. Streinz, in: ders., EUV/EGV, Art. 5 EGV, Rn. 7 ff.; Ch. Callies, in: ders./Ruffert, EUV/ EGV, Art. 5 Rn. 9 ff. 285 Vgl. aus der nationalen Methodenlehre Larenz, Methodenlehre, S. 381; dafür auch Kramer, S. 136. 286 So auch Kutscher, Methoden der Auslegung, S. I-10 ff.; siehe auch Ukrow, S. 103 ff.; D. Feger, Grundrechte, S. 93; Streinz, in: ders., EUV/EGV, Art. 5 EGV, Rn. 7 ff.; Callies, in: ders./Ruffert, EUV/EGV, Art. 5 Rn. 9 ff. 287 Siehe dazu nur J. Sack, EuR 1985, 319 ff.; Ukrow, S. 103 ff.; Kutscher, Methoden der Auslegung, S. I-10 ff. 288 Siehe etwa F. Dumon, S. III-146 ff. 289 Kutscher, Methoden der Auslegung, S. I-10 ff. 290 Dumon, S. III-146 ff.

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tigkeit hin. Dumon arbeitet dabei sogar verschiedene Kategorien an Lücken heraus, die weitgehend der romanischen Rechtstheorie entstammen.291 Untersucht man die Rechtsprechung des Gerichtshofs, so lässt sich feststellen, dass dort teils ausdrücklich teils aber auch indirekt von einer Lücke in den Verträgen oder einer sekundärrechtlichen Regelung gesprochen wird.292 Explizit wird eine Lücke in den Urteilen relativ selten angenommen. Jedoch hat der EuGH in der Rechtssache Europäisches Parlament/Rat zur Befugnis des Parlaments zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage293 wie auch zur Frage der gemeinsamen Marktorganisation für Zucker294 ausdrücklich die Lückenhaftigkeit des Primär- respektive des Sekundärrechts konstatiert. In der Entscheidung Brasserie du Pêcheur und Factortame geht der EuGH, wenn in diesem Falle auch kritisch, darauf ein, ob er mit dem Francovich-Urteil295 eine Lücke im Rechtsschutzsystem des Gemeinschaftsrechts geschlossen habe.296 Aus diesen Urteilen wird ersichtlich, dass auch der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften von der Möglichkeit der Lückenhaftigkeit der Verträge und des Sekundärrechts ausgeht. Häufiger als die ausdrückliche Verwendung des Begriffs der Lücke finden sich in seiner Judikatur sogar noch Formulierungen, die indirekt auf die Anerkennung einer Lücke schließen lassen, wie etwa, dass Vorschriften des Vertrages oder einer sekundärrechtlichen Regelung etwas „nicht ausdrücklich bestimmen“.297 Wenn der Vertrag oder ein Sekundärrechtsakt etwas nicht ausdrücklich bestimmen, so erweisen sie sich als lückenhaft, sofern 291

Siehe Dumon, S. III-146 ff. Auf die augenfällige Zurückhaltung, Lücken im Primärrecht ausdrücklich als solche zu bezeichnen, weist auch Dumon, S. III-146, 151 ff. hin. 293 Vgl. EuGH, Urt. v. 22.5.1990, RS. C-70/88 (Parlament/Rat), Slg. 1990, I-2041, I-2073 (Rn. 26); in Leitsatz 2 des Urteils (S. I-2042) heißt es allerdings lediglich, dass die Verträge hierüber keine Bestimmung enthalten würden. 294 Siehe EuGH, Urt. v. 30.1.1974, RS. 159/73 (Hannoversche Zucker/HZA Hannover), Slg. 1974, 121 (dort LS. 1), 129 (Rn. 4). 295 EuGH, Urt. v. 19.11.1991, verb. RS. C-6/90 und C-9/90 (Francovich u. a.), Slg. 1991, I-5357 ff. 296 Siehe EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-1029, I-1142 (Rn. 18); vgl. auch GA G. Tesauro, Schlussanträge v. 28.11.1995, verb. RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-1066, 1082 (24.). 297 So etwa in EuGH, Urt. v. 5.2.1963, RS. 26/62 (van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung), Slg. 1963, 1, 25 („. . . nicht nur, wenn der Vertrag dies ausdrücklich bestimmt . . .“); siehe auch EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-1029, I-1144 (Rn 27) („Soweit der Vertrag keine Vorschriften enthält, . . .“); ganz deutlich auch EuGH, Urt. v. 12.7.1957, verb. RS. 7/56 und 3/57–7/57 (Algera u. a./Gemeinsame Versammlung), Slg. 1957, 83, 118 („. . . Vertrag keine Vorschriften enthält“). Dort findet sich auch der Hinweis auf das Rechtsverweigerungsverbot. 292

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eine Normierung zu erwarten gewesen wäre. Methodisch erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch das Urteil in der Rechtssache van Gend & Loos, in welchem der EuGH zunächst die Eigenständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung – und damit implizit auch deren Geschlossenheit – herausarbeitet, um dann unmittelbar die Feststellung anzuschließen, dass Rechte des Einzelnen „nicht nur dann [entstehen], wenn der Vertrag dies ausdrücklich bestimmt.“298 Damit wird vom Gerichtshof nämlich – bewusst oder unbewusst – ein Zusammenhang zwischen der rechtstheoretischen Voraussetzung des Bestehens einer Lücke, der Geschlossenheit der Rechtsordnung und der Ausfüllung des unvollständigen Vertrages hergestellt. Wohl nicht umsonst stellt der Gerichtshof also der besagten Passage, aus der die Lückenhaftigkeit des Vertrages hervorgeht, den Satz voran, dass mit dem Gemeinschaftsrecht eine „neue Völkerrechtsordnung“ geschaffen wurde.299 Die Zurückhaltung des Gerichtshofs, ausdrücklich von einer Lücke zu sprechen, mag darin begründet sein, dass der EuGH seine Tätigkeit grundsätzlich als Auslegung begreift.300 In das Bild der Auslegung passt die Formulierung „nicht ausdrücklich geregelt“ nun aber besser als die Bezeichnung einer fehlenden Regelung als Lücke, da die Ausfüllung einer solchen das rechtsschöpferische Element richterlicher Rechtsfortbildung stärker betont, als wenn man etwa von „extensiver Interpretation“ sprechen kann.301 c) Arten von Lücken im Gemeinschaftsrecht Nachdem festgestellt wurde, dass die Lücke im Vertrag bzw. im Sekundärrecht sowohl vom EuGH wie auch von der Lehre für das Gemeinschaftsrecht anerkannt wird, gilt es festzustellen, welche Lückenarten es im Gemeinschaftsrecht geben kann. aa) Dumon Einen Vorschlag zur Unterscheidung von Lückenarten hat Dumon erarbeitet.302 Er möchte zwischen deontologischen303, ideologischen, teleologi298 EuGH, Urt. v. 5.2.1963, RS. 26/62 (van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung), Slg. 1963, 1, 25. 299 EuGH, Urt. v. 5.2.1963, RS. 26/62 (van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung), Slg. 1963, 1, 25. 300 Zu diesem Verständnis seiner Tätigkeit etwa Schweitzer/Hummer, Rn. 451; Beisse, StVj. 1992, 41; Buck, S. 50. 301 Von einer solchen extensiven Interpretation spricht etwa GA W. van der Gerven, Schlussanträge v. 30.11.1989, RS. C-70/88 (Parlament/Rat), Slg. 1990, I-2052, I-2065. 302 Vgl. Dumon, S. III-147.

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schen und ontologischen Lücken differenzieren.304 Dabei greift er einen Vorschlag von Amadeo Conte305 auf. Eine deontologische Lücke im Gemeinschaftsrecht soll dann gegeben sein, wenn die Rechtsordnung dem Sollen, dem was sein muss, nicht gerecht wird.306 Bei der teleologischen Lücke wird die Rechtsordnung sich selbst nicht gerecht. Als (nicht gemeinschaftsrechtliches) Beispiel führt Dumon hier an, dass die Rechtsordnung vorsehe, das Streikrecht sei im Rahmen der einschlägigen Gesetze auszuüben, es aber gerade an diesen fehle. Dieses Fehlen soll eine teleologische Lücke sein.307 Eine ontologische Lücke soll dann vorliegen, wenn die Rechtsordnung dem Sein, dem was ist, also der „unendlichen Vielfältigkeit menschlichen Handelns“ nicht gerecht werde.308 Eine ideologische Lücke nimmt er schließlich dann an, wenn die Rechtsordnung einer Idee, einer Ideologie, also einer „Rechtsidee“309 nicht gerecht werde.310 Dumon fügt diesen auf Conte zurückgehenden Unterscheidungen eine weitere, wie er betont „wesentliche“, Unterscheidung hinzu. Er differenziert nämlich zwischen „Lücke im Recht“ einerseits und „Lücke im Gesetz“ andererseits.311 Dabei nimmt er eine Lücke im Gesetz an, wenn das Gesetz einen bestimmten Sachverhalt nicht regelt, dieser aber durch einen nicht geschriebenen Rechtsgrundsatz, durch Gewohnheitsrecht oder auch durch eine Norm geregelt werde, die aus mehreren Gesetzen abzuleiten sei.312 Hier scheint mir Dumon das Bild der Lücke im Gesetz als planwidrige Unvollständigkeit, wie sie bereits Canaris treffend beschrieben hat,313 vorzuschwe303 Korrekterweise müsste es wohl deontische Lücke heißen, jedoch wird hier die Bezeichnung Dumons, S. III-147, in der Übersetzung des Gerichtshofs übernommen, die eben deontologische Lücke lautet. 304 Siehe Dumon, S. III-147. 305 A. D. Conte, Décision, compétude, clôture, in: Le problème des lacunes en droit, Travaux du Centre National de logique, p. 66 ff. 306 Dumon, S. III-147.; siehe auch Conte, Décision, compétude, clôture, in: Le problème des lacunes en droit, Travaux du Centre National de logique, p. 66 f., dieser aber nicht zum Europarecht. 307 So Dumon, S. III-147. 308 Dumon, S. III-147; Conte, Décision, compétude, clôture, in: Le problème des lacunes en droit, Travaux du Centre National de logique, p. 66 ff. 309 Die (vom EuGH vorgenommene) Übersetzung als Orientierung anhand einer „Rechtsidee“ ist freilich unglücklich, da in der deutschen Rechtswissenschaft hiermit eine bestimmte Vorstellung verbunden ist, vgl. G. Radbruch, Rechtsphilosophie, § 9. 310 Dumon, S. III-147. 311 Dumon, S. III-147. 312 Dumon, S. III-148. 313 Dazu Canaris, Feststellung von Lücken, S. 30. Anzumerken ist freilich, dass bei Canaris, a. a. O., das Bestehen von Gewohnheitsrecht die Annahme einer Lücke ausschließt.

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ben. Dafür sprechen auch die Fälle, durch die er diesen Sachverhalt als dennoch geregelt sieht, weshalb Dumon bei der Lücke im Gesetz nicht wirklich am Begriff der Lücke festhalten möchte. Im nicht geschriebenen Rechtsgrundsatz wie auch in der Ableitung aus mehreren Gesetzen erkennt man nämlich unschwer klassische Instrumente der Lückenschließung, nämlich eben den Rückgriff auf einen allgemeinen Rechtsgrundsatz wie die Gesamtanalogie.314 Unter einer Lücke im Recht versteht Dumon, dass die Rechtsordnung eine bestimmte Regelung nicht enthalte, von der man meint, sie müsse diese aber enthalten. Ob eine solche Lücke im Recht vorliege, sei ein Werturteil.315 Vor diesem Hintergrund kategorisiert er nun die zunächst vorgeschlagenen Lückenarten: deontologische, ontologische und ideologische Lücken seien Lücken im Recht, teleologische hingegen solche im Gesetz.316 Zur Lückenschließung soll der (EuGH-)Richter nur bei Lücken im Gesetz, also teleologischen Lücken berufen sein, während die Ausfüllung von Lücken im Recht dem Gesetzgeber vorbehalten sein soll.317 Insoweit könnte man vielleicht von rechtspolitischen Lücken sprechen,318 wobei deutlich sein muss, dass wirkliche Gesetzeslücken hier nicht vorliegen. Förderlich ist dies nur bedingt, da die Gesetzesordnung oder, bezogen auf das Gemeinschaftsrecht, der jeweilige Vertrag oder Sekundärrechtsakt tatsächlich lückenlos sind. Deren Anwendung ist nämlich möglich, wenn vielleicht auch nicht mit dem politisch gewünschten Ergebnis. Damit wird freilich die zuvor vorgenommene Einteilung der Lückenarten für die richterliche Rechtsfortbildung hinfällig. Eine Ausfüllung durch richterliche Rechtsfortbildung kommt nur bei den teleologischen Lücken in Betracht, weshalb diese Differenzierung nicht gewinnbringend ist. Da vom Vorschlag Dumons zur Einteilung der Lücken im Gemeinschaftsrecht letztlich nur die teleologische Lücke als für die richterliche Rechtsfortbildung von Bedeutung übrigbleibt, deren Beschreibung an Genauigkeit allerdings hinter der Definition von Canaris zurückbleibt, kann er keine Hilfe zur Differenzierung bieten. Er kennt nämlich nur eine Lückenart, welche zur Rechtsfortbildung durch den Richter ermächtigt. Folglich soll dieser explizit zum Gemeinschaftsrecht und der Rechtsprechung des Europäischen Ge314

Zur Gesamtanalogie maßgeblich Larenz, Methodenlehre, S. 383 ff.; zum Rückgriff auf allgemeine Rechtsgrundsätze siehe etwa Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 481 m. w. N. 315 So Dumon, S. III-148. 316 Vgl. Dumon, S. III-147 f. 317 Ausdrücklich Dumon, S. III-148. 318 Von einer rechtspolitischen Lücke, bzw. einem rechtspolitischen Akt der Lückenfeststellung spricht etwa Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 873 ff., dem wohl ähnliche Fälle vorschweben wie auch Dumon, S. III-147 ff.

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richtshofs formulierte Vorschlag zur Unterscheidung von Lückenarten nicht übernommen werden, da er nicht zu überzeugen vermag. bb) Versuch zur Einteilung von Lücken im Gemeinschaftsrecht Weitere Vorschläge für die Qualifizierung von Lücken ausdrücklich zum Gemeinschaftsrecht fehlen in der Literatur weitgehend. Über die Feststellung hinaus, dass es Lücken in den Verträgen und den Rechtsakten der Gemeinschaften geben könne, finden sich hier keine weitergehenden Erörterungen.319 Im Folgenden soll daher versucht werden herauszufinden, ob sich die in der deutschen Methodenlehre als sinnvoll erachteten Lückenarten in der Judikatur des EuGH wiederfinden und ob deren Übertragung auch für das Gemeinschaftsrecht sinnvoll erscheint. (1) Bereichslücken (Gebietslücken) Relativ offensichtlich scheint mir zu sein, dass es im Gemeinschaftsrecht Bereichs- oder auch Gebietslücken gibt, d.h. Rechtsmaterien zu denen positive Regelungen fehlen, auch wenn es sie eigentlich geben müsste. Als Beispiel kann hier das Dienstrecht der Europäischen Gemeinschaften angeführt werden. So enthält der EG-Vertrag keine inhaltlichen Aussagen zum europäischen Dienstrecht.320 Das Europäische Beamtenstatut321 und die Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften322 enthalten zwar einige Detailregelungen, aber weder grundrechtliche Verbürgungen, die auch im Beamtenverhältnis gelten müssen, noch sonstige allgemeine Verwaltungsgrundsätze, an denen sich die Gemeinschaften ihren Bediensteten gegenüber messen lassen müssen.323 Eine so weitgehende Abwesenheit rechtlicher Regelungen kann man als Bereichslücke qualifizieren, da im Prinzip weite Teile des Dienstrechts nicht normativ gefasst sind. Dies wird daran deutlich, dass der EuGH das 319 Selbst bei Ukrow, S. 68 f. finden sich nur Erläuterungen zu den Arten richterlicher Rechtsfortbildung, nicht zu den Lücken. 320 Vgl. auch D. Rogalla, S. 53. 321 Verordnung (EWG, Euratom, EGKS) Nr. 259/68 des Rates v. 29.2.1968, 1. Teil: Statut der Beamten, Abl. L 056, S. 1–7, v. 4.3.1968. Mit 1.52004 trat das neue Beamtenstatut für Bedienstete der Institutionen der Europäischen Union in Kraft. 322 Verordnung (EWG, Euratom, EGKS) Nr. 259/68 des Rates v. 29.2.1968, 2. Teil: Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten, Abl. L 056, S. 1–7, v. 4.3.1968. Siehe dazu die Änderungsverordnung (EG, EGKS, Euratom) Nr. 490/2002 des Rates v. 18. März, Abl. L 077, S. 1, v. 20.3.2002. 323 So auch Rogalla, S. 53.

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Beamtenrecht weitgehend aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen abgeleitet hat.324 Neben öffentlich-rechtlichen Prinzipien wie dem Gleichbehandlungsgrundsatz,325 hat der Gerichtshof vereinzelt auch das zivilrechtliche Gebot von Treu und Glauben326 sowie arbeitsrechtliche Grundsätze aus dem Recht der Mitgliedstaaten herangezogen327, um die Bereichslücke „Dienstrecht der Europäischen Gemeinschaften“ zu schließen. Am Dienstrecht der Gemeinschaften wird also deutlich, dass es im Gemeinschaftsrecht Bereichslücken gibt, so dass diese „Lückenart“ auch für das Gemeinschaftsrecht und dessen Rechtsfortbildung übernommen werden kann. Mittlerweile ist für die Rechtsfortbildung in diesem Bereich freilich nicht mehr primär der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, sondern aufgrund der Zuständigkeitsverteilung das Gericht Erster Instanz aufgerufen. Allerdings hat auch der EuGH eine (letztentscheidende) Zuständigkeit für das Dienstrecht (vgl. Art. 336 EG; Art. III-372 VVE).328 Aber auch andere Bereiche, zu deren Ausfüllung richterliche Rechtsfortbildung des EuGH maßgeblich beigetragen hat und die noch weitaus bekannter sind als das Dienstrecht, sind hier zu nennen. So ist zum einen an die Entwicklung eines nahezu vollständigen Grundrechtekatalogs im Rahmen des EG-Vertrages zu denken, die durch die Rechtsprechung betrieben wurde und nunmehr Eingang in die rechtlich noch unverbindliche EU-Grundrechtecharta sowie in den (noch) nicht in Kraft getretenen Vertrag über eine Verfassung für Europa (Abschnitt II) gefunden hat.329 An solchen Regelungen fehlte es zuvor vollends, so dass der gesamte Bereich der Grundrechte nicht normativ gefasst war (und es heutzutage – sieht man von Art. 6 Abs. 2 EUV ab – letztlich noch immer nicht ist), weshalb man auch hier von einer Bereichslücke sprechen kann. 324 Vgl. dazu etwa EuGH, Urt. v. 18.3.1975, verb. RS. 44, 46 und 49/75 (Acton/ Kommission), Slg. 1975, 383 (LS. 2); EuGH, Urt. v. 16.3.1971, RS. 48/70 (Bernardi/Europäisches Parlament), Slg. 1971, 175, 185 (Rn. 25/27); siehe auch Rogalla, S. 53. 325 Etwa in EuGH, Urt. v. 16.3.1971, RS. 48/70 (Bernardi/Europäisches Parlament), Slg. 1971, 175, 185 (Rn. 25/27). 326 So in EuGH, Urt. v. 15. Juli 1960, verb. RS. 43, 45 und 48/59, (Lachmüller u. a./Kommission), Slg. 1960, 969, 986. 327 Vgl. EuGH, Urt. v. 18.3.1975, verb. RS. 44, 46 und 49/75 (Acton/Kommission), Slg. 1975, 383. 328 J. Sack, EuZW 2001, 77 ff.; K. Brandt, JuS 1994, 300 ff.; H. Kirschner/ K. Klüpfel, Das Gericht Erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften, passim; umfassend auch A. Middeke, in: Rengeling/ders./Gellermann, S. 35 ff. 329 Siehe etwa Bernsdorff/Borowsky, DRiZ 2005, 188 ff., die die Entwicklung der Grundrechtsrechtsprechung des EuGH bis zum Vertrag über eine Verfassung für Europa darstellen.

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Zum anderen ist – für den Bürger ebenfalls von eminenter Bedeutung – durch den Gerichtshof ein Staatshaftungsanspruch der Unionsbürger gegen die Mitgliedstaaten für die Verletzung von Gemeinschaftsrecht entwickelt worden.330 Auch für diese mitgliedstaatliche Staatshaftung ließ und lässt sich dem EG-Vertrag keine Regelung entnehmen, so dass es sich hierbei um eine Bereichslücke handelt, ist doch der ganze damit zusammenhängende Fragenkomplex unnormiert geblieben. (2) Vertragslücken (Gesetzeslücken) Orientiert man sich weiter am Maß der Unvollständigkeit, so erscheint es im Europäischen Gemeinschaftsrecht des weiteren sinnvoll, neben der Bereichs- oder Gebietslücke auch die Gesetzeslücke als Lückenart anzuerkennen, die dann anzunehmen ist, wenn im Vertrag oder in einem Gesetz (Rechtsakt der Gemeinschaft) eine, vom Wertungsplan der Gesetzgebung aus betrachtet erforderliche, Regelung fehlt.331 Als Beispiel für die Ausfüllung einer solcher Gesetzeslücke – im Primärrecht spricht man wohl besser von Vertragslücke – kann die Rechtsprechung des EuGH zur Beteiligtenfähigkeit in europäischen Gerichtsverfahren dienen.332 So wurde das Klagerecht des Europäischen Parlaments schrittweise durch die Rechtsprechung ausgebaut, da die anfangs nur begrenzte Klagebefugnis nicht mehr mit der bedeutsamen (demokratischen) Stellung desselben zu vereinbaren sei. Zur Klagebefugnis des Europäischen Parlaments stellte der EuGH fest: „Das Fehlen einer Bestimmung in den Verträgen, die das Recht des Parlaments zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage vorsieht, mag eine verfahrensrechtliche Lücke darstellen, . . .“333

Art. 173 EWGV bzw. Art. 146 EAGV sahen zu diesem Zeitpunkt nämlich noch nicht vor, dass dem Parlament die Befugnis zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage zustand. Hier wurde eine einzelne Vertragsbestimmung als nicht weitreichend genug angesehen und im Wege der Rechtsfortbildung erweitert, 330 Vgl. dazu etwa die bahnbrechende Entscheidung EuGH, Urt. v. 19.11.1991, verb. RS. C-6/90 und C-9/90 (Francovich u. a.), Slg. 1991, I-5357, I-5414 (Rn. 33 ff.); vgl. auch das präzisierende Urteil EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-4845, I-4879 (Rn. 20). 331 So für das nationale Recht zu den Gesetzeslücken Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 844. 332 Vgl. etwa die Urteile EuGH, Urt. v. 23.4.1986, RS. 294/83 (Les Verts/Parlament), Slg. 1986, 1339 ff.; EuGH, Urt. v. 22.5.1990, RS. C-70/88 (Parlament/ Rat), NJW 1990, 1899 f. 333 EuGH, Urt. v. 22.5.1990, RS. C-70/88 (Parlament/Rat), NJW 1990, 1899, 1900 (Rn. 26).

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so dass man von einer Vertragslücke sprechen konnte. Aber nicht nur hinsichtlich der Klagebefugnis, sondern auch hinsichtlich der Beklagtenstellung des Parlaments im Vertragsverletzungsverfahren hat der Gerichtshof das Parlament zum möglichen Beteiligten erklärt.334 In einem Verfahren über einen Rechtsakt des Parlaments, führte der EuGH aus, dass hier der Vertrag schweige, eine Beteiligtenfähigkeit des Parlaments als Klagegegner aber dennoch anzunehmen sei.335 Wiederum ging es hier um eine Fortbildung des Art. 173 EWGV. Der EuGH spricht in diesem Zusammenhang auch das Rechtsverweigerungsverbot an,336 was auf eine Lückenhaftigkeit des Vertrages hinweist und damit die Aufgabe zur richterlichen Rechtsfortbildung bedeutet. Im Zuge der Vertragsrevisionen haben die Parteien die Rechtsprechung des Gerichtshofs allerdings Stück für Stück nachvollzogen, um dem Europäischen Parlament schließlich im Vertrag von Nizza die Stellung eines privilegiert klagebefugten Organs zuzuweisen (Art. 230 Abs. 2 EGV; Art. III-365 Abs. 2 VVE),337 so dass diese Lücke im Vertrag durch die Vertragsparteien selbst beseitigt worden ist. Folglich kann man die Begriffe der Vertrags- oder Gesetzeslücke auch im Gemeinschaftsrecht verwenden. (3) Normlücke Eine Normlücke, wie sie sich in § 904 S. 2 BGB findet,338 habe ich im Gemeinschaftsrecht nicht entdecken können, auch ist mir kein Fall aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften bekannt, in dem eine solche erörtert werden würde. Undenkbar, dass es eine solche (theoretisch) geben kann, ist es aber freilich nicht. (4) Teleologische Lücken bzw. Ausnahmelücken Im Gemeinschaftsrecht finden sich auch teleologische bzw. Ausnahmelücken, d.h. solche, wo die Vertragsparteien oder auch der Gemeinschafts334 EuGH, Urt. v. 23.4.1986, RS. 294/83 (Les Verts/Parlament), Slg. 1986, 1339, 1363 (Rn. 21 f.). 335 So EuGH, Urt. v. 23.4.1986, RS. 294/83 (Les Verts/Parlament), Slg. 1986, 1339, 1363 (Rn. 21 f.). 336 Vgl. EuGH, Urt. v. 23.4.1986, RS. 294/83 (Les Verts/Parlament), Slg. 1986, 1339, 1363 (Rn. 21 f.). 337 Siehe nur Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 377 unter Verweis auf den damals noch nicht in Kraft getretenen Vertrag von Nizza. 338 Dazu etwa Larenz, Methodenlehre, S. 372 ff.; ähnlich bereits Zitelmann, S. 27 ff., der diese Form der Lücke als „echte“ bezeichnet; so auch Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 473, der von logischen Lücken spricht; bei Kramer, S. 141, werden diese Lücken als „offene“ (praeter verba legis) bezeichnet.

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gesetzgeber eine an sich vollständige Regelung formuliert haben, dabei aber Sachverhalte übersehen haben, die nach Sinn und Zweck nicht von der Regelung erfasst sein können, diese also zu weit fassen, bzw. eine Ausnahmebestimmung zu schaffen vergessen haben.339 Deshalb ist der Begriff Ausnahmelücke vorzuziehen, zudem dann keine Verwechslungsgefahr mit den teleologischen Lücken nach dem Verständnis von Dumon entstehen kann. Einen Ansatz hierfür, dem der EuGH allerdings letztlich nicht gefolgt ist, bietet die Argumentation des Generalanwalts Walter van der Gerven zur Klagebefugnis des Europäischen Parlaments.340 In seinen Schlussanträgen, als es um die Frage ging, auf welche Bestimmung die Klagebefugnis zu stützen sei – Art. 173 Abs. 1 oder 173 Abs. 2 EWGV – führte er aus, er vermöge nicht einzusehen, warum eine einschränkende Auslegung von Art. 173 Abs. 1 EWGV problematischer sein solle, als eine extensive Auslegung von Art. 173 Abs. 2 EWGV, wie sie der Gerichtshof vorgenommen habe.341 Hieraus wird deutlich, dass van der Gerven in der fehlenden Klagebefugnis des Parlaments eine Ausnahmelücke sah, die durch eine einschränkende Auslegung, also mittels einer teleologischen Reduktion, geschlossen werden sollte.342 Das von van der Gerven gewählte Vorgehen zur Schließung der damals noch existenten Lücke hinsichtlich der Klagebefugnis des Parlaments war sicherlich ebenso vertretbar wie der schließlich vom EuGH gewählte Weg der Ausdehnung des Art. 173 Abs. 2 EWGV, nur dass der Generalanwalt die Lücke in Art. 173 Abs. 1 EWGV verortete und als Ausnahmelücke einstufte, während der Gerichtshof eine Vertragslücke annahm. (5) Anfängliche (primäre) und nachträgliche (sekundäre) Lücken Eine weitere Möglichkeit, Lückenarten zu unterscheiden bestand darin, nach dem Entstehungszeitpunkt der planwidrigen Unvollständigkeit zu differenzieren, wobei dann von anfänglichen und nachträglichen Lücken gesprochen werden kann. Bei anfänglichen Lücken war das Problem bereits bei Erlass der Regelung vorhanden, der Sachverhalt wurde aber vom Normgeber übersehen 339 Zu den teleologischen bzw. Ausnahmelücken Kramer, S. 143, Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 474. 340 Vgl. GA v. d. Gerven, Schlussanträge v. 30.11.1989, RS. C-70/88 (Parlament/ Rat), Slg. 1990, I-2052, I-2065 (19.). 341 Siehe v. d. Gerven, Schlussanträge v. 30.11.1989, RS. C-70/88 (Parlament/ Rat), Slg. 1990, I-2052, I-2065 (19.). 342 So wird man v. d. Gerven, Schlussanträge v. 30.11.1989, RS. C-70/88 (Parlament/Rat), Slg. 1990, I-2052, I-2065 (19.) wohl verstehen müssen.

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oder auch bewusst nicht mitgeregelt.343 Als Beispiel hierfür kann im Gemeinschaftsrecht das Staatshaftungsrecht angeführt werden. Der EuGH hat die Haftung der Mitgliedstaaten gegenüber den Unionsbürgern für eine Verletzung des Gemeinschaftsrechts im Wege richterlicher Rechtsfortbildung begründet.344 Mittlerweile hat der Gerichtshof die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung zu einem die gemeinschaftsrechtswidrigen Handlungen sämtlicher Staatsgewalten umfassenden Anspruch ausgebaut.345 Sofern man im Staatshaftungsrecht überhaupt eine Lücke im EG-Vertrag sehen will,346 kann man sie wohl als primäre bezeichnen. Die vom Gerichtshof für die Notwendigkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Haftung der Mitgliedstaaten angeführten Gründe, nämlich die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts (effet utile)347 wie auch der Schutz des Einzelnen,348 besaßen nämlich von Inkrafttreten der Verträge an dieselbe Berechtigung wie zum Zeitpunkt der Francovich-Entscheidung, bestanden also von Anfang an. Auch war die Möglichkeit der Verletzung von Gemeinschaftsrecht schon bei Abschluss der Verträge bekannt, wie die Einführung eines Vertragsverletzungsverfahrens (Art. 226, Art. 227 EGV) belegt. Die Kenntnis, dass durch die Nichtoder nicht fristgerechte Umsetzung etwa von Richtlinien auch bei Privaten Schäden entstehen können, wurde dennoch nicht zum Anlass genommen, 343

Ähnlich Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 859 f.; darstellend auch Canaris, Feststellung von Lücken, S. 135. 344 Siehe vor allem EuGH, Urt. v. 19.11.1991, verb. RS. C-6/90 und C-9/90 (Francovich u. a.), Slg. 1991, I-5357, I-5414 (Rn. 33 ff.); vgl. auch das präzisierende Urteil EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-4845, I-4879 (Rn. 20). Vgl. zur weiteren Entwicklung etwa F. Ossenbühl, DVBl. 1992, S. 993 ff.; H. Krieger, JuS 2004, 855, 856; J. Bröhmer, JuS 1997, 117, 118; kritisch äußert sich T. v. Danwitz, DVBl. 1997, 1 ff.; das Schrifttum zum Staatshaftungsrecht – auch das monographische – ist kaum zu überblicken. 345 Dies stellt Krieger, JuS 2004, 855, 856 zu EuGH, Urt. v. 30.9.2003, RS. C-224/01 (Köbler/Österreich), Slg. 2003, I-10239, I-10305 ff. (Rn. 33 ff.) zutreffend fest. 346 So hat die deutsche Bundesregierung zu den verb. RS. 46/93 und 48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame) vorgetragen, dass ein allgemeiner Entschädigungsanspruch nur im Wege der Gesetzgebung eingeführt werden könne, vgl. Slg. 1996, I-1029, I-1143 (Rn. 24). M. E. stellt die deutsche Bundesregierung (im Ergebnis zu Unrecht) auf eine Grenze der Rechtsfortbildungsbefugnis des EuGH ab. 347 Deren Bedeutung streicht der Gerichtshof klar heraus, vgl. EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. RS. C-46/93 und C- 48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-1029, I-1142 (Rn. 20); siehe aber auch EuGH, Urt. v. 8.10.1996, verb. RS. C-178/94, C-179/94, C-188–190/94 (Dillenkofer u. a.), Slg. 1996, I-4845, I-4879 (Rn. 22). 348 Vgl. zu diesem Begründungsstrang EuGH, Urt. v. 23.5.1996, RS. C-5/94 (Hedley Lomas), Slg. 1996, I-2553, I-2554 (LS. 3); vgl. auch EuGH, Urt. v. 26.3.1996, RS. C-392/93 (British Telecommunications), Slg. 1996, I-1631, I-1668 (Rn. 39).

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hierfür Vorkehrungen in Form eines Staatshaftungsanspruchs zu schaffen. Damit handelt es sich beim Staatshaftungsrecht um eine anfängliche Lücke. Nachträgliche Lücken entstehen erst nach Erlass des Rechtsakts aufgrund einer Änderung der tatsächlichen Gegebenheiten oder auch den der Rechtsordnung immanenten Wertungen.349 Ein schönes Beispiel hierfür bietet wiederum das Klagerecht des Europäischen Parlaments nach Art. 173 EWGV. 1976 kam es zu Einigung der Staats- und Regierungschefs, die von Art. 130 Abs. 3 EWGV a. F. vorgesehenen Direktwahlen zum Europäischen Parlament einzuführen.350 Durch diese unmittelbare demokratische Legitimation – zuvor bestand das Europäische Parlament aus von den nationalen Parlamenten entsandten Vertretern – wuchs die politische Bedeutung des Parlaments, weshalb es auch konsequent war, dieser gewachsenen Bedeutung durch eine (richterrechtliche) Anpassung der Klagebefugnis im institutionellen Gefüge der Gemeinschaften gerecht zu werden.351 Hier zeigt sich, dass die tatsächliche und rechtliche Aufwertung des Parlaments nach dem Inkrafttreten der Gründungsverträge eine Lücke im Rechtsschutzsystem der Gemeinschaften bewirkte, die man deshalb als nachträgliche oder sekundäre bezeichnen kann. (6) Schlussbetrachtung zu den Lückenarten Nach einer Analyse der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zu den Bereichen, in denen er rechtsfortbildend tätig geworden ist, lässt sich feststellen, dass die auch in der deutschen Methodenlehre gebräuchlichen Differenzierungen zwischen Lücken sich auch in der Judikatur des Gerichtshofs wiederfinden. Dies ist zwar nicht auf ausdrückliche Äußerungen des Gerichtshofs zurückzuführen, der sich – insoweit der romanischen Urteilstradition folgend – hinsichtlich methodischer Begründungen stark zurückhält, lässt sich aber wie gezeigt, dennoch nachweisen. d) Zwischenergebnis Hinsichtlich des Rechtsfortbildungserfordernisses der Lücke im Gemeinschaftsrecht ist festzuhalten, dass dieses sowohl in der Judikatur des Ge349

So erläuternd Canaris, Feststellung von Lücken, S. 135; siehe auch sehr ähnlich mit umfangreichen Erläuterungen Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 861 ff. 350 Ein Abriss über die historische Entwicklung findet sich bei M. Hilf, EuR 1990, 273 ff.; M. de la Peña Romo García, Historio del Parlamento Europeo 1950–2000, passim; Oppermann, Europarecht, § 1 Rn. 36. 351 Darauf zielt auch der EuGH im ersten Leitsatz seiner Entscheidung EuGH, Urt. v. 22.5.1990, RS. C-70/88 (Parlament/Rat), Slg. 1990, I-2041 hin, wenn er dort das institutionelle Gleichgewicht betont.

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richtshofs352 wie auch im Schrifttum353 Anerkennung gefunden hat. Auch lässt sich für das Gemeinschaftsrecht aus dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, das in Art. 5 Abs. 1 EGV verankert ist,354 kein gegen eine solche Lückendoktrin sprechender allgemeiner negativer Satz im kelsenschen Sinne355 ableiten. Da sich die Gemeinschaftsrechtsordnung zudem als prinzipiell vollständige Rechtsordnung versteht,356 ist von der rechtstheoretischen Möglichkeit der Lückenhaftigkeit der Gemeinschaftsverträge oder von Sekundärrechtsakten auszugehen. Tatsächlich spricht der Gerichtshof in einigen Urteilen ausdrücklich oder implizit von Lücken im Vertrag. Zur Festlegung von Lückenarten kommen im Gemeinschaftsrecht verschiedene, auch von der deutschen Methodenlehre vorgenommene Differenzierungen in Betracht, die sich auch anhand von Beispielen, wie etwa den fehlenden Grundrechten als Bereichslücke, aufzeigen lassen. 4. Exkurs: Beispiele für richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH Nachdem die Begrifflichkeiten und die Lückenproblematik behandelt wurden, sollen nunmehr in diesem Abschnitt beispielhaft einige Fälle vorgestellt werden, in denen der EuGH rechtsfortbildend tätig geworden ist. Dabei soll jeweils die Entwicklung der Rechtsprechung kurz nachgezeichnet werden und die Lückenhaftigkeit des Vertrages dargetan werden. 352 Vgl. EuGH, Urt. v. 22.5.1990, RS. C-70/88 (Parlament/Rat), Slg. 1990, I-2041, I-2073 (Rn. 26); in Leitsatz 2 des Urteils (S. I-2042) heißt es allerdings lediglich, dass die Verträge hierüber keine Bestimmung enthalten würden. Siehe auch EuGH, Urt. v. 30.1.1974, RS. 159/73 (Hannoversche Zucker/HZA Hannover), Slg. 1974, 121 (dort LS. 1), 129 (Rn. 4); EuGH, Urt. v. 5.2.1963, RS. 26/62 (van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung), Slg. 1963, 1, 25 („. . . nicht nur, wenn der Vertrag dies ausdrücklich bestimmt . . .“); siehe auch EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-1029, I-1144 (Rn 27) („Soweit der Vertrag keine Vorschriften enthält, . . .“); ganz deutlich auch EuGH, Urt. v. 12.7.1957, verb. RS. 7/56 und 3/57–7/57 (Algera u. a./ Gemeinsame Versammlung), Slg. 1957, 83, 118 („. . . Vertrag keine Vorschriften enthält“). 353 Sack, EuR 1985, 319 ff.; Ukrow, S. 103 ff.; Kutscher, Methoden der Auslegung, S. I-10 ff.; Dumon, S. III-146 ff. 354 Siehe dazu etwa Callies, in: ders./Ruffert, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rn. 1. 355 Zum allgemeinen negativen Satz insbesondere Kelsen, S. 254 ff. 356 Von einer eigenständigen Rechtsordnung geht der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften jedenfalls seit EuGH, Urt. v. 5.2.1963, RS. 26/62 (van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung), Slg. 1963, 1, 25 („neue Rechtsordnung des Völkerrechts“) aus und hat diese Rechtsprechung in EuGH, Urt. v. 15.7.1964, RS. 6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1964, 1251, 1269 („eigene Rechtsordnung“) noch einmal bestätigt und präzisiert.

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a) Vorrang des Gemeinschaftsrechts Einer der wichtigsten Fälle, in denen der EuGH rechtsfortbildend tätig geworden ist, betrifft den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor den nationalen Rechtsordnungen.357 In der Tat lassen sowohl der EG-Vertrag als auch der EAG-Vertrag diese Frage unbeantwortet und sind insoweit lückenhaft. Zentral für die – von Oppermann358 als „genuin europarechtlich“ bezeichnete – Lösung der Vorrangfrage ist das Begreifen des Gemeinschaftsrechts als eigenständige Rechtsordnung mit einer autonomen Gemeinschaftsgewalt. Dieser Grundidee des Vorrangs hat der EuGH bereits 1963 zum Durchbruch verholfen.359 Was schon bei van Gend & Loos360 anklingt, findet seine klassische Formulierung in der Rechtssache Costa/ E.N.E.L., in der es heißt, „daß dem vom Vertrag geschaffenen und somit aus einer eigenen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser Eigenständigkeit keine wie immer gearteten Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll.“361 Aus dieser Passage ergibt sich, dass die Eigenständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung und deren Vorrang zusammenhängen, weshalb sowohl das primäre wie auch das sekundäre Gemeinschaftsrechts Vorrang genießen.362 Der Gerichtshof begründet dies mit der besonderen Struktur des Gemeinschaftsrechts. Im Urteil Simmenthal II hat er dies näher erläutert. Danach haben Rechtsakte der Gemeinschaft „nicht nur zur Folge, daß allein durch ihr Inkrafttreten jede entgegenstehende Bestimmung des geltenden staatlichen Rechts ohne weiteres unanwendbar wird, sondern auch, dass ein wirksames Zustandekommen neuer staatlicher Gesetzgebungsakte insoweit verhindert wird, als sie mit Gemeinschaftsnormen unvereinbar wä357 Die Vorrangfrage hat in der Literatur zu zahllosen Beiträgen geführt, vgl. aus dem deutschen Schrifttum etwa U. Everling, DVBl. 1985, 1201 ff.; C. O. Lenz, DVBl. 1990, 903 ff.; zur Literatur aus der Zeit nach dem Maastricht-Urteil des BVerfG vgl. C. O. Lenz, NJW 1993, 3038 ff.; R. Streinz, EuZW 1994, 329 ff.; ders., FS Söllner, S. 1139 ff.; Oppermann, Europarecht, § 7 Rn. 1 ff.; zu Frankreich siehe M. Fromont, DÖV 1995, 481 ff.; ders., FS Börner, S. 77 ff.; zu den Beneluxstaaten P. Pescatore, EuR 1970, 307 ff.; zu Österreich, H. Schäffer, DÖV 1994, 181 ff. 358 Oppermann, Europarecht, § 7 Rn. 2. 359 Mit der Entscheidung EuGH, Urt. v. 5.2.1963, RS. 26/62, (van Gend & Loos), Slg. 1963, 1, 25. So auch die Einschätzung von Oppermann, Europarecht, § 7 Rn. 3; Everling, DVBl. 1985, 1201 lässt die Entwicklung ein Jahr später mit Costa/E.N.E.L. beginnen. 360 EuGH, Urt. v. 5.2.1963, RS. 26/62, (van Gend & Loos), Slg. 1963, 1, 25. 361 So EuGH, Urt. v. 15.7.1964, RS. 6/64 (Costa/E.N.E.L.), Slg. 1964, 1251, 1257. 362 So auch Lenz, DVBl. 1990, 903, 905 ff.; Everling, DVBl. 1985, 1201 f.; Oppermann, Europarecht, § 7 Rn. 3.

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ren.“363 Der EuGH lässt also keinen Zweifel daran, dass der Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber nationalem Recht gleich welcher Rangstufe gilt und insoweit auch der „lex posterior“-Grundsatz nicht zugunsten des nationalen Rechts greift.364 Ausgehend von van Gend & Loos365 und Costa/E.N.E.L.366 über Internationale Handelsgesellschaft,367 Simmenthal II368 und Schaffleisch369 hat der Gerichtshof den Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts, der im Kollisionsfalle entgegenstehendes nationales Recht ohne weiteres unanwendbar macht, immer weiter bekräftigt und ausgebaut. Die Rechtsfortbildung des Europäischen Gerichtshofs ist in den Mitgliedstaaten weitgehend auf Akzeptanz gestoßen,370 wenn auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Maastricht-Entscheidung einen gewissen unantastbaren Verfassungsbereich angemahnt hat.371 b) Grundrechte Einen weiteren zentralen Bereich, in welchem der EuGH rechtsfortbildend tätig geworden ist, bilden die Gemeinschaftsgrundrechte.372 Deren Ausformung und inhaltliche Ausgestaltung geht im Wesentlichen auf die Rechtsprechung des EuGH zurück und hat sich in der EU-Grundrechtecharta bzw. Teil II des Vertrages über eine Verfassung für Europa niedergeschlagen. Zunächst soll die allgemeine richterrechtliche Entwicklung der Grundrechtsidee im Gemeinschaftsrecht nachgezeichnet werden [aa)], bevor die Rechtsfortbildung anhand einzelner Grundrechte beispielhaft verdeutlicht wird [bb)].373 363 Vgl. EuGH, Urt. v. 9.3.1978, RS. 106/77 (Staatliche Finanzverwaltung/Simmenthal), Slg. 1978, 629, 643 (Rn. 17/18). 364 Ebenso Oppermann, Europarecht, § 7 Rn. 3. 365 EuGH, Urt. v. 5.2.1963, Rs.26/62 (van Gend & Loos), Slg. 1963, 1, 25. 366 EuGH, Urt. v. 15.7.1964, RS. 6/64 (Costa/E.N.E.L.), Slg. 1964, 1251 ff. 367 EuGH, Urt. v. 17.12.1970, RS. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide), Slg. 1970, 1125 ff. 368 EuGH, Urt. v. 9.3.1978, RS. 106/77 (Staatliche Finanzverwaltung/Simmenthal), Slg. 1978, 629, 643 (insbes. Rn. 17/18; 21/23). 369 EuGH, Urt. v. 25.9.1979, RS. 232/78 (Kommission/Frankreich), Slg. 1979, 2729 ff. 370 Siehe exemplarisch Everling, DVBl. 1985, 1201, 1202 ff.; P. Kirchhof, KASAuslandsinformationen 08/1997, 12 ff.; Pescatore, EuR 1970, 307 ff.; Schäffer, DÖV 1994, 181, 183 ff.; Fromont, DÖV 1995, 481 ff. 371 Vgl. BVerfGE 89, 155, 188. 372 So die allg. Meinung siehe nur T. Kingreen, JuS 2000, 857 ff.; Lenz, EuGRZ 1993, 585 ff. m. w. N.

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aa) Entwicklung des Grundrechtsschutzes durch den EuGH In seinen frühen Entscheidungen hat der EuGH es abgelehnt, Akte der Gemeinschaften an den (nationalen) Grundrechten zu messen, wodurch er den Anschein erweckt hat, dass gegenüber diesen kein Grundrechtsschutz bestehe.374 Bei genauerer Betrachtung der Judikatur des Gerichtshofs ist aber festzustellen, dass er bereits in einigen dieser frühen Urteilen gewisse rechtsstaatliche Prinzipien als dem Gemeinschaftsrecht innewohnende allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannt und daraus grundrechtlich verbürgte Verfahrensgarantien abgeleitet hat.375 Den entscheidenden Schritt in seiner Grundrechtsrechtsprechung hat der EuGH in einem obiter dictum in der Rechtssache Stauder gemacht. Dort hat der EuGH zum ersten Mal postuliert, dass in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung er zu sichern habe, Grundrechte der Person enthalten seien.376 Eine dogmatische Herleitung der Grundrechte in der Gemeinschaftsrechtsordnung findet sich in diesem Urteil jedoch noch nicht.377 Wenig später hat der Gerichtshof dann allerdings in der Entscheidung zur Rechtssache „Internationale Handelsgesellschaft“ eine Begründung zur Geltung der Grundrechte in der Gemeinschaftsrechtsordnung geliefert, wenn er ausführt: „Die einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts würde beeinträchtigt, wenn bei der Entscheidung über die Gültigkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane Normen oder Grundsätze des nationalen Rechts herangezogen werden würden. Die Gültigkeit solcher Handlungen kann nur nach dem Gemeinschaftsrecht beur373 Einen umfassenden Überblick über sämtliche Grundrechte, der hier schon aus Platzgründen nicht gegeben werden kann, bieten etwa D. Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, passim; H. D. Jarass, EU-Grundrechte, passim. 374 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 4.2.1959, RS. 1/58 (Stork/Hohe Behörde), Slg. 1959, 43, 63 f.; EuGH, Urt. v. 15.7.1960, verb. RS. 36–38/59 und 40/59 (Ruhrkohleverkaufsgesellschaft u. a./Hohe Behörde), Slg. 1960, 885, 920 f.; diese Einschätzung teilen auch T. Kingreen, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 24; A. Epiney, in Bieber/Dies./Haag, § 2 A Rn. 10; U. Everling, Der Beitrag des Europäischen Gerichtshofs zur europäischen Grundrechtsgemeinschaft, S. 167, 168; siehe auch E. Chwolik-Lanfermann, S. 49; C. Walter, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 1 Rn. 20. Zur Entwicklung europäischer Grundrechte durch den EuGH siehe auch A. Bleckmann, DVBl. 1978, 457 ff.; C. O. Lenz, EuGRZ 1993, 585 ff. 375 So Kingreen, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 24; ähnl. ders., JuS 2000, 857; ebenso Lenz, EuGRZ 1993, 585;einen Überblick über die frühere Rechtsprechung gibt R. Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 47 ff.; ähnl. auch Chwolik-Lanfermann, S. 49; D. Feger, DÖV 1987, 322, 326. Zur Dogmatik der Grundfreiheiten auch umfassend H. D. Jarass, EuR 1995, 202 ff. 376 So EuGH, Urt. v. 12.11.1969, RS. 29/69 (Stauder/Stadt Ulm) Slg. 1969, 419, 425 (Rn. 7). 377 So auch Kingreen, JuS 2000, 857; Chwolik-Lanfermann, S. 50.

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teilt werden, denn dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer eigenen Rechtsquelle fließenden Recht können wegen seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll. Daher kann es die Gültigkeit einer Gemeinschaftsrechtshandlung oder deren Geltung in einem Mitgliedstaat nicht berühren, wenn geltend gemacht wird, die Grundrechte in der ihnen von der Verfassung dieses Staates gegebenen Gestalt oder die Strukturprinzipien der nationalen Verfassung seien verletzt. Es ist jedoch zu prüfen, ob nicht eine entsprechende gemeinschaftsrechtliche Garantie verkannt worden ist; denn die Beachtung der Grundrechte gehört zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat. Die Gewährleistung dieser Rechte muß von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten getragen sein, sie muss sich aber auch in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen.“378

Aus dieser Passage des Urteils ergeben sich mehrere Aspekte. Zunächst betont der EuGH die Eigenständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung gegenüber den nationalen Rechtsordnungen und lehnt eine Überprüfung der Gemeinschaftsrechtsakte anhand nationaler Grundrechte ab.379 Nunmehr betont der EuGH aber, dass es vergleichbare Grundrechte, die sich aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen ableiten ließen, auch im Gemeinschaftsrecht gebe.380 Auch legt der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in Ansätzen seine Methode offen und gibt seine Rechtserkenntnisquelle381 preis, wenn er zur Herleitung der im Gemeinschaftsrecht verbürgten Grundrechte auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten verweist.382 Schließlich ist noch zu beachten, dass der EuGH betont, er habe die Wahrung dieser Grundsätze zu sichern.383 Damit macht er deutlich, dass er sich durch Art. 220 EGV ermächtigt sieht, eine Grundrechtsordnung für das Gemeinschaftsrecht zu entfalten, da ihm dort die Aufgabe 378 Vgl. EuGH, Urt. v. 17.12.1970, RS. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel), Slg. 1970, 1125, 1135 (Rn. 3 f.). 379 EuGH, Urt. v. 17.12.1970, RS. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel), Slg. 1970, 1125, 1135 (Rn. 3 f.). 380 EuGH, Urt. v. 17.12.1970, RS. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel), Slg. 1970, 1125, 1135 (Rn. 3 f.). 381 Zum Begriff der Rechtserkenntnisquelle und seiner Bedeutung siehe das grundlegende Werk von A. Ross, Theorie der Rechtsquellen, S. 308 ff., 340 ff. 382 Siehe EuGH, Urt. v. 17.12.1970, RS. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel), Slg. 1970, 1125, 1135 (Rn. 3 f.). 383 EuGH, Urt. v. 17.12.1970, RS. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel), Slg. 1970, 1125, 1135 (Rn. 4).

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der Wahrung des Rechts übertragen wird. Da aber die Gemeinschaftsverträge unmittelbar keine Grundrechte vorsehen (anders wird dies sein, sofern der Vertrag über eine Verfassung für Europa in Kraft treten sollte, vgl. Art. II-61 ff. VVE), nimmt der EuGH mit der Berufung auf die Wahrung des Rechts auch die Befugnis zur Rechtsfortbildung in Anspruch.384 Noch einen Schritt weiter ist der EuGH durch die Einbeziehung der internationalen Menschenrechtsverträge zur Herleitung der Gemeinschaftsgrundrechte gegangen.385 Danach sollen auch die internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt gewesen oder denen sie beigetreten sind, Hinweise auf die Grundrechte geben können, die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen seien.386 In dieser Rechtsprechungslinie ist auch die Entscheidung Rutili zu sehen, in der sich der Gerichtshof ausdrücklich auf einen aus den Vorschriften der EMRK entwickelten allgemeinen Grundsatz berufen hat.387 Aber der Gerichtshof hat sich nicht nur zum Schutzbereich der Grundrechte und dessen Herleitung geäußert, sondern war durchaus bestrebt eine vollständige europäische Grundrechtsdogmatik zu entwickeln, weshalb er auch die Schranken der Grundrechte nicht unbeachtet lassen konnte. Bereits in der Rs. Nold findet sich ein Hinweis auf die den Grundrechten immanenten Schranken.388 So erläutert der Gerichtshof, dass es in der Gemeinschaftsrechtsordnung berechtigt erscheine, für die Grundrechte bestimmte Begrenzungen vorzubehalten, die durch die dem allgemeinen Wohl dienenden Ziele der Gemeinschaft gerechtfertigt seien, solange die Rechte nicht in ihrem Wesen angetastet würden.389 Die daraus notwendigerweise resultierende Abwägung zwischen Grundrechten und Allgemeinwohlinteresse hat der EuGH beispielhaft in der Rs. Hauer vorgenommen.390 384 So wohl auch Feger, DÖV 1987, 322, 331; kritisch Kingreen, JuS 2000, 857 f. Hierzu ausführlich später. 385 Erstmals in EuGH, Urt. v. 14.5.1974, RS. 4/73 (Nold/Kommission), Slg. 1974, 491, 507 (Rn. 13). 386 So EuGH, Urt. v. 14.5.1974, RS. 4/73 (Nold/Kommission), Slg. 1974, 491, 507 (Rn. 13). 387 EuGH, Urt. v. 28.10.1975, RS. 36/75 (Rutili/Minister des Inneren), Slg. 1975, 1219, 1232 (Rn. 33/36). 388 EuGH, Urt. v. 14.5.1974, RS. 4/73 (Nold/Kommission), Slg. 1974, 491, 507 (Rn. 14). 389 Siehe EuGH, Urt. v. 14.5.1974, RS. 4/73 (Nold/Kommission), Slg. 1974, 491, 507 (Rn. 14). 390 EuGH, Urt. v. 13.12.1979, RS. 44/79 (Hauer/Land Rheinland-Pfalz), Slg. 1979, 3727, 3747 (Rn. 23). Dazu Everling, Der Beitrag des Europäischen Gerichtshofs zur europäischen Grundrechtsgemeinschaft, S. 167, 169. Siehe zur Beschränkung der Grundrechte auch EuGH, Urt. v. 5.10.1994, RS. C-280/93 (Deutschland/ Rat – „Bananenmarktordnung“), Slg. 1994, I-4973, I-5064 (Rn. 73 ff.).

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

In der Folge hat der Gerichtshof eine umfangreiche Rechtsprechung zur Grundrechtsdogmatik entwickelt.391 In Art. 6 Abs. 2 EUV hat diese mittlerweile eine vertragliche Grundlage erhalten.392 Der Vertrag über eine Verfassung für Europa enthält einen umfassenden Grundrechtekatalog, da die EUGrundrechtecharta393 in dessen Teil II (Art. II-61 ff. VVE) aufgenommen wurde, in welchem die Rechtsprechung des EuGH teilweise kodifiziert worden ist.394 bb) Entwicklung bestimmter Grundrechte durch den EuGH In seiner bisherigen Rechtsprechung hat der EuGH eine Vielzahl von Grundrechten in der Gemeinschaftsrechtsordnung anerkannt und richterrechtlich ausgestaltet. Bevor auf einige genauer eingegangen wird, soll ein Eindruck von der Spannweite der Grundrechtsentwicklung durch den Gerichtshof vermittelt werden, der praktisch einen kompletten Grundrechtekatalog im Wege richterlicher Rechtsfortbildung geschaffen hat. So finden in seinen Urteilen die Menschenwürde395, die allgemeine Handlungsfreiheit396, der Schutz des Privatlebens397, der allgemeine Gleichheitssatz398, die Re391 Vgl. aus zahlreichen Entscheidungen etwa zum grundrechtlichen Vertrauensschutz EuGH, Urt. v. 284.1988, RS. 129/86 (Mulder/Minister van landbouw en visserij), Slg. 1988, 2321, 2351 (Rn. 21 ff.); EuGH, Urt. v. 28.4.1988, RS. 17/86 (von Deetzen/HZA Hamburg-Jonas), Slg. 1988, 2355 (dort Ls.). 392 Allg. M., siehe statt aller nur Epiney, in: Bieber/Dies./Haag, § 2 A Rn. 11. 393 Der EuGH hat in seiner bisherigen Rechtsprechung auf die rechtlich unverbindliche EU-Grundrechtecharta noch keinen Bezug genommen; anders allerdings das Gericht Erster Instanz, vgl. EuG, Urt. v. 30.1.2002, RS. T-54/99 (max.mobil/ Kommission), Slg. 2002, II-313, II-337 (Rn. 57). Die Generalanwälte nehmen in ihren Schlussanträgen vor dem EuGH allerdings schon Bezug auf die Grundrechtecharta, siehe etwa GA P. Léger, Schlussanträge v. 10.7.2001, RS. C-353/99 P (Rat/ Hautala), Slg. 2001, I-9567, I-9579 (Nr. 51). 394 Zu den Grundrechten im Europäischen Verfassungsvertrag siehe etwa T. Schmitz, EuR 2004, 691 ff.; T. Kingreen, EuGRZ 2004, 570 ff.; zur Grundrechtecharta und dem Verfassungsvertrag auch F. C. Mayer, RTDE 39 (2003), 175 ff. 395 Vgl. EuGH, Urt. v. 9.10.2001, RS. C-377/98 (Niederlande/Parlament und Rat), Slg. 2001, I7079, I-7168 (Rn. 70 ff.), dort auch zum Recht auf körperliche Unversehrtheit; siehe auch M. Rau/F. Schorkopf, NJW 2002, 2448 ff.; K. Frahm/ J. Gebauer, EuR 2002, 78 ff. 396 EuGH, Urt. v. 21.5.1987, verb. RS. 133–136/85 (Rau/BALM), Slg. 1985, 2289, 2343 (Rn. 36). 397 Etwa EuGH, Urt. v. 26.6.1980, RS. 136/79 (National Panasonic/Kommission), Slg. 1980, 2033, 2057 (Rn. 18 ff.). 398 Siehe dazu EuGH, Urt. v. 19.10.1977, verb. RS. 117/76 und 16/77 (Ruschdeckel/HZA Hamburg-St. Annen), Slg. 1977, 1753 (LS. 1), 1769 (Rn. 7).

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ligionsfreiheit399, die Meinungsfreiheit400, die Achtung des Familienlebens401, die Vereinigungsfreiheit402, die Berufsfreiheit403, die Unverletzlichkeit der Wohnung404 und die Eigentumsfreiheit405 Anerkennung. Von diesen Grundrechten sollen nunmehr beispielhaft für die Rechtsfortbildung des EuGH im Grundrechtsbereich der allgemeine Gleichheitssatz (1), das Persönlichkeitsrecht (2) und das Eigentumsrecht (3) dargestellt werden. (1) Der allgemeine Gleichheitssatz in der Rechtsprechung des EuGH In den Gemeinschaftsverträgen ist der allgemeine Gleichheitssatz nicht ausdrücklich verankert. Allerdings finden sich in Art. 12 EGV (Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit) und Art. 141 EGV (gleiches Entgelt für Männer und Frauen) besondere Diskriminierungsverbote. Dennoch hat der Gerichtshof den allgemeinen Gleichheitssatz als Bestandteil des Primärrechts anerkannt.406 Dabei wird der allgemeine Gleich399

Dazu bislang nur EuGH, Urt. v. 27.10.1976, RS. 130/75 (Prais/Rat), Slg. 1976, 1589 (LS. 2), 1598 (Rn. 6/9 ff.); siehe außerdem W. Bausback, EuR 2000, 261 ff. 400 EuGH, Urt. v. 6.3.2001, RS. C-274/99 P (Conolly/Kommission), Slg. 2001, I-1611, I-1612 f. (LS. 1), I-1675 f. (Rn. 37 ff.). 401 EuGH, Urt. v. 18.5.1989, RS. 269/86 (Kommission/Deutschland), Slg. 1989, 1263, 1290 (Rn. 10) unter Verweis auf Art. 8 EMRK. 402 Hierzu EuGH, Urt. v. 13.12.1995, RS. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921, I-4925 (LS. 8), I-5065 (Rn. 79). 403 EuGH, Urt. v. 13.12.1979, RS. 44/79 (Hauer/Land Rheinland-Pfalz), Slg. 1979, 3727, 3747 Rn. 23). 404 Grundlegend hierzu, den Begriff der Wohnung eng fassend und die Geschäftsräume von diesem Schutz ausnehmend EuGH, Urt. v. 21.9.1989, RS. 46/87 und 227/88 (Hoechst/Kommission), Slg. 1989, 2859, 2924 (Rn. 17). 405 Siehe wiederum EuGH, Urt. v. 13.12.1979, RS. 44/79 (Hauer/Land Rheinland-Pfalz), Slg. 1979, 3727, 3747 (Rn. 23). 406 Siehe aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs die grundlegende Entscheidung EuGH, Urt. v. 19.10.1977, verb. RS. 117/76 und 16/77 (Ruckdeschel/HZA Hamburg-St. Annen), Slg. 1979, 1755 ff., 1769 (Rn. 7); siehe des Weiteren EuGH, Urt. v. 19.10.1977, verb. RS. 124/76 und 20/77 (Moulins Pont-à-Mousson/Office Interprofessionnel des Céréales), Slg. 1977, 1795 ff., 1812 (Rn. 14/17); EuGH, Urt. v. 15.7.1982, RS. 245/81 (Edeka/Deutschland), Slg. 1982, 2745, 2754 (Rn. 11); EuGH, Urt. v. 13.12.1994, RS. C-306/93 (SMW Winzersekt), Slg. 1994, I-5555, I-5583 f. (Rn. 30 ff.); EuGH, Urt. v. 13.4.2000, RS. C-292/97 (Karlsson u. a.), Slg. 2000, I-2737, I-2775 ff. (Rn. 39 ff.); siehe aus dem überreichen Schrifttum nur den guten Überblick bei Kingreen, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 18; M. Zuleeg, FS Börner, S. 473 ff.; A. Sattler, FS Rauschning, S. 51 ff.; U. Kischel, EuGRZ 1997, 1 ff.; umfassend A. S. Mohn, insbes. S. 46 ff.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

heitssatz jedoch nicht, wie die Freiheitsrechte, aus den in Art. 6 Abs. 2 EUV genannten Rechtserkenntnisquellen abgeleitet, sondern vom Gerichtshof zumeist in einen nicht ganz klaren Zusammenhang mit Art. 34 Abs. 2 Uabs. 3 EGV (Art. 40 Abs. 2 Uabs. 3 EWGV) gebracht.407 Der allgemeine Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht verbietet nach der rechtsfortbildenden Judikatur des EuGH, dass „vergleichbare Sachverhalte in unterschiedlicher Weise behandelt und dadurch bestimmte Betroffene gegenüber anderen benachteiligt werden, ohne dass dieser Unterschied in der Behandlung durch das Vorliegen objektiver Unterschiede von einigem Gewicht gerechtfertigt wäre“.408 Dabei liegt – wie auch im nationalen Recht – eine Ungleichbehandlung vor, wenn vergleichbare Sachverhalte willkürlich ungleich oder ungleiche Sachverhalte willkürlich gleich behandelt werden.409 Auch im Gemeinschaftsrecht bedarf es also für die Feststellung von Ungleichbehandlungen, der Bildung von Vergleichsgruppen.410 Bei vergleichbaren Sachverhalten ist sodann zu prüfen, ob eine benachteiligende Ungleichbehandlung vorliegt.411 Diese bedarf einer Rechtfertigung, die Rechtsprechung des EuGH zu diesem Erfordernis ist allerdings so uneinheitlich, dass verallgemeinernde dogmatische Aussagen hier nicht möglich sind.412 Dennoch ist die Herausarbeitung eines allgemeinen Gleichheitssatzes ein schönes Beispiel richterlicher Rechtsfortbildung durch den EuGH im primä407

Siehe etwa EuGH, Urt. v. 13.4.2000, RS. C-292/97 (Karlsson u. a.), Slg. 2000, I-2737, I-2775 (Rn. 39); Kingreen, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 18 Rn. 11; ebenso Zuleeg, FS Börner, S. 473, 476. 408 So bereits, wenn auch erstaunlicherweise ohne ausdrückliche Postulierung des allgemeinen Gleichheitssatzes EuGH, Urt. v. 13.7.1962, verb. RS. 17 und 20/61 (Klöckner-Werke/Hohe Behörde), Slg. 1962, 652, 692. 409 Siehe dazu etwa EuGH, Urt. v. 13.4.2000, RS. C-292/97 (Karlsson u. a.), Slg. 2000, I-2737, I-2775 (Rn. 39) m. w. N. aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs. 410 Vgl dazu etwa EuGH, Urt. v. 15.7.1982, RS. 245/81 (Edeka/Deutschland) Slg. 1982, 2745, 2754 (Rn. 11 ff.); EuGH, Urt. v. 13.12.1994, RS. C-306/93 (SMW Winzersekt), Slg. 1994, I-5571, 5583 f. (Rn. 30); EuGH, Urt. v. 19.10.1977, verb. RS. 124/76 und 20/77 (Moulins Pont-à-Mousson/Office Interprofessionnel des Céréales), Slg. 1977, 1795, 1812 f. (Rn. 18). EuGH, Urt. v. 19.10.1977, verb. RS. 124/76 und 20/77 (Moulins Pont-à-Mousson/Office Interprofessionnel des Céréales), Slg. 1977, 1795 ff., 1812. 411 Der EuGH spricht davon, dass gleiche Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden dürfen, „sofern dies nicht objektiv gerechtfertigt ist“. Vgl. nur EuGH, Urt. v. 19.10.1977, verb. RS. 124/76 und 20/77(Moulins Pont-à-Mousson/ Office Interprofessionel des Céréales), Slg. 1977, 1795, 1812 (Rn. 22/23); EuGH, Urt. v. 13.12.1994, RS. C-306/93 (SMW Winzersekt), Slg. 1994, I-5571, I-5583 f. (Rn. 30 ff.). 412 Treffend Kingreen, in:, Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 18 Rn. 14.

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ren Gemeinschaftsrecht, weshalb sie auch zu Recht als wichtiger Beitrag des Gerichtshofs zu einem Europa der Bürger bewertet worden ist.413 (2) Recht auf Achtung des Privatlebens In seiner Terminologie zum Persönlichkeitsrecht lehnt sich der EuGH, da es für ein solches keinen Anknüpfungspunkt in den Gemeinschaftsverträgen gibt, an die EMRK an, so dass man statt von einem allgemeinem Persönlichkeitsrecht besser von einem Recht auf Achtung des Privatlebens (vgl. Art. 8 EMRK) spricht.414 Auch ein solches Recht findet sich noch nicht im geschriebenen Primärrecht, was für seine Grundrechtsqualität im Hinblick auf die Normenhierarchie aber erforderlich wäre, wenn es mittlerweile auch einige sekundärrechtliche Rechtsakte gibt, die seinem Schutz dienen. Somit muss man die grundrechtliche Ausgestaltung des Rechts auf Achtung des Privatlebens auf primärrechtliche Ebene noch stets als richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH begreifen. Dabei hat der Gerichtshof zahlreiche Teilaspekte der Achtung des Privatlebens herausgearbeitet, so etwa das Recht auf Schutz personenbezogener Daten,415 auf Schutz des ärztlichen Geheimnisses416, den Schutz des anwaltlichen Schriftverkehrs417 und die Achtung des Familienlebens418. Auch kann man wohl, da der EuGH eine 413

So von K. Lenaerts, CDE 1991, p. 3 (no. 8–10), 25 ff.; siehe auch Zuleeg, FS Börner, S. 473, 483. 414 So auch F. Schorkopf, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 15 Rn. 18 ff.; siehe auch G. Ress/J. Ukrow, EuZW 1990, 499, 500. Vgl. aus der Rechtsprechung EuGH, Urt. v. 26.6.1980, RS. 136/79 (National Panasonic/ Kommission), Slg. 1980, 2033, 2056 (Rn. 17 ff.); EuGH, Urt. v. 8.4.1992, RS. C-62/90 (Kommission/Deutschland), Slg. 1992, I-2575, I-2609 (Rn. 23); EuGH, Urt. v. 5.10.1994, RS. C-404/92 P (X/Kommission), Slg. 1994, I-4737, I-4789 f. (Rn. 17). 415 Wegweisend war hier für die gesamte Grundrechtsrechtsprechung EuGH, Urt. v. 12.11.1969, RS. 29/69 (Stauder/Stadt Ulm), Slg. 1969, 419, 424 (Rn. 7); siehe auch EuGH, Urt. v. 7.11.1985, RS. 145/83 (Adams/Kommission), Slg. 1985, 3539, 3587 (Rn. 34); Schorkopf, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 15 Rn. 19, ordnet das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zwar systematisch wie hier dem Recht auf Achtung des Privatlebens zu, plädiert jedoch aufgrund der Tätigkeit des Gemeinschaftsgesetzgebers auf diesem Gebiet für eine eigenständige Betrachtung dieses Rechts. 416 EuGH, Urt. v. 8.4.1992, RS. C-62/90 (Kommission/Deutschland), Slg. 1992, I-2575, I-2609 (Rn. 23); ähnlich auch EuGH, Urt. v. 5.10.1994, RS. C-404/92 P (X/Kommission), Slg. 1994 I-4737, I-4789 (Rn. 17) zum Recht auf Geheimhaltung des Gesundheitszustandes. 417 EuGH, Urt. v. 18.5.1982, RS. 155/79 (AM & S/Kommission), Slg. 1982, 1575, 1576 (LS. 3), 1610 f. (Rn. 18 ff., insbes. Rn. 22). 418 EuGH, Urt. v. 18.5.1989, RS. 249/88 (Kommission/Deutschland), Slg. 1989, 1263, 1290 (Rn. 10).

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Ausdehnung auf Geschäftsräume ausdrücklich ablehnt, das Recht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung hierunter fassen. Auch für dieses greift der EuGH nämlich auf Art. 8 EMRK als Rechtserkenntnisquelle zurück.419 Somit ist festzustellen, dass der Gerichtshof im Bereich des Schutzes des Privatlebens umfassend rechtsfortbildend tätig geworden ist. (3) Eigentum Von zentraler Bedeutung in jeder Grundrechtsordnung ist die Gewährleistung des Eigentumsrechts, so dass auch dessen richterrechtliche Ausgestaltung durch den EuGH noch kurz aufgezeigt werden soll. Ein so wirtschaftlich geprägtes Grundrecht wie die Eigentumsfreiheit musste natürlich auch in der Europäischen Gemeinschaft – die lange fast ausschließlich Wirtschaftsgemeinschaft war und noch stets zuvörderst eine solche ist – Bedeutung erlangen.420 Dennoch ist das Eigentumsrecht nicht im Primärrecht verbürgt worden. Zwar finden sich Anhaltspunkte für den Schutz der Eigentumsordnung, doch kann diesen Bestimmungen (Art. 295 EGV, der die Unberührtheit der mitgliedstaatlichen Eigentumsordnungen festschreibt, wie auch Art. 30 EGV, der Ausnahmen von der Grundfreiheit des freien Warenverkehrs u. a. zum Schutz des geistigen Eigentums zulässt) deshalb noch kein subjektives Recht im Sinne eines Abwehranspruchs gegen Eigentumsbeeinträchtigungen durch die Organe der Europäischen Gemeinschaften beigemessen werden.421 Auch versperrt die Klausel des Art. 295 EGV dem Gerichtshof nicht die richterrechtliche Entwicklung eines Gemeinschaftsgrundrechts auf Eigentumsfreiheit, welches gegenüber der Gemeinschaft Anwendung findet.422 Das Recht auf Eigentum wird maßgeblich durch die Rechtsordnung geprägt, die letztlich ausgestaltet, was unter Eigentum zu verstehen ist. Im Wesentlichen wird der Schutzbereich von den nationalen Rechtsordnungen ausgeformt, zunehmend gewinnen aber auch die Normen des Gemeinschaftsrechts an Bedeutung.423 Der Schutzbereich des gemeinschaftsrechtlich gewährleisteten Eigentumsrechts umfasst dabei das Sacheigentum, aber auch 419

Siehe EuGH, Urt. v. 21.9.1989, RS. 46/87 und 227/88 (Hoechst/Kommission), Slg. 1989, 2859, 2924 (Rn. 17); ebenso Schorkopf, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 15 Rn. 21. 420 Diese Einschätzung teilt C. Callies, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 17 Rn. 2. 421 Überzeugend Callies, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 17 Rn. 2; so auch O. Müller-Michaels, S. 34 f.; J. Thiel, JuS 1991, 274, 276. 422 Callies, in Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 17 Rn. 2. 423 Dies zeigt die Untersuchung von J. Günter, S. 33 ff.

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(nichtkörperliche) Rechte wie private Forderungsrechte und geistiges Eigentum, also Urheber-, Patent-, Marken, Geschmacksmuster- und sonstige Schutzrechte.424 Wie auch in der deutschen Grundrechtsdogmatik rechnet der EuGH Rechtspositionen öffentlich-rechtlicher Natur dem Schutzbereich des Eigentums nur dann zu, sofern sie teilweise auf Eigenleistungen des Betroffenen beruhen.425 Das Vermögen als solches fällt nicht in den gemeinschaftsrechtlichen Schutzbereich, unklar ist jedoch, ob der EuGH den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb dem Schutzbereich zurechnet. Betrachtet man jedoch die Entscheidung des Gerichtshofs zur Bananenmarktordnung, so ist eher davon auszugehen, dass dieser dem gemeinschaftsrechtlichen Schutzbereich des Eigentumsrechts nicht zuzurechnen ist.426 Zur Bestimmung des Eingriffs in das Eigentum, hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften weitgehend auf die Konzeption der EMRK zurückgegriffen.427 Danach liegt ein Eingriff vor, wenn eine geschützte Rechtsposition entzogen (Enteignung) oder ihre Nutzung, Verwertung oder Verfügung Beschränkungen unterworfen wird.428 Freilich kann auch im Europäischen Gemeinschaftsrecht das Eigentumsgrundrecht keine unbeschränkte Geltung beanspruchen, vielmehr ist es dem Gemeinschaftsgesetzgeber möglich, das Eigentum im Allgemeininteresse auszugestalten und einzuschränken.429 Es gibt also auch im Gemeinschaftsrecht eine Gemeinwohlbindung des Eigentums. Bloße Nutzungsbeschränkungen sind nach der Judikatur des EuGH gerechtfertigt, wenn sie „tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der 424 Die Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH darstellend Günter, S. 33 ff.; siehe im Einzelnen auch EuGH, Urt. v. 29.4.1999, RS. C-293/97 (Standley u. a.), Slg. 1999, I-2603, I-2647 (Rn. 54), ausführlich hierzu GA P. Léger, Schlussanträge v. 8.10.1998, RS. C-293/97 (Standley u. a.), Slg. 1999, I-2606, I-2618 (Nr. 58 ff.) (zur Beschränkung von Sacheigentum); siehe auch EuGH, Urt. v. 13.12.1979, RS. 44/79 (Hauer/Land Rheinland-Pfalz), Slg. 1979, 3727, 3749 (Rn. 28 ff.); EuGH, Urt. v. 3.12.1998, RS. C-368/96 (Generics UK u. a.), Slg. 1998, I-8001, I-8027 ff. (Rn. 77 ff.) (zum geistigen Eigentum); vgl. dazu auch EuGH, Urt. v. 28.4.1998, RS. C-200/96 (Metronome Musik), Slg. 1998, I-1953, I-1978 (Rn. 21 ff.). 425 So EuGH, Urt. v. 22.10.1991, RS. C-44/89 (von Deetzen), Slg. 1991, I-5119, I-5156 (Rn. 27; EuGH, Urt. v. 24.3.1994, RS. C-292 (Bostock), Slg. 1994, I-955, I-983 f. (Rn. 18 ff.); EuGH, Urt. v. 9.11.1995, RS. C-38/94 (Country Landowners Association), Slg. 1995, I-3875, I-3904 (Rn. 14). 426 So meine Einschätzung von EuGH, Urt. v. 5.10.1994, RS. C-280/93 (Deutschland/Rat), Slg. 1994, I-4973, I-4977 (LS. 7), I-5065 (Rn. 78 ff.). 427 Ebenso Callies, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 17 Rn. 18. 428 Zur EMRK und der Rechtsprechung des EGMR Grabenwarter, EMRK, § 25 Rn 1 ff. 429 Vgl. nur EuGH, Urt. v. 29.4.1999, RS. C-293/97 (Standley u. a.), Slg. 1999, I-2603, I-2647 (Rn. 54) m. w. N. zu seiner Rechtsprechung.

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Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf die verfolgten Ziele unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet.“430 Zu Eigentumsentziehungen (Enteignungen) gibt es bislang keine Rechtsprechung des Gerichtshofs, so dass man lediglich vermuten kann, dass der EuGH für diese im Gemeinschaftsrecht wohl die Schranken des Art. 1 II des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK heranziehen wird.431 Art. II-77 Abs. 2 S. 2 VVE sieht eine Enteignung nur zugunsten des öffentlichen Interesses in den Fällen und nur unter den Bedingungen vor, die in einem Gesetz vorgesehen sind und verlangt zudem eine angemessene Entschädigung für den Verlust des Eigentums. Zum Teil wird das vom EuGH richterrechtlich geschaffene Schutzniveau des Eigentumsrechts als zu niedrig kritisiert.432 Betrachtet man jedoch die gesamte Grundrechtsordnung der Gemeinschaft, für welche die Eigentumsfreiheit hier auch nur exemplarisch stehen sollte – so kann man durchaus davon sprechen, dass es sich dabei um eine der wichtigsten und gelungensten Schöpfungen des EuGH handelt.433 c) Unmittelbare Wirkung von Richtlinien Einen weiteren Fall richterlicher Rechtsfortbildung durch den EuGH stellt die Figur der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien dar.434 Unmittelbare Wirkung bedeutet dabei, dass Richtlinien unter bestimmten Voraussetzungen auch ohne mitgliedstaatlichen Umsetzungsakt im innerstaatlichen Recht Rechte und Pflichten begründen können.435 In ständiger Rechtsprechung hat 430 So wiederum EuGH, Urt. v. 29.4.1999, RS. C-293/97 (Standley u. a.), Slg. 1999, I-2603, I-2647 (Rn. 54). 431 Diese Vermutung äußert auch Callies, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 16 Rn. 18. 432 Harsche Kritik äußert etwa P. M. Huber, EuZW 1997, 517 ff., insbes. 520 f.; ebenfalls kritisch äußern sich M. Nettesheim, EuZW 1995, 106 ff.; T. Stein, EuZW 1998, 261 ff. und U. Everling, CMLR 33 (1996), 401, 413, 433; differenzierend A. v. Bogdandy, JZ 2001, 157, 163 ff. 433 Ähnlich auch die Bewertung von Nettesheim, EuZW 1995, 106. 434 Von richterlicher Rechtsfortbildung in diesem Zusammenhang sprechen u. a. auch U. Everling, FS Carstens, Bd. 1, S. 95, 113 („exemplarische[r] Fall richterlicher Rechtsfortbildung im Gemeinschaftsrecht“); A. Scherzberg, Jura 1993, 225; Streinz, Europarecht, Rn. 444. 435 Dazu etwa Streinz, Europarecht, Rn. 445; siehe zur unmittelbaren Wirkung auch C. Langenfeld, DÖV 1992, 955 ff.; V. Götz, NJW 1992, 1849 ff.; M. Hilf, EuR 1993, 1 ff.; H. D. Jarass, NJW 1990, 2420 ff.; G. Winter, DVBl. 1991, 657 ff.; Everling, FS Carstens, S. 95 ff.; Scherzberg, Jura 1993, 225 ff.; A. Bach, JZ 1990, 1108 ff.; A. Epiney, DVBl. 1996, 409 ff.; J. Gundel, EuZW 2001, 143 ff.; grundlegend auch E. Grabitz, EuR 1971, 1 ff.; A. Bleckmann, RIW 1984, 774 ff.; Duhn-

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der Gerichtshof dabei folgende Voraussetzungen herausgearbeitet, die für jede Richtlinienbestimmung gesondert zu prüfen sind. Zunächst muss die Richtlinie hinreichend genau und inhaltlich unbedingt formuliert sein, so dass sich daraus unmittelbar, d.h. ohne Umsetzungsspielraum für den nationalen Gesetzgeber, Rechte ableiten lassen.436 Richtlinien sind dabei hinreichend genau, wenn sie den Inhalt der zu treffenden Regelungen und den von ihr begünstigten Personenkreis unzweideutig umschreiben, so dass ein Einzelner sich auf sie berufen und ein Gericht sie anwenden kann.437 Die Bestimmungen der Richtlinie müssen also subsumtionsfähig sein. Inhaltlich unbedingt ist eine Richtlinie, wenn sie weder mit einen Vorbehalt versehen ist und sie ihrem Wesen nach auch keiner weiteren Maßnahme durch die Gemeinschaftsorgane oder die Mitgliedstaaten bedarf.438 Die Bestimmung der Richtlinie, welche unmittelbar angewendet werden soll, muss also self-executing sein.439 Ferner muss die Umsetzungsfrist für die Richtlinie abgelaufen sein, ohne dass die Richtlinie vollständig und richtig umgesetzt worden ist.440 Um Rechtsfortbildung handelt es sich dabei insoweit, als dass Art. 249 Abs. 3 EGV bestimmt, dass Richtlinien keine unmittelbare Geltung in den Mitgliedstaaten besitzen, die Postulierung einer unmittelbaren Wirkung durch den Gerichtshof also über den Wortsinn des Art. 249 Abs. 3 EGV hinausgeht. Freilich könnte man nunmehr versucht sein, zwischen Geltung und Wirkung zu differenzieren und anzuführen, dass die Richtlinie im mitgliedstaatlichen Recht keine Geltung im Rechtssinne erlangt, sondern bloß Rechtswirkungen hervorruft. Damit allerdings würde man den Wortsinn überspannen,441 so dass man hier nicht mehr von Auslegung sprechen kann. Somit handelt es sich bei der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien folgkrack, RIW 1986, 40 ff.; M. Seidel, NJW 1985, 517 ff.; umfassend auch A. Oldenbourg, passim. 436 Siehe etwa Streinz, Europarecht, Rn. 445. 437 So EuGH, Urt. v. 19.1.1982, RS. 8/81 (Becker/Finanzamt Münster-Innenstadt), Slg. 1982, 53, 71 (Rn. 24), siehe auch Scherzberg, Jura 1993, 225, 226. 438 EuGH, Urt. v. 4.12.1974, RS. 41/74 (van Duyn/Home Office), Slg. 1974, 1337, 1349 (Rn. 13/14). 439 Zum Begriff der self-executing Norm bzw. der self-executing Verträge F. Weiss, 51 ff.; Bleckmann, Begriff und Kriterien, passim. Man kann auch vom Erfordernis einer lex perfecta sprechen, wobei mit lex perfecta eine Bestimmung gemeint ist, welche sowohl einen hinreichend bestimmten Tatbestand wie auch eine klare Rechtsfolge umfasst. Zu dem Begriff der lex perfecta siehe Röhl, S. 191, der auch auf den römischrechtlichen Hintergund diese Begriffe eingeht. 440 Vgl. EuGH, Urt. v. 4.12.1974, RS. 41/74 (van Duyn/Home Office), Slg. 1974, 1337, 1349 (Rn. 13/14); sehr deutlich auch EuGH, Urt. v. 5.4.1919, RS. 148/78 (Ratti), Slg. 1979, 1629, 1642 (Rn. 24); ebenfalls EuGH, Urt. v. 19.1.1982 (Becker/ Finanzamt Münster-Innenstadt), Slg. 1982, 53, 71 (Rn. 24). 441 Auf die Wortsinngrenze weist auch Streinz, Europarecht, Rn. 452 hin, der allerdings die Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH bejaht.

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lich um richterliche Rechtsfortbildung, deren Entwicklung kurz nachgezeichnet werden soll. Bei der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien lassen sich vier Konstellationen unterscheiden, die man nach subjektiver und objektiver Wirkung unterteilen kann.442 Dabei gibt es drei Fälle subjektiver Wirkung,443 die sich aus verschiedenen möglichen Rechtsverhältnissen ergeben, und die objektive Wirkung der Richtlinie, welche losgelöst von solchen Rechtsverhältnissen bestehen soll.444 Als Fallgruppen der subjektiven unmittelbaren Wirkung von Richtlinien kann man das Verhältnis vom Bürger zum Mitgliedstaat (vertikale Wirkung), von Mitgliedstaat zum Bürger (umgekehrt-vertikale Wirkung) sowie die Beziehung zwischen Bürgern (horizontale Wirkung) unterscheiden.445 Die beiden letzteren, die umgekehrt-vertikale und die horizontale Direktwirkung,446 hat der EuGH aber abgelehnt.447 So soll ein Mitgliedstaat sich nicht auf eine, den Bürger belastende Richtlinie berufen können, solange er diese noch nicht in nationales Recht umgesetzt hat.448 Dahinter steht der allgemeine Rechtsgrundsatz nemo auditur turpitudinem suam alle442 Siehe zu dieser Einteilung etwa Langenfeld, DÖV 1992, 955, 957; Streinz, Europarecht, Rn. 446, 447; aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur unmittelbar begünstigenden vertikalen Richtlinienwirkung EuGH, Urt. v. 4.12.1974, RS. 41/74 (van Duyn/Home Office), Slg. 1974, 1337, 1348 f. (Rn. 12 ff.); zur umgekehrt-vertikalen Richtlinienwirkung ablehnend EuGH, Urt. v. 8.10.1987, RS. 80/86 (Kolpinghuis Nijmegen), Slg. 1987, 3969, 3985 (Rn. 9); ablehnend zur (unmittelbaren) horizontalen Wirkung von Richtlinien EuGH, Urt. v. 26.9.2000, RS. C-443/98 (Unilever), Slg. 2000, I-7535, I-7583 f. (Rn. 44 ff.). 443 Diese theoretisch möglichen Fälle sind die unmittelbar begünstigende vertikale Richtlinienwirkung EuGH, Urt. v. 4.12.1974, RS. 41/74 (van Duyn/Home Office), Slg. 1974, 1337, 1348 f. (Rn. 12 ff.); zur umgekehrt-vertikalen Richtlinienwirkung ablehnend EuGH, Urt. v. 8.10.1987, RS. 80/86 (Kolpinghuis Nijmegen), Slg. 1987, 3969, 3985 (Rn. 9); ablehnend zur (unmittelbaren) horizontalen Wirkung von Richtlinien EuGH, Urt. v. 26.9.2000, RS. C-443/98 (Unilever), Slg. 2000, I-7535, I-7583 f. (Rn. 44 ff.). 444 Zur unmittelbaren Anwendbarkeit und rein objektiven Richtlinienwirkung EuGH, Urt. v. 11.8.1995, RS. C-431/92 (Kommission/Deutschland – „Großkrotzenburg“), Slg. 1995, I-2189, I-2224 (Rn. 37 ff.); dazu Epiney, DVBl. 1996, 409 ff.; Bach, JZ 1990, 1108, 1111. 445 Darstellend Streinz, Europarecht, Rn. 443 ff.; siehe auch Langenfeld, DÖV 1992, 955 ff. 446 Zu diesen Bezeichnungen siehe etwa Oldenbourg, S. 14, ausführlich S. 159 ff. 447 Siehe zur umgekehrt-vertikalen Richtlinienwirkung ablehnend EuGH, Urt. v. 8.10.1987, RS. 80/86 (Kolpinghuis Nijmegen), Slg. 1987, 3969, 3985 (Rn. 9); ablehnend zur (unmittelbaren) horizontalen Wirkung von Richtlinien EuGH, Urt. v. 26.9.2000, RS. C-443/98 (Unilever), Slg. 2000, I-7535, I-7583 f. (Rn. 44 ff.). 448 So EuGH, Urt. v. 8.10.1987, RS. 80/86 (Kolpinghuis Nijmegen), Slg. 1987, 3969, 3985 (Rn. 8 f.); zur unmittelbaren horizontalen Wirkung von Richtlinien aus

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gans.449 Auch der horizontalen unmittelbaren Wirkung hat der EuGH eine Absage erteilt, da die Umsetzung einer Richtlinie außerhalb der Einflusssphäre des einzelnen Bürgers liegt.450 Insoweit hat der Gerichtshof das Gemeinschaftsrecht für diese beiden Fälle nicht fortgebildet. Allerdings hat der EuGH jüngst eine unmittelbare Wirkung einer Richtlinie auch dann anerkannt, wenn der Staat zur Umsetzung Richtlinie verpflichtet gewesen wäre, zur Begünstigung eines Privaten einen anderen zu benachteiligen.451 Die Belastung des einen Privaten soll sich hier aber nur als Rechtsreflex der Begünstigung des anderen ergeben und insoweit nicht im Widerspruch zu der generell ablehnenden Haltung des Gerichtshofs zur umgekehrt-vertikalen und horizontalen unmittelbaren Wirkung stehen.452 Anerkannt hat er damit nur die vertikale unmittelbare Wirkung von Richtlinien. Zusätzlich zu den bereits genannten Voraussetzungen ergibt sich aus der Ablehnung der umgekehrt-vertikalen sowie der horizontalen Wirkung von Richtlinien als weitere Voraussetzung zu den bereits oben genannten, dass die unmittelbare Wirkung nicht zu einer Verpflichtung des Bürgers gegenüber dem Mitgliedstaat oder einem Einzelnen führen darf.453 Der interessante und wichtige Fall der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien betrifft also das Verhältnis Bürger-Staat, wobei sich der Bürger einem Mitgliedstaat gegenüber auf eine nicht fristgemäß oder nicht korrekt in mitgliedstaatliches Recht umgesetzte, ihn begünstigende Richtlinie berufen kann, soweit die Richtlinienbestimmung eine lex perfecta darstellt. Der Gerichtshof begründet die unmittelbare vertikale Wirkung der Richtlinien auf dreierlei Weise. Im Urteil zur Rechtssache v. Duyn, in welchem er sich zum ersten Mal aussagekräftig über die unmittelbare Wirkung äußert, zieht er zu deren Begründung den effet utile des Gemeinschaftsrecht heran.454 der Literatur ablehnend etwa G. Nicolaysen, EuR 1986, 370; siehe auch J. Gündel, EuZW 2001, 143 ff. 449 Hierauf weist Bach, JZ 1990, 1108, 1114 mit Recht hin. 450 So EuGH, Urt. v. 26.2.1986 (Marshall/Southampton and Southwest Hampshire Area Health Authority), Slg. 1986, 723, 749 (Rn. 48). 451 Hierzu jüngst EuGH, Urt. v. 7.1.2004, RS. C-201/02 (Wells) Slg. 2004, I-723, I-765 f. (Rn. 55 ff.). 452 EuGH, Urt. v. 7.1.2004, RS. C-201/02 (Wells) Slg. 2004, I-723, I-765 (Rn. 57); So auch Pechstein, Entscheidungen des EuGH, einleitende Bemerkung zu Fall 54, S. 123. 453 Dies betont auch Scherzberg, Jura 1993, 225, 226. 454 EuGH, Urt. v. 4.12.1974, RS. 41/74 (van Duyn/Home Office), Slg. 1974, 1337, 1348 f. (Rn. 12); siehe aber auch EuGH, Urt. v. 5.3.1979, RS. 148/78 (Ratti), Slg. 1979, 1629, 1642 (Rn. 18/23); EuGH, Urt. v. 19.1.1982, RS. 8/81 (Becker/Finanzamt Münster-Innenstadt), Slg. 1982, 53, 70 f. Z. T. wird auch bereits das Urteil EuGH, Urt. v. 6.10.1970, RS. 9/70 (Franz Grad/Finanzamt Traunstein – „Leberpfennig“), Slg. 1970, 825, 837 (Rn. 5) herangezogen, bei dem es allerdings um eine

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Durch die unmittelbare Wirkung von Richtlinien können nämlich subjektive Rechte, zumeist geldwerte Ansprüche, gegen den Mitgliedstaat entstehen. Da diesem die finanziellen Belastungen also drohen, ob er die Richtlinie nun umsetzt oder nicht, kann er sich auch ebenso gut vertragskonform verhalten und die Richtlinie in nationales Recht transformieren. Aber auch der Aspekt des Individualschutzes klingt hier schon an.455 Der letzte Begründungsstrang besteht darin, dass der Gerichtshof es dem in Bezug auf die Umsetzung der Richtlinie säumigen Mitgliedstaat verwehrt, sich auf die eigene, vertragswidrige Nichtumsetzung zu berufen.456 In der Anerkennung der vertikalen unmittelbaren Richtlinienwirkung ist eine Rechtsfortbildung des EuGH zu sehen. Im Urteil Kommission/Deutschland zum Heizkraftwerk Großkrotzenburg hat der Gerichtshof des weiteren eine objektive unmittelbare Wirkung von Richtlinien anerkannt.457 Danach haben die Gesetzgebung, die Exekutive und die Judikative der Mitgliedstaaten, die Wirkung der noch nicht umgesetzten Richtlinie bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu beachten.458 Klar ist dabei – dieses ergibt sich schon aus Art. 249 Abs. 3 EGV –, dass den nationalen Gesetzgeber eine Umsetzungspflicht auch nach Ablauf der Umsetzungsfrist trifft. Aber auch für eine Bindung der Verwaltung und der Rechtsprechung an die noch nicht umgesetzte Richtlinie kommt es nach Ansicht des Gerichtshofs nicht auf eine für den Bürger begünstigende Wirkung an, soweit die Richtlinienbestimmungen nur hinreichend bestimmt und inhaltlich unbedingt sind und die Umsetzungsfrist abgelaufen ist.459 Begrenzt unmittelbare Wirkung einer Entscheidung geht; das Urteil EuGH, Urt. v. 17.12.1970, RS. 33/70 (SACE/Finanzministerium Italiens), Slg. 1970, 1213 ff. betraf zwar eine Richtlinie, war aber weniger aussagekräftig, weil es dabei lediglich um den Vollzug einer Vertragsbestimmung ging, die zu unmittelbarer Anwendung geeignet war. 455 In EuGH, Urt. v. 4.12.1974, RS. 41/74 (van Duyn/Home Office), Slg. 1974, 1337, 1349 (Rn. 13/14) zwar erst undeutlich („. . . verlangt die Rechtssicherheit, daß sich die Betroffenen auf diese Verpflichtung berufen können . . .“); deutlicher dann in EuGH, Urt. v. 19.1.1982, RS. 8/81 (Becker/Finanzamt Münster-Innenstadt), Slg. 1982, 53, 72 (Rn. 29) („Mindestgarantie zugunsten der durch die mangelnde Durchführung der Richtlinie beeinträchtigten Rechtsbürger . . .“). 456 Siehe etwa EuGH, Urt. v. 5.4.1979, RS. 148/78 (Ratti), Slg. 1979, 1629, 1642 (Rn. 18/23), wo es heißt: „Daher kann ein Mitgliedstaat, der die in der Richtlinie vorgeschriebenen Durchführungsmaßnahmen nicht fristgerecht erlassen hat, dem einzelnen nicht entgegenhalten, daß er – der Staat – die aus dieser Richtlinie erwachsenden Pflichten nicht fristgerecht erfüllt hat.“ 457 EuGH, Urt. v. 11.8.1995, RS. C-431/92 (Kommission/Deutschland – „Großkrotzenburg“), Slg. 1995, I-2189, I-2220 f. (Rn. 24 ff.). 458 So auch Klein, FS Everling, Bd. I, S. 641, 642. 459 Vgl. EuGH, Urt. v. 11.8.1995, RS. C-431/92 (Kommission/Deutschland – „Großkrotzenburg“), Slg. 1995, I-2189, I-2220 f. (Rn. 24 ff.).

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wird die objektive unmittelbare Wirkung von Richtlinien freilich durch die Ablehnung der horizontalen und der umgekehrt-vertikalen Wirkung, sie darf sich also nicht als für den Bürger belastend darstellen.460 Damit stellt der EuGH allein auf das Argument des praktischen Wirksamkeit (effet utile) des Gemeinschaftsrechts ab, da es einer bestimmten Rechtsposition eines Einzelnen nicht mehr bedarf, um eine unmittelbare Wirkung von Richtlinien zu begründen.461 Auch insoweit hat der EuGH also im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung den Anwendungs- und Wirkungsbereich der Richtlinie über das im EG-Vertrag vorgesehene Maß hinaus ausgedehnt. d) Staatshaftung der Mitgliedstaaten Als letztes Beispiel richterlicher Rechtsfortbildung soll an dieser Stelle noch die Entwicklung des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs für Verstöße der Mitgliedstaaten gegen das Gemeinschaftsrecht dargestellt werden.462 Von seiner Struktur her ähnelt dieser Anspruch der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien und hängt auch mit der Vorstellung der Gemeinschaftsgrundrechte zusammen. Während ein Staatshaftungsanspruch gegen die Gemeinschaft im Vertrag ausdrücklich in Art. 288 Abs. 2 EGV (vgl. auch Art. 188 Abs. 2 EAGV) vorgesehen ist, fehlt eine solche Bestimmung zur Haftung der Mitgliedstaaten. Insoweit existiert eine Lücke im Vertragstext, so dass deren Schließung durch die Rechtsprechung des EuGH als Rechtsfortbildung zu bezeichnen ist.463 Ihren Ausgangspunkt hat die Entwicklung des Staatshaftungsanspruchs in der Francovich-Entscheidung des 460 Siehe zur umgekehrt-vertikalen Richtlinienwirkung ablehnend EuGH, Urt. v. 8.10.1987, RS. 80/86 (Kolpinghuis Nijmegen), Slg. 1987, 3969, 3985 (Rn. 9); ablehnend zur (unmittelbaren) horizontalen Wirkung von Richtlinien EuGH, Urt. v. 14.7.1994, RS. C-91/92 (Faccini Dori), Slg. 1994, I-3325, I-3356 (Rn. 24 ff.); EuGH, Urt. v. 26.9.2000, RS. C-443/98 (Unilever), Slg. 2000, I-7535, I-7583 f. (Rn. 44 ff.); dies betont auch Pechstein, Entscheidungen des EuGH, einleitende Bemerkung zu Fall 60, S. 137. Vgl. in diesem Zusammenhang aber auch EuGH, Urt. v. 7.1.2004, RS. C-201/02 (Wells), Slg. 2004, I-723, I-765 f. (Rn. 55 ff.). 461 Hierauf weist auch Epiney, DVBl. 1996, 409, 412 hin. 462 Eine umfassende Untersuchung der Rechtsfortbildung in Bezug auf das Staatshaftungsrecht liefert Ukrow, insbesondere S. 273 ff. 463 Von Rechtsfortbildung, wenn auch z. T. mit anderen Worten sprechen in Bezug auf die Staatshaftung auch T. v. Danwitz, DVBl. 1997, 1, 2 f.; F. Schoch, FS Maurer, S. 759 (Richterrecht); M. Böhm, JZ 1997, 53, 54 f.; B. Grzeszick, EuR 1998, 417 (Rechtsschöpfung); F. Schockweiler, EuR 1993, 107 (rechtssetzende Funktion); R. Streinz, EuZW 1993, 599; J. Bröhmer, JuS 1997, 117, 118. Ukrow, S. 273 ff. hat seine Arbeit im Wesentlichen auf der Rechtsfortbildung in Bezug auf den Staatshaftungsanspruch konzipiert.

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EuGH genommen.464 Zu Recht merkt Hailbronner an, dass diese Entscheidung des EuGH in ihrer praktischen Bedeutung kaum überschätzt werden könne.465 In der Entscheidung ging es darum, dass eine Richtlinie einen Mindestschutz für Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit ihres Arbeitgebers vorsah, wobei insbesondere Garantien für die Lohnansprüche der Arbeitnehmer geschaffen werden sollten.466 Nachdem Francovich erfolglos wegen ausstehender Lohnzahlungen gegen seinen Arbeitgeber geklagt hatte, ging er gegen die Italienische Republik vor, welche die Richtlinie noch nicht umgesetzt hatte.467 Der EuGH hat diesen Fall genutzt, um einen umfassenden Staatshaftungsanspruch theoretisch zu begründen. Den Anspruch verankert der Gerichtshof unmittelbar in der Gemeinschaftsrechtsordnung, wenn er ausführt, dass „der Grundsatz einer Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch dem Staat zurechenbare Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, somit aus dem Wesen der mit dem EG-Vertrag geschaffenen Rechtsordnung“ folgt.468 Und nur wenig später heißt es ganz deutlich, dass es dem Gerichtshof darum gehe, einen Staatshaftungsanspruch zu gewähren, „der unmittelbar im Gemeinschaftsrecht begründet ist.“469 Dabei umfasst der Staatshaftungsanspruch sämtliche dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehenden Schäden, sofern die Verstöße den Mitgliedstaaten zurechenbar sind.470 So hat der Gerichtshof den Staatshaftungsanspruch nicht nur für das legislative Unterlassen, sondern in der Folge für sämtliche zurechenbaren Verstöße der mitgliedstaatlichen Legislative, Exekutive und jüngst auch Judikative bejaht und so einen alle mitgliedstaatlichen Staatsgewalten umfassenden gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch entwickelt.471 Während man nämlich bei den Rechtssachen Francovich, Dillenkofer472 (nicht fristgerechte Umset464 EuGH, Urt. v. 19.11.1991, verb. RS. C-6/90 und C-9/90 (Francovich u. a.), Slg. 1991, I-5357 ff. 465 So K. Hailbronner, JZ 1992, 284. 466 Vgl. zum Sachverhalt EuGH, Urt. v. 19.11.1991, verb. RS. C-6/90 und C-9/90 (Francovich u. a.), Slg. 1991, I-5357 ff. 467 Siehe EuGH, Urt. v. 19.11.1991, verb. RS. C-6/90 und C-9/90 (Francovich u. a.), Slg. 1991, I-5357 ff. 468 EuGH, Urt. v. 19.11.1991, verb. RS. C-6/90 und C-9/90 (Francovich u. a.), Slg. 1991, I-5357, I-5414 (Rn. 35). 469 So EuGH, Urt. v. 19.11.1991, verb. RS. C-6/90 und C-9/90 (Francovich u. a.), Slg. 1991, I-5357, I-5715 (Rn. 41). 470 Vgl. EuGH, Urt. v. 19.11.1991, verb. RS. C-6/90 und C-9/90 (Francovich u. a.), Slg. 1991, I-5357, I-5414 (Rn. 33); siehe auch Böhm, JZ 1997, 53, 54. 471 Siehe etwa die Darstellungen bei Schoch, FS Maurer, S. 759, 761 f.; H. D. Jarass, NJW 1994, 881, 884 ff.; H. Krieger, JuS 2004, 855, 856. 472 EuGH, Urt. v. 8.10.1996, verb. RS. C-178, 179, 188–190/94 (Dillenkofer u. a.), Slg. 1996, I-4845 ff.

A. Begriffsbestimmung

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zung von Richtlinien) und Brasserie du Pêcheur473 (Verstoß gegen Primärrecht) von legislativem/normativem Unrecht sprechen kann,474 betreffen die Urteile Hedley Lomas475 (Verletzung des Gemeinschaftsrechts durch unrechtmäßige behördliche Weigerung einer Genehmigung) und Brinkmann476 (Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht wegen fehlerhafter behördlicher Auslegung einer EG-Richtlinie) die Haftung für die Tätigkeit der Exekutive. Unlängst hat der EuGH im Fall Köbler477 auch einen richterlichen Verstoß gegen primäres Gemeinschaftsrecht zum Anlass genommen, eine mitgliedstaatliche Staatshaftung zu bejahen. Der Staatshaftungsanspruch gilt dabei nicht nur bei verspäteter Umsetzung von Richtlinien, sondern auch bei solchen gegen unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht wie Verordnungen oder Bestimmungen des Primärrechts.478 Bei der Entwicklung der Voraussetzungen des Haftungsanspruchs kann man drei Phasen der richterlichen Rechtsfortbildung ausmachen.479 In der Francovich-Entscheidung hatte der EuGH noch spezielle Anspruchsvoraussetzungen ausschließlich für die Nichtumsetzung von Richtlinien (Verletzung des Art. 189 Abs. 3 EWGV = Art. 249 Abs. 3 EGV ) formuliert, nämlich die Verleihung von Individualrechten als Ziel der Richtlinie, die inhaltliche Bestimmtheit der die Rechte verleihenden Regelung und das Erfordernis eines Kausalzusammenhangs zwischen Rechtsverstoß und Schaden.480 Im Brasserie du Pêcheur und Factortame-Urteil versuchte der Gerichtshof danach zu unterscheiden, ob der Mitgliedstaat auf einem Gebiet handelt, auf dem ihm das Gemeinschaftsrecht ein weites oder bloß ein ein473 EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-1029 ff. 474 So etwa A. Hatje, EuR 1997, 297; zu legislativem (normativem) Unrecht Hailbronner, JZ 1992, 284, 286; die Unterscheidung zwischen legislativem und administrativem Unrecht trifft auch Böhm, JZ 1997, 53, 55 ff.; in den Schlussanträgen des Generalanwalts Jean Mischo wird auf das Problem der Haftung für legislatives Unrecht eingegangen. Dabei führt dieser aus, dass der nationale Gesetzgeber verpflichtet sei, die Richtlinie umzusetzen und sich somit in einer der Verwaltung vergleichbaren Position befinde, vgl. GA J. Mischo, Schlussanträge v. 28.5.1991, RS. C-6/90 und C-9/90 (Francovich u. a.), Slg. 1991, I-5370, 5385 (Nr. 47). 475 EuGH, Urt. v. 23.5.1996, RS. C-5/94 (Hedley Lomas), Slg. 1996, I-2553 ff.; siehe auch EuGH, Urt. v. 2.4.1998, RS. C-127/95 (Norbrook Laboratories), Slg. 1998, I-1531 ff. 476 EuGH, Urt. v. 24.9.1998, RS. C-319/96 (Brinkmann), Slg. 1998, I-5255 ff. 477 EuGH, Urt. v. 30.9.2003, RS. C-224/01 (Köbler), Slg. 2003, I-10239, I-10324 (Rn. 100 ff.); dazu Anm. von Krieger, JuS 2004, 855 ff. 478 EuGH, Urt. v. 5.3.1996, RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-1029, I-1142 f. (Rn. 21 f). 479 Ähnlich Schoch, FS Maurer, S. 759, 765 f. 480 EuGH, Urt. v. 19.11.1991, verb. RS. C-6/90 und C-9/90 (Francovich u. a.), Slg. 1991, I-5357, I-5415 (Rn. 38 ff., insbes. Rn. 40).

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

geschränktes Ermessen einräumt.481 Sofern der Mitgliedstaat über einen weiten Gestaltungsspielraum verfüge, müsse zur Anerkennung des Schadensersatzanspruchs die verletzte Gemeinschaftsrechtsnorm bezwecken, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, ferner müsse der Verstoß hinreichend qualifiziert sein (dieses Erfordernis stellt eine bedeutsame Entwicklung dar, da hierüber das ansonsten fehlende Verschuldenserfordernis einfließen kann) und ein unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß gegen eine dem Staat obliegende Verpflichtung und dem beim Einzelnen eingetretenen Schaden bestehe.482 In einer vorläufig letzten Phase hat der EuGH diese Voraussetzungen allgemein zu den Tatbestandsmerkmalen des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs erhoben.483 Zur Begründung des Staatshaftungsanspruchs stützt sich der Gerichtshofs maßgeblich auf zwei Argumente. Zum einen soll die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts durch die Sanktionsmöglichkeit, die das Staatshaftungsrecht verleiht, gefördert werden,484 zum anderen gebietet der Schutz der durch das Gemeinschaftsrecht begründeten Rechtspositionen der Bürger, welche neben den Mitgliedstaaten Rechtssubjekte der Gemeinschaftsrechtsordnung sind, diesen Haftungsanspruch.485 Darüber hinaus zieht der EuGH aber auch noch das Unionstreuegebot aus Art. 10 EGV486 sowie Art. 288 Abs. 2 EGV487, in welchem die Staatshaftung für Handlun481 EuGH, Urt. v. 5.3.1996, RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-1029, I-1149 (Rn. 51). 482 EuGH, Urt. v. 5.3.1996, RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-1029, I-1149 (Rn. 51); Umfassend zu den Voraussetzungen Böhm, JZ 1997, 53 ff.; F. Ossenbühl, FS Everling, Bd. II, S. 1031 ff.; siehe auch Schoch, FS Maurer, S. 764 ff. 483 EuGH, Urt. v. 2.4.1998, RS. C-127/95 (Norbrook Laboratories), Slg. 1998, I-1531, I-1599 (Rn. 107); siehe ebenfalls EuGH, Urt. v. 24.9.1998, RS. C-319/96 (Brinkmann), Slg. 1998, I-5255, I-5281 (Rn. 25 f.). 484 Siehe nur EuGH, Urt. v. 19.11.1991, verb. RS. C-6/90 und C-9/90 (Francovich u. a.), Slg. 1991, I-5357, I-5414 (Rn. 33); siehe auch GA J. Mischo, Schlussanträge v. 28.5.1991, RS. C-6/90 und C-9/90 (Francovich u. a.), Slg. 1991, I-5370, I-5379 ff. 485 EuGH, Urt. v. 19.11.1991, verb. RS. C-6/90 und C-9/90 (Francovich u. a.), Slg. 1991, I-5357, I-5413 f. (Rn. 31, 33 f.); siehe auch GA J. Mischo, Schlussanträge v. 28.5.1991, RS. C-6/90 und C-9/90 (Francovich u. a.), Slg. 1991, I-5370, I-5383 (insbes. Nr. 42). 486 So in EuGH, Urt. v. 19.11.1991, verb. RS. C-6/90 und C-9/90 (Francovich u. a.), Slg. 1991, I-5357, I-5414 (Rn. 36); EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-1029, I-1146 (Rn. 39); dazu auch Bröhmer, JuS 1997, 117, 119. 487 EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-1029, I-1146 (Rn. 41); kritisch dazu Streinz, EuZW 1996, 201, 203.

B. Rechtsgrundlagen der richterlichen Rechtsfortbildung

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gen der Gemeinschaftsorgane geregelt ist, zur Begründung der mitgliedstaatlichen Staatshaftung heran. Die Haftung der Mitgliedstaaten für Gemeinschaftsrechtsverstöße dürfe nämlich nicht hinter derjenigen der Gemeinschaft selbst zurückbleiben.488 Dennoch dürften die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts wie auch der Individualrechtsschutz noch stets im Vordergrund stehen. Selbstverständlich ist diese Rechtsfortbildung des EuGH nicht kritiklos geblieben.489 Auf diese soll im Rahmen dieser Untersuchung jedoch erst bei der Frage nach den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz eingegangen werden. An dieser Stelle sei nur angemerkt, dass der EuGH nicht von einer Fortbildung des Vertrages spricht, sondern seinen Staatshaftungsanspruch ausdrücklich als Ergebnis einer Auslegung des Vertrages bezeichnet.490

B. Rechtsgrundlagen der richterlichen Rechtsfortbildung Nachdem einige prominente Beispiele für richterliche Rechtsfortbildung aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften präsentiert wurden, soll nunmehr die Rechtsgrundlage für die richterliche Rechtsfortbildung herausgearbeitet werden, wobei wiederum die Diskussion im nationalen Recht daraufhin untersucht wird, inwieweit sie für das Gemeinschaftsrecht fruchtbar gemacht werden kann, bevor auf den Meinungsstand im Europarecht eingegangen wird.

I. Deutschland Hinsichtlich der Rechtsgrundlage richterlicher Rechtsfortbildung im deutschen Recht soll zunächst auf den in der Literatur vielfach vertretenen Ansatzpunkt des Rechtsverweigerungsverbots eingegangen werden (1.), sodann wird versucht eine verfassungsrechtliche Ermächtigung herauszuarbeiten (2.), schließlich werden noch einfachgesetzliche Ermächtigungsgrundlagen erörtert (3.). Den Abschluss bildet dann eine eigene Stellungnahme (4.).

488

EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-1029, I-1147 (Rn. 42). 489 Insbesondere kritisch Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 773, der von unzulässiger (!) Rechtsfortbildung spricht; kritisch auch v. Danwitz, DVBl. 1997, 1 ff. 490 Siehe EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-1029, I-1144 (Rn. 27).

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

1. Das Rechtsverweigerungsverbot Von vielen Autoren, die sich mit dieser Frage beschäftigen, wird das Recht des Richters zur Rechtsfortbildung aus dem Rechtsverweigerungsverbot abgeleitet.1 Dieses soll als gewohnheitsrechtlich geltender ungeschriebener Rechtssatz der deutschen Rechtsordnung innewohnen.2 a) Begriff und Inhalt Rechtsverweigerungsverbot bedeutet ein Verbot richterlicher Verweigerung der Rechtsantwort, d.h. kein Richter darf wegen der Lückenhaftigkeit, Widersprüchlichkeit oder Unklarheit des Rechts eine rechtliche Entscheidung verweigern und statt dessen einen „non-liquet-Richterspruch“ im Rechtsbereich fällen oder zur bloßen Dezision (die sich als Willkürurteil darstellen würde) schreiten.3 Das Rechtsverweigerungsverbot verhindert somit Entscheidungen, die die Rechtslage im Unklaren lassen, der Richter hat die Pflicht, rechtliche Zweifel bei der Gesetzesauslegung zu klären, das unklare Gesetz in seiner Bedeutung zu erhellen und eine lückenhafte Norm zu ergänzen, also das Recht fortzubilden.4 Seine klassische Ausformulierung hat das Rechtsverweigerungsverbot im – immer wieder auch in der deutschsprachigen Literatur zitierten – Art. 4 des französischen Code civil erhalten, als allgemeiner Grundsatz soll es aber auch in Deutschland Geltung beanspruchen.5 b) Geltungsgrund des Rechtsverweigerungsverbots Allerdings ist der genaue Geltungsgrund für das Rechtsverweigerungsverbot umstritten. In der Literatur werden hierfür verschiedene Anknüpfungspunkte genannt.

1 So etwa Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 823 ff.; Canaris, Feststellung von Lücken, S. 141; wohl auch Larenz, Methodenlehre, S. 368, wobei allerdings nicht ganz deutlich wird, ob Larenz die Kompetenz des Richters zur Rechtsfortbildung nicht doch eher in Art. 20 III GG verankert sieht; H. Coing, S. 24; E. Schumann, ZZP 81 (1968), 79, 101; Röhl, S. 544; wohl auch Engisch, Einführung, S. 205; ders., FS Sauer, S. 85, 86, 94; siehe auch G. Radbruch, GRGA Bd. 1, S. 409; ähnlich auch schon P. Oertmann, S. 26 f. 2 So etwa Coing, S. 24; vgl. auch Röhl, S. 544. 3 Diese Definition stammt von Schumann, ZZP 81 (1968), 79, 101. 4 So Radbruch, GRGA Bd. 1, S. 409; ebenso Schumann, ZZP 81 (1968), 79, 80. 5 Bei Coing, S. 24, klingt es fast so, als gelte der Art. 4 Code civil unmittelbar auch in Deutschland.

B. Rechtsgrundlagen der richterlichen Rechtsfortbildung

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aa) Herleitung aus dem Wesen der Rechtsprechung Zum Teil wird das Rechtsverweigerungsverbot quasi aus dem Wesen der Rechtsprechung, als derselben selbstverständlich immanent, abgeleitet. Dieser Ansicht scheint jedenfalls Helmut Coing zu sein, wenn er ausführt, zwar stünde das Rechtsverweigerungsverbot in einem französischen Gesetz, es gelte aber überall.6 An dieser Verankerung ist in der Literatur harsche Kritik geübt worden.7 So wurde ausgeführt, der Grundsatz des Justizverweigerungsverbots sei mit Sicherheit kein „apriorisches Rechtsprinzip“.8 Damit könne es dem Wesen der Rechtsprechung aber auch nicht immanent sein.9 Ferner wird angeführt, dass eine Streitentscheidung für das Wesen der Rechtsprechung nicht notwendig sei, sofern man darunter eine endgültige Klärung der Rechtslage verstehe, vielmehr sei auch eine Non-liquet-Entscheidung eine Entscheidung, da hiermit festgestellt werde, dass es eben keine rechtliche Regelung für den zu entscheidenden Fall gebe.10 Zum Teil wird dabei auch auf das Beweisverfahren rekurriert, bei dem eine Non-liquet-Entscheidung anerkannt ist. Dann aber wiederspreche eine solche Entscheidung grundsätzlich auch nicht dem Wesen der Rechtsprechung.11 Letzteres Argument verkennt freilich den grundlegenden Unterschied zwischen den Tatsachenfragen des aufzuklärenden Sachverhalts und der erst auf deren Grundlage zu entwickelnden rechtlichen Lösung. Die Tatsachen, also die Geschehnisse der realen Welt, kann das Gericht nicht kennen, dazu müsste es allwissend ein. Hier ist also ein non liquet sinnvoll. Das Recht hingegen muss das Gericht kennen, insoweit hängt das Justizverweigerungsverbot mit dem Grundsatz „iura novit curia“ zusammen.12 Dann aber muss das Gericht einen vorgebrachten Fall auch einer rechtlichen Lösung zuführen. Insofern überzeugt der Vergleich der Lösung der Rechtsfrage mit der Sachverhaltsermittlung nicht. Meiner Ansicht nach ist die Auffassung, das Rechtsverweigerungsverbot sei im Wesen der Rechsprechung verankert, nicht gänzlich falsch, je6 Vgl. Coing, S. 24; ähnlich auch schon Oertmann, S. 26 f.: „Daß er (sc. der Richter) seine Entscheidung nicht verweigern darf, ist auch da selbstverständlich, wo es nicht [. . .] ausdrücklich ausgesprochen wird.“ 7 Vor allem von Schumann, ZZP 81 (1968), 79, 93 f. 8 Dies führen unter anderem Engisch, Einführung, S. 206; Canaris, Feststellung von Lücken, S. 174 und auch Schumann, ZZP 81 (1968), 79, 93 f. aus. 9 So Schumann, ZZP 81 (1968), 79, 93 f.; wohl auch Engisch, Einführung, S. 206; Canaris, Feststellung von Lücken, S. 174. 10 Dieses Argument gegen die Verortung des Rechtsverweigerungsverbots im Wesen der Rechtsprechung führt Schumann, ZZP 81 (1968), 79, 93 f. an. 11 Nicht ganz zu Unrecht Schumann, ZZP 81 (1968), 79, 93 f. 12 Dies erkennt auch Schumann, ZZP 81 (1968), 79, 93 f., weshalb seine Argumentation m. E. an dieser Stelle widersprüchlich ist.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

doch sollte dennoch versucht werden, ihm eine normative Verankerung zu geben. bb) Geschlossenheit des Rechts Teilweise wird das Rechtsverweigerungsverbot auch aus der These von der Geschlossenheit der Rechtsordnung abgeleitet.13 Nach dieser Ansicht mögen zwar einzelne Gesetze lückenhaft sein, das Recht als Ganzes sei es jedoch niemals.14 Diese Vorstellung ermöglicht also eine Antwort des Rechts auch dort, wo das Gesetz keine zu geben imstande ist.15 Ist aber eine rechtliche Antwort möglich, so ist der Richter gehalten, diese auch zu geben. Was das Recht dann genau bestimmt, hat er zu ermitteln. Gegen diese Ansicht ist allerdings vorzubringen, dass sie keineswegs die richterliche Rechtsfortbildung auf Grundlage des Justizverweigerungsverbots fordert.16 Der Geschlossenheit der Rechtsordnung kann nämlich auch auf anderem Wege, wie sie etwa während der Zeit der Französischen Revolution von 1789 durch einen référé législatif gefunden wurde, Rechnung getragen werden.17 Dabei hatte der Richter, der eine Rechtsfrage, die er als nicht geregelt erachtete, diese dem Gesetzgeber zur Lösung vorzulegen.18 Zudem wird gegen diese Ansicht angeführt, dass auch die Geschlossenheit des Rechts in der Form, dass es auf jede ungeregelte Rechtsfrage nur eine richtige Antwort geben kann, abzulehnen sei.19 Hierzu ist anzumerken, dass die Vorstellung einer prinzipiellen Geschlossenheit im Begriff der Rechtsordnung sicherlich mitschwingt, muss eine Ordnung doch umfassend sein. Das Ziel der Geschlossenheit der Rechtsordnung ist also zutreffend. Abzulehnen ist allerdings die Vorstellung einer Geschlossenheit in der Art und Weise, dass es für jede Rechtsfrage eine einzige richtige bereits von der Rechtsordnung (wenn auch nicht ausdrücklich) vorgegebene Antwort 13 Diese Begründung findet sich vorwiegend in der älteren Literatur, etwa bei E. Ehrlich, S. 15; G. Jellinek, S. 356; Radbruch, GRGA Bd. 1, S. 409, 413. Siehe auch W. Sauer, Juristische Methodenlehre, S. 281; R. Stammler, S. 641. 14 Jellinek, S. 356; Radbruch, GRGA Bd. 1, S. 409, 413. Siehe auch Sauer, Juristische Methodenlehre, S. 281. 15 So etwa Sauer, Juristische Methodenlehre, S. 281; ebenso Stammler, S. 641. 16 Schumann, ZZP 81 (1968), 79, 95. 17 Schumann, ZZP 81 (1968), 79, 95. 18 Zu diesem Gesetz v. 24.8.1790 instruktiv J. van Kan, Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis, 2 (1920/21), 358, 381–397. Zitiert nach Schumann, ZZP 81 (1968), 79, 95. 19 So schreibt etwa Canaris, Feststellung von Lücken, S. 173 mit aller Deutlichkeit: „Ebensowenig wie eine logische Geschlossenheit gibt es eine teleologische Geschlossenheit des Rechts.“ Die prinzipielle Geschlossenheit des Rechts befürwortend Kramer, S. 137.

B. Rechtsgrundlagen der richterlichen Rechtsfortbildung

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gibt. So kann es bei einer Lückenhaftigkeit eines Gesetzes durchaus mehrere Möglichkeiten geben, die Unvollständigkeit zu ergänzen, die zwar besser oder weniger gut mit den Prinzipien der Rechtsordnung übereinstimmen, aber doch alle mit dem Recht vereinbar sind. Eine Geschlossenheit im Sinne einer einzig richtigen, vom Recht stets prädestinieren Lösung für eine Gesetzeslücke gibt es in dieser Allgemeinheit nicht. Dennoch betont auch diese Vorstellung einen wichtigen Aspekt des Rechtsverweigerungsverbots, denn das Justizverweigerungsverbot ist nur sinnvoll, wenn eine rechtliche Antwort auf eine bestimmte Rechtsfrage möglich ist, wenn auch das Gesetz zu dieser nicht ausdrücklich etwas bestimmt. Insoweit muss sich die Antwort aus dem System der Rechtsordnung ergeben. Allerdings betont dieser Versuch der Verankerung des Justizverweigerungsverbots meiner Ansicht nach mit dem Abstellen auf das in sich geschlossene Recht zu einseitig den Orientierungsmaßstab für das Ausfüllen der Gesetzeslücken. Aus der Geschlossenheit des Rechts allein lässt sich das Justizverweigerungsverbot nicht ableiten. cc) Rechtssicherheit Canaris hat die Rechtssicherheit als Grundlage des Justizverweigerungsverbots ausgemacht.20 Dieses könne nämlich seine Berechtigung und seinen Sinn nur aus dem übergeordneten Wert der Rechtssicherheit erhalten. Das sei damit zu begründen, dass das Justizverweigerungsverbot zu einer am Recht orientierten Entscheidung führe und somit zum Rechtsfrieden beitrage.21 Gegen diese Verankerung des Justizverweigerungsverbots wurde eingewendet, dass gerade die richterliche Rechtsfortbildung einen Unsicherheitsfaktor in sich berge und somit der Rechtssicherheit nicht notwendig zuträglich sei.22 Zudem könne der Rechtssicherheit auch damit Genüge getan werden, dass die Gerichte bei einer Gesetzeslücke stets eine Non-liquetEntscheidung träfen.23 Dennoch wird man nicht abstreiten können, dass richterliche Rechtsfortbildung der Rechtssicherheit und vor allem auch dem Rechtsfrieden zuträglicher sein dürften als bloße Non-liquet-Entscheidungen.

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Canaris, Feststellung von Lücken, S. 177. Siehe die Begründung von Canaris, Feststellung von Lücken, S. 177. Etwa von Schumann, ZZP 81 (1968), 79, 99. Vgl. Schumann, ZZP 81 (1968), 79, 99.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

dd) Gerechtigkeit als Postulat der Rechtsidee Schließlich wird das Justizverweigerungsverbot auch als Ausfluss der Gerechtigkeit als Element der Rechtsidee gesehen.24 Die Rechtsidee soll dazu zwingen, dass der im geschriebenen, positiven Recht nicht geregelte Fall seine gerechte Lösung im Gesamtzusammenhang der Wertungen und Prinzipien des Rechts und im Vergleich zu anderen Lösungen findet.25 Daraus soll sich für einen solchen Rechtsstreit zugleich ergeben, dass er ein Rechtsfortbildungsziel besitzt.26 Ein maßgeblicher Auslöser für das Fällen einer rechtsfortbildenden statt einer Non-liquet-Entscheidung, dürfte in der Tat das mit letzterer verbundene Gefühl eines Gerechtigkeitsmangels sein, welcher nur durch eine richterliche Rechtsfortbildung überwunden werden könne. ee) Eigene Stellungnahme Meines Erachtens betonen die diversen Ansichten verschiedene wichtige Aspekte des Justizverweigerungsverbots, die nicht notwendigerweise im Gegensatz zueinander stehen, sondern sich sinnvoll ergänzen. Dennoch erscheint es mir sehr fraglich, ob die Ableitung des Justizverweigerungsverbots aus der Gerechtigkeit, der Rechtssicherheit, der Geschlossenheit des Rechts oder dem Wesen der Rechtsprechung allein die richterliche Kompetenz zur Rechtsfortbildung wirklich zu tragen vermag. Das Justizverweigerungsprinzip wird als gewohnheitsrechtlich geltender Rechtsgrundsatz angesehen,27 aus welchem die Befugnis und damit auch die Pflicht zur richterlichen Rechtsfortbildung erwächst.28 24 So Schumann, ZZP 81 (1968), 79, 100 f., der meint, das Rechtsverweigerungsverbot fuße auf der Rechtsidee, dabei aber offensichtlich nur auf das Gerechtigkeitselement der Rechtsidee abstellt, da er eines ihrer anderen Elemente, nämlich die Rechtssicherheit, verwirft. Somit muss man, entgegen der von Schumann, a. a. O. gewählten Bezeichnung sagen, dass er das Justizverweigerungsverbot nicht in der Rechtsidee als Ganzer, sondern nur in einem Teilaspekt derselben, nämlich der Gerechtigkeit, verortet sieht. Siehe zur Rechtsidee und ihren Elementen die als klassisch zu bezeichnenden Erläuterungen bei Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 73 ff. (§ 9), dort auch zu den Spannungsverhältnissen zwischen den Elementen (Antinomien im Recht). 25 In diesem Sinne Schumann, ZZP 81 (1968), 79, 100. 26 Schumann, ZZP 81 (1968), 79, 101. 27 So wohl Engisch, Einführung, S. 177, 205 f.; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 823 ff.; Röhl, S. 544; Schumann, ZZP 81 (1968), 79 f.; auch Coing, S. 24, nimmt wohl eine solche Geltung an. 28 Dass das Justizverweigerungeverbot eine Pflicht zur Rechtsfortbildung begründet, ergibt sich daraus, dass es selbst dann eine Entscheidung fordert, wenn das Gesetz lückenhaft ist. So aber das Gesetz planwidrig unvollständig ist, muss die Lücke

B. Rechtsgrundlagen der richterlichen Rechtsfortbildung

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Nun kann aber die richterliche Rechtsfortbildung mit der Bindung an Gesetz und Recht aus Art. 20 Abs. 3, 97 GG sowie dem ebenfalls in Art. 20 GG zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Gewaltenteilung in Konflikt geraten,29 da die Normschaffung grundsätzlich der Legislative (und in einigen Fällen der Exekutive) übertragen wird. Deshalb müsste es sich beim Justizverweigerungsverbot – legt man die oben angeführten Ansätze zur Verortung desselben zugrunde – um einen (gewohnheitsrechtlich) geltenden allgemeinen Rechtsgrundsatz handeln, der in Konkurrenz zu diesen Verfassungsgrundsätzen treten kann. Auf die Entstehung von Gewohnheitsrecht durch ständige Übung und allgemeine Rechtsüberzeugung wurde bereits eingegangen. An dieser Stelle erscheint mir vor allem die Rangfrage sowie das Verhältnis von Gewohnheitsrecht zu Gesetzesrecht bedeutsam zu sein. Grundsätzlich sind Gewohnheitsrecht und Gesetzesrecht gleichrangig.30 Damit aber das Justizverweigerungsverbot zum Gewaltenteilungsgrundsatz in Konkurrenz treten kann, muss es aufgrund des lex-superior-Grundsatzes selbst auf Verfassungsebene angesiedelt sein, es sich bei ihm also um Verfassungsgewohnheitsrecht handeln. Ob ein Verfassungsgewohnheitsrecht unter der Geltung des Grundgesetzes überhaupt existieren kann, ist jedoch umstritten.31 So wird es etwa von Christian Tomuschat32 und Josef Isensee33 gänzlich abgelehnt, von der h. M.34 jedoch grundsätzlich für möglich erachtet. Allerdings beziehen sich sämtliche Äußerungen auf nachkonstitutionelles Verfassungsgewohnheitsrecht.35 Das Justizverweigerungsverbot ist durch den Richter geschlossen werden. Das Verbot der Rechtsverweigerung begründet somit positiv gewendet die Pflicht zur Justizgewährung. Dazu Engisch, Einführung, S. 205 f. „Dieses Verbot nötigt den Richter also dazu, auf jede rechtliche Frage eine Antwort zu geben.“, der allerdings zu Recht einschränkend bemerkt, eine Pflicht zur Rechtsfortbildung könne nicht in allen Fällen bestehen. 29 Vgl. etwa J. Ipsen, Richterrecht, S. 128 ff.; siehe auch P. Kirchhof, FS 600 Jahre Heidelberg, S. 11, 16 ff.; C. Hillgruber, JZ 1996, 118, 122; C. Gusy, DÖV 1992, 461, 465 f. 30 Vgl. zu dieser nicht ganz unbestrittenen Auffassung Röhl, S. 526; a. A. ist etwa C. Wagner, Grundgesetz, S. 60 ff. 31 Vgl. etwa einerseits ablehnend C. Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, S. 74 ff., 81 ff., 132 ff., 145 ff.; andererseits befürwortend K. Stern, Staatsrecht Bd. I, S. 110 ff., auch wenn er dem Verfassungsgewohnheitsrecht bloß eine marginale Funktion zumisst. 32 Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, S. 74 ff., 81 ff., 132 ff., 145 ff. 33 J. Isensee, in ders./Kirchhof, HbStR VII, § 162 Rn. 64 mit Fn. 178. 34 Vgl. etwa H. Maurer, Staatsrecht I, § 1 Rn. 45; Jarass/Pieroth, GG, Art. 39 Rn. 4; Stern, Staatsrecht Bd. I, S. 110 ff. 35 Auf diesen wichtigen Umstand hinweisend und eine Differenzierung zwischen vor- und nachkonstitutionellem Verfassungsgewohnheitsrecht treffend C. Wagner, Grundgesetz, S. 60 ff.; ebenso H. A. Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 425 ff.; ders., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 123 Rn. 15.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

jedoch wesentlich älter und muss deshalb, als vorkonstitutionelles, also schon vor Inkrafttreten des Grundgesetzes bestehendes Verfassungsgewohnheitsrecht erachtet werden. Bei vorkonstitutionellem Verfassungsgewohnheitsrecht stellen sich jedoch ganz andere Fragen, als bei nachkonstitutionellem.36 Die Fortgeltung vorkonstitutionellen Rechts bestimmt sich nämlich nach den Art. 123 ff. GG, wobei hier Art. 123 GG den maßgeblichen Ansatzpunkt bildet.37 Weitgehend einig ist sich die Lehre darüber, dass mit dem „Recht“, welches fortgelten soll, sofern es nicht dem Grundgesetz widerspricht, auch das Gewohnheitsrecht gemeint ist.38 Fraglich ist hingegen, ob auch das Verfassungsgewohnheitsrecht von dieser Fortgeltungsanordnung erfasst sein soll und damit über Art. 123 Abs. 1 GG weitergilt.39 Hiergegen werden verschiedene durchgreifende Argumente vorgebracht.40 Zunächst ist die Fortgeltung von Verfassungsgewohnheitsrecht aus dem Grunde abzulehnen, dass das Grundgesetz an die Stelle der alten Verfassungsordnung treten wollte und damit die gesamte bestehende Verfassungsordnung einschließlich etwaigen Verfassungsgewohnheitsrechts derogiert hat.41 Diese eher verfassungstheoretische Begründung wäre für sich genommen noch nicht sehr schlagkräftig. Betrachtet man jedoch Art. 123 GG in seinem systematischen Zusammenhang mit Art. 124 GG und insbesondere Art. 125 GG, welcher die Rangfrage des fortgeltenden Rechts regelt, so ergibt sich daraus, dass nur einfach- oder untergesetzliche Normen von Art. 123 Abs. 1 GG erfasst sein sollen, nicht aber Verfassungsbestimmun36

So C. Wagner, Grundgesetz, S. 60 ff.; ebenso Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 425 ff. 37 Dazu C. Wagner, Grundgesetz, S. 61 ff.; Wolff, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 123 Rn. 15; ders., Ungeschriebenes Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz, S. 429 ff.; siehe auch, allerdings ohne auf das vorkonstitutionelle Verfassungsgewohnheitsrecht einzugehen M. Kirn, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 123 Rn. 8; ebenso auch R. Stettner, in: Dreier, GG, Art. 123 Rn. 13. Das Bundesverfassungsgericht hat sich bisher nur zur Fortgeltung „einfachgesetzlichen“ Gewohnheitsrechts geäußert, das grundsätzlich fortgelten soll, vgl. etwa BVerfGE 15, 226, 233; 41, 251, 263. Dabei stellt es jedoch strenge Voraussetzungen an die Annahme von Gewohnheitsrecht, vgl. BVerfGE 34, 293, 303; 41, 251, 263. 38 Vgl. etwa Stettner, in: Dreier, GG, Art. 123, Rn. 13; Wolff, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Art. 123 Rn. 13, 15; Kirn, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 123 Rn. 8; T. Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 123 Rn. 6 führt aus, dass angesichts des bewusst weiten Wortlauts hinsichtlich des Gewohnheitsrechts eine andere Auslegung kaum möglich sei. 39 Ausführungen dazu finden sich etwa bei C. Wagner, Grundgesetz, S. 61 ff., die die Fortgeltung mit Recht ablehnt; ebenso Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 429 ff.; im Ergebnis auch O. Bachof, DÖV 1958, 27, 28 f.; a. A. ist Haas, DVBl. 1957, 368, 372 ff., der sich für eine Fortgeltung als einfaches Bundesgewohnheitsrecht ausspricht. 40 Etwa von Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 429 ff. 41 So Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 429.

B. Rechtsgrundlagen der richterlichen Rechtsfortbildung

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gen,42 zu denen das Verfassungsgewohnheitsrecht aber zu zählen wäre. Dieser Befund wird durch ein weiteres systematisches Argument erhärtet, nämlich durch die ausdrückliche Normierung der Fortgeltung der Weimarer Staatskirchenrechtsartikel in Art. 140 GG. Hieraus lässt sich im Wege des Umkehrschlusses ableiten, dass die Fortgeltung alten Verfassungs(gewohnheits)rechts im Grundgesetz angeordnet hätte werden müssen, da es ansonsten durch dasselbe derogiert wird. Eine solche Regelung findet sich im Grundgesetz nun aber gerade nicht.43 Somit lässt sich die Geltung des Justizverweigerungsverbots jedenfalls nicht damit begründen, dass es sich dabei um einen alten verfassungsgewohnheitsrechtlichen Rechtsgrundsatz handele, der auch unter dem Grundgesetz fortgelte. In Betracht käme freilich eine neue Begründung einer verfassungsgewohnheitsrechtlichen Praxis unter dem Grundgesetz. Dann käme dem oben angedeuteten Streit um die Zulässigkeit von Verfassungsgewohnheitsrecht Bedeutung zu, wobei die besseren Argumente gegen eine solche Zulässigkeit sprechen. Insbesondere dürfte diesem der Art. 79 Abs. 1 GG entgegenstehen, welcher eine ausdrückliche Wortlautänderung für Verfassungsänderungen vorschreibt, so dass für ungeschriebenes Gewohnheitsrecht kein Raum bestehen dürfte.44 Auch insofern dürfte die in der Literatur vertretene Auffassung der Geltung des Justizverweigerungsverbots als allgemeiner (gewohnheitsrechtlicher) Rechtsgrundsatz also abzulehnen sein. Diese Frage stellt sich jedoch erst gar nicht, wenn der Verfassungsgeber, und sei es implizit, eine Regelung getroffen hat, da Gewohnheitsrecht dann nicht erforderlich ist.45 Sofern sich also aus dem Grundgesetz eine Kompetenz zur Rechtsfortbildung ableiten lässt, scheidet eine verfassungsgewohnheitsrechtliche Begründung ohnehin aus. 2. Verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkte richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz In der rechtstheoretischen und -methodischen Literatur wird das Problem der Kompetenznorm für die richterliche Rechtsfortbildung weitgehend über42 Dieses führt auch Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 429, 430 an; ähnlich auch C. Wagner, Grundgesetz, S. 62 f.; im Ergebnis ebenso Bachof, DÖV 1958, 27, 28 f.; W. Schick, AöR 94 (1969), 353, 356. 43 Darauf, dass sich keine allgemeine Norm für die Fortgeltung vorkonstitutionellen Verfassungsrechts im Grundgesetz findet weist auch Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 430 f. hin. 44 Ebenso Isensee, in ders./Kirchhof, HbStR VII, § 162 Rn. 64 mit Fn. 178; Tomuschat, Verfassungegewohnheitsrecht?, S. 74 ff., 81 ff., 132 ff., 145 ff. 45 Dazu etwa Röhl, S. 526 f.; siehe auch Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 232, wenn er ausführt, dass Gewohnheitsrecht heute ex definitione ungeschriebenes Recht sei.

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gangen46 oder auf den Hinweis auf das Rechtsverweigerungsverbot und die Tatsache, dass richterliche Rechtsfortbildung allgemein als zulässig und notwendig erachtet wird, beschränkt.47 Die Frage nach der Befugnisnorm stellt sich allerdings in erster Linie auch nicht als rechtstheoretisch-methodisches Problem, sondern vielmehr als verfassungsdogmatisches.48 Es stellt sich nämlich die Frage, ob dem Richter in einer Verfassungsbestimmung (implizit) aufgegeben wird, das Recht fortzubilden, sofern es sich als lückenhaft erweist, ob also das Justizverweigerungsverbot im Grundgesetz niedergelegt ist. a) Art. 20 Abs. 3 GG Zum Teil wird versucht, aus Art. 20 Abs. 3 GG und der Formulierung, dass die Rechtsprechung an „Gesetz und Recht“ gebunden sei, die Kompetenz zur richterlichen Rechtsfortbildung herzuleiten.49 Dabei wird das Spannungsverhältnis zwischen Gesetz und Recht betont und dem Recht ein an der Rechtsidee orientiertes überpositives Maß an Gerechtigkeit beigemessen. „Recht“ i. S. v. Art. 20 Abs. 3 GG erfasse sonach auch die Normen des ungeschriebenen Rechts und enthalte damit auch den Auftrag, das Recht fortzubilden.50 Auch das Bundesverfassungsgericht scheint die richterliche Kompetenz zur Rechtsfortbildung in Art. 20 Abs. 3 GG zu verorten.51 Dies wird deutlich, wenn es ausführt, dass durch die Bindung auch an das Recht die traditionelle Gesetzesbindung aufgelockert sei; Aufgabe der Rechtsprechung unter dem Grundgesetze sei demnach nicht bloße Gesetzesanwendung, sondern auch die Rechtsfindung.52 Dies steht in einem gewissen Widerspruch zu dem ansonsten vom Bundesverfassungsgericht verfolgten, auf die herkömmliche richterliche Aufgabe richterlicher Tätigkeit, zu der auch die Rechtsfortbildung zählt, abstel46

So etwa von Zippelius, Methodenlehre, §§ 11, 13. Vgl. etwa Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 823 ff.; Röhl, S. 544; Engisch, Einführung, S. 177, 205 f.; Coing, S. 24; in der Schweizer Literatur wird stets der Art. 1 Abs. 2, 3 schweiz. ZGB zum allgemeinen Rechtsgedanken stilisiert, ohne an einen verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkt zu denken, vgl. Kramer, S. 134 ff.; ebenso für die österreichische Lehre vor dem Hintergrund des § 7 ABGB etwa Koller, S. 226 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 473 ff. 48 So wohl auch Hillgruber, JZ 1996, 118, 119, der verschiedene verfassungsrechtliche Ansätze kurz erörtert. 49 So etwa R. Wassermann, in: AK-GG, Art. 92 Rn. 16 ff.; ebenso W. Fikentscher, Bd. IV, S. 327. 50 Fikentscher, Bd. IV, S. 327. 51 So insbesondere in BVerfGE 34, 269, 286 ff. 52 Ausdrücklich BVerfGE 34, 269, 286. 47

B. Rechtsgrundlagen der richterlichen Rechtsfortbildung

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lenden Argumentationsstrang.53 Damit scheint es in die Richtung einer Verankerung der Kompetenz zur richterlichen Rechtsfortbildung in Art. 92 GG zu denken. Analysiert man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, so muss man allerdings feststellen, dass die auf die stets schon bestehende richterliche Aufgabe abstellende Argumentationslinie, zumindest was die Anzahl der Entscheidungen angeht, überwiegt. Betrachtet man die die Rechtsfortbildung betreffenden Urteile nun genauer, so muss man jedoch konstatieren, dass sich das Bundesverfassungsgericht dort, wo es sich auf die auf die richterliche Aufgabe abstellende Begründung stützt, zumeist nur darauf hinweist, die richterliche Rechtsfortbildung gehöre in die (europäische) Rechtskultur, während es im Soraya-Beschluss im Hinblick auf die Herleitung der Rechtsfortbildungsbefugnis aus Art. 20 Abs. 3 GG einen höheren Argumentationsaufwand betreibt. So führt es aus, dass gegenüber den Satzungen54 der Staatsgewalt unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen könne, das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitze und dem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken vermöge; es zu finden und in Entscheidungen zu verwirklichen sei Aufgabe der Rechtsprechung. Diese Aufgabe könne es erforderlich machen, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent seien, aber in den geschriebenen Texten nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt seien, in einem bewertenden Akt des Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen würden, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren.55 Das Bundesverfassungsgericht kommt also zu einer Rechtsfortbildungsbefugnis, indem es über den Begriff des Rechts in Art. 20 Abs. 3 GG die verfassungsmäßige Ordnung als Sinnganzes ins Spiel bringt und damit die Gesetzesbindung des Richters partiell aushebelt. Eine noch etwas andere Nuancierung bieten Looschelders/Roth56 bei ihrer Herleitung der richterlichen Rechtsfortbildungskompetenz aus Art. 20 Abs. 3 53 Zu diesem auf die stete Aufgabe der Rechtsprechung abstellenden Argumentation siehe BVerfGE 3, 225, 243 f. (herkömmliche und stets bewältigte richterliche Aufgabe); ebenso BVerfGE 13, 153, 164; ähnlich auch BVerfGE 49, 304, 318. (Eine solche Rechtsfortbildung ist von Verfassungs wegen nicht schon grundsätzlich zu beanstanden. Vielmehr gehört sie [. . .] zu den anerkannten Aufgaben und Befugnissen der Gerichte.) 54 Hiermit sind freilich nicht die Satzungen im engen Sinne der Rechtssatzlehre, also als Rechtsnorm einer Selbstverwaltungskörperschaft, zu verstehen. Das Bundesverfassungsgericht hätte an dieser Stelle vielleicht besser von Setzungen der Staatsgewalt mit „e“ gesprochen. 55 Vgl. BVerfGE 34, 269, 286 f.; kritisch dazu, v. a. dazu, dass das Bundesverfassungsgericht von „schöpferischer Rechtsfindung“ spricht, statt von Rechtsschöpfung, Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 824, der die fehlende Methodenehrlichkeit beklagt. 56 Looschelders/Roth, S. 251 f.

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GG. Art. 20 Abs. 3 GG sei so zu verstehen, dass er Exekutive und Judikative nicht etwa an den bloßen Wortlaut der Gesetze binde, sondern vielmehr an die vom Gesetzgeber mit denselben verfolgten Zwecke.57 Er solle das Primat des Gesetzgebers dahingehend sichern, dass dieser den beiden anderen Gewalten Entscheidungsmaßstäbe vorgeben könne.58 Dem Gesetz sei nicht blind zu gehorchen, sondern vielmehr dem diesem zugrunde liegenden Rechtsgedanken in denkendem Gehorsam zu folgen.59 Danach gebiete Art. 20 Abs. 3 GG die Rechtsfortbildung, wenn der Sinn des Gesetzes eine Abweichung vom ergangenen Rechtsbefehl rechtfertige oder gar erfordere.60 Auch mit dieser Argumentation ließe sich, sofern man bereit ist, das zu Grunde liegende Verständnis des Art. 20 Abs. 3 GG zu teilen, die Kompetenz zur richterlichen Rechtsfortbildung in eben jener Verfassungsnorm begründen. b) Art. 3 Abs. 1 GG Einen weiteren Ansatzpunkt für eine Kompetenz der Rechtsprechung zur Rechtsfortbildung bietet möglicherweise auch Art. 3 Abs. 1 GG. Der allgemeine Gleichheitssatz – wenn auch ohne Hinweis auf seine verfassungsrechtliche Verankerung – wird in der rechtsmethodischen Literatur häufig genannt, um die Analogie zu begründen,61 ja sogar ein Analogiegebot aufzustellen.62 Da man die Analogie nun aber zu den klassischen Mitteln der Rechtsfortbildung im Bereich der Lückenausfüllung zählen muss,63 könnte Art. 3 Abs. 1 GG auch als Grundlage für die richterliche Rechtsfortbil57

So Looschelders/Roth, S. 251. Siehe Looschelders/Roth, S. 251. 59 Looschelders/Roth, S. 251, die sich zur Begründung, dass die Gesetzesbindung denkenden Gehorsam fordere, auf § 665 S. 1 BGB berufen, der als allgemeiner Rechtsgrundsatz aufzufassen sei. Zu § 665 S. 1 BGB als Ausdruck des Prinzips denkenden Gehorsams vgl. etwa MünchKomm.-Seiler, BGB, § 665 Rn. 2; Staudinger-Martinek, BGB, § 665 Rn. 1 f.; siehe bereits P. Heck, Grundriß des Schuldrechts, S. 354 f. 60 Looschelders/Roth, S. 252. 61 So etwa von Larenz, Methodenlehre, S. 374 f., der von dem einem Gesetz, das beanspruche Recht zu sein, innewohnenden Prinzip spricht, dass Gleichartiges gleich zu behandeln sei; wie Larenz auch Kramer, S. 149 f., sogar unter Verweis auf Art. 4 der Schweizer Bundesverfassung; ders., Analogie und Willkürverbot, S. 114; unklar Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 453 ff., der für die Rechtsfortbildung zwar Fälle rechtlicher Gleichbehandlung fordert, aber i. R. d. Analogie auf das Erfordernis der Gesetzeslücke zu verzichten können meint, a. a. O., Rn. 461 ff.; Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des Analogieschlusses und zur Verpflichtung der Gerichte Lücken zu schließen eingehend auch BVerfG, NJW 1990, 1593, 1594 ff. 62 So BVerfG, NJW 1990, 1593, 1594 f.; ebenso Kramer, S. 149; allerdings ohne daraus eine Kompetenz zur richterlichen Rechtsfortbildung abzuleiten. 63 Vgl. statt aller nur Larenz, Methodenlehre, S. 381 ff.; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 888, 889 ff.; Kramer, S. 146 ff. 58

B. Rechtsgrundlagen der richterlichen Rechtsfortbildung

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dungskompetenz dienen. Dabei müsste argumentiert werden, dass vergleichbare Fälle, von denen einer vom Wortlaut einer bestimmten Norm erfasst wird, der andere jedoch nicht, sich in einem Maße ähneln, dass sie derselben Rechtslage zugeführt werden müssen. Der Richter hat also, da er nach Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden ist und Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, wesentlich Gleiches gleich zu behandeln, die gesetzliche Regelung entsprechend auf den ungeregelten Fall anzuwenden.64 Aus der Bindung der rechtsprechenden Gewalt an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) und dem allgemeinen Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 1 GG wird ein Analogiegebot und somit ein Rechtsfortbildungsgebot konstruiert. Wenn aber das Grundgesetz ein solches Analogiegebot setzt, so muss es der Rechtsprechung auch gestattet sein, diesem Gebot nachzukommen, weshalb das Grundgesetz dem Richter auch eine entsprechende Kompetenz zuweisen muss. Da diese nirgendwo ausdrücklich geregelt ist, muss man sie dem Analogiegebot als implizit übertragen entnehmen.65 In dieser letzten Konsequenz wird Art. 3 Abs. 1 GG allerdings von keiner Stimme in der Literatur als Rechtsgrundlage für eine richterliche Rechtsfortbildungskompetenz herangezogen. c) Art. 19 Abs. 4 GG Möglicherweise könnte man das Justizverweigerungsverbot auch dem Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG entnehmen.66 In dieser Bestimmung wird ein Justizgewähranspruch festgeschrieben, der als Kehrseite das Verbot der Justizverweigerung enthalten könnte. Denn die Garantie des Zugangs zu den Gerichten erschöpft sich nicht darin, dass überhaupt eine Möglichkeit zum Beschreiten des Rechtsweges besteht, sondern verlangt einen effektiven Rechtsschutz.67 Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG, aus dem das Gebot des effektiven 64 Dazu, allerdings nur bezogen auf die Analogie, Kramer, S. 149; vgl. auch Larenz, Methodenlehre, S. 374 f., der im Gleichheitssatz die Begründung für die richterliche Rechtsfortbildung sieht. Vgl. auch die Ausführungen von BVerfG, NJW 1990, 1593, 1594, das die Befugnis zur Rechtsfortbildung allerdings wohl aus Art. 20 Abs. 3 GG gewinnt, vgl. S. 1594. 65 Diese Konsequenz zieht explizit niemand, doch scheint sie mir bei Kramer, S. 149, angelegt. 66 In diese Richtung tendiert wohl E. Bötticher, ZZP 74 (1961), 314, 317. 67 So die einhellige Meinung in Literatur und Rechtsprechung, BVerfGE 35, 263, 274; 40, 272, 275; D. Lorenz, Jura 1983, 393 ff.; H. Maurer, FS 50 Jahre BVerfG, 2. Bd., S. 467, 487 ff.; R. Wassermann, in: AK-GG (2. Aufl.), Art. 19 Abs. 4 Rn. 52 ff.; E. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Rn. 262 ff.; ders., NVwZ 1983, 1 ff.; Krüger/Sachs, in: Sachs, GG, Art. 19 Rn. 143 ff.; E. Schmidt-Jortzig, NJW 1994, 2569 ff.; H.-J. Papier, in: Isensee/Kirchhof, HbStR, Bd. VI, § 154; K. A. Bettermann, AöR 96 (1971), 528 f.; R. Scholz, DVBl. 1982, 605, 608 f.

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Rechtsschutzes abgeleitet wird, bindet neben dem Gesetzgeber auch die Rechtsprechung (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG).68 Effektiv ist dieser jedoch nur, wenn etwaige Lücken in den Gesetzen geschlossen werden können und dürfen. Wirkungsvoller Rechtsschutz kann nun nicht darin bestehen, dass ein Gericht eine Non-liquet-Entscheidung trifft, da durch eine solche im Ergebnis gar kein Schutz gewährt würde, sondern sich das Gericht quasi „aus der Verantwortung stehlen“ würde. Dies käme jedoch einer Verweigerung des Rechtsschutzes gleich und bedeutete letztlich eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG. Hieraus könnte man nun folgern, dass der Verfassunggeber die richterliche Rechtsfortbildung als Kehrseite des an die Gerichte formulierten Anspruchs des Bürgers auf einen effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG anerkannt hat. Somit könnte man also auch in Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG die Kompetenzgrundlage für die richterliche Rechtsfortbildungstätigkeit annehmen.69 Unmittelbar käme Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG allerdings nur im Bereich der Beeinträchtigungen durch die öffentliche Gewalt in Frage. Für rein privatrechtliche Streitigkeiten hingegen kommt seine unmittelbare Heranziehung als Kompetenzgrundlage für richterliche Rechtsfortbildung nicht in Betracht. d) Art. 92 GG Ein weiterer möglicher Ansatzpunkt für eine verfassungsrechtliche Kompetenznorm zur richterlichen Rechtsfortbildung ist Art. 92 GG. Einigkeit besteht insoweit, dass sich der Begriff der rechtsprechenden Gewalt mit dem der Rechtsprechung, wie er in Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 20 Abs. 3 GG verwendet wird, deckt.70 Damit Art. 92 GG als Kompetenzgrundlage für die richterliche Rechtsfortbildung herangezogen werden kann, müsste der Begriff der rechtsprechenden Gewalt diese mit umfassen. aa) Formale Interpretation Roman Herzog schlägt eine formale Interpretation des Art. 92 GG vor, wonach der Begriff der rechtsprechenden Gewalt dadurch gekennzeichnet 68

Schwachheim, in: Umbach/Clemens, GG I, Art. 19, Rn. 172 ff.; P. M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Rn. 472 ff. 69 So wohl letztlich nur Bötticher, ZZP 74 (1961), 314, 317. 70 Diese Begrifflichkeit stammt von Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 92 Rn. 39. Aus dem Grundgesetz sind hierbei z. B. zu nennen Richtervorbehalte: Art. 13 II-IV, Art. 18, Art. 21 Abs. 3, Art. 61, Art. 100 I, Art. 104 II, IV; Rechtsweggarantien: Art. 14 III 4, Art. 15 S. 2, Art. 19 IV, Art. 34 S. 3; Art. 41 II, Art, 84 IV, Art. 93 I.

B. Rechtsgrundlagen der richterlichen Rechtsfortbildung

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sein soll, was die einfachen Gesetze den Richtern in Form von Richtervorbehalten oder Rechtsweggarantien als Tätigkeit zuweisen.71 Gegen dieses formale Verständnis wird zu Recht vorgebracht, dass der Regelungsgehalt des Art. 92 Hs. 1 GG darin erschöpfen würde, dass der Rechtsweg dort, wo das Grundgesetz ihn eröffnen oder garantieren würde, nicht bloß zum Gericht, sondern auch zum Richter führt. Dies noch einmal nachdrücklich zu betonen, bestand kein Anlass. Zudem käme dies einem zu weitgehenden Gesetzesvorbehalt für die richterliche Tätigkeit gleich. Folglich ist Herzogs Interpretation der Aufgabe der rechtsprechenden Gewalt abzulehnen. bb) Materielle Interpretation Das Bundesverfassungsgericht72 und auch die ganz herrschende Ansicht73 in der Literatur sind hingegen mit Recht der Auffassung, dass der Begriff „rechtsprechende Gewalt“ in Art. 92 Hs. 1 GG zumindest auch materielle Bedeutung habe und dementsprechend auszulegen sei. Dem ist beizupflichten. Eine klare Definition dessen, was Rechtsprechung bzw. rechtsprechende Gewalt ist, hat sich nicht durchsetzen können, doch ist mit dem Bundesverfassungsgericht davon auszugehen, dass der Verfassunggeber zumindest die traditionellen Kernbereiche der Rechtsprechung – die bürgerliche Rechtspflege und die Strafgerichtsbarkeit – der rechtsprechenden Gewalt zugeordnet hat.74 Dennoch ist die rechtsprechende Gewalt nicht hierauf zu beschränken, sondern Art. 92 Hs. 1 GG ist in einem systematischen Zusammenhang mit Art. 92 Hs. 2, Art. 93 und Art. 95 Abs. 1 GG zu sehen, so dass sämtliche Rechtsmaterien dem Bereich der „rechtsprechenden Gewalt“ unterfallen. In einer einheitlichen Definition, soll sie nicht zu kompliziert werden, ist die Rechsprechung allerdings kaum zu fassen. Vielmehr ist dem Bundesverfassungsgericht darin zu folgen ist, dass von einem traditionellen Verständnis des Begriffs Rechtsprechung/rechtsprechende Gewalt auszugehen75 und die damit verbundenen Aufgaben auf sämtliche über Art. 92 Hs. 2 i. V. m. Art. 93 Abs. 1, Art. 95 Abs. 1 genannten Gerichtsbarkeiten zu erstrecken sind. Die Kompetenz zur rechtsprechenden Gewalt ist 71

So Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 92 Rn. 43; ebenso J. Neuner, S. 53. Vgl. nach anfangs noch etwas schwankender Rechtsprechung die Grundsatzentscheidung BVerfGE 22, 49, 73 ff. 73 Siehe etwa Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 92 Rn. 7, 10 ff.; K. Hesse, Rn. 547 ff.; ebenso Schulze-Fielitz, in Dreier, GG, Art. 92 Rn. 24; Achterberg, in: BK-GG, Art. 92 Rn. 66; Bettermann, in: Isensee/Kirchhof, HbStR III, § 73 Rn. 19; implizit auch Hillgruber, JZ 1996, 118 f. 74 So BVerfGE 22, 49, 77. 75 Vgl. BVerfGE 22, 49, 77. 72

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demnach im Lichte der gemeineuropäischen Rechtsüberlieferung und Rechtskultur auszulegen, die der Verfassunggeber in Art. 92 Hs. 1 GG rezipiert hat und welche die Befugnis zu richterlicher Rechtsfortbildung mitumfasst.76 Die schöpferische Rechtsfindung im Bereich der Gesetzeslücken erscheint demnach als integraler Bestandteil der den Richtern vom Grundgesetz anvertrauten richterlichen Gewalt.77 Somit wäre die Grundlage richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz in Art. 92 Hs. 1 GG zu finden. e) Eigene Stellungnahme Gegen Art. 20 Abs. 3 GG und die darin enthaltene Formulierung „Gesetz und Recht“ als Grundlage für die richterliche Rechtsfortbildungskompetenz ist anzuführen, dass diese Ansicht nicht hinreichend die gesamte Formulierung beachtet. Entscheidend scheint mir nämlich zu sein, dass Art. 20 Abs. 3 von der Bindung an Gesetz und Recht spricht. Damit zieht Art. 20 Abs. 3 GG der richterlichen Kompetenz zuvörderst eine Grenze, da er den Richter an das Gesetz und Recht bindet, diesen also unterwirft. Der von jener Ansicht, welche die Kompetenz richterlicher Rechtsfortbildung in Art. 20 Abs. 3 GG verankert, vorgebrachte Fall eines Konflikts zwischen Gesetz und Recht, der insofern die Bindung an das Gesetz zugunsten des Rechts lockere,78 vermag nur die Fälle der Rechtsfortbildung contra legem zu erfassen, nicht aber die praktisch viel bedeutsamere Rechtsfindung praeter legem.79 Auch vermag die Lockerung des Gesetzesgehorsams für sich keine Kompetenz zu begründen, sondern setzt diese bereits voraus. Art. 20 Abs. 3 GG zeigt insofern lediglich Schranken richterlicher Kompetenz auf. In ihm lässt sich die Befugnis zu richterlicher Rechtsfortbildung nicht begründen. Folglich muss Art. 20 Abs. 3 GG als Befugnisnorm für die schöpferische Rechtsfindung durch die Gerichte ausscheiden. 76 Ebenso Hillgruber, JZ 1996, 118, 119; ähnlich auch Hesse, Rn. 548 (für die Fortbildung des einfachen Rechts), 565 (für das Verfassungsrecht); siehe auch Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Ar. 92 Rn. 38 f., der zwischen Rechtsetzung und Rechtsbildung differenziert. 77 Ausdrücklich so nur Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 92 Rn. 39; Hillgruber, JZ 1996, 118, 119. 78 Vgl. dazu Fikentscher, Bd. IV, S. 327; Wassermann, in: AK-GG (2. Aufl.), Art. 92 Rn. 17; ähnlich auch I. v. Münch, Staatsrecht I, Rn. 363 ff. 79 Dass aus Art. 20 Abs. 3 GG maximal eine Rechtsfortbildung contra legem abgeleitet werden kann, erkennt auch Fikentscher, Bd. IV, S. 327, wenn er ausführt, es sei unbestreitbar, dass Art. 20 Abs. 3 GG eine gesetzeskorrigierende Funktion besitze (Hervorhebung auch im Original).

B. Rechtsgrundlagen der richterlichen Rechtsfortbildung

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Gegen eine Herleitung der Kompetenz zur richterlichen Rechtsfortbildung aus Art. 3 Abs. 1 GG spricht, dass es sich bei diesem um ein Grundrecht handelt. Grundrechte binden die Staatsgewalt als unmittelbar geltendes Recht (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG), doch räumen sie ihr keine Kompetenzen ein. Vielmehr setzen die Grundrechte dem zulässigen staatlichen Handeln Grenzen.80 Auch hilft das Gleichbehandlungsgebot hier nicht weiter; die Kompetenz dieses zu verwirklichen muss aus einer anderen Bestimmung hergeleitet werden, nicht aus dem Grundrecht selbst. Somit muss auch Art. 3 Abs. 1 GG als Befugnisnorm für die richterliche Rechtsfortbildung ausscheiden. Ähnlichen Bedenken wie bei Art. 3 Abs. 1 GG begegnet auch die Herleitung des Justizverweigerungsverbots und damit die Befugnis zu richterlicher Rechtsfortbildung aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG. Bei diesem handelt es sich nämlich um einen grundrechtlichen Anspruch auf Rechtsschutz, der zwar eine Auffangzuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit postuliert, von der richterlichen Befugnis im Übrigen aber bereits ausgeht. Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG setzt die effektive Ausgestaltung des Gerichtsverfahrens voraus, kann aber, da es sich bei dieser Norm um ein Grundrecht handelt und damit keine Kompetenzgrundlage für staatliches Handeln, sondern um eine Begrenzung staatlicher Macht, nicht als Befugnisnorm herangezogen werden. Auch bei Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG muss – wie auch bei Art. 3 Abs. 1 GG – der in den Amendments der US-Verfassung trefflich ausgedrückte Grundsatz: „Congress shall make no law“ gelten. Aus dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz und damit auch auf eine inhaltliche Entscheidung ergibt sich als Kehrseite zwar auch die Pflicht zur Rechtsfortbildung (Justizverweigerungsverbot als Kehrseite des Justizgewähranspruchs), jedoch nicht zwangsläufig die Befugnis. Vielmehr lässt sich Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG eine grundrechtliche Garantie der – wo erforderlich – richterlichen Rechtsfortbildung sehen; diese Garantie ist allerdings aus Bürgersicht gewährleistet, nicht aus Sicht der staatlichen Gerichte. Zwar setzt die Verpflichtung der Gerichte zur Rechtsfortbildung die Befugnis hierzu voraus – man kann nämlich nur zu etwas verpflichtet sein, zu dem man auch befugt ist –, dennoch folgt hieraus noch nicht, dass Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG auch die Kompetenzgrundlage für die richterliche Rechtsfortbildung ist. Man kann Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG einen wichtigen Hinweis auf das Justizverweigerungsverbot entnehmen, nicht aber die Ermächtigung zur Schaffung von Richterrecht. 80 Zur Begrenzung staatlicher Kompetenzen durch Grundrechte vgl. nur Pieroth/ Schlink, Rn. 73, die sogar von Grundrechten als negativen Kompetenznormen sprechen. Ebenso ist die Formulierung der Zusatzartikel der US-Verfassung zu verstehen, wenn es heißt: „Congress shall make no law.“

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

Es bleibt also noch Art. 92 Hs. 1 GG. Für eine Verankerung der Kompetenz zur Rechtsfortbildung in Art. 92 Hs. 1 GG spricht, dass man insbesondere der Systematik der Verfassung gerecht wird, wenn man den Begriff der „rechtsprechenden Gewalt“ als das versteht, was dem Richter im Grundgesetz an Aufgaben zugewiesen wurde (formelle Komponente) und darüber hinaus auch als dasjenige, was ihm aus einem Vorverständnis heraus an Rechtsprechungsaufgaben innewohnt (materielle Komponente), wozu auch die Rechtsfortbildung zählt. Der Systematik wäre insofern Genüge getan, dass damit die Kompetenz zur richterlichen Rechtsfortbildung im IX. Abschnitt des Grundgesetzes über die Rechtsprechung verankert wäre. Auch war dem Verfassunggeber bei der Übertragung der Rechtsprechungsaufgabe bekannt, dass die Richter niemals als bloßer Mund des Gesetzes gesehen wurden81 und das Recht auch stets fortgebildet haben. Hätte er die richterliche Rechtsfortbildung aus der Aufgabe der richterlichen Gewalt ausnehmen wollen, so hätte er dieses wohl deutlicher machen müssen. Dann aber muss die rechtsprechende Gewalt, welche den Richtern in Art. 92 Hs. 1 GG übertragen wird, auch bedeuten, dass dem Richter damit auch die Befugnis zur Rechtsfortbildung zusteht.82 Folglich spricht am meisten dafür, die Kompetenz zur richterlichen Rechtsfortbildung in Art. 92 Hs. 1 GG zu verorten. Praktisch spielt diese Frage freilich keine Rolle, sind sich doch alle darin einig, dass den Gerichten eine Kompetenz zur Rechtsfortbildung zusteht, doch war ihre Klärung von theoretischem Interesse. 3. Einfachgesetzliche Grundlagen Nachdem mit Art. 92 Hs. 1 GG eine verfassungsrechtliche Ermächtigungsgrundlage für die Rechtsfortbildung gefunden worden ist, bedarf es einer einfachgesetzlichen Grundlage prinzipiell nicht mehr.83 Normen des einfachen Gesetzesrechts stellen dann nur noch Ausformungen der verfassungsrechtlichen Kompetenz zur Rechtsfortbildung dar. In verschiedenen Verfahrensvorschriften wird denn auch deutlich, dass der Gesetzgeber die Rechtsfortbildung anerkennt, wobei sich diese Hinweise in den Revisions81

Vgl. zu diesem Richterverständnis K.-P. Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Art. 20 Abs. 3 Rn. 286. 82 So im Ergebnis auch Hesse, Rn. 548; Hillgruber, JZ 1996, 118, 119; SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Art. 92 Rn. 39. 83 Richtig dazu, die verfassungsrechtliche Grundlage allerdings anders als hier in Art. 20 Abs. 3 GG sehend C. W. Hergenröder, S. 176; zum Zivilprozessrecht als Anknüpfungspunkt für die richterliche Rechtsfortbildung auch H. Prütting, FS Rechtswissenschaftliche Fakultät zu Köln, S. 305, 311 ff.

B. Rechtsgrundlagen der richterlichen Rechtsfortbildung

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gründen zu den obersten Bundesgerichten und den Zulassungsgründen für Rechtsbeschwerdeverfahren finden lassen. Bekannt ist vor allem die Vorschrift des § 132 Abs. 4 GVG84, der für die ordentliche Gerichtsbarkeit die Frage der Vorlage eines Verfahrens an den Großen Senat des Bundesgerichtshofs für zulässig erklärt, wenn dies „zur Fortbildung des Rechts erforderlich“ sei. Entsprechende Vorschriften finden sich in § 45 Abs. 4 ArbGG85, § 11 Abs. 4 VwGO86, § 11 Abs. 4 FGO87 und § 41 Abs. 4 SGG88.89 Diese Regelungen werden manchmal neben den allgemeinen Erwägungen zur richterlichen Rechtsfortbildung genannt, und man wird wohl anerkennen müssen, dass diese gleichlautenden Formulierungen einen eindrucksvollen Beleg für die Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung in der deutschen Rechtsordnung darstellen.90 Abzulehnen ist jedoch die Vorstellung, aus den genannten Vorschriften ergebe sich die ausschließliche Rechtsfortbildungskompetenz der Großen Senate der obersten Gerichtshöfe des Bundes.91 Wie sich aus den Ausführungen zur verfassungsrechtlichen Verankerung der Rechtsfortbildungsbefugnis ergibt, steht diese Kompetenz einem Richter gleich welcher Instanz zu. Dieses lässt sich für die Berufung im Zivilprozess sogar am Gesetz belegen. Das Amtsgericht kann nämlich nach § 511 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 Var. 2 ZPO die Beru84 Dazu R. Kissel, GVG, § 132 Rn. 37; vgl. auch die Erläuterungen bei Prütting, FS Rechtswissenschaftliche Fakultät zu Köln, S. 305, 311 ff.; Hergenröder, S. 66 f. 85 Dazu H. Prütting, in: Germelmann/Matthes/ders./Müller-Glöge, ArbGG, § 45 Rn. 31; vgl. auch W. Grunsky, in: ders., ArbGG, § 45 Rn 7 (noch zur alten Gesetzesfassung). 86 Siehe etwa die knappe Erläuterung bei Kopp/Schenke, VwGO, § 11 Rn. 4 allerdings ohne auf die Problematik richterlicher Rechtsfortbildung weiter einzugehen; unbrauchbar Geiger, in Eyermann/Fröhler, VwGO, § 11 Rn. 5, der statt von Rechtsfortbildung von Rechtsvorbildung (!) spricht; Keinerlei Erläuterungen finden sich bei Redeker/v. Oertzen, VwGO, § 11. 87 Siehe R. Ruban, in: Gräber, FGO, § 11 Rn. 26 f.; siehe auch BFHE 91, 213 ff. zu der Frage, wer über die grundsätzliche Bedeutung für die Fortbildung des Rechts und der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung entscheidet. 88 Vgl. BSGE 2, 164, 167 ff., wo das Bundessozialgericht darauf hinweist, dass die Antwort auf Fragen von grundsätzlicher Bedeutung und die Rechtsfortbildung nicht etwa nur dem Großen Senat, sondern grundsätzlich jedem Senat des Gerichts obliege; Lüdtke, in: Hk-SGG, § 41 Rn. 11; J. Meyer-Ladewig, SGG, § 41 Rn. 17 ff. 89 In ZPO finden sich vergleichbare Vorschriften für die Zulassung der Berufung bzw. Revision in §§ 511; 543 ZPO. 90 Ebenso Prütting, FS Rechtswissenschaftliche Fakultät zu Köln, S. 305, 314; Hergenröder, S. 66 f. 91 So aber K.-R. Wagner, BB 1986, 465, 471. Ebenfalls ablehnend wie hier Prütting, FS Rechtswissenschaftliche Fakultät zu Köln, S. 305, 315.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

fung zulassen, sofern die der Fortbildung des Rechts dient. Aber auch die Revision ist zuzulassen, wenn sie der Fortbildung des Rechts dient, vgl. § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Var. 1 ZPO. Das Verfahren vor den Großen Senaten dient also, wie die gesamte höchstrichterliche Rechtsprechung, in erster Linie der Rechtsvereinheitlichung.92 Doch auch in einigen anderen Gesetzen anerkennt der Gesetzgeber die Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung, wenn er etwa in § 80 Abs. 1 Nr. 1, 1. Var. OWiG, § 74 Abs. 2, 2. Var. PatG, § 100 Abs. 2 Nr. 2, 2. Var. PatG, § 219 BEG die Zulassung der Revision oder Rechtsbeschwerde wegen der „Fortbildung des Rechts oder der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung“ ermöglicht.93 Aus all diesen Normen wird deutlich, dass die richterliche Rechtsfortbildung auch einfachgesetzlich anerkannt ist, jedoch – dies bleibt festzuhalten – begründen diese keine einfachgesetzliche Kompetenz neben der verfassungsrechtlichen aus Art. 92 Hs. 1 GG.94 Sie sind lediglich Beweis für die Akzeptanz der richterlichen Rechtsfortbildung in der Rechtsordnung. 4. Abschließende Stellungnahme Die häufig favorisierte gewohnheitsrechtliche Geltung des Justizverweigerungsverbots als Kompetenzgrundlage richterlicher Rechtsfortbildung ist abzulehnen. Für eine solche ist neben einer dem Grundgesetz zu entnehmenden Ermächtigung auch kein Bedarf mehr. Meiner Ansicht nach stellt sich die verfassungsrechtliche Verankerung der richterlichen Rechtsfortbildung folgendermaßen dar: Die Kompetenz zu richterlicher Rechtsfortbildung ergibt sich aus Art. 92 Hs. 1 GG.95 Die „rechtsprechende Gewalt“, welche den Richtern in dieser Bestimmung anvertraut wird, umfasst auch die Befugnis zur Rechtsfortbildung. Für die 92 Vgl. etwa BVerfGE 49, 148, 155 ff.; dazu Anm. von H. Prütting, ZZP 92 (1979), 272, 278; BVerfGE 54, 277, 291 f.; dazu Anm. von H. Prütting, ZZP 95 (1982), 76, 78 (jeweils noch zum alten § 554 b ZPO); Kissel, GVG, § 132 Rn. 1; Meyer-Ladewig, SGG, § 41 Rn. 17; Kopp/Schenke, VwGO, § 11 Rn. 1; Prütting, in Germelmann/Matthes/ders./Müller-Glöge, ArbGG, § 45 Rn. 31; Ruban, in: Gräber, FGO, § 11 Rn. 1, 26. 93 Prütting, FS Rechtswissenschaftliche Fakultät zu Köln, S. 305, 313; Hergenröder, S. 176. 94 Ebenso Hergenröder, S. 176. 95 Die Rechtsfortbildungskompetenz ebenfalls dort verortend Hillgruber, JZ 1996, 118, 119, allerdings ohne eine Differenzierung zwischen Normen, aus welchen sich eine Pflicht zur Rechtsfortbildung ergibt, und der Suche nach einer Kompetenzgrundlage.

B. Rechtsgrundlagen der richterlichen Rechtsfortbildung

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Rechtsprechung im Bereich der Eingriffsverwaltung lässt sich dieses Ergebnis auch an Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG ablesen, da sich aus dem dort festgeschriebenen Justizgewähranspruch auch eine Pflicht der Gerichte zu effektivem Rechtsschutz ergibt, welche die Lückenschließung oder sonstige Rechtsfortbildung erforderlich machen kann. Dann aber muss der Rechtsprechung auch die Kompetenz hierzu zustehen. Diese ist ihr eben gerade in Art. 92 Hs. 1 GG übertragen. Verfügt die Rechtsprechung über die Befugnis, das Recht fortzubilden, so ist sie im gegebenen Fall auch verpflichtet, von ihrer Kompetenz Gebrauch zu machen.96 Für die Rechtsfortbildung praeter legem, ergibt sich eine solche Pflicht aus Art. 3 Abs. 1 GG.97 Gleichen sich nämlich zwei Fälle derart, dass sie rechtlich gleich zu behandeln wären, jedoch nur der eine ausdrücklich geregelt ist, so verstieße es gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, an den über Art. 1 Abs. 3 GG auch die Rechtsprechung gebunden ist, wenn der Richter unter bloßer Berufung darauf, dass der eine Fall nicht geregelt sei, eine Entscheidung verweigert. Dies bedeutet, dass Art. 3 Abs. 1 GG ein Analogiegebot98 bzw. eine Pflicht zur teleologischen Reduktion im Lückenbereich begründet. Folglich setzt auch Art. 3 Abs. 1 GG, versteht man ihn wie hier als Pflicht zur Rechtsfortbildung, die Kompetenz zu dieser voraus. Eine Pflicht zur Rechtsfortbildung contra legem könnte sich aus Art. 20 Abs. 3 GG und die Bindung des Richters an Gesetz und Recht ergeben. Tritt nämlich zwischen Gesetz und Recht ein Widerspruch in der Weise auf, dass das Gesetz der Gerechtigkeit zuwiderläuft, so stellt sich die Frage, wie der Richter diesen Widerspruch aufzulösen hat. Ich glaube, dass der Ansatzpunkt hierfür in der bekannten Radbruchschen Formel99 gefunden wurde. Diese – auch vom Bundesverfassungsgericht aufgegriffene Formel100 – ist in Art. 20 Abs. 3 GG anzusiedeln und lautet wörtlich: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes ein so unerträgliches Maß er96

Eine solche Differenzierung zwischen Pflicht und Befugnisnorm deutet auch Hergenröder, S. 169 an, wenn auch ohne nähere Ausführungen. 97 Dafür wohl auch Larenz, Methodenlehre, S. 374 f.; siehe auch Kramer, S. 149, der auf Art. 4 der Schweizer Bundesverfassung verweist, neuerdings deutlich zum deutschen Recht Schmidt, VerwArch 2006, 139, 162 f. 98 So Schmidt, VerwArch 2006, 139, 162 f. 99 G. Radbruch, SJZ 1946, 104, 107. 100 So in BVerfGE 3, 58, 118 f.; ausdrücklich auch in BVerfGE 3, 225, 232; aus der neueren Rechtsprechung BVerfGE 95, 96, 135.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

reicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung kann aber in aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung des positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren denn als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.“101

Damit wird, legt man diese Formel seinem Verständnis der Rechtsfortbildung contra legem zugrunde, folgendes klar. Grundsätzlich ist eine Rechtsfortbildung contra legem unzulässig, die Rechtssicherheit als Element der Gerechtigkeit überwiegt hier die Gerechtigkeit im engeren Sinne, so dass sich die positive Regelung durchsetzt, mag sie inhaltlich auch ungerecht oder unzweckmäßig sein. Bedeutsam ist dieser Teil der Formel also vor allem für die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, auf die später eingegangen werden soll. Die zweite Fallgruppe, die Radbruch bildet, ist die für die Verpflichtung des Richters zu richterlicher Rechtsfortbildung maßgebliche. Wenn nämlich die inhaltliche Ungerechtigkeit einer positiven Norm ein unerträgliches Ausmaß angenommen hat, so hat das Gesetz als unrichtiges Recht dem Recht zu weichen. Dies bedeutet für die richterliche Entscheidung nun freilich nichts anderes, als contra legem judizieren zu müssen, um dem Recht zum Siege zu verhelfen. Dies ist gem. Art. 20 Abs. 3 GG Pflicht des Richters. Er urteilt dann zwar contra legem sed intra ius. Der Fall, dass eine Norm Gerechtigkeit nicht einmal mehr erstrebt, scheint kein Problem zu sein. Da Radbruch einer solchen Norm die Rechtsqualität abspricht, besteht kein Zweifel, dass eine solche Norm von Rechts wegen nicht angewendet werden darf. Man könnte hier zweifeln, ob Radbruch die positive Regelung überhaupt noch als Gesetz (lex) versteht, so dass ein Abweichen von dieser sich nicht als Rechtsfortbildung contra legem darstellte. Da die Norm aber keinesfalls zur Anwendung kommen soll, ist auch bei dieser dritten Konstellation Raum für eine richterliche Rechtsfortbildung. Folglich ergibt sich aus Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. der Radbruchschen Formel als eine Auslegung der Bindung an Gesetz und Recht ein Gebot zur Rechtsfortbildung contra legem in jenen Fällen, in denen der Widerspruch der positiven Norm ein unerträgliches Maß erreicht. Die Kompetenz zur Rechtsfortbildung ergibt sich aus Art. 92 Hs. 1 GG, jedoch lassen sich aus anderen Verfassungsbestimmungen Verpflichtungen 101

Radbruch, SJZ 1946, 104, 107.

B. Rechtsgrundlagen der richterlichen Rechtsfortbildung

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der Richter zur Rechtsfortbildung ableiten. Dass die Rechtsfortbildung Aufgabe der Gerichte ist, zeigt sich aber nicht nur an diesen Grundgesetzbestimmungen, sondern findet seinen ausdrücklichen Niederschlag auch in zahlreichen einfachgesetzlichen Normen, in welchen die Rechtsfortbildung genannt wird.

II. Frankreich Anders als in Deutschland besteht in Frankreich um die Kompetenzgrundlage zur richterlichen Ausfüllung von Gesetzeslücken keinerlei Streit, da hierzu eine gesetzliche Regelung besteht. Einhellig wird das Verbot des déni de justice, wie es in Art. 4 des Code civil als allgemeiner Rechtsgrundsatz seinen Ausdruck gefunden hat, herangezogen.102 Insoweit besteht eine ausdrückliche einfachgesetzliche Ermächtigung, Gesetzeslücken aufzufüllen, also das Recht fortzubilden. Damit kann man das Verbot des déni de justice als die im französischen Recht auch über das Zivilrecht hinausgehend geltende Rechtsgrundlage für die richterliche Rechtsfortbildung heranziehen, wobei Malaurie/Morvan ebenfalls die Art. 12103 und 604104 des Code de procédure civil, also der französischen Zivilprozessordnung hinzuziehen, in welchen ebenfalls das Verbot des déni de justice zum Ausdruck kommt.105 Ableiten kann man das 102

So diskutieren Malaurie/Morvan, Introduction générale, p. 278 (Rn. 357) den Art. 4 Code civil unter der Frage nach den fondements du pouvoir créateur de la jurisprudence. 103 Art. 12 Code de procédure civil lautet: „Le juge tranche le litige conformément aux règles de droit qui lui sont appliquables. Il doit donner ou restituer leur exacte qualification aux faits et actes litigieux sans s’arrêter à la dénomination que les parties en aurait proposée. Toutefois, il ne peut changer la dénomination ou le fondement juridique lorsque les parties, en vertu d’un accord exprès et pour les droits dont elles ont la libre disposition, l’ont lié par les qualifications et points de droits auxquelles elles entendent limiter le débat. [. . .]. In freier deutscher Übersetzung lautet diese Bestimmung in etwa: Der Richter behandelt den Rechtsstreit nach den Rechtsregeln, die von ihm anzuwenden sind. Er muss ihre genaue Verbindung zu den umstrittenen Tatsachen und Handlungen darlegen ohne sich mit den von den Parteien vorgetragenen Vorschlägen aufzuhalten. Jedenfalls darf er nicht die Benennung oder den Rechtsgrund ändren, wenn die Parteien ihn durch eine genaue Bezeichnung der Punkte und Rechte auf die sie den Rechtsstreit beschränken wollen und die ihrer Verfügung unterliegen, insoweit gebunden haben. 104 Art. 604 Code de procédure civil lautet: „Le pourvoi en cassation tend à faire censurer par la Cour de cassation la non-conformité du jugement qu’il a aux règles de droit.“ In deutscher Übersetzung bedeutet dies: Die Revision dient dazu durch die Cour de cassation die Unvereinbarkeit des Urteils mit den Rechtsregeln festzustellen. 105 Hierauf weisen Malaurie/Morvan, Introduction générale, p. 278 (Rn. 357), ausdrücklich hin.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

Rechtverweigerungsverbot aber auch aus der Strafbestimmung Art. 434-7-1 Code pénal106, welcher den déni de justice unter Strafe stellt.107 Jedoch wäre darüber nachzudenken, ob das Rechtsverweigerungsverbot nicht als gewohnheitsrechtlicher Satz auf Ebene des französischen Verfassungsrechts anzusiedeln wäre und er deshalb über das Zivilrecht hinaus für die Rechtsprechung kompetenzbegründende Bedeutung erlangt. Soweit ersichtlich wird dieses in der französischen Methodenlehre allerdings nicht diskutiert. Vergleicht man nun Deutschland und Frankreich, so ist festzuhalten, dass in Deutschland erhebliche Uneinigkeit über die geeignete Rechtsgrundlage für die richterliche Rechtsfortbildung besteht, während in Frankreich unbestritten stets das Verbot des déni de justice genannt wird.

III. Europäische Gemeinschaften Für seine rechtsfortbildende Tätigkeit bedarf auch der Europäische Gerichtshof einer Ermächtigungsgrundlage.108 Dies wird vor dem Hintergrund des in Art. 5 Abs. 1 EGV verankerten Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung besonders deutlich, muss der Gerichtshof doch, um rechtsfortbildend tätig zu werden, vom Vertrag hierzu ermächtigt worden sein.109 Der EuGH müsste also durch eine Vertragsbestimmung befugt sein, neben dem Gemeinschaftsgesetzgeber durch seine Rechtsfortbildung in gewissem Rahmen „rechtsetzend“ tätig zu werden. Als mögliche Grundlage für die richterliche Rechtsfortbildungskompetenz werden verschiedene Bestimmungen des EG-Vertrages diskutiert. 106 Art. 434-7-1 Code pénal lautet: „Le fait, par un magistrat, toute autre personne siégeant dans une formation juridictionelle ou toute autorité administrative, de dénier de rendre justice après avoir été requis et de persévérer dans son déni après avertissement ou injonction de ses supérieurs est puni de 7500 euros d’amende et de l’interdiction de l’exercice des fonctions publiques pour une durée de cinq à vingt ans. In deutscher Übersetzung lautet diese Strafbestimmung in etwa: Die Rechtsverweigerung durch einen angerufenen Richter, jede andere in einem rechtssprechenden Organ sitzende Person oder einen Verwaltungsbeamten wird mit 7500 Euro Geldstrafe und dem Verbot der Ausübung eines öffentlichen Amtes für einen Zeitraum von fünf bis 20 Jahren bestraft, wenn die Person bei ihrer Rechtsverweigerung bleibt, obwohl sie zuvor von ihren Vorgesetzen verwarnt oder zur Entscheidung aufgefordert worden ist. 107 Malaurie/Morvan, Introduction générale, p. 278 (Rn. 357). 108 Auf das Erfordernis einer Ermächtigungsgrundlage geht jüngst etwas ausführlicher C. Callies, NJW 2005, 929 f. ein. 109 Zum Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung etwa Callies, in ders./Ruffert, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rn. 8 f. m. w. N.

B. Rechtsgrundlagen der richterlichen Rechtsfortbildung

135

1. Art. 10 EGV? Armin von Bogdandy sieht den Ausgangspunkt des EuGH bei seinen rechtsfortbildenden Tätigkeiten in Art. 10 EGV.110 Dies gilt zumindest für die rechtsfortbildenden Urteile, welche das Verhältnis zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten betreffen.111 Während Art. 220 EGV die Grundlage sei, auf welcher der Gerichtshof der Setzung und Durchführung des Gemeinschaftsrechts rechtliche Schranken ziehe und somit den Begriff des Gemeinschaftsrechts einschränke, sei Art. 10 EGV die Bestimmung, die den Gerichtshof ermächtige, zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft und ihres Rechts konkrete Ge- und Verbote zu setzen.112 Nach v. Bogdandy sollen sämtliche Judikate sich (zu denken ist hier etwa an den Vorrang des Gemeinschaftsrechts, die unmittelbare Wirkung von Richtlinien und die Staatshaftung der Mitgliedstaaten) auf diese Bestimmung stützen, selbst wenn der Gerichtshof sie nicht ausdrücklich nennt.113 Analysiert man allerdings die – insofern ziemlich unklaren – Ausführungen v. Bogdandys genauer, so muss man feststellen, dass er Art. 10 EGV wohl nicht als Ermächtigungsgrundlage für die Rechtsfortbildung betrachtet, auch wenn er ausführt, Art. 10 EGV ermächtige den EuGH, die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft zu sichern, sondern er vielmehr in Art. 10 EGV nur den dogmatischen Ansatzpunkt des Gerichtshofs zu erkennen meint.114 In Art. 10 EGV eine Kompetenzgrundlage für die richterliche Rechtsfortbildung zu erkennen, würde auch nicht zu überzeugen vermögen, nennt die Vorschrift den EuGH doch nicht einmal und hat sie auch sonst keinen besonderen Bezug zur Rechtsprechung. Hieraus die Rechtsfortbildungsbefugnis herzuleiten, wäre mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung schwerlich zu vereinbaren. Eine Ableitung der Kompetenz des EuGH zur Rechtsfortbildung aus Art. 10 EGV scheidet somit aus. 2. Art. 220 Abs. 1 EGV Untersucht man nunmehr den Abschnitt über den Gerichtshof im EG-Vertrag, so bietet sich als Ermächtigungsgrundlage lediglich der Art. 220 Abs. 1 110

A. v. Bogdandy, GS Grabitz, S. 17, 19 ff. So v. Bogdandy, GS Grabitz, S. 17, 19. 112 Vgl. v. Bogdandy, GS Grabitz, S. 17, 19. 113 v. Bogdandy, GS Grabitz, S. 17, 19; ähnlich aber auch O. Due, S. 3. 114 So muss man v. Bogdandy, GS Grabitz, S. 17, 20 f. wohl letztlich verstehen. Auf diese dogmatische Abstützung der Rechtsfortbildung des EuGH durch Art. 10 EGV weist auch Callies, NJW 2005, 929, 931 hin. 111

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

EGV i. V. m. den jeweiligen einzelnen Verfahrensarten an. Dabei werden dem Gerichtshof und dem Gericht erster Instanz die Sicherung der „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages“ überantwortet. Im Folgenden soll untersucht werden, was Gerichtshof und Lehre unter der Sicherung der „Wahrung des Rechts“ verstehen und inwieweit in Art. 220 Abs. 1 EGV vor dem Hintergrund der Umschreibung des Aufgabenbereichs mit „bei der Anwendung und Auslegung dieses Vertrages“ die Kompetenz zur richterliche Rechtsfortbildung in dieser Bestimmung verortet werden kann. a) Der Gerichtshof Der Gerichtshof hält sich mit Aussagen zu seiner Kompetenz weitgehend zurück. Dennoch geht er in einigen Entscheidungen ausdrücklich auf dieses Problem ein. Bereits 1957 entschied der EuGH in der Rechtssache Algera u. a. zum EGKS-Vertrag, dass er, um sich nicht dem Vorwurf der Rechtsverweigerung auszusetzen, verpflichtet sei, eine bestimmte (ungeregelte) Frage zu entscheiden.115 Der Gerichtshof stellte dabei allein auf das Rechtsverweigerungsverbot ab, um zu begründen, dass er eine Lücke schließen dürfe.116 Eine konkrete Bezugnahme auf eine bestimmte Norm fehlt in diesem Urteil. In späteren rechtsfortbildenden Entscheidungen hat der EuGH dann auch auf Art. 220 Abs. 1 EGV (bzw. Art. 164 Abs. 1 EWGV) Bezug genommen und auf seine Aufgabe, das Recht zu wahren, abgestellt. Ohne die Vertragsbestimmung ausdrücklich zu nennen, aber doch mit der Formulierung deutlich auf sie hinweisend, hat der Gerichtshof etwa die Herleitung der Sicherung der Gemeinschaftsgrundrechte damit begründet, indem er ausführt, dass die Beachtung der Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehöre, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern habe.117 In der Rechtssache „Les Verts/Parlament“ nennt er dann ausdrücklich den Art. 220 Abs. 1 EGV (bzw. damals noch Art. 164 EWGV) in Verbindung mit dem Rechtsverweigerungsverbot als Kompetenzgrundlage für seine Rechtsprechung.118 115 EuGH, Urt. v. 12.7.1957, verb. RS. 7/56 und 3/57–7/57 (Algera u. a.), Slg. 1957, 83, 118. 116 EuGH, Urt. v. 12.7.1957, verb. RS. 7/56 und 3/57–7/57 (Algera u. a.), Slg. 1957, 83, 118. 117 So etwa EuGH, Urt. v. 17.12.1970, RS. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide) Slg. 1970, 1125, 1135 (Rn. 4); ebenso EuGH, Urt. v. 13.12.1979, RS. 44/79 (Hauer/Land Rheinland-Pfalz), Slg. 1979, 3727, 3744 f. (Rn. 15); EuGH, Urt. v. 14.5.1974, RS. 4/73 (Nold/Kommission), Slg. 1974, 491. 118 EuGH, Urt. v. 23.4.1986, RS. 294/83 (Les Verts/Parlament), Slg. 1986, 1339, 1365 (Rn. 23 ff.).

B. Rechtsgrundlagen der richterlichen Rechtsfortbildung

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In dieser Entscheidung hat sich der EuGH die Auffassung von Klägerin und Beklagten zu eigen gemacht, dass es eine Rechtsverweigerung darstellen würde, „wollte man angesichts von Art. 164 EWG-Vertrag die dem Gerichtshof durch Art. 173 EWG-Vertrag übertragene Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane auf Handlungen des Rates und der Kommission beschränken.“119 Hier wird schon sehr deutlich, dass der Gerichtshof beansprucht, die planwidrige Regelungslücke (fehlende Überprüfbarkeit von Akten des Europäischen Parlaments) unter Berufung auf seine Aufgabe der Sicherung der Wahrung des Rechts und unter Verweis auf das Justizverweigerungsverbot schließen zu dürfen. Die Verankerung der Kompetenz zur Lückenschließung und damit auch zur Rechtsfortbildung kommt schließlich sehr schön im Urteil Brasserie du Pêcheur und Factortame zum Ausdruck, in dem es wörtlich heißt: „Soweit der Vertrag keine Vorschriften enthält, die die Folgen von Verstößen der Mitgliedstaaten gegen das Gemeinschaftsrecht ausdrücklich und genau regeln, hat der Gerichtshof in Erfüllung der ihm durch Art. 164 des Vertrages [Art. 220 EGV] übertragenen Aufgabe, die Wahrung des Rechts bei der Anwendung und Auslegung des Vertrages zu sichern, über eine solche Frage nach den allgemein anerkannten Auslegungsmethoden zu entscheiden, insbesondere indem er auf die Grundprinzipien der Gemeinschaftsrechtsordnung und gegebenenfalls auf allgemeine Grundsätze, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, zurückgreift.“120

An dieser Passage wird ersichtlich, dass für den EuGH der Wortlaut des Art. 220 EGV (bzw. Art. 164 EWGV) der Annahme einer Rechtsfortbildungskompetenz aus dieser Norm nicht entgegensteht. So bedarf es in Art. 220 Abs. 1 EGV keiner Beschränkung auf den begrenzten Bereich der Auslegung nach dem Verständnis der deutschen Methodenlehre, vielmehr ist – legt man das französische Methodenverständnis zugrunde – die Rechtsfortbildung schon vom Wortlaut des Art. 220 Abs. 1 EGV erfasst.121 Folglich ist es, da der Gerichtshof sich stark an der französischen Terminologie orientiert, auch nur konsequent, wenn der EuGH auch für die Rechtsfortbildung auf diese Norm als Ermächtigungsgrundlage zurückgreift. Zur Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages gehört also nach der Auffassung des Gerichtshofs auch – wie sich aus seiner Judikatur ergibt – die Aufgabe der Rechtsfortbildung, die er auf Art. 220 Abs. 1 EGV stützt. 119 So EuGH, Urt. v. 23.4.1986, RS. 294/83 (Les Verts/Parlament), Slg. 1986, 1339, 1365 (Rn. 25). 120 EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-1029, I-1144 (Rn. 27). 121 Auf diesen Umstand weist mit Recht auch Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 735 hin, wenn er erläutert, dass allein schon die weite Bedeutung des Begriffs der Auslegung die Kompetenz des EuGH zur Rechtsfortbildung belege.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

b) Das Bundesverfassungsgericht Auch das Bundesverfassungsgericht hat zur Kompetenz für die Rechtsfortbildung des EuGH Stellung genommen.122 Dabei hat es zwar nicht explizit auf Art. 220 EGV Bezug genommen, dennoch dürfte es die Ermächtigung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zur Rechtsfortbildung in dieser Vorschrift verankert sehen. In seinem Urteil zur 6. Umsatzsteuerrichtlinie hat es zur Rechtsfortbildung des EuGH erläutert: „Zwar ist dem Gerichtshof keine Befugnis übertragen worden, auf diesem Wege die Gemeinschaftskompetenzen beliebig zu erweitern; ebenso wenig aber können Zweifel daran bestehen, daß die Mitgliedstaaten die Gemeinschaft mit einem Gericht ausstatten wollten, dem die Rechtsfindungswege offen stehen sollten, wie sie in jahrhundertelanger gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur ausgeformt worden sind. Der Richter war in Europa niemals lediglich „la bouche qui prononce les paroles de la loi“; das römische Recht, das englische common law, das Gemeine Recht waren weithin richterliche Rechtsschöpfungen ebenso wie in jüngerer Zeit etwa in Frankreich die Herausbildung allgemeiner Rechtsgrundsätze des Verwaltungsrechts durch den Staatsrat oder in Deutschland das allgemeine Verwaltungsrecht, weite Teile des Arbeitsrechts oder die Sicherungsrechte im privatrechtlichen Geschäftsverkehr. Die Gemeinschaftsverträge sind auch im Lichte gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur zu verstehen. Zu meinen, dem Gerichtshof wäre die Methode der Rechtsfortbildung verwehrt, ist angesichts dessen verfehlt.“123

Auf den Art. 220 EGV dürfte das Bundesverfassungsgericht im Rahmen dieser Ausführungen deshalb nicht eingegangen sein, da ihm die Auslegung des Gemeinschaftsrechts nicht obliegt. Aber in der Formulierung, dass keine Zweifel daran bestehen könnten, dass die Mitgliedstaaten die Gemeinschaft mit einem Gericht ausstatten wollten, dem die jahrhundertealten Wege der Rechtsfindung offenstünden,124 ist wohl ein Verweis auf die Aufgabennorm des Art. 220 EGV zu sehen. c) Die Auffassung der Lehre und eigene Stellungnahme Auch die Lehre sieht – sofern die Frage überhaupt erörtert wird – die Befugnis zu richterlicher Rechtsfortbildung durch den EuGH in Art. 220 Abs. 1 EGV verwurzelt.125 So soll aus der Nennung des Rechts in Art. 220 122

Vgl. BVerfGE 75, 223, 240 ff. So wörtlich BVerfGE 75, 223, 243 f. 124 Vgl. BVerfGE 75, 223, 243. 125 So etwa Callies, NJW 2005, 929 f.; Pernice/Meyer, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Art. 220 EGV, Rn. 26, 57; K.-D. Borchardt, GS Grabitz, S. 29 f.; T. Stein, FS 600 Jahre Heidelberg, S. 619, 623; Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 123

B. Rechtsgrundlagen der richterlichen Rechtsfortbildung

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EGV deutlich werden, dass die Zuständigkeit des Gerichtshofs über den Vertrag hinausreiche und auch ungeschriebene Rechtsgrundsätze umfasse.126 Zum Teil wird in der Literatur auch auf die Ähnlichkeit der Formulierung des Art. 220 Abs. 1 EGV zu Art. 20 Abs. 3 GG verwiesen.127 Ebenso wie dort wäre der Begriff Recht in einem umfassenden Sinne zu verstehen, der nicht bloß das Gemeinschaftsrecht erfasst, sondern vielmehr auch „Ausdruck und Inbegriff der Gerechtigkeitsidee der abendländischen Verfassungskultur“ sei, die sowohl in den Gemeinschaftsverträgen wie auch in den nationalstaatlichen Verfassungen ihren jeweiligen besonderen Ausdruck gefunden habe.128 Dabei greife der Begriff Recht über die geschriebenen Normen hinaus und verschmelze die nationalen Rechtstraditionen zu einen „ius commune europaeum“.129 Diese pathetische Umschreibung des Begriffs „Recht“ in Art. 220 EGV, vermag die Frage nach der Befugnis richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz kaum zu erhellen, dennoch bietet sie einen richtigen Ansatzpunkt. Ohne den Inhalt dadurch präziser bestimmen zu können und ohne naturrechtliche Einflüsse Überhand gewinnen zu lassen, wird man davon ausgehen können, dass der Begriff „Recht“ ein Stück Gerechtigkeit impliziert, auch wenn die Unterscheidung von Recht und Gerechtigkeit ein Dauerthema der Rechtsphilosophie und Rechtstheorie ist.130 Für dieses Mehr des Rechts gegenüber dem Vertrag spricht, dass in Art. 220 Abs. 1 EGV von der Wahrung des Rechts die Rede ist. Gewahrt werden kann aber nur etwas, was bereits vorhanden war, insoweit scheint dem Begriff des Rechts in dieser Bestimmung eine gewissermaßen überoder vorpositive Bedeutung zuzukommen. Ist aber Recht in Art. 220 Abs. 1 EGV ein (gewissermaßen überpositives131) Mehr gegenüber dem Vertrag, so muss, wenn der Vertrag lückenhaft ist und diese Lücke dem Recht widerspricht, der Gerichtshof befugt sein, diese Lücke zu schließen. Dennoch kann diese Befugnis zur Rechtsfortbildung meiner Ansicht nach nicht nur 735; nicht auf diesen Problemkreis gehen etwa A. Bleckmann, FS Constantinesco, S. 61 ff.; T. Möllers, EuR 1998, S. 20 ff. ein. 126 Vgl. Callies, NJW 2005, 929 f. 127 Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Art. 220 Rn. 17. 128 Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Art. 220 Rn. 17. 129 Dieser Begriff wird etwa von H. Kutscher, Schutz von Grundrechten, S. 35, 40 verwendet; ähnlich bereits T. Ritterspach, FS Gebhard Müller, S. 301, 321. 130 Die Notwendigkeit der Unterscheidung betonen etwa K. Seelmann, S. 1; R. Zippelius, Rechtsphilosophie, insbes. Kap. I, II und III; auch die Reine Rechtslehre Hans Kelsens ist in diesem Zusammenhang zu sehen, vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl., S. 1. Radbruch, SJZ 1946, 104, 107 scheint mir mit seiner berühmten Formel allerdings ein gewisses Gerechtigkeitselement (die Gleichheit) in den Begriff des Rechts einbringen zu wollen. 131 Ein solches klingt auch bei Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Art. 220 Rn. 17 an.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

aus dem Begriff des Rechts abgeleitet werden. Betrachtet man den Wortlaut des Art. 220 EGV, so bietet sich jedoch unterstützend ein zweiter Ansatzpunkt für diese an. Dem Gerichtshof ist nämlich die Aufgabe übertragen worden, die Wahrung des Rechts bei der Anwendung und Auslegung „zu sichern“. In diesem „Sichern“ dürfte nun der Schlüssel zur Rechtsfortbildungskompetenz liegen. Denn wenn der Gerichtshof die Aufgabe hat, die Wahrung, also die Einhaltung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages zu sichern und Recht eine Mehrbedeutung gegenüber Vertrag und Sekundärrecht hat, so muss der EuGH in gewissen Grenzen zur Verwirklichung des Rechts Normen schaffen dürfen, also das Recht fortbilden, um das Recht zu sichern, sofern diese Sicherung im Wege der Auslegung nicht zu erreichen ist. Folglich ist der Ansicht, die Befugnis des EuGH zur richterlichen Rechtsfortbildung sei in Art. 220 Abs. 1 EGV zu finden, zuzustimmen. Hierfür spricht die Formulierung der Sicherung der Wahrung des Rechts. Aus dieser wird auch ein gewisser Unterschied zu Art. 20 Abs. 3 GG deutlich. Während Art. 20 Abs. 3 GG von einer Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht spricht und damit eine eher passive Betrachtungsweise einnimmt (weshalb im deutschen Recht im Rahmen dieser Untersuchung auch für eine Verankerung der Rechtsfortbildungskompetenz in Art. 92 GG plädiert wurde), deutet die Formulierung des Art. 220 EGV, die Wahrung des Rechts zu sichern, auf eine eher aktive Rolle des Gerichtshofs hin, so dass es im Vergleich zum nationalen Verfassungsrecht auch nicht widersprüchlich erscheint, die Befugnis der Rechtsfortbildung in dieser Bestimmung anzusiedeln. Freilich ist die Kompetenz aber nicht allein in Art. 220 EGV verankert, handelt es sich bei diesem doch um eine Aufgabennorm und nicht um eine Ermächtigungsgrundlage im eigentlichen Sinne. Somit ist für eine Rechtsfortbildungskompetenz auch stets ein entsprechendes Verfahren vor dem EuGH aus den Art. 226 ff. EGV hinzu zu zitieren. d) Zwischenergebnis Sowohl der EuGH132 wie auch das Bundesverfassungsgericht133 und die Lehre134 kommen zu dem Schluss, die Befugnis des EuGH zur Rechtsfortbildung sei in Art. 220 Abs. 1 EGV zu verankern. Dieser Ansicht ist aus 132

Vgl. insbesondere EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-1029, I-1144 (Rn. 27). 133 BVerfGE 75, 223, 243. 134 Callies, NJW 2005, 929 f.; Pernice/Meyer, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Art. 220 EGV, Rn. 26, 57; Borchardt, GS Grabitz, S. 29 f.; Stein, FS 600 Jahre Heidelberg, S. 619, 623; Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 735.

B. Rechtsgrundlagen der richterlichen Rechtsfortbildung

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den o. g. Gründen zuzustimmen, wobei vor allem das Argument, dass es dem Gerichtshof anderenfalls nicht möglich wäre, der ihm übertragenen Aufgabe der Sicherung der Wahrung des Rechts bei einem Auseinanderfallen von Vertrag und Recht nachzukommen, für diese Verortung spricht. Somit ist Art. 220 Abs. 1 EGV i. V. m. einer konkreten Verfahrensart die Ermächtigungsgrundlage für die Schaffung von Richterrecht, wobei der EuGH aber freilich an gewisse Grenzen gebunden ist. 3. Das Rechtsverweigerungsverbot Fraglich ist, ob das Rechtsverweigerungsverbot neben der Befugnis zur Rechtsfortbildung aus Art. 220 EGV noch als allgemeiner Rechtsgrundsatz Bedeutung erlangen kann. Schweitzer/Hummer diskutieren Art. 220 Abs. 1 EGV und das Rechtsverweigerungsverbot (Verbot des déni de justice) nebeneinander.135 Dieses Nebeneinander klingt auch in der Rechtsprechung des Gerichtshofs an, wo das Rechtsverweigerungsverbot und der Art. 220 EGV in einem Atemzug genannt werden.136 So soll sich die Wahrung des Rechts auch auf allgemeine Rechtsprinzipien und allgemeine Rechtsgrundsätze beziehen, die zur Schließung von Lücken und Ergänzung des unvollständigen Gemeinschaftsrechts erforderlich seien. Darüber hinaus – und hier kommt das Rechtsverweigerungsverbot ins Spiel – könne sich der EuGH nicht darauf berufen, aufgrund eines Vorliegens einer Lücke, zu einer Sachentscheidung nicht berufen zu sein.137 Verstehe ich Schweitzer/Hummer richtig, so stellt sich das Verhältnis von Art. 220 Abs. 1 EGV als Grundlage richterlicher Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof und dem Rechtsverweigerungsverbot folgendermaßen dar: Während in Art. 220 Abs. 1 EGV auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze und allgemeinen Rechtsprinzipien einbezogen werden, legt das Rechtsverweigerungsverbot, quasi als Kehrseite der Medaille, die Verpflichtung des Gerichtshofs zur Rechtsfortbildung fest.138 Dies ist sicherlich eine theoretisch mögliche Kombination des Art. 220 Abs. 1 EGV mit dem Verbot des déni de justice, allerdings erscheint sie mir überflüssig. Geht man nämlich davon aus, dass die Befugnis des Gerichtshofs, das Recht fortzubilden, in Art. 220 Abs. 1 EGV festgelegt ist, so folgt daraus implizit auch die Pflicht, von dieser Kompetenz im gegebenen Fall Gebrauch zu machen. Denn die einem Ho135

Siehe Schweitzer/Hummer, Rn. 447. So in EuGH, Urt. v. 23.4.1986, RS. 294/83 (Les Verts/Parlament), Slg. 1986, 1339, 1365 (Rn. 25). 137 Schweitzer/Hummer, Rn. 447. 138 Anders kann man Schweitzer/Hummer, Rn. 447 aber wohl auch nicht verstehen. 136

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

heitsträger übertragenen Kompetenzen lösen in der Regel auch entsprechende Pflichten aus.139 Der EuGH darf also nicht nur entsprechend der ihm übertragenen Aufgabe, die Wahrung des Rechts bei der Anwendung und Auslegung des Vertrages zu sichern, das Recht fortbilden, er muss es sogar. Dementsprechend wäre Art. 220 Abs. 1 GG so zu lesen, dass der EuGH und das Gericht erster Instanz die Wahrung des Rechts zu sichern haben. Versteht man aber die Ermächtigung des Art. 220 EGV gleichzeitig als Verpflichtung zur Rechtsfortbildung in den Fällen, in denen eine Lückenschließung erforderlich ist, so erübrigt sich ein Rückgriff auf das Rechtsverweigerungsverbot als allgemeinen Rechtsgrundsatz. Dieses ist dann nämlich der Kompetenz, die Art. 220 Abs. 1 EGV dem EuGH verleiht, als Pflichtenentsprechung inhärent. Somit bedarf es keines eigenständigen Rückgriffs auf das Verbot des déni de justice. Diese Ansicht scheint mir auch besser zum Selbstverständnis des EuGH zu passen, der sich zu dieser Frage zwar nicht explizit äußert, jedoch anfangs nur das Rechtsverweigerungsverbot benannt hat,140 es später dann neben Art. 220 EGV aufführte,141 um schließlich, in der neueren Rechtsprechung nur noch den Art. 220 EGV zur Begründung seiner Rechtsfortbildungsbefugnis und -pflicht heranzuziehen.142 Danach spielt das Rechtsverweigerungsverbot als allgemeiner Rechtsgrundsatz neben dem Art. 220 Abs. 1 EGV keine eigenständige Rolle mehr. Praktisch besteht freilich kein Unterschied dieser Ansicht zu der Schweitzer/Hummers; der Unterschied ist eher theoretischer Natur. 4. Art. 288 Abs. 2 EGV Für die Entwicklung des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs gegen die Mitgliedstaaten könnte man erwägen, ob sich nicht aus Art. 288 Abs. 2 EGV eine Befugnis des Gerichtshofs zur Schaffung von Richterrecht ableiten ließe.143 Unmittelbar zielt der Art. 288 Abs. 2 EGV 139 Vgl. zu dieser Rechte-Pflichten-Entsprechung, wenn auch nicht sehr deutlich, Pernice/Meyer, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 220 EGV Rn. 21, die davon sprechen, dass die Sicherung der Wahrung des Rechts dem Gerichtshof obliege und damit eine Verpflichtung zum Ausdruck bringen. 140 So, wenn auch noch zum EGKS-Vertrag, EuGH, Urt. v. 12.7.1957, verb. RS. 7/56 und 3/57–7/57 (Algera u. a.), Slg. 1957, 83, 118. 141 EuGH, Urt. v. 23.4.1986, RS. 294/83 (Les Verts/Parlament), Slg. 1986, 1339, 1365 (Rn. 25). 142 Insbesondere EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-1029, I-1144 (Rn. 27); siehe bereits EuGH, Urt. v. 22.5.1990, RS. C-70/88 (Parlament/Rat), Slg. 1990, I-2041 f. (LS. 1).

B. Rechtsgrundlagen der richterlichen Rechtsfortbildung

143

nur auf die Haftung der Gemeinschaft, doch hat der EuGH auch die gemeinschaftsrechtliche Haftung der Mitgliedstaaten auf diese Bestimmung gestützt.144 In ihr wird nämlich festgelegt, dass sich die außervertragliche Haftung nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Mitgliedstaaten gemeinsam seien, bestimme. Es gibt folglich keine konkreten Bestimmungen, vielmehr sind diese erst vom Gerichtshof zu ermitteln. Aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt sich dann, worin letztlich die allgemeinen Rechtsgrundsätze, nach denen die Gemeinschaft zu haften hat, bestehen. Dieser Methode hat sich der Gerichtshof nun auch für die Mitgliedstaaten bedient. Die Befugnis hierzu soll nun aus Art. 288 Abs. 2 EGV selbst fließen.145 Gegen diesen Ansatz sind jedoch schwere Bedenken vorzubringen. Die Befugnis der letztverbindlichen Auslegung und damit auch die Kompetenz des Gerichtshofs zur Fortbildung des Rechts folgt aus Art. 220 EGV i. V. m. einer bestimmten Verfahrensart. Es sind keine vernünftigen Gründe ersichtlich, warum im Falle des Art. 288 Abs. 2 EGV von dieser Grundlage abgewichen werden sollte. Selbst für die Entwicklung der Staatshaftung der Gemeinschaft, deren Ausformung, wie sich aus Art. 288 Abs. 2 EGV ergibt, bewusst offen gelassen wurde, da dem Gerichtshof mit den den Mitgliedstaaten gemeinsamen Rechtsgrundsätzen lediglich eine Leitlinie vorgegeben wird, an der sich der EuGH zu orientieren hat, ergibt sich die Berechtigung des Gerichtshofs, die den Mitgliedstaaten gemeinsamen allgemeinen Rechtsgrundsätze näher zu konturieren, aus dessen Aufgabe, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung des Vertrages zu sichern. Die Befugnis wird von Art. 288 Abs. 2 EGV vorausgesetzt. Dann gilt dies aber erst recht, für die im Vertrag nicht vorgesehene gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung der Mitgliedstaaten. Somit scheidet Art. 288 Abs. 2 EGV als besondere Befugnisnorm für die richterrechtliche Ausformung der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung aus. 5. Art. 6 Abs. 2 EUV Eine besondere Ermächtigung zur Schaffung von Richterrecht im Bereich der Gemeinschaftsgrundrechte könnte allerdings in Art. 6 Abs. 2 EUV zu sehen sein. In diesem wird festgelegt, dass die Union die Grundrechte achtet, wie sie in der EMRK gewährleistet seien und wie sie sich aus den ge143

So etwa v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Art. 288 EGV Rn. 29; vgl. ebenfalls R. Geiger, EUV/EGV, Art. 288 EGV Rn. 4. 144 So in EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-1029, I-1146 (Rn. 41); kritisch dazu Streinz, EuZW 1996, 201, 203. 145 v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Art. 288 EGV Rn. 29.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

meinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergäben. Auch hier muss die Feststellung zumindest der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen letztlich dem Gerichtshof überlassen werden, wie sich auch aus Art. 46 lit. d) EUV ergibt. Jedoch sprechen gegen eine Verankerung der Rechtsfortbildungskompetenz im Bereich der Grundrechte in Art. 6 Abs. 2 EUV gewichtige Gründe, die dem Unionsvertrag selbst zu entnehmen sind. Zu nennen ist hier zuvörderst Art. 46 EUV. Dieser befasst sich mit der Zuständigkeit des Gerichtshofs im Recht der Europäischen Union.146 An ihm wird die strikte Differenzierung zwischen dem supranationalen Recht der Europäischen Gemeinschaften – dessen Justiziabilität sich nach Art. 220 EGV, respektive Art. 136 Abs. 1 EAGV richtet – und dem Recht der Europäischen Union, welches schlicht völkerrechtlichen, intergouvernementalen Charakter besitzt, deutlich.147 Letzteres unterliegt nur dann der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wenn es zu den in Art. 46 EUV aufgeführten Normen des Unionsvertrages gehört, da der EuGH nicht zu den Organen der Union (vgl. Art. 5 EUV) gehört.148 Art. 46 EUV berührt dabei die Stellung des EuGH nach den Gemeinschaftsverträgen aber nicht.149 Für den Bereich des Gemeinschaftsrecht gilt also weiterhin die umfassende Aufgabe, nämlich die Sicherung der Wahrung des Rechts bei der Anwendung und Auslegung des EG-, bzw. EAG-Vertrages wie es Art. 220 Abs. 1 EGV respektive Art. 136 Abs. 1 EAGV vorsehen. In den übrigen Bereichen des Unionsvertrages (PJZS, GASP) ist der Gerichtshof, wie sich Art. 5 EUV entnehmen lässt, aber nicht als Organ vorgesehen, weshalb er nur über die ihm in Art. 46 EUV verliehenen Befugnisse verfügt. Aufgrund der sehr beschränkten Zuständigkeit des Gerichtshofs im Bereich der PJZS und der praktisch nicht bestehenden Zuständigkeit im Rahmen der GASP, gewinnt der Art. 46 lit. d) EUV vor allem für den Bereich der Europäischen Gemeinschaften an Bedeutung, verweist also auf die Art. 220 ff. EGV, bzw. Art. 136 ff. EAGV, so dass die Befugnis zur richterlichen Rechtsfortbildung wiederum in Art. 220 Abs. 1 EGV/Art. 136 Abs. 1 EAGV zu verorten ist. Losgelöst von Art. 46 lit. d) vermag Art. 6 Abs. 2 EGV, die Ermächtigung des EuGH zur Rechtsfortbildung aber nicht zu begründen. Schließlich können gegen eine Verankerung der Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH für die Grundrechte in Art. 6 Abs. 2 EGV noch zwei Ar146 147 148 149

Vgl. Geiger, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 1. Geiger, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 1. So Geiger, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 1. Geiger, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 1.

B. Rechtsgrundlagen der richterlichen Rechtsfortbildung

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gumente vorgebracht werden, welche schon gegen eine Verankerung der Befugnis zur richterrechtlichen Entwicklung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs angeführt werden konnten. Zum einen ist anzumerken, dass es unnötig ist, die Befugnis zur Rechtsfortbildung auf je nach Sachmaterie verschiedene Normen zu verteilen, zum anderen – und dieser Einwand ist gewichtiger – legt Art. 6 Abs. 2 EUV lediglich die Rechtserkenntnisquellen150 für eine Grundrechtsrechtsprechung fest. Die Befugnis des Gerichtshofs, das Recht im Bereich der Grundrechte fortzubilden, wird von dieser Bestimmung vorausgesetzt. Folglich kann Art. 6 Abs. 2 EUV keine spezielle Ermächtigungsgrundlage für die Rechtsfortbildung des EuGH im Bereich der Grundrechte sein, so dass auch für diese Materie weiterhin der Art. 220 EGV als Befugnisnorm gilt. 6. Ergebnis zur Ermächtigungsgrundlage des EuGH für die Rechtsfortbildung Letztlich vermag allein der Art. 220 Abs. 1 EGV als Aufgabennorm i. V. m. einer der konkreten Verfahrensarten der Art. 226 ff. EGV als Ermächtigungsgrundlage im Einzelfall, eine tragfähige Grundlage für die Befugnis des EuGH zur Rechtsfortbildung zu bilden. Dieses ergibt sich daraus, dass der Gerichtshof die Aufgabe hat, die Wahrung des Rechts zu sichern. Da in Art. 220 Abs. 1 EGV von der Wahrung des Rechts die Rede ist, aber nur etwas gewahrt werden kann, was bereits vorhanden war, scheint dem Begriff des Rechts in dieser Bestimmung eine gewissermaßen über- oder vorpositive Bedeutung zuzukommen.151 Der Schlüssel zur Rechtfortbildungskompetenz liegt nun im Wörtchen „Sichern“. Denn wenn der Gerichtshof die Aufgabe hat, die Wahrung, also die Einhaltung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages zu sichern, und Recht eine Mehrbedeutung gegenüber Vertrag und Sekundärrecht hat, so muss der EuGH in gewissen Grenzen zur Verwirklichung des Rechts Normen schaffen dürfen um das Recht zu sichern, wenn diese Sicherung im Wege der Auslegung nicht zu erreichen ist. Somit ist mit Art. 220 EGV i. V. m. den einzelnen Verfahrensarten eine Rechtsgrundlage für die richterliche Rechtsfortbildung im Gemeinschaftsrecht gefunden. 150 Siehe zum Begriff der Rechtserkenntnisquellen A. Ross, Theorie der Rechtsquellen, S. 308 ff., 340 ff. 151 Ein solches klingt auch bei Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Art. 220 Rn. 17 an.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

C. Mittel richterlicher Rechtsfortbildung Die Frage nach den Mitteln der Rechtsfortbildung ist von besonderer Bedeutung. Bei diesen Mitteln handelt es sich in der Regel um (juristische) Schlussformen. Nachfolgend werden diese logischen Mittel vorgestellt. Allerdings existieren auch Argumente, die sich nicht klar in ein logisches Schlussschema einfügen lassen, dennoch aber häufig zur Rechtsfortbildung herangezogen werden. Diese Mittel der Rechtsfortbildung finden sich in der rechtsmethodischen Literatur Deutschlands und Frankreichs ebenso, wie sie sich in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nachweisen lassen. Insoweit wird hier von einer getrennten Betrachtung der nationalen Methodenlehren (zu diesen I.) abgesehen, auch wenn sich freilich begriffliche Differenzen schon allein aus dem Umstand ergeben, dass in Frankreich der Unterschied zwischen Rechtsfortbildung und Auslegung nicht gemacht wird. Auf den Europäischen Gerichtshof wird dann allerdings gesondert eingegangen (II.), da für diesen einzelne Rechtsprechungsbeispiele angeführt werden sollen.

I. Die nationalen Methodenlehren Deutschlands und Frankreichs Häufig werden die Instrumente der Lückenfüllung nach der Art der Lücke unterschieden.1 Zu nennen sind als Instrumente insbesondere die Analogie (1.), damit zusammenhängend der Umkehrschluss (2.), die teleologische Reduktion (3.), die teleologische Extension (4.), der Rückgriff auf allgemeine Rechtsprinzipien (5.) und schließlich die Natur der Sache (6.). 1. Die Analogie (argumentum a simili) Das wohl bedeutsamste Mittel zur Rechtsfortbildung ist der Analogieschluss (argumentum a simili). Er dient der Lückenschließung.2 a) Voraussetzungen für einen Analogieschluss Mit Larenz ist er für die Rechtswissenschaft folgendermaßen zu fassen: „Unter Analogie verstehen wir die Übertragung der für einen Tatbestand (A) oder für mehrere, untereinander ähnliche Tatbestände im Gesetz gegebenen Regel auf 1 So etwa von Larenz, Methodenlehre, S. 381 ff., 414 ff.; siehe auch Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 888. 2 Larenz, Methodenlehre, S. 381 f.; Zippelius, Methodenlehre, § 11 II a).

C. Mittel richterlicher Rechtsfortbildung

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einen vom Gesetz nicht geregelten, ihm „ähnlichen“ Tatbestand (B). Die Übertragung gründet sich darauf, dass infolge ihrer Ähnlichkeit in den für die gesetzliche Bewertung maßgeblichen Hinsichten beide Tatbestände gleich zu bewerten sind, also auf die Forderung der Gerechtigkeit, Gleichartiges gleich zu bewerten.“3

Legt man diese Definition von Analogie zugrunde, so sind maßgebliche Voraussetzungen für eine Analogie demnach eine planwidrige Regelungslücke sowie die tatbestandliche Vergleichbarkeit zweier Sachverhalte,4 wobei die Rechtsfolge vom geregelten auf den ungeregelten Fall übertragbar sein muss.5 Diese Anforderungen werden allerdings nicht einhellig akzeptiert, so dass hierzu noch einige Worte zu verlieren sind. Insbesondere besteht Streit um die Frage, ob für eine Analogie wirklich eine planwidrige Regelungslücke bestehen muss. So wenden sich etwa Pawlowski6 und Röhl7 gegen diese Voraussetzung für den Analogieschluss. Dabei erachtet Röhl die Analogie als bloßes Scheinargument für eine regelmäßige Rechtsfortbildung, wenn er ausführt, dass das Aufzeigen einer Lücke das Fehlen einer gewünschten Regelung impliziere, womit der erste Schritt zur Ausfüllung bereits getan sei.8 Deshalb solle auf das Erfordernis der Lücke verzichtet und allein auf Ähnlichkeit und Gleichbehandlung von Sachverhalten abgestellt werden.9 Und Pawlowski betont, dass „am Anfang einer berichtigenden Auslegung mit Hilfe von Analogie [. . .] nicht die Feststellung einer Gesetzes- oder Rechtslücke steht“.10 Mit dem Verzicht auf das Erfordernis einer Regelungslücke lässt man jedoch das wichtigste Element unter den Voraussetzungen für den Analogieschluss überhaupt entfallen, nämlich die Planwidrigkeit, da eine Lücke ja gerade als planwidrige Unvollständigkeit definiert wurde. Erklärt man nun dieses Merkmal für entbehrlich, so erweitert man den Spielraum des Rechts3

So Larenz, Methodenlehre, S. 381. Dies entspricht der überwiegenden Ansicht im rechtsmethodischen Schrifttum vgl. etwa Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 475; Koller, S. 228 f. 231; Kramer, S. 146 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 381; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 888; ebenso aus dem französischen Schrifttum etwa J. Spassoïevitch, p. 1, insbes. p. 6 ff.: „Nous vivons sous la législation codifiée. Quelle que soit sa perfection, elle contient des lacunes, c’est une œuvre humain et comme telle imparfaite“, a. a. O., p. 1. A. A. sind Röhl, S. 618; Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 476 ff., die auf das Erfordernis der planwidrigen Regelungslücke verzichten wollen. 5 Auf das Element der Übertragbarkeit der Rechtsfolge weist explizit etwa T. I. Schmidt, JuS 2003, 649, 650 hin; ebenso ders. VerwArch 2006, 139, 146. 6 Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 475 ff., insbes. Rn. 481 ff. 7 Röhl, S. 618. 8 Vgl. Röhl, S. 618. 9 So Röhl, S. 618. 10 Wörtlich Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 475. 4

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

anwenders erheblich, da dieser zur Feststellung, ob eine Analogie bei zwei ähnlichen Sachverhalten vonnöten ist, nicht mehr an den Plan des Gesetzgebers gebunden ist. Nun kann es aber Fälle geben, in denen der Gesetzgeber trotz möglicherweise vergleichbarer Interessenlage den einen Sachverhalt bewusst ungeregelt gelassen hat, so dass die Wertung vom Gesetzgeber bereits dahingehend vorgenommen wurde, dass die Interessenlage bei diesen Sachverhalte nicht vergleichbar ist. Der Normgeber hat durch diese bewusste Nichtregelung quasi eine negative Norm geschaffen, so dass keine Lücke vorliegt. Diese begrenzende Funktion des Lückenerfordernisses beachten Röhl und Pawlowski nicht hinreichend und überdehnen die richterliche Aufgabe, wenn sie auf dieses Merkmal für eine Analogie verzichten. Dieser Verzicht würde dem Rechtsanwender praktisch ermöglichen, Rechtspolitik zu betreiben. Folglich kann auf die Lücke nicht verzichtet werden. Von einer vergleichbaren Interessenlage kann gesprochen werden, wenn die Unterschiede in den spezifischen Tatbestandsmerkmalen zwischen den gesetzlich geregelten und den ungeregelten Fällen nicht gewichtig genug sind, um eine ungleiche Behandlung zu rechtfertigen.11 Es handelt sich folglich um eine Wertungsfrage. Freilich dürfen sich die Sachverhalte in ihren Tatbestandsmerkmalen nicht vollständig gleichen, ansonsten handelte es sich ja auch nicht um zwei verschiedene Fälle, aber schon die verbleibenden gemeinsamen Merkmale müssen es rechtfertigen, die gesetzlich angeordnete Rechtsfolge anzuwenden.12 Hier erweist sich die im vorigen Kapitel getroffene Feststellung, dass es sich beim allgemeinen Gleichheitssatz um ein Analogiegebot handelt, als richtig. Gleichbehandlung und Gleichbewertung im Recht bedeuten nämlich immer, da zwei Sachverhalte sich niemals völlig gleichen, eine Abstraktion von bestehender Ungleichheit unter einem bestimmten rechtlichen Gesichtspunkt.13 In der Literatur wird häufig zwischen Gesetzes- und Rechtsanalogie differenziert.14 Dabei soll eine Gesetzesanalogie (Einzelanalogie) vorliegen, wenn die Rechtsfolge für den ungeregelten Fall aus einer Norm gewonnen wird, die Rechtsanalogie (Gesamtanalogie), wenn aus einer Mehrzahl an Normen ein allgemeiner Rechtsgrundsatz gewonnen wird, der dann zur Lösung des fraglichen Tatbestandes herangezogen wird.15 11

Ebenso Zippelius, Methodenlehre, § 11 II. a) (S. 69). Zutreffend Zippelius, Methodenlehre, § 11 II a) (S. 69). 13 So bereits Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 75. 14 Diese Differenzierung findet sich unter der Bezeichnung Einzel- und Gesamtanalogie bei Larenz, Methodenlehre, S. 383 f.; unter der Bezeichnung als Gesetzesund Rechtsanalogie bei Schneider/Schnapp, S. 154; ebenso Engisch, Einführung, S. 193 f.; Ennercus-Nipperdey, § 58 II; kritisch zu dieser Unterscheidung Sauer, Juristische Methodenlehre, S. 130 f. Auch in BGHZ (GS) 5, 62, 65 ist von Einzelanalogie die Rede. 12

C. Mittel richterlicher Rechtsfortbildung

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Folglich kann man an den Voraussetzungen für einen Analogieschluss, der planwidrigen Regelungslücke und der vergleichbaren Interessenlage bei Übertragbarkeit der Rechtsfolge, festhalten. b) Logische Struktur des Analogieschlusses Um die Vorgehensweise bei der rechtsfortbildenden Lückenschließung mittels Analogie zu verdeutlichen, soll kurz auf die logische Struktur dieser Schlussform eingegangen werden. Diese ist nämlich streitig. Jedoch sollen an dieser Stelle nicht die diversen Methoden der prädikatenlogischen16 Darstellungsmöglichkeiten durchdekliniert werden, wobei insbesondere die Abbildung des Ähnlichkeitsverhältnisses Schwierigkeiten bereitet,17 sondern der Denkprozess des Analogieschlusses mit Worten beschrieben werden. Häufig wird davon ausgegangen, der Analogieschluss sei ein Schluss vom Besonderen auf das Besondere, im Gegensatz zum Induktionsschluss, der vom Besonderen auf das Allgemeine zielt und der Deduktion, als Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere (weniger Allgemeine).18 Durch die Ähnlichkeitsfeststellung wird dabei der Sprung vom Besonderen zum Besonderen vollführt.19 Gegen diese Ansicht wird mit Recht eingewendet, dass sich hinter der Analogie, von ihrer logischen Struktur her, ein gemischt induktiv-deduktiver Schluss verberge.20 Bei ihr werde zunächst vom besonderen geregelten 15 So Larenz, Methodenlehre, S. 383 f.; ebenso Schneider/Schnapp, S. 154; Engisch, Einführung, S. 193 f.; Ennercus-Nipperdey, § 58 II; kritisch Sauer, Juristische Methodenlehre, S. 130 f.; Schmidt, VerwArch 2006, 139, 149 ff. 16 Bei der Prädikatenlogik handelt es sich umm eine sybolisierte Darstellungsweise von Schlussformen, in welcher bestimmte Zeichen für eine Gedankenoperation verwendet werden. Häufig ergeben sich von Autor zu Autor gewisse Unterschiede in der Darstellungsweise. Eine umfassende prädikatenlogische Untersuchung der Rechtswissenschaft findet sich bei Weinberger, passim. Eine leicht verständliche Einführung in die Prädikatenlogik unter juristischen Gesichtspunkten liefert J. Joerden, Logik im Recht, S. 312 ff. im Zusammenhang mit der Erläuterung des Syllogismus. 17 Zu dieser Schwierigkeit U. Klug, Juristische Logik, S. 131 ff., dort auch der Versuch einer prädikatenlogischen Darstellung; vgl. auch. Schneider/Schnapp, S. 149 ff., ebenfalls mit prädikatenlogischer Darstellung. Umfassend zur Prädikatenlogik in der Jurisprudenz auch Weinberger, passim. 18 Klug, Rechtslogik, S. 115; Koller, S. 231; Ziehen, S. 724, 761, der von einem Niveauschluss spricht und damit die Eigenschaft der Analogie bezeichnen will, beim Schluss innerhalb eines Niveaus zu bleiben, also stets vom Besonderen auf das Besondere zu schließen. 19 In diese Richtung argumentiert Koller, S. 231, der a. a. O. auch eine formalisierte, prädikatenlogische Darstellung anbietet; ganz ähnlich Koch/Rüßmann, S. 260. 20 So Engisch, Einführung, S. 187; ebenso A. Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 76; Schmidt, VerwArch. 2006, 139, 148; A. A. ist Sauer, Juristische Methoden-

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Fall auf eine allgemeine Regel geschlossen um diese schließlich wiederum auf den besonderen ungeregelten Fall anzuwenden. Die Analogie entpuppt sich also als Schluss vom Besonderen über das Allgemeine zum Besonderen, also als induktiv-deduktiver Schluss.21 Dieses hat Bedeutung für die logische Tragfähigkeit des Analogieschlusses. Deren logischer Beweiswert muss sich nämlich am schwächsten Glied in der Schlusskette messen lassen. Die Deduktion ist logisch sicher. Unsicher ist aber die Induktion, da der Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine stets problematisch ist.22 Die Induktion, und mit ihr auch der Analogieschluss, ist synthetisch, d.h. sie führt zu neuen Erkenntnissen aber auf hypothetischer Basis, weshalb sie logisch jedenfalls nicht zwingend ist.23 Diese zweite Ansicht verdient den Vorzug, da ein Schluss unmittelbar vom Besonderen auf das Besondere nicht möglich ist.24 In der Feststellung des den beiden Sachverhalten Gemeinsamen, also im Erkennen derer Ähnlichkeit, liegt der Zwischenschritt über das Allgemeine, wenn auch nicht notwendig (ausdrücklich) ein allgemeiner ungeschriebener Rechtssatz aufgestellt wird.25 Insoweit besteht zwischen dem logischen Vorgehen bei der Einzelanalogie und der Gesamtanalogie kein Unterschied, so dass diese Differenzierung auch aufgegeben werden könnte. c) Zusammenfassung zur Analogie Festzuhalten bleibt also, dass die Analogie eine induktiv-deduktive Schlussform ist, die praktisch das wohl wichtigste Mittel zur Lückenausfüllung und damit auch zur Rechtsfortbildung sein dürfte. Sie kommt zwar zu neuen Erkenntnissen, doch sind diese logisch nicht zwingend. Die Differenzierung zwischen Einzel- und Gesamtanalogie, wie sie in der Literatur und Rechtsprechung vorgenommen wird, ist zumindest vor dem Hintergrund der logischen Vorgehensweise überflüssig. lehre, § 38 II 1 b), der Analogie und Induktionsschluss in Opposition zueinander sieht. 21 Ebenso Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 76, der die logischen Schwächen des Induktionsschlusses auch der Analogie beimisst. Siehe auch Schmidt, VerwArch. 2006, 139, 148: „Ein Analogieschluss ist wegen des in ihm enthaltenen induktiven Elements daher stets unsicher.“ 22 Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 76; mit Nachdruck auch Klug, Juristische Logik, S. 120 und Schneider/Schnapp, S. 151, auch wenn letztere die Analogie für einen Schluss vom Besonderen auf ein Besonderes halten. 23 Ebenso Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 76; Klug, Juristische Logik, S. 120 und Schneider/Schnapp, S. 151. 24 So Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 69. 25 Zutreffend auch Larenz, Methodenlehre, S. 384 f.; a. A. ausdrücklich Canaris, Feststellung von Lücken, S. 97 ff.

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d) Der Erst-recht-Schluss im Verhältnis zur Analogie Im Rahmen der Analogie (argumentum a simili) ist auch der Erst-rechtSchluss (argumentum a fortiori) zu behandeln.26 Dabei ist der fragliche Fall zwar vom Wortlaut einer Norm nicht erfasst, dennoch ist es offensichtlich, dass der Fall von dieser Regelung umfasst sein sollte. Der Erst-rechtSchluss kommt in zwei strukturell gleichen Erscheinungsformen vor, nämlich als Schluss vom Kleineren auf das Größere (argumentum a minore ad maius) und umgekehrt vom Größeren auf das Kleinere (argumentum a maiore ad minus).27 Das argumentum a minore ad maius besagt, dass eine Rechtsfolge, die für einen weniger gewichtigen Sachverhalt angeordnet ist, erst recht für einen (vergleichbaren) Fall von größerem Gewicht gelten muss. Ist also etwa in einer Parkanlage das Betreten einer Rasenfläche verboten, so ist erst Recht das Befahren untersagt. Der Schluss vom Kleineren auf das Größere findet vor allem Anwendung, um Lücken auf Tatbestandsebene zu schließen.28 Hingegen findet sich das argumentum a maiore ad minus zumeist auf der Rechtsfolgenebene.29 So kann man etwa argumentieren, wenn das Gesetz als Rechtsfolge einer Ermessensnorm eine bestimmte schwere Rechtsfolge anordne, dann könne erst recht eine mildere Rechtsfolge angeordnet werden.30 Als praktisches Beispiel ist hier an die Minusmaßnahmen im Versammlungsrecht zu denken, die ein Weniger zum Mehr der Versammlungsauflösung darstellen.31 Auch hier wird eine Regelungslücke geschlossen. Seine besondere Bedeutung innerhalb des Analogieschlusses gewinnt der Erst-recht-Schluss im Rahmen des Merkmals der vergleichbaren Interessenlage. Kann man nämlich einen Erst-recht-Schluss vorbringen, so lässt sich 26 So auch L. Treder, S. 93; vgl. auch Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 897; siehe auch C. E. Alchourrón, ARSP Beiheft 4 n. f., S. 5 ff. 27 Siehe nur Treder, S. 38 f.; Engisch, Einführung, S. 196 f.; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 898; Vogel, S. 121 mit Fn. 39, nach dem Erst-recht-Schluss und Umkehrschluss zu den Mitteln juristischer Auslegung gezählt werden können; R. Alexy, Theorie der juristischen Agumentation, S. 341 mit Fn. 187 zählt diese nicht zur Auslegungslehre und damit wohl auch nicht zu den Mitteln richterlicher Rechtsfortbildung, sondern zur Argumentationslehre. 28 Treder, S. 38. 29 R. Wank, Die Auslegung von Gesetzen, S. 102 f.; Treder, S. 39 f. 30 Wank, Die Auslegung von Gesetzen, S. 102 f.; Treder, 39 f. 31 Dabei ist das entscheidende Argument für die Zulässigkeit nicht ausdrücklich geregelter Maßnahmen der Gedanke der größtmöglichen Schonung der Versammlung. Dazu etwa BVerwGE 64, 56 ff. (Beschlagnahme eines beleidigenden Transparents); siehe auch F. Schoch, JuS 1994, 479, 482; V. Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rn. 501; C. Enders, Jura 2003, 34, 40.

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die Wertungsfrage nach den vergleichbaren Sachverhalten leicht zugunsten der Vergleichbarkeit beantworten. Umstritten ist allerdings, in welchem Verhältnis Erst-recht-Schluss und Analogie zueinander stehen. Teilweise wird vertreten, dass es sich beim Erst-recht-Schluss um einen Sonderfall der Analogie handele,32 andererseits wird die Analogie aber auch – genau umgekehrt – für einen Sonderfall des Erst-recht-Schlusses gehalten oder diese auch als zwei verschiedene, gleichberechtigt nebeneinander stehende Schlussformen betrachtet.33 Für letzteres spricht einiges, da es bei der Analogie gerade an der für den Erst-rechtSchluss typischen Stufung fehlt. Aufgrund der gleichberechtigten Stellung des argumentum a minore ad maius und des argumentum a maiore ad minus neben der Analogie können diese Unterformen des Erst-recht-Schlusses aber auch der Lückenschließung dienen und sind insoweit Mittel der Rechtsfortbildung. 2. Der Umkehrschluss? Rüthers rechnet den Umkehrschluss (argumentum e contrario) zu den Mitteln der Lückenfüllung34 und damit wohl auch zu den Rechtsfortbildungsmitteln. Nun besagt der Umkehrschluss als Gegenstück zur Analogie jedoch, dass ein Lebenssachverhalt gerade deshalb nicht geregelt ist, weil der Normgeber ihn nicht geregelt sehen will, also eine abschließende Regelung getroffen hat.35 Damit trifft der Gesetzgeber jedoch implizit eine Regelung, was freilich auch Rüthers36 nicht entgeht. Er verfängt sich jedoch in einen Widerspruch, wenn er nur wenige Randnummern nach der Einordnung des Umkehrschlusses als eines der wichtigsten Mittel der Lückenausfüllung wörtlich ausführt: „Der Umkehrschluss besagt, dass keine Gesetzeslücke besteht und deshalb eine richterliche Lückenausfüllung ausscheidet.“37 Diese letzte Feststellung ist freilich richtig, der Umkehrschluss ist kein Mittel der Lückenschließung und demnach auch nicht zu den Mitteln richterlicher Rechtsfortbildung zu zählen.

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So von Kramer, S. 151; Nawiasky, S. 148. So Schmidt, VerwArch 2006, 139, 148 f. 34 Vgl. Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 888. 35 Ähnlich J. Joerden, Logik im Recht, S. 329 f., der mit Recht darauf hinweist, dass sich Analogie und Umkehrschluss aber von ihrer Überzeugungskraft keineswegs stets gleichberechtigt gegenüberstehen würden. Hierauf weisen auch M. Herberger/D. Simon, S. 175 f. hin. 36 Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 888. 37 So Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 900. 33

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3. Die teleologische Reduktion Als weiteres Mittel richterlicher Rechtsfortbildung wird häufig die teleologische Reduktion genannt.38 Von teleologischer Reduktion spricht man, wenn eine Gesetzesvorschrift auf Fälle, die zwar ihrem Wortlaut unterfallen, aber von ihr nach Sinn und Zweck keinesfalls als erfasst angesehen werden können, nicht angewendet wird.39 Die Lückenausfüllung und damit die Rechtsfortbildung besteht dann darin, dass eine nach der Teleologie der Norm fehlende Ausnahmebestimmung der bestehenden Regel hinzugefügt wird; das Gesetz also praktisch um richterrechtliche Ausnahmen ergänzt wird.40 Gerechtfertigt wird die teleologische Reduktion dadurch, dass der negative Gleichheitssatz erfordere, Ungleiches ungleich zu behandeln, d.h. die von der Wertung her erforderlichen Unterscheidungen zu treffen.41 Dabei muss diese Methode der Lückenfüllung sich insbesondere teleologischer Auslegungskriterien bedienen, da nur so die Frage beantwortet werden kann, ob eine planwidrige Lücke vorliegt, also eine Ausnahmebestimmung fehlt und wie sie dem Plan des Gesetzes nach auszufüllen ist. Lückenfeststellung und Lückenausfüllung gehen somit Hand in Hand.42 Daraus folgt dann aber auch, dass die Gültigkeit des „Arguments“ teleologische Reduktion von der Triftigkeit der zugrundegelegten teleologischen Interpretation anhängt. Die teleologische Reduktion ist nämlich keine bloße logische Schlussform, die sich schematisch auf bestimmte Sachverhaltskonstellationen anwenden ließe, sondern sie setzt eine an Sinn und Zweck orientierte Wertung der gesetzlichen Entscheidungen voraus.43 Folglich kann die teleologische Reduktion für sog. Ausnahmelücken als Mittel richterlicher Rechtsfortbildung gewertet werden.44 Im Übrigen ist an38 Siehe nur Larenz, Methodenlehre, S. 391 ff.; umfassend, allerdings a. A. H.-F. Brandenburg, insbes. S. 55 ff., vgl. auch S. 75 ff.; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 902 ff.; des Weiteren auch Canaris, Feststellung von Lücken, S. 151 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 480 f.; Koller, S. 235 ff.; Looschelders/Roth, S. 261 ff.; mit Nachdruck auch Kramer, S. 161 ff. 39 So etwa Larenz, Methodenlehre, S. 391; Canaris, Feststellung von Lücken, S. 151; Koller, S. 235; Vogel, S. 135; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 902 f.; Röhl, S. 602. 40 In diesem Sinne verstehen etwa auch Koller, S. 235 und Vogel, S. 135, die Lückenhaftigkeit der Regelung und deren Ausfüllung. Siehe grundlegend hierzu auch Larenz, Methodenlehre, S. 392. 41 Larenz, Methodenlehre, S. 392, spricht hier von einem Gerechtigkeitsgebot. Dieses Gebot könnte man auch in Art. 3 Abs. 1 GG verankert sehen. 42 Canaris, Feststellung von Lücken, S. 153; siehe auch Vogel, S. 135; a. A. Brandenburg, Die teleologische Reduktion, S. 60 ff., der die Vorstellung, es handele sich bei der teleologischen Reduktion um Lückenschließung, ablehnt. 43 Ähnlich auch Koller, S. 236.

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zumerken, dass sich die Rechtsfortbildung mittels teleologischer Reduktion hart am Rande der Rechtsfortbildung contra legem bewegt, da hier der mögliche Wortsinn einer eigentlich anwendbaren Norm korrigiert wird. Man kann diesen Konflikt jedoch in der Weise lösen, dass man im Falle eines offensichtlichen Widerspruchs zwischen Gesetzeszweck und möglichem Wortsinn ersterem den Vorzug vor letzterem gewährt.45 Dann aber käme man gerade noch zu einer Rechtsfortbildung praeter legem. Ansonsten müsste man die mittels teleologischer Reduktion erfolgende Rechtsfortbildung wohl als eine contra legem, aber dennoch intra ius bezeichnen. Kramer spricht hier von einer Rechtsfortbildung bzw. Rechtsfindung contra verba, sed secundum rationem legis.46 Als abschließendes Beispiel für eine teleologische Reduktion mag hier aus dem deutschen Recht die Einschränkung der Nichtigkeit des Insichgeschäftes des gesetzlichen Vertreters eines Geschäftsunfähigen gem. § 181 BGB bei lediglich rechtlicher Vorteilhaftigkeit für den Vertretenen dienen.47 4. Die teleologische Extension Freilich besteht auch der umgekehrte Fall zu dem Mangel des zu weit geratenen Wortlauts, der durch die teleologische Reduktion behoben wird. Dabei ist dann der Wortlaut einer Norm im Verhältnis zu deren Zweck zu eng geraten, so dass, um der Teleologie der Vorschrift gerecht werden zu können, ihr Wortlaut erweitert werden muss.48 Man kann diesen Fall mit Canaris als teleologische Extension bezeichnen.49 Aufgrund des im Verhältnis zum Regelungszweck zu eng gefassten Wortlauts kann das Regelungsziel der Norm bei buchstabengetreuer Anwendung derselben nicht erreicht 44 Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 903, siehe auch Rn. 848; Kramer, S. 143 f. spricht von teleologischen Lücken. 45 Hierzu tendiert Koller, S. 236 f. 46 Kramer, S. 162. 47 So etwa BGHZ 59, 236, 239 f.; Palandt-Heinrichs, BGB, § 181 Rn. 9; MünchKomm-Schramm, BGB, § 181 Rn. 6; eine weitere teleologische Reduktion im Rahmen des § 181 BGB ergibt sich aus BGH, NJW 2005, 415 ff., in welcher die frühere Gesamtbetrachtungslehre (BGHZ 78, 28 ff.) zum rechtlich nachteiligen Vollzug einer Schenkung an einen beschränkt geschäftsfähigen Minderjährigen ausdrücklich aufgegeben wird. Zu diesem Beschluss A. Staudinger, Jura 2005, 547 ff.; Eine teleologische Reduktion bereits früher befürwortend O. Jauernig, JuS 1982, 576, 577. 48 Grundlegend Canaris, Feststellung von Lücken im Gessetz, S. 89 ff.; vgl. auch Larenz, Methodenlehre, S. 397 ff.; Pawlowksi, Methodenlehre für Juristen, Rn. 497 ff.; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 904; ohne Erläuterungen Röhl, S. 602. 49 Auf Canaris, Feststellung von Lücken, S. 90, geht diese Bezeichnung zurück.

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werden, so dass auch hier eine Lücke vorliegt.50 Diese soll durch die teleologisch motivierte Ausdehnung des Wortlautes geschlossen werden, so dass es sich bei der teleologischen Extension ebenfalls um ein Mittel der Rechtsfortbildung handelt.51 Vereinzelt wird die teleologische Extension als Untergruppe der Gesamtanalogie betrachtet.52 Im Unterschied zur Analogie wird jedoch eine teleologische Extension vorgenommen, nicht weil ein vom Wortlaut nicht erfasster Fall rechtsähnlich zu dem geregelten ist, sondern weil die Vorschrift ihren Zweck sonst nicht erfüllen könnte.53 Auch wird die fragliche Regelung nicht auf einen zweiten Fall angewendet, sondern für ihren unmittelbaren Anwendungsbereich erweitert.54 Zudem wird in der Literatur eine andere Rechtfertigung als für die Analogie vorgebracht. So wird für die teleologische Extension nicht auf den Gleichheitssatz rekurriert, sondern es wird nur darauf abgestellt, dass das Telos der Norm deren Ausdehnung fordere.55 Insoweit ist die Einordnung als Unterfall der Analogie unzutreffend, der Wortlaut wird bei der teleologischen Extension ausgedehnt, ohne dass es sich hierbei um eine Analogie handelte.56 Ein Beispiel für eine teleologische Extension bietet § 49 Abs. 2 HGB, der es dem Prokuristen untersagt, Grundstücke zu veräußern oder zu belasten.57 Nach dem Wortlaut wäre es dem Prokuristen dann aber möglich Ver50 Canaris, Feststellung von Lücken, S. 89 f.; Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 497, 499; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 904. 51 So im Ergebnis auch Canaris, Feststellung von Lücken, S. 89 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 397 ff. 52 So von Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 904; ähnlich wohl auch Röhl, S. 602, siehe auch S. 619 ff. 53 So die nachdrückliche Begründung des Unterschiedes durch Canaris, Feststellung von Lücken, S. 90. 54 Ebenso Canaris, Feststellung von Lücken, S. 90. 55 Vgl. wiederum Canaris, Feststellung von Lücken, S. 90. 56 So Larenz, Methodenlehre, S. 397; Canaris, Feststellung von Lücken, S. 90; ebenso K. Hemke, S. 127 f. 57 Dieses Beispiel stammt von Canaris, Feststellung von Lücken, S. 89 f.; dazu aus der handelsrechtlichen Literatur C.-W. Canaris, Handelsrecht, S. 288; Koller/ Roth/Morck, HGB, § 49 Rn. 7; MünchKomm-Lieb/Krebs, HGB, § 49 Rn. 45. Ein weiteres schönes Beispiel findet sich bei K. Kröpil, JuS 1993, 407, 408: „Aus der Schutzfunktion für den Angeklagten folgt, daß die Sperrwirkung des Strafklageverbrauches nicht nur bei einer Verurteilung, sondern auch bei einem freisprechenden Urteil eintritt.“ Dort geht es um Art. 103 Abs. 2 GG, in dem es heißt, dass niemand wegen derselben Tat mehrfach aufgrund der allgemeinen Strafgesetze bestraft werden dürfe. Der Freispruch wird hier vom Wortlaut des Art. 103 Abs. 2 GG nicht erfasst, da man ihn kaum unter „bestraft“ wird subsumieren können. Dieses Ergebnis wäre aber widersinnig, so dass der Wortlaut dahingehend zu erweitern ist, dass niemand aufgrund der allgemeinen Strafgesetze „abgeurteilt“ werden dürfe.

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pflichtungsgeschäfte über Grundstücke abzuschließen. Dieses liefe der Teleologie des Gesetzes allerdings zuwider, da der Grundstückskäufer bei einem wirksamen Vertrag auf Erfüllung klagen könnte. Dann aber liefe § 49 Abs. 2 HGB leer. Deshalb wird der Wortlaut dieser Bestimmung dahingehend ausgedehnt, dass der Prokurist auch keine Verpflichtungsgeschäfte über Grundstücke vornehmen darf.58 Da hier ein offensichtlicher Mangel der gesetzlichen Regelung korrigiert wird, muss man auch die teleologische Extension zu den Mitteln der Rechtsfortbildung zählen. 5. Der Rückgriff auf allgemeine Rechtsprinzipien Diese Methode der Lückenfüllung ist der Analogie nahe verwandt und hat vor allem in der französischen Judikatur und Doktrin unter der Bezeichnung der principes généraux du droit erhebliche Bedeutung erlangt.59 So basieren etwa weite Teile des französischen Allgemeinen Verwaltungsrechts auf solchen vom Conseil d’État herausgearbeiteten principes généraux du droit, aber auch im Zivilrecht spielt diese Figur eine große Rolle.60 Was ist nun aber unter den allgemeinen Rechtsprinzipien genau zu verstehen? Boulanger versucht hier ausgehend von der französischen Rechtsordnung eine Definition für die principes généraux du droit zu finden.61 Zusammenfassend führt er62 zur Begriffsfindung aus: „On appelle principes, disent les philosophes, l’ensemble des propositions directrices. . . auxquelles tout le développement ultérieur est subordonné. Ce qui se constate en droit aussi bien qu’en philosophie: il existe en droit des propositions, auxquelles des séries de solutions positives sont subordonnées. Ces propositions doivent être considérées comme des principes.“63

Unter allgemeinen Rechtsprinzipien sind also gewissermaßen die Leitideen des Rechtssystems zu verstehen, die dem ganzen System zugrunde liegen und es maßgeblich mitprägen. 58 Vgl. Erläuterungen bei H. Oetker, § 5 Rn. 31; MünchKomm-Lieb/Krebs, HGB, § 49 Rn. 45. 59 Siehe insbesondere Boulanger, Études Ripert, p. 51 ff. mit zahlreichen w. N. 60 Zum Zivilrecht siehe J. P. Gridel, Receuil Dalloz Sirey 2002, 228–236 u. 345–350. 61 Boulanger, Études Ripert, p. 51 ff. 62 So Boulanger, Études Ripert, p. 51, 55 f. 63 In deutscher Übersetzung lautet diese Stelle: Man nennt Prinzipien, sagen die Philosophen, die Gesamtheit der leitenden Bestimmungen, denen jede weitere Entwicklung unterworfen ist. Was sich im Recht ebenso wie in der Philosophie feststellen lässt: Es gibt im Recht Bestimmungen, denen eine ganze Reihe rechtlicher Lösungen unterworfen sind. Diese Bestimmungen müssen als Prinzipien erachtet werden.

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Inwiefern können diese allgemeinen Rechtsprinzipien nun aber der Lückenschließung und damit der Rechtsfortbildung dienen? Boulanger, der sehr klar diese Rolle der allgemeinen Rechtsprinzipien herausarbeitet, misst ihnen eine erhebliche Bedeutung zu, sofern keine konkrete Rechtsregel existiert.64 Bereits Gény65 hat den Argumentationsvorgang mit den allgemeinen Rechtsprinzipien beschrieben: „On s’empare d’un texte ou d’une série de textes; on en extrait un principe. Puis on redescend vers d’autres applications concrètes. C’est là au fond, l’explication logique de l’extension analogique des textes: ubi eadem ratio est, eadem lex esse debet. La ratio legis n’est pas d’autre chose qu’un principe.“66

Boulanger fasst diese von Gény getroffenen Aussagen dahingehend zusammen, dass die allgemeinen Rechtsprinzipien der Rechtfertigung der Analogie und der Erarbeitung von Lösungen dienen, wenn keine Rechtsregel vorhanden ist. Nicht ganz klar scheint in der französischen Lehre das Verhältnis von Analogie zu allgemeinen Rechtsprinzipien zu sein, hier scheint mir eine gewisse Vermischung der beiden Argumentationsformen stattzufinden.67 In gewisser Weise ist die Vorgehensweise bei einem allgemeinen Rechtsprinzip sicherlich vergleichbar mit dem bei einer Gesamtanalogie, doch meine ich, dass ein Unterschied darin besteht, dass die allgemeinen Rechtsprinzipien weitgehend feststehen und jedem Rechtsanwender in der jeweiligen Rechtsordnung bekannt sind, so dass die deduktive Komponente des Schlusses die induktive vollständig in den Hintergrund drängt, während bei der Analogie der Induktionsschluss als erster Schritt noch eine ganz erhebliche Rolle spielt.68 Insoweit kann man die allgemeinen Rechtsprinzipien als ein der Analogie durchaus verwandtes, aber doch eigenständig neben dieser bestehendes Instrument der Lückenfüllung und somit auch als Mittel der Rechtsfortbildung bezeichnen.

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Boulanger, Études Ripert, p. 51, 63. Gény, Nos. 20 ff.; siehe auch Boulanger, Études Ripert, p. 51, 63. 66 Man macht sich an einen Text oder eine Reihe an Texten; man zieht aus diesen ein Pinzip, dann steigt man wieder hinab zu anderen Einzelfallanwendungen: wo dieselbe ratio besteht, muss auch dasselbe Recht bestehen. Die ratio legis ist nichts anderes als ein Prinzip. 67 Dieses erscheint mir insbesondere der Fall zu sein, wenn man die soeben zitierte Passage von Gény, Nos. 20 ff. betrachtet. 68 Dieses dürfte sich selbst bei der erstmaligen Herleitung eines allgemeinen Rechtsprinzips bemerkbar machen. Das allgemeine Rechtsprinzip dürfte, auch wenn es noch nicht ausformuliert ist, dem Rechtsanwender von vorneherein relativ klar sein und sein Vorverständnis der Rechtsnormen maßgeblich prägen. 65

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6. Die Natur der Sache? Häufig wird im Rahmen von rechtsfortbildenden Entscheidungen auch mit der Natur der Sache, beziehungsweise, wohl weitgehend gleichbedeutend, mit dem Wesen eines Rechtsinstituts oder einer Sache argumentiert.69 So wird die Natur der Sache zumeist dann zur Begründung herangezogen, wenn eine bestimmte Lösung eines Problems für vernünftig, also intersubjektiv zustimmungswürdig erachtet wird.70 Sofern ein solcher Konsens tatsächlich besteht, ist die Argumentation mit der Natur der Sache relativ unproblematisch, sie ist dann Synonym für die allgemeine Rechtsüberzeugung, mag man sie auch vor dem Hintergrund der Methodenehrlichkeit kritisieren. Genauerer Nachforschung bedarf jedoch, was das Argument der Natur oder dem Wesen bedeutet, sofern eine solche Einigkeit hinsichtlich der rechtlichen Lösung eines Problems nicht besteht. Dabei sind die Erscheinungsformen des Arguments mit der Natur der Sache mannigfaltig,71 jedoch soll hier eine Beschränkung auf diese Denkform in Bezug auf die richterliche Rechtsfortbildung vorgenommen werden. In diesem Zusammenhang hat Dernburg eine als klassisch zu bezeichnende Formulierung gefunden: „Die Lebensverhältnisse tragen, wenn auch mehr oder weniger entwickelt, ihr Maß und ihre Ordnung in sich. Diese den Dingen innewohnende Ordnung nennt man Natur der Sache. Auf sie muss der denkende Jurist zurückgehen, wenn es an einer positiven Norm fehlt oder wenn dieselbe unvollständig oder unklar ist.“72

Die Natur der Sache bilde insofern nicht eine von dem Lebensverhältnis, für das sie gelten soll, abgelöste, in Gebotsform gebrachte Regel, sondern in gewisser Weise das Lebensverhältnis selbst, wenn auch als ein in sich 69 Vgl. zu diesem äußerst umstrittenen Argument etwa Larenz, Methodenlehre, S. 417 ff.; ders., FS Nikisch, S. 275, 281 ff.; G. Radbruch, FS Laun, S. 157 ff.; Fechner, S. 146 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 51 ff., 459 ff.; die Natur der Sache durchaus befürwortend A. Kaufmann, Analogie und Natur der Sache, S. 44 ff.; N. Bobbio, ARSP 44 (1958), 305 ff.; mit einem stark naturrechtlichen Einschlag W. Maihofer, ARSP 44 (1958), S. 145 ff.; siehe des weiteren auch R. Dreier, passim; H. Schambeck, passim; E Kaufmann, JuS 1987, S. 848 ff.; sehr kritisch zum Argument mit dem Wesen W. Scheuerle, AcP 163 (1964), S. 429 ff.; kritisch zur Natur der Sache etwa Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 919 ff.; ders., Rechtsbegriffe, S. 74. Die Natur der Sache taucht der Sache nach unter der Bezeichnung „konkretes Ordnungsdenken“ auch bei C. Schmitt, Über die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 17 ff. auf. 70 Erläuternd Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 920, der der Argumentation mit der Natur der Sache allerdings sehr kritisch gegenübersteht. 71 Zahlreiche Erscheinungsformen dieser Argumentationsfigur stellt Scheuerle, AcP 163 (1964), 429, 432 ff. dar. 72 So H. Dernburg, Pandekten, Bd. I, 3. Aufl. 1892, S. 87, zit. nach Radbruch, FS Laun, S. 157, 159.

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sinnvolles und in gewisser Weise geordnetes.73 Jedoch bedeute Natur der Sache nicht nur die tatsächlichen Vorgegebenheiten, an denen kein Normgeber vorbeigehen kann, wie etwa die Endlichkeit menschlichen Lebens, da sich hieraus allein noch keine Ordnung gewinnen lässt.74 Vielmehr sei die den Dingen innewohnende Ordnung etwas Geistiges, nicht etwas Stoffliches. Ordnung in diesem Sinne bezeichnet den sinnhaften Gehalt eines bestimmten Typus eines Lebensverhältnisses.75 Insoweit soll Natur der Sache zugleich einen ontologischen und einen normativen Tatbestand umschreiben: ein Sollen, das im Sinne des Seins angelegt und im Sein auch immer schon (mehr oder weniger) verwirklicht sei.76 In der zitierten Formulierung Dernburgs klingt zwar an, dass das Argument mit der Natur der Sache ein Mittel zur Rechtsfortbildung ist, allerdings wird an den Erläuterungsversuchen der Lehre zur Natur der Sache deutlich, dass nicht geklärt ist, in welcher Weise die Rechtsfortbildung erfolgen soll. Larenz ordnet sie zwar als Mittel der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung ein, betont jedoch zugleich, dass man sich von ihr nicht zu viel versprechen dürfe.77 Sie liefere bloße Ordnungs- und Gestaltungselemente, die zwar geeignet seien, auf den Rechtsfortbildungsprozess einzuwirken, jedoch ließen sie die rechtliche Normierung im Hinblick auf andere Gestaltungsfaktoren offen.78 Aufgrund der großen Unklarheit der Argumentation mit der Natur der Sache wird sie deshalb zum Teil auch abgelehnt. Rüthers äußert beispielsweise, bei ihr handele es sich um einen „Tarnmantel für die richterliche Ersatzgesetzgebung“.79 Daran ist zutreffend, dass hier keinerlei wirklicher 73 In diesem Sinne Larenz, FS Nikisch, S. 276, 287; vgl. auch Radbruch, FS Laun, S. 157, 159 ff. Dagegen sehen Maihofer, ARSP 44 (1958), S. 145 ff. und Kaufmann, Analogie und Natur der Sache, S. 44 ff. in der Natur der Sache eine Rechtsquelle des Naturrechts. Siehe auch R. Dreier, insbes. S. 114 ff. 74 Fechner, S. 147; ebenso Larenz, FS Nikisch, 275, 288. 75 Fechner, S. 147; ebenso Larenz, FS Nikisch, 275, 288; Radbruch, FS Laun, S. 157, 159 f. versteht unter Sache „das Substrat, das Material, de[r]n Stoff, den das Recht zu formen hat. Es ist dabei gleichgültig, ob als Stoff rechtlicher Beurteilung ein Einzelfall dem Richter vorliegt oder dem Gesetzgeber und Rechtsgelehrten ein ganzer Inbegriff rechtlicher Einzelfälle: das Verfahren zur Ermittlung der Natur der Sache ist in beiden Fällen gleich.“ 76 So Larenz, FS Nikisch, S. 275, 288 f. 77 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 418; ähnlich, wenn auch wesentlich kritischer Kaufmann, JuS 1987, 848, 851 f. 78 Ebenso H. Henkel, S. 381; Kaufmann, JuS 1987, 848, 851 f.; vgl. auch Larenz, Methodenlehre, S. 418; kritisch, aber i. E. ebenso Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 48 ff. 79 Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 919 ff.; ebenso ders., Rechtsbegriffe, S. 74 ff. vor dem Hintergrund der Verbrechen der NS-Justiz.

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methodischer Ansatz erkennbar ist, und Natur der Sache in einer rechtsfortbildenden Entscheidung wohl letztlich stets das sein dürfte, was die gerade entscheidenden Richter dafür halten. So mag zwar das Argument immer wieder auftauchen,80 doch sollte darauf wegen seiner Undurchsichtigkeit verzichtet werden. Die Methodenehrlichkeit, die richterliche Bindung an Gesetz und Recht und das Rechtsstaatsprinzip (die Vorhersehbarkeit von Entscheidungen) fordern, dass klar ist, in welcher Weise die Gerichte das Recht fortgebildet haben. Dies ist mit der – von Scheuerle81 mit einer gewissen Berechtigung als Kryptoargument, also Scheinargument, titulierten – Berufung auf die Natur der Sache nicht möglich. Als Mittel der Rechtsfortbildung – gar der Rechtsfortbildung contra legem, wie Larenz meint – taugt sie nicht und sollte aufgegeben werden. Darüber hinaus kann auf das Problem der Argumentation mit der Natur der Sache, das tief in die (Rechts-)Philosophie hineinreicht, nicht eingegangen werden.82 Festzuhalten bleibt, dass die Berufung auf das Wesen oder die Natur der Sache als Mittel der Rechtsfortbildung untauglich ist und aufgegeben werden sollte. 7. Ergebnis Die Methoden der Lückenschließung im Recht gleichen sich in der deutschen und französischen Doktrin stark. Mittel der Rechtsfortbildung sind danach die Analogie, das argumentum a maiore ad minus, das argumentum a minore ad maius als logische Schlussformen. Hinzu kommen die teleologische Reduktion und teleologische Extension, sowie – vor allem in der französischen Methodenlehre verbreitet – der Rückgriff auf allgemeine Rechtsprinzipien. Als Mittel richterlicher Rechtsfortbildung müssen der Umkehrschluss und die Argumentation mit der Natur der Sache ausscheiden. Ersterer dient nicht der Lückenschließung, letztere verdeckt als Scheinargument die wahren Gründe für die Rechtsfortbildung.

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So findet sich das Argument der Natur der Sache selbst in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, vgl. BGHZ 14, 138, 144. 81 Vgl. Scheuerle, AcP 163 (1964), 429 ff. 82 Hinweise und Ausführungen zur (allgemein-)philosophischen Diskussion finden sich bei Maihofer, ARSP 44 (1958), 145, 158, der die Frage nach der Sachgesetzlichkeit der Lebenssachverhalte als Kultursachverhalte als „ewige Frage“ tituliert und mit S. Pufendorfs entia moralia und der Grundfrage des Universalienstreits verquickt.

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II. Mittel der Rechtsfortbildung des EuGH In diesem Abschnitt soll nunmehr geklärt werden, welcher Methoden sich der EuGH bei seiner Rechtsfortbildung bedient. Da sich die Mittel der Rechtsfortbildung in der deutschen und französischen Methodendiskussion gleichen, kann man davon ausgehen, dass sich diese ganz ähnlich auch in der Rechtsprechung des Gerichtshofs wiederfinden. Da die Analogie in den nationalen Methodenlehren als wohl wichtigstes Mittel der Rechtsfortbildung gilt83, auch wenn teilweise bestritten wird, dass sie lediglich der Rechtsfortbildung diene,84 soll ihr Gebrauch in den rechtsfortbildenden Urteilen des EuGH zunächst untersucht werden (1.). Schon eine flüchtige Durchsicht der Urteile des EuGH erlaubt die Feststellung, dass auch die Ableitung aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen eine gewichtige Rolle bei der Rechtsfortbildung durch den EuGH spielt; dem soll näher nachgegangen werden (2.). Ferner könnten aber auch die teleologische Reduktion und teleologische Extension eine gewisse Rolle spielen (3.) Schließlich soll auf sonstige Mittel der Rechtsfortbildung, die in Urteilen des Gerichtshofs auftauchen, eingegangen werden (4.). 1. Die Analogie (argumentum a simili) Eine Analogie setzt nach richtiger Auffassung zunächst eine planwidrige Regelungslücke voraus.85 Des Weiteren bedarf es einer vergleichbaren Interessenlage zwischen dem geregelten und dem ungeregelten Fall und die Rechtsfolge muss auf den ungeregelten Sachverhalt übertragbar sein.86 Logisch setzt sich die Analogie aus einem induktiven und einem deduktiven Schluss zusammen, da von einer oder mehreren besonderen Regelungen zunächst induktiv auf eine ungeschriebene allgemeine Regel geschlossen werde, um aus der so gewonnenen Regel dann mittels eines Deduktionsschlusses eine neue Einzelbestimmung für den fraglichen ungeregelten Fall 83 Kramer, S. 146 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 381; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 888. 84 So von E. Bund, S. 187 f., der allerdings auch nicht bestreitet, dass die Analogie zumindest auch der Lückenfüllung und damit der Rechtsfortbildung dient. Er wendet sich aber dagegen, ihre Funktion darauf zu reduzieren. 85 Etwa Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 475; Koller, S. 228 f. 231; Looschelders/Roth, S. 304 ff., 310 ff.; Kramer, S. 146 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 381; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 888; Hemke, S. 27 ff., 39 ff.; ebenso aus dem französischen Schrifttum Spassoïevitch, p. 1, 6 ff. A. A. sind Bund, S. 188; Röhl, S. 618; Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 476 ff., die auf das Erfordernis der planwidrigen Regelungslücke verzichten wollen. Dazu bereits ausführlich oben § 2 C. I. 1. a). 86 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 381; Zippelius, Methodenlehre, § 11 II. a).

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zu bilden.87 Diese Voraussetzungen gelten selbstverständlich auch für den EuGH bei der Fortbildung des Gemeinschaftsrechts. a) Beispielsfälle für eine Analogie in der Judikatur des EuGH Als geradezu beispielhaft, ja fast lehrbuchartig, kann der Analogieschluss bezeichnet werden, den der Gerichtshof in der Rechtssache Parlament/Rat88 gezogen hat. Dabei ging es darum, ob dem Europäischen Parlament nach Art. 173 EWGV (bzw. Art. 146 EAGV) das Recht auf Erhebung einer Nichtigkeitsklage zugestanden hat. Damals waren von den Organen der Gemeinschaften lediglich der Rat und die Kommission als privilegiert Klagebefugte genannt. Der Gerichtshof hatte nun zu entscheiden, ob eine vom Europäischen Parlament angestrengte Nichtigkeitsklage mangels Klagebefugnis unzulässig war. Er verneinte diese Frage und billigte dem Parlament in analoger Anwendung des Art. 173 EWGV ein Klagerecht zu.89 Für eine Analogie ist, wie bereits gesagt, zunächst eine planwidrige Regelungslücke erforderlich. Ohne die Analogie eigens zu erwähnen führt der EuGH im besagten Urteil aus: „Das Fehlen einer Bestimmung in den Verträgen, die das Recht des Parlaments zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage vorsieht, mag eine verfahrensrechtliche Lücke darstellen, es kann jedoch nicht schwerer wiegen, als das grundlegende Interesse an der Aufrechterhaltung und Wahrung des von den Verträgen zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften festgelegten institutionellen Gleichgewichts.“90

Vom Vorliegen einer Lücke ist hier also ausdrücklich die Rede, auch wenn der Gerichtshof vorsichtig formuliert, dass das Fehlen einer dem Parlament die Befugnis zur Erhebung der Nichtigkeitsklage einräumenden Norm eine Lücke darstellen „mag“.91 In der Wertung, dieses Fehlen könne nicht schwerer wiegen, als das institutionelle Gleichgewicht, wird man die Begründung für die Planwidrigkeit der Lücke erkennen müssen. Der EuGH geht davon aus, dass die Vertragsparteien jedenfalls das institutionelle Gleichgewicht wahren wollten.92 Da hierfür aber auch eine Rechtsschutz87 Sehr str. Wie hier aber Joerden, Logik im Recht, S. 327 ff.; Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 76; Engisch, Einführung, S. 187; Schmidt, VerwArch. 2006, 139, 148; vgl. auch oben. 88 EuGH, Urt. v. 22.5.1990, RS. C-70/88 (Parlament/Rat), Slg. 1990, I-2041 ff. 89 Vgl. zum Sachverhalt EuGH, Urt. v. 22.5.1990, RS. C-70/88 (Parlament/Rat), Slg. 1990, I-2041 ff. 90 So EuGH, Urt. v. 22.5.1990, RS. C-70/88 (Parlament/Rat), Slg. 1990, I-2041, I-2073 (Rn. 26). 91 Vgl. EuGH, Urt. v. 22.5.1990, RS. C-70/88 (Parlament/Rat), Slg. 1990, I-2041, I-2073 (Rn. 26).

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möglichkeit zum Schutze der eigenen Kompetenzen erforderlich ist, diese aber nach den damaligen Vertragsbestimmungen nicht ausreichend vorgesehen war,93 besteht vor dem Hintergrund des Ziels eines institutionellen Gleichgewichts eine planwidrige Regelungslücke. Dies kommt in der zitierten Passage relativ deutlich zum Ausdruck. Zudem muss auch noch eine vergleichbare Interessenlage gegeben sein. Eine solche liegt hier allerdings nur begrenzt vor, da für die Wahrung des institutionellen Gleichgewichts nicht erforderlich ist, dass das Europäische Parlament gegen jegliche Rechtsakte vorgehen kann, auch soweit eigene Befugnisse nicht betroffen sind. Unumgänglich ist dies nur, wo Kompetenzen des Parlaments in Rede stehen. Insoweit besteht dann auch ein dem Interesse der Kommission und des Rates vergleichbares Interesse an der Möglichkeit der Nichtigkeitsfeststellungsklage.94 Folgerichtig hat der Gerichtshof in der Rechtssache Parlament/Rat die Rechtsfolge des Art. 173 EWGV (Art. 164 EAGV), also das Klagerecht, nur auch beschränkt übertragen, nämlich unter dem Vorbehalt, dass das Parlament ein konkretes Rechtsschutzbedürfnis habe.95 So heißt es in der zentralen Passage des Urteils: „Folglich kann das Parlament beim Gerichtshof eine Klage auf Nichtigerklärung einer Handlung des Rates oder der Kommission erheben, sofern diese Klage lediglich auf den Schutz seiner Befugnisse gerichtet ist und nur auf Klagegründe gestützt wird, mit denen die Verletzung der Befugnisse geltend gemacht wird.“96

Und dann, hinsichtlich der Übertragung der Rechtsfolgen bzw. zur Analogie zu Art. 173 EWGV (Art. 164 EAGV) sehr deutlich: „Unter diesem Vorbehalt unterliegt die Nichtigkeitsklage des Parlaments den Regeln, die die Verträge für die Nichtigkeitsklage der anderen Organe vorsehen.“97

Nun kann man zwar der Auffassung sein, wegen der nicht vollständigen Gleichstellung von Parlament und Rat bzw. Kommission handele es sich hierbei um keinen lupenreinen Fall der Analogie, dennoch handelt es sich ohne Zweifel um einen solchen Schluss. Darstellenswert ist diese Entschei92 Siehe dazu die Erläuterungen in EuGH, Urt. v. 22.5.1990, RS. C-70/88 (Parlament/Rat), Slg. 1990, I-2041, I-2072 f. (Rn. 21 ff.). 93 Dieses betont der Gerichtshof ausdrücklich, vgl. EuGH, Urt. v. 22.5.1990, RS. C-70/88 (Parlament/Rat), Slg. 1990, I-2041, I-2072 (Rn. 16–19). 94 In diesem Sinne ist der EuGH, Urt. v. 22.5.1990, RS. C-70/88 (Parlament/ Rat), Slg. 1990, I-2041, I-2073 (Rn. 25 f.) wohl zu verstehen. 95 So EuGH, Urt. v. 22.5.1990, RS. C-70/88 (Parlament/Rat), Slg. 1990, I-2041, I-2073 (Rn. 27). 96 Siehe EuGH, Urt. v. 22.5.1990, RS. C-70/88 (Parlament/Rat), Slg. 1990, I-2041, I-2073 (Rn. 27). 97 EuGH, Urt. v. 22.5.1990, RS. C-70/88 (Parlament/Rat), Slg. 1990, I-2041, I-2073 (Rn. 27).

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dung vor allem wegen der methodisch sehr klaren Vorgehensweise, die sich in dieser Weise leider nicht immer in den Entscheidungen des Gerichtshofs wiederfindet. Ein weiteres Beispiel für eine Analogie befasst sich wiederum mit der Rechtsschutzproblematik. In der Entscheidung Les Verts/Parlament98 ging es um die Frage, ob gegen Handlungen des Europäischen Parlaments Nichtigkeitsklage erhoben werden konnte, was Art. 173 EWGV nicht vorsah. Dennoch kommt der Gerichtshof durch eine analoge Anwendung des Art. 173 EWGV dazu, dass auch gegen Handlungen des Parlaments die Erhebung der Nichtigkeitsklage zulässig sei.99 Hinsichtlich der planwidrigen Regelungslücke stellt der Gerichtshof fest, dass in Art. 173 EWGV nur von Handlungen des Rates und der Kommission die Rede sei, anders als in Art. 177 EWGV.100 Doch statt nunmehr einen Umkehrschluss zu erwägen, fährt der EuGH fort, dass jedoch nach dem System des Vertrages die Möglichkeit einer Klage gegen alle Handlungen der Organe gegeben sei, die dazu bestimmt seien, eine Rechtswirkung zu erzeugen.101 Das Europäische Parlament sei [nur deshalb] nicht als eines der Organe genannt, deren Handlungen angefochten werden könnten, weil ihm der EWG-Vertrag in seiner ursprünglichen Fassung nur beratende Befugnisse und solche der politischen Kontrolle übertragen hatte, nicht jedoch die Befugnis, Handlungen vorzunehmen, die dazu bestimmt seien, Rechtswirkungen gegenüber Dritten zu entfalten.102 Mit diesen Erläuterungen stellt der EuGH das Vorliegen einer nachträglichen Lücke fest, die sich durch die zwischenzeitliche Aufwertung des Parlaments aufgetan hat, da der Rechtsschutz gegen Handlungen des Parlaments nicht in gleichem Maße mitgewachsen ist. Folglich ist der Vertrag lückenhaft geworden.103 Die Planwidrigkeit der Lücke besteht nun darin, dass in der Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft die Möglichkeit einer direkten Klage „gegen alle Handlungen der Organe, die dazu bestimmt sind, eine Rechtswirkung zu 98 EuGH, Urt. v. 23.4.1986, RS. 294/83 (Les Verts/Parlament), Slg. 1986, 1339 ff. Ausführlich zu dieser Frage auch GA G. F. Mancini, Schlussanträge v. 4.12.1985, Slg. 1986, 1346 ff. 99 Siehe EuGH, Urt. v. 23.4.1986, RS. 294/83 (Les Verts/Parlament), Slg. 1986, 1339, 1366 (Rn. 25). 100 So EuGH, Urt. v. 23.4.1986, RS. 294/83 (Les Verts/Parlament), Slg. 1986, 1339, 1365 (Rn. 24). 101 Vgl. EuGH, Urt. v. 23.4.1986, RS. 294/83 (Les Verts/Parlament), Slg. 1986, 1339, 1365 (Rn. 24); mit Verweis auf EuGH, Urt. v. 31.3.1971, RS. 22/70 (Kommission/Rat), Slg. 1970, 263. 102 So EuGH, Urt. v. 23.4.1986, RS. 294/83 (Les Verts/Parlament), Slg. 1986, 1339, 1365 (Rn. 24). 103 Siehe zu nachträglichen Lücken etwa Canaris, Feststellung von Lücken, S. 136; Kramer, S. 145 f.; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 861 ff.

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erzeugen“, bestehen muss.104 Da diese nicht bestehe, ließe man die Nichtigkeitsklage nicht zu, ist die nachträgliche Lücke als planwidrig einzustufen. Hinsichtlich der vergleichbaren Interessenlage stellt der Gerichtshof nur das Ergebnis fest, jedoch wird durchaus deutlich, dass er hierzu Überlegungen angestellt hat. „Eine Auslegung des Art. 173 EWG-Vertrag, die die Handlungen des Europäischen Parlaments aus dem Kreis der anfechtbaren Handlungen ausschlösse, würde zu einem Ergebnis führen, das sowohl dem Geist des Vertrages, wie er in Art. 164 Ausdruck gefunden hat, als auch seinem System zuwiderliefe.“105

Da die Rechtsfolge – die Zulässigkeit der Erhebung einer Nichtigkeitsklage gegen rechtsrelevante Handlungen des Europäischen Parlaments – unproblematisch auf den fraglichen Fall übertragbar war, wendete der EuGH Art. 173 EWGV mit den Worten: „Daher ist festzustellen, dass gegen die Handlungen des Europäischen Parlaments, die gegenüber Dritten Rechtswirkungen entfalten sollen, die Nichtigkeitsklage erhoben werden kann.“

auf das Europäische Parlament entsprechend an.106 Diese beiden Beispiele aus der rechtsfortbildenden Judikatur des Gerichtshofs können als Analogieschlüsse eingestuft werden. Sehr zweifelhaft ist hingegen, ob eine der entscheidenden Passagen des Urteils in der Rs. Brasserie du Pêcheur und Factortame107 noch als Analogie zu verstehen ist. Die fragliche Stelle, in welcher es um einen gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch der Mitgliedstaaten geht, lautet: „Dieser in Art. 215 [mittlerweile Art. 288 Abs. 2 EGV] ausdrücklich aufgestellte Grundsatz der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft ist nur eine Ausprägung des in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten allgemein geltenden Grundsatzes, daß eine rechtswidrige Handlung oder Unterlassung die Verpflichtung zum Ersatz des verursachten Schadens nach sich zieht. Dieser Vorschrift ist außerdem die Verpflichtung der öffentlichen Stellen zu entnehmen, die in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten Schäden zu ersetzen.“108

Das Rekurrieren des Gerichtshofs – neben dem Zurückgreifen auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie den Rechtsordnungen der Mitgliedstaa104 EuGH, Urt. v. 23.4.1986, RS. 294/83 (Les Verts/Parlament), Slg. 1986, 1339, 1365 (Rn. 24). 105 Vgl. EuGH, Urt. v. 23.4.1986, RS. 294/83 (Les Verts/Parlament), Slg. 1986, 1339, 1366 (Rn. 25). 106 So EuGH, Urt. v. 23.4.1986, RS. 294/83 (Les Verts/Parlament), Slg. 1986, 1339, 1366 (Rn. 25). 107 EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-1029 ff. 108 EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-1029, I-1144 (Rn. 29).

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ten gemeinsam sind – auf Art. 288 Abs. 2 EGV (Art. 215 Abs. 2 EWGV), könnte als Analogieschluss eingestuft werden. So weit scheint mir der Gerichtshof dann allerdings doch nicht zu gehen. Vielmehr zieht er die Vorschrift nur unterstützend, als „Ausprägung“109 des allgemeinen Rechtsgrundsatzes im Gemeinschaftsrecht, heran. Die Rechtsfortbildung mithilfe allgemeiner Rechtsgrundsätze verdient jedoch eine eigenständige Betrachtung. b) Zusammenfassung Abschließend kann man feststellen, dass sich der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften selbstverständlich auch der Analogie bedient. Zwar bezeichnet er diese nicht ausdrücklich, sondern spricht eher von extensiver Auslegung, aber – wie man vor allem zu den beiden Rechtsschutzentscheidungen mit Bezug auf das Europäische Parlament erkennen konnte, legt er seine methodischen Entscheidungsfindungswege hin und wieder offen. Aus diesen Entscheidungen wird dann auch ersichtlich, dass der EuGH die Analogie als Mittel der Lückenfüllung und damit auch der Rechtsfortbildung ebenso heranzieht, wie es in der deutschen und französischen Methodenlehre üblich ist. 2. Allgemeine Rechtsgrundsätze Häufig finden sich in den Urteilen des Gerichtshofs auch Hinweise auf allgemeine Rechtsgrundsätze, mittels derer das Gemeinschaftsrecht dann im Einzelfall ergänzt und fortgebildet wird. a) Begriffsbestimmung Zunächst soll versucht werden, den schillernden Begriff der allgemeinen Rechtsgrundsätze im Gemeinschaftsrecht näher zu bestimmen und zu erhellen, was sich hinter diesen genau verbirgt. Helmut Lechler beschreibt die allgemeinen Rechtsgrundsätze in seiner Untersuchung der Rechtsprechung des EuGH zu denselben folgendermaßen: „Zwar handelt es sich bei den Rechtsgrundsätzen um allgemeinste Normen, aus ihnen lassen sich aber bestimmte Rechte und Pflichten der Rechtsunterworfenen unmittelbar ableiten. Damit gehören sie den Rechtsnormen, nicht aber den Ideen110 109 So EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-1029, I-1144 (Rn. 29). 110 H. Lechler, S. 46 scheint mir hier die platonischen Ideen zu meinen, zur Ideenlehre siehe das berühmte Höhlengleichnis von Platon, 7. Buch, 514a-519c.

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zu. Norminspirierend sind sie in dem Sinne, als die allgemeine Norm – etwa das Prinzip der Gleichheit – verschiedene möglichst konkrete Ausgestaltungen beherrscht und begrenzt. Das Besondere der allgemeinen Rechtsgrundsätze gegenüber gewöhnlichen Rechtsregeln lässt sich so als notwendiger Bestandteil einer jeden rechtlichen Ordnung, Ausdruck allgemeiner Rechtsgedanken, für die Zivilisation grundlegende Prinzipien oder als fundamentale Rechtsnormen bezeichnen, die elementare Sachverhalte regeln.“111

Die Besonderheit des allgemeinen Rechtsgrundsatzes soll darin liegen, dass man ihn nicht außer Acht lassen könne, ohne damit gleichzeitig die Ordnung des modernen Rechtsstaates oder die Grundlagen des Zusammenlebens in der (Völkerrechts-)Gemeinschaft, in Frage zu stellen.112 Diese von Lechler für das Gemeinschaftsrecht vorgeschlagene Begriffsbestimmung hebt die allgemeinen Rechtsgrundsätze nun freilich auf eine sehr abstrakte Ebene und gerät hierdurch zu einer stark beschränkenden Definition, da nur ganz wenige Rechtsprinzipien diesen hohen Anforderungen genügen dürften, wie etwa der Gleichheitssatz oder der Grundsatz von Treu und Glauben. Damit droht aber die Bestimmung dem Verständnis des EuGH von den allgemeinen Rechtsgrundsätzen nicht ganz gerecht zu werden, so dass nach weiteren Begriffsbestimmungen zu suchen ist. Der spezifisch europarechtlichen Literatur lassen sich jedoch keine weiteren Definitionen entnehmen, vielmehr wird die Existenz der allgemeinen Rechtsgrundsätze stets vorausgesetzt. Sinnvoll – wenn auch nicht sonderlich präzise – scheint mir jedoch das von Kramer vorgeschlagene Verständnis zu sein. Danach geht es bei den allgemeinen Rechtsgrundsätzen um „Grundprinzipien des Rechts, die – teilweise auch ausdrücklich positiviert – das ‚innere System‘ des Rechts oder eines Teilbereichs der Rechtsordnung artikulieren, ohne unmittelbar subsumtionsfähig zu sein.“113 Hierzu zählt Kramer dann grundlegende Verfassungsprinzipien wie das Rechtsstaats- und das Verhältnismäßigkeitsprinzip, aber auch die Grundrechte.114 Dieses Verständnis scheint mir dem des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften ziemlich nahe zu kommen. Versucht man nun dieses knapp auszudrücken, so könnte man – methodisch etwas unsauber, aber meines Erachtens verständnisfördernd – die allgemeinen Rechtsgrundsätze als Generalklauseln des Rechts bzw. der Rechtsordnung, wohlgemerkt des Rechts und nicht etwa bloß des EG-Vertrages – bezeichnen, die prinzipiell immer Geltung beanspruchen. 111 112 113 114

So Lechler, S. 46. Lechler, S. 47. So Kramer, S. 188. Vgl. Kramer, S. 189.

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b) Lückenhaftigkeit? Betrachtet man nun diese Umschreibung für die allgemeinen Rechtsgrundsätze, so drängt sich die Frage auf, ob das Erfordernis der Lücke als Voraussetzung für die richterliche Rechtsfortbildung auch bei der Bezugnahme auf allgemeine Rechtsgrundsätze aufrecht erhalten werden kann. Gelten die allgemeinen Rechtsgrundsätze nämlich stets (zumindest subsidiär), so liegt prinzipiell keine Lücke vor. Hierbei handelt es sich jedoch bloß um ein scheinbares Problem. Dieses erübrigt sich, wenn man auf die Bezugspunkte des Lückenerfordernisses achtet. Als Voraussetzung zur Rechtsfortbildung ist nämlich eine Lücke im Vertrag, bzw. eines bestimmten Rechtsaktes vonnöten (Lücke im Gesetz!).115 Es muss also an einer für den Einzelfall subsumtionsfähigen Vorschrift fehlen. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze bewegen sich nun aber auf einer abstrakteren Ebene. Sie bestimmen, hier ist Lechler116 zuzustimmen, den Inhalt der subsumtionsfähigen Rechtssätze mit, sind aber selbst nicht subsumtionsfähig. Lückenlos wird also durch die Annahme allgemeiner Rechtsgrundsätze nicht das Primär- oder Sekundärrecht, sondern höchstens die (Gemeinschafts-)Rechtsordnung als ganze, von deren Lückenlosigkeit man für die Rechtsfortbildung aber ohnehin ausgeht.117 c) Herleitung Genauerer Untersuchung bedarf die Frage, wie der Europäische Gerichtshof die allgemeinen Rechtsgrundsätze findet, mittels derer er die Lücken im EG-Vertrag schließt. Dabei lassen sich in den Urteilen zwei Wege erkennen, nämlich zum einen die wertende Rechtsvergleichung [(aa)], zum anderen eine Ableitung aus bestimmten Vertragsbestimmungen, in denen ein allgemeiner Rechtsgrundsatz Ausdruck gefunden hat [(bb)]. aa) Wertende Rechtsvergleichung Sehr häufig bedient sich der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften der wertenden Rechtsvergleichung, um allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschafsrechts festzustellen.118 115 Zu der Differenzierung zwischen Lücke im Gesetz und Lücke im Recht explizit zum Gemeinschaftsrecht, H. Kutscher, Methoden der Auslegung, S. I-10 f., der davon spricht, dass der EuGH sicherlich die Befugnis habe, sogenannte Lücken im Gesetz zu schließen, wobei anzumerken sei, dass man von einer vollständigen und geschlossenen Rechtsordnung ausgehe. 116 Vgl. Lechler, S. 47. 117 So auch Kutscher, Methoden der Auslegung, S. I-10.

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(1) Begriff Unter dem auf Zweigert119 zurückgehenden Begriff der wertenden Rechtsvergleichung versteht man, auf das Europarecht gewendet, dass wesentliche Lücken im Europäischen Gemeinschaftsrecht nicht einfach durch die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen geschlossen werden, sondern ein Vergleich der nationalen Regelungen die beste Lösung, die im einzelstaatlichen Recht auffindbar ist, zu Tage fördern soll.120 Dabei muss ein solcher Rechtssatz auch tatsächlich bestehen, er darf vom EuGH nicht erfunden werden.121 Fraglich ist, ob der Rechtsgrundsatz in den Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten seinen Niederschlag gefunden haben muss. Die Ausführungen der Generalanwälte legen dieses nahe, da sich in den Schlussanträgen häufig Darstellungen der Rechtslage in sämtlichen Mitgliedstaaten finden lassen.122 Der EuGH hat freilich stets nur unterstrichen, dass der betreffende Rechtssatz in den Mitgliedstaaten bekannt sei, ohne sich dazu zu äußern, ob dieses auch notwendige Bedingung für einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts sei.123 Teile der Literatur halten es jedenfalls für ausreichend, wenn in der überwiegenden Anzahl der Mitgliedstaaten ein bestimmter Rechtssatz bestehe und die Rechtsordnungen der übrigen Mitgliedstaaten dem nicht widersprächen.124 Zur Bekräftigung ihrer Position wird von Vertretern dieser Ansicht das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache 118 Siehe darstellend dazu nur S. Jacoby, S. 238 ff.; Lechler, S. 178 ff. (dort auch zur Rechtsquellenqualität der allgemeinen Rechtsgrundsätze); A. Bleckmann, Probleme, S. 105 ff.; H.-W. Rengeling, EuR 1984, 331 ff.; J. Schwarze, NJW 1986, 1067 ff.; T. Schilling, EuGRZ 2000, S. 3 ff. 119 Siehe etwa K. Zweigert, FS Dölle, Bd. 2, S. 401 ff.; dazu auch H.-W. Daig, FS Zweigert, S. 395 ff.; zur Rechtsvergleichung bei der Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts A. Bleckmann, Rechtsvergleichung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 105 ff. Zur Rechtsvergleichung „als fünfter Methode“ im Verfassungsrecht P. Häberle, JZ 1989, 913 ff.; ders., Europäische Rechtskultur, S. 52. 120 Darauf weist Oppermann, Europarecht, § 6 Rn. 21, mit Recht hin. In dieser Art und Weise beschreibt auch GA G. Slynn, Schlussanträge v. 26.1.1982, RS. 155/79 (AM&S/Kommission), Slg. 1982, 1642, 1648 f. diese Methode. (. . . daß das Gemeinschaftsrecht darauf gerichtet sei, unter Berücksichtigung des Geistes, der Ziel- und allgemeinen Entwicklungsrichtung der entsprechenden nationalen Rechtsvorschriften, die qualitativ beste Lösung zu finden.“) 121 Ebenso Oppermann, Europarecht, Rn. § 6 Rn. 21. 122 Exemplarisch GA Slynn, Schlussanträge v. 26.1.1982, RS. 155/79 (AM&S/Kommission), Slg. 1982, 1642, 1648 f. 123 So auch Bleckmann, Probleme, S. 105, 107. 124 Etwa P. Pescatore, CDE 1968, pp. 629 ff.; Bleckmann, Probleme, S. 105, 108.

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Nold125 angeführt, da die darin als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts postulierte Berufsfreiheit nicht von allen Mitgliedstaaten in ihrer Verfassung geschützt werde.126 Zudem ist zu bedenken, dass es mit der stets zunehmenden Mitgliederzahl der Gemeinschaften immer wahrscheinlicher wird, dass ein Rechtsgedanke nicht in sämtlichen Rechtsordnungen enthalten ist. Durch die erhebliche Erweiterung, die die Gemeinschaft 2004 erfahren hat127 und die sich mit den Beitritten Bulgariens und Rumäniens 2007 fortgesetzt hat und möglicherweise der Nachfolgestaaten des früheren Jugoslawien sowie der Türkei demnächst fortsetzen wird, hat sich die Zahl der Mitgliedstaaten gegenüber der Erweiterungsrunde von 1995 fast verdoppelt. Sollen nunmehr allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, die bereits entwickelt worden sind, plötzlich nicht mehr gelten, weil eine Rechtsordnung eines neuen Mitgliedstaates diesen Rechtsgrundsatz nicht kennt? Dieses dürfte – unabhängig davon, ob man die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen zum acquis communautaire rechnen möchte oder nicht – nicht richtig sein. Auch würde es mit steigender Mitgliederzahl immer schwieriger werden, für eine Rechtsfrage sämtliche Rechtsordnungen zu vergleichen und dort stets eine vergleichbare Lösung vorzufinden. Für das Bestehen eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes im Gemeinschaftsrecht ist es also nicht erforderlich, dass dieser in sämtlichen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen vorkommt, sofern er in einer Mehrzahl der Mitgliedstaaten bekannt ist und keine der übrigen Rechtsordnungen diesem widerspricht.128 Beim Vergleich der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten wäre allerdings zu erwägen, ob nicht den Rechtsordnungen der Gründungsmitglieder ein gewisses Übergewicht beizumessen wäre, da das Gemeinschaftsrecht auf westlich-kontinentaleuropäischen Rechtsanschauungen aufbaut.129 (2) Normative Verankerung Einen normativen Anknüpfungspunkt im EG-Vertrag findet die Methode der wertenden Rechtsvergleichung in Art. 288 Abs. 2 EGV. Dort ist für die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft nämlich ausdrücklich bestimmt, dass die Gemeinschaft für von ihren Bediensteten oder Organen bei Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachte Schäden „nach allgemeinen Rechts125 Vgl. EuGH, Urt. v. 14.5.1974, RS. 4/73 (Nold/Kommission), Slg. 1974, 491, 507 f. (Rn. 14). 126 Pescatore, CDE 1968, pp. 629 ff.; Bleckmann, Probleme, S. 105, 108. 127 Zur neuesten Erweiterungsrunde 2004 etwa A. Schneider, Wirtschaftspolitische Blätter 2004, S. 47 ff. 128 Ebenso Pescatore, CDE 1968, pp. 629 ff.; Bleckmann, Probleme, S. 105, 108. 129 So zu Recht Bleckmann, Rechtsvergleichung, S. 105, 108.

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grundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind“, haftet. Hieran wird deutlich, dass der Vertrag selbst die Möglichkeit der auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten abstellenden Rechtsvergleichung als Mittel der Lückenfüllung grundsätzlich anerkennt. Untermauert werden kann diese Feststellung, wenn man zudem noch Art. 6 Abs. 2 EUV hinzuzieht. Dieser postuliert, die Union achte die Grundrechte wie sie sich aus der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschafsrechts ergeben. In beiden Vertragsvorschriften, Art. 288 Abs. 2 EGV und Art. 6 Abs. 2 EUV, wird der Zusammenhang zwischen nationalem Recht und dem (richterrechtlich) durch Rechtsvergleichung geschaffenem Gemeinschaftsrecht hergestellt. Dennoch unterscheiden sie sich im Hinblick auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze in einer Nuance. Während Art. 288 Abs. 2 EGV auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen verweist („allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind“), nimmt Art. 6 Abs. 2 EUV seinen Ausgangpunkt bei den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten, um zu den Grundrechten als „allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts“ (!) zu gelangen. Art. 6 Abs. 2 EUV erteilt also im Nachhinein der Methode der wertenden Rechtsvergleichung, derer sich der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften bedient hat, um das Gemeinschaftsrecht im Grundrechtsbereich fortzubilden, den Segen der Vertragsparteien. Freilich bietet aber auch Art. 288 Abs. 2 EGV genügend Raum, um von allgemeinen Rechtsgrundsätzen des nationalen Rechts zu solchen des Gemeinschaftsrechts und, im Wege der Rechtsfortbildung, schließlich auch zur gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung der Mitgliedstaaten zu kommen. (3) Beispielsfälle für die Rechtsfortbildung durch wertende Rechtsvergleichung Als prominenteste Beispiele für die Rechtsfortbildung des EuGH mittels Herleitung aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen können dann auch die Grundrechtsrechtsprechung sowie die Judikatur zur gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung der Mitgliedstaaten angeführt werden. Aber auch einige Grundsätze wie das Rechtsstaatsprinzip mit seinen Ausprägungen hat der Gerichtshof auf diesem Wege entwickelt.130 130 Siehe dazu etwa Rengeling, EuR 1984, 331 ff.; Schwarze, NJW 1986, 1067 ff.; Schilling, EuGRZ 2000, S. 3 ff.; allgemein zur Rechtsvergleichung als Methode zur Konkretisierung der allgemeinen Grundsätze des Rechts W. Lorenz, JZ 1962, 269 ff.

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(a) Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze Den wohl wichtigsten und umfangreichsten Bereich, in dem der EuGH durch die Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts richterrechtlich ausgestaltet hat, bilden die Grundrechte des EG-Rechts. Diese Rechtsprechung wurde von den Vertragsparteien – wie bereits erwähnt – durch die Schaffung des Art. 6 Abs. 2 EUV bestätigt und damit von den Mitgliedstaaten akzeptiert. In der Rechtssache Nold äußert sich der Gerichtshof, wenn auch nur knapp, rechtsvergleichend zur Eigentums- und Berufsfreiheit.131 Nachdem er betont, dass die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgründsätzen gehörten, die er zu wahren habe,132 führt der EuGH aus, dass die Verfassungsordnung sämtlicher Mitgliedstaaten das Eigentum schütze und in ähnlicher Weise die Freiheit der Arbeit, des Handels und anderer Berufstätigkeiten gewährleiste.133 Hierin liegt ein gewisses, allerdings durch den Gerichtshof nicht näher ausgeführtes rechtsvergleichendes Moment. Insoweit anerkennt der Gerichtshof einen grundsätzlichen Schutz des Eigentums und der Berufsfreiheit auch im Gemeinschaftsrecht. Beispielhaft für die richterliche Rechtsfortbildung durch die rechtsvergleichende Gewinnung allgemeiner Rechtsgrundsätze sind die Urteilsgründe der Rechtssache AM&S.134 Eine sehr ausführliche und detaillierte Rechtsvergleichung findet sich in den Schlussanträgen der beiden Generalanwälte JeanPierre Warner und Gordon Slynn.135 In dieser Rechtssache ging es um die Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Anwalt und Mandant. Der Gerichtshof erörtert hier die Lösungen in den verschiedenen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, die bei Durchsuchungen verschieden strenge Anforderungen an die Vertraulichkeit hinsichtlich solcher Schriftstücke stellen.136 So heißt es zum Schutz der Vertraulichkeit und seinen Voraussetzungen: 131 EuGH, Urt. v. 14.5.1974, RS. 4/73 (Nold/Kommission), Slg. 1974, 491, 507 f. (Rn. 14). 132 Vgl. EuGH, Urt. v. 14.5.1974, RS. 4/73 (Nold/Kommission), Slg. 1974, 491, 507 f. (Rn. 13), dort weist er auch auf die Menschenrechtsverträge hin, denen die Mitgliedstaaten beigetreten sind. 133 Vgl. EuGH, Urt. v. 14.5.1974, RS. 4/73 (Nold/Kommission), Slg. 1974, 491, 507 f. (Rn. 14). 134 EuGH, Urt. v. 18.5.1982, RS. 155/79 (AM&S/Kommission), Slg. 1982, 1575 ff. 135 Siehe die Schlussanträge zu dieser RS. GA J.-P. Warner, Schlussanträge v. 20.1.1981, RS. 155/79 (AM&S/Kommission), Slg. 1982, 1619, 1632 ff.; noch ausführlicher und erhellender GA G. Slynn, Schlussanträge v. 26.1.1982, RS. 155/79 (AM&S/Kommission), Slg. 1982, 1643, 1651 ff. 136 Vgl. EuGH, Urt. v. 18.5.1982, RS. 155/79 (AM&S/Kommission), Slg. 1982, 1575, 1610 f. (Rn. 18 ff.).

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„Während in manchen Mitgliedstaaten der Schutz der Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Anwalt und Mandant in erster Linie auf die dem Anwaltsberuf zuerkannte Bedeutung eines Mitgestalters der Rechtspflege gestützt wird, findet dieser Schutz in anderen Mitgliedstaaten seine Rechtfertigung in den mehr spezifischen – im übrigen auch in den erstgenannten Staaten anerkannten – Erfordernis, daß die Rechte der Verteidigung gewahrt werden müssen.“137

Sodann folgt die wertende Rechtsvergleichung und die hieraus hervorgehende richterrechtliche Entwicklung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes des Gemeinschaftsrechts. Der Gerichtshof betont nämlich, dass es in den nationalen Rechtsordnungen, abgesehen von den beschriebenen Unterschieden, insoweit Gemeinsamkeiten bestünden, als die Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Anwalt und Mandant unter vergleichbaren Voraussetzungen geschützt sei. Insoweit müsse auch die in Streit stehende Verordnung so „ausgelegt“ werden, dass sie ebenfalls die Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Anwalt und Mandant unter diesen Voraussetzungen schütze und somit die den Rechtsordnungen gemeinsamen Elemente dieses Schutzes aufgreife.138 Als beispielhaft können ebenfalls noch die Schlussanträge des Generalanwalts Jean Mischo zur Rechtssache Hoechst angeführt werden, in der es um die Frage ging, ob Geschäftsräume in den Bereich der vom Gemeinschaftsrecht geschützten Unverletzlichkeit der Wohnung fallen.139 Mischo geht auf sämtliche Rechtsordnungen der damaligen Mitgliedstaaten ein,140 um zu dem Ergebnis zu kommen, dass die Geschäftsräume unter die Unverletzlichkeit der Wohnung fallen.141 Dem ist der EuGH jedoch nicht gefolgt.142 So hat er festgestellt, dass das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung als ein dem Recht der Mitgliedstaaten gemeinsamer Grundsatz zwar für die Privatwohnung natürlicher Personen anzuerkennen sei, nicht aber für Unternehmen, da die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in Bezug auf Art und Umfang des Schutzes von Geschäftsräumen nicht unerhebliche Unterschiede aufwiesen.143 137

EuGH, Urt. v. 18.5.1982, RS. 155/79 (AM&S/Kommission), Slg. 1982, 1575, 1610 f. (Rn. 20). 138 EuGH, Urt. v. 18.5.1982, RS. 155/79 (AM&S/Kommission), Slg. 1982, 1575, 1611 (Rn. 21, 22). 139 Siehe GA J. Mischo, Schlussanträge v. 21.2.1989, verb. RS. 46/87 und 227/88 (Hoechst/Kommission), Slg. 1988, 2875, 2884 ff. (Nrn. 49 ff.). 140 Vgl. GA Mischo, Schlussanträge v. 21.2.1989, verb. RS. 46/87 und 227/88 (Hoechst/Kommission), Slg. 1988, 2875, 2884 ff. (Nrn. 49 ff.). 141 Ausdrücklich GA Mischo, Schlussanträge v. 21.2.1989, verb. RS. 46/87 und 227/88 (Hoechst/Kommission), Slg. 1988, 2875, 2893 (Nr. 103). 142 Siehe EuGH, Urt. v. 21.9.1989, verb. RS. 46/87 und 227/88 (Hoechst/Kommission), Slg. 1989, 2859, 2924 (Rn. 17). 143 EuGH, Urt. v. 21.9.1989, verb. RS. 46/87 und 227/88 (Hoechst/Kommission), Slg. 1989, 2859, 2924 (Rn. 17).

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Dieses Ergebnis des Gerichtshofs zeigt die Problematik der rechtsvergleichenden Methode zur Gewinnung allgemeiner Rechtsgrundsätze, um das Gemeinschaftsrecht fortzubilden, auf, nämlich die Gefahr, doch in Richtung eines Minimalstandards abzusinken. (b) Staatshaftung Auch die mitgliedstaatliche Staatshaftung für Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht hat der Gerichtshof als allgemeinen Rechtsgrundsatz, der den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam ist, gewonnen.144 Wie bereits erwähnt lautet die für die Methode der Rechtsfortbildung entscheidende Formulierung des Gerichtshofs zum gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch gegen die Mitgliedstaaten wegen Verstoßes gegen Gemeinschaftsrecht: „Dieser in Art. 215 [mittlerweile Art. 288 Abs. 2 EGV] ausdrücklich aufgestellte Grundsatz der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft ist nur eine Ausprägung des in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten allgemein geltenden Grundsatzes, daß eine rechtswidrige Handlung oder Unterlassung die Verpflichtung zum Ersatz des verursachten Schadens nach sich zieht. Dieser Vorschrift ist außerdem die Verpflichtung der öffentlichen Stellen zu entnehmen, die in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten Schäden zu ersetzen.“145

Der EuGH betont hier ausdrücklich einen allgemeinen Rechtsgrundsatz der Staatshaftung auch im Gemeinschaftsrecht, aus dem er schließlich die Haftung der Mitgliedstaaten ableitet. Eine genauere Überprüfung dieser Behauptung liefert der Gerichtshof allerdings nicht. An der Rechtsfortbildung zur mitgliedstaatlichen Staatshaftung ist bemerkenswert, dass hier für die Begründung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes sowohl die wertende Rechtsvergleichung herangezogen wird und ein allen Mitgliedstaaten gemeinsamer Grundsatz aufgestellt wird als auch die Ausprägung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes des Gemeinschaftsrecht in einer einzelnen Vertragsbestimmung, nämlich Art. 288 Abs. 2 EGV (Art. 215 Abs. 2 EWGV), betont wird.146 Art. 288 Abs. 2 soll nach Ansicht des Gerichtshofs bloß eine Ausprägung des in den Mitgliedstaaten geltenden Grundsatzes der Haftung für staatliches Unrecht sein.147 Man kann also sa144 So in EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), S. I-1029, I-1144 (Rn. 29). 145 EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-1029, I-1144 (Rn. 29). 146 EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), S. I-1029, I-1144 (Rn. 29). 147 EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), S. I-1029, I-1144 (Rn. 29).

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gen, dass die richterliche Herausbildung dieses allgemeinen Rechtsgrundsatzes sich auf zwei Säulen stützt, auf die rechtsvergleichende Feststellung eines Staatshaftungsanspruchs in den Mitgliedstaaten und auf die Ausprägung dieses Grundsatzes in Art. 288 Abs. 2 EGV bezogen auf die Gemeinschaft. (c) Grundsätze des Verwaltungsrechts Auch auf dem Gebiet des allgemeinen Verwaltungsrechts hat sich der Gerichtshof der Aufgabe gegenüber gesehen, Lücken in den Gemeinschaftsrechtsakten zu schließen.148 Dabei hat er sich zur Lückenschließung auch allgemeiner Rechtsgrundsätze bedient, welche er durch wertende Rechtsvergleichung gewonnen hat.149 Beispielhaft kann hier die Rücknahme bzw. der Widerruf von Verwaltungsakten angeführt werden.150 So heißt es etwa in der Rechtssache SNUPAT/Hohe Behörde: „Im übrigen lassen die Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten den rückwirkenden Widerruf stets dann zu, wenn der betreffende Verwaltungsakt auf falschen oder unvollständigen Angaben der Beteiligten beruhte. Der Gerichtshof hält es nicht für ausgeschlossen, daß dieser Grundsatz im vorliegenden Fall Anwendung finden kann.“151

Im Zusammenhang damit steht auch die Frage nach dem Vertrauensschutz bei der Rücknahme rechtmäßiger Verwaltungsakte. Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass die rückwirkende Rücknahme eines rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsaktes gegen allgemeine Rechtsgrundsätze verstoße.152 Die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die hinter diesen beiden Urteilen stehen, sind zum einen der Grundsatz des Vertrauensschutzes, zum anderen – mit ersterem konkurrierend – der Grundsatz der Rechtssicherheit.153 Der Grundsatz des Vertrauensschutzes spielt aber auch noch bei anderen Fragestellungen eine entscheidende Rolle und der Gerichtshof hat auch hier auf den allgemeinen Rechtsgrundsatz rekurriert, um Regelungslücken zu schließen. So hat sich im Bereich der Gemeinschaftsgesetzgebung – wie im nationalen Recht auch – das Problem der Zulässigkeit der Rückwirkung 148

Dazu etwa Rengeling, EuR 1984, 331 ff.; Schwarze, NJW 1986, 1067 ff. Diese Einschätzung teilen auch Rengeling, EuR 1984, 331, 335; Schwarze, NJW 1986, 1067, 1068. 150 Eine ausführliche Darstellung dieser Problematik findet sich bei Rengeling, EuR 1984, 331, 336; Schwarze, NJW 1986, 1067, 1070 f. 151 Vgl. bereits sehr früh EuGH, Urt. v. 22.3.1961, verb. RS. 42/59 und 49/59 (SNUPAT/Hohe Behörde), Slg. 1961, 110, 173. 152 EuGH, Urt. v. 22.3.1961, verb. RS. 42/59 und 49/59 (SNUPAT/Hohe Behörde), Slg. 1961, 110, 162. 153 Ebenso Rengeling, EuR 1984, 331, 336; Schwarze, NJW 1986, 1067, 1070 f. 149

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von Rechtsnormen aufgetan.154 Für den Fall einer echten Rückwirkung, wenn also die belastende Regelung für bereits abgeschlossene Sachverhalte eingeführt werden soll, hat der EuGH entschieden, dass es der Grundsatz der Rechtssicherheit im Allgemeinen verbiete, den Beginn der Geltungsdauer eines Rechtsaktes der Gemeinschaft auf einen Zeitpunkt vor der Veröffentlichung zu legen.155 Hingegen hat er die unechte Rückwirkung, also die gesetzgeberische Einwirkung auf in der Vergangenheit entstandene, aber noch nicht abgeschlossene Sachverhalte, grundsätzlich für zulässig erklärt.156 Grundlegend hat er formuliert: „Nach allgemein anerkanntem Grundsatz sind Gesetzesänderungen, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf die künftigen Wirkungen unter dem alten Recht entstandener Sachverhalte anwendbar.“157

Dies schließt freilich nicht aus, dass im Einzelfall Vertrauensschutzgesichtspunkte dennoch Bedeutung gewinnen.158 Als weiteres Beispiel kann das Anhörungsrecht im Verwaltungsverfahren, als eines der wichtigsten Schutzrechte des Bürgers, angeführt werden.159 Im Fall Transocean Marine Point Association hat der Gerichtshof geurteilt, dass über die positiv-rechtlichen Verbürgungen hinaus ein allgemeiner Grundsatz im Gemeinschaftsrecht anzuerkennen sei, dass die Adressaten von Entscheidungen der öffentlichen Behörden, wenn ihre Interessen spürbar berührt würden, Gelegenheit erhalten müssten, ihren Standpunkt darzulegen.160 In seinen Schlussanträgen zu dieser Rechtssache hat Generalanwalt Warner die allgemeine Anerkennung des Grundsatzes „audiatur et altera pars“ gegenüber der Verwaltung mittels einer ausführlichen rechtsvergleichenden Analyse ermittelt.161 Freilich hat der EuGH dem Grundsatz auf rechtliches Gehör auch Grenzen gesetzt, er gilt nämlich nur noch einge154 Siehe dazu EuGH, Urt. v. 25.1.1979, RS. 98/78 (Racke/HZA Mainz), Slg. 1979, 69, 87 (Rn. 20). 155 EuGH, Urt. v. 25.1.1979, RS. 98/78 (Racke/HZA Mainz), Slg. 1979, 69, 87 (Rn. 20). 156 So EuGH, Urt. v. 5.7.1973, RS. 1/73 (Westzucker/Einfuhr- und Vorratsstelle Zucker), Slg. 1973, 723, 729 (Rn. 5). 157 EuGH, Urt. v. 5.7.1973, RS. 1/73 (Westzucker/Einfuhr- und Vorratsstelle Zucker), Slg. 1973, 723, 729 (Rn. 5). 158 Vgl. EuGH, Urt. v. 5.7.1973, RS. 1/73 (Westzucker/Einfuhr- und Vorratsstelle Zucker), Slg. 1973, 723, 729 (Rn. 5). 159 Siehe etwa EuGH, Urt. v. 23.10.1974, RS. 17/74 (Transocean Marine Point/ Kommission), Slg. 1974, 1063, 1081 (Rn. 15); EuGH, Urt. v. 27.10.1977, RS. 121/76 (Moli/Kommission), S. 1971, 1979 (Rn. 19/21); EuGH, Urt. v. 13.2.1979, RS. 85/76 (Hoffmann La Roche/Kommission), Slg. 1979, 461, 511 (Rn. 9). 160 So EuGH, Urt. v. 23.10.1974, RS. 17/74 (Transocean Marine Point/Kommission), Slg. 1974, 1063, 1081 (Rn. 15); ähnlich EuGH, Urt. v. 13.2.1979, RS. 85/76 (Hoffmann La Roche/Kommission), Slg. 1979, 461, 511 (Rn. 9).

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schränkt, wo seine unbedingte Beachtung die Erreichung eines gesetzlich angestrebten Verwaltungszwecks unmöglich machen würde.162 (d) Abschließende Betrachtung zu den Rechtsprechungsbeispielen und Zwischenergebnis Vergleicht man die Urteile, in denen der Gerichtshof Lücken im positiven Recht der Gemeinschaften mittels allgemeiner, durch wertende Rechtsvergleichung gewonnene Rechtsgrundsätze geschlossen hat, so kann man folgendes festhalten. Der Gerichtshof nimmt in seinen Urteilen in der Regel keine umfassende Rechtsvergleichung der diversen nationalen Rechtsordnungen vor. Eine solche findet sich aber zumeist in den Schlussanträgen der Generalanwälte. Der Gerichtshof stellt dann häufig nur noch fest, dass ein allgemeiner Rechtsgrundsatz in den Mitgliedstaaten bestehe oder fasst die Länder zu Regelungsgruppen zusammen, um das bei diesen noch gemeinsame als allgemeinen Rechtsgrundsatz zu deklarieren. Dennoch wird man die Findung allgemeiner Rechtsgrundsätze (auch) durch wertende Rechtsvergleichung als eines der wichtigsten Mittel der Rechtsfortbildung durch den EuGH betrachten müssen, was schon allein aus der Verschiedenheit der hier vorgestellten Beispielsfälle deutlich wird. (4) Ableitung allgemeiner Rechtsgrundsätze aus einer einzelnen Vertragsbestimmung Die Feststellung allgemeiner Rechtsgrundsätze ist aber nicht nur durch wertende Rechtsvergleichung möglich. Wie bereits oben zur Staatshaftung angeklungen und im nationalen Recht gebräuchlich, kann ein allgemeiner Rechtsgrundsatz auch aus einer einzelnen Vertragsbestimmung hergeleitet werden.163 Konkret auf das Gemeinschaftsrecht bezogen bedeutet dies, dass Lücken im Vertrag dadurch geschlossen werden, dass die Geltung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes postuliert wird, der in einer Bestimmung des Vertrages bereits seinen Ausdruck gefunden haben soll. Aus dieser Bestimmung wird dann abgeleitet, dass in ihr lediglich ein Prinzip seine konkrete Ausprägung erfahren habe, das aber ohnehin allgemeine – also über die einzelne Norm hinausgehende – Bedeutung im EG-Vertrag beansprucht. Von der speziellen Norm wird also auf das Bestehen der allgemeinen Regel geschlossen. 161

GA J.-P. Warner, Schlussanträge v. 19.9.1974, RS. 17/74 (Transocean Marine Point/Kommission), Slg. 1974, 1083, 1090 ff. 162 Darstellend zu diesem Aspekt Schwarze, NJW 1986, 1067, 1072. 163 So für das nationale Recht Kramer, S. 187 f.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

Auch dieser Methode zur Begründung des Bestehens eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes im Gemeinschafsrecht, hat sich der EuGH bedient, etwa bei seiner Rechtsprechung zum allgemeinen Gleichheitssatz.164 Als Beispielsfall kann hier die Rechtssache Ruckdeschel/HZA Hamburg St. Annen165 herangezogen werden, in der es um gewisse Erstattungen ging, die zwar für die Herstellung von Stärke, nicht aber von Quellmehl (einem aus Mais hergestellten Produkt) gewährt wurden. Den Ausgangspunkt seiner Überlegung, ob der nachträgliche Wegfall der anfangs für Quellmehl wie für Stärke geleisteten Erstattungen mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz vereinbar sei, nahm der Gerichtshof im spezifischen Diskriminierungsverbot auf dem Gebiet des Agrarmarktes, dem Art. 40 Abs. 3 Uabs. 2 EWGV (heute Art. 34 Abs. 2 Uabs. 2 EGV), welches die Diskriminierung zwischen Erzeugern ausschließen soll.166 Art. 40 Abs. 3 Uabs. 2 EWGV hielt der Gerichtshof jedoch nicht für unmittelbar anwendbar, da dieser nur die Ungleichbehandlung von Erzeugern gleicher Produkte untersage.167 Die vom EuGH insoweit diagnostizierte Lückenhaftigkeit des Vertrages wird ersichtlich, wenn er ausführt, dass der Art. 40 Abs. 3 Uabs. 2 EWGV nicht in der gleichen Deutlichkeit auch auf die Beziehungen zwischen verschiedenen Handels- und Gewerbezweigen im Bereich landwirtschaftlicher Erzeugnisse ziele.168 In dieser vom Gerichtshof festgestellten fehlenden Deutlichkeit der Anwendbarkeit der Vorschrift, ist das Erkennen der Lückenhaftigkeit des Vertragstextes zu sehen, 164 So EuGH, Urt. v. 19.10.1977, verb. RS. 117/76 und 16/77 (Ruckdeschel/HZA Hamburg-St. Annen), Slg. 1977, 1753 (dort LS. 1), 1769 f. (Rn. 7); EuGH, Urt. v. 19.10.1977, verb. RS. 124/76 und 20/77 (Moulins Pont-à-Mousson/Office Interprofessionnel des Céréales), Slg. 1977, 1795 (LS. 1), 1812 (Rn. 14/17); aus jüngerer Zeit EuGH, Urt. v. 13.4.2000, RS. C-176/96 (Karlsson u. a.), Slg. 2000, I-2737, 2775 (Rn. 39). 165 EuGH, Urt. v. 19.10.1977, verb. RS. 117/76 und 16/77 (Ruckdeschel/HZA Hamburg St. Annen), Slg. 1977, 1753 ff.; ebenso EuGH, Urt. v. 19.10.1977, verb. RS. 124/76 und 20/77 (Moulins Pont-à-Mousson/Office Interprofessionel des Céréales, Slg. 1977, 1795 ff. 166 Vgl. EuGH, Urt. v. 19.10.1977, verb. RS. 117/76 und 16/77 (Ruckdeschel/ HZA Hamburg St. Annen), Slg. 1977, 1753, 1769 f. (Rn. 7); ebenso EuGH, Urt. v. 19.10.1977, verb. RS. 124/76 und 20/77 (Moulins Pont-à-Mousson/Office Interprofessionel des Céréales, Slg. 1977, 1795, 1812 (Rn. 14/17). 167 So EuGH, Urt. v. 19.10.1977, verb. RS. 117/76 und 16/77 (Ruckdeschel/HZA Hamburg St. Annen), Slg. 1977, 1753, 1769 f. (Rn. 7); ebenso EuGH, Urt. v. 19.10.1977, verb. RS. 124/76 und 20/77 (Moulins Pont-à-Mousson/Office Interprofessionel des Céréales, Slg. 1977, 1795, 1812 (Rn. 14/17). 168 Vgl. EuGH, Urt. v. 19.10.1977, verb. RS. 117/76 und 16/77 (Ruckdeschel/ HZA Hamburg St. Annen), Slg. 1977, 1753, 1769 f. (Rn. 7); ebenso EuGH, Urt. v. 19.10.1977, verb. RS. 124/76 und 20/77 (Moulins Pont-à-Mousson/Office Interprofessionel des Céréales, Slg. 1977, 1795, 1812 (Rn. 14/17).

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weshalb sich der Gerichtshof auch sogleich an die Schließung der Lücke macht, da er judiziert: „Das in der angeführten Vorschrift angesprochene Diskriminierungsverbot ist jedoch nur der spezifische Ausdruck des allgemeinen Gleichheitssatzes, der zu den allgemeinen Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts gehört.“169

Hier wird die induktive Gewinnung des allgemeinen Gleichheitssatzes aus dem speziellen Gleichbehandlungsgebot des Art. 40 Abs. 3 Uabs. 2 EWGV (Art. 36 Abs. 2 Uabs. 2 EGV) offen ausgesprochen. Der deduktive Schluss, der die Lückenschließung durch die Anwendung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes vervollständigt, folgt, da der Gerichtshof die Vergleichbarkeit von Stärke und Quellmehl prüft und letztlich bejaht. Damit kommt er im Ergebnis zu einem neuen Gleichheitssatz mit der Aussage, dass auch Erzeuger vergleichbarer Produkte (und nicht bloß die identischer Produkte) nicht willkürlich diskriminiert werden dürfen. Indem der Gerichtshof aus Art. 43 Abs. 3 Uabs. 2 EWGV (Art. 36 Abs. 2 Uabs. 2 EGV) den allgemeinen Gleichheitssatz ableitet, arbeitet er also anhand einer einzelnen Vertragsbestimmung einen allgemeinen Rechtsgrundsatz heraus.170 Der Unterschied zur Methode der wertenden Rechtsvergleichung besteht darin, dass bei letzterer die Herleitung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes aus den nationalen Rechtsordnungen oder der EMRK erfolgt, während der EuGH bei der Feststellung des allgemeinen Gleichheitssatzes, der in einer einzelnen Rechtsnorm seine spezifische Ausprägung erfahren hat, seinen Ausgangspunkt im Gemeinschaftsrecht selbst wählt. In dieser Norm existiert der allgemeine Rechtsgrundsatz vom allgemeinen Gleichheitssatz als Teil des Gemeinschaftsrechts bereits, so dass er nur verallgemeinert werden muss. In der logischen Vorgehensweise unterscheiden sich die beiden Gewinnungsweisen jedoch nicht wesentlich.171 In beiden Fällen wird von besonderen (nationalen) Normen, bzw. von einer besonderen (gemeinschaftsrechtlichen) Norm auf eine allgemeine (gemeinschaftsrechtliche) Norm geschlossen, so dass sich die logische Operation jeweils als Induktionsschluss darstellt.172 Um in einem bestimmten Fall anwendbar zu sein, muss der allgemeine Rechtsgrundsatz dann wieder konkretisiert werden, wobei es sich um einen 169 EuGH, Urt. v. 19.10.1977, verb. RS. 117/76 und 16/77 (Ruckdeschel/HZA Hamburg St. Annen), Slg. 1977, 1753, 1769 f. (Rn. 7); ebenso EuGH, Urt. v. 19.10.1977, verb. RS. 124/76 und 20/77 (Moulins Pont-à-Mousson/Office Interprofessionel des Céréales, Slg. 1977, 1795, 1812 (Rn. 14/17). Hervorhebung von mir. 170 Der EuGH verfährt noch heute so, vgl. EuGH, Urt. v. 13.4.2000, RS. C-292/97 (Karlsson u. a.), Slg. 2000, I-2737, I-2775 (Rn. 39). 171 So auch Joerden, Logik im Recht, S. 329; E. Bund, S. 185. 172 Zur logischen Ähnlichkeit, wenn auch ohne Bezug auf das Gemeinschaftsrecht Joerden, Logik im Recht, S. 329; E. Bund, S. 185.

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deduktiven Schluss handelt.173 Es fällt auf, dass die logische Vorgehensweise hier derjenigen bei der Analogie gleicht, die oben bereits als induktiv-deduktiver Schluss beschrieben wurde.174 Insoweit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Analogie und allgemeinen Rechtsgrundsätzen. d) Verhältnis von Analogie und allgemeinen Rechtsgrundsätzen Da die Ausfüllung einer Gesetzeslücke mittels Analogie und durch die Herausbildung und Einzelfallanwendung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes logisch vergleichbare Operationen sind, drängt sich die Frage auf, ob eine Unterscheidung der beiden logisch überhaupt sinnvoll ist. Elmar Bund neigt aus diesem Grund der Ansicht zu, dass eine Unterscheidung überflüssig sei, da sich die Argumentation in jedem Fall einer induktiv gewonnenen, allgemeiner gefassten Norm bediene.175 Allenfalls könne man in der Opposition Analogie/Anwendung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes zwei Aspekte einer Sache sehen.176 Die Analogie soll dabei die Begründungsform sein, welche die Gesetzestreue in den Vordergrund stelle, da sie die Verankerung der gewonnenen Norm im geltenden Recht betone. Demgegenüber werde beim allgemeinen Rechtsgedanken nicht das Gesetz als Analogiebasis betont, sondern der übergeordnete Satz, dem Norm- oder Rechtsquellenqualität zugewiesen werde.177 Demnach ist die Rechtsfortbildung durch allgemeine Rechtsgrundsätze in gewisser Weise ein Unterfall der Analogie. Bund ist zuzugeben, dass logisch eine solche Gleichartigkeit von Analogie und Lückenschließung mittels allgemeiner Rechtsgrundsätze sicherlich besteht. Nichtsdestotrotz erscheint es mir sinnvoll, die Unterscheidung zwischen diesen aufrecht zu erhalten. Meines Erachtens macht gerade das Beispiel der allgemeinen Rechtsgrundsätze im Gemeinschaftsrecht klar, worin die Unterschiede zwischen beiden rechtsmethodischen Figuren bestehen. Sehr schwierig zu unterscheiden sind Analogie und die Anwendung eines aus einer einzelnen Rechtsnorm abgeleiteten allgemeinen Rechtsgrundsatzes. Hier kann wohl wirklich nur der von Bund herausgearbeitete Aspekt der Betonung des Gesetzestexts bzw. eines übergeordneten Satzes als „Analogiebasis“ als Differenzierungskriterium dienen. Hingegen lässt sich die Analogie klar von der Anwendung eines mittels wertender Rechtsvergleichung festgestellten allgemeinem Rechtsgrundsatzes abgrenzen. Hier unter173 174 175 176 177

Vgl. auch Joerden, Logik im Recht, S. 329; E. Bund, S. 185. Siehe Bund, S. 185. Wohl auch Joerden, Logik im Recht, S. 329. So Bund, S. 185. Bund, S. 185. Bund, S. 185.

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scheiden sich nämlich die Ausgangspunkte wesentlich. Während eine Analogie nur innerhalb einer Rechtsordnung denkbar sein dürfte, also etwa lediglich innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung, wird genau diese Grenze bei der Ableitung allgemeiner Rechtsgrundsätze durch den Gerichtshof bei der Ableitung allgemeiner Rechtsgrundsätze im Wege wertender Rechtsvergleichung überwunden. Hier werden die jeweils eigenständigen nationalen Rechtsordnungen miteinander verglichen, um aus ihnen einen Rechtssatz für die ihrerseits eigenständige Gemeinschaftsrechtsordnung178 zu gewinnen. Die Tatsache, dass hierbei dieselben logischen Operationen durchgeführt werden, spricht für die Praktikabilität des induktiv-deduktiven Gedankenschritts zur Lückenausfüllung, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass vom Ausgangspunkt her Unterschiede bestehen, welche die Differenzierung rechtfertigen. Die Gesetzesnähe, als von Bund angeführtes (angeblich einziges) Unterscheidungsmerkmal, kann im Falle der wertenden Rechtsvergleichung im Gemeinschaftsrecht nicht herangezogen werden, da eine Gesetzesnähe eines gemeinschaftsrechtlichen Falles zu einem nationalen Gesetz ohne Belang ist. Eine Analogie zwischen einer nationalen Regelung und einem ungeregelten gemeinschaftsrechtlichen Fall ist somit bereits nicht möglich. Folglich ergibt sich aus dem Ausgangspunkt, zumindest für die wertende Rechtsvergleichung im Gemeinschaftsrecht, ein klares Differenzierungskriterium zwischen Analogie und Herleitung und Anwendung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes als Mittel der Lückenausfüllung. Dieses rechtfertigt, die Differenzierung zwischen beiden aufrecht zu erhalten. 3. Teleologische Reduktion Neben Analogie und der Lückenschließung durch die Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze tritt auch die teleologische Reduktion als Mittel der Rechtsfortbildung im europäischen Gemeinschaftsrecht auf. Von teleologischer Reduktion spricht man, wenn eine Norm entgegen ihrem Wortsinn, aufgrund der immanenten Teleologie eines Rechtsaktes einer Einschränkung bedarf, die aber im Rechtsakt so nicht vorgesehen ist und diese Einschränkung durch richterliche Rechtsfortbildung hinzugefügt wird.179 Vom Erfor178 Von einer eigenständigen Rechtsordnung geht der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften jedenfalls seit EuGH, Urt. v. 5.2.1963, RS. 26/62 (van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung), Slg. 1963, 1, 25 („neue Rechtsordnung des Völkerrechts“) aus und hat diese Rechtsprechung in EuGH, Urt. v. 15.7.1964, RS. 6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1964, 1251, 1269 („eigene Rechtsordnung“) noch einmal bestätigt und präzisiert. Siehe zur Eigenständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung auch Schroeder, in: A. v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 407 ff. 179 So etwa Larenz, Methodenlehre, S. 391; Canaris, Feststellung von Lücken, S. 151; Koller, S. 235; Vogel, S. 135; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 902 f.; Röhl, S. 602.

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dernis der Gesetzeslücke als Voraussetzung für die Rechtsfortbildung wird hierbei nicht abgerückt, da hier eine Ausnahmelücke vorliege. Der Wortlaut der Norm ist entgegen ihres Telos zu weit geraten, es fehlt also gerade an der Ausnahmebestimmung, so dass sich die Rechtsnorm als lückenhaft erweist.180 a) Die „Cassis de Dijon“-Rechtsprechung Als Beispiel für eine vom Gerichtshof vorgenommene teleologische Reduktion kann möglicherweise die in der Rechtssache Rewe/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein181 gefundene „Cassis de Dijon“-Formel zur Einschränkung des Art. 28 EGV gelten. Nach ihr müssen Hemmnisse für den Binnenhandel der Gemeinschaft, die sich aus Unterschieden der nationalen Regelungen über die Vermarktung dieser Erzeugnisse ergeben, hingenommen werden, soweit diese Bestimmungen notwendig seien, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden.182 Durch die Einführung der zwingenden Erfordernisse im Cassis-Urteil wurden gewisse handelshemmende (nationale) Vorschriften anerkannt.183 Der Gerichtshof hat mehrfach betont, dass zwingende Erfordernisse im Sinne seiner Cassis-Rechtsprechung nur zu berücksichtigen seien, wenn es sich um Maßnahmen handele, die unterschiedslos auf einheimische wie auch auf eingeführte Erzeugnisse anwendbar seien.184 Vereinzelt finden sich jedoch neuerdings auch Urteile, in denen der EuGH die Cassis-Formel auch bei der Beurteilung nicht-unterschiedslos anwend180 In diesem Sinne verstehen etwa auch Koller, S. 235 und Vogel, S. 135, die Lückenhaftigkeit der Regelung und deren Ausfüllung. Siehe grundlegend hierzu auch Larenz, Methodenlehre, S. 392. 181 EuGH, Urt. v. 20.2.1979, RS. 120/78 (Rewe/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein), Slg. 1979, 649 (LS. 2), die berühmte Formel lautet: „In Ermangelung einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung sind Hemmnisse für den Binnenhandel der Gemeinschaft, die sich aus den Unterschieden der nationalen Regelungen über die Vermarktung eines Erzeugnisses ergeben, hinzunehmen, soweit diese Bestimmungen notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden [. . .].“ 182 EuGH, Urt. v. 20.2.1979, RS. 120/78 (Rewe/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein), Slg. 1979, 649 (LS. 2), 662 (Rn. 8); siehe auch EuGH, Urt. v. 12.3.1987, Rs., (Kommission/Deutschland), Slg. 1987, 1227, 1270 (Rn. 29 f.); siehe auch, mit zahlreichen Hinweisen zur Rechtsprechung Leible, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Art. 28 Rn. 19; Anm. zum Urteil Cassis de Dijon von G. Odendahl, JA 1996, 18, 21; A. Mattera, RMC 1980, 805 ff.; P. Verloren van Themaat, CDE 1982, 123 ff.; umfassend M. Ahlfeld, zwingende Erfordernisse im Sinne der CassisRechtsprechung des EuGH zu Art. 30 EGV, passim, insbes. S. 80 ff. 183 Siehe dazu Odendahl, JA 1996, 18, 21; Mattera, RMC 1980, 805,; Verloren van Themaat, CDE 1982, 123. 184 Vgl. EuGH, Urt. v. 10.1.1985, RS. 229(83 (Leclerc/Au blé vert). Slg. 1985, 1, 35 (Rn. 26, 28); EuGH, Urt. v. 27.7.1991, verb. RS. C-1/90 und C-176/90 (Aragonesa de Publicidad exterior und Publivía), Slg. 1991, I-4151, I-4184 (Rn. 13).

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barer, also diskriminierender, Regelungen heranzieht.185 Mit der Einführung der ungeschriebenen zwingenden Erfordernisse in den Tatbestand des Art. 28 sollte seiner Ausuferung begegnet werden, welche insbesondere durch die Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Maßnahmen gleicher Wirkung“ in Art. 28 EGV durch die Dassonville-Formel hervorgerufen worden war.186 Danach sind Maßnahmen gleicher Wirkung jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern.187 Allerdings ist umstritten, wie die Anerkennung der aus zwingenden Erfordernissen zulässigen innergemeinschaftlich handelshemmenden Vorschriften dogmatisch einzuordnen ist. aa) Rechtfertigungsgründe Einige Stimmen in der Lehre188 und in seiner jüngeren Rechtsprechung auch der Gerichtshof selbst189 sprechen davon, dass es sich bei den zwingenden Erfordernissen um Rechtfertigungsgründe handele, welche Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie Einfuhrbeschränkungen legitimierten. Die Annahme des Rechtfertigungsmodells rückt die zwingenden Erfordernisse in die Nähe der Ausnahmebestimmung des Art. 30 EGV, nichtsdestoweniger bleiben sie in Art. 28 EGV verankert.190 Sie stehen dann gewissermaßen neben den Rechtfertigungsgründen des Art. 30 EGV, ohne deswegen dieselben Vo185 So in EuGH, Urt. v. 14.7.1998, RS. 389/96 (Aher-Waggon), Slg. 1998, I-4473, I-4489 (Rn. 19 f.). 186 Zu dieser EuGH, Urt. v. 11.7.1974, RS. 8/74 (Dassonville), Slg. 1974, 837, 852 (Rn. 5); siehe auch Wainwright/Melger, RMUE 1994, 533 ff. 187 EuGH, Urt. v. 11.7.1974, RS. 8/74 (Dassonville), Slg. 1974, 837, 852 (Rn. 5). 188 Ausdrücklich etwa W. Schroeder, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 28 EGV, Rn. 72; siehe auch Mattera, RMC 1980, 505, 507 ff., der ausführt: „Une réglementation nationale est incompatible avec les articles 30 à 36 CCE lorsque [. . .] elle n’est pas justifiée par l’article 36 ou par une exigence impérative au sens où la Cour l’entend.“ In diese Richtung tendiert auch Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 30 EGV, S. 83; Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze EUV/EGV, Art. 28 EGV Rn. 184, Art. 30 EGV Rn. 28 ff. plädiert für eine ausweitende Auslegung des Schutzgutes öffentliche Sicherheit und Ordnung in Art. 30 EGV. 189 EuGH, Urt. v. 26.6.1997, RS. C-368/95 (Familiapress), I-3689, I-3715 (Rn. 18): „Die Aufrechterhaltung der Medienvielfalt kann ein zwingendes Erfordernis darstellen, das eine Beschränkung des freien Warenverkehrs rechtfertigt.“ siehe dazu auch die Schlussanträge des GA G. Tesauro v. 13.3.1997, RS. C-368/95 (Familiapress), Slg. 1997, I-3692, I-3698 (Nr. 12). 190 Darauf weist GA Tesauro v. 13.3.1997, RS. C-368/95 (Familiapress), Slg. 1997, I-3692, I-3698 (Nr. 12) hin; siehe auch Leible, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 28 EGV Rn. 20.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

raussetzungen wie jene haben zu müssen.191 Für diese Auffassung spricht, dass vom EuGH anerkanntermaßen zwingende Erfordernisse wie der Verbraucherschutz und die Lauterkeit des Handelsverkehrs den Schutzgütern des Art. 30 EGV stark ähneln.192 Auch fällt auf, dass der Gerichtshof den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, mit dem er Warenverkehrsfreiheit und Rechtfertigungsgrund miteinander abwägt, nicht nur bei der Prüfung des Art. 30 EGV anwendet, sondern auch bei der Prüfung der zwingenden Erfordernisse.193 bb) Immanente Schranken Nach anderer Ansicht begrenzen die zwingenden Erfordernisse bereits den Tatbestand des Art. 28 EGV.194 Bestehen zwingende Erfordernisse, so ist nicht einmal der Tatbestand des Art. 28 EGV erfüllt.195 Teilweise wird hier von einer immanenten Schranke des Art. 28 EGV gesprochen.196 Für diese Betrachtungsweise spricht, dass Art. 30 EGV die Ausnahmen zu Art. 28 EGV enthält, der EuGH Art. 30 EGV jedoch eng auslegt und an dieser engen Auslegung auch nach der Cassis-Rechtsprechung festhält.197 Hätte 191 Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 30 EGV, S. 81. 192 Deshalb schlägt Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 28 Rn. 184; Art. 30 Rn. 28 ff. für die Einführung der zwingenden Erfordernisse auch eine Analogie zum Schutzgut der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in Art. 30 EGV vor. 193 Ständige Rspr. etwa EuGH, Urt. v. 20.2.1979, RS. 120/78 (Rewe/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein), Slg. 1979, 649, 663 (Rn. 12); EuGH, Urt. v. 6.7.1995, RS. C-470/93 (Mars), Slg. 1995, I-1923, I-1940 f. (Rn. 15); EuGH, Urt. v. 26.6.1997, RS. C-368/95 (Familiapress), Slg. 1997, I-3689, 3715 f. (Rn. 19). 194 So versteht die wohl h. M. die Rechtsprechung des EuGH und die Einführung der zwingenden Erfordernisse vgl. nur Leible, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 28 EGV Rn. 20; ebenso Odendahl, JA 1996, 18, 21; MüllerGraff, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 28 EGV Rn. 184, Art. 30 EGV Rn. 28 ff.; s. zudem auch Schilling, EuR 1994, 50, 52, der ausführt, die Rechtsprechung des EuGH folge erklärtermaßen der Linie der Tatbestandseingrenzung; wohl ebenfalls S. Moore, EurLawRev 1994, 195, 197; Verloren van Themaat, CDE, 1982, 123, 127. 195 So etwa Leible, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 28 Rn. 20. 196 Mit Nachdruck Leible, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 28 Rn. 20, der betont, dogmatisch handele es sich bei den zwingenden Erfordernissen um immanente Schranken; diese Bezeichnung wählt auch Odendahl, JA 1994, 18, 21. 197 Etwa EuGH, Urt. v. 17.6.1981, RS. 113/80 (Kommission/Irland, Slg. 1981, 1625, 1638 (Rn. 8); EuGH, Urt. v. 9.6.19827, RS. 95/81 (Kommission/Italien), Slg. 1982, 2187, 2202; dem zustimmend etwa A. Epiney, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 30 EGV Rn. 2.

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der Gerichtshof die zwingenden Erfordernisse als Rechtfertigungsgründe aufgefasst, so wäre eine Analogie zu Art. 30 EGV wesentlich naheliegender gewesen, als die Verortung der zwingenden Erfordernisse unmittelbar in Art. 28 EGV. Wenig überzeugend scheint mir hingegen das Argument zu sein, wonach für die Einordnung als immanente Tatbestandsbeschränkung spreche, dass der Gerichtshof die Grenzen erlaubter Rechtsfortbildung überschritte, wenn er offen weitere Rechtfertigungsgründe neben die des Art. 30 EGV stellte.198 Unabhängig davon, ob man wirklich von einer unerlaubten Rechtsfortbildung sprechen könnte, erscheint es mir unlogisch, die Qualifikation als solche von der Methode der Rechtsfortbildung, welche der EuGH verwendet, abhängig zu machen. Für die Einteilung als unerlaubte Rechtsfortbildung kann es keine Rolle spielen, ob sich der Gerichtshof einer Analogie bedient oder den Weg der teleologischen Reduktion beschreitet. Nichtsdestotrotz halte ich die Einstufung der Cassis-Rechtsprechung als immanente Schranke für richtig, wofür vor allem das Festhalten des EuGH an der engen Auslegung des Art. 30 EGV und damit verbunden die Absage an eine analoge Anwendung desselben den Ausschlag gibt. Ein weiteres Argument hierfür findet sich auch, wenn man die Systematik des EG-Vertrages betrachtet. Der mit der Einheitlichen Europäischen Akte eingefügte Art. 95 Abs. 4 EGV deutet mit der Formulierung „wichtige Erfordernisse im Sinne des Art. 30“ an, dass nur solche Schutzgüter, die ausdrücklich in Art. 30 EGV genannt werden, gemeint sind, nicht aber die zwingenden Erfordernisse nach der Cassis-Rechtsprechung erfasst.199 Insoweit zählen diese – von den Vertragsparteien wohl anerkannt – als Tatbestandsbeschränkung des Art. 28 EGV. cc) Eigene Stellungnahme Unabhängig davon, ob man die einschränkende Regelung, die der EuGH dem Art. 28 EGV durch das Hinzudenken der Ausnahmebestimmung der zwingenden Erfordernisse angefügt hat, als Rechtfertigungsgrund oder als immanente Schranke bezeichnen möchte, stellt sich dieser Vorgang methodisch als teleologische Reduktion dar. Der Wortsinn des Art. 28 EGV lässt eine solche einschränkende Auslegung nämlich nicht zu, sondern verbietet sämtliche mengenmäßigen Einfuhrbeschränkungen sowie „alle Maßnahmen mit gleicher Wirkung“. Trotz des Wörtchens „alle“, legt der Gerichtshof 198 So aber Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 30 EGV, S. 81 f. 199 So auch Leible, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 95 EGV Rn. 69 ff.; das Argument erscheint verkürzt auch bei Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 30 EGV Rn. 30.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

den Art. 28 EGV nun aber so aus, dass Maßnahmen gleicher Wirkung zulässig sind, wenn sie notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, insbesondere den Erfordernissen einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes.200 Der mögliche Wortsinn wird hier durch die Hinzufügung dieser Einschränkung überschritten, jedoch wird diese gerade durch die Notwendigkeit des Schutzes der vom Gerichtshof genannten Rechtsgüter, wie etwa der Lauterkeit des Handelsverkehrs gefordert. Diese Rechtsgüter sind auch Schutzgüter des Vertrages, weshalb – legt man die Rechtsprechung des Gerichtshofs zugrunde – das Telos des Vertrages die Einschränkung des Art. 28 EGV fordert. Insoweit ist die in der Cassis-Rechtsprechung vorgenommene Einschränkung des Art. 28 EGV als teleologische Reduktion zu bezeichnen.201 Hans-Wolfgang Arndt meint nun eine Kluft zwischen der methodischen Figur der teleologischen Reduktion und den immanenten Schranken erkennen zu können.202 Die Bezeichnung als immanente Schranken lehnt er ab, da diese zu sehr der Grundrechtsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts angelehnt sei und insoweit nicht passe.203 Versteht man die immanenten Schranken in der Tat in dieser Weise, so mag die teleologische Reduktion deshalb ausscheiden, weil die immanenten Schranken ungeschriebener Vertragsbestandteil sind. Dennoch bedarf es meiner Ansicht nach einer methodischen Herleitung auch der immanenten Schranken. Die teleologische Reduktion setzt nun aber eine Beschränkung des Tatbestandes voraus, diese kann man dann auch als immanente Schranken einstufen. Also stehen immanente Schranke und teleologische Reduktion nicht notwendig im Widerspruch zueinander. Eine strikte methodische Trennung – wie Arndt sie mit der Bezeichnung verbindet204 – vermag ich nicht festzustellen. Die immanente Schranke kann sogar als typischer, ja notwendiger Teil der methodischen Figur der teleologischen Reduktion betrachtet werden. Da mit den zwingenden Erfordernissen, ob man sie nun als Rechtfertigungsgrund oder als immanente Schranken des Art. 28 EGV betrachtet, diesem praktisch eine Ausnahmebestimmung dahingehend angefügt wurde, dass nationale Vorschriften als handelshemmende Maßnahmen gleicher Wirkung wie men200

Vgl. EuGH, Urt. v. 20.2.1979, RS. 120/78 (Rewe/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein), Slg. 1979, 649, 662 (Rn. 8). 201 Als teleologische Argumentation stuft die Cassis-Rechtsprechung auch nachdrücklich H.-W. Arndt, JuS 1994, 469, 470 ein; siehe ebenfalls Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 30 EGV, S. 81; Zum Art. 30 EG Vertrag nach Keck auch H. Matthies, FS Everling I, S. 803 ff. 202 Arndt, JuS 1994, 469, 470. 203 So Arndt, JuS 1994, 469, 470. 204 Vgl. Arndt, JuS 1994, 469, 470.

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genmäßige Einfuhrbeschränkungen dann zulässig sind, wenn zwingende Erfordernisse hierfür bestehen. Also ist die richterrechtliche Schaffung der zwingenden Erfordernisse methodisch als teleologische Reduktion anzusehen, unabhängig davon, ob man sie dogmatisch als immanente Schranken oder als hinzugedachte Ausnahme eines Rechtfertigungsgrundes ansieht.205 b) Die Keck-Rechtsprechung? Als ein weiteres Beispiel für eine teleologische Reduktion könnte gegebenenfalls die Beschränkung der Dassonville-Formel durch das Urteil des EuGH in der Rechtssache Keck und Mithouard206 angeführt werden. Vereinzelt wurde sogar ein „Abschied von Dassonville und Cassis de Dijon“ gemutmaßt.207 Mit der sog. Keck-Formel nimmt der Gerichtshof bestimmte Verkaufsmodalitäten aus dem Anwendungsbereich des Art. 28 EGV heraus.208 Verkaufsmodalitäten sollen dabei insbesondere solche Regelungen sein, die den räumlichen und zeitlichen Rahmen des Warenhandels beschränken.209 Fraglich ist jedoch, ob der EuGH dieses Ergebnis im Wege der Vertragsauslegung oder mittels einer teleologischen Reduktion – also durch Rechtsfortbildung – erreicht hat. Ausgangspunkt für die Bewertung der Keck-Rechtsprechung, die mittlerweile als gefestigt gelten darf,210 muss dabei die Vorgehensweise der teleologischen Reduktion, den Anwendungsbereich über den möglichen Wortlaut des Art. 28 hinaus zu beschränken, indem ein richterrechtlich zusätzliches Tatbestandsmerkmal eingefügt wird, 205 Im Ergebnis wohl ähnlich – wenn auch ohne methodische Erörterung und genaue Bezeichnung – Matthies, FS Everling I, S. 803, 816. 206 EuGH, Urt. v. 24.11.1993, verb. RS. C-267/91 und 268/91 (Keck und Mithouard), Slg. 1993, I-6097, I-6131 (Rn. 14, 16). 207 So der mit Fragezeichen versehnene Titel des Leitartikels von G. Ress, EuZW 1993, 745. 208 EuGH, Urt. v. 24.11.1993, verb. RS. C-267/91 und 268/91 (Keck und Mithouard), Slg. 1993, I-6097, I-6131 (Rn. 14, 16); Pechstein, Entscheidungen des EuGH, Vorb. zu Fall 147, S. 353. 209 EuGH, Urt. v. 24.11.1993, verb. RS. C-267/91 und 268/91 (Keck und Mithouard), Slg. 1993, I-6097, I-6131 (Rn. 14, 16). Zu RS. Keck siehe die umfassende Anmerkung von D. Chalmers, EurLawRev 1994,385 ff. 210 Siehe dazu nur die nach „Keck“ gefällten Entscheidungen EuGH, Urt. v. 15.12.1993, RS. C-292/92 (Hünermund u. a.), Slg. 1993, I-6787, I-6823 (Rn. 21 ff.); EuGH, Urt. v. 6.7.1995, RS. C-470/93 (Mars), Slg. 1995, I-1923, I-1940 (Rn. 12); EuGH, Urt. v. 13.1.2000, RS. C-254/98 (TK-Heimdienst), Slg. 2000, I-151, I-169 (Rn. 23); EuGH, Urt. v. 8.3.2001, RS. C-405/98 (Gourmet International Products), Slg. 2001, I-1795, I-1823 (Rn. 18); jüngst auch EuGH, Urt. v. 11.12.2003, RS. C-322/01 (Deutscher Apothekenverband – „Doc Morris“) EuZW 2004, S. 21 (Rn. 68). Siehe zu einigen dieser Entscheidungen C. Koenig/C. Sander, EuZW 1996, 8 ff.

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sein. Sicher ist, dass durch den Ausschluss der bloßen Verkaufsmodalitäten aus dem Anwendungsbereich des Art. 28 EGV, eine Beschränkung stattgefunden hat. Diese Beschränkung ist jedoch nicht durch eine Veränderung des Wortlauts des Art. 28 EGV durch den EuGH erfolgt, sondern basiert auf einer Einschränkung, ja Berichtigung, der zu weit geratenen Dassonville-Formel. Verengt wird also nicht der Wortsinn des Art. 28 EGV, sondern lediglich dessen Auslegung durch den Gerichtshof. Der Wortsinn des Art. 28 EGV lässt sich nämlich durchaus so verstehen, wie es der Gerichtshof in der Rechtssache Keck und Mithouard getan hat. Unzulässig sind nämlich nur Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen. Damit muss man Art. 28 EGV so verstehen, dass durch ihn nur solche Maßnahmen verboten werden sollen, die sich auf den innergemeinschaftlichen Handel so auswirken wie Kontingentierungen von Waren.211 Die in der Dassonville-Entscheidung gefundene Definition für Maßnahmen gleicher Wirkung als alle Maßnahmen, denen unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell behindernde Wirkung für den innergemeinschaftlichen Handel zukommt, ist daher zu weit gefasst und vom Telos der Norm nicht gefordert. Ihre Beschränkung durch das Keck-Urteil geht aber nicht über den möglichen Wortsinn hinaus, sondern nähert die Interpretation vielmehr wieder dem Wortsinn und dem Normzweck an. Somit ist diese Reduktion lediglich als Korrektur der Auslegung des Art. 28 EGV zu qualifizieren. Diese kann man nicht als Rechtsfortbildung im Wege der teleologischen Reduktion einstufen, sondern sie muss als Auslegung verstanden werden. Somit scheidet das Urteil in der Rechtssache Keck und Mithouard – insofern anders als in Cassis de Dijon – als Beispiel für richterliche Rechtsfortbildung mittels teleologischer Reduktion aus. Lediglich wenn man das Richterrecht als Rechtsquelle auffasste, könnte man hier von einer teleologischen Reduktion sprechen. Eine solche Qualifikation des Richterrechts ist jedoch abzulehnen. Das durch richterliche Rechtsfortbildung geschaffene Richterrecht ist keine Rechtsquelle.212 Für eine bloße Änderung der Aus211 Ebenso Moore, EurLawRev 1994, 195, 201; siehe auch Schilling, EuR 1994, 50 f., der hervorhebt, dass es schlicht um eine Beschränkung der Einfuhr gehe, da die Qualifikation mengenmäßig den Gegenstand der Regelung, nicht aber deren Wirkung betreffe. Siehe zur Entwicklung der Rechtssprechung zu Art. 30 EGV auch allgemein U. Becker, EuR 1994, 162 ff. 212 Die Frage nach der Rechtsquellenqualität des Richterrechts ist äußerst umstritten. Sie wird an anderer Stelle dieser Arbeit (siehe § 2 E. I. 1.) noch ausführlicher behandelt. Nach richtiger, herrschender Ansicht handelt es sich bei diesem nicht um eine eigenständige Rechtsquelle. Siehe dazu darstellend Larenz, Methodenlehre, S. 356, 429 ff., 479 ff.; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 235 ff. jeweils mit weiteren Nachweisen.

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legung ist letztlich auch anzuführen, dass der EuGH davon spricht, seine Rechtsprechung auf diesem Gebiet zu überprüfen und klarzustellen. c) Zwischenergebnis Insgesamt lässt sich feststellen, dass der Gerichtshof sich in der CassisEntscheidung der Rechtsfigur der teleologischen Reduktion zur Fortbildung des Gemeinschaftsrechts bedient hat, da er hier den Tatbestand des Art. 28 EGV reduziert hat. Dahingegen ist die Keck-Rechtsprechung nicht als teleologische Reduktion aufzufassen, sondern als Auslegung. 4. Integration und effet utile als Mittel der Rechtsfortbildung? Sehr häufig findet man in Urteilen des EuGH, welche als rechtsfortbildend eingestuft werden können, als Begründung einen Hinweis auf den effet utile sowie auf das aus dem Vertrag abgeleitete Integrationsgebot, ohne dass ein „klassisches“ Mittel der Rechtsfortbildung, wie es aus den nationalen Methodenlehren geläufig ist, erkennbar wäre. Da die Methodenlehre immer auch auf die jeweilige Rechtsordnung bezogen ist, stellt sich die Frage, ob effet utile und Integrationsgebot sich als eigenständige, zweckgeleitete Rechtsfortbildungsmethoden darstellen. Dabei sollen zunächst die Fälle untersucht werden, in denen der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften mit dem effet utile bzw. dem Integrationserfordernis argumentiert [a)], sodann soll versucht werden, aus diesen Fällen eine allgemeine Struktur dieser Argumentationstopoi herauszukristallisieren [b)], bevor schließlich eine Bewertung dieses Vorgehens dahingehend vorgenommen wird, ob es sich bei diesem tatsächlich um eine eigenständige Figur zur Rechtsfortbildung handelt [c)]. a) Beispielsfälle für effet utile und Integration Zunächst sollen beispielhaft einige Urteile des EuGH vorgestellt werden, in denen sich der Gerichtshof zur Rechtsfortbildung auf effet utile und das Integrationsgebot stützt. aa) Effet utile und Integration Der effet utile – die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts – dürfte mit das wichtigste Argument in etlichen Entscheidungen des Gerichtshofs sein. An dieser Stelle soll die darauf basierende Argumentation

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nur insoweit untersucht werden, als sie in Entscheidungen auftaucht, die als rechtsfortbildend zu qualifizieren sind. Bedient sich der EuGH des effet utile in Entscheidungen, welche als bloß auslegend einzustufen sind, so bedeutet diese Argumentation im Ergebnis nichts anderes als eine teleologische Interpretation.213 (1) Unmittelbare Wirkung von Richtlinien Eine Fallgruppe, bei der der Gerichtshof fast ausschließlich mit dem effet utile argumentiert, um seine Rechtsfortbildung zu legitimieren, ist die unmittelbare Wirkung von Richtlinien. In der Rechtssache van Duyn/Home Office erkennt der Gerichtshof erstmals die unmittelbare Wirkung von Richtlinien an.214 Danach kann sich der Einzelne auch direkt auf die in der Richtlinie vorgesehenen Rechte berufen.215 Wörtlich heißt es in der maßgeblichen, rechtsfortbildenden Passage: „Zwar gelten nach Art. 189 [Art. 249 EGV n. F.] Verordnungen unmittelbar und können infolgedessen schon wegen ihrer Rechtsnatur unmittelbare Wirkungen erzeugen. Hieraus folgt indessen nicht, daß andere in diesem Artikel genannten Kategorien von Rechtsakten niemals ähnliche Wirkungen erzeugen könnten. Mit der den Richtlinien durch Art. 189 zuerkannten verbindlichen Wirkung wäre es unvereinbar, grundsätzlich auszuschließen, daß betroffene Personen sich auf die durch die Richtlinie auferlegte Verpflichtung berufen können. Insbesondere in den Fällen, in denen etwa die Gemeinschaftsbehörden die Mitgliedstaaten durch Richtlinie zu einem bestimmten Verhalten verpflichten, würde die nützliche Wirkung („effet utile“) einer solchen Maßnahme abgeschwächt, wenn die einzelnen sich vor Gericht hierauf nicht berufen und die staatlichen Gerichte sie nicht als Bestandteil des Gemeinschaftsrechts berücksichtigen können.“216

In dieser Passage der Urteilsgründe meint der Gerichtshof eine Lücke im Gemeinschaftsrecht feststellen zu können, da er den Art. 249 EGV für nicht abschließend für die dort geregelten Rechtsakte erachtet, sondern davon ausgeht, dass auch andere Rechtsakte als die Verordnung unmittelbare Wirkung erzeugen können. Dennoch, so der Gerichtshof, könnten sich die Einzelnen in Ermangelung fristgemäß erlassener Durchführungsmaßnahmen 213

So mit Recht auch Streinz, Europarecht, 6. Aufl. 2003, Rn. 498. EuGH, Urt. v. 4.12.1974, RS. 41/74 (van Duyn/Home Office), Slg. 1974, 1337 ff. 215 Vgl. EuGH, Urt. v. 4.12.1974, RS. 41/74 (van Duyn/Home Office), Slg. 1974, 1337, 1348 (Rn. 12). 216 Siehe EuGH, Urt. v. 4.12.1974, RS. 41/74 (van Duyn/Home Office), Slg. 1974, 1337, 1348 (Rn. 12); wortgleich auch spätere Urteile, vgl. etwa EuGH, Urt. v. 5.4.1979, RS. 148/78 (Ratti), Slg. 1979, 1629, 1641 (Rn. 18/23); EuGH, Urt. v. 19.1.1982 RS. 8/81 (Becker/Finanzamt Münster-Innenstadt), Slg. 1982, 53, 70 (Rn. 21 ff.). 214

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auf Bestimmungen einer Richtlinie, welche inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erschienen, gegenüber allen innerstaatlichen, nicht richtlinienkonformen Vorschriften berufen.217 Einzelne könnten sich auf diese Vorschriften auch dann berufen, soweit diese Rechte festlegten, die gegenüber dem Staat geltendgemacht werden könnten.218 Aber nicht nur die Herausbildung der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien hat der Gerichtshof mit dem effet utile begründet. Auch bei Entscheidungen und Empfehlungen hat sich der Gerichtshof maßgeblich auf diese Argumentation gestützt. (2) Entscheidungen und Empfehlungen Hinsichtlich der unmittelbaren Wirkung von Entscheidungen führt der Gerichtshof in der Entscheidung Grad/Finanzamt Traunstein219 mit nahezu denselben Worten wie (später) zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien aus: „Zwar gelten nach Art. 189 Verordnungen unmittelbar und können infolgedessen schon wegen ihrer Rechtsnatur unmittelbare Wirkung erzeugen. Hieraus folgt indessen nicht, daß andere in diesem Artikel genannte Kategorien von Rechtsakten niemals ähnliche Wirkungen erzeugen können. Namentlich die Bestimmung, daß Entscheidungen in allen ihren Teilen für den Adressaten verbindlich sind, erlaubt die Frage, ob sich auf die durch die Entscheidung begründete Verpflichtung nur die Gemeinschaftsorgane gegenüber den Adressaten berufen können oder ob ein solches Recht gegebenenfalls allen zusteht, die ein Interesse an der Erfüllung dieser Verpflichtung haben. Mit der den Entscheidungen durch Art. 189 zukannten verbindlichen Wirkung wäre es unvereinbar, grundsätzlich auszuschließen, daß betroffene Personen sich auf die durch die Entscheidung auferlegte Verpflichtung berufen können. Insbesondere in den Fällen, in denen etwa die Gemeinschaftsbehörden einen Mitgliedstaat durch Entscheidung zu einem bestimmten Verhalten verpflichten, würde die nützliche Wirkung („effet utile“) einer solchen Maßnahme abgeschwächt, wenn die Angehörigen dieses Staates sich vor Gericht hierauf nicht berufen und die staatlichen Gerichte sie nicht als Bestandteil des Gemeinschaftsrechts berücksichtigen könnten.“220

Auch in dieser Entscheidung stellt der Gerichtshof also bereits deutlich auf den effet utile ab, ja die praktische Wirksamkeit (die Übersetzung in 217 Vgl. EuGH, Urt. v. 19.1.1982 RS. 8/81 (Becker/Finanzamt Münster-Innenstadt), Slg. 1982, 53, 70 (Rn. 25). 218 Siehe EuGH, Urt. v. 19.1.1982 RS. 8/81 (Becker/Finanzamt Münster-Innenstadt), Slg. 1982, 53, 70 (Rn. 25). 219 EuGH, Urt. v. 6.10.1970, RS. 9/70 (Finanzamt Traunstein/Franz Grad – „Leberpfennig“), Slg. 1970, 825 ff. 220 So EuGH, Urt. v. 6.10.1970, RS. 9/70 (Finanzamt Traunstein/Franz Grad – „Leberpfennig“), Slg. 1970, 825, 838 (Rn. 5).

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diesem Urteil lautet noch nützliche Wirkung) ist sogar das ausschlaggebende Argument. Aber auch bei Empfehlungen ist der EuGH in der Rechtssache Grimaldi/ Fonds des maladies professionnelles221 – obwohl Art. 249 Abs. 4 EGV ausdrücklich davon spricht, Empfehlungen und Stellungnahmen seien unverbindlich – davon ausgegangen, dass diesem rechtliche Bedeutung vor den mitgliedstaatlichen Gerichten zukomme. Das rechtsfortbildende Element ist nun darin zu sehen, dass Empfehlungen entgegen dem Wortlaut des Art. 249 Abs. 4 EGV („[. . .] sind nicht verbindlich.“) dennoch als für die Gerichte verbindlich, wenn auch „nur“ für die gerichtliche Auslegung, erachtet worden sind. Wörtlich heißt es dazu: „Um jedoch die Frage des vorlegenden Gerichts vollständig zu beantworten, ist darauf hinzuweisen, daß die fraglichen Maßnahmen nicht als rechtlich völlig wirkungslos angesehen werden können. Die innerstaatlichen Gerichte sind nämlich verpflichtet, bei der Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten die Empfehlungen zu berücksichtigen, insbesondere dann, wenn diese Aufschluss über die Auslegung zu ihrer Durchführung innerstaatlicher Rechtsvorschriften geben oder wenn sie verbindliche gemeinschaftsrechtliche Vorschriften ergänzen sollen.“222

Auch wenn der EuGH hier nicht ausdrücklich vom effet utile spricht, so ist doch an der gewählten Formulierung, dass die Maßnahmen „nicht als rechtlich völlig wirkungslos“ angesehen werden könnten, abzulesen, dass der Gedanke der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts hinter dieser Entscheidung steht. Somit kann man auch die Rechtssache Grimaldi/ Fonds des maladies professionnelles zum Kreis der mittels des effet utile begründeten, rechtsfortbildenden Entscheidungen zählen.223 (3) Gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung der Mitgliedstaaten Auch im Bereich der Staatshaftung rekurriert der EuGH auf die praktische Wirksamkeit, um das von ihm gefundene Ergebnis einer mitgliedstaatlichen Haftung für die Verletzung von Gemeinschafsrecht zu begründen. So heißt es im Francovich-Urteil: „Die volle Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen wäre beeinträchtigt und der Schutz der durch sie begründeten Rechte gemindert, wenn der 221 Vgl. EuGH, Urt. v. 13.12.1989, RS. C-322/88 (Grimaldi/Fonds des maladies professionnelles), Slg. 1989, I-4407 ff. 222 EuGH, Urt. v. 13.12.1989, RS. C-322/88 (Grimaldi/Fonds des maladies professionnelles), Slg. 1989, I-4407, I-4421 (Rn. 18). 223 Dieses ist der urteilsbegründenden Passage in EuGH, Urt. v. 13.12.1989, RS. C-322/88 (Grimaldi/Fonds des maladies professionnelles), Slg. 1989, I-4407, I-4421 (Rn. 18) wohl zu entnehmen.

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einzelne nicht die Möglichkeit hätte, für den Fall eine Entschädigung zu verlangen, daß seine Rechte durch einen Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht verletzt sind, der einem Mitgliedstaat zuzurechnen ist.“224

Das Abstellen auf die volle Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen verleiht dem Gedanken des effet utile Ausdruck. Dieser Gedanke lässt sich auch im Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Brasserie du Pêcheur und Factortame nachweisen, wo ausgeführt wird, dass die den Einzelnen eingeräumte Möglichkeit, sich vor den nationalen Gerichten auf unmittelbar anwendbare Vertragsbestimmungen zu berufen, nur eine Mindestgarantie darstelle und für sich allein nicht ausreiche, um die uneingeschränkte Anwendung des Vertrages zu gewährleisten.225 Anders jedoch als bei Herleitung der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien, Entscheidungen und der verbindlichen Wirkung von Empfehlungen, ist die Rechtsfortbildung des Gerichtshofs zur gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung der Mitgliedstaaten methodisch nicht allein auf das Argument mit der praktischen Wirksamkeit gestützt, sondern, wie bereits gezeigt, maßgeblich auf die Herleitung aus einem allgemeinen Rechtsgrundsatz der Haftung für staatliches Unrecht gegründet. Insoweit kann die Rechtsprechung hierzu nicht als Beispiel für eine Rechtsfortbildung anhand des effet utile herangezogen werden. (4) Effet utile und EG-Außenkompetenzen Eine bedeutende Rolle hat die Argumentationsfigur des effet utile im Rahmen der Judikatur des Gerichtshofs zu den Außenkompetenzen der Europäischen (Wirtschafts-)Gemeinschaft erlangt.226 Die Rechtsprechung des EuGH ist hier insoweit allerdings etwas undurchsichtig, als dass er die Frage des „Ob“ der Außenkompetenz der Gemeinschaft und die der Qualifizierung derselben als ausschließliche oder konkurrierende Rechtsetzungskompetenz nicht klar trennt.227 Da der EG-Vertrag die Frage, inwieweit die Gemeinschaft völkerrechtliche Abkommen schließen darf, nur bruchstückhaft regelt, ist ihre Beant224 Vgl. EuGH, Urt. v. 19.11.1991, verb. RS. C-6/90 und C-9/90 (Francovich u. a.), Slg. 1991, I-5357, I-5414 (Rn. 33). 225 EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-1029, I-1142 (Rn. 20). 226 Grundlegende Bedeutung haben hier EuGH, Urt. v. 31.3.1971, RS. 22/70 (Kommission/Rat – „AETR“), Slg. 1971, 263, 274 (Rn. 9/11); EuGH, Gutachten v. 15.11.1994, Gutachten 1/94 (WTO/GATS/TRIPS), Slg. 1994, I-5267, I-5411 (Rn. 77) erlangt. 227 Diesbezüglich äußern O. Dörr, EuZW 1996, 39, 41 und R. Geiger, JZ 1995, 973, 975 Kritik an der Judikatur des Gerichtshofs zu den EG-Außenkompetenzen.

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wortung eine Aufgabe der rechtsfortbildenden Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften geworden.228 Bei dieser greift der EuGH auf die Argumentationsfigur des effet utile zurück. Ihren Ausgangspunkt nahm die Judikatur zu den Außenkompetenzen der Gemeinschaft im AETR-Urteil.229 Darin stellt der Gerichtshof zunächst richtig fest, dass die Gemeinschaft nach dem Wortlaut des EG-Vertrages lediglich über diejenigen völkerrechtlichen Vertragsschließungskompetenzen verfüge, die ihr durch Vertrag zugewiesen seien.230 Der Gerichtshof greift daraufhin jedoch auf das „allgemeine System des Gemeinschaftsrechts“ zurück, statt sich auf die Suche nach einer konkreten Ermächtigungsgrundlage zu beschränken, um im AETR-Fall dennoch eine Gemeinschaftskompetenz zu begründen.231 Hierin ist die Überschreitung der Grenze von Auslegung zu Rechtsfortbildung zu erblicken.232 Hinsichtlich der Begründung der Außenkompetenz ist methodisch besonders folgende Passage von Interesse: „Eine solche Zuständigkeit ergibt sich nicht nur aus einer ausdrücklichen Erteilung durch den Vertrag [. . .], sondern sie kann auch aus anderen Vertragsbestimmungen und aus in ihrem Rahmen ergangenen Rechtsakten233 der Gemeinschaft fließen. Insbesondere sind in den Bereichen, in denen die Gemeinschaft zur Verwirklichung einer vom Vertrag vorgesehenen gemeinsamen Politik Vorschriften erlassen hat, die in irgendeiner Form gemeinsame Rechtsvorschriften vorsehen, die Mitgliedstaaten weder einzeln noch selbst gemeinsam handelnd berechtigt, mit dritten Staaten Verpflichtungen einzugehen, die diese Normen beeinträchtigen. In dem Maße, wie diese Gemeinschaftsrechtsetzung fortschreitet, kann nur die Gemeinschaft mit Wirkung für den gesamten Geltungsbereich der Gemeinschaftsrechtsordnung vertragliche Verpflichtungen gegenüber dritten Staaten übernehmen und erfüllen. Daher kann beim Vollzug der Vorschriften des Vertrages die für innergemeinschaftliche Maßnahmen geltende Regelung nicht von der für die Außenbeziehungen geltenden getrennt werden.“234 228

Diese Einschätzung wird von Geiger, JZ 1995, 973 geteilt. EuGH, Urt. v. 31.3.1971, RS. 22/70 (Kommission/Rat – „AETR“), Slg. 1971, 263 ff. 230 So EuGH, Urt. v. 31.3.1971, RS. 22/70 (Kommission/Rat – „AETR“), Slg. 1971, 263, 274 (9/11). 231 Vgl. EuGH, Urt. v. 31.3.1971, RS. 22/70 (Kommission/Rat – „AETR“), Slg. 1971, 263, 274 (Rn. 12 u. Rn. 15/19). 232 Von Rechtsfortbildung gehen auch A. Bleckmann, EuR 1977, 109, 114 f.; C. Tomuschat, EuR 1977, 157, 158 f. aus. 233 Für diese Formulierung ist der EuGH z. T, stark kritisiert worden, da sie die Vermutung nahelegte, der EuGH wolle dem Erlass einer sekundärrechtlichen Regelung im Innenbereich konstitutive Wirkung für den Außenbereich beimessen. Krit. etwa Bleckmann, EuR 1977, 109, 114 f.; Tomuschat, EuR 1977, 157, 158 f. Eine m. E. vernünftige Interpretation dieser Urteilspassage findet sich bei Dörr, EuZW 1996, 39, 41. 229

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In dem vom Gerichtshof postulierten „Verbot“ für die Mitgliedstaaten, Verpflichtungen mit dritten Staaten einzugehen, die Gemeinschaftsnormen beeinträchtigen, ist der Rekurs auf den effet utile zu erkennen. Im sich anschießenden Begründungsansatz der immer weiter fortschreitenden Gemeinschaftsrechtsordnung tritt relativ deutlich die Integration als Argument zutage. Dabei ist festzuhalten, dass die Integration in weiten Teilen mit dem Argument des effet utile verknüpft ist, ja die praktische Wirksamkeit fast als Unterfall der Argumentation mit dem Integrationsgebot gelten kann.235 Die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts dürfte nämlich der maßgebliche Faktor der Vergemeinschaftung (Integration) sein.236 Durch sie wird der Gemeinschaft rechtlich Nachdruck verliehen. Allgemein räumt der Gerichtshof derjenigen Rechtsfindung den Vorrang ein, welche die Verwirklichung der Vertragsziele am besten fördert und die Handlungsfähigkeit der Gemeinschaften sichert. Dies steht in der Tradition der völkerrechtlichen Interpretation von Integrationsverträgen („ut res magis valeat quam pereat“).237 Im Gutachten 1/94 hat der Gerichtshof seine Rechtsprechung dann ein wenig enger gefasst.238 Der Gemeinschaft soll nunmehr eine implizite Vertragsabschlusskompetenz nur zukommen, wenn und soweit dies im Einzelfall zwingend notwendig sein sollte, um eine bestehende interne Regelungsbefugnis wirksam umzusetzen.239 Auch damit wird aber letztlich die Außenkompetenz der Gemeinschaft auf die praktische Wirksamkeit bzw. auf die Verhinderung von deren Beeinträchtigung gestützt. Aber nicht nur im Bereich der Außenkompetenzen der Gemeinschaft hat der Gerichtshof diesen argumentativen Ansatz zur Begründung impliziter Kompetenzen gewählt. So heißt es mit Bezug auf die sozialpolitischen Befugnisse der Kommission nach Art. 137 EGV (Art. 118 EWGV): „Weist eine Bestimmung des EWG-Vertrages [. . .] der Kommission eine bestimmte Aufgabe zu, so ist davon auszugehen, daß sie ihr dadurch notwendiger234 EuGH, Urt. v. 31.3.1971, RS. 22/70 (Kommission/Rat – „AETR“), Slg. 1971, 263, 275 (Rn. 15/19). 235 In diese Richtung tendiert wohl auch Streinz, Europarecht, Rn. 570, der beide Argumente im Zusammenhang nennt. Allgemein und umfassend zur Integration unter staatsrechtlichen und staatstheoretischen Gesichtspunkten T. Schmitz, Integration, passim. 236 So für die Auslegung ohne Berücksichtigung der richterlichen Rechtsfortbildung Streinz, Europarecht, Rn. 498. 237 Wörtlich Streinz, Europarecht, Rn. 570. 238 Vgl. EuGH, Gutachten v. 15.11.1994, Gutachten 1/94 (WTO/GATS/TRIPS), Slg. 1994, I-5267, I-5411 (Rn. 77). 239 EuGH, Gutachten v. 15.11.1994, Gutachten 1/94 (WTO/GATS/TRIPS), Slg. 1994, I-5267, I-5411 (Rn. 77).

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weise auch die zur Erfüllung dieser Aufgabe unerlässlichen Befugnisse verleiht; anderenfalls würde der Bestimmung jede praktische Wirksamkeit genommen.“240

In diesem Urteil wird die richterrechtliche Befugniserweiterung der Kommission um ungeschriebene, implizite Kompetenzen ausdrücklich auf die praktische Wirksamkeit („effet utile“) gestützt.241 b) Analyse der Argumente „effet utile“ und „Integration“ i. R. d. Rechtsfortbildung Was bedeuten nun aber die Argumente der praktischen Wirksamkeit und der Integration im Rahmen der rechtsfortbildenden Urteile methodisch? Betrachtet man die geschilderten Fälle und vergleicht diese, so fällt auf, dass diese Argumentationsmuster stets mit einer Erweiterung des Gemeinschaftsrechts zusammentreffen. So wird Richtlinien und Entscheidungen über den Wortlaut des Art. 249 Abs. 3 und 4 EGV unmittelbare Wirkung beigemessen, Empfehlungen werden bei der Auslegung von Rechtsnormen für verbindlich erachtet und die Gemeinschaft erhält Außenkompetenzen zugesprochen, welche ihr so nicht ausdrücklich zugewiesen sind. Ferner ist festzustellen, dass diese Erweiterung des Gemeinschaftsrechts dadurch geleitet ist, diesem eine möglichst hohe Wirksamkeit zu verleihen (effet utile) und hierdurch die Gemeinschaft zu vertiefen (Integration), was man als Telos des Vertrages bezeichnen kann, was in der Präambel des EGV mit der Bekundung „einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker“ schaffen zu wollen, zum Ausdruck kommt. Dieses Integrationsgebot der Präambel enthält sowohl ein dynamisches Element der Weiterentwicklung der Gemeinschaft als auch ein Element der Vertiefung derselben, so dass es, aufgrund seiner Verankerung in der Präambel, als Telos des Vertrages insgesamt erachtet werden kann.242 Somit ist die Argumentation mit effet utile und Integration als vom Sinn und Zweck geleitet zu verstehen. c) Teleologische Extension? Bei den skizzierten Rechtsfortbildungen handelt es sich also um teleologisch motivierte Erweiterungen des Vertragswortlauts. Nun liegt es nahe, anzunehmen, es handele sich bei den angeführten Rechtsprechungsbeispielen 240

So EuGH, Urt. v. 9.7.19874, verb. RS. 281, 283 bis 285 und 287/85 (Deutschland u. a./Kommission), Slg. 1987, 3203, 3253 (Rn. 28). 241 Vgl. eben EuGH, Urt. v. 9.7.19874, verb. RS. 281, 283 bis 285 und 287/85 (Deutschland u. a./Kommission), Slg. 1987, 3203, 3253 (Rn. 28). 242 Zur Bedeutung dieser Passage einen Überblick bietend Geiger, EUV/EGV, Präambel, Rn. 3 ff.

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methodisch um eine teleologische Extension. Ob diese Einschätzung zutrifft, bleibt näher zu untersuchen. Unklarheit besteht bereits darüber, was man unter der Figur der teleologischen Extension überhaupt zu verstehen hat. aa) Anwendungsbereich vom üblichen bis zum möglichen Wortsinn Basierend auf einem von der herkömmlichen Abgrenzung abweichenden Begriffsverständnis von Auslegung und Rechtsfortbildung versteht Thorsten Ingo Schmidt unter teleologischer Extension die zweckgeleitete Erweiterung des Normtextes über die Grenze des üblichen Wortlauts hinaus bis hin zur Grenze des (noch) möglichen Wortsinns.243 Er verspricht sich von dieser Definition eine klare Trennung der Anwendungsbereiche von teleologischen Extension und Analogie.244 Auch die teleologische Extension soll aber, obwohl sie nach Schmidt ihre Bedeutung im Rahmen des noch möglichen Wortsinns entfaltet, ein Mittel der Rechtsfortbildung sein, da er die Grenze zwischen Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung bereits beim üblichen(!) Wortlaut zieht.245 Legt man dieses Verständnis von teleologischer Extension zugrunde, so stellt sich die Frage, ob die oben geschilderten Fälle hierunter zu fassen wären. Hinsichtlich der Judikatur zu den Richtlinien und Entscheidungen246 kann man erkennen, dass der EuGH – und dies scheint mir der einzig mögliche Anknüpfungspunkt für eine Erweiterung des üblichen Wortlauts auf den möglichen in Art. 249 Abs. 3, 4 EGV zu sein – von der den Richtlinien und Entscheidungen in Art. 249 Abs. 3, 4 EGV zuerkannten Verbindlichkeit ausgeht und ausführt, es wäre mit dieser unvereinbar, grundsätzlich auszuschließen, dass einzelne sich auf die Verpflichtung berufen können. Deshalb plädiert der Gerichtshof im Ergebnis für die unmittelbare Wirkung derselben. Mit dieser Argumentation knüpft der EuGH zwar an die Verbindlichkeit von Richtlinie und Entscheidung an, dehnt aber zumindest nicht ausdrücklich den Wortlaut von „verbindlich“ unter Anführung des möglichen Wortsinns dahin aus, dass „verbindlich“ i. S. v. Art. 249 Abs. 3, 4 unter gewissen Umständen auch bedeute, dass der Richtlinie oder Entscheidung unmittelbare Wirkung zukomme. Vielmehr scheint dem Gerichtshof bewusst zu sein, dass er sich außerhalb des möglichen Wortsinns 243

Siehe dazu T. I. Schmidt, VerwArch 2006, 139, 141. So Schmidt, VerwArch 2006, 139, 141. 245 Vgl. zu diesem grundlegend anderen Begriffsverständnis Schmidt, VerwArch 2006, 139, 141. 246 Vgl. dazu nur EuGH, Urt. v. 6.10.1970, RS. 9/70 (Franz Grad/Finanzamt Traunstein – „Leberpfennig“), Slg. 1970, 825, 838 Rn. 5; quasi wortgleich EuGH, Urt. v. 4.12.1974, RS. 41/74 (van Duyn/Home Office), Slg. 1974, 1337, 1348 (Rn. 12). 244

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bewegt, wenn er anhebt, dass zwar Verordnungen unmittelbar gelten würden, dies aber nicht ausschlösse, dass auch anderen Rechtsakten diese Wirkung zukommen könnte. Auch bei den Außenkompetenzen bewegt sich der Gerichtshof wohl außerhalb des möglichen Wortlauts der jeweiligen, eine Innenkompetenz verleihenden Norm des Vertrages. Legt man also das Begriffsverständnis Schmidts von der teleologischen Extension zugrunde, handelt es sich in den aufgezeigten Fällen nicht um eine solche. bb) Herrschendes Verständnis Aber auch innerhalb der herrschenden Auffassung der Unterscheidung von Interpretation und Rechtsfortbildung anhand der Grenze des möglichen Wortsinns, herrscht Uneinigkeit über das Wesen der teleologischen Extension. Rüthers etwa begreift sie als einen Spezialfall der Analogie.247 Die angenommene Gesetzeslücke werde aus dem weiterreichenden Normzweck einer bestehenden Rechtsnorm begründet und mit einem Analogieschluss ausgefüllt. Teleologische Extensionen seien also eine Untergruppe der Gesetzesanalogien und gehörten in den Bereich der („subjektiven“) Auslegung.248 Auch Röhl scheint dieser Auffassung zuzuneigen, wenn er erläutert, die teleologische Extension laufe auf eine analoge Anwendung der Vorschrift hinaus.249 Betrachtet man die geschilderte Rechtsfortbildung vor dem Hintergrund dieses Verständnisses von teleologischer Extension, so hat sich der Gerichtshof in keinem der Fälle dieser methodischen Figur bedient. Eine Analogie verbietet sich auch, da etwa Innen- und Außenkompetenz oder mittelbare bzw. unmittelbare Wirkung keine vergleichbaren Fälle sind. Demgegenüber verstehen Larenz250 und Canaris251, welcher den Begriff der teleologischen Extension geprägt hat, hierunter eine etwas andere Konstellation. Bei der teleologischen Extension werde die Erweiterung durch die ratio legis gefordert, da der Wortlaut zu eng sei.252 Jedoch bestünden klare Unterschiede zur Analogie. So werde die Norm ausgedehnt, nicht weil der ungeregelte Tatbestand dem geregelten rechtsähnlich sei, sondern weil die Vorschrift sonst ihren Zweck nicht erreichen könnte.253 Nicht ein 247

Vgl. Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 904. So die Begründung bei Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 904. 249 Vgl. Röhl, S. 602, dessen Ausführungen an dieser Stelle etwas verwirrend sind, da Röhl die teleologische Auslegung und die teleologische Extension nicht klar trennt, obwohl es sich einmal um ein Mittel der Auslegung, das andere Mal um ein solches richterlicher Rechtsfortbildung handelt. 250 Larenz, Methodenlehre, S. 397 ff. 251 Canaris, Feststellung von Lücken, S. 89 f. 252 So zu Recht Canaris, Feststellung von Lücken, S. 89 f. 253 Richtig Canaris, Feststellung von Lücken, S. 90. 248

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zweiter Fall werde gleichgestellt, sondern die Norm werde für ihren unmittelbaren Anwendungsbereich ausgedehnt.254 Zudem fordere – anders als bei der Analogie – nicht der Gleichheitssatz, sondern allein die ratio legis die Ergänzung des Gesetzes.255 Meiner Ansicht nach sind die Unterschiede zwischen der Analogie und der teleologischen Extension in der Tat deutlich. Gegen Rüthers und Röhl256 ist vorzubringen, dass diese nicht hinreichend deutlich machen, weshalb es sich bei der teleologischen Extension um einen Unterfall der Analogie handelt und worin sie das Unterscheidungsmerkmal sehen, das den Unterfall vom Oberfall unterscheidet. Die Auffassung von Schmidt257 ist zwar in sich schlüssig, gründet jedoch auf einem anderen Begriffsverständnis von Auslegung und Rechtsfortbildung als dem bereits zu Anfang dieser Arbeit festgelegten, so dass dieser Ansatz nicht weiter verfolgt werden soll. Die von Larenz und Canaris vorgebrachten Unterscheidungsmerkmale, vermögen hingegen zu überzeugen und passen sich in die gewählte Terminologie ein. Somit soll nun untersucht werden, ob sich die Fälle der Rechtsfortbildung, in denen der EuGH zur Begründung seiner richterrechtlichen Entwicklung auf die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts oder die Integration verweist, als teleologische Extension nach diesem Begriffsverständnis angesehen werden können. (1) Untersuchung der Rechtsprechung zur unmittelbaren Wirkung Legt man die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur unmittelbaren Wirkung der Richtlinien und Entscheidungen zugrunde,258 so findet diese ihren Anknüpfungspunkt im Art. 249 EGV. Dieser ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs aber nicht abschließend, so dass man davon sprechen könnte, dass der Wortlaut zu eng geraten sei. Ist der Wortlaut nämlich nicht abschließend, obwohl er dieses nahe legt, so muss dieser zu eng gefasst sein. Dennoch handelt es sich bei dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht um eine teleologische Extension. Denn der EuGH ist nicht unbedingt um die Anwendbarkeit des Art. 249 Abs. 3 respektive 4 EGV besorgt und nimmt deshalb eine Erweiterung des Wortlautes vor, sondern es geht ihm 254

Vgl. auch Canaris, Feststellung von Lücken, S. 90; Larenz, Methodenlehre, S. 397 f. 255 Ebenso Canaris, Feststellung von Lücken, S. 90. 256 Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 904; Röhl, S. 602. 257 Schmidt, VerwArch 2006, 139, 141. 258 Vgl. für Entscheidungen EuGH, Urt. v. 6.10.1970, RS. 9/70 (Franz Grad/Finanzamt Traunstein – „Leberpfennig“), Slg. 1970, 825, 838 Rn. 5; quasi wortgleich für Richtlinien EuGH, Urt. v. 4.12.1974, RS. 41/74 (van Duyn/Home Office), Slg. 1974, 1337, 1348 (Rn. 12).

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um die Wirksamkeit der konkreten, nicht umgesetzten Richtlinie. Der Gerichtshof wollte eine zusätzliche Sanktion für mit der Umsetzung einer Richtlinie säumige Staaten schaffen. Damit stellt sich die unmittelbare Wirkung von Richtlinien aber nicht als Ausdehnung des unmittelbaren Anwendungsbereichs von Art. 249 EGV dar, sondern betrifft lediglich die Rechtsfolgen bei einem Verstoß gegen die Umsetzungspflicht. Die Argumentation mit dem effet utile bei der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien und Entscheidungen betrifft hier nur die wirksame Sanktion, so dass es sich folglich nicht um eine teleologische Extension des Art. 249 Abs. 3 bzw. Abs. 4 EGV handelt. Methodisch stellt sich die Vorgehensweise des Gerichtshofs bei der Begründung der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien und Entscheidungen also nicht als teleologische Extension dar, sondern als eine andere, wenn auch ebenfalls teleologisch geleitete Figur zur Fortbildung des Rechts. (2) Bewertung der Rechtsprechung zur Verbindlichkeit von Empfehlungen Auch wenn sich die Argumentation mit dem effet utile bei der Rechtsprechung zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien und Entscheidungen methodisch nicht als Rechtsfortbildung im Wege der teleologischen Extension erwiesen hat, ist es nicht ausgeschlossen, dass sich hinter der praktischen Wirksamkeit an anderer Stelle doch noch eine teleologische Argumentation verbirgt. Um eine solche könnte es sich bei der Postulierung einer Verbindlichkeit von Empfehlungen bei der Auslegung von Gemeinschaftsrecht durch nationale Gerichte und Behörden handeln.259 Auch hier müsste der Wortsinn des Art. 249 Abs. 5 EGV zu eng sein und aufgrund des Gesetzeszwecks erweitert werden, damit sich der Zweck realisieren kann. Jedoch kann man bei dieser Rechtsfortbildung kaum mehr von einer Erweiterung des Wortsinns sprechen. Art. 249 Abs. 5 EGV formuliert klar, dass Empfehlungen nicht verbindlich seien. Mittels seiner auf den effet utile gestützten Argumentation verwandelt der Gerichtshof den Inhalt der Bestimmung in ihr Gegenteil. Damit aber erweitert er nicht den eindeutigen Wortsinn des Art. 249 Abs. 5 EGV, sondern er korrigiert ihn. Es handelt sich bei dieser Rechtsprechung nicht um eine teleologische Extension, vielmehr ist sie als teleologisch motivierte Vertragskorrektur, als freie richterliche Rechtsschöpfung zu bezeichnen.

259 Dazu EuGH, Urt. v. 13.12.1989, RS. C-322/88 (Grimaldi/Fonds des maladies professionnelles), Slg. 1989, I-4407, I-4421 (Rn. 18).

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(3) Untersuchung der rechtsfortbildenden Begründung der EG-Außenkompetenzen Von den oben aufgeführten Beispielsfällen verbleibt noch die Rechtsfortbildung zu den Außenkompetenzen der Europäischen Gemeinschaft.260 Möglicherweise ist diese rechtsfortbildende Rechtsprechung des EuGH methodisch im Wege der teleologischen Extension begründet worden. Normativer Anknüpfungspunkt sind die jeweiligen Befugnisse, die der Gemeinschaft für die interne Wahrnehmung im EG-Vertrag ausdrücklich zugewiesen worden sind. Im AETR-Urteil wird noch nicht ganz deutlich, ob die Erweiterung der Innenkompetenzen um parallele Außenkompetenzen vom Zweck gefordert wird, auch wenn die Aussage, die Mitgliedstaaten seien nicht berechtigt, völkerrechtliche Verpflichtungen einzugehen, welche die auf Grundlage der gemeinsamen Politiken erlassenen Rechtsnormen beeinträchtigen, weshalb für solche letztlich die Gemeinschaft zuständig sei, schon stark in diese Richtung weist.261 Ganz deutlich wird der Ansatz, dass es zur wirksamen Ausübung der Innenkompetenzen entsprechender Außenkompetenzen der Gemeinschaft bedürfe, in der Rechtssache Kramer.262 Dort heißt es: „Die Erhaltung der biologischen Schätze des Meeres kann wirksam und gerecht nur durch eine Regelung sichergestellt werden, die für alle interessierten Staaten einschließlich der Drittländer verbindlich ist. Aus den Pflichten und Befugnissen, die das Gemeinschaftsrecht im Innenverhältnis den Gemeinschaftsorganen zugewiesen hat, ergibt sich daher die Zuständigkeit der Gemeinschaft, völkerrechtliche Verpflichtungen zum Erhalt der Meeresschätze einzugehen.“263

Hier klingt die Erweiterung des Anwendungsbereichs einer Norm, um die Erreichung ihres Zwecks zu gewährleisten, schon an. Der Gerichtshof hat diesen Gedanken aber auch ausdrücklich geäußert und zwar für den Fall, dass eine ausschließliche Außenkompetenz der EG gegeben sein soll. Eine solche besteht, wenn „der Abschluss der völkerrechtlichen 260 So jedenfalls die Entscheidungen EuGH, Gutachten v. 15.11.1994, Gutachten 1/94 (WTO/GATS/TRIPS), Slg. 1994, I-5267, I-5411 (Rn. 77); vgl. auch EuGH, Urt. v. 5.11.2002, RS. C-476/98 (Kommission/Deutschland – „open skies“), Slg. 2002, I-9855, I-9894 f. (Rn. 82); siehe zudem EuGH, Urt. v. 14.7.1976, verb. RS. 3, 4, 6/76 (Cornelis Kramer u. a. – „Biologische Schätze des Meeres“), Slg. 1976, 1276, 1311 (Rn. 30/33). 261 So EuGH, Urt. v. 31.3.1971, RS. 22/70 (Kommission/Rat – „AETR“), Slg. 1971, 263, 275 (Rn. 15/19). 262 EuGH, Urt. v. 14.7.1976, verb. RS. 3, 4, 6/76 (Cornelis Kramer u. a. – „Biologische Schätze des Meeres“), Slg. 1976, 1276 ff. 263 EuGH, Urt. v. 14.7.1976, verb. RS. 3, 4, 6/76 (Cornelis Kramer u. a. – „Biologische Schätze des Meeres“), Slg. 1976, 1276, 1311 (Rn. 30/33).

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Vereinbarung somit erforderlich ist, um Ziele des Vertrages zu verwirklichen [. . .].“264 Nach Ansicht des EuGH ist es demnach unumgänglich, dass die Gemeinschaften Außenkompetenzen besitzen, damit die mit den Innenkompetenzen verfolgten Ziele ungestört verwirklicht werden können. Es handelt sich quasi um eine Annexkompetenz der Gemeinschaft. Damit wird also die betreffende Kompetenzvorschrift für ihren Bereich erweitert, da durch die Erweiterung auch um die Außenkompetenz gerade auch der Zweck der jeweiligen Innenkompetenz gefördert werden soll. Somit kann man die methodische Vorgehensweise der Rechtsprechung zu den Außenkompetenzen der Gemeinschaften als teleologische Extension der jeweils einschlägigen Vertragsbestimmung zu den Innenkompetenzen bewerten. (4) Zwischenergebnis Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Argumentationsfigur des effet utile in der Rechtssprechung des EuGH schillernd ist. So verwundert es denn auch nicht, dass sich allgemeine Argumentationsstrukturen, die allen Fällen gemeinsam sind, kaum feststellen lassen. Feststellen lässt sich allerdings, dass effet utile und Integration stets der Erweiterung des Gemeinschaftsrechts dienen. Auch kann man als Gemeinsamkeit festhalten, dass die Effet-utile-Argumentation stets mit Sinn und Zweck des Gemeinschaftsrechts, dass nur Gemeinschaftsrecht ist, was in allen Mitgliedstaaten Wirkung entfalten kann, begründet wird. Darüber hinaus bestehen jedoch keine Übereinstimmungen zwischen sämtlichen Fällen, in denen der Gerichtshof den effet utile heranzieht. Auffällig ist aber, dass der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, wenn er sich bei seiner Rechtsfortbildung auf den effet utile beruft, sich nicht stets der methodischen Figur einer teleologischen Extension bedient. Vielmehr war von den Beispielsfällen nur die Begründung der Außenkompetenzen der EG methodisch als solche zu bewerten. In den anderen Fällen jedoch handelt es sich um ein Argument, welches eine freie richterliche Rechtsschöpfung contra verba pacti zu kaschieren sucht. Der Wortsinn des Art. 249 Abs. 5 EGV wird nicht erweitert, er wird korrigiert, wenn den Empfehlungen unter Berufung auf den effet utile verbindliche Wirkung zu264 So EuGH, Urt. v. 5.11.2002, RS. C-476/98 (Kommission/Deutschland – „open skies“), Slg. 2002, I-9855, I-9894 f. (Rn. 83) unter Verweis auf EuGH, Gutachten v. 15.11.1994, Gutachten 1/94 (WTO/GATS/TRIPS), Slg. 1994, I-5267, I-5414 (Rn. 89).

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gesprochen wird. Aber auch bei der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien und Empfehlungen handelt es sich mehr um eine methodisch motivierte freie Rechtsfortbildung denn um eine teleologische Extension. Letztere spielt also in der Praxis der Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof eine eher untergeordnete Rolle, vor allem aber lässt der Gerichtshof durch das Vorschieben von praktischer Wirksamkeit und Integrationsgebot eine Methodenehrlichkeit in seinen Urteilen vermissen. cc) Effet utile als Argument bei freier Rechtsschöpfung Wie eben aufgezeigt wurde, lässt sich nicht stets eine bestimmte methodische Figur ausmachen, wenn der EuGH unter Berufung auf den effet utile das Gemeinschaftsrecht fortbildet. Teilweise ersetzt das Bestreben des Gerichtshofs, dem Gemeinschaftsrecht zur praktischen Wirksamkeit zu verhelfen, eine methodisch nachvollziehbare Begründung des integrationspolitisch verständlicherweise angepeilten Ergebnisses vollständig. Die Rechtsfortbildung wird hier ausschließlich auf das Ziel der Vertiefung der Gemeinschaft gestützt. Insoweit kann man in jenen Fällen, in welchen die Bezugnahme auf den effet utile sich keiner bestimmten methodischen Figur zuordnen lässt, gewissermaßen von einem gemeinschaftsspezifischen teleologisch motivierten Mittel richterlicher Rechtsfortbildung sprechen. 5. Der Erst-recht-Schluss (argumentum a fortiori) Ein weiteres, in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten anerkanntes Mittel richterlicher Rechtsfortbildung, ist der Erst-recht-Schluss.265 Diesen unterteilt man für gewöhnlich in zwei Unterfälle, dem Schluss vom Größeren auf das Kleinere (argumentum a maiore ad minus) und umgekehrt, vom Kleineren auf das Größere (argumentum a minori ad maius).266 Es spricht nichts dagegen, den Erst-recht-Schluss auch für das europäische Gemeinschaftsrecht als Mittel richterlicher Rechtsfortbildung anzuerkennen, da er im mitgliedstaatlichen Recht allgemein gebräuchlich ist.267 265

Vgl. aus der deutschsprachigen Methodenlehre nur Larenz, Methodenlehre, S. 389 f.; T. K. Grabenhorst, passim, S. Joerden, Logik im Recht, 323; Schmidt, VerwArch 2006, 139, 148 f.; aus Sicht der spanischsprachigen Welt ebenfalls wie hier C. E. Alchourrón, ARSP Beiheft Nr. 4 n. f., S. 5 ff., insbes. S. 11 ff., wenn auch mit dem Nachweis, dass die im der Jurisprudenz als argumenta a fortiori bezeichneten Schlüsse logisch nicht gültig seien. 266 Joerden, Logik im Recht, S. 323, nennt allerdings nur den Schluss a maiore ad minus; wie hier etwa Schmidt, VerwArch 2006, 139, 148. 267 Larenz, Methodenlehre, S. 389 f.; Klug, Juristische Logik, S. 146 Alchourrón, ARSP Beiheft Nr. 4 n. f., S. 5 ff., insbes. S. 11 ff.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

Jedoch habe ich nur einen Fall feststellen können – was freilich nicht zugleich bedeutet, dass es keine weiteren Fälle gäbe –, in welchem sich der Gerichtshof eines argumentum a fortiori bedient hat, um das Gemeinschaftsrecht fortzubilden. In der Rechtssache Novartis Pharmaceuticals ging es dabei um eine Frage des Arzneimittelzulassungsrechts. Sofern es sich bei zwei Arzneimitteln um wesentlich gleiche Produkte handelt, ist nämlich nach Art. 4 Abs. 3 Nr. 8 lit. a) der Richtlinie 64/64 EWG ein abgekürztes Zulassungsverfahren möglich. Der EuGH hat nun in seiner unlängst ergangenen Entscheidung ausgeführt: „Kann nämlich [. . .] derjenige, der die Zulassung des Erzeugnisses C beantragt, auf die pharmakologischen und toxologischen sowie ärztlichen oder klinischen Untersuchungen zum Erzeugnis B Bezug nehmen, das aus dem Referenzarzneimittel A entwickelt worden ist und diesem im Wesentlichen gleicht, gegebenenfalls mit der Ausnahme des Verabreichungsweges oder der Dosierung, wobei die Unterschiede in diesen beiden Punkten im Allgemeinen bedeuten, dass die Erzeugnisse A und B nicht bioäquivalent sind [. . .], so muss er dies erst recht [Hervorhebung K. W.] tun können, wenn sich die Erzeugnisse A und B nur hinsichtlich ihrer Bioverfügbarkeit unterscheiden, ihr Verabreichungsweg und ihre Dosierung aber gleich sind.“268

Diese Entscheidung bewegt sich nun im Grenzbereich zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung. Dieses liegt daran, dass der EuGH sich bei seinem Erst-recht-Schluss als Schlussbasis nicht auf die Richtlinie stützt, sondern in nicht unerheblichem Maße auch auf die Auslegung des Art. 4 Abs. 3 Nr. 8 lit. a) RL 64/64 EWG in der Rechtssache Generics UK u. a.269 Dennoch handelt es sich hier um eine Rechtsfortbildung der sekundärrechtlichen Richtlinienbestimmung, da der EuGH Art. 4 Abs. 3 RL 64/64/EWG auf einen durch seinen Wortlaut nicht erfassten Fall erstreckt, der aber nach Sinn und Zweck der Norm, unnötige Tier- und Menschenversuche durch ein einfacheres Zulassungverfahren für Medikamente zu vermeiden, eindeutig erfasst werden müsste. Diese Lücke schließt der EuGH mittels des angeführten Erst-recht-Schlusses, da die pharmazeutischen und chemischen Voraussetzungen für ein vereinfachtes Zulassungsverfahren im fraglichen Fall sogar eher vorlagen, als in dem durch Art. 4 RL 64/64/EWG geregelten.270 Somit kann man von einer Rechtsfortbildung 268

So EuGH, Urt. v. 29.4.2004, RS. C-106/01 (Novartis Pharmaceuticals), Slg. 2004, I4403, I-4454 f. (Rn. 66). Hervorhebung von mir. 269 EuGH, Urt. v. 3.12.1998, RS. C-368/96 (Generics [UK] u. a.), Slg. 1998, I-7967, I-8020 (Rn. 43 f.); siehe dazu die Ausführungen von EuGH, Urt. v. 29.4.2004, RS. C-106/01 (Novartis Pharmaceuticals), Slg. 2004, I4403, I-4452 f. (Rn. 57). 270 Dazu EuGH, Urt. v. 29.4.2004, RS. C-106/01 (Novartis Pharmaceuticals), Slg. 2004, I4403, I-4452 ff. (Rn. 56 ff.).

C. Mittel richterlicher Rechtsfortbildung

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mittels eines Erst-recht-Schlusses sprechen, wenn sich mit der Rechtssache Novartis Pharmaceuticals auch nur ein Beispiel aus dem Sekundärrecht anführen lässt. Die Zurückhaltung des Gerichtshofs bei der Anwendung dieser Schlussform mag darin begründet liegen, dass – je nach „Richtung“ des Schlusses – bereits ein Kleineres bzw. Größeres geregelt sein muss, damit man vom einen auf das andere schließen kann. Häufig finden sich im Gemeinschaftsrecht aber erhebliche Bereichslücken, welche sich leichter durch eine Analogie oder die Heranziehung allgemeiner Rechtsgrundsätze auffüllen lassen. Für diese ist zwar auch eine normative Verankerung im Vertrag zu fordern, doch ist der Zusammenhang zwischen geregeltem und ungeregeltem Fall lockerer, als beim argumentum a minore ad maius oder dem argumentum a maiore ad minus. Bei Analogie und allgemeinen Rechtsgrundsätzen können nämlich Rechtsgedanken aus anderen Bereichen übertragen werden, währenddessen beim Erst-recht-Schluss eine Norm eine Größenrelation innerhalb eines Rechtsbereiches erlauben muss, damit eine Lücke im Vertrag, oder allgemeiner gesprochen im Gesetz, geschlossen werden kann. 6. Umkehrschluss (argumentum e contrario) Vereinzelt wird auch noch der Umkehrschluss als Mittel der Rechtsfortbildung genannt, der gewissermaßen das Gegenstück zur Analogie bildet.271 Der Schluss erfolgt hier etwa in der Weise, dass ein Tatbestand X gesetzlich abschließend geregelt sei, weshalb diese Regelung auch nicht auf den (ähnlichen) Tatbestand Y übertragen werden könne. Im Prinzip muss hier aus der Teleologie des Gesetzes ableitbar sein, dass es neben den gesetzlich geregelten, keine weiteren Fälle geben soll, die ebenso zu behandelen sind.272 Dies bedeutet für das Verhältnis von Analogie und Umkehrschluss, dass diese zwar logisch gleichrangig sein mögen, bei der Anwendung der Schlussformen der Analogie jedoch praktisch so lange der Vorrang zukommt, wie die Teleologie des Gesetzes dieses nicht ausdrücklich verbietet. Solche Analogieverbote sieht die Rechtsordnung vereinzelt vor, wie etwa den Grundsatz nulla poena sine lege (Art. 103 Abs. 2 GG; Art. II-110 VVE). Analogieverbote muss man somit als Umkehrschlussgebote verstehen.273 271

So etwa Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 899 ff., der den Umkehrschluss i. R. d. Rechtsanwendung im Lückenbereich erörtert; siehe auch Kramer, S. 152 f. 272 Vgl. etwa Joerden, Logik im Recht, S. 329; zur aussagenlogischen Struktur des Umkehrschlusses vgl. Herberger/Simon, S. 60 f. und. 173 ff.; zur logischen Tragweite des Umkehrschlusses siehe I. Puppe, FS Lackner, S. 199 ff. 273 In diese Richtung tendiert wohl auch Joerden, Logik im Recht, S. 329.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

Ist aber der Umkehrschluss das Gegenstück zur Analogie und ein Analogieverbot gleichzeitig ein Umkehrschlussgebot, so stellt dieses zugleich auch ein Verbot der Rechtsfortbildung dar. Der Umkehrschluss basiert dann nämlich in gewisser Weise auf dem Grundgedanken des allgemeinen negativen Satzes, zumindest zieht man ihn nur, wenn man ein beredtes Schweigen des Gesetzgebers aus der Teleologie des Gesetzes ableitet.274 Man muss also der Auffassung sein, der Normgeber habe bewusst nur die gesetzlich geregelten Fälle erfassen und sämtliche anderen Fälle – mögen sie auch ähnlich sein – nicht in den Anwendungsbereich der Norm einbeziehen wollen. Dann aber fehlt es in Fällen, in welchen der Rechtsanwender zum Umkehrschluss greift, bereits an der Regelungslücke bzw. genauer, an der Planwidrigkeit derselben.275 Stets wenn eine Regelung nach ihrem Sinn und Zweck abschließend gemeint ist, scheidet eine Analogie aus und kommt der Umkehrschluss zum Zuge. Insoweit kann man nicht genau unterscheiden, ob in Fällen, in welchen die Teleologie des Gesetzes den Umkehrschluss fordert, man bereits von einem Analogieverbot sprechen muss, oder die Voraussetzungen für eine Analogie einfach nicht vorliegen. Klar ist dann lediglich, dass eine Analogie nicht gezogen werden darf. Diese hat sich nun aber als wichtigstes Mittel richterlicher Rechtsfortbildung erwiesen. Schließt der Umkehrschluss nun aber gerade dieses Mittel aus und beschränkt das Gesetz auf die ausdrücklich vom Wortlaut erfassten Tatbestände, so kann man ihn kaum als Mittel der Rechtsfortbildung erachten, vielmehr setzt er derselben Grenzen. Dort, wo der Umkehrschluss Anwendung findet, ist das Gesetz lückenlos, so dass eine richterliche Rechtsfortbildung ausscheidet. Eine Rechtsfortbildung trotz Lückenlosigkeit des Gesetzes würde eine Überschreitung der richterlichen Rechtsfortbildungskompetenz hin zur freien, willkürlichen Rechtsschöpfung bedeuten. Insoweit muss der Umkehrschluss als Mittel richterlicher Rechtsfortbildung ausscheiden. 7. Verdeckte Rechtsfortbildung durch Bezeichnung als Interpretation Die oben aufgezeigte, hinter der Formel vom effet utile verborgene Rechtsfortbildung durch den Gerichtshofs, führt zu der Frage, inwieweit man angesichts der Judikatur des EuGH von „verdeckter“ Rechtsfortbildung sprechen kann. Der französischen Doktrin folgend,276 bezeichnet der Gerichtshof seine Rechtsfortbildung stets als Interpretation des Vertrages, 274

Ausdrücklich Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 900; Kramer, S. 152 f. Dies wird auch schon von Larenz, Methodenlehre, S. 390 gesehen, der allerdings zu Recht ein dann anderes Mittel als den Umkehrschluss zur Lückenschließung für erforderlich erachtet. 276 Im Einzelnen dazu oben; vgl. auch Schweitzer/Hummer, Rn. 451. 275

C. Mittel richterlicher Rechtsfortbildung

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selbst wenn er das Gemeinschaftsrecht fortbildet.277 Insoweit kann man dem Gerichtshof aus der bloßen Tatsache heraus, dass er nicht von Rechtsfortbildung spricht, noch keinen Vorwurf machen. Der Methodenehrlichkeit ist vielmehr Genüge getan, wenn der EuGH deutlich erkennen lässt, dass er die durch Rechtsfortbildung gewonnene Rechtserkenntnis nicht unmittelbar durch bloße Auslegung des Vertragstextes erlangt, sondern über den Text des Vertrages hinausgeht und diesen (teleologisch) so „auslegt“, dass Lücken im Vertrag geschlossen werden. Dieses kann er nicht bloß dadurch erreichen, dass er eine Vertragslücke ausdrücklich als solche bezeichnet,278 sondern gleichbedeutend auch dadurch, dass er, wie in seiner Rechtsprechung zur unmittelbaren Geltung von Richtlinien und Entscheidungen verdeutlicht, den Wortlaut des Art. 249 EGV für nicht abschließend erachtet.279 Insgesamt kann man also festhalten, dass der Gerichtshof durchaus deutlich macht, wann er rechtsfortbildend tätig wird, wenn er auch die Mittel der Rechtsfortbildung niemals ausdrücklich benennt. Liest man seine Urteile jedoch im Bewusstsein der französischen Methodenlehre, so irritiert es nicht weiter, wenn der Gerichtshof auch in rechtsfortbildenden Urteilen den Begriff Auslegung verwendet. Dieser umfasst, wie bereits dargelegt, die Rechtsfortbildung. Wünschenswert wäre es freilich, dass der EuGH seine Methoden kenntlich machte, erhöhte dies doch auch die dogmatische Verständlichkeit seiner Urteile. 8. Rechtsfortbildung in einem obiter dictum Ohne jeglichen Bezug zu einer methodischen Figur der Rechtsfortbildung, ja selbst ohne Berufung auf den effet utile, hat die Entwicklung der Grundrechtsrechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Stauder280 ihren Anfang genommen. Dort bejahte der Gerichtshof erstmals abstrakt die Existenz von Gemeinschaftsgrundrechten. Da hier keine bestimmte methodische Denkfigur angewendet wurde, sondern bloß die Zugehörigkeit der Grundrechte zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts postuliert wird, deren Existenz für die Entscheidung nicht wirklich von Belang war, 277

Schweitzer/Hummer, Rn. 451. Zu den Beispielen vgl. oben im Rahmen der Lückendiskussion unter § 2 A. III. 3. c) bb). 279 Dies wird deutlich aus der Passage „Zwar gelten nach Art. 189 Verordnungen unmittelbar und können infolgedessen schon wegen ihrer Rechtsnatur unmittelbare Wirkungen erzeugen. Hieraus folgt indessen nicht, dass andere in diesem Artikel genannte Kategorien von Rechtsakten niemals ähnliche Wirkung erzeugen könnten.“ Vgl. EuGH, Urt. v. 6.10.1970, RS. 9/70 (Grad/Finanzamt Traunstein – „Leberpfennig“), Slg. 1970, 825, 838 (Rn. 5). 280 Vgl. EuGH, Urt. v. 12.11.1969, RS. 29/69 (Stauder/Ulm), Slg. 1969, 419, 425 (Rn. 7). 278

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

könnte man hierbei durch eine Rechtsfortbildung mittels eines obiter dictum sprechen.281 Später freilich hat der EuGH – wie oben gezeigt – die einzelnen Grundrechte dezidiert anhand der nationalen Rechtsordnungen als allgemeine Rechtsgrundsätze herausgearbeitet. 9. Zusammenfassung zu den Methoden der Rechtsfortbildung des EuGH Überblickt man nunmehr zusammenfassend die Analyse der Mittel richterlicher Rechtsfortbildung durch den EuGH, so kann man feststellen, dass sich die Methoden nicht stark von den in den nationalen Rechtsordnungen zur Anwendung kommenden unterscheiden. Allerdings dürfte sich die Bedeutung der Methoden leicht unterscheiden, insbesondere erlangt die Analogie nicht die herausragende Stellung unter den Methoden, die ihr in der deutschen Methodenlehre zukommt. Dennoch kommen die aus den nationalen Methodenlehren geläufigen Mittel richterlicher Rechtsfortbildung fast sämtlich zur Anwendung. So finden sich auch in der Judikatur des Gerichtshofs Rechtsfortbildungen mittels Analogie, wie sich etwa anhand der schrittweisen Erweiterung der Klagebefugnis des Europäischen Parlaments282 nachweisen ließ. Große Bedeutung hat im Europäischen Gemeinschaftsrecht die Ableitung von Regelungen aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen erlangt, die auch in der französischen Judikatur und Doktrin eine gewichtige Stellung einnimmt. Anders als in letzterer werden die allgemeinen Rechtsgrundsätze vom EuGH aber vorwiegend im Wege der Rechtsvergleichung gewonnen.283 Prominentes Beispiel für diese Methode ist die Entwicklung des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtekatalogs.284 281 Unter einem obiter dictum versteht man entbehrliche richterliche Ausführungen, die über den konkreten Fall hinausgreifen; z. T. wird dabei ein gesetzesgleich formulierter Katalog an Regeln auch für solche Fälle entwickelt, die dem konkreten Rechtsstreit nicht zugrunde liegen. Vgl. zu diesem Begriffsverständnis W. Schlüter, S. 1 ff., vgl. S. 184 ff. zu den obiter dicta im Bereich der Rechtsfortbildung. 282 Hierzu EuGH, Urt. v. 22.5.1990, RS. C-70/88 (Parlament/Rat), Slg. 1990, I-2041, I-2072 (Rn. 21 ff.). 283 Siehe zur französischen/belgischen Doktrin der principes généraux du droit im Gemeinschaftsrecht etwa P. Pustorino, Revue du droit de l’Union européenne, 2005, p. 113 ff.; K. Lenaerts, Mélanges en hommage à Louis, p. 241 ff.; S. Nudelholc, Revue critique de jurisprudence belge 56 (2002), 573; C. Castaing, RTDE 2003, 197 ff.; D. Triantafyllou, Revue française de droit administratif 16 (2000), p. 246 ff.; siehe auch R.-E. Papadopoulou, p. 319. 284 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 18.5.1982, RS. 155/79 (AM&S)/Kommission), Slg. 1982, 1575, 1610 f. (Rn. 18 ff.); siehe auch die Schlussanträge zu dieser Rechtssache von GA J.-P. Warner v. 20.1.1981, Slg, 1982, 1619, 1632 ff. und noch erhel-

C. Mittel richterlicher Rechtsfortbildung

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Ferner wurde anhand der EuGH-Rechtsprechung zu den Außenkompetenzen der Gemeinschaft285 aufgezeigt, dass sich hinter der Argumentationsfigur des effet utile die teleologische Extension verbergen kann. Dieses muss jedoch nicht stets so sein, vielmehr war festzustellen, dass mit der Berufung auf effet utile und Integration eine gewissermaßen gemeinschaftsrechtsspezifische, nicht in das übliche Methodenschema einzufügende, teleologische Erweiterung des Vertragstextes vom EuGH vorgenommen wird. Kaum Bedeutung für die Rechtsfortbildung im Gemeinschaftsrecht hat hingegen der Erst-recht-Schluss erlangt. Die Gründe dafür, dass für diesen Schluss keine Entscheidung nachgewiesen werden konnte, mögen darin zu suchen sein, dass das argumentum a fortiori nur für einen bestimmten normativen Bereich gezogen werden kann, also eines normativen Anknüpfungspunktes innerhalb dieses Bereichs bedarf, das Gemeinschaftsrecht sich aber gerade durch Bereichslücken auszeichnet, zu deren Schließung der Erst-recht-Schluss nicht geeignet erscheint. Für den Umkehrschluss wurde gezeigt, dass es sich bei diesem, anders als teilweise in der deutschen Methodenlehre vertreten,286 nicht um ein Mittel richterlicher Rechtsfortbildung handelt, sondern das argumentum e contrario die Rechtsfortbildung vielmehr ausschließt und somit ein Anzeichen für eine Grenze richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz darstellt. Vergleicht man die Bedeutung der verschiedenen Methoden, so kann man ein gewisses Schwergewicht bei der Lückenschließung mittels Herleitung rechtlicher Lösungen aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen ausmachen. Insoweit kann man eine gewisse Tendenz feststellen, dass der Gerichtshof in seiner Methodik stärker von der romanischen Methodenlehre inspiriert ist, als von der deutschen, was auch nicht verwundert, da er deren Begrifflichkeit insoweit übernommen hat, als dass er stets von Auslegung spricht und nicht zwischen dieser und der Rechtsfortbildung unterscheidet.287 Freilich lassen sich aber auch vorwiegend in der deutschen Methodenlehre gebräuchliche Mittel der Rechtsfortbildung nachweisen, wie etwa die teleologische Extension. Die überragende Bedeutung der allgemeinen Rechtsgrundsätze bei so wichtigen Rechtsfortbildungen wie der Entwicklung eines Grundrechtskatalogs oder eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungslender, ebenfalls zu dieser Rechtssache G. Slynn, Schlussanträge v. 26.1.1982, Slg. 1982, 1643, 1654 ff., der auf sämtliche mitgliedstaatlichen Regelungen eingeht. Ausführliche weitere Nachweise aus der Judikatur siehe oben. 285 Insbesondere EuGH, Gutachten v. 15.11.1994, Gutachten 1/94 (WTO/GATS/ TRIPS), Slg. 1994, I-5267, I-5414 (Rn. 89). 286 So etwa von Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 899; Kramer, S. 152 ff. 287 Zu letzterem vgl. schon oben; siehe auch Schweitzer/Hummer, Rn. 451.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

anspruchs gegenüber den Mitgliedstaaten, entstammt jedoch der französischen Doktrin. Eine gemeinschaftsrechtliche Besonderheit gegenüber den nationalen Methodenlehren ergibt sich allerdings insoweit, als dass der EuGH die allgemeinen Rechtsgrundsätze im Wesentlichen mittels Rechtsvergleichung der nationalen (Verfassungs-)Rechtsordnungen gewinnt, was im nationalen Recht in diesem Maße selbstverständlich ausscheidet. Insofern kann man von einer gemeinschaftseigenen, effet utile und Rechtsvergleichung betonenden Methodik der Rechtsfortbildung sprechen, die sich jedoch in ihrer gedanklichen Vorgehensweise nur wenig von den nationalen (deutschen und französischen) Methodenlehren unterscheidet. Nachdem die Methodik des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften bei der Rechtsfortbildung beleuchtet worden ist, stellen sich zentrale Fragen richterlicher Rechtsfortbildung: Bis wohin kann der Gerichtshof diese Mittel anwenden? Wo liegen die Grenzen des gemeinschaftsrechtlichen Richterrechts? Wann ist eine Rechtsfortbildung wegen Überschreitung dieser Grenzen unzulässig? Diesen Fragen soll nunmehr im folgenden Kapitel nachgegangen werden.

D. Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung Die Frage nach den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz wird angesichts der Tatsache, dass richterliche Rechtsfortbildung an sich ein gemeinhin akzeptiertes Phänomen des Rechtslebens bildet, zur zentralen Frage im Rahmen der Rechtsfortbildungsdiskussion erklärt. Die Frage nach den Grenzen stellt sich freilich auch im Gemeinschaftsrecht. Bevor auf die Grenzen richterlichter Rechtsfortbildung im Gemeinschaftsrecht eingegangen wird (dazu IV.), soll zunächst der Versuch einer abstrakten Kategorisierung des Begriffs „Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung“ unternommen (I.) und sodann untersucht werden, welche Grenzen den Gerichten in der deutschen (II.) und französischen (III.) Rechtsordnung für die Rechtsfortbildung gezogen werden.

I. Versuch der abstrakten Kategorisierung von Grenzen Bevor konkrete Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung herausgearbeitet werden, soll zunächst einmal versucht werden, das Wesen einer Grenze der Rechtsfortbildung allgemein zu erfassen, eine Definition für eine solche zu finden und gegebenenfalls bereits abstrakt auftretende Fallgruppen zu systematisieren.

D. Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung

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1. Begriff der Grenze Der Duden verweist auf den westslawischen Ursprung des Wortes Grenze1 und misst ihm zwei Bedeutungen zu. Zum einen handele es sich um die Trennungslinie zwischen zwei politischen Gebilden (Länder, Staaten) – diesen Begriffsinhalt kann man im Rahmen dieser Untersuchung getrost beiseite lassen – zum anderen – und dies scheint mir fruchtbringender zu sein – spricht er von Grenze als Schranke.2 Bei beiden Begriffsbedeutungen geht es aber darum, ein bestimmtes etwas von einem anderen zu trennen. In der zweiten Wortbedeutung kann Grenze folglich bedeuten, dass etwas Erlaubtes von etwas Verbotenem abgetrennt wird.3 Die Grenze richterlicher Rechtsfortbildung ist also dann erreicht, wo erlaubte rechtsfortbildende richterliche Tätigkeit in verbotene Ausübung derselben übergeht. 2. Beschränkung richterlicher Rechtsfortbildung Was genau hat man aber unter der häufig fast „mantrahaft“ wiederholten Bedeutung der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung zu verstehen? Was genau soll begrenzt werden? Die nationalen Methodenlehren liefern hier keine klare Antwort, sie begnügen sich damit, auf die Bedeutung der Grenzen hinzuweisen. Aber auch in der gemeinschaftsrechtlichen Literatur findet sich hierauf keine klare Antwort. Zieht man die soeben gewonnene Begrifflichkeit „Grenze“ heran, so kann man klarer formulieren. Bei den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung geht es um eine Beschränkung grundsätzlich zunächst einmal erlaubter richterlicher Tätigkeit. Unbestritten ist nämlich, dass nationale Gerichte ebenso wie der EuGH grundsätzlich dazu befugt ist, das Recht fortzubilden. Bei dieser Befugnis handelt es sich um eine der Judikative zustehende Kompetenz. Bei den Grenzen, die ihr dabei gezogen sind, handelt es sich folglich um Begrenzungen ebenjener Rechtsfortbildungskompetenz. Sucht man also nach Schranken richterlicher Rechtsfortbildungsbefugnis, so muss man nach Begrenzungen richterlicher Macht suchen. Hinter der Formel von 1 Vgl Duden, Bd. 4 (Gele-Impr), Stichwort „Grenze“; Grenze kommt danach vom westslawischen granica und bedeutet seinem Wortstamm gran nach eigentlich Ecke, Kante, Rand. 2 Duden, Bd. 4 (Gele-Impr), Stichwort „Grenze“; zur zweiten Bedeutung siehe mit juristischem Bezug auch G. Jellinek, S. 250 ff., der von Grenzen der Staatsgewalt als diesen gesetzten Schranken spricht. 3 In diese Richtung auch der Duden, Bd. 8 (Schl-Tace), der „Schranke“ als Grenze des Möglichen, Erlaubten definiert; vgl. die Erläuterungen zum Stichwort „Schranke“.

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den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung verbergen sich also stets Kompetenzgrenzen.4 3. Kompetenz als beschränkter Gegenstand und Folgerungen für das Gemeinschaftsrecht In einem Mehrebenensystem, wie es Gemeinschaften und Mitgliedstaaten bilden, hat Kompetenz zwei Dimensionen. Zunächst stellt sich die Frage nach der Verbandskompetenz, bei der es darum geht, welcher Herrschaftschaftsverband tätig werden darf, also für eine bestimmte Aufgabe oder Materie zuständig ist, konkret also, ob die Europäischen Gemeinschaften oder die Mitgliedstaaten für einen Bereich zuständig sind.5 Ist diese Frage beantwortet, so ist zu klären, welches Organ eines bestimmten Herrschaftsverbandes im konkreten Fall zur Erfüllung einer bestimmten Aufgabe tätig werden muss, was als Organkompetenz bezeichnet wird.6 Es geht dabei also um die Aufgabenverteilung innerhalb eines Herrschaftsverbandes.7 Ruft man sich nun in Erinnerung, dass die Grenzen der Rechtsfortbildung soeben als Kompetenzgrenzen verstanden wurden, so folgt daraus: Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung ergeben sich für den EuGH entweder aus fehlender Verbandskompetenz, denn wenn die Gemeinschaft als Ganzes nicht zuständig ist, so kann es auch der Gerichtshof als ihr Organ nicht sein, oder, sofern die Hürde der Verbandskompetenz überwunden ist, soweit 4

Soweit ersichtlich wurde bislang noch nicht klar herausgearbeitet, dass Rechtsfortbildungsgrenzen Kompetenzgrenzen sind. Dies ist vor dem Hintergrund der nationalen Methodenlehren verständlich, taucht dort bei der Rechtsprechung doch kaum jemals das Problem eines Fehlens der Verbandskompetenz auf, so dass lediglich Grenzen der Organkompetenz verbleiben. Im Gemeinschaftsrecht treten die beiden Ebenen Verbandskompetenz und Organkompetenz deutlich auf, dennoch wurde in der Literatur bislang nicht darauf hingewiesen, dass es sich bei den Rechtsfortbildungsgrenzen um Kompetenzgrenzen handelt. 5 Siehe dazu und zu etlichen Details im Kompetenzgefüge zwischen EG und Mitgliedstaaten C. Callies, Jura 2001, 311 ff.; A. v. Bogdandy/J. Bast, EuGRZ 2001, 441 ff.; I. Pernice, JZ 2000, 866 ff.; P. Kirchhof, JZ 1998, 965 ff.; H. D. Jarass, AöR 121 (1996), 173 ff.; sehr aufschlussreich auch M. Nettesheim, Kompetenzen, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 415 ff.; zur rechtspolitischen Diskussion R. Bieber, integration 2001, 308 ff.; F. Mayer, ZaöRV 61 (2001), 577 ff.; zur nicht-deutschsprachigen Literatur V. Constantinesco, passim; K. Lenaerts, CMLR 28 (1991), p. 11 ff.; J. Martín y Pérez de Nanclares, passim. 6 So z. B. Nettesheim, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, 415, 416, 418 ff.; siehe auch v. Bodandy/Bast, EuGRZ 2001, 441, 444. Siehe zur Kompetenzverteilung in bündischen Systemen allgemein und rechtsvergleichend auch J. A. Frowein, FS Lerche, S. 401 ff., der sich freilich nicht auf die EG/EU beschränkt. 7 Nettesheim, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, 415, 416, 418 ff.; siehe auch v. Bodandy/Bast, EuGRZ 2001, 441, 444.

D. Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung

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dem EuGH die Organkompetenz fehlt, weil bestimmte Bereiche des Europarechts anderen Organen der Gemeinschaften zur ausschließlichen Wahrnehmung übertragen worden sind. Versucht man nun Kategorien an Grenzen zu bilden, so bietet sich an, sich an der Unterteilung der Kompetenzen in Verbands- und Organkompetenzen zu orientieren. Eine erste Stufe der Begrenzung der Rechtsfortbildungskompetenz ist erreicht, sofern der Gerichtshof das (Gemeinschafts-) Recht fortbildet, obwohl es den Gemeinschaften bereits an der Verbandskompetenz für den konkreten Regelungsbereich fehlt. Missachtet der EuGH bei seiner Rechtsfortbildung die fehlende Verbandskompetenz, bildet er also das Recht fort, obwohl diese Entscheidung nach der Kompetenzverteilung der Verträge den Mitgliedstaaten vorbehalten ist, so hat der Gerichtshof damit eine seiner Rechtsfortbildungskompetenz gezogene Grenze verletzt. Fragen der Organkompetenz stellen sich dann nicht mehr. Insofern könnte man von den durch die Verbandskompetenz gesetzten Schranken als Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe sprechen. Die zweite Stufe an Rechtsfortbildungsgrenzen erreicht man, wenn zwar die Verbandskompetenz der Europäischen Gemeinschaften gegeben ist, sich aber die Frage stellt, ob durch die Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof nicht Kompetenzen anderer Organe der Gemeinschaften verletzt sind. Die Begrenzung der Rechtsfortbildungsbefugnis durch Organkompetenzen kann man deshalb als Rechtsfortbildungsgrenze zweiter Stufe bezeichnen, weil sie nur dann relevant wird, wenn eine Begrenzung auf erster Stufe (jener der Verbandskompetenz) nicht erfolgt.8

II. Grenzen der Rechtsfortbildung in der deutschen Rechtsordnung Zunächst sollen die Rechtsfortbildungsgrenzen, wie sie in der deutschen Methodenlehre diskutiert werden, aufgezeigt werden 1. Verfassungsrechtliche Grenzen Die sich aus dem Grundgesetz ergebenden Schranken kann man mit Rolf Wank9 als spezielle funktionsrechtliche Schranken bezeichnen. Es handelt 8 Der hier vorgeschlagene Versuch einer Kategorisierung der Grenzen wird in der Literatur – soweit ersichtlich – so nicht vertreten. Zumeist werden ohne einen Versuch der Systematisierung einzelne Grenzen nacheinander aufgezählt. 9 So bezeichnet Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 88 Fn. 31 die Art. 103 Abs. 2, 109 und 110 GG.

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sich bei diesen einerseits um Analogieverbote, andererseits um verfassungsrechtliche Schranken, die aus der Kernbereichslehre folgen. a) Art. 103 Abs. 2 GG als Analogieverbot Die bekannteste Beschränkung richterlicher Rechtsfortbildungsgewalt ist sicherlich das aus Art. 103 Abs. 2 hergeleitete Analogieverbot für die Begründung der Strafbarkeit10 einer Tat.11 Damit soll die strafbegründende Analogie zulasten des Täters ausgeschlossen sein.12 Die Bezeichnung des Art. 103 Abs. 2 GG als Analogieverbot darf aber nicht zu der Annahme führen, hiermit sei lediglich der Analogieschluss im engen, technischen Sinne zu verstehen, ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, welche über den Inhalt – also den möglichen Wortsinn als Grenze – einer Strafnorm hinausgeht.13 Erfasst wird vom Analogieverbot also auch die teleologische Extension von Straftatbeständen, aber auch die im Ergebnis gleich wirkende teleologische Reduktion von Rechtfertigungsgründen.14 Dabei ist zu beachten, dass nicht bloß das Strafrecht, sondern auch das Ord10 Zur Bedeutung des Begriffs der Strafbarkeit statt desjenigen der Strafe für die „Lex van der Lubbe“ und den Streitstand in der Weimarer Republik zum gleichlautenden Art. 116 WRV vgl. den sehr interessanten und instruktiven Beitrag von V. Epping, Der Staat 34 (1995), 243 ff. 11 Aus der fast unübersehbaren Flut an Literatur zu Art. 103 Abs. 2 GG und dem insoweit gleichlautenden § 1 StGB siehe insbesondere die Rspr. des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 92, 1, 13 ff.; 73, 206, 235 ff.; 71, 108 114 ff.; H. Rüping, in: BK-GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 45 ff. C. Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 Rn. 70 ff.; C. Starck, VVDStRL 34 (1976), 43, 79 ff. = ders., Der demokratische Verfassungsstaat, S. 89 ff.; H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 103 II Rn. 40 f.; W. Küper, JuS 1996, 783, ff. Aus der monographischen Literatur sind zu nennen H.-L. Schreiber, Gesetz und Richter, passim; V. Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, passim; M. Krahl, passim; B. Schünemann, passim. 12 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 Rn. 70; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 103 II Rn. 40 f. 13 So BVerfGE 71, 108, 115; 73, 206, 234 f.; 92, 1, 12; siehe auch Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 Rn. 70; wie das Bundesverfassungsgericht wohl auch Starck, VVDStRL 34 (1976), 43, 80, der ausführt, dass der Richter aufgrund der Flüssigkeit der Grenze zwischen Analogie und Auslegung eine Annäherung an diese Grenze begründen müsse, wodurch die Richter von einer ausdehnenden Auslegung von Strafnormen zurückgehalten werden sollen; siehe auch Küper, JuS 1996, 783, 786 f., der sich aber sehr kritisch zur Formulierung des Bundesverfassungsgerichts äußert. Gegenüber einer noch zulässigen ausweitenden Interpretation zeigen sich eher offen BGHSt 16, 87, 88; Rüping, in: BK-GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 44; ebenso SK-Rudolphi, StGB § 1 Rn. 22. 14 Dieses ist zumindest im Hinblick auf die teleologische Extension umstritten. Vgl. dazu die in der vorherigen Fußnote Genannten.

D. Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung

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nungswidrigkeitenrecht15 sowie das Disziplinar- und Standesrecht16 dem Verbot des Art. 103 Abs. 2 GG unterfallen.17 Aus dem in Art. 103 Abs. 2 GG verankerten Bestimmtheitsgebot für strafrechtliche Normen ergibt sich, dass der Gesetzgeber selbst zu entscheiden hat, welches Verhalten er als strafwürdig erachtet. Ergeben sich in einem Fall aus Sicht des Gerichts Strafbarkeitslücken, so ist es also nicht seine Aufgabe, diese zu schließen. Vielmehr ist es Sache des Gesetzgebers, die Lücke durch eine Norm aufzufüllen oder sie als nicht schließungsbedürftig bestehen zu lassen. Als Beispiel kann hier der bekannte Fall vom Stromdiebstahl angeführt werden, auf den der Gesetzgeber mit der Schaffung des § 248c StGB reagiert hat. Dieses Verständnis des Art. 103 Abs. 2 GG als Analogieverbot, also als strengen Gesetzesvorbehalt, welcher die Gerichte auf die Auslegung von gesetzlich geschaffenen Straftatbeständen beschränkt, lässt sich auch historisch-genetisch belegen. Art. 103 Abs. 2 GG ist nämlich als Antwort auf das Analogiegebot des § 2 StGB 1935 geschaffen worden, dessen Aufhebung zuvor schon vom Alliierten Kontrollrat proklamiert und 1946 gesetzlich angeordnet worden ist.18 Damit kann man Art 103 Abs. 2 GG als echte Grenze richterlicher Rechtsfortbildung begreifen. b) Art. 104 Abs. 1 GG Eine weitere Limitierung richterlicher Rechtsfortbildungsgewalt könnte sich aus Art. 104 Abs. 1 GG ergeben, welcher einen förmlichen Gesetzesvorbehalt für Einschränkungen der Fortbewegungsfreiheit festschreibt.19 So bestimmt Art. 104 Abs. 1 GG, dass die Freiheit nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der dort vorgeschriebenen Formen beschränkt werden kann. Das Recht der persönlichen Fortbewegungsfreiheit, das in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG unter Gesetzesvorbehalt gestellt wird, wird in Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG noch einmal dadurch gestärkt, 15

Vgl. dazu ausdrücklich die dem Art. 103 Abs. 2 entsprechende Vorschrift des § 3 OWiG. 16 BVerfGE, 60, 215, 233 f.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 103 II Rn. 16; Pieroth/Schlink, Rn. 1085; a. A. ist Rüping, in: BK-GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 78. 17 So auch Schmidt, VerwArch 2006, 139, 153. 18 Dazu etwa Schmidt, VerwArch 2006, 139, 153. 19 So die h. M. hinsichtlich der Freiheitsbeschränkung vgl. etwa BVerfGE 29, 183, 195; 83, 24, 31; BVerfG (K), NStZ 1995, 399 f.; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 104 Rn. 10; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 104 Rn. 30; Kunig, in: v. Münch/ders., GGK III, Rn. 10 zu Art. 104; Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 104 Rn. 26; A. Podlech, AK-GG, Art. 104 Rn. 21; O. Bachof, JZ 1951, 737 ff.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

dass dort der Vorbehalt eines förmlichen Gesetzes errichtet wird, also für eine Beschränkung ein Parlamentsgesetz erforderlich ist.20 Aus eben jenem Vorbehalt des Parlamentsgesetzes wird das Analogieverbot des Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG hergeleitet.21 Wenn nämlich die Freiheit des Einzelnen nur durch ein förmliches Gesetz beschränkt werden kann, so darf der Richter nicht im Wege der Rechtsfortbildung neue Beschränkungstatbestände schaffen.22 Auch im Hinblick auf Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit muss sich der Gesetzgeber beim Wort nehmen lassen. Dieses ist vor dem Hintergrund der Wertungen des Grundgesetzes auch zwingend. Bedenkt man nämlich, dass Art. 104 Abs. 1 GG bereits für Eingriffe in die persönliche Freiheit eine gesetzliche Grundlage fordert, so muss dies erst recht für ein so hohes Verfassungsgut wie die körperliche Unversehrtheit gelten, welche in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG als unverletzlich bezeichnet wird.23 Insoweit besteht ebenfalls ein Analogieverbot. Folglich muss man den strengen Vorbehalt des förmlichen Gesetzes als Analogieverbot und somit als Rechtsfortbildungsgrenze deuten. c) Weitere verfassungsrechtliche Analogieverbote Vereinzelt werden noch weitere Analogieverbote etwa aus den übrigen Grundrechten oder den Staatsprinzipien diskutiert, zumeist jedoch abgelehnt. So wird insbesondere erwogen aus dem Demokratie- oder Bundesstaatsprinzip Grenzen zu gewinnen. Einen Ansatz, der hier noch erwähnt werden sollte, verfolgt Schmidt, der aus dem Bundesstaatsprinzip begründet, dass das dem Rang nach übergeordnete Bundesrecht nicht durch nachrangiges Landesrecht im Wege der Rechtsfortbildung ergänzt werden könne.24 Insoweit könnte man auch hier von einen verfassungsrechtlichen Analogieverbot sprechen. Weitere ausdrückliche Analogieverbote neben Art. 103 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 1 GG sind aus der Verfassung nicht abzulesen.

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Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 104 Rn. 26. Ein Analogieverbot nehmen auch Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 104 Rn. 26; Kunig, in: v. Münch/ders., GGK III Rn. 10 zu Art. 104; sowie Schmidt, VerwArch 2006, 139, 157 an. 22 Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 104 Rn. 26; Kunig, in: v. Münch/ders., GGK III Rn. 10 zu Art. 104; Schmidt, VerwArch 2006, 139, 157. 23 Diese überzeugende Argumentation findet sich bei Schmidt, VerwArch 2006, 139, 157. 24 Schmidt, VerwArch 2006, 139, 159 f. 21

D. Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung

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d) Rechtsstaatsprinzip/Kernbereichslehre Wesentliches Element des Rechtsstaatsprinzips ist die Bindung des Richters an Gesetz und Recht. Auch hieraus kann man Schranken für die richterliche Rechtsfortbildung ziehen. Einen weiteren Ansatzpunkt für die Bestimmung der Grenzen richterlicher Gewalt bietet das Gewaltenteilungsprinzip. Es enthält den Gedanken der sachgemäßen Aufgabenzuweisung, der bei der Bestimmung der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung aufschlussreich sein könnte.25 Das Gewaltenteilungsprinzip besagt dabei zunächst, dass keine Gewalt in den Vorbehaltsbereich, das heißt den Kernbereich der anderen übergreifen darf.26 Dieses Prinzip wird teilweise auch im Rechtsstaatsprinzip verankert.27 Mit der Bestimmung der Kernbereiche der Gesetzgebung und der Verwaltung kann somit schon eine verfassungsrechtliche Grenze richterlicher Rechtsfortbildung gewonnen werden. Neben dem Vorbehaltsbereich besteht aber noch der Zugriffsbereich. Dieser stellt den Maximalbereich der Aufgaben einer Gewalt dar, also die Summe derjenigen Aufgaben, die eine Gewalt höchstens ohne Eingriff in den Vorbehaltsbereich einer anderen wahrnehmen darf.28 aa) Judikative im Verhältnis zur Legislative Die Abgrenzung der Gewaltenbereiche von Rechtsprechung und Gesetzgebung hat über die Bindung des Richters an Gesetz und Recht aus Art. 20 Abs. 3 GG, beziehungsweise an das Gesetz aus Art. 97 Abs. 1 GG zu erfolgen. Bevor der Richter zur Rechtsfortbildung schreitet, sollte er deswegen alle methodischen Mittel der Auslegung bemüht haben, diese Möglichkeiten jedoch versagen.29 Als Kernbereich der Gesetzgebung ist die Setzung der abstrakt-allgemein verbindlichen Normen, als jener der Rechtsprechung – und freilich auch der Verwaltung – die Anwendung dieser Normen im konkreten Rechtsstreit eindeutig auszumachen. (1) Rechtsprechung praeter legem Rechtsprechung praeter legem bedeutet, dass eine Entscheidung dem Wortlaut zwar nicht widerspricht, sich aber auch nicht auf ihn stützt, sei es deswegen, weil das Gesetz die Entscheidung offen lässt, sei es weil Wort25 26 27 28 29

So Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 253. Dazu Gusy, DÖV 1992, 461, 462. So Stein, NJW 1964, 1745, 1746. Einleuchtend vertreten von Gusy, DÖV 1992, 461, 462. So Stein, NJW 1964, 1745, 1748.

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laut und Sinn und Zweck sich widersprechen.30 Es handelt sich dabei folglich um gesetzesimmanente Rechtsfortbildung. Sie ist rechtsprechende Tätigkeit außerhalb des Bereiches der sie bindenden Normen, also in Fällen, in denen keine Rechtsnorm tatbestandlich anwendbar ist.31 Dabei geht es um methodisch geleitete Rechtsfortbildung über die Auslegungsgrenze des möglichen Wortsinns hinaus, aber noch im Rahmen des Plans, der Teleologie des Gesetzes selbst.32 Es handelt sich also um die Ausfüllung einer Gesetzeslücke, um zu einer rechtlichen Lösung eines Einzelfalls zu kommen.33 Der Unterschied zwischen Gesetzesanwendung und Rechtsfortbildung praeter legem liegt in der Gesetzesbindung. Bei der Gesetzesanwendung besteht eine Bindung an die bestehende Norm. Ist, wie im Bereich der Rechtsfortbildung praeter legem, ein bestimmter Tatbestand hingegen nicht geregelt, so ist Art. 20 Abs. 3 GG nicht anwendbar.34 Demnach liegt die Rechtsfortbildung praeter legem im Zugriffsbereich der Judikative, soweit dadurch nicht in den Vorbehaltsbereich der gesetzgebenden Gewalt eingegriffen wird. Eine Schranke ist der Rechtsprechung insofern gesetzt, als an die zu schaffende Norm gewisse Anforderungen bestehen. Eine solche Anforderung bildet etwa der Vorbehalt des Gesetzes.35 Grundrechtseingriffe bedürfen danach nicht bloß irgendeiner Rechtsnorm als Ermächtigungsgrundlage, sondern erfordern eine gesetzliche, also eine demokratisch besonders legitimierte Grundlage; der Gesetzesvorbehalt ist als Parlamentsvorbehalt zu verstehen.36 Folglich ist Rechtsfortbildung praeter legem unzulässig, soweit der Vorbehalt des Gesetzes reicht.37 (2) Rechtsprechung contra legem Rechtsprechung contra legem bedeutet gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung, liegt also vor, wenn das Gericht gegen den Wortlaut des Gesetzes eine Entscheidung trifft, die mit der abstrakten Aussage der Norm unverein30

Vgl. Koller, S. 223. Gusy, DÖV 1992, 461, 463. 32 Larenz, Methodenlehre, S. 366. 33 Siehe nur Koller, S. 221; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 473 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 366. 34 Ebenso Gusy, DÖV 1992, 461, 463. 35 Dazu K. Schlaich/S. Korioth, Rn. 294; Ipsen, DVBl. 1984, 1102, 1105; Gusy, DÖV 1992, 461, 463. 36 So vertreten von Pieroth/Schlink, Rn. 264; Ipsen, DVBl. 1984, 1102, 1105. 37 Dies ist die Hauptkritik bei G. Roellecke in: JZ 1990, 813, 815; auch Gusy, DÖV 1992, 461, 464. 31

D. Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung

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bar ist.38 Eine solche Rechtsfortbildung kann nicht einfach mit dem Zugriffsbereich der Justiz gerechtfertigt werden. Vielmehr unterliegt die Rechtsprechung dem Rahmen, den ihr das Grundgesetz zieht. Dazu gehört auch die Bindung an Recht und Gesetz, die schon als Postulat des Rechtsstaatsprinzips behandelt wurde, aber auch im Bereich des Gewaltenteilungsgrundsatzes von Belang ist. Diese Bindung ist nicht einfach durch „richtige“ Erkenntnis des Richters zu ersetzen, da dem Gesetz nicht seine inhaltliche Richtigkeit, sondern das durch das Grundgesetz vorgesehene Erlassverfahren durch den unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgeber seine besondere Stellung verleiht.39 Über diese kann sich der Richter nicht einfach durch eine Berufung auf inhaltliche Fehlerhaftigkeit des Gesetzes hinwegsetzen. Rechtsfortbildung contra legem ist also grundsätzlich verfassungswidrig. (3) Die Radbruchsche Formel Fraglich ist, ob dieses Verbot der Rechtsfortbildung contra legem uneingeschränkt gilt. Einen rechtsphilosophischen Ansatz zur Gesetzesbindung des Richters und die Zulässigkeit der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung bietet die Radbruchsche Formel.40 Diese geht nämlich von einer grundsätzlichen Bindung des Richters an das Gesetz aus, so dass eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung unzulässig ist. Eine Ausnahme, das heißt eine Durchbrechung des Grundsatzes der Gesetzesbindung, soll jedoch für jene Fälle bestehen, in denen das anzuwendende Gesetz evident gegen fundamentale Gerechtigkeit verstieße. Wenn der Richter mit der Anwendung des Gesetzes also nicht Recht, sondern Unrecht setzen würde.41 Unter dem Grundgesetz dürfte die Radbruchsche Formel allerdings an der Unzulässigkeit der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung, also derjenigen contra legem, nichts ändern. Im Hinblick auf die Ausformung, die das Grundgesetz durch Rechtsprechung und Lehre erfahren hat, ist kein Fall mehr denkbar, der nach Gustav Radbruch zur Nichtanwendung des geschriebenen Gesetzes berechtigen würde, dabei aber nicht gleichzeitig die Vorlagepflicht wegen vermuteter Verfassungswidrigkeit des Gesetzes an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG auf den Plan riefe. 38

Siehe dazu Larenz, Methodenlehre, S. 366; ebenso Gusy, DÖV 1992, 461,

464. 39

Gusy, DÖV 1992, 461, 464. Andeutungsweise, jedoch ohne Hinweis auf die Radbruchsche Formel und die Notwendigkeit des Rückgriffs auf überpositives Recht ablehnend Gusy, DÖV 1992, 461, 465. 41 G. Radbruch, SJZ 1946, 105, 107 = GRGA 3 Rechtsphilosophie III, 83, 88 f. 40

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Folglich ist eine Rechtsfortbildung contra legem durch die Fachgerichte verfassungswidrig. Aber auch das Bundesverfassungsgericht kann das Gesetz nicht gegen den Wortlaut verfassungskonform auszulegen;42 es muss eine solche verfassungswidrige Norm für nichtig oder für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklären. bb) Judikative im Verhältnis zur Exekutive Der Vorbehaltsbereich der Exekutive liegt in dem Bereich der justizfreien Akte, also solchem Verwaltungshandeln, das nicht der richterlichen Kontrolle unterfällt. Dazu gehören die Kompetenz zur Bestimmung der Richtlinien der Politik (Art. 65 S. 1 GG) oder das Recht auf Erlass von Rechtsverordnungen (Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG) aus dem Bereich des Regierungshandelns,43 man wird dazu aber auch Verwaltungshandeln der Exekutive zählen müssen, in dessen Bereich die richterliche Kontrolle auf bestimmte Fehler zurückgenommen ist, weil der Behörde Ermessen eingeräumt ist, da sie über besondere Sachkunde verfügt.44 Als weiteres Beispiel für den Vorbehaltsbereich der Exekutive können aus dem Verwaltungsrecht die unbestimmten Rechtsbegriffe mit Beurteilungsspielraum dienen.45 In diesem Kernbereich der Exekutivgewalt ist eine richterliche Tätigkeit und damit auch Rechtsfortbildung unzulässig, da sie gegen das Gewaltenteilungsprinzip verstieße. cc) Zwischenergebnis Danach obliegt es in erster Linie dem Gesetzgeber, Recht zu setzten, hingegen ist es Aufgabe der Gerichte, dieses im Einzelfall anzuwenden. Richterliche Rechtsfortbildung ist nun im Prinzip ein Übergriff in den Kompetenzbereich des Gesetzgebers. Die ausdrücklichen Grundgesetzbestimmungen über die Bindung des Richters an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) oder an das Gesetz (Art. 97 Abs. 1 GG) können keine klaren, wohl aber die äußersten Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung aufzeigen.46

42

Zu den Schranken Simon, EuGRZ 1974, 85, 90. Diese Beispiele bei Gusy, DÖV 1992, 461, 464. 44 Zu diesem Problem etwa F. Ossenbühl in: Erichsen/Ehlers, Allg. VerwR, § 10 Rn. 15. 45 Ebenfalls als Kompetenzabgrenzungsfrage behandelt von H.-J. Wolff/O. Bachof/R. Stober, § 31 III 2 Rn. 14 ff. (S. 446). 46 Ähnlich auch Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 253. 43

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221

e) Demokratieprinzip Eine weitere verfassungsrechtliche Schranke findet die richterliche Rechtsfortbildung im Demokratieprinzips aus Art. 20 GG. Das Demokratieprinzip wird durch Art. 20 Abs. 2 S. 1, 2 GG unmittelbar mit dem Rechtsstaatsprinzip verknüpft.47 So ist der parlamentarische Gesetzgeber in einem höheren Maße demokratisch legitimiert als die Gerichte. Während der Gesetzgeber unmittelbar demokratisch legitimiert ist (zumindest der Bundestag und die Landtage, wenn auch nicht der Bundesrat), ist die Rechtsprechung nur mittelbar demokratisch legitimiert. Sie leitet ihre Legitimation vom Gesetzgeber ab.48 Als mittelbar ist dabei vornehmlich die persönliche Legitimation durch das Richterwahlverfahren (vgl. Art. 95 Abs. 2 GG; Art. 51 Abs. 3 NV) zu qualifizieren, jedoch enthält auch die sachliche Zuständigkeit durch die Zuweisung einzelner Streitgegenstände in den Prozessordnungen eine bloß vom Gesetzgeber vermittelte Legitimation. Dies bedeutet auch, dass die Gerichte nicht dieselbe politische Verantwortung tragen. Von daher kommt dem Parlament der Vorrang zu, wenn eine politische Frage zu entscheiden ist.49 So darf eine richterliche Rechtsfortbildung nicht gegen einen im Gesetzgebungsverfahren befindlichen Entwurf entwickelt werden.50 Der richterlichen Rechtssetzung sind aufgrund der Ableitung ihrer Legitimation aber auch dadurch Grenzen gesetzt, dass durch sie nicht Ergebnisse erzielt werden dürfen, die der Gesetzgeber selbst nicht erzielen dürfte. f) Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts Eine wichtige verfassungsrechtliche Schranke bei der richterlichen Rechtsfortbildung stellt das Gesetzesverwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts aus Art. 100 Abs. 1 GG dar.51 Dem einfachen Richter ist es untersagt, ein nachkonstitutionelles Gesetz als verfassungswidrig zu verwerfen.52 Bei der Frage, wann es sich um noch zulässige Auslegung oder Rechtsfortbildung oder schon um eine Verwerfung des Gesetzes handelt, können die Erkenntnisse, welche die Methodenlehre geliefert hat, Anhaltspunkte bieten. So mag die behutsame Fortbildung durch Analogie oder Restriktion noch zulässige Rechtsfortbildung sein, diese endet aber dort, wo der eindeutige Wortlaut des Gesetzes der Annahme einer Regelungslücke 47 48 49 50 51 52

Ebenso Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 207. Vgl. Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 208 ff., 211. Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 215. So Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 257. Ipsen, DVBl. 1984, 1102, 1104; ders.: Richterrecht, S. 155 ff. Vgl. nur G. Sturm in: Sachs, GG, Art. 100 Rn. 11.

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entgegensteht.53 Wenn das Gesetz den vom Richter zu entscheidenden Fall positiv regelt, ist er daran grundsätzlich gebunden, setzt er sich darüber hinweg, so betreibt er Rechtsfortbildung contra legem.54 Dies gilt auch für die Erstreckung einer Ausnahmeregel, da die Anwendung einer Sonderregel auf einen erkennbar als vom Gesetzgeber nicht als erfasst angesehenen Fall, eine partielle Verwerfung der Norm darstellt, auf die eine solche Ausnahmeregel erstreckt wird.55 Die Normverwerfung steht aber bei nachkonstitutionellen Gesetzen nach Art. 100 Abs. 1 GG nur dem Bundesverfassungsgericht zu.56 Insofern setzt der Art. 100 Abs. 1 GG den Fachgerichten Schranken bei der Rechtsfortbildung. Aber auch das Bundesverfassungsgericht darf eine verfassungswidrige Norm nicht entgegen dem eindeutigen Wortlaut verfassungskonform auslegen. 2. Methodische Grenzen Neben den verfassungsrechtlichen Grenzen werden auch stets Grenzen erwogen, welche die Methodenlehre der richterlichen Rechtsfortbildung ziehe. Dabei soll eine Rechtsfortbildung contra legem grundsätzlich unzulässig sein. Insoweit legen der eindeutige Wortlaut sowie der erkennbare Wille des Gesetzgebers dem Richter eine Rechtsfortbildungsgrenze auf. Nun kann man dieses als methodische Rechtsfortbildungsgrenze bezeichnen, jedoch muss beachtet werden, dass – sofern der Wortlaut einer Norm eindeutig abschließend oder gegenläufig ist – also eine Rechtsfortbildung contra legem erfolgt, es zumeist bereits am Erfordernis einer Regelungslücke fehlt, so dass eine Rechtsfortbildung aus dem Grund nicht zulässig ist, dass der Richter bei seiner Rechtsfortbildung hier den zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers ignoriert und damit in dessen Kernbereich übergreift. Somit ist eine Konstruktion einer solchen aus der Methodenlehre fließenden Grenze nicht notwendig, kann aber helfen, die Kernbereichsverletzung zu veranschaulichen. Eine zweite der Methodenlehre entstammende Grenze soll nach verbreiteter Auffassung der aus dem römischen Recht stammende Grundsatz singularia non sunt extendenda bilden.57 Dieser besagt, dass Ausnahmen von ei53

In diese Richtung auch Ipsen, DVBl. 1984, 1102, 1104. Die Grenzziehung durch Art. 100 Abs. 1 GG verfechtend Hillgruber, JZ 1996, 118, 119. 55 Dafür Hillgruber, JZ 1996, 118, 119. 56 So Ipsen, DVBl. 1984, 1102, 1104; Hillgruber, JZ 1996, 118, 119. 57 Zum Grundsatz singularia non sunt extendenda vgl. Dig. 40, 5 23 § 3 a. E. und Dig. 41, 2, 44 § 1; siehe auch Treder, S. 94; Honsell, in: Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts, S. 30; a. A. Zippelius, Methodenlehre, § 11 II b) (S. 69 f.). Siehe auch 54

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ner gesetzlichen Grundregel nicht ausgedehnt werden dürfen, also eng auszulegen sind.58 Insoweit dürfen solche Vorschriften nicht im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung erweitert werden und bilden damit eine Rechtsfortbildungsgrenze. Allerdings liegt dieser zunächst plausiblen Grenze bei genauerer Betrachtung ein Zirkelschluss zugrunde.59 Man legt eine Regel als Ausnahme aus, da sie nicht auf andere Konstellationen übertragbar sei und schließt daraus, im Wege der Rechtsfortbildung dürfe sie nicht auf andere Fallgestaltungen übertragen werden.60 Man dreht sich also im Kreise, ohne dass dieses Ergebnis logisch zwingend wäre. Dass es sich bei einer bestimmten Rechtsnorm um eine nicht ausdehnbare Ausnahme handelt, muss anhand anderer Kriterien herausgefunden werden und kann nicht aus der bloßen Bezeichnung als singularium her begründet werden. Diese Bezeichnung gibt vielmehr nur das anhand anderer Maßstäbe gewonnene Ergebnis wieder. Überdies vermag in der Rechtspraxis die als Ausnahme erscheinende Regel bedeutsamer zu werden als die vermeintliche Regel.61 Auch wird zu Recht darauf hingewiesen, dass die Fähigkeit einer Bestimmung, Basis eines Analogieschlusses zu werden, nicht von der systematischen Stellung im allgemeinen oder besonderen Teil eines Rechtsgebietes abhängen könne.62 Der Grundsatz singularia non sunt extendenda ist folglich als eigene Rechtsfortbildungsgrenze nicht tauglich. 3. Ergebnis zu den Rechtsfortbildungsgrenzen im deutschen Recht Grenzen richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz ergeben sich im deutschen Recht vorwiegend aus der Verfassung. Zu nennen sind hier einerseits die Analogieverbote des Art. 103 Abs. 2 GG und des Art. 104 Abs. 1 GG, welche sich teilweise auch einfachgesetzlich normiert wiederfinden (vgl. § 1 StGB, § 3 OWiG). Auf der anderen Seite lassen sich gewisse Grenzen auch aus dem Rechtsstaats- und dem Demokratieprinzip gewinnen. Aus der Methodenlehre hingegen kann man hingegen keine Grenzen gewinnen, jedoch vermag sie die anhand der Verfassung gewonnenen Ergebnisse zu verdeutlichen und methodisch zu stützen. RGZ 65, 362. Zu diesem Grundsatz in der Rechtsprechung des EuGH vgl. T. Schilling, EuR 1996, 44 ff. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs. 58 Treder, S. 94; Honsell, in: Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts, S. 30; a. A. Zippelius, Methodenlehre, § 11 II b) (S. 70), der ausführt, dass Ausnahmetatbestände ihrerseits verallgemeinerungsfähig sein können. 59 So auch Treder, S. 94. 60 Treder, S. 94. 61 Kramer, S. 156; Schmidt, VerwArch 2006, 139, 154. 62 Schmidt, VerwArch 2006, 139, 154.

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III. Grenzen der Rechtsfortbildung in der französischen Rechtsordnung Auch im französischen Recht können bestimmte Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung herausgearbeitet werden. Eine Begrenzung der Kompetenz zur richterlichen Rechtsfortbildung, welche das Problem der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung auch im Kern berührt, wird in Art. 5 Code civil angedeutet. Darin wird es dem Richter nämlich untersagt, auf das Gebiet des Gesetzgebers einzudringen. 1. Art. 5 Code civil als Grenze richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz Im französischen Recht wird als Grenze richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz stets auf den Art. 5 Code civil verwiesen.63 Dieser schränkt den Gestaltungsrahmen, den Art. 4 Code civil dem Richter mit dem Verbot des déni de justice eröffnet dahingehend ein, dass er den Gerichten untersagt, allgemeine Rechtsnormen zu schaffen, wenn er formuliert: „Il est défendu aux juges de prononcer par voie de disposition générale et réglementaire sur les causes qui leur sont soumises.“64

Damit soll klargestellt werden, dass es niemals Aufgabe der Gerichte sein kann, selbst wenn sich das Gesetz als unzureichend oder lückenhaft darstellen sollte, diese Lücken durch echte, allgemeine Rechtsnormen aufzufüllen. Diese Aufgabe bleibt vielmehr dem Gesetzgeber vorbehalten.65 Der Richter hat die Gesetzeslücke also nur im Hinblick auf die konkrete, ihm gerade vorliegende Rechtsstreitigkeit auszufüllen.66 Dieses Misstrauen gegen die allgemeinen, von den Richtern geschaffenen Normen liegt historisch in der Ablehnung der Willkürrechtsprechung der Parlements des Ancien Régimes begründet und stützt sich zudem auf den Gedanken der Gewaltenteilung.67 63

Siehe etwa mit Nachdruck Malaurie/Morvan, Introduction générale, p. 279 (Rn. 359), der a. a. O. auch auf Portalis verweist, welcher in seiner Vorbemerkung zu Art. 5 ausführte: „Mais en laissant à l’exercice du ministère du juge toute la latitude convenable, nous lui rappelons les bornes qui dérivent de la nature même de son pouvoir. Un juge est associé à l’esprit de législation: mais il ne saurait partager le pouvoir législatif.“ Zitiert nach Malaurie/Morvan, a. a. O., Fn. 130. 64 Zu deutsch: „Es ist den Richtern untersagt im Wege allgemeiner und normativer Verfügung über die ihnen unterbreiteten Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden.“ 65 Malaurie/Morvan, Introduction générale, p. 280 (Rn. 359); so auch Terré, p. 277 (Rn. 279). 66 Malaurie/Morvan, Introduction générale, p. 280 (Rn. 359); ebenso Terré, p. 277 (Rn. 279). 67 Terré, p. 277 (Rn. 279).

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Damit zieht Art. 5 Code civil der richterlichen Rechtsfortbildung insoweit eine Grenze, als er stets einen konkreten Fallbezug fordert. Rechtsfortbildende obiter dicta sind damit ebenso ausgeschlossen, wie der Anspruch, eine allgemeinverbindliche Ausfüllung einer Gesetzeslücke vorgenommen zu haben. 2. Sonstige, sich aus dem französischen Verfassungsrecht ergebende Grenzen Freilich ergeben sich auch in Frankreich Rechtsfortbildungsgrenzen nicht nur aus Art. 5 Code civil, auch wenn weitgehend nur dieser im Zusammenhang mit den Grenzen des droit jurisprudentiel behandelt wird.68 Vielmehr müssen sich, ganz ähnlich dem deutschen Recht, auch gewisse Grenzen für die richterliche Rechtsfortbildung aus der Verfassung gewinnen lassen. a) Art. 7 Déclaration des droits de l’homme et du citoyen Zweifellos bildet etwa Art. 7 S. 1 der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen vom 26. August 1789 (DDHC) eine solche Rechtsfortbildungsschranke. Er bestimmt nämlich, dass „Nul homme ne peut être accusé, arreté ni détenu que dans les cas déterminés par la loi, et selon les formes, qu’elle a préscrites.“69 Damit postuliert Art. 7 DDHC – ebenso wie der ihm entsprechende Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG – einen strengen Gesetzesvorbehalt, der erweiternde richterliche Rechtsfortbildung ausschließt.70 Die persönliche Fortbewegungsfreiheit kann eben nur in den gesetzlich bestimmten Fällen eingeschränkt werden, nicht aber in den Fällen, die den gesetzlich bestimmten lediglich ähnlich sind, und auf die die gesetzliche Bestimmung analog ange68 Gewisse Grenzen, die sich aus dem Verfassungsrecht ergeben, wie das Gewaltenteilungsprinzip, finden sich allerdings – wenn auch nur in Bezug auf die Verfassungsgerichtsbarkeit bei F. Luchaire, p. 471 ff. Luchaire, p. 24 f., betont allerdings auch die Notwendigkeit richterlicher Rechtsfortbildung im Bereich der Grundrechte, aufgrund des „silence du texte“ der Menschenrechtserklärung von 1789. 69 In deutscher Übersetzung lautet der französische Auszug aus Art 7 S. 1 DDHC: dass, „kein Mensch angeklagt, verhaftet oder gefangengehalten werden kann, es sei denn in den durch das Gesetz bestimmten Fällen und in den von ihm vorgeschriebenen Formen.“ 70 Siehe dazu grundsätzlich Luchaire, p. 85: „En effet, comme le constate encore le Conseil constitutionnel l’article 66, en réaffirmant ce principe, en confie la garde à l’autorité judiciaire; il aurait pu ajouter que ce même article réserve à la loi le soin de prévoir dans quelles conditions – et donc dans quelles limites – le respect de ce principe doit être assuré. C’est pourquoi notament toujours d’après le Conseil (28 novembre 1973, p. 45) seul le législateur peut définir des infractions définies par des peines privatives de liberté.“ (Hervorhebung von mir.)

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wendet werden könnte.71 Eine Befugnis, derartige Analogieschlüsse zu ziehen, steht dem Richter also nicht zu. Dies wird auch deutlich, wenn man den zweiten Teil des Art. 7 DDHC betrachtet: „ceux qui sollicitent, expédient, exécutent ou font exécuter des ordres arbitraires, doivent êtres punis“.72 Insoweit bildet Art. 7 DDHC eine Rechtsfortbildungsgrenze für die französischen Gerichte, wie sie auch schon bei Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG für die deutsche Gerichtsbarkeit festgestellt werden konnte. b) Art. 8 S. 2 Déclaration des droits de l’homme et du citoyen Eine weitere Rechtsfortbildungsschranke könnte sich aus dem dem Art. 103 Abs. 2 GG entsprechenden Art. 8 Hs. 2 DDHC ergeben, der bestimmt, dass „nul ne peut être puni qu’en vertu d’une loi établie et promulgée antérierement au délit, et légalement appliquée.“73 Mit der Formulierung „légalement appliquée“ (rechtmäßig angewendet) weist Art. 8 Hs. 2 DDHC jede das Gesetz zulasten des Angeklagten erweiternde richterliche Rechtsfortbildung zurück.74 Damit errichtet auch Art. 8 Hs. 2 DDHC ein Analogieverbot und somit eine Rechtsfortbildungsgrenze. c) Weitere aus der Verfassung fließende Grenzen Weitere Rechtsfortbildungsgrenzen werden soweit ersichtlich in der französischen Methodenlehre nicht diskutiert. Dennoch kann man – ebenso wie im deutschen Verfassungsrecht auch – gewisse Kernbereiche, die anderen Staatsgewalten zugeordnet sind, ausmachen, wie das Haushaltsrecht, welches dem Parlament in Art. 47 frz. Verfassung75 zugewiesen worden ist. Rechtsfortbildungen, welche unmittelbar die Entscheidungshoheit des Parlaments in Bezug auf die Staatsfinanzen infrage stellen würden, sind aufgrund des Haushaltsrechts des Parlaments also abzulehnen.76 Auch zieht der Vorbehalt des Gesetzes, welcher in Frankreich unter dem Begriff sous réserve de la loi erörtert wird,77 der richterlichen Rechtsfortbil71

Luchaire, p. 85. Luchaire, p. 85. 73 Die französische Textstelle bestimmt, dass „keiner bestraft werden kann, wenn nicht ein Gesetz, dass vor der Straftat erlassen und verkündet worden ist und rechtmäßg angewendet wird, dieses bestimt.“ 74 Auch hierauf bezieht sich Luchaire, p. 85. 75 Verfassung der Republik Frankreich v. 4.10.1958, zuletzt geändert am 1.3.2005. 76 Luchaire, p. 85. 77 Siehe etwa L. Favoreu, Rn. 1243 f., Rn. 1270. 72

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dungskompetenz gewisse Grenzen. Wo nämlich der Gesetzesvorbehalt eingreift, kann die gesetzliche Regelung zumindest nicht vollständig durch richterliche Rechtsfortbildung ersetzt werden. 3. Ergebnis zu den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung in Frankreich Die in der Lehre meistbeachtete Grenze wird der richterlichen Rechtsfortbildung in Frankreich durch Art. 5 Code civil gezogen. Dieser verbietet den Richtern „de prononcer par voie de disposition générale et réglementaire sur les causes qui leur sont soumises“ und formt damit eine klare Grenze, da es damit verboten ist, richterrechtliche Normen zu schaffen, die über den konkret zu entscheidenden Fall hinaus Allgemeingültigkeit beanspruchen. Aber auch die Habeas-corpus-Bestimmung des Art. 7 DDHC und der Nulla-poena-sine-lege-Grundsatz aus Art. 8 Hs. 1 DDHC setzen – wie auch im deutschen Recht – der richterlichen Rechtsfortbildungskompetenz Grenzen und fordern ein förmliches Gesetz. Wenn dieses auch nicht in der französischen Doktrin erörtert wird, so kann man doch auch in weiteren Rechtsbereichen, etwa im Anwendungsbereich des allgemeinen Gesetzesvorbehalt oder beim Haushaltsprivileg des Parlaments aus Art. 47 frz. Verfassung gewisse Kompetenzschranken bejahen, die eine richterliche Rechtsfortbildungskompetenz ausschließen. 4. Vergleich der Grenzen in Deutschland und Frankreich Vergleicht man nunmehr die im deutschen Recht gefundenen Grenzen mit den soeben zum französischen Recht herausgearbeiteten, so lässt sich festhalten, dass sich die Rechtsfortbildungsgrenzen im deutschen und französischen Recht gleichen. Ein Unterschied ergibt sich lediglich daraus, dass mit Art. 5 Code civil im französischen Recht eine ausdrückliche Rechtsfortbildungsschranke normiert ist. Dieser Unterschied lässt sich dadurch erklären, dass der Code civil mit Art. 4 auch eine ausdrückliche Lückenschließungsermächtigung und somit eine die Rechtsfortbildung betreffende Regelung aufgenommen hat, so dass Art. 5 Code civil als Begrenzung desselben notwendig erscheint.

IV. Grenzen der Rechtsfortbildung im Europarecht Im Folgenden soll nun versucht werden, Grenzen herauszuarbeiten, die der EuGH zu achten hat, will er sich bei seiner Rechtsfortbildung nicht dem Vorwurf des Judizierens contra pactum aussetzen.

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Dabei sind insbesondere die Erkenntnisse, welche zu Anfang dieses Abschnittes herausgearbeitet worden sind, namentlich die Rückführung der Grenzen der Rechtsfortbildungskompetenz auf die Verbands- und die Organkompetenz, Berücksichtigung finden.78 1. Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe Zunächst sollen Vorschriften des Vertrages untersucht werden, aus denen sich die Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe ergeben, also solche, nach welchen sich die Verbandskompetenz der Gemeinschaften bestimmt. Die Verbandskompetenz der Europäischen Gemeinschaften wird durch zwei Prinzipien bestimmt, nämlich durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und das Subsidiaritätsprinzip.79 Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 EGV) betrifft dabei die Frage ob die Gemeinschaft überhaupt zuständig ist, das Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 2 EGV) hingegen spielt eine Rolle bei der Frage nach dem „ob“ der Gemeinschaftszuständigkeit im Bereich der konkurrierenden Zuständigkeiten.80 a) Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 5 Abs. 1 EGV aa) Bedeutung Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung prägt die Gemeinschaft maßgeblich, da es den Schlüssel zum Verständnis der Verbandskompetenzen der Gemeinschaft liefert. Bevor sich die Frage nach dem Subsidiaritätsprinzip überhaupt stellt, ist gewissermaßen als Vorfrage zu klären, ob die Gemeinschaft zur Regelung einer bestimmten Frage überhaupt ermächtigt ist.81 In Art. 5 Abs. 1 EGV heißt es hierzu: „Die Gemeinschaft wird innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig.“

Dieser Satz bedeutet, dass Organe der Gemeinschaften nur tätig werden dürfen, wenn und soweit sich im EG-Vertrag hierfür eine Ermächtigungs78 Zu Umfang und Grenzen der richterlichen Kontrollfunktion in Bezug auf den EuGH vgl. allgemein auch F. Schockweiler, EuR 1995, 191 ff. 79 So etwa v. Bogdany/Bast, EuGRZ 2001, 441, 444. 80 So C. Callies, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 68, der hinsichtlich des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung zutreffend von einer „Kann“-Frage spricht; siehe auch schon H.-P. Kraußer, S. 13 f., 20 ff. 81 Vgl. Callies, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 69 f.; siehe auch Kirchhof, JZ 1998, 965, 969; Jarass, AöR 121 (1996), 173, 174; siehe auch K. Lenaerts/P. van Ypersele, CDE 1994, 3, 34 ff.

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grundlage findet.82 Damit formuliert Art. 5 Abs. 1 EGV, was bereits vor der ausdrücklichen Aufnahme in den Vertrag aus den Art. 3, 7 Abs. 1, 202, 211 Uabs. 2 und 249 Abs. 1 als Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung im Wege der Auslegung hergeleitet worden ist.83 Betrachtet man Art. 5 Abs. 1 EGV genau, so kann man feststellen, dass er so weit gefasst ist, dass jede Handlungsform der Gemeinschaft von ihm umfasst ist. Art. 5 Abs. 1 EGV legt also fest, dass jegliches Handeln, gleich welchen Gemeinschaftsorgans nur im Rahmen (Art. 5 Abs. 1 spricht sogar von Grenzen) der diesen zugewiesenen Befugnisse tätig werden darf. Allerdings müssen die Befugnisse hierbei nach allgemeiner Ansicht nicht ausdrücklich zugewiesen sein, vielmehr sind auch die sog. „implied powers“ der Gemeinschaft von Art. 5 Abs. 1 EGV gedeckt.84 Somit lässt sich für die Begrenzung richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz folgendes festhalten: Sofern der Gemeinschaft im Vertrag keine Befugnisse verliehen worden sind, verbietet Art. 5 Abs. 1 EGV dem Gerichtshof, rechtsfortbildend tätig zu werden. Aber auch eine andere Grenze wird durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung postuliert. Nach Art. 5 Abs. 1 EGV darf die Gemeinschaft nämlich auch nur innerhalb der ihr gesetzten Ziele tätig werden. Eine über die Zielverwirklichung hinausgehende Kompetenzausübung, die sich durch keines der den Gemeinschaften gesetzten Zielen legitimieren lässt, ist damit unzulässig, also auch eine dahingehende Rechtsfortbildung. Das in Art. 5 Abs. 1 EGV niedergelegte Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ist aber auch Ausdruck der Tatsache, dass den Europäischen Gemeinschaften keine Kompetenzkompetenz zukommt, also davon, dass die Mitgliedstaaten noch stets die Herren der Verträge sind.85 Dies 82 Vgl. Callies, in: ders./Ruffert, EUV/EGV, Art. 5 EGV, Rn. 8 f.; Kraußer, S. 20 f. (noch vor der Aufnahme des Art. 5 Abs. 1 in den EG-Vertrag); v. Bogdandy/Bast, EuGRZ 2001, 441, 444; Nettesheim, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 414, 421 ff.; Lenaerts, CMLR 28 (1991), 11 ff. 83 Nettesheim, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 414, 422, der zutreffend darauf hinweist, dass sich das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung noch stets anhand dieser Vorschriften belegen lässt; siehe auch Callies, in: ders./Ruffert, EUV/EGV, Art. 5 Rn. 8; Auf diese Bestimmungen weist auch Kraußer, S. 20 f. (noch vor der Aufnahme des Art. 5 Abs. 1 in den EG-Vertrag) hin; zur Rechtslage vor Schaffung des Art. 5 Abs. 1 EGV auch Lenaerts, CMLR 28 (1991), 11 ff. 84 So Nettesheim, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 414, 422 f., 433 f.; Jarass, AöR 121 (1996), 173, 174, 176; Callies, in ders./Ruffert, EUV/EGV, Art. 5 EGVRn. 13 ff.; wegweisend zu den implied powers G. Nicolaysen, EuR 1966, 129 ff. 85 Richtig Callies, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 69 f.; Nettesheim, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 414, 422; K. Lenaerts, CMLR 28 (1991), 11.

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kann auch vor dem Hintergrund, dass durch Vorschriften in den mitgliedstaatlichen Verfassungen wie Art. 23 GG Kernbereiche bestehen, welche nicht an eine supranationale Einrichtung aufgebbar sind, nicht anders sein. Insoweit lassen sich aus dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in Art. 5 Abs. 1 EGV noch einige besondere Grenzen für die Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof finden, die, da der EuGH als Organ der Gemeinschaft nur durch Recht derselben in seinen Kompetenzen beschränkt sein kann, europarechtlich ihre Verankerung eben in Art. 5 Abs. 1 EGV finden. Wie sich dieses mit den Kernbereichen aus den nationalen Verfassungen vereinbaren lässt, soll nun im Einzelnen näher beleuchtet werden. bb) Kernbereiche nationaler Verfassungen Teilweise finden sich in den nationalen Verfassungen Normen, welche unantastbare Verfassungspositionen festlegen, die auch nicht durch Integration in eine supranationale Union aufgegeben werden dürfen. Freilich können diese Bestimmungen unmittelbar keine Verpflichtung für die Europäischen Gemeinschaften bedeuten, da ihre Organe nicht an nationales Verfassungsrecht gebunden, sondern ausschließlich dem primären Gemeinschaftsrecht unterworfen sind.86 Nichtsdestotrotz können diese Regelungen als Indizien für eine Begrenzung der Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH von Bedeutung sein. In ihnen werden nämlich die vom nationalen Verfassungsrecht an die Gemeinschaft herangetragenen Grenzen der Integration und damit zugleich auch die Grenzen der Übertragbarkeit von Hoheitsrechten an dieselbe festgelegt.87 So findet etwa nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG die Integration von deutscher Seite her ihre allerletzte Schranke letztlich in der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG. Was nicht einmal der deutsche verfassungsändernde Gesetzgeber durch eine Grundgesetzänderung erreichen kann, das kann auch nicht durch Übertragung von Befugnissen auf die supranationale Ebene erreicht werden.88 Somit können den Gemeinschaften keine Befugnisse eingeräumt werden, welche die in Art. 23 Abs. 1 S. 3 und Art. 79 86 Ebenso H.-B. Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG, Art. 23 Rn. 6. 87 Siehe auch Brockmeyer, in Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG, Art. 23 Rn. 6; Jarass/Pieroth, Art. 23 Rn. 7, 30, 36; R. Streinz, in: Sachs, GG, Art. 23 Rn. 16; siehe auch R. Scholz, NJW 1992, 2593, 2594 ff. Zu den Konfliktsituationen, die sich auch schon vor der Neufassung des Art. 23 GG gestellt haben siehe H. Henrichs, EuGRZ 1990, 413 ff. 88 Siehe nur C.-D. Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 23 Rn. 21 f.; Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG, Art. 23 Rn. 6.

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Abs. 3 GG verankerten Grundsätze verletzen. Dahinter steht m. E. auch der allgemeine Rechtsgedanke, dass niemand mehr Rechte übertragen könne, als er innehabe.89 Können aber Befugnisse, welche diese unaufgebbaren Verfassungswerte beeinträchtigen würden, vom pouvoir constitué nicht übertragen werden, so ist davon auszugehen, dass solche Befugnisse jedenfalls außerhalb der begrenzten Einzelermächtigung nach Art. 5 Abs. 1 EGV anzusiedeln sind, so dass diese Verfassungsbestimmungen über den Umweg des Art. 5 Abs. 1 EGV dennoch Bedeutung für die Gemeinschaft und ihre Organe erlangen. Die diesen Klauseln der nationalen Verfassungen unterfallenden Prinzipien, liegen jedenfalls außerhalb der Verbandskompetenz der Europäischen Gemeinschaften, weil sie bereits nicht dem Machtbereichs des jeweiligen nationalen pouvoir constitué zuzuordnen sind. Sind aber Verletzungen dieser nationalen Verfassungsprinzipien nicht von der Verbandskompetenz der Gemeinschaften umfasst, so kann der Gerichtshof das Gemeinschaftsrecht auch nicht in der Weise fortbilden, dass die verbürgten Verfassungspositionen hierdurch verletzt werden. Insoweit lässt sich aus den Verfassungsbestimmungen über den Umweg des Art. 5 Abs. 1 EGV eine Rechtsfortbildungsgrenze erster Stufe für den EuGH gewinnen. Deshalb sollen im Folgenden die Inhalte einiger dieser nationalen Bestimmungen, allen voran der in dieser Hinsicht besonders klare Art. 23 Abs. 1 GG, skizziert werden. (1) Art. 23 Abs. 1 S. 1 und S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 2 und 3 GG In der Bundesrepublik Deutschland zieht der Art. 23 Abs. 1 GG der Integration in die supranationale Union Schranken und bestimmt dadurch, vermittelt über Art. 5 Abs. 1 EGV, auch die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung durch den EuGH mit. Bei Art. 23 Abs. 1 ist zwischen der Struktursicherungsklausel nach Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG und der Einbeziehung der Schranke des Art. 79 Abs. 3 GG durch Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG zu unterscheiden.90

89 Die lateinische Fassung dieses Rechtsgrundsatzes lautet: „Nemo plus iuris ad alium transferre potest, quam ipse habet.“, zu diesem Grundsatz, bezogen auf das Gemeinschaftsrecht, U. Haltern, Europarecht, S. 381 f. Der Grundsatz findet sich ebenfalls schon in den Digesten bei Ulpian, Dig. 50, 17, 54. 90 Vgl. nur die diversen Kommentierungen zu Art. 23 Abs. 1 GG, etwa Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 23 Rn. 7; Streinz, in: Sachs, GG, Art. 23 Rn. 16.

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(a) Die Struktursicherungsklausel, Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG stellt Anforderungen an die Struktur der Europäischen Union, an der Deutschland mitwirkt und mitwirken soll.91 Zwar kann – wie bereits gesagt – Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG die Europäische Union und ihre Organe nicht selbst binden, da diese nicht an nationales Verfassungsrecht gebunden sein können, vielmehr ist der Normbefehl des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG an die deutschen Verfassungsorgane gerichtet, denen er verbietet, Hoheitsrechte auf eine supranationale Union zu übertragen, die den in Art. 23 Abs. 1 S. 1 festgelegten Anforderungen nicht entsprechen.92 Somit findet Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG über Art. 5 Abs. 1 EGV Eingang in das Gemeinschaftsrecht und ist damit geeignet, den EuGH bei seiner Rechtsfortbildung zu begrenzen. Dabei stellt Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG verschiedene Anforderungen an die Union, welche man in drei Gruppen einteilen kann, nämlich erstens die „Staatsstrukturprinzipen“ für die Union, zweitens die Gewährleistung des Subsidiaritätsprinzips und drittens die Wahrung eines dem Grundgesetze vergleichbaren Grundrechtsstandards. (aa) Staatsstrukturprinzipien für die Europäische Union Nach Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG muss die Europäische Union, an welcher Deutschland mitwirkt, den demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen verpflichtet sein. Die von Deutschland übertragenen Hoheitsrechte stehen damit gewissermaßen unter dem Vorbehalt der Wahrung dieser Grundsätze. Sollten die Organe der Gemeinschaften diese für sich als nicht verbindlich erachten – etwa durch eine extrem zentralistische Rechtsfortbildung des Gerichtshofs – dürften sie damit gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verstoßen. Dann hätte der Gerichtshof dann eine Grenze richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz überschritten. Freilich ist zuzugeben, dass es sich hier um eine sehr theoretische, in der Praxis wohl kaum relevant werdende Grenze handelt; dennoch besteht sie. 91 Siehe etwa Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 23 Rn. 20; O. Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GGK II, Rn. 17 zu Art. 23; Pernice, in: Dreier, GG, Art. 23 Rn. 47 ff.; Streinz, in: Sachs, GG, Art. 23 Rn. 16; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 23 Rn. 54 f.; R. Breuer, NVwZ 1994, 417, 421 spricht insoweit von einem „Maßgabevorbehalt“. 92 So Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 23 Rn. 55; Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GGK II, Rn. 17 zu Art. 23; Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG, Art. 23 Rn. 6 f.; Breuer, NVwZ 1994, 417, 421.

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Nun kann Deutschland sicherlich nicht fordern, dass sein verfassungsrechtliches Verständnis der demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätze, wie man sie dem Grundgesetz entnehmen könnte, in der Europäischen Gemeinschaft eins zu eins umgesetzt werden müsse.93 Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ist vielmehr im Sinne einer gemeineuropäisch verstandenen Überlieferung der Strukturprinzipien zu interpretieren, die deshalb auch etwas andere Ausprägungen erfahren können, als in Deutschland.94 Jedoch verlangt Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, dass gewisse Mindeststandards gewahrt bleiben müssen. Bei diesen Mindeststandards handelt es sich um unaufgebbare Positionen, an deren Garantie die Übertragung der Hoheitsgewalt an die Gemeinschaften geknüpft ist.95 Im Einzelnen lassen sich aus der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts – wenn auch nicht konkret auf Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG bezogen – hinsichtlich des Rechtsstaatsprinzips solche unantastbaren Grundsätze entnehmen.96 Nach Ansicht des Bundesverfassungsgericht zählen zu den unantastbaren Grundsätzen des Rechtsstaatsprinzips lediglich die in Art. 20 Abs. 2 S. 2 festgeschriebene Gewaltenteilung, sowie die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und von Exekutive und Judikative an Gesetz und Recht.97 In der Literatur wird dieser Bereich z. T. weiter verstanden und auch einzelne Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips wie etwa das Vertrauensschutzprinzip und das Gebot möglichst umfassenden (lückenlosen) Rechtsschutzes mit erfasst.98 Dieser weiten Interpretation ist im Hin93 Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG, Art. 23 Rn 8; ebenso Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 23 Rn. 20 m. w. N. 94 Vgl. Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 23 Rn. 20; Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG, Art. 23. Rn. 8; ähnlich auch Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GGK II, Rn. 20 zu Art. 23; siehe auch Streinz, in: Sachs, GG, Art. 23 Rn. 21. 95 Dazu Streinz, in: Sachs, GG, Art. 23 Rn. 21; relativ ausführlich Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GGK II, Rn. 20 zu Art. 23; siehe auch S. Hobe, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar, Art. 23 Rn. 16, der zutreffend darauf hinweist, dass es durch eine Überspitzung des Maßstabes nicht zu einer Integrationsunfähigkeit Deutschlands kommen dürfe; kritisch zur Begrenzungsfunktion im Hinblick auf ausreichende Wahrung der Grundsätze des Grundgesetzes U. Di Fabio, Der Staat 32 (1993), 191 ff.; allg. aus staatstheoretischer Sicht ders., Das Recht offener Staaten, S. 139 ff. 96 Vgl. BVerfGE 30, 1, 24 f.; dazu Kirchner/Haas, JZ 1993, 760, 763 f.; siehe auch Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG, Art. 23 Rn. 8; kritisch zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts P. Häberle, JZ 1971, 145 ff. 97 BVerfGE 30, 1, 24 f.; Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG, Art. 23 Rn. 8. 98 So etwa Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 23 Rn. 37 f.; für weitergehende Anforderungen plädiert auch Rojahn, v. Münch/Kunig, GGK II, Rn. 25 zu Art. 23; ebenso Pernice, in: Dreier, GG, Art. 23 Rn. 59; unklar Kirchner/Haas,

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blick darauf, dass Hoheitsrechte übertragen werden und der Bürger möglichst durch die Übertragung auf die supranationale Ebene nicht schlechter gestellt werden soll, zu bevorzugen. In diesen Kernbereich der Rechtsstaatlichkeit darf durch den EuGH mittels Rechtsfortbildung nicht eingegriffen werden; insoweit bildet er eine äußerste Schranke der Rechtsfortbildungsbefugnis. Nun ist freilich anzumerken, dass der Gerichtshof dem Rechtsstaatsprinzip durch sein Richterrecht eher Kontur verliehen hat, als dass er die Rechtsstaatlichkeit der Gemeinschaft ernsthaft gefährdet hätte.99 Bedenken wären allenfalls an der Alcan-Rechtsprechung mit ihrer fast vollständigen Eliminierung des Vertrauensschutzes bei der Rückforderung gemeinschaftsrechtswidrig gewährter Beihilfen anzumelden,100 doch selbst dort dürfte die aufgezeigte Grenze noch nicht überschritten sein. Die Forderung, die Union habe sich nach föderativen Grundsätzen zu organisieren, richtet sich vor allem gegen zentralistische Tendenzen, welche letztlich die Staatlichkeit der Mitgliedstaaten infrage stellen würden.101 Auch hier sind der Gemeinschaft und ihren Organen Grenzen gezogen. So darf es keine vom Gerichtshof betriebene Rechtsentwicklung geben, welche die Staatlichkeit und die volle Souveränität der Mitgliedstaaten antastet. Die Schaffung eines europäischen Staates, in welchem die Mitgliedstaaten aufgehen, ist damit (unter der geltenden Verfassungsordnung) ausgeschlossen. Aber auch eine zu zentralistische Organisation der Gemeinschaften soll dadurch verhindert werden,102 so dass dem Gerichtshof über das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung des Art. 5 Abs. 1 EGV insoweit Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe gezogen sind. Allerdings sei hier betont, dass eine derartige Rechtsfortbildung des Gerichtshofs bislang nicht vorJZ 1993, 760, 764; vgl. zur europäischen Rechtsgemeinschaft allgemein M. Zuleeg, NJW 1994, 545 ff.; T. Oppermann, DVBl. 1994, 901 ff. 99 Darauf weisen etwa Kirchner/Haas, JZ 1993, 760, 764 zu Recht hin. Man denke etwa an so zentrale Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips im Gemeinschaftsrecht wie den Vertrauensschutz durch EuGH, Urt. v. 5.7.1973, RS. 1/73 (Westzucker), Slg. 1973, 533, 547 ff. oder den Bestimmtheitsgrundsatz in EuGH, Urt. v. 9.7.1981, RS. 169/80 (Conrad Feres), Slg. 1981, 1931, 1942. 100 Siehe dazu EuGH, Urt. v. 20.3.1997, RS. C-24/95 (Alcan Deutschland), Slg. 1997, I-1591, I-1607 ff. (Rn. 25, 37, 49 ff.); R. Scholz, DÖV 1998, 261 ff. hat das Urteil einer scharfen Kritik, welche die angemeldeten Bedenken ebenfalls äußert, unterzogen. Vgl. zu den Auswirkungen der Alcan-Judikatur auf das deutsche allgemeine Verwaltungsrecht H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 38a ff. 101 So auch Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GGK II, Rn. 29 zu Art. 23, der Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG allerdings nicht auf diese Begrenzungsfunktion beschränkt sehen will; siehe auch Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 23 Rn. 55, 62. 102 Ebenso U. Everling, DVBl. 1993, 936, 945; siehe auch Rojahn, in: v. Münch/ Kunig, GGK II, Rn. 28 zu Art. 23; Streinz, in: Sachs, GG, Art. 23 Rn. 25.

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gekommen ist und eine derartige Entwicklung der Rechtsprechung zudem äußerst unwahrscheinlich erscheint. Auch hinsichtlich der sozialen Grundsätze können nur letzte Mindeststandards gefordert werden.103 So merkt Rupert Scholz mit Recht an: „Die Grenzen der Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 S. 1 wären erst dann verletzt, wenn sich die Europäische Union jedweder Integration und Gestaltungs- wie Leistungsverpflichtung im Bereich der Sozialpolitik versagen würde.“104

Insoweit enthält diese Grenze eher eine Verpflichtung, im Bereich der Sozialpolitik im Rahmen der Gemeinschaftsaufgaben nicht untätig zu sein. Demnach lassen sich aus diesem Erfordernis kaum Grenzen für die richterliche Rechtsfortbildung entwickeln. Der Verpflichtung der Union auf demokratische Grundsätze dürfte vorerst damit Genüge getan sein, dass das Europäische Parlament unmittelbar demokratisch legitimiert ist (vgl. Art. 190 Abs. 1 EGV) und die übrigen Organwalter – seien es die nationalen Regierungsmitglieder im Rat, die Kommissare oder auch die Richter des Europäischen Gerichtshofs – über eine mittelbare demokratische Legitimation verfügen.105 Auch hier ist es unwahrscheinlich, dass die demokratischen Grundsätze durch richterliche Rechtsfortbildung ausgehöhlt werden. Vielmehr lässt sich im Gegenteil an der Rechtsfortbildung des Gerichtshofs zur Stärkung der Stellung des Europäischen Parlaments im Klageverfahren vor dem Gerichtshof aufzeigen, dass der Gerichtshof die demokratische Ausgestaltung der Gemeinschaften mitgestaltet hat. (bb) Die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips Des Weiteren stellt Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG an die Union die Forderung nach der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips.106 Da dieses mit Art. 5 Abs. 2 EGV in den EG-Vertrag Eingang gefunden hat, soll es aber an gesonderter Stelle erörtert werden. Festhalten kann man aber bereits, dass auch eine Rechtsfortbildung, welche das Subsidiaritätsprinzip völlig missachtete, eine Grenze der Rechtsfortbildungskompetenz überschritte. 103 Etwa Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 23 Rn. 60; ausdrücklich auch Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG, Art. 23 Rn. 8. 104 Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 23 Rn. 60. 105 Freilich gibt es eine große Debatte über das Demokratiedefizit in Europa, siehe dazu etwa D. Schmidtchen, FS Ress, S. 787 ff. Die Grenzen der Struktursicherungsklausel sind durch ein mometan bei weitem noch nicht berührt. 106 Umfassend zum Subsidiaritätsprinzip in Art. 5 Abs. 1 EGV Callies, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, passim.

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(cc) Im Wesentlichen vergleichbarer Grundrechtsstandard Mit dem Erfordernis, dass die Union einen dem Grundgesetze im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsstandard zu gewährleisten habe, knüpft Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG deutlich an die Solange-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an.107 Das Bundesverfassungsgericht hat im Zuge seiner Solange-Rechtsprechung auch verdeutlicht, dass es sich bei der Kompetenzübertragung an die Gemeinschaften nur um beschränkt eingeräumte Befugnisse handele.108 Die entscheidende Passage im Solange-I-Beschluss lautet: „Solange und soweit [. . .] einer zwischenstaatlichen Organisation Hoheitsgewalt eingeräumt wird, die im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland den Wesensgehalt der vom Grundgesetz anerkannten Grundrechte zu beeinträchtigen in der Lage ist, muss, wenn der nach Maßgabe des Grundgesetzes bestehende Rechtsschutz entfallen soll, stattdessen eine Grundrechtsgeltung gewährleistet sein, die nach Inhalt und Wirksamkeit dem Grundrechtsschutz, wie er nach dem Grundgesetz unabdingbar ist, im wesentlichen gleichkommt.“109

Gefordert ist also nicht ein vollständig deckungsgleicher, sondern lediglich ein im Wesentlichen vergleichbarer Grundrechtsschutz. Sollte der EuGH einen solchen Grundrechtsschutz nicht mehr gewährleisten, so überschreitet er damit seine Befugnisse und das Bundesverfassungsgericht könnte mittels einer Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG angerufen werden.110 Die Hürden hierfür hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Bananenmarktbeschluss allerdings sehr hoch gesetzt.111 Danach sind Verfassungsbeschwerden oder konkrete Normenkontrollanträge von nationalen Fachgerichten gem. Art. 100 Abs. 1 GG von vorneherein unzulässig, wenn nicht dargelegt wird, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des EuGH nach Ergehen des Solange-II-Urteils des Bundesverfassungsgerichts unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken sei.112 Wichtig 107 Diese Einschätzung teilen etwa Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 23 Rn. 47; Pernice, in: Dreier, GG, Art. 23 Rn. 75; Streinz, in: Sachs, GG, Art. 23 Rn. 41 jeweils m. w. N. 108 BVerfGE 73, 339, 376; hierauf weisen auch Kirchner/Haas, JZ 1993, 760, 762 f. hin. 109 So BVerfGE 73, 339, 376. 110 BVerfGE 73, 339, 340 (2. Ls.), 377 f.; Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/ Klein, Kommentar zum GG, Art. 23 Rn. 9. Diese Entscheidung ist im Schrifttum z. T. heftig kritisiert worden, etwa von D. Horn, DVBl. 1995, 89, 94; G. Hirsch, NJW 1996, 2457, 2459; M. Zuleeg, NJW 1997, 1201, 1202 f. 111 Ebenso Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG, Art. 23 Rn. 9; siehe zu den Anforderungen BVerfGE 102, 147, 164. 112 So BVerfGE 102, 147, 164; sehr kritisch dazu, dass das Bundesverfassungsgericht die Vorlage des VG Frankfurt/Main (EuZW 1997, 182) als unzulässig verworfen hat Schmid, NVwZ 2001, 249 ff.

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ist dabei, dass es um ein Absinken des Grundrechtsstandards geht, also eine im Einzelfall nicht hinreichende Gewährleistung eines dem deutschen Grundrechtsstandard vergleichbaren Schutzniveaus selbst für einzelne Grundrechte im Allgemeinen nicht ausreicht, um von einem Absinken des Standards zu sprechen.113 Sollte der EuGH seine Rechtsfortbildung allerdings dahingehend ändern, dass – und das stellt die hier interessierende Quintessenz der zitierten verfassungsgerichtlichen Judikate dar – ein im Wesentlichen vergleichbarer Grundrechtsschutz nicht mehr gewährleistet wäre, so hätte er damit eine Grenze seiner Rechtsfortbildungskompetenz überschritten. Hierbei würde es sich um unzulässige Rechtsfortbildung handeln. Allerdings ist gerade im Bereich der Gemeinschaftsgrundrechte anzumerken, dass deren richterrechtliche Entwicklung eines der ganz großen Verdienste des EuGH ist, so dass es auch hier mehr als unwahrscheinlich erscheint, dass der Gerichtshof bei seiner Rechtsfortbildung die ihm durch den Grundrechtsstandard gezogene Schranke ernsthaft überschreitet. (b) Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG ist in engem Zusammenhang mit S. 1 zu lesen.114 Der Verweis auf den Art. 79 Abs. 3 hat nämlich zur Folge, dass die in Art. 20 GG festgeschriebenen Staatsstrukturprinzipien sowie die Gewährleistungen des Art. 1 GG bei der Übertragung von Hoheitsrechten, welche das Verfassungsgefüge des Grundgesetzes verändern, unbedingte Beachtung fordern. Damit zieht Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG der Übertragung deutscher Hoheitsgewalt auf die supranationale Ebene letzte Grenzen. Der Unterschied zu Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG liegt darin, dass der in Bezug genommene Hoheitsträger ein anderer ist.115 Während nach Satz 1 die Europäische Union (und damit freilich auch die Europäischen Gemeinschaften) demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen verpflichtet ist, unterwirft Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG den Herrschaftsverband Bundesrepublik Deutschland selbst bei der Übertragung von Hoheitsrechten den Anforde113

Vgl. BVerfGE 102, 147, 164. Dies führt etwa auch Streinz, in: Sachs, GG, Art. 23 Rn. 84 aus; bei Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GGK II, Rn. 52 zu Art. 23 wird nachdrücklich auf die Verschiedenheit der beiden Normen hingewiesen. Siehe zu Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG auch R. Geiger, JZ 1996, 1093, 1096 ff., dort mit Erläuterungen zur Bedeutung des Erfordernisses der verfassungsändernden Mehrheit. 115 Siehe etwa auch Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GGK II, Rn. 52 zu Art. 23, der Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG als Verfassungsbestandsklausel bezeichnet; ebenso Breuer, NVwZ 1994, 417, 422; ebenfalls K.-P. Sommermann, DÖV 1994, 596, 600; Streinz, in: Sachs, GG, Art. 23 Rn. 83; etwas unklar, aber in der Sache ebenso Pernice, in: Dreier, GG, Art. 23 Rn. 94. 114

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rungen des Art. 20 GG und Art. 1 GG. Diese Staatsfundamentalnormen dürfen nicht durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf die supranationale Ebene umgangen werden.116 Hier hat die Verfassungsgewalt der deutschen Hoheitsträger, selbst bei Erreichung der verfassungsändernden Mehrheit (vgl. Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 2 GG), ein Ende. Insofern könnte man in Art. 23 Abs. 1 S. 3 eine spezielle, staatsrechtliche Ausprägung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes, dass niemand mehr Rechte übertragen könne, als ihm zustehen, begreifen. Erkennt man dies, so wird auch deutlich, welche Grenzen Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG zieht. Er bestimmt nämlich letztlich, dass durch die Übertragung von Hoheitsbefugnissen, das grundlegende verfassungsrechtliche Antlitz der Bundesrepublik Deutschland nicht verändert werden dürfe. Sollte also der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung dazu tendieren, den Gemeinschaften die Kompetenzkompetenz zuzusprechen, so läge darin implizit die Aberkennung der ungeteilten Souveränität der Mitgliedstaaten und damit auch Deutschlands. Diese ist aber unaufgebbarer Bestandteil der vollen Staatlichkeit Deutschlands und damit Bestandteil des Bundesstaatsprinzips. Ohne die volle Souveränität würde die Bundesrepublik ihren Anspruch, ein Staat mit sämtlichen – insbesondere auch völkerrechtlichen – Rechten zu sein, aufgeben. Ein solches ist aber unter dem Grundgesetz nicht möglich.117 Da die deutschen Hoheitsträger eine solche Ermächtigung nicht an die Europäische Union übertragen dürfen, kann der Gerichtshof aufgrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung in Art. 5 Abs. 1 EGV das Recht auch nicht dahingehend fortbilden, dass die Gemeinschaften die Kompetenzkompetenz innehaben oder gar einen europäischen Bundesstaat bilden. Die wesentliche Grenze, die Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG zu entnehmen ist, besteht also in der Unaufgebbarkeit der Staatlichkeit.118 Die Gründung eines solchen europäischen Staates, in welchem die Mitgliedstaaten aufgingen, bedürfte einer Verfassungsneugebung unter Aktivierung des pouvoir constituant.119 Eine Quasi-Staats116 So auch Pernice, in: Dreier, GG, Art. 23 Rn. 93; Streinz, in: Sachs, GG, Art. 23 Rn. 83 („absolute Verfassungsschranke“); Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GGK II, Rn. 51 zu Art. 23; nachdrücklich auch Hobe, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG, Art. 23 Rn. 47 ff.; wohl auch Classen, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Art. 23 Rn. 21. 117 Sehr streitig. Wie hier Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GGK II, Rn. 51 zu Art. 23; Streinz, in: Sachs, GG, Art. 23 Rn. 84; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 24 Rn. 204; wohl auch Jarass/Pieroth, GG, Art. 23 Rn. 30; anders die wohl h. L. Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 23 Rn. 63; Hobe, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG, Art. 23 Rn. 53; Pernice, in: Dreier, GG, Art. 23 Rn. 94; M. Zuleeg, in: AK-GG, Art. 23 Rn. 51 ff. 118 Ebenso wohl auch Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GGK II, Rn. 51 zu Art. 23; Streinz, in: Sachs, GG, Art. 23 Rn. 84; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 24 Rn. 204.

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gründung durch Richterrecht des EuGH müsste man als unzulässigen, revolutionären Akt ansehen.120 Eine weitere Schranke für eine etwa durch Richterrecht geschaffene Kompetenzkompetenz der Europäischen Gemeinschaften wird dem EuGH über Art. 5 Abs. 1 EGV durch das in Art. 23 Abs. 1 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 1, 2 GG verankerte Demokratieprinzip vorgegeben.121 Dieses dürfte nämlich entgegenstehen, sollte durch richterliche Rechtsfortbildung versucht werden, sämtliche, bzw. eine Mehrzahl der wesentlichen Befugnisse auf die supranationale Ebene zu übertragen. Geschähe dieses, so würde damit die Souveränität des deutschen Volkes infrage gestellt, wenn dieses nur noch ein Parlament zu wählen hätte, was zum bloßen Umsetzungsorgan für Gemeinschaftsrechtsakte herabgesunken wäre. Dass über die Wahlen zum Bundestag mittelbar Einfluss auf die Bundesregierung genommen werden kann, genügt zur Kompensation nicht, da die deutsche Regierung im Rat nur über einen bestimmten Stimmenanteil verfügt (29 Stimmen, vgl. zur anteiligen Stimmenverteilung Art. 205 Abs. 2 EGV) und auch nach Art. 205 Abs. 1 EGV überstimmt werden kann, sofern Entscheidungen nicht einstimmig gefällt werden müssen, so dass der deutsche Souverän bei einer allumfassenden Zuständigkeit der Gemeinschaften völlig ausgeschaltet wäre.122 Ein solches wäre jedoch mit dem Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1, 2 GG unvereinbar.123 Auch der Versuch einer Legitimation durch ein europäisches Volk bedeutete einen revolutionären, mit Art. 20 Abs. 1, 2 119 Auf die Möglichkeit der Aktivierung des pouvoir constituant weist auch Streinz, in: Sachs, GG, Art. 23 Rn. 84 m. Fn. 179 hin. Siehe dazu auch P. M. Huber, Recht der Europäischen Integration, S. 50 ff.; Rojahn, in: v. Münsch/Kunig, GGK II, Rn. 16 zu Art. 23. 120 Als revolutionären Akt müsste man die ohne Aktivierung des pouvoir constituant betriebene Quasi-Staatsgründung durch Richterrecht deshalb bezeichnen, weil damit das Bezugsobjekt der demokratischen Legitimation ausgetauscht wird. Damit wird gegen einen staatstheoretischen Grundsatz verstoßen, der bereits in der französischen Verfassung von 1791 zum Ausdruck kommt: „Die Souveränität ist [. . .] unveräußerlich. [. . .] Sie gehört der Nation.“ 121 Die Europäischen Gemeinschaften diesbezüglich kritisch beleuchtend Kirchner/Haas, JZ 1993, 760, 764 ff. 122 Dieses Szenario ist freilich arg unwahrscheinlich. Auch das Demokratieprinzip dürfte aber aus diesen Gründen einem Aufgehen Deutschlands in einem europäischen Staat ohne Verfassungsneugebung entgegenstehen. Für ein Verbleiben von Aufgaben von substantiellem Gewicht beim Bundestag spricht sich auch P. Lerche, FS Redeker, 131, 138 aus. Ebenso Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GGK II, Rn. 53 zu Art. 23. 123 So die Konsequenz, die aus der Entscheidung BVerfGE 89, 155, 172 f., 184 ff. zu ziehen ist. Auch Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GGK II, Rn. 53 zu Art. 23, sieht im Verbleiben wesentlicher Kompetenzen beim Bundestag eine absolute Integrationsschranke.

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GG wohl nicht zu vereinbarenden Akt, da dadurch der Souverän ausgetauscht werden würde.124 Somit besteht auch hier eine Grenze der Übertragungsmöglichkeit staatlicher Hoheitsgewalt, weshalb es der Gemeinschaft als Herrschaftsverband und damit auch ihrem Organ EuGH bei seiner Rechtsfortbildung verwehrt ist, eine Kompetenzkompetenz der Gemeinschaften zu entwickeln. Hinsichtlich des Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzips kann auf die Ausführungen zu Satz 1 verwiesen werden. Insgesamt lässt sich feststellen, dass dem EuGH auch bei dieser Auslegung des Art. 5 Abs. 1 EGV relativ weite Spielräume für seine Rechtsfortbildung verbleiben. Nur soweit die elementare Struktur der Bundesrepublik Deutschland sowie der Grundrechtsstandard im Kern in Frage gestellt werden, sind den Gemeinschaften hierfür keine Kompetenzen übertragen worden, weshalb der EuGH in diesem Umfange auch nicht rechtsfortbildend tätig werden darf. Damit zieht Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG der Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH mittelbar durch Art. 5 Abs. 1 EGV allerletzte Grenzen. (2) Überblick über vergleichbare Bestimmungen in anderen EU-Mitgliedstaaten Auch andere Mitgliedstaaten entziehen ihrem pouvoir constitué einige Bereiche der nationalen Verfassung, welche als unabänderlich deklariert werden. Zumeist betreffen diese nicht unmittelbar die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union, sondern lediglich die Verfassungsänderung. Dem Art. 23 Abs. 1 GG am nächsten kommt die Bestimmung des Kap. 10 § 5 der Schwedischen Verfassung (SV), die deshalb genauer betrachtet werden soll. (a) Kapitel 10 § 5 Schwedische Verfassung Kapitel 10 § 5 Abs. 1 S. 1 SV bestimmt, dass der Reichstag im Rahmen der Zusammenarbeit in der Europäischen Union Beschlussrechte übertragen könne, soweit sie die Grundsätze der Staatsform nicht berührten. Damit verweist er auf Kap. 1 SV, in welchem sich die Bestimmungen über die Grundlagen der Staatsform Schwedens finden. Als Grundsätze der Staats124

Die Ansicht, dass die Auswechselung des Souveräns Revolution bedeuten würde, findet sich bereits, wenn auch bezogen auf einen Wechsel von Demokratie zu Diktatur, bei C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 5; ders., Die legale Weltrevolution, Der Staat 17 (1978), S. 321 ff.; siehe auch K. Doehring, Allgemeine Staatslehre, Rn. 235 ff.; R. Zippelius, Staatslehre, § 19 II.

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form müssen dabei die den §§ 3–5 zu entnehmende parlamentarische Monarchie, sowie die in Kap. 1 § 1 SV festgeschriebene Volkssouveränität gelten. Des Weiteren sind wohl auch die Festlegung der Reichsregierung als Exekutivspitze wie auch die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung in Kap. 1 § 6 respektive Kap. 1 § 7 SV zu zählen. Bezieht man noch Kap. 1 §§ 2, 8, 9 SV in die Grundsätze der Staatsform i. S. v. Kap. 10 § 5 Abs. 1 S. 1 SV mit ein, in welchen wesentliche rechtsstaatliche Verbürgungen wie die Achtung der Menschenwürde und einiger weiterer zentraler Grundrechte (Kap. 1 § 2 SV) sowie die Gewaltenteilung (Kap. 1 § 8 SV) und die Gleichheit vor dem Gesetz (Kap. 1 § 9 SV) niedergelegt sind, so kommt man in etwa zu den gleichen Integrationsschranken, die auch aus dem deutschen Verfassungsrecht aus Art. 23 Abs. 1 GG bekannt sind. Teilweise dürfte Kap. 10 § 5 SV sogar noch über Art. 23 Abs. 1 S. 1 a. E. GG hinausgehen. Diese Vorschrift bestimmt nämlich, dass eine Übertragung von Beschlussrechten auf die Europäische Union voraussetze, dass der Freiheits- und Rechtsschutz in dem Bereich der Zusammenarbeit, in den die Beschlussrechte übertragen würden, demjenigen der Schwedischen Verfassung und der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten entspreche.125 Anders als in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG wird hier nicht auf einen „im wesentlichen vergleichbaren“ Grundrechtsschutz abgestellt, sondern auf einen dem Grundrechtskatalog der Schwedischen Verfassung (vgl. Kap. 2 SV) und der EMRK entsprechenden. Damit muss der Grundrechtsschutz auf Ebene der Europäischen Union sicherlich nicht mit dem der Schwedischen Verfassung identisch sein. Eine so weitgehende Zurücknahme des Grundrechtsschutzes, wie sie das Bundesverfassungsgericht in seiner Auslegung der Formulierung „im wesentlichen vergleichbar“ des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG im Bananenmarktbeschluss sanktioniert hat, gestattet Kap. 10 § 5 Abs. 1 S. 2 SV aber wohl nicht.126 Insofern zieht Kap. 10 § 5 Abs. 1, 2 SV dem schwedischen pouvoir constitué deutliche Schranken bei der Übertragung schwedischer Hoheitsrechte auf die Europäische Union.127 Kann dieser aber Hoheitsgewalt bereits nicht übertragen werden, so fehlt es der Europäischen Gemeinschaft an der Verbandskompetenz. Sie ist insofern als nur begrenzt ermächtigt i. S. v. Art. 5 Abs. 1 EGV anzusehen. Da 125

Dazu Grabenwarter, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 302 f. Ähnlich auch die Einschätzung von Grabenwarter, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 302, wenn er von einer Äquivalenz des Grundrechtsschutzes spricht. 127 Ebenso Grabenwarter, in v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 302, der Kap. 10 § 5 SV als Struktursicherungsklausel begreift. 126

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schon die Verbandskompetenz fehlt, darf der EuGH insoweit auch nicht rechtsfortbildend tätig werden. Insofern bildet auch Kap. 10 § 5 Abs. 1 S. 1, 2 SV vermittelt über Art. 5 Abs. 1 EGV eine Grenze für die richterliche Rechtsfortbildung. (b) Verfassungsbestimmungen weiterer Mitgliedstaaten In die Richtung von Art. 23 Abs. 1 GG und Kap. 10 § 5 Abs. 1 SV gehen auch noch Art. 7 Abs. 6 der Portugiesischen Verfassung, der auch gewisse Grenzen für die Übertragung von Hoheitsrechten zu ziehen scheint wie auch Art. 3 der Slowenischen Verfassung. Ansonsten setzen die meisten Verfassungen dem jeweiligen nationalen pouvoir constitué – soweit ersichtlich – keine ausdrücklichen Grenzen bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union bzw. die Europäischen Gemeinschaften. Jedoch gibt es in mehreren Verfassungen Bestimmungen, welche bestimmte Normen der jeweiligen nationalen Verfassung dem Verfahren der Verfassungsänderung entziehen. Ist dies aber der Fall, sind diese Bestimmungen dem pouvoir constitué entzogen und ihre Änderung oder Streichung bedarf der Aktivierung des pouvoir constituant. Dann aber kann der pouvoir constitué diese Grundentscheidung der ihn ermächtigenden Verfassung nicht dadurch unterminieren, dass er Befugnisse auf eine supranationale Ebene überträgt und dadurch den Kernbestand seiner Verfassung aushöhlt. Zum unaufgebbaren Kernbestand einer jeden Verfassung eines souveränen Staates dürfte die Souveränität eben jenes Staates und damit einhergehend der Geltungsanspruch der Verfassung selbst gehören.128 So gestattet es keine nationale Verfassung dem pouvoir constitué, den Souveränitätsanspruch, welchen jeder einzelne Mitgliedstaat für sich erhebt, auf die Europäische Union zwecks Gründung eines europäischen (Bundes-)Staates zu übertragen. Denn mit der Gründung eines europäischen Staates verlören die nationalen, mitgliedstaatlichen Verfassungen, welche sämtlich einen umfassenden Souveränitätsanspruch erheben (vgl. nur § 1 Dän. Verf.; § 1 Estn. Verf.; Art. 1 u. 3 Frz. Verf.; Art. 1 Irische Verf.; Art. 1 Abs. 1, 2 Span. Verf.; Art. 1 Abs. 1 Tsch. Verf.) ihren Geltungsanspruch.129 Damit ein sol128 Ebenso Lerche, FS Redeker, S. 131, 134: „Wollte man gleichwohl an der Staatlichkeit der Glieder rütteln, wäre allerdings tatsächlich der Rubikon des Art. 79 Abs. 3 GG klar überschritten . . .“. Dahinter steht der Gedanke, dass die „Identität und Kontinuität der Verfassung als einem Ganzen“ nicht aufgebbar ist. Vgl. dazu Schmitt, Verfassungslehre, S. 103. 129 Vgl. dazu als wesentlichem Merkmal der Bundesverfassung als einziger mit Kompetenz-Kompetenz und damit umfassenden, völkerrechtlichen Souveränitätsanspruch C. Starck, FS Delbrück, S. 711, 723, der treffend von Souveränität spricht, die er noch stets bei den Mitgliedstaaten verortet sieht; i. E. ähnlich C. Hillgruber,

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ches möglich wäre, bedürfte es jedoch stets des pouvoir constituant, also der Aktivierung der verfassunggebenden Gewalt (vgl. etwa Art. 146 GG).130 Damit fehlt den Verfassungsorganen der Mitgliedstaaten die Befugnis, die Kompetenzkompetenz auf die supranationale Ebene zu übertragen.131 Was für Deutschland oben schon ausführlich erörtert wurde, gilt insofern für sämtliche Mitgliedstaaten, so dass der Gerichtshof das Gemeinschaftsrecht nicht soweit fortbilden kann, dass dieses im Ergebnis einer europäischen Staatsgründung gleichkäme, da es der Gemeinschaft hierzu an der Verbandskompetenz fehlt und Art. 5 Abs. 1 EGV insofern eine äußerste Rechtsfortbildungsschranke errichtet, die der EuGH freilich noch nicht überschritten hat. Aber auch andere Bereiche außer dem Bestand des Staates selbst, sind der Gewalt des jeweiligen nationalen pouvoir constitué entzogen und bilden damit auch eine Grenze der Übertragbarkeit von Kompetenzen an die supranationale Ebene. Sämtliche nationalen Regelungen hier umfassend darzustellen, würde den Umfang dieser Untersuchung sicherlich sprengen, weshalb nur einige Bestimmungen aufgezeigt werden sollen, ohne dass sie im Einzelnen nachgezeichnet werden können. Versucht man diese unantastbaren Verfassungsgrundsätze zu kategorisieren, so gehört hierzu in der Regel die Staatsform, also die Frage, ob der Staat eine Republik oder eine parlamentarische Monarchie ist. Sehr deutlich bestimmt etwa Art. 89 Abs. 5 der Französischen Verfassung: „Die republikanische Staatsform kann nicht zum Gegenstand einer Verfassungsänderung gemacht werden.“

(Ähnlich Art. 110 Abs. 1 Griech. Verf.; Art. 79 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG; sehr ähnlich auch Art. 139 Ital. Verf.; erstaunlicherweise finden sich solche Bestimmungen nicht in den parlamentarischen Monarchien. Dennoch dürfte auch für diese gelten, dass es bei einem Wechsel der Staatsform hin zur Republik ebenfalls einer Verfassungsneugebung und nicht bloß einer Verfassungsänderung bedürfte.) Auch dieser Vorbehalt der Staatsform dürfte einer europäischen Staatsgründung und einer etwaigen, in diese Richtung tendierenden Rechtsfortbildung durch den EuGH Grenzen setzen. Umfassende Schranken errichtet auch Art. 288 Port. Verf. dem verfassungsändernden Gesetzgeber. In dieser Vorschrift werden nämlich gewisse Grundrechte sowie bundesstaatliche und rechtsstaatliche Elemente für unJZ 2002, S. 1072 ff.; siehe auch P. Kirchhof, in: Isensee/ders., HbStR VII, § 183 Rn. 57 ff., Rn. 60; Schmitt, Verfassungslehre, S. 103. 130 Etwas anders noch Kirchhof, in: Isensee/ders., HbStR VII, § 183 Rn. 62: „Ein europäischer Staat könnte nur im Gründungsakt durch ein europäisches Volk legitimiert werden.“ 131 So im Ergebnis auch Kirchhof, in: Isensee/ders., HbStR, § 183 Rn. 60.

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veräußerlich erklärt. Damit nennt sie auch die Kategorien an Verfassungswerten, bei denen der EG, vermittelt durch Art. 5 Abs. 1 EGV, durch die nationalen Verfassungen Grenzen gesetzt sind. Um eine Umgehung der unabänderlichen Verfassungsbestimmungen durch Kompetenztransfer zu verhindern, muss die Gemeinschaft gewisse rechtstaatliche und grundrechtliche Mindeststandards gewährleisten, ähnlich wie Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG es fordert. Über den Umweg der unabänderlichen Verfassungsbestimmungen gilt dies auch bei Kompetenztransfers an die supranationale Ebene in jenen Mitgliedstaaten, die keine ausdrückliche Bestimmung hierfür vorsehen. Damit dürften auch aus Sicht dieser Mitgliedstaaten für die Rechtsfortbildung des Europäischen Gerichtshofs hinsichtlich des Mindeststandards an Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsschutz in etwa jene Grenzen gelten, die soeben schon im Rahmen des Art. 23 Abs. 1 GG ausführlich dargestellt wurden, so dass insoweit auf die obigen Ausführungen verwiesen werden kann.132 Dabei ist aber nochmals zu betonen, dass der Gerichtshof bei seiner Rechtsfortbildung mit der Mindeststandardanforderung aus den nationalen Verfassungen zwar Grenzen gezogen sind, der EuGH jedoch mit der Entwicklung eines umfassenden Grundrechtekatalogs und der Herausbildung rechtsstaatlicher Figuren maßgeblich dazu beigetragen hat, dass diese Standards in den Europäischen Gemeinschaften als verwirklicht angesehen werden können, ja, sogar größtenteils bei weitem mehr als nur die Mindestanforderungen als erfüllt anzusehen sind, so dass sich die Rechtsfortbildung des EuGH hier eher grenzwahrend als grenzüberschreitend auswirkt.133 (c) Zusammenfassung Damit der EuGH überhaupt rechtsfortbildend tätig werden darf, muss er zunächst einmal im Rahmen der Verbandskompetenz der Europäischen Gemeinschaften tätig werden. Die Verbandskompetenz beschränkt sämtliche Organe der EU/EG in ihrem Handlungsspielraum. Wo sie fehlt, darf die Gemeinschaft durch ihre Organe nicht agieren.134 Bei der Europäischen Gemeinschaft bestimmt sich die Verbandskompetenz nach dem Prinzip der be132

Siehe im Übrigen zum mitgliedstaatlichen Unionsverfassungsrecht und den einzelnen nationalen Verfassungsvorbehalten den sehr informativen Überblick bei Grabenwarter, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 283 ff. 133 Sowohl das Grundrechtssystem als auch sonstige rechtsstaatliche Entwicklungen im Gemeinschaftsrecht (Staatshaftung; Vertrauensschutz) basieren, wie bereits mehrfach nachgewiesen, weitgehend auf rechtsfortbildenden Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften. 134 Callies, in: ders./Ruffert, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rn. 13 ff.; Nettesheim, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 414, 422 f., 433 f.; Jarass, AöR 121 (1996), 173, 174, 176.

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grenzten Einzelermächtigung, welches in Art. 5 Abs. 1 EGV niedergelegt ist. Danach darf die Gemeinschaft nur tätig werden, wenn und soweit ihr Befugnisse durch den EG-Vertrag eingeräumt werden.135 Meiner Ansicht nach lassen sich auf dem Wege des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung auch äußerste Grenzen der Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH begründen. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung setzt nämlich eine Übertragung von Hoheitsrechten durch die Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft voraus. Nun kann aber die nationale, mitgliedstaatliche Verfassung den jeweiligen nationalen pouvoir constitué darauf festlegen, gewisse Hoheitsrechte nicht zu übertragen bzw. gewisse Anforderungen zur Bedingung an die Hoheitsübertragung zu machen, wie dies Art. 23 Abs. 1 GG bzw. Kap. 10 § 5 SV bestimmen. Auch entziehen die nationalen Verfassungen einige Grundentscheidungen der jeweiligen Verfassung gänzlich der Verfassungsänderung, wie etwa Art. 79 Abs. 3 GG; Art. 89 Abs. 4, 5 Frz. Verf. oder Art. 288 Port. Verf. verdeutlichen. Sind diese Grundentscheidungen aber dem mitgliedstaatlichen pouvoir constitué insoweit entzogen, als dass er sie nicht einmal im Wege der Verfassungsänderung antasten darf, so dürfen diese Grundprinzipen der jeweiligen Verfassungen auch nicht dadurch in Frage gestellt bzw. ausgehöhlt werden, dass die Hoheitsrechte auf eine supranationale Ebene übertragen werden, die an die nationalen Mindeststandards von Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsgewährleitung nicht gebunden ist. Die nationalen Hoheitsrechte können also vom nationalen pouvoir constitué nur unter dem Vorbehalt der Wahrung dieser Mindestanforderungen durch die Gemeinschaft übertragen werden. Dies kann man als Ausprägung des allgemeinen Rechtsgedankens, dass niemand mehr Rechte übertragen könne, als ihm selbst zustehen, verstehen und wird besonders klar in Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG zum Ausdruck gebracht. Insoweit ist die Verbandskompetenz der Gemeinschaft also beschränkt i. S. v. Art. 5 Abs. 1 EGV. Eine Grenze für die Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH lässt sich daraus nun deshalb gewinnen, weil man davon auszugehen hat, dass die nationalen Verfassungsorgane völkerrechtlich keine Bindung durch Kompetenzübertragung eingehen wollten, die sie nach nationalem Verfassungsrecht gar nicht hätten eingehen dürfen, so dass die einzelnen der Gemeinschaft übertragenen Kompetenzen so auszulegen sind, dass sie diese nationalen Verfassungskernbestimmungen nicht beeinträchtigen. Dieses verlangt schon das Prinzip der Gemeinschaftstreue aus Art. 10 EGV, welches auch im Verhältnis der Gemeinschaften zu den Mitgliedstaaten Geltung bean135

Hierzu etwa Callies, in: ders./Ruffert, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rn. 13 ff.; Nettesheim, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 414, 422 f., 433 f.; Jarass, AöR 121 (1996), 173, 174, 176.

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sprucht.136 Für eine Aushebelung dieser Verfassungskernbestimmungen fehlt es den Gemeinschaften also an der Kompetenz, selbst sofern den Gemeinschaften Befugnisse zugewiesen worden sind, womit in diese Bereiche eingegriffen werden kann, gehen diese jedoch nicht so weit (Vgl. Art. 5 Abs. 1 „. . . sofern und soweit . . .“), dass der Gemeinschaft die Verbandskompetenz zustünde, diese zu beeinträchtigen. Insofern zieht das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung auch dem EuGH als Organ der Gemeinschaften diese Schranke bei seiner Rechtsfortbildung. Denn fehlt es an der Verbandskompetenz, so darf kein Organ der Gemeinschaften, gleich in welcher Form, tätig werden. Die richterliche Rechtsfortbildung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften darf also nicht so weit gehen, dass durch sie Mindeststandards auf dem Bereich der Grundrechte (bzw. sogar im Wesentlichen gleiche Standards) und ein Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit nicht mehr gewährleistet sind oder gar die Staatlichkeit der Mitgliedstaaten in Frage gestellt wird. Damit sind dem EuGH freilich nur äußerste Grenzen gesetzt, doch dürfte dadurch zumindest deutlich werden, dass eine auf Rechtsfortbildung gegründete faktische (eine tatsächliche, rechtliche, kann es ohnehin nur durch eine formelle Vertragsänderung geben) Staatlichkeit der Europäischen Union/Europäischen Gemeinschaft selbst unter Berufung auf die Dynamik der Integration, jedenfalls die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung übersteigt. (3) Art. 48 EUV als Grenze für die Vertragsfortbildung Eine weitere Grenze für die Befugnis des Europäischen Gerichtshofs, das Recht fortzubilden, dürfte sich aus Art. 48 EUV ergeben. Danach liegt das Recht zur Vertragsänderung nämlich letztlich bei den Mitgliedstaaten, auch wenn Art. 48 EUV die Beteiligung diverser Organe der Gemeinschaften im Rahmen des Änderungsverfahrens vorsieht.137 Aus Art. 48 EUV ergibt sich aber ganz offensichtlich, dass die EU/EG als Herrschaftsverband nicht allein die sie begründenden Verträge zu ändern vermag.138 Diese Kompetenz soll ihr nicht zustehen. Damit kann aber die Befugnis des EuGH, auch das 136 Zum Prinzip der Gemeinschaftstreue bzw. Unionstreue siehe P. Unruh, EuR 2002, 41, 45 ff. 137 Siehe etwa Meng, in: v. d. Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EUV, Rn. 1 ff.; H.-J. Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rn. 4; sehr nachdrücklich auch H.-H. Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 Rn. 4: „Die abgegebenen Stellungnahmen sind [. . .] unverbindlich.“ Siehe auch Vedder/Folz, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Art. 48 EUV Rn. 46 ff. 138 So auch Meng, in: v. d. Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EUV, Rn. 2, 3; Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rn. 4 f.; sehr nachdrück-

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Primärrecht fortzubilden, nicht soweit reichen, dass sich dessen Rechtsfortbildung wie eine Vertragsänderung auswirkt.139 Freilich kann es dem Gerichtshof nun nicht völlig versagt sein, Lücken im Primärrecht aufzufüllen, auch wenn sich dies – ganz streng genommen – bereits als Vertragsänderung qualifizieren ließe.140 Vielmehr ist nach Gesichtspunkten zu forschen, nach denen sich zulässige richterliche Vertragsergänzung (Rechtsfortbildung) und unzulässige richterrechtliche Vertragsänderung voneinander abgrenzen lassen. Hierzu ist zunächst einmal näher zu bestimmen, welches materielle Gewicht einer Vertragsänderung zukommen muss und was eine solche überhaupt ausmacht, sodann sind Bereiche auszusondern, wo das Gemeinschaftsrecht zwar vervollständigt bzw. ergänzt wird, die Gemeinschaftsverträge jedoch nicht i. S. d. Art. 48 EUV geändert werden. (a) Die Mitgliedstaaten als Herren der Verträge Art. 48 Abs. 3 EUV lässt wohl am deutlichsten von allen Normen der Verträge erkennen, dass die Mitgliedstaaten noch stets die „Herren der Verträge“ sind.141 In ihm wird nämlich festgelegt, dass Änderungen der Verträge nur in Kraft treten, nachdem sie von allen Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften ratifiziert worden sind. Damit wird der Souveränitätsanspruch der Mitgliedstaaten betont und die noch stets völkerrechtliche Natur der Europäischen Union/Europäischen Gemeinschaften hervorgehoben. Eine Kompetenzerweiterung gegen oder ohne den Willen eines jeden einzelnen Mitgliedstaats ist nicht möglich.142 Selbst wenn die Organe der Gemeinschaften beim Vertragsänderungsverfahren beteiligt werden (Initiativrecht, Anhörungsrecht, vgl. Art. 48 Abs. 1, 2 EUV), muss man doch klar erkennen, dass die letzte Entscheidung über die Vertragsänderung ausschließlich bei den Mitgliedstaaten anlich auch Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 Rn. 3 f.; Vedder/Folz, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Art. 48 EUV Rn. 46 ff. 139 So zu Recht Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rn. 4. 140 Dies hebt auch Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rn. 4, richtig hervor. 141 In diesem Sinne auch Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rn. 6; Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rn. 4; kritisch Vedder/ Folz, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Art. 48 EUV Rn. 46; U. Everling, FS R. Bernhardt, S. 1161 f., weist darauf hin, dass diese Frage v. a. im Streit wurzele, ob die Mitgliedstaaten die Verträge noch außerhalb des Verfahrens nach Art. 48 EUV auf normalem, völkerrechtlichen Wege ändern könnten. 142 So die einhellige Auffassung, vgl. nur Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rn. 4 m. w. N.

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gesiedelt ist.143 Die Verbandskompetenz für die Vertragsänderung liegt also bei diesen. Auch wenn man anerkennt, dass der EuGH im Rahmen der Grundsätze des effet utile und der implied powers zur Erweiterung der Kompetenzen i. S.e. Kompetenzabrundung ermächtigt ist, so hat er doch nicht die Befugnis, die Verträge zu ändern.144 Dass die implied-powers-Doktrin nicht unter eine unzulässige, da kompetenzschaffende Rechtsfortbildung fällt, liegt darin begründet, dass es sich bei den implied powers nicht wirklich um neugeschaffene, auf Richterrecht basierenden Kompetenzen handelt. Vielmehr sind diese Befugnisse der Gemeinschaft kraft Sachzusammenhangs zu ausdrücklich verliehenen Kompetenzen von den Mitgliedstaaten im Vertrag stillschweigend mitübertragen worden.145 Die Feststellung des Bestehens einer implied power durch den EuGH wirkt also lediglich deklaratorisch, nicht konstitutiv. Als zentraler, die Rechtsfortbildung des Gerichtshofs begrenzender Gesichtspunkt, der sich aus Art. 48 EUV gewinnen lässt, bleibt also festzuhalten, dass der Gemeinschaft die Befugnis zur Vertragsänderung nicht zusteht. Ob die Mitgliedstaaten die Verträge auch abseits von Art. 48 EUV – also ganz ohne Beteiligung der Gemeinschaftsorgane – nach den allgemeinen völkerrechtlichen Regeln ändern können, ist stark umstritten,146 braucht hier aber letztlich nicht entschieden zu werden, da die Verbandskompetenz der Mitgliedstaaten zur Vertragsänderung feststeht. Will man nun nicht jegliche Rechtsfortbildung des Gerichtshofs im Bereich des Primärrechts als unzulässig, da in gewisser Weise vertragsändernd und damit ultra vires zustandegekommen, qualifizieren, so muss man den Begriff der Vertragsänderung genau fassen und diesen von möglichen anderen Stufen richterlicher Rechtsfortbildung abgrenzen. 143 Dies betont nachdrücklich Herrnfeld, in: Schwarze/EUV/EGV, Art. 48 EUV Rn. 4. 144 Zu den implied powers siehe näher bereits Nicolaysen, EuR 1966, 129 ff.; H. Köck, FS Seidl-Hohenveldern, S. 279 ff. 145 So spricht etwa Nettesheim, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 433 Fn. 54 ebenfalls von Kompetenzen kraft Sachzusammenhangs, kraft Natur der Sache und von Annexkompetenzen. 146 So wird teilweise geltend gemacht, Art. 48 EUV könne den Mitgliedstaaten nicht das allgemeine Recht nehmen, durch formlosen Vertrag den EG-Vertrag abzuändern; Art. 48 sei keine zwingende Vorschrift. In diesem Sinne etwa M. Zuleeg, GS Sasse, S. 59; in diese Richtung tendiert auch P. Pescatore, L’orde juridique, p. 63; Deliège-Sequaris, CDE 16 (1980), 552; andere halten Art. 48 EUV für zwingendes Recht, etwa Everling, FS Mosler, S. 178 ff.; Jacot-Guillarmod, p. 12; Sørensen, FS Kutscher, S. 415, 432; Ein umfassender Überblick über den Streitstand findet sich bei Meng, in: v. d. Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rn. 24 ff.

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(aa) Formen der „Vertragsänderung“ durch richterliche Rechtsfortbildung Bei der „Vertragsänderung“ – formal kann es sich niemals um eine solche handeln, materiell hingegen schon – durch richterliche Rechtsfortbildung lassen sich wohl drei Grundformen unterscheiden, nämlich erstens die Kompetenzerweiterung, bei welcher der Gemeinschaft neue Befugnisse zugesprochen werden, zweitens die Kompetenzergänzung, bei der bereits im Vertrag vorgesehene Kompetenzen derart ergänzt werden, dass sie sinnvoll wahrgenommen werden können, sowie drittens eine Kompetenzbeschränkung, wo der Gemeinschaft richterrechtlich Grenzen für die Ausübung ihrer Befugnisse gezogen werden. (a) Vertragsänderung durch Kompetenzerweiterung Ziemlich klar als materielle Vertragsänderung, welche eine an der Grenze des Art. 48 EUV zu messende, unzulässige Rechtsfortbildung darstellt, ist der Fall einzustufen, in dem der Gemeinschaft neue, im Vertrag nicht vorgesehene Befugnisse gegenüber den Mitgliedstaaten eingeräumt werden. Eine derartige Kompetenzerweiterung steht nicht dem Gerichtshof, sondern ausschließlich den Mitgliedstaaten als Herren der Verträge zu. Auch wenn der EuGH zur Wahrung des Rechts zuständig ist, so bleibt er doch ein Gericht unter den Verträgen147 und darf sich nicht außerhalb derselben stellen. Eine wirkliche Kompetenzerweiterung im Sinne von einer richterrechtlichen Übertragung neuer Befugnisse auf die Gemeinschaft, wäre eine unzulässige Rechtsfortbildung. (b) Vertragsänderung durch Kompetenzbeschränkung Relativ klar ist auch, dass eine richterrechtliche Beschränkung der Gemeinschaftskompetenzen – zumindest im Hinblick auf die Schranke der Verbandskompetenz – zulässige richterliche Rechtsfortbildung ist. Hier nimmt der Gerichtshof nämlich lediglich ohnehin den Gemeinschaften übertragene Befugnisse zurück, bzw. lenkt deren Ausübung in gewisse, rechtsstaatliche Bahnen. Die Musterbeispiele hierfür stellen die Grundrechtsrechtsprechung148 des EuGH und die Herausbildung rechtsstaatlicher Prinzi147

Ebenso Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rn. 4. Vgl. dazu etwa EuGH, Urt. v. 13.12.1979, RS. 44/79 (Hauer/Land Rheinland-Pfalz), Slg. 1979, 3727, 3747 (Rn. 23). Dazu Everling, Der Beitrag des Europäischen Gerichtshofs zur europäischen Grundrechtsgemeinschaft, S. 167, 169. 148

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pien149 wie des Vertrauensschutzes dar. Dass hier mangels besonderer Bestimmungen im Vertrag die richterrechtliche Gewährleistung von Grundrechten und zentralen rechtsstaatlichen Verbürgungen gegenüber dem Bürger nicht nur erlaubt, sondern aus Sicht des nationalen Verfassungsrechts (vgl. Art. 23 Abs. 1 S. 1, 3 GG; Kap. 10 § 5 Schwedische Verfassung) sogar geboten ist, wurde bereits erörtert.150 (g) Vertragsergänzung Am schwierigsten zu fassen ist die Fallgruppe, bei welcher der Vertrag ergänzt wird, ohne dass der Gemeinschaft richterrechtlich wirklich neue Kompetenzen zugesprochen werden oder die Gemeinschaftsorgane in ihren Befugnissen beschränkt werden. In diese Gruppe fallen so bedeutsame Rechtsfortbildungen wie die Postulierung des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts,151 aber etwa auch die schrittweise Aufwertung des Europäischen Parlaments als Verfahrensbeteiligter vor dem EuGH.152 Auch in diesen Fällen, wo die Verbandskompetenz der Gemeinschaft nicht erweitert wird und auch sonst nicht grundlegend in das Vertragsgefüge eingegriffen wird, kann man eine richterliche Rechtsfortbildung wohl nicht an der Grenze des Art. 48 EUV scheitern lassen.

Siehe zur Beschränkung der Grundrechte auch EuGH, Urt. v. 5.10.1994, RS. C-280/93 (Deutschland/Rat – „Bananenmarktordnung“), Slg. 1994, I-4973, I-5064 (Rn. 73 ff.). 149 Man denke etwa an so zentrale Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips im Gemeinschaftsrecht wie den Vertrauensschutz durch EuGH, Urt. v. 5.7.1973, RS. 1/73 (Westzucker), Slg. 1973, 533, 547 ff. oder den Bestimmtheitsgrundsatz in EuGH, Urt. v. 9.7.1981, RS. 169/80 (Conrad Feres), Slg. 1981, 1931, 1942. 150 So wird man im Übrigen auch die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts verstehen müssen, vgl. BVerfGE 73, 339 (LS. 2) in welcher das Bundesverfassungsgericht ankündigt, seine Gerichtsbarkeit zurückzunehmen, solange der EuGH einen wirksamen und dem Grundgesetz im Wesentlichen gleichzuachtenden Grundrechtsschutz gegenüber der Hoheitsgewalt generell gewährleiste. 151 Zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts vgl. nur die bahnbrechenden Entscheidungen des Gerichtshofs, EuGH, Urt. v. 5.2.1963, RS. 26/62 (van Gend & Loos/ Niederländische Finanzverwaltung), Slg. 1963, 1, 24; EuGH, Urt. v. 15.7.1964, RS. 6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1964, 1251, 1269 ff.; zu den Grundsätzen, nach denen der Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Recht durchzusetzen ist EuGH, Urt. v. 9.3.1978, RS. 106/77 (Staatliche Finanzverwaltung/Simmenthal II), Slg. 1978, 629, 643 (Rn. 14/16 ff.). 152 EuGH, Urt. v. 23.4.1986, RS. 294/83 (Les Verts/Parlament), Slg. 1986, 1339 ff.; EuGH, Urt. v. 22.5.1990, RS. C-70/88 (Parlament/Rat), NJW 1990, 1899 f.

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(d) Abgrenzung Vertragsänderung durch Kompetenzerweiterung/Vertragsergänzung Fraglich ist nun aber, wie sich diese Fälle von jenen der echten, materiellen Vertragserweiterung abgrenzen lassen. Hierfür wäre zu erwägen, die Kriterien, welche zur Abgrenzung der Ersatzkompetenz in Art. 308 EGV von der Vertragsänderungskompetenz nach Art. 48 EUV entwickelt wurden, entsprechend heranzuziehen. Um eine schärfere Trennlinie zwischen der Vertragsänderung und der Ersatzkompetenz des Art. 308 EGV hat sich der Gerichtshof in seinem Gutachten 2/94 bemüht.153 Dabei ging es um die Frage, ob die Gemeinschaften auf Grundlage des Art. 308 (damals Art. 235 EGV a. F.) der EMRK hätten beitreten können. Für die Abgrenzung einer Vertragsanpassung nach Art. 308 EGV von der Vertragsänderung nach Art. 48 EUV (Ex-Art. N EUV), stellt der Gerichtshof auf die Folgen der beabsichtigten Maßnahme ab.154 Ein Vorhaben sollte jedenfalls dann die Grenzen des Art. 308 EGV übersteigen, wenn seine Folgen einer Vertragsänderung gleichkämen.155 Hinsichtlich des Beitritts der Gemeinschaften zur EMRK führt der Gerichtshof unter Bezugnahme auf die entwickelten Abgrenzungskriterien sodann aus, eine solche Änderung des Systems des Schutzes der Menschenrechte in der Gemeinschaft, die grundlegende institutionelle Auswirkungen sowohl auf die Gemeinschaft als auch auf die Mitgliedstaaten habe, sei von verfassungsrechtlicher Dimension und ginge daher ihrem Wesen nach über die Grenzen des Art. 308 EGV hinaus. Sie könne nur im Wege einer (förmlichen) Vertragsänderung vorgenommen werden.156 Damit ist freilich noch kein trennscharfes Instrumentarium zur Abgrenzung geliefert, doch wird deutlich, dass es auf das Gewicht der Folgen der Änderung, eben ihre verfassungsrechtliche Dimension, ankommt. Hat die Änderung so gewichtige Folgen, wie sie sonst nur durch Vertragsänderung erreicht werden könnten, so muss dies auch auf diesem Wege geschehen, das Vorhaben darf also nicht auf Art. 308 gestützt werden.157 153

Siehe EuGH, Gutachten v. 28.3.1996, Gutachten 2/94 (Beitritt zur EMRK), Slg. 1996, I-1759, I-1763 ff. 154 EuGH, Gutachten v. 28.3.1996, Gutachten 2/94 (Beitritt zur EMRK), Slg. 1996, I-1759, I-1788 (Rn. 30); dazu auch U. Häde/A. Puttler, EuZW 1997, 13, 16. 155 So mit Recht EuGH, Gutachten v. 28.3.1996, Gutachten 2/94 (Beitritt zur EMRK), Slg. 1996, I-1759, I-1788 f. (Rn. 30, 34); ebenso S. Schreiber, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 308 EGV Rn. 35; Häde/Puttler, EuZW 1997, 13, 16; Schwartz, in: v. d. Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 308 EGV Rn. 27 f. 156 Vgl. EuGH, Gutachten v. 28.3.1996, Gutachten 2/94 (Beitritt zur EMRK), Slg. 1996, I-1759, I-1789 (Rn. 35). 157 Siehe EuGH, Gutachten v. 28.3.1996, Gutachten 2/94 (Beitritt zur EMRK), Slg. 1996, I-1759, I-1789 (Rn. 35). Ebenso Häde/Puttler, EuZW 1997, 13, 17; Schwartz, in: v. d. Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 308 EGV Rn. 26.

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Diese vom EuGH entwickelte Abgrenzung zwischen Vertragsergänzung nach Art. 308 EGV und Vertragsänderung nach Art. 48 EUV erscheint mir nun dem Grundgedanken nach auch sinnvoll auf die Unterscheidung von noch zulässiger Rechtsfortbildung (Vertragsergänzung) und unzulässiger richterlicher Vertragsänderung. Soweit eine richterrechtliche Vertragsmodifikation noch keine verfassungsrechtliche Dimension erlangt hat, ist sie – zumindest – am Maßstab der Verbandskompetenz gemessen, noch zulässig. Erreicht die richterliche Vertragsfortbildung allerdings ein solches Gewicht, dass diese Änderung nur im Wege des förmlichen Vertragsänderungsverfahrens eingeführt werden könnte, so handelt es sich dabei um eine unzulässige, die Rechtsfortbildungsgrenze des Art. 48 EUV übersteigende Rechtsfortbildung des EuGH. (bb) Beispiel vertragsändernder Rechtsfortbildung Vor diesem Hintergrund der Abgrenzung von noch zulässiger vertragsergänzender Rechtsfortbildung und unzulässigem, vertragsänderndem Richterrecht, welches die durch Art. 48 EUV gezogene Kompetenzgrenze verletzt, drängt sich als Beispiel für letzteres, die vom EuGH postulierte unmittelbare Wirkung von Richtlinien158 und Entscheidungen159, wie auch die Beachtlichkeit von Empfehlungen für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch nationale Behörden und Gerichte,160 geradezu auf. Für eine am Maßstab des Art. 48 EUV unzulässige Rechtsfortbildung contra pactum sprechen in diesen ähnlichen Fällen gleich mehrere Gesichtspunkte, welche in ihrer Gesamtheit der Rechtsfortbildung verfassungsrechtliches Gewicht verleihen, weshalb diese den Mitgliedstaaten vorbehalten gewesen wäre. (a) Argumente gegen diese Rechtsfortbildung Zuvörderst widerspricht die Judikatur des Gerichtshofs zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien und Entscheidungen, entgegen seiner anderslautenden Beteuerung, klar dem Wortsinn des Art. 249 EGV.161 158 Vgl. zu dieser nur EuGH, Urt. v. 4.12.1974, RS. 41/74 (van Duyn/Home Office), Slg. 1974, 1337, 1348 Rn. 12 ff.; siehe auch EuGH, Urt. v. 19.1.1982, RS. 8/81 (Becker/Finanzamt Münster-Innenstadt), Slg. 1982, 53, 70 (Rn. 21 ff.). 159 Siehe EuGH, Urt. v. 6.10.1970, RS. 9/70 (Franz Grad/Finanzamt Traunstein), Slg. 1970, 825, 838 (Rn. 5). 160 So EuGH, Urt. v. 13.12.1989, RS. C-322/88 (Grimaldi/Fonds des maladies professionnelles), Slg. 1989, I-4407, I-4421 (Rn. 18). 161 So auch Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 735, 737.

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Ebenso wenig ist die Verbindlichkeit von Empfehlungen mit dem Wortlaut des Art. 249 EGV in Einklang zu bringen.162 Nach Art. 249 Abs. 5 EGV sind – und daran gibt es nichts zu deuteln – Empfehlungen und Stellungnahmen nicht verbindlich. Indem der Gerichtshof diese nunmehr als bei der Auslegung von Gemeinschaftsrecht durch nationale Gerichte und Behörden zu beachtend einstuft, lässt er den Empfehlungen mittelbar eine Verbindlichkeit zukommen, die sie nach dem Vertrag gerade nicht haben sollten. Deutlicher als Art. 249 Abs. 5 EGV kann man eine Bestimmung kaum fassen. Damit aber überschreitet der Gerichtshof seine Befugnisse und entledigt sich der Bindung an die Verträge. Folglich handelt es sich bei dieser Rechtsfortbildung um eine solche contra pactum, da sie die Grenzen des Art. 48 EUV überschreitet. Freilich begegnet der EuGH diesem Wortlautargument damit, dass der Art. 249 EGV eben nicht abschließend sei.163 Hiergegen spricht jedoch, wie sich gleich hinsichtlich der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien zeigen lässt, die Systematik des Vertrages. Denn gegen die Notwendigkeit einer unmittelbaren Wirkung von Richtlinien lassen sich gleich zwei systematische Argumente anführen. Erstens ein Vergleich von Art. 249 Abs. 2 EGV, welcher für die Verordnung bestimmt, dass sie in allen Teilen verbindlich sei und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gelte, mit Art. 249 Abs. 3 EGV, in dem für die Richtlinie eben jener Zusatz der unmittelbaren Geltung in jedem Mitgliedstaat fehlt.164 Hieraus lässt sich ableiten, dass Richtlinien eben nicht unmittelbar gelten sollen, sondern vielmehr, wie es Art. 249 162 Siehe aber EuGH, Urt. v. 13.12.1989, RS. C-322/88 (Grimaldi/Fonds des maladies professionnelles), Slg. 1989, I-4407, I-4421 (Rn. 18, wo der Gerichtshof anmerkt: „Um jedoch die Frage des vorlegenden Gerichts vollständig zu beantworten, ist darauf hinzuweisen, daß die fraglichen Maßnahmen nicht als rechtlich völlig wirkungslos angesehen werden können. Die innerstaatlichen Gerichte sind nämlich verpflichtet, bei der Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten die Empfehlungen zu berücksichtigen, insbesondere dann, wenn diese Aufschluß über die Auslegung zu ihrer Durchführung erlassener Rechtsvorschriften geben oder wenn sie verbindliche gemeinschaftsrechtliche Vorschriften ergänzen sollen.“ 163 Für die unmittelbare Wirkung von Richtlinien EuGH, Urt. v. 4.12.1974, RS. 41/74 (van Duyn/Home Office), Slg. 1974, 1337, 1348 (Rn. 12); für Enscheidungen vgl. EuGH, Urt. v. 6.10.1970, RS. 9/70 (Franz Grad/Finanzamt Traunstein), Slg. 1970, 825, 838 (Rn. 5). 164 So etwa BFHE 1133, 470, 471; BFHE 143, 383, 388; vgl. auch die Rechtsprechung des frz. Conseil d’État, in deutscher Übersetzung abgedruckt in EuR 1979, 292, 293; Originalfassung in Réceuil Dalloz 1979, 155 ff. Vom Verständnis, dass Art. 189 EWG-Vertrag (Art. 249 EGV) den Gemeinschaften nicht die Befugnis einräumt, Richtlinien ähnliche Wirkungen wie Verordnungen beizumessen, sind auch die Vertragsschließenden ausgegangen, vgl. dazu Oldekop, JöR 21 N. f. (1972), 55, 104; Tomuschat, EuGRZ 1979, 257, 259; Fuß, GS Sasse, Bd. I, 171, 174; Everling, FS Carstens, 95, 97.

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Abs. 3 EGV bestimmt, den Mitgliedstaaten die Wahl der Form und der Mittel der Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht überlassen werden. Zweitens ist gegen die Rechtsfortbildung der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien und Entscheidungen vorzubringen, dass der Gerichtshof für diese als maßgebliches Argument den effet utile anführt.165 Diese Begründung kann nun aber aus systematisch-teleologischen Erwägungen nicht durchdringen. Denn mit den Vertragsverletzungsklagen nach Art. 226, 227 EGV hat der Vertrag eigens ein Instrumentarium geschaffen, mittels dessen die Mitgliedstaaten zur Einhaltung ihrer vertraglichen Verpflichtungen angehalten werden können.166 Auch der Schutz des gegebenenfalls von der Richtlinie begünstigten Bürgers,167 kann nicht als durchschlagendes Argument angeführt werden. Abhilfe kann in diesen Fällen nämlich in der Regel ein gemeinschaftsrechtlicher oder auch ein der nationalen Rechtsordnung entspringender Staatshaftungsanspruch bieten, ohne dass einem gemeinschaftsrechtlichen Rechtsakt richterrechtlich eine vom Vertrag nicht vorgesehene unmittelbare Wirkung beigemessen werden müsste. (b) „Verfassungsrechtliche Dimension“ dieser Rechtsfortbildung Fraglich ist nun, ob der Rechtsfortbildung zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien und Entscheidungen sowie der Beachtlichkeit von Empfehlungen ein solches Gewicht beizumessen ist, dass sie nur im Wege der Vertragsänderung hätte eingeführt werden können. Zieht man, wie oben erläutert, die Kriterien des EuGH zur Abgrenzung von Art. 308 EGV und Art. 48 EUV heran, so dürften unmittelbare Wirkung und Verbindlichkeit keine verfassungsrechtliche Dimension erreichen, da sie sonst nur mittels einer förmlichen Vertragsänderung gem. Art. 48 EUV hätten eingeführt werden dürfen, nicht aber mittels richterlicher Rechtsfortbildung. Hat nun also die unmittelbare Wirkung von Richtlinien und Entscheidungen und die 165 So die st. Rspr., vgl. EuGH, Urt. v. 4.12.1974, RS. 41/74 (van Duyn/Home Office), Slg. 1974, 1337, 1348 (Rn. 12); EuGH, Urt. v. 19.1.1982, RS. 8/81 (Becker/Finanzamt Münster-Innenstadt), Slg. 1982, 53, 70 (Rn. 22). 166 Wie wenig tragfähig das Argument der praktischen Wirksamkeit (effet utile) ist, zeigt sich daran, dass die Direktwirkung der Richtlinie selbstverständlich keinem Mitgliedstaat dazu dienen kann, sich der Verpflichtung zu entziehen, rechtzeitig Maßnahmen zur Umsetzung einer solchen Richtlinie zu ergreifen. Das bedeutet, dass die Kommission ggfs. auch später noch ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten muss. Vgl. dazu EuGH, Urt. v. 2.5.1996, RS. C-253/95 (Kommission/Deutschland), Slg. 1996, I-2423, I-2430 (Rn. 13); siehe ebenfalls GA A. La Pergola, Schlussanträge v. 14.3.1996, RS. C-253/95 (Kommission/Deutschland), Slg. 1996, I-2425 (Nr. 3). 167 So aber EuGH, Urt. v. 19.1.1982, RS. 8/81 (Becker/Finanzamt Münster-Innenstadt), Slg. 1982, 53, 70 (Rn. 22).

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Beachtlichkeit von Empfehlungen jene verfassungsrechtliche Dimension erreicht? Für die Bejahung dieser Frage streiten mehrere Argumente. Zum ersten hat der Gerichtshof mit seiner Rechtsfortbildung im Prinzip neue Rechtsakte geschaffen, die nach Wortlaut und Systematik des EG-Vertrages so nicht vorgesehen waren, nämlich die unmittelbar wirksame Richtlinie bzw. Entscheidung und die beachtliche Empfehlung. Dass es sich quasi um eine neue Kategorie an Rechtsakten handelt, zumindest im Hinblick auf die unmittelbar wirksamen Richtlinien, zeigt sich daran, dass Richtlinien mittlerweile aufgrund der Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Wirkung häufig so präzise gefasst sind, dass es sich bei diesen praktisch um leges perfectae handelt168 und den Mitgliedstaaten kaum noch ein Umsetzungsspielraum verbleibt. Damit soll bereits im Voraus den Anforderungen entsprochen werden, welche der Gerichtshof an die unmittelbare Wirkung stellt.169 Dieses kommt dann aber der Einführung einer neuen Rechtsaktskategorie gleich, was durchaus verfassungsrechtliches Gewicht besitzt. Des Weiteren ist zu beachten, dass die unmittelbar wirksame Richtlinie einen weitaus stärkeren Eingriff in die Souveränität der Mitgliedstaaten bedeutet, als etwa die Verurteilung im Vertragsverletzungsverfahren, in welcher dem Mitgliedstaat lediglich ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht bescheinigt wird. Art. 249 Abs. 3 EGV überlässt den Mitgliedstaaten nämlich die Wahl der Form und der Mittel hinsichtlich des zu erreichenden Zieles. Diese Wahlfreiheit ist nun nach der Rechtsprechung des EuGH solange ausgesetzt, wie die säumigen, vertragsverletzenden Mitgliedstaaten die Richtlinie nicht umsetzen. Nun gilt aber bei völkerrechtlichen Verträgen – und um solche handelt es sich bei den Gemeinschaftsverträgen allen Besonderheiten zum Trotz noch stets –, dass bei einer Einschränkung der staatlichen Souveränität diejenige Auslegung anzuwenden ist, welche für die Staaten die geringste Belastung bedeutet.170 Dann aber kann man Art. 249 Abs. 3 EGV nicht im Wege der Auslegung bzw. Rechtsfortbildung entnehmen, dass nicht fristgerecht umgesetzte Richtlinien unmittelbar gelten, so168 Von einer lex perfecta spricht man, wenn eine Norm einen präzisen Tatbestand und eine bestimmte Rechtsfolge aufweist, also aus sich selbst heraus anwendbar ist. Vgl. dazu etwa Röhl, S. 191 mit einem Verweis auf Ulpian. 169 Zu den Voraussetzungen einer unmittelbaren Wirkung von Richtlinien vgl. nur EuGH, Urt. v. 19.1.1982, RS. 8/81 (Becker/Finanzamt Münster-Innenstadt), Slg. 1982, 53, 70 ff.; siehe auch die Kommentierung von Schroeder, in: Streinz, EUV/ EGV, Art. 249 EGV Rn. 106 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 170 Zu diesem dem allgemeinen Völkerrecht entstammenden Grundsatz Doehring, Völkerrecht, Rn. 393 f., der allerdings die Geltung dieses Grundsatzes für sog. lawmaking treaties wie den EG-Vertrag zurücknimmt. Siehe zum Europäischen Gemeinschaftsrecht Herdegen, Europarecht, Rn. 200 f., der die am effet utile orientierte Vertragsauslegung des Gerichtshofs erläutert; vgl. ebenfalls W. Schroeder, JuS 2004, 180 ff.

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weit es sich bei ihnen um leges perfectae handelt. Entsprechendes ist zu der unmittelbaren Wirkung von Entscheidungen anzuführen. Nämliches gilt für die Beachtlichkeit von Empfehlungen. Auch hier wird – sogar gegen den eindeutigen Wortlaut des EG-Vertrages – stärker in die Souveränität der Mitgliedstaaten eingegriffen, als der Vertrag dieses vorsieht. Denn auch durch die mittelbare Bindung über die Beachtlichkeit bei der Auslegung werden die, ansonsten völlig unabhängig handelnden nationalen Behörden und Gerichte, in ihrem Entscheidungsspielraum beschränkt. Dieses stellt aber eine Beeinträchtigung der Souveränität der Mitgliedstaaten dar. Stärkere Beschränkungen der mitgliedstaatlichen Souveränität dürften im Gemeinschaftsrecht aber stets von solchem Gewicht sein, dass sie eine verfassungsrechtliche Dimension erreichen. Dann aber hätten es nur die Mitgliedstaaten im Wege des förmlichen Vertragsänderungsverfahrens nach Art. 48 EGV vermocht, eine unmittelbare Wirkung von Richtlinien und Entscheidungen, sowie die Beachtlichkeit von Empfehlungen für nationale Behörden und Gerichte, einzuführen. Der Gerichtshof hat mit seiner Rechtsfortbildung in diesem Bereich die Verbandskompetenz der Mitgliedstaaten missachtet, womit er die seiner Rechtsfortbildungsbefugnis durch Art. 48 EUV gezogene Grenze überschritten hat. Folglich handelt es sich bei der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien und Entscheidungen, ebenso wie bei der Verbindlichkeit von Empfehlungen bei der Auslegung von Gemeinschaftsrecht, um eine unzulässige Rechtsfortbildung contra pactum. Dennoch geht die ganz h. M. in der Literatur171 wie auch das Bundesverfassungsgericht172 davon aus, dass es sich um eine zulässige Rechtsfortbildung handelt. So hat das Bundesverfassungsgericht die Anerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien noch als legitime Rechtsfortbildung gedeutet, die sich im Rahmen europäischer Rechtstradition bewege.173 Nichtsdestotrotz halte ich an meiner Einschätzung fest, dass der EuGH mit der Schaffung unmittelbar anwendbarer Richtlinien seine Kompetenzgrenzen überschritten hat, da selbst Befürworter dieser Rechtsprechung einräumen, dass die Vertragsparteien von 1957 eine solche unmittelbare An171 So etwa Schroeder, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 249 EGV Rn. 102; Everling, FS Carstens, S. 95; V. Götz, NJW 1992, 1849, 1855 f.; Bach, JZ 1990, 1108; M. Karoff, RabelsZ 48 (1984), 649, 659 ff.; P. Manin, RTDE, 26 (1990), 669; P. E. Morris, Journal of Business Law 1989, 233, 309; G. Ress, GS Arens, 351, 358 f.; T. Schilling, ZaöRV 48 (1988), 637, 648 ff.; U. Sackowsky, S. 91, 93; A. Scherzberg, Jura 1993, 225; eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem früheren Schrifttum findet sich bei A. Oldenbourg, S. 218 ff. 172 Vgl. BVerfGE 75, 223, 241 ff. 173 So BVerfGE 75, 223, 241, insbes. 243 f.

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wendbarkeit nicht gewollt haben.174 Damit fehlt es den Gemeinschaften aber an der Verbandskompetenz; zur Vertragsänderung sind nur die Mitgliedstaaten, nicht aber die Gemeinschaften befugt, so das auch die Aussage des Bundesverfassungsgerichts, die Mitgliedstaaten hätten die Gemeinschaften nicht mit einem Gericht ausstatten wollen, dem die Wege der Rechtsfortbildung nicht offen stünden,175 ins Leere laufen muss. Letzteres sei dem EuGH unumwunden zugestanden, dennoch sind der Rechtsfortbildungskompetenz des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften Grenzen gesetzt und diese finden sich eben nicht zuletzt in der Verbandskompetenz. Ohne diese kann dem Gerichtshof auch keine Rechtsfortbildungsbefugnis zugesprochen werden. Folglich muss es bei der Feststellung bleiben, dass es sich bei dieser Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs um eine unzulässige Rechtsfortbildung handelt. Auf die Rechtsfolgen einer solchen grenzüberschreitenden, unzulässigen Rechtsfortbildung soll in einem eigenen Kapitel eingegangen werden (vgl. § 2 E.). Losgelöst von der Einstufung als Rechtsfortbildung contra pactum ist die Frage zu betrachten, ob die unmittelbare Wirkung von Richtlinien nicht deshalb als Figur des Gemeinschaftsrechts akzeptiert werden muss, weil sie mittlerweile als Gemeinschaftsgewohnheitsrecht176 anzusehen ist. Dieser Frage soll jedoch erst im nächsten Kapitel nachgegangen werden. (b) Zusammenfassung Den Europäischen Gemeinschaften fehlt – trotz der Beteiligung von Rat und Europäischem Parlament im Vertragsänderungsverfahren gem. Art. 48 EUV – die Verbandskompetenz für eine eigenständige Vertragsänderung. Diese ist letztlich den Mitgliedstaaten allein zugewiesen, insoweit sind diese noch stets die „Herren der Verträge“. Der Gerichtshof ist also nicht befugt, den Vertrag im Wege der Rechtsfortbildung zu ändern. Dieses bedeutet nun aber nicht, dass dem EuGH jegliche Rechtsfortbildung im Bereich des Primärrechts verwehrt wäre. Vertragsergänzungen und Kompetenzbeschränkungen der Europäischen Gemeinschaften sind zulässig. Eine Abgrenzung zwischen am Maßstab der Grenze des Art. 48 EUV unzulässiger richterlicher Vertragsergänzung und zulässiger Vertragsergänzung lässt sich anhand der 174

Hierauf weisen etwa Oldekop, JöR 21 N. f. (1972), 55, 104; Tomuschat, EuGRZ 1979, 257, 259; Fuß, GS Sasse, Bd. I, 171, 174; Everling, FS Carstens, 95, 97 hin. 175 So aber BVerfGE 75, 223, 241 f. 176 Die hierfür erforderlichen Voraussetzungen einer ständigen Übung und einer allgemeinen Rechtsüberzeugung dürften sogar erfüllt sein.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

vom Gerichtshof entwickelten Grundsätze zur Abgrenzung von Art. 308 EGV und Art. 48 EUV vornehmen. Der EuGH stellt dabei auf das verfassungspolitische Gewicht einer Regelung ab. Unzulässige, grenzüberschreitende Rechtsfortbildung ist also gegeben, wenn der EuGH eine richterliche Rechtsfortbildung von solchem verfassungsrechtlichen Gewicht im Bereich des primären Gemeinschaftsrechts vornimmt, dass diese eigentlich nur durch eine förmliche Vertragsänderung hätte eingeführt werden können. Legt man diesen Maßstab an, so zeigt sich, dass die Rechtsprechung zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien entgegen der inzwischen fast einhelligen Meinung, eine unzulässige richterliche Rechtsfortbildung darstellt, da es sich hierbei quasi um die Schaffung neuer Rechtsakte handelt, was von erheblichem verfassungspolitischen Gewicht ist. (c) Exkurs: Der EuGH als „Motor der Integration“ und die Grenzen der Integration In engem Zusammenhang mit der Grenze der Vertragsänderung steht die selbstgewählte Rolle des EuGH als „Motor der Integration“.177 Dabei sucht der Gerichtshof, dem Integrationsauftrag der Präambel der Verträge – insbesondere des EGV – gerecht zu werden, indem er Rechtsfortbildung in Momenten politischen Stillstandes in der Gemeinschaft betreibt und dadurch die Integration vertieft. Dies ist zum einen schon mit der Verbandskompetenz der Gemeinschaften nicht zu vereinbaren, soweit tatsächlich Vertragsänderungen im Wege richterlicher Rechtsfortbildung vorgenommen werden, zum andern widerspricht die Rolle des Motors der Integration aber auch den dem Gerichtshof im Vertrag zugewiesenen Aufgaben.178 Die Wahrung des Rechts, die dem Gerichtshof in Art. 220 EGV anvertraut ist, ist eine zuvörderst bewahrende, rechtliche Aufgabe, welche nicht durch Wahrnehmung eines politischen Integrationsauftrages, welcher nicht dem Gerichtshof obliegt, überspielt werden darf. Die politische Integration ist, auch wenn dieses vor dem Hintergrund politischen Stillstandes durch die „Trägheit“ der Mitgliedstaaten ein europapolitisch unschönes Ergebnis sein mag, rechtlich noch immer ureigenste Aufgabe der Mitgliedstaaten. Mit dem bloßen Integrationsargument kann diese Zuständigkeit der Mitgliedstaaten nicht überwunden werden. 177 Dazu etwa G. Sander, Der EuGH, S. 46 f., 107 ff., der vom EuGH als Förderer der Integration spricht; siehe auch A. Bleckmann, GS Constantinesco, S. 61, 65 ff.; ebenfalls vom EuGH als Motor der Integration spricht G. Hirsch, JöR 49 n. f. (2001), 79, 83 ff., der betont, dass der Unterschied zwischen Rechtspolitik und Europarecht dem EuGH durchaus bewusst sei; siehe auch M. Zuleeg, JZ 1994, 1, 4 f. 178 Hierauf weist auch Hirsch, JöR 49 n. f. (2001), 79, 86 ff. hin.

D. Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung

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Die rechtliche Integration innerhalb bereits bestehender vergemeinschafteter Bereiche in der EG ist zuvörderst Aufgabe der „politischen“ Organe Rat, Kommission und Parlament. Letzteres sind jedoch Fragen der Organkompetenz, welche erst an späterer Stelle dieser Arbeit behandelt werden sollen. b) Das Subsidiaritätsprinzip gem. Art. 5 Abs. 2 EGV als Grenze richterlicher Rechtsfortbildungsbefugnis Sofern die Gemeinschaften prinzipiell zuständig sind, zieht das Subsidiaritätsprinzip aus Art. 5 Abs. 2 EGV der Verbandskompetenz der EG zusätzliche Grenzen.179 Das aus der katholischen Soziallehre180 stammende Prinzip bringt nämlich zum Ausdruck, dass die größere Einheit nur tätig werden darf, soweit nicht die kleinere Einheit die Aufgabe ebenso gut zu erfüllen vermag. Was dieses auf das Gemeinschaftsrecht gewendet bedeutet, bringt Art. 5 Abs. 2 EGV mit den Worten, „in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können“ zum Ausdruck. aa) Anwendbarkeit des Subsidiaritätsprinzips auf den EuGH Damit das Subsidiaritätsprinzip dem EuGH bei seiner Rechtsfortbildung Schranken ziehen kann, muss es überhaupt auf die Rechtsprechungstätigkeit desselben anwendbar sein. Erste – gewissermaßen negative – Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Subsidiaritätsprinzips ist, ausweislich des Wortlauts von Art. 5 Abs. 2 EGV, dass es sich nicht um Maßnahmen handelt, welche in den ausschließlichen Zuständigkeitsbereich der Gemeinschaft fal179 Ebenso D. Grimm, KritV 77 (1994), 6, 9; W. Kahl, AöR 118 (1993), 414, 441; R. v. Borries, EuR 1994, 263, 272; H. D. Jarass, AöR 121 (1996), 172, 192 f.; K. Lenaerts/P. v. Ypersele, CDE 1994, 3, 4 ff.; einen kurzen Überblick über die Einbeziehung des Subsidiaritätsprotokolls gibt M. Kenntner, NJW 1998, 2871 ff. 180 Das Subsidiaritätsprinzip hat seine bis heute noch nachwirkende Ausprägung in der Sozialenzyklika „Quadragesimo anno“ von Papst Pius XI aus dem Jahre 1931 erfahren. Seine philosophischen Wurzeln sollen jedoch bis zu Thomas v. Aquin und Aristoteles reichen. Vgl. hierzu Kahl, AöR 118 (1993), 414, Fn. 1. Zum verfassungsrechtlichen Hintergrund J. Isensee, Subsidiaritätsprinzip, insbes. S. 18–71; einen Überblick über die historischen, theologischen und philosophischen Wurzeln des Prinzips gewährt R. Herzog, in: ders./Kunst/Schlaich/Schneemelcher, Ev. Staatslexikon, Bd. 2 (3. Aufl.), Sp. 3564 ff.

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len. In diesen ausschließlichen Gemeinschaftszuständigkeitsbereichen findet das Subsidiaritätsprinzip keine Anwendung.181 Hinsichtlich der dem EuGH zugewiesenen Rechtsprechungsaufgaben, die im Vertrag aufgeführt sind, sind die Gemeinschaften im Sinne der Verbandskompetenz ausschließlich zuständig, da nur der EuGH diese Rechtsstreitigkeiten entscheiden soll.182 Im Bereich der gemeinschaftsrechtlichen Judikative gibt es hinsichtlich des Gemeinschaftsrechts also eine ausschließliche Zuständigkeit des EuGH respektive des Gerichts erster Instanz.183 Davon, dass dieses auch für die Rechtsfortbildung zu gelten hat, ist auszugehen. Wenn schon das Auslegungsmonopol des EuGH über das Vorlageverfahren gem. Art. 234 EGV gegenüber den mitgliedstaatlichen Gerichten gesichert wird, so muss auch die richterliche Rechtsfortbildung in den Händen des Gerichtshofs monopolisiert sein. Für diese Ausschließlichkeit der Zuständigkeit des Gerichtshofs spricht schließlich auch der Art. 292 EGV, der bestimmt, dass sich die Mitgliedstaaten verpflichten, Streitigkeiten über die Auslegung und die Anwendung des EG-Vertrages nicht anders als darin vorgesehen (und dies bedeutet vor dem EuGH) zu regeln.184 Damit wird die ausschließliche Zuständigkeit des Gerichtshofs (und des Gerichts erster Instanz) in Rechtsprechungsangelegenheiten deutlich anerkannt.185 Folglich ist das Subsidiaritätsprinzip nicht unmittelbar auf den EuGH anzuwenden, so dass sich auf diesem Wege keine Grenze richterlicher Rechtsfortbildung erster Stufe aus dem Art. 5 Abs. 2 gewinnen lässt. Dass es nicht direkt auf den EuGH anwendbar ist, bedeutet freilich nicht, dass es den EuGH nicht mittelbar, als Teil des justitiablen Gemeinschaftsrechts, zu beschränken in der Lage wäre.186

181 Dieses ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Art. 5 Abs. 2 EGV. Ebenso Jarass, AöR 121 (1996), 173, 185 ff.; Callies, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 76 ff. 182 Mittelbar lässt sich dieses auch dem Beitrag von H.-J. Blanke, ZG 1995, 193, 196 entnehmen, der das Subsidiaritätsprinzip auf legislatorische, administrative oder finanzielle Maßnahmen der Gemeinschaft beschränkt wissen will. 183 Indirekt auch Blanke, ZG 1995, 193, 196. 184 Allgemein zu dieser Vorschrift M. Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Art. 292 EGV. Schweitzer weist aaO., Rn. 1, zu Recht darauf hin, dass Art. 292 EGV sich ausdrücklich nur auf Streitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten bezieht. Der Gedanke der ausschließlichen Zuständigkeit muss dann freilich erst recht bei Streitigkeiten zwischen EG und Mitgliedstaaten um Kompetenzen bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts Anwendung finden. 185 Ebenso Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Art. 292 EGV Rn. 4. 186 Vgl. dazu etwa Blanke, ZG 1995, 193, 213 ff.

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bb) Subsidiaritätsprinzip als mittelbare Rechtsfortbildungsgrenze Nachdem festgestellt wurde, dass der Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH durch das Subsidiaritätsprinzip in Art. 5 Abs. 2 EGV keine unmittelbaren, aus der Verbandskompetenz der Gemeinschaften fließenden Grenzen gezogen sind, stellt sich die Frage, ob nicht aus diesem Prinzip mittelbare Beschränkungen bei der Schaffung von gemeinschaftlichem Richterrecht hergeleitet werden könnten. So könnte etwa eine dem Gemeinschaftsgesetzgeber durch Art. 5 Abs. 2 EGV gesetzte Beschränkung auch für den Gerichtshof bei seiner Rechtsfortbildung gelten.187 Der Gedanke, welcher hinter dieser Überlegung steht, ist folgender: Wenn es schon dem Gemeinschaftsgesetzgeber als eigentlich für die Rechtssetzung zuständiger Gewalt aufgrund des Subsidiaritätsprinzips in Art. 5 Abs. 2 EGV untersagt ist, eine gemeinschaftsrechtliche Regelung zu treffen, so kann es dem Gerichtshof nicht gestattet sein, im Wege richterlicher Rechtsfortbildung diese Regelung zu schaffen, nur weil die Frage zufällig an ihn herangetragen worden ist. Beurteilte man dieses anders, so räumte man dem Gerichtshof letztlich über seine Rechtsfortbildungskompetenz weitergehende Rechtssetzungsbefugnisse ein, als dem Gemeinschaftsgesetzgeber Rechtssetzungsbefugnisse zustehen, der zweifellos dem Subsidiaritätsgrundsatz unterworfen ist. Eine Rechtsfortbildungskompetenz in einem Bereich, in welchem es sogar an der legislativen Rechtssetzungsbefugnis fehlt, scheint mir jedoch nicht nur demokratietheoretisch kaum zu legitimieren, sondern sie dürfte darüber hinaus mit dem Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts zwischen den Gemeinschaftsorganen nicht in Einklang zu bringen sein.188 Denn wollte man dem Gerichtshof dort eine Rechtsfortbildungskompetenz zugestehen, wo der Gemeinschaftsgesetzgeber nicht tätig werden darf, so besäße der Gerichtshof in diesem Bereich eine eigene „Rechtssetzungsbefugnis“. Dies kann aber bei einem Organ, dem die „Wahrung des Rechts“, und damit eine v. a. bewahrende Aufgabe in Art. 220 EGV anvertraut ist, nicht richtig sein. Folglich kann der Gerichtshof in Bereichen, in welchen es dem Gemeinschaftsgesetzgeber verwehrt ist, tätig zu werden, da nach dem Subsidiaritätsprinzip die Mitgliedstaaten zuständig sind, dieses aus Art. 5 Abs. 1 EGV resultierende Ergebnis nicht dadurch überspielen, dass er eine richterrechtliche Gemeinschaftsregelung schafft. Damit unterliefe er nämlich praktisch Art. 5 Abs. 2 EGV. Demnach gelten die dem Gemeinschaftsgesetzgeber auferlegten Subsidiaritätsgrenzen, mittelbar auch für die Rechtsfortbildung durch den EuGH. Da 187 Soweit feststellbar, wurde dieser Gedanke in der Literatur bislang noch nicht erörtert. 188 Vgl. zum institutionellen Gleichgewicht unten § 2 D. III. 3. b).

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es sich um Grenzen handelt, die unmittelbar dem Gemeinschaftsgesetzgeber durch Art. 5 Abs. 2 EGV gezogen sind, ist auch klar, dass es sich hier stets um Rechtsfortbildung bzw. deren Begrenzung im Bereich des Sekundärrechts handelt. Für das Primärrecht hat das Subsidiaritätsprinzip keine eigenständige Bedeutung,189 sind doch nach Art. 48 EU die Mitgliedstaaten für dessen Änderung ausschließlich zuständig. Da aber der Subsidiaritätsgrundsatz des Art. 5 Abs. 2 EGV dem EuGH für seine Rechtsfortbildung im Sekundärrecht Schranken setzt, soll er näher untersucht werden, um diese Rechtsfortbildungsschranke genau abzustecken. (1) Inhalt und Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips Treffend beschreibt Callies190 den Inhalt des Subsidiaritätsprinzips, wenn er ausführt, dass Art. 5 Abs. 2 EGV die Frage des „Ob“ eines Tätigwerdens der EG betreffe, mit anderen Worten, ob ein Bedarf für ein Gemeinschaftshandeln bestehe, ob sie also tätig werden solle. Damit das Subsidiaritätsprinzip Anwendung findet, müssen mehrere Voraussetzungen vorliegen: (a) Konkurrierende Zuständigkeit Wie sich Art. 5 Abs. 2 EGV entnehmen lässt und bereits erörtert wurde, findet das Subsidiaritätsprinzip keine Anwendung in Bereichen, in welchen eine ausschließliche Gemeinschaftskompetenz besteht.191 Was allerdings unter ausschließlichen Zuständigkeiten der Gemeinschaft zu verstehen ist, ist stark umstritten.192 Diese Meinungsverschiedenheiten hier im Einzelnen wiederzugeben sprengte nicht nur den Rahmen dieser Untersuchung, es erscheint mir darüber hinaus auch nicht sonderlich förderlich, um die dem EuGH durch das Subsidiaritätsprinzip gezogenen Rechtsfortbildungsgrenzen 189

In diese Richtung geht auch die Argumentation von Ukrow, S. 203 f. Siehe Callies, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 76; ebenso Schmidhuber, DVBl. 1993, 417, 418. 191 Zur ausschließlichen Gemeinschaftszuständigkeit vgl. nur v. Bogdandy/Bast, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Art. 5 EGV Rn. 28 ff.; ablehnend und mit der Einschätzung, der Begriff der ausschließlichen Gemeinschaftszuständigkeit sei ein „mistake which is bound to cause insoluable conflicts and problems“ äußert sich Toth, CMLR 29 (1992), 1079, 1090 f. 192 Ein Überblick über den Streitstand mit zahlreichen weiterführenden Literaturhinweisen findet sich bei Callies, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 76 ff.; siehe auch K. Lenaerts/P. v. Ypersele, CDE 1994, 3, 27; U. Everling, FS Stern, 1227, 1234, der vorschlägt, den Begriff als Ausdruck des Vorrangs des Gemeinschaftsrecht zu verstehen; B. Schima, ÖJZ 1997, 761 ff. 190

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ermitteln zu können. Festgehalten sei deshalb lediglich, dass es konkret zu Art. 5 Abs. 2 EGV und der Frage, was unter ausschließlicher Gemeinschaftskompetenz zu verstehen ist, noch keine Entscheidung des Gerichtshofs ergangen ist. Sinnvoll erscheint mir der Vorschlag von Callies,193 wonach eine ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft nur dort vorliegen soll, wo die Mitgliedstaaten unabhängig vom konkreten Tätigwerden der Gemeinschaft nicht handlungsbefugt sind.194 Die Bereiche ausschließlicher Gemeinschaftskompetenz definieren sich dadurch, dass alle Zuständigkeiten auf die Gemeinschaften übergegangen sind und die Mitgliedstaaten nicht weiter zur Rechtsetzung befugt sind, also einen vollständigen Kompetenzverlust erleiden.195 (b) Maßnahme Eine weitere Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Subsidiaritätsprinzips ist, dass es sich um eine Maßnahme der Gemeinschaft handeln muss. Maßnahme ist dabei in der Regel Organtätigkeit.196 Rechtsprechungstätigkeiten sind, wie bereits oben gezeigt, nicht erfasst. Im Hinblick auf Art. 249 EGV muss der Begriff der Maßnahme weit ausgelegt werden, so dass hierunter nicht nur die verbindlichen Rechtsakte, sondern auch die unverbindlichen Empfehlungen und Stellungnahmen zu subsumieren sind.197 (c) Vorgaben für die Kompetenzausübung Nachdem damit allgemein der Anwendungsbereich des Subsidiaritätskriteriums abgesteckt worden ist, kann nunmehr der Frage nachgegangen werden, inwieweit dem Gemeinschaftsgesetzgeber hierdurch Kompetenzschranken gesetzt sind und in welcher Weise dies als Rechtsfortbildungsschranke für den EuGH von Bedeutung ist. Art. 5 Abs. 2 EGV lassen sich zwei materielle Kriterien entnehmen:198 Zunächst muss feststehen, dass die in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der mitgliedstaatlichen Ebene nicht aus193

Callies, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 86. Dieses Verständnis findet sich in gleicher Weise auch bei R. v. Borries, FS Deringer, 22, 28. 195 Callies, in: ders./Ruffert, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rn. 34. 196 Dieses ergibt sich schon daraus, dass die Europäischen Gemeinschaften hinsichtlich der Ausführung des Gemeinschaftsrecht auf die Mitgliedstaaten angewiesen sind, welche die Verwaltungskompetenz besitzen. So auch Callies, Subsidiaritätsund Solidaritätsprinzip, S. 91. 197 Callies, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 91. 198 Ebenso R. v. Borries, EuR 1994, 263, 277; Schweitzer/Fixson, Jura 1994, 581. 194

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reichend erreicht werden können (Negativkriterium). Ist diese Voraussetzung gegeben, so kann die Gemeinschaft nur tätig werden, wenn diese auf der Gemeinschaftsebene besser erreicht werden können (Positivkriterium).199 Die Lehre spricht insoweit von einer zweistufigen Prüfung.200 (aa) Das Negativkriterium Zur Auslegung dessen, was der Vertrag mit „nicht ausreichend auf der Ebene der Mitgliedstaaten erreicht werden kann“ meint, kann hilfsweise das Subsidiaritätsprotokoll hinzugezogen werden. Darin heißt es in Punkt 5, 2. Spstr., dass „alleinige Maßnahmen der Mitgliedstaaten oder das Fehlen von Gemeinschaftsmaßnahmen [. . .] gegen die Anforderungen des Vertrags [beispielsweise Erfordernis der Korrektur von Wettbewerbsverzerrungen, der Vermeidung verschleierter Handelsbeschränkungen oder der Stärkung des wirtschaftlichen oder sozialen Zusammenhalts] verstoßen oder auf sonstige Weise Interessen der Mitgliedstaaten erheblich beeinträchtigen“ würden. Die entscheidende Frage ist also, ob die Mitgliedstaaten in der Lage sind, das im Vertrag angelegte Ziel zu erreichen oder ob sie damit überfordert sind.201 Sind die Mitgliedstaaten – nach Sinn und Zweck des Art. 5 Abs. 2 EGV müssen dies alle Mitgliedstaaten sein – nicht in der Lage, die Vertragsziele auf der nationalen Ebene adäquat zu verwirklichen, so liegt darin ein Verstoß gegen die Anforderungen des Vertrags. Erforderlich ist eine gemeinschaftliche Maßnahme daher dann, wenn ein Mitgliedstaat objektiv nicht in der Lage ist, auf nationaler Ebene das gemeinschaftsrechtliche Ziel zu erreichen.202 Zu beachten ist hierbei freilich, dass zur Erreichung eines solchen Zieles nicht notwendig einheitliche Maßnahmen erforderlich sind.203 Der Gemeinschaft ist also insoweit eine Grenze zum Tätigwerden gesetzt, wenn ein Ziel auch auf mitgliedstaatlicher Ebene erreicht werden kann. Ist dieses der Fall, so scheidet ein Tätigwerden der Gemeinschaft aus.204 Selbstverständliche Voraussetzung ist dabei, dass es sich um transnationale Aspekte eines Bereichs handelt (vgl. Punkt 5, 1. Spstr. Subsidiaritätspro199 Callies, in: ders./Ruffert, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rn. 35; P. M. Schmidhuber/ Hitzler, NVwZ 1992, 720, 722; P. M. Schmidhuber, DVBl. 1993, 417, 418 f. 200 So die h. L., vgl. etwa v. Borries, EuR 1994, 263, 277; Callies, in: ders./Ruffert, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rn. 35. 201 Callies, in: ders./Ruffert, EUV/EGV, Art. 5 Rn. 36. 202 So Callies, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 110. 203 Callies, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 110. 204 Ebenso mit Recht auch Konow, DÖV 1993, 405, 409; Callies, Subsidiaritätsund Solidaritätsprinzip, S. 110, 112.

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tokoll); rein nationale Aspekte sind nicht erfasst und können von der Gemeinschaft nicht geregelt werden.205 Sind also die Anforderungen des Negativkriteriums nicht erfüllt, ist eine Maßnahme auf Ebene der Mitgliedstaaten also ausreichend, so ist es dem Gemeinschaftsgesetzgeber aufgrund des Subsidiaritätsprinzips des Art. 5 Abs. 2 EGV versagt, tätig zu werden. Dann kann aber auch der Gerichtshof in solchen Fällen nicht richterrechtlich eine gemeinschaftsrechtliche Regelung an die Stelle der zur Zielerreichung hinreichenden nationalen Maßnahmen setzen. Insoweit besteht hier für den EuGH wegen der fehlenden Verbandskompetenz der Gemeinschaft eine Rechtsfortbildungsgrenze erster Stufe, welche Rechtsfortbildungen im Bereich des Sekundärrechts ausschließt. (bb) Das Positivkriterium Sofern das Negativkriterium in dem Sinne erfüllt ist, dass die Mitgliedstaaten das gemeinschaftsrechtliche Ziel nicht ausreichend umzusetzen im Stande sind, muss aber darüber hinaus, damit die Gemeinschaft handeln kann, auch noch das Positivkriterium erfüllt sein, welches fordert, dass die Ziele wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf der Gemeinschaftsebene besser erreicht werden können.206 Im Subsidiaritätsprotokoll heißt es dazu erklärend: „Maßnahmen auf der Gemeinschaftsebene würden wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen im Vergleich zu Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten deutliche Vorteile mit sich bringen.“

(a) Verständnis der Lehre Das Kriterium der besseren Zielerreichung fordert somit eine Abwägung zwischen dem Integrationsgewinn auf Gemeinschaftsebene und dem Kompetenzverlust auf Seiten der Mitgliedstaaten. Hiernach kann die Gemeinschaft ihre Zuständigkeit dort nicht voll ausüben, wo der Eingriff in die Kompetenzen der Mitgliedstaaten erheblich ist, sich jedoch nur ein geringer Integrationsgewinn verbuchen ließe.207 Ergibt sich auf dieser zweiten Prü205 Zum Erfordernis der Transnationalität vgl. Callies, in: ders./Ruffert, EUV/ EGV, Art. 5 EGV Rn. 36. 206 So, wenn auch etwas unklar Schmidhuber, DVBl. 1993, 417, 418 f., der jedoch nicht zwischen Positiv- und Negativkriterium differenziert. Siehe aber auch Callies, in: ders./Ruffert, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rn. 42 ff. 207 So G. Ress, Kultur und europäischer Binnenmarkt, S. 48 f.; ders., DÖV 1992, 944 ff.; Callies, in: ders./Ruffert, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rn. 44.

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fungsstufe sodann, dass der Integrationsgewinn bloß gering, der Eingriff in mitgliedstaatliche Kompetenzen hingegen beträchtlich ist, so darf die Gemeinschaft nicht tätig werden.208 Folglich ergibt sich aus dem Positivkriterium, wenn es nicht erfüllt ist, auch eine mittelbare Rechtsfortbildungsschranke erster Stufe für den EuGH. (b) Verständnis der Kommission Die Kommission beurteilt das Positivkriterium etwas anders als die soeben dargestellte herrschende Lehre. Ihrer Ansicht nach handelt es sich um einen Test des Mehrwertes eines Handelns der Gemeinschaft gegenüber einem Tätigwerden der Mitgliedstaaten.209 Die Effektivität des Gemeinschaftshandelns soll sich dabei nach der Größenordnung und dem grenzüberschreitenden Charakter eines Problems sowie nach den Folgen eines Verzichts auf eine gemeinschaftliche Maßnahme bemessen. Diese Bewertung müsse dann ergeben, dass eine gemeinschaftliche Maßnahme aufgrund ihrer breiteren allgemeinen Wirkung dem angestrebten Ziel näher komme als ein Handeln der einzelnen Mitgliedstaaten.210 (g) Abwägung Die Ansicht der Kommission scheint mir – mit der h. L. – das Gemeinschaftsinteresse zu einseitig zu betonen. Eine gewissermaßen effektivere Zielerreichung wegen größerer Breitenwirkung wird sich stets eher auf Gemeinschaftsebene erreichen lassen.211 Damit aber droht das Subsidiaritätsprinzip leer zu laufen, was sicherlich nicht Absicht der Vertragsparteien war; beziehungsweise es besteht die Gefahr, dass Art. 5 Abs. 2 EGV so interpretiert wird, dass die Gemeinschaft dazu ermuntert wird, ihre Befugnisse zu erweitern.212 Dieses ist jedoch mit Sinn und Zweck des Subsidiaritätsprinzips nicht zu vereinbaren, stellt es doch im Bereich der nicht-ausschließlichen Gemeinschaftszuständigkeit gewissermaßen eine Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Mitgliedstaaten auf und fordert für die 208 Ress, Kultur und europäischer Binnenmarkt, S. 48 f.; ders., DÖV 1992, 944 ff.; Callies, in: ders./Ruffert, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rn. 44. 209 Kommissionsdokument SEC (92) 1990 final, S. 10, 112. 210 Kommissionsdokument SEC (92) 1990 final, S. 10, 112; ausführliche Darstellung der Kommissionsansicht bei Callies, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 112 f. 211 Callies, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 114 f.; Schmidhuber/Hitzler, NVwZ 1992, 720, 723. 212 Ähnliches schwebt wohl auch Callies, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 115 vor.

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Inanspruchnahme einer Kompetenz durch die Gemeinschaft eine besondere Begründung. Folglich ist die Abwägung, wie sie von der herrschenden Lehre vorgenommen wird, vorzuziehen. Insoweit begrenzt also auch das Positivkriterium des Art. 5 Abs. 2 EGV die Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH. (2) Ergebnis zur Rechtsfortbildungsgrenze aus Art. 5 Abs. 2 EGV Ergibt sich nunmehr nach der Subsidiaritätsprüfung, dass die Gemeinschaft hiernach nicht zuständig ist, sondern die fragliche Handlung von den Mitgliedstaaten vorgenommen werden muss, etwa ein bestimmter Legislativakt im Bereich der konkurrierenden Zuständigkeit, so ist dem Gemeinschaftsgesetzgeber hier eine Grenze gezogen. Er darf nicht tätig werden. Wenn aber schon der Gemeinschaftsgesetzgeber im ordentlichen Rechtssetzungsverfahren nicht tätig werden darf, so kann der EuGH diese im Subsidiaritätsprinzip verankerte Entscheidung nicht dadurch umgehen, dass er eine entsprechende Gemeinschaftsregelung im Wege der Rechtsfortbildung schafft. Dieses kollidiert auch nicht mit dem Rechtsverweigerungsverbot, müssen doch nicht in allen Bereichen gemeinschaftsrechtliche Regelungen existieren, da ja die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, welche umfassend konzipiert sind, noch bestehen.213 Der EuGH kann nämlich unter Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip seine Zuständigkeit verneinen, da der Rechtsstreit dann nicht um Gemeinschaftsrecht geht, und auf die nationalen Gerichte verweisen. Handelt der Gerichtshof in dieser Weise, so respektiert er die Grenze richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz, welche das Subsidiaritätsprinzip errichtet, bildet er das (Sekundär-)Recht trotz anderslautender Verbandskompetenz fort, so überschreitet er diese Grenze. c) Zusammenfassung zu den Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe Als Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe, also solchen, welche sich aus der fehlenden Verbandskompetenz der Europäischen Gemeinschaften für den EuGH ergeben, lassen sich das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung aus Art. 5 Abs. 1 EGV und damit verbunden die unübertragbaren Kernbereiche der nationalen Verfassungen, die Vertragsänderungsvorschrift des Art. 48 EUV und schließlich auch das Subsidiaritätsprinzip festhalten. Stets wenn die Verbandskompetenz der Gemeinschaften fehlt, ist es dem EuGH versagt, das Recht fortzubilden, denn wo es bereits an der Verbands213 Soweit die Gemeinschaft nicht tätig wird, müssen ja auch mitgliedstaatliche Regelungen bestehen. Dieses ist Ausfluss des Subsidiaritätsprinzips.

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kompetenz fehlt, kann auch keine Organkompetenz vorliegen. Die Verbandskompetenz fehlt jedenfalls, wo die Gemeinschaften, und sei es durch richterliche Rechtsfortbildung, in die Kernbereiche nationaler Verfassungen eingreifen, da ihnen hierzu keine Befugnis übertragen worden ist und das Prinzip begrenzter Einzelermächtigung ein Tätigwerden insoweit sperrt. Aber auch zur Vertragsänderung sind die Gemeinschaften, wie sich aus Art. 48 EUV ergibt, nicht befugt. Insoweit kann der Gerichtshof Rechtsfortbildungen des Primärrechts von verfassungspolitischem Gewicht nicht vornehmen. Aber auch soweit das Subsidiaritätsprinzip eingreift und den Mitgliedstaaten einen Bereich zuweist, da diese ihn ebenso gut erfüllen können wie die Gemeinschaft, fehlt es derselben an der Verbandskompetenz, weshalb der Gerichtshof in diesem, nach Art. 5 Abs. 2 EGV dann den Mitgliedstaaten zustehenden Bereich, keine Rechtsfortbildung vornehmen darf. Maßgebliche Ausgangspunke für die Feststellung von Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe im konkreten Einzelfall sind also Art. 5 Abs. 1, 2 EGV, nach denen jeweils festgestellt werden muss, ob bei einer Rechtsfortbildung des Gerichtshofs überhaupt eine Verbandskompetenz der Gemeinschaften vorlag, und Art. 48 EUV. 2. Rechtsfortbildungsgrenzen zweiter Stufe Auch wenn die Gemeinschaft die Verbandskompetenz für die Regelung einer Materie besitzt, die Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH also nicht bereits durch eine Rechtsfortbildungsgrenze erster Stufe beschränkt wird, dürfen einer Rechtsfortbildung durch den EuGH keine Organkompetenzen anderer Gemeinschaftsorgane etwa in Form von Kernbereichskompetenzen, entgegenstehen.214 Eine erste Beschränkung der Rechtsfortbildungsbefugnis aus der Organkompetenz könnte sich unmittelbar aus den dem EuGH zugewiesenen Kompetenzen ergeben. Aber auch der Gedanke von Kernbereichen von Organkompetenzen, könnte zur Auffindung von Rechtsfortbildungsgrenzen von Interesse sein. Aufgrund einer gewissen Vergleichbarkeit von richterlicher Rechtsfortbildung mit Rechtsetzung, dürfte es hier vorwiegend um eine Abgrenzung der Rechtsfortbildungsbefugnis des EuGH von den Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers gehen. 214

Mit derartigen von ihm als horizontalen Kompetenzkonflikten bezeichneten Grenzen befasst sich auch M. Nettesheim, EuR 1993, 243 ff. am Rande. Er hat jedoch vor allem Konflikte im Auge, an denen der Greichtshof nicht unmittelbar beteiligt ist. Zur Stellung der Dritten Gewalt im europäischen Verfassungsverbund I. Pernice, EuR 1996, S. 27 ff.; siehe allgemein auch K. Brandt, JuS 1994, 300 ff.

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Im Folgenden soll nun also untersucht werden, ob sich dem Vertrag Grenzen der Rechtsfortbildung für den EuGH entnehmen lassen, die sich aus den ihn betreffenden Vorschriften ergeben, ohne dass dabei auf die Stellung anderer Organe eingegangen werden müsste, man könnte hierbei von Intraorgangrenzen sprechen [a)]. Zweitens wäre zu überlegen, ob sich nicht aus dem Prinzip des institutionellen Gleichgewichts und dem Kernbereichsgedanken Rechtsfortbildungsgrenzen gewinnen lassen, welche sich aus der Stellung der Organe der Gemeinschaften zueinander ergeben [b)], die man als Interorgangrenzen bezeichnen könnte.215 a) Intraorgangrenzen für die Rechtsfortbildung des EuGH Intraorgangrenzen könnten sich aus den Bestimmungen über den Gerichtshof selbst, also dem Art. 46 EUV [aa)] sowie den Art. 220 ff. EGV [bb)] ergeben. aa) Art. 46 EUV als Grenze richterlicher Rechtsfortbildung? Eine aus der Organkompetenz resultierende Rechtsfortbildungsschranke könnte aus Art. 46 EUV abzuleiten sein. Außerhalb der dem EuGH in dieser Vorschrift zugewiesenen Bereiche seiner Jurisdiktionsgewalt in Bezug auf die Europäische Union, dürfte sich eine Rechtsfortbildung als unzulässig erweisen. Bedeutung kann der Art. 46 EUV aber nur für das Unionsrecht erlangen, da der Art. 46 EUV nur die Zuständigkeit für Bestimmungen des Unionsvertrages betrifft, jene nach den Gemeinschaftsverträgen allerdings unberührt lässt.216 Rechtsanwendung und richterliche Rechtsfortbildung formen, wie bereits erläutert, einen Vorgang der Rechtsfindung, dessen Ausprägungen sich vor allem durch ihre Nähe zum Gesetzestext unterscheiden. Da es sich aber bei Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung um einen einheitlichen Prozess handelt, müssen diese auch in derselben Befugnisnorm, der Vorschrift zur Übertragung der Rechtsprechungsaufgabe an den EuGH, ihren Ausgangspunkt finden. Wo nämlich schon die Ermächtigung zur Auslegung des Rechts durch die Judikative fehlt, kann sie konsequenterweise auch nicht zur Fortbildung dieses Rechts befugt sein. Eine aus der Organkompetenz fließende Rechtsfortbildungsgrenze ist also für die Bereiche anzuer215 Zur Stellung des Gerichtshofs im Verfassungssystem der Gemeinschaften in früherer Zeit siehe G. Nicolaysen, EuR 1972, 375 ff. 216 So auch H.-J. Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 1; M. Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 1; ders., EuR 1999, 1, 3 f.; C. Schütz/M. Sauerbier, JuS 2002, 658, 659.

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kennen, für welche der Vertrag keine Zuständigkeit des Gerichtshofs vorsieht.217 Folglich kann für das Unionsrecht Art. 46 EUV, welcher die Bereiche des Unionsrechts auflistet, die der Jurisdiktion des Gerichtshofs unterfallen, im Umkehrschluss auch die nicht der Auslegung und damit auch nicht der Rechtsfortbildungskompetenz des Gerichtshofs unterliegenden Bereiche kenntlich machen. Eine über den durch Art. 46 EUV vorgezeichneten Zuständigkeitsbereich hinausgehende Rechtsfortbildung ist somit als eine die Organkompetenz des Gerichtshofs unzulässig erweiternde Rechtsfortbildung einzustufen, womit eine Rechtsfortbildungsgrenze zweiter Stufe überschritten wäre. Im Einzelnen ist nun kurz darzulegen, inwieweit Art. 46 EUV das Unionsrecht der Rechtsprechung des Gerichtshofs unterwirft und inwiefern es ihm entzogen ist, also Rechtsfortbildungsgrenzen bestehen. Sodann soll der Frage nachgegangen werden, ob der Gerichtshof diese Grenzen schon einmal verletzt hat, also eine unzulässige Rechtsfortbildung contra pactum vorgenommen hat. (1) Art. 46 lit. a) EUV Art. 46 lit. a) EUV betrifft die Zuständigkeit für jene Vorschriften des Unionsvertrages, welche die EG-Verträge ändern und in Titel II-IV des Unionsvertrages geregelt sind. Diese Vorschriften sind jedoch Bestandteil der Gemeinschaftsverträge geworden, so dass die Art. 220 ff. EGV für sie ohnehin gelten. Insoweit hat Art. 46 lit. a) EUV lediglich deklaratorische Bedeutung.218 Teilweise wird aber darüber hinaus auch erörtert, ob nicht der Unionsvertrag weitere Änderungen des Gemeinschaftsrechts mit sich bringt, die dann ebenfalls der Rechtskontrolle durch den EuGH unterworfen wären.219 Dabei werden insbesondere solche Vorschriften diskutiert, die eine rechtswirksame Einbindung der Gemeinschaften als Elemente der Europäischen Union nach Art. 2 Abs. 3 EUV verlangen.220 Genannt werden hier namentlich das Kohärenzgebot nach Art. 3 Abs. 1 EUV, aber auch andere Be217 In diese Richtung scheint auch Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 7 zu tendieren. 218 Ebenso Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 4; ders. EuR 1999, 1, 3 ff.; Schütz/Sauerbier, JuS 2002, 658, 659 f.; Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/ EGV, Art. 46 EUV Rn. 2; Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 5. 219 Ausführliche Darstellung der Diskussion bei Pechstein, EuR 1999, 1, 3 ff.; siehe auch Schütz/Sauerbier, JuS 2002, 658, 659. 220 Siehe Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rn. 107 ff.; Pechstein, EuR 1999, 1, 3 f.; Semrau, S. 22 ff.; darstellend auch Schütz/Sauerbier, JuS 2002, 658, 659.

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stimmungen wie etwa Art. 2 EUV, Art. 6 EUV sowie die Art. 48 und 49 EUV.221 Richtigerweise wird man jedoch davon ausgehen müssen, dass eine solche mittelbare (ungeschriebene) Änderung des Gemeinschaftsrechts nicht besteht. Der Wortlaut des Art. 47 EUV, wonach das Gemeinschaftsrecht durch den Unionsvertrag vorbehaltlich der Bestimmungen zur Änderung der Gemeinschaftsbestimmungen und der Schlussbestimmungen unberührt bleiben solle, widerspricht dieser Annahme.222 Diskutieren ließe sich allenfalls eine Einbeziehung der Schlussbestimmungen der Art. 48, 49 EUV. Deren Justitiabilität ist aber in Art. 46 lit. f) EUV selbständig festgelegt, so dass die Systematik des Art. 46 EUV gegen eine Einbeziehung derselben in den Buchstaben a) streitet.223 Als Rechtsfortbildungsgrenzen gelten hier also die Grenzen, wie sie sich aus den Gemeinschaftsverträgen ergeben. (2) Art. 46 lit. b) EUV Art. 46 lit. b) i. V. m. Art. 35 EUV betrifft die Rechtskontrolle im Bereich der gemeinsamen Politik der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen. Dabei bildet Art. 35 EUV die konstitutive und abschließende Rechtsgrundlage für die Jurisdiktion im Rahmen der PJZS.224 Über die dem EuGH in Art. 35 EUV eingeräumte Rechtskontrolle hinaus steht ihm keine Rechtsprechungskompetenz und damit auch keine Rechtsfortbildungskompetenz zu. Insofern bildet der beschränkte Prüfungsumfang der Art. 46 lit. b) i. V. m. Art. 35 EUV (Rechtmäßigkeitskontrolle von Sekundärrechtsakten, Verfahren bei Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung von Sekundärrechtsakten und Vorlageverfahren nach Art. 35 Abs. 1–5 EUV)225 auch eine Grenze richterlicher Rechtsfortbildungsbefugnis. Rechtsfortbildung im Bereich der PJZS über diese beschränkten Bereiche richterlicher Zuständigkeit hinaus, wäre unzulässig. 221

Vgl. Schütz/Sauerbier, JuS 2002, 658, 659; siehe auch Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rn. 107 ff.; umfassend auch Pechstein, EuR 1999, 1, 3 ff.; Semrau, S. 22 ff. 222 So auch Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 47 EUV Rn. 8; Pache, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Art. M EUV Rn. 13 f.; Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 47 Rn. 1; Schütz/Sauerbier, JuS 2002, 658, 660. 223 Siehe dazu unten. Der erörterte Streit dreht sich v. a. um Art. 47 EUV und dessen Justitiabilität. 224 Dazu Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 7; ausführliche Darstellung bei D. Dörr/U. Mager, AöR 125 (2000), 387, 406 ff. 225 Dörr/Mager, AöR 125 (2000), 387, 406 ff.; vgl. auch die Kommentierungen zu Art. 35 EUV, etwa Böse, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 35 EUV; V. Röben, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Art. 35 EUV.

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(3) Art. 46 lit. c) EUV Art. 46 lit. c) EUV unterwirft die verstärkte Zusammenarbeit teilweise der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Auch dieser Bestimmung wird jedoch neben den Spezialregelungen in Art. 11 und 11 a EGV sowie Art. 40 Abs. 4 U Abs. 2 EUV lediglich deklaratorische Bedeutung zugemessen.226 Soweit es um eine verstärkte Zusammenarbeit im Rahmen des EG-Vertrages und auf Art. 11, 11a EGV gestützte Maßnahmen gehe, würden die allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Zuständigkeitsregelungen des EG-Vertrages für den EuGH gelten.227 Um einen verfahrensmäßigen Gleichklang zwischen der gerichtlichen Überprüfung von Ermächtigungsentscheidungen nach Art. 11 EGV einerseits und Art. 40 EUV andererseits zu erreichen, bestimmt Art. 40 Abs. 3 EUV die Zuständigkeit des Gerichtshofs gemäß den Bestimmungen des EG-Vertrages. Dies bedeutet aber, dass die Einschränkungen der Justitiabilität nach Art. 35 EUV nicht zum Tragen kommen, sondern für die Überprüfung einer unionsrechtlichen Ermächtigungsentscheidung in der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) die allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Zuständigkeiten des EuGH gelten.228 Keine Anwendung findet Art. 46 lit. c) EUV jedoch, sofern die an der verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten konkrete unions- oder gemeinschaftsrechtliche Maßnahmen zur inhaltlichen Verwirklichung ihrer Zusammenarbeit treffen.229 Sofern es sich nämlich um Maßnahmen im Bereich der PJZS handelt, ist Art. 35 EUV für die Zuständigkeit des Gerichtshofs maßgebend, handelt es sich hingegen um gemeinschaftsrechtliche Sekundärrechtsakte auf Grundlage des Art. 11 EGV, so bestimmt sich diese selbstverständlich nach den Art. 220 ff. EGV.230 Zusammenfassend kann man also sagen, dass die Zuständigkeit des Gerichtshofs nach Art. 46 lit. c) EUV zumeist mit der nach den Art. 220 ff. EGV gleichläuft.

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Vgl etwa Dörr/Mager, AöR 125 (2000), 387, 420 ff.; Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 46 EUV, Rn. 4 („. . . zumindest teilweise von nur deklaratorischer Bedeutung.“); Schütz/Sauerbier, JuS 2002, 658, 661 f. 227 So auch Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 47 EUV Rn. 8; ähnlich auch Schütz/Sauerbier, JuS 2002, 658, 662. 228 Siehe Schütz/Sauerbier, JuS 2002, 658, 662; ausdrücklich auch Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 10; vgl. auch Dörr/Mager, AöR 125 (2000), 386, 422. 229 Dieses betonen auch Dörr/Mager, AöR 125 (2000), 386, 422. 230 Vgl. Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 10; Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 10.

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(4) Art. 46 lit. d) EUV Art. 46 lit. d) EUV normiert die Justitiabilität des Art. 6 Abs. 2 EUV in Bezug auf Handlungen der Organe, soweit der Gerichtshof im Rahmen der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften und im Rahmen des EU-Vertrages zuständig ist. Hinsichtlich des Gemeinschaftsrechtes bedeutet Art. 46 lit. d) EUV keine Veränderung zum richterrechtlich entwickelten Grundrechtsschutz.231 So stellen Dörr/Mager zu Recht fest, dass Art. 46 lit. d) EUV keinen verändernden Einfluss auf die Gemeinschaftsverträge beanspruche, so dass die aus Art. 220 EGV fließende Rechtsfortbildungskompetenz nicht tangiert werde.232 Damit wird aber auch ausgesagt, dass sich die Rechtsfortbildungsgrenzen – soweit Handlungen der EG-Organe in Frage stehen – lediglich aus dem EG-Vertrag ergeben. In Bezug auf Handlungen von Unionsorganen ist festzuhalten, dass der Unionsvertrag in Art. 46 lit. d) eine Justitiabilität des Grundrechtsschutzes aus Art. 6 Abs. 2 EUV nur insoweit vorsieht, wie eine Zuständigkeit des Gerichtshofs besteht. Vernünftigerweise wird man Art. 46 lit. d) EUV so auslegen müssen, dass eine solche Zuständigkeit an anderer Stelle bereits begründet sein muss, so dass ihm selbst keine unmittelbare konstitutive Wirkung zukommt.233 Dafür spricht auch, dass die Mitgliedstaaten die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) nicht der Judikatur des EuGH unterwerfen wollten und dies auch nicht über die Hintertür einer Kontrolle des Art. 6 Abs. 2 EUV beabsichtigt haben.234 Als Rechtsfortbildungsgrenze lässt sich hier aber ableiten, dass der Gerichtshof die Grundrechtskontrolle nicht auf jene Bereiche ausdehnen darf, welche nicht seiner Judikatur unterworfen sind. Welche dies im Unionsrecht sind, muss aus den anderen Buchstaben des Art. 46 EUV abgelesen werden. So darf der EuGH etwa Maßnahmen der GASP nicht, auch nicht im Wege richterlicher Rechtsfortbildung, am Maßstab des Art. 6 Abs. 2 EUV messen. Insoweit 231 So mit Recht Albors-Llorens, CMLR 35 (1998), 1273, 1285; Verhoeven, EurLawRev 1998, 217, 225; U. Everling, CMLR 29 (1992), 1053, 1072; kritisch Schachtschneider/Emmerich-Fritsche/Beyer, JZ 1993, 751, 758; offengelassen in EuGH, Gutachten v. 28.3.1996, Gutachten 2/94 (Beitritt zur EMRK), Slg. 1996, I-1759 (Rn. 32 f.) 232 Dörr/Mager, AöR 125 (2000), 386, 425. 233 So Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 13; so ist wohl auch Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 1 zu verstehen; ebenso auch Schütz/Sauerbier, JuS 2002, 658, 662. 234 Mit Nachdruck Albors-Llorens, CMLR 35 (1998), 1273, 1287; siehe auch Schütz/Sauerbier, JuS 2002, 658, 662; ebenso Pechstein, EuR 1999, 1, 13; ders., in: Streinz, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 13; Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 14.

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fehlt ihm bereits die Rechtsprechungszuständigkeit, so dass er in diesem Bereich auch nicht rechtsfortbildend tätig werden darf. (5) Art. 46 lit. e) EUV Art. 46 lit. e) EUV begründet eine Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Überprüfung der Einhaltung der reinen Verfahrensbestimmungen bei Vornahme von Maßnahmen nach Art. 7 EUV. Die gerichtliche Überprüfung des Verfahrens bei Sanktionsmaßnahmen gegen einen Mitgliedstaat auf Grundlage des Art. 7 EUV, folgt aus dem in Art. 6 Abs. 1 EUV verankerten Rechtsstaatsgebot.235 Als Grenze für die Rechtsfortbildung hat Art. 46 lit. e) EUV besonders deshalb Bedeutung, weil die Mitgliedstaaten mit dieser Vorschrift sehr klar gemacht haben, dass sie eine gerichtliche Überprüfung der materiellen Sanktionsgründe ablehnen.236 Diese sollen allein der politischen Entscheidung der Mitgliedstaaten vorbehalten sein. Eine Rechtsfortbildung dahingehend, dass auch die materiellen Sanktionsgründe gerichtlich überprüft werden können, ist damit durch die Mitgliedstaaten ausgeschlossen worden. (6) Art. 46 lit. f) EUV Art. 46 lit. f) EUV unterwirft die Art. 46–53 EUV konstitutiv der Gerichtsbarkeit des EuGH.237 Nach dem Wortlaut von Art. 46 lit. f) EUV wird dem Gerichtshof die Kompetenz zur Auslegung und Anwendung der Art. 46 ff. EUV umfassend zugewiesen.238 Dies kollidiert aber mit den sonstigen Bemühen der Vertragsparteien, das Unionsrecht nur beschränkt gerichtlicher Kontrolle zu unterwerfen. Um Art. 46 EUV konsistent auszulegen, muss lit. f) deshalb restriktiv interpretiert werden.239 Soweit sich die Schlussbestimmungen (etwa Art. 47; 50 Abs. 1 EUV) auf das Gemein235

So, für die Schließung der damals im Hinblick auf Art. 7 EUV noch bestehenden Rechtsschutzlücke plädierend Schütz/Sauerbier, JuS 2002, 658, 664. 236 Vgl. etwa zur Ablehnung der materiellen Sanktionsgründe nach Art. 7 Abs. 1, 2 EUV Epiney/Abt/Mosters, DVBl. 2001, 941, 951; Favret, RTDE 2001, 271, 296; Pache/Schorkopf, NJW 2001, 1377, 1384. 237 Vgl. Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/EGVArt. 46 EUV Rn. 5; Pache, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Art. 46 EUV Rn. 16. 238 So auch Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 15. 239 Diesen Schluss ziehen ebenso Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 15; Pache, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Art. 46 EUV Rn. 16; zur restriktiven Lesart auch Schütz/Sauerbier, JuS 2002, 658, 662 f.; der Streit dreht sich im Wesentlichen um die Reichweite, mit welcher Art. 47 EUV der Jurisdiktion des Gerichtshofs unterworfen ist.

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schaftsrecht beziehen, unterfallen sie der Judikatur des EuGH. Ansonsten besteht eine Zuständigkeit des Gerichtshofs nur insoweit, als sich die Schlussbestimmungen auf das nach Art. 46 lit. a-e) justitiable Unionsrecht erstrecken.240 Insoweit ist der Gerichtshof auch hier in seiner Rechtsfortbildungskompetenz auf den Bereich beschränkt, den er auslegen darf. Der Art. 46 EUV selbst muss schließlich vom EuGH ausgelegt und angewendet werden dürfen, da er an diese Norm gebunden ist.241 Seine eigenen Zuständigkeiten in dieser Norm mittels richterlicher Rechtsfortbildung zu erweitern, steht dem Gerichtshof nicht zu. Dieses käme einer Vertragsänderung gleich, so dass ihm bereits die Verbandskompetenz Schranken setzt. (7) Zusammenfassung zu Art. 46 EUV und Beispielsfälle Sofern die Bestimmungen des EUV in Art. 46 EUV aufgelistet sind, unterliegen sie im oben aufgezeigten Umfang der Zuständigkeit des EuGH, d.h. sie werden von ihm ausgelegt und angewendet. Dafür stehen nach Art. 46 EUV die Verfahren des EG-Vertrages zur Verfügung.242 Im Übrigen haben sich die Mitgliedstaaten der EU aber nicht der Jurisdiktion des EuGH unterworfen. So sollen auch die nach dem EUV handelnden Organe, soweit sie auf Grundlage der nicht in die Rechtsprechungsgewalt einbezogenen Normen des EUV tätig werden, nicht vom Gerichtshof überwacht werden.243 Dies betrifft insbesondere den Bereich der GASP. Diese nicht einbezogenen Normen und die aufgrund dieser erlassenen Rechtsakte, sind nicht Bestandteil einer eigenständigen supranationalen Rechtsordnung, haben ihren Völkerrechtscharakter also rein bewahrt.244 Folglich unterliegen sie auch weder den vom EuGH entwickelten gemeinschaftsspezifischen Auslegungsgrundsätzen noch dürfen sie vom EuGH fortgebildet werden.245 Bildet der Gerichtshof dennoch das Recht in diesem Bereich fort, so überschreitet er eine seiner Rechtsfortbildungskompetenz gezogene Grenze und judiziert contra pactum. 240 So Pache, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Art. 46 EUV Rn. 7, 24; Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 15; anders wohl J. Wolf, JZ 1993, 594, 597. 241 D. A. O. Edward, EuR-Beiheft 2/1995, 23, 25; überzeugend auch Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 15; Schütz/Sauerbier, JuS 2002, 658, 662; Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 17. 242 Vgl. Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 16. 243 So auch Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 16. 244 Mit Recht Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 15 ff.; siehe auch Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 17. 245 Richtig hierzu Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 46 EUV Rn. 17.

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Zu einer solchen Grenzüberschreitung lässt sich auch ein Beispiel aus der Judikatur des Gerichtshofs anführen, nämlich das Urteil über die Gemeinsame Maßnahme zum Transit auf Flughäfen.246 Dieses vor Inkrafttreten der Vertragsänderung von Amsterdam ergangene Urteil bezog sich auf einen Unionsrechtsakt aus dem Bereich der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (damals noch Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres).247 Der EuGH hat sich darin für befugt gehalten, einen Sekundärrechtsakt des Unionsrechts für nichtig zu erklären, auch wenn er dieses in der konkreten Rechtssache im Ergebnis nicht getan hat. Mittlerweile ist das Urteil wegen der Einführung von Art. 46 lit. b) i. V. m. Art. 35 EUV freilich hinfällig geworden, da es dem Gerichtshof nach Art. 35 Abs. 1, Abs. 6 EUV möglich ist, Maßnahmen der „dritten Säule“ (PJZS) zu verwerfen.248 Dennoch ist der Flughafentransitfall von Interesse, weil die Argumentation, derer sich der Gerichtshof bedient, es zuließe, sämtliche Maßnahmen des Unionsrechts zu überprüfen und bei Unvereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht für nichtig zu erklären.249 Eine solche „Auslegung“ von Normen des EU-Vertrages stellt sich aber als unzulässige Rechtsfortbildung dar, da der Gerichtshof sich anmaßt, Unionsrecht nicht nur gerichtlich zu überprüfen, sondern gegebenenfalls sogar zu verwerfen, was mit dem Unionsvertrag und dem in ihm zum Ausdruck gekommenen Willen der Mitgliedstaaten unvereinbar ist. Zur Verdeutlichung der Tragweite der Argumentation des Gerichtshofs, mit der er damals seine Zuständigkeit begründete, seien die entscheidenden Urteilspassagen (wenn auch mit aktualisierten Artikelbezeichnungen) wörtlich wiedergegeben: „Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Klage der Kommission auf die Feststellung gerichtet ist, dass der vom Rat angenommene Rechtsakt wegen seines Gegenstandes in den Anwendungsbereich des Art. 100c EGV [a. F. – inzwischen aufgehoben] fällt, so dass er auf diese Bestimmung hätte gestützt werden müssen. Sodann ergibt sich aus Art. 47 des Vertrages über die Europäische Union, dass eine Bestimmung wie Art. 32 Abs. 2, wonach der Rat in den Bereichen des Art. 29 gemeinsame Maßnahmen annehmen kann, nicht die Bestimmungen des EG-Vertrages berührt. Nach Art. 46 des Vertrages über die Europäische Union 246 EuGH, Urt. v. 12.5.1998, RS. C-170/96 (Kommission/Rat), Slg. 1998, I-2763 ff. 247 Vgl. EuGH, Urt. v. 12.5.1998, RS. C-170/96 (Kommission/Rat), Slg. 1998, I-2763 ff. 248 So Schütz/Sauerbier, JuS 2002, 658, 663. 249 Siehe EuGH, Urt. v. 12.5.1998, RS. C-170/96 (Kommission/Rat), Slg. 1998, I-2763, I-2788 (Rn. 17); siehe auch GA N. Fennelly, Schlussanräge v. 5.2.1998, RS. C-170/96 (Kommission/Rat), Slg. 1998, I-2765, I-2768 f. (Nr. 10 ff.), der den Gerichtshof im Rahmen der angestrengten Nichtigkeitsklage sogar für zuständig hält.

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gelten die Bestimmungen des Vertrages über die Zuständigkeit des Gerichtshofes und die Ausübung dieser Zuständigkeit für Art. 47 dieses Vertrages. Der Gerichtshof hat daher darüber zu wachen, dass die Handlungen, von denen der Rat behauptet, sie fielen unter Art. 31 Abs. 2 des Vertrages über die Europäische Union, nicht in die Zuständigkeiten übergreifen, die die Bestimmungen des EG-Vertrages der Gemeinschaft zuweisen. Demnach ist der Gerichtshof zuständig, den Inhalt des Rechtsakts anhand des Art. 100c EG-Vertrag zu prüfen, um festzustellen, ob der Rechtsakt nicht die Zuständigkeit der Gemeinschaft nach dieser Vorschrift beeinträchtigt und ihn für nichtig zu erklären, wenn sich herausstellen sollte, dass er auf Art. 100c EG-Vertrag hätte gestützt werden müssen.“250

Mit der zentralen Argumentation des Gerichtshofs über den Art. 47 EUV und die Nichtbeeinträchtigung des Gemeinschaftsrechts, weshalb das Unionsrecht insoweit von ihm überprüfbar und verwerfbar sei, eröffnet sich der Gerichtshof aber die Möglichkeit, sämtliche Bereiche des Unionsvertrages anhand des Gemeinschaftsrechts zu überprüfen.251 Doch abgesehen von dieser unzulässigen Ausdehnung seiner Kompetenzen spricht noch ein weiteres gegen die richterrechtlich entwickelte Befugnis des EuGH, Unionsmaßnahmen am Maßstab ihrer Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht für nichtig zu erklären. Damit räumt der EuGH den Gemeinschaftsverträgen nämlich einen höheren Rang, ja einen Geltungsvorrang vor dem Unionsrecht ein, da es ansonsten nicht einleuchtet, weshalb eine mit dem EG-Vertrag unvereinbare Unionsmaßnahme nichtig sein soll.252 Eine solche Normenhierarchie besteht aber zwischen völkerrechtlichen Verträgen nicht, sie war von den Mitgliedstaaten auch nicht gewollt.253 Dieses aus Art. 47 EUV herleiten zu wollen, überspannte sowohl die Auslegungs- als auch die Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH. Es ist wichtig, deutlich zu machen, dass es sich beim Flughafentransiturteil um unzulässige Rechtsfortbildung handelt, da mit der darin zugrundegelegten Argumentation auch ganz klar nicht der Judikatur des Gerichtshofs unterworfene Bereiche des Unionsvertrages, 250 Wörtlich EuGH, Urt. v. 12.5.1998, RS. C-170/96 (Kommission/Rat), Slg. 1998, I-2763, I-87 f. (Rn. 13–17); gleichlaufend die Argumentation von GA Fennelly, Schlussanträge v. 5.2.1998, RS. C-170/96 (Kommission/Rat), Slg. 1998, I-2765, I-2767 (NRn. 7–9). 251 Sehr kritisch zu dem Urteil des Gerichtshofs mit weiteren Argumenten M. Böse, EuR 1998, 678, 681, der mit Recht darauf hinweist, dass auch die Notwendigkeit einer Nichtigkeitsklage gegenüber Unionsmaßnahmen nicht besteht, da der Kommission, soweit die Mitgliedstaaten im Bereich der Europäischen Gemeinschaften tätg werden, gegen diese das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226, 228 EGV zur Verfügung steht. 252 Gegen eine Normenhierarchie zwischen den Verträgen wenden sich auch Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rn. 99 ff.; Pechstein, in: Streinz, EUV/ EGV, Art. 1 EUV Rn. 24, Art. 47 EUV Rn. 2; Oppermann, Europarecht, § 4 Rn. 66. 253 So auch Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rn. 99 ff.; Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 1 EUV Rn. 24, Art. 47 EUV Rn. 2; Oppermann, Europarecht, § 4 Rn. 66.

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wie die GASP, der Rechtsprechung des Gerichtshofs unterstellt werden können. Zugunsten des Gerichtshofs lässt sich jedoch anführen, dass er sich in einer anderen Rechtssache durchaus der begrenzenden Bedeutung des Art. 46 EUV für Auslegung und Rechtsfortbildung bewusst ist. So hat er in der Rechtssache Grau Gomis u. a.254, in der ein Vorabentscheidungsverfahren eindeutig darauf gerichtet war, eine Entscheidung über die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus Art. 2 EUV zu erwirken, die Vorlage als unzulässig zurückgewiesen und entschieden, er sei gem. Art. 46 EUV „offensichtlich nicht dafür zuständig, diesen Artikel im Rahmen eines solchen Verfahrens auszulegen“.255 Auch insoweit besteht also eine Intraorgangrenze für seine Rechtsfortbildungskompetenz. bb) Art. 220 ff. EGV als Grenzen der Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH Ausgangspunkt für die Befugnisse des Gerichtshofs und der in ihnen enthaltenen Begrenzungsfunktion ist Art. 7 EGV i. V. m. Art. 220 ff. EGV. Nach Art. 7 EGV handelt jedes Organ, auch der Gerichtshof, nach Maßgabe der ihm zugewiesenen Befugnisse.256 Aus dieser Formulierung wird schon eine gewisse Begrenzung deutlich, da die Organe und damit der EuGH, nach dem Sinn und Zweck des Art. 7 EGV eben nur dann handeln dürfen, wenn ihnen hierzu im Vertrag eine Befugnis zugewiesen worden ist. Damit führt Art. 7 EGV das Prinzip begrenzter Einzelermächtigung, letztlich ein Prinzip der Verbandskompetenz, auf Ebene der Organkompetenz ein.257 Die Aufgaben des Gerichtshofs und seine Kompetenzen sind relativ gebündelt in den Art. 220 ff. EGV festgeschrieben, die insofern herangezogen werden müssen, um dem ansonsten recht konturlosen Art. 7 EGV Gehalt zu verleihen. In Art. 220 EGV wird dem Gerichtshof die Aufgabe der Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages überantwortet, worunter – wie bereits mehrfach dargelegt – auch die Rechtsfortbil254 Vgl. EuGH, Beschluss v. 7.4.1995, RS. C-167/94 (Grau Gomis u. a.), Slg. 1995, I-1025 ff. 255 So EuGH, Beschluss v. 7.4.1995, RS. C-167/94 (Grau Gomis u. a.), Slg. 1995, I-1025, I-1027 (Rn. 6), I-1029 (Rn. 12). 256 Siehe dazu Callies, in: ders./Ruffert, EUV/EGV, Art. 7 EGV Rn. 7 ff.; siehe ebenfalls T. Läufer, Die Organe der EG – Rechtssetzung und Haushaltsverfahren zwischen Kooperation und Konflikt, S. 215 ff. 257 So Streinz, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 7 EGV Rn. 3.

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dung zu verstehen ist.258 Dem Art. 220 (Wahrung) ist zu entnehmen, dass der EuGH eher eine kontrollierende, rechtsbewahrende und keine rechtspolitische Aufgabe wahrzunehmen hat.259 Darüber hinaus ist Art. 220 jedoch keine eigenständige Kompetenzgrundlage.260 Nun spielt sich aber die richterliche Rechtsfortbildung gerade im Randbereich einer gewissermaßen rechtspolitischen Rechtsschöpfung (Lückenfüllung) und der rechtsbewahrenden Gesetzesanwendung ab. Folglich lassen sich aus der Wertung des Art. 220 EGV keine – schon gar keine halbwegs konkretisierbaren – Grenzen richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz gewinnen. Die konkreten Zuständigkeiten des Gerichtshofs ergeben sich aus den Vorschriften über die einzelnen Verfahrensarten und den aus diesen hervorgehenden Zulässigkeitsvoraussetzungen. Nur soweit ein solches Verfahren anhängig wird, darf der Gerichtshof überhaupt tätig werden261 und gegebenenfalls das Recht fortbilden. Insoweit gilt der Satz, wo kein Kläger, da kein Richter. Dem Gerichtshof fehlt also bei der Rechtsfortbildung ein Initiativrecht. Eine erste, sich allgemein aus den Zuständigkeiten ergebende Grenze besteht also darin, dass der Gerichtshof nicht außerhalb eines an ihn herangetragenen Verfahrens rechtsfortbildend tätig werden darf. Daraus folgt, dass sich der EuGH an den von den Parteien vorgetragenen Streitgegenstand zu halten hat. Darüber hinausgehende Rechtsfortbildungen, die als obiter dictum in ein Urteil hineingelangen, sind von der richterlichen Kompetenz nicht erfasst. Hier handelt der Gerichtshof nicht mehr im Rahmen der ihm zugewiesenen Befugnisse i. S. d. Art. 7 EGV. Seine Aufgabe besteht nämlich einzig darin, dass Recht zu wahren, indem er die an ihn herangetragenen Rechtsstreitigkeiten durch Auslegung und – soweit erforderlich – durch Fortbildung des Gemeinschaftsrechts löst. Nicht zu seiner Aufgabe gehört es aber, allgemeine rechtliche Erwägungen anzustellen oder 258 Siehe hierzu auch EuGH, Urt. v. 17.12.1970, RS. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide) Slg. 1970, 1125, 1135 (Rn. 4); ebenso EuGH, Urt. v. 13.12.1979, RS. 44/79 (Hauer/Land Rheinland-Pfalz), Slg. 1979, 3727, 3744 f. (Rn. 15); EuGH, Urt. v. 14.5.1974, RS. 4/73 (Nold/Kommission), Slg. 1974, 491. Aus der Lehre etwa Callies, NJW 2005, 929 f.; Pernice/ Meyer, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Art. 220 EGV, Rn. 26, 57; K.-D. Borchardt, in: GS Grabitz, S. 29 f.; T. Stein, FS 600 Jahre Heidelberg, S. 619, 623; Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 735. 259 Zur politischen Funktion des Richters siehe A. M. Donner, AöR 106 (1981), 1 ff. 260 Dies betonen auch B. Wegener, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 220 EGV Rn. 2; H. Krück, in: v. d. Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 164 EGV Rn. 1; problematisch deshalb in methodischer Hinsicht EuGH, Urt. v. 13.7.1990, RS. C-2/88 (Zwartveld), Slg. 1990, I-3365, I-3373 (Rn. 23 ff.). 261 Vgl. Wegener, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 220 EGV Rn. 2.

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gar Rechtsfortbildungen zu entwickeln, die nichts mit dem konkreten Verfahren zu tun haben. Insoweit ist die Organkompetenz des Gerichtshofs – und damit auch seine Befugnis zur richterlichen Rechtsfortbildung – beschränkt. Es erscheint müßig, sämtliche Verfahrensarten im Einzelnen darzustellen;262 hierfür besteht auch kein Bedürfnis. Aus Art. 7 i. V. m. Art. 220, 226–241 EGV ergibt sich die aufgezeigte Rechtsfortbildungsgrenze zweiter Stufe. Der Gerichtshof darf nur innerhalb eines der in den Art. 226–241 EGV enumerativ aufgezählten Verfahren (rechtsfortbildend) tätig werden und er darf zu keiner Frage rechtsfortbildend tätig werden, welche nicht Gegenstand eines konkreten Rechtsstreites ist (Verbot des rechtsfortbildenden obiter dictum). Auch kann man aus der dem Gerichtshof in Art. 220 EGV übertragenen Aufgabe der „Wahrung“ des Rechts ableiten, dass rechtspolitische Entscheidungen zuvörderst den Mitgliedstaaten oder dem Gemeinschaftsgesetzgeber zustehen, nicht aber dem Gerichtshof, dem insofern mit seiner Rechtsfortbildung eine rechtsbewahrende Auffangfunktion zukommt.263 Dieses ist allerdings bereits eine Frage, die zu den Grenzen überleitet, welche sich aus dem Interorganverhältnis, also den Beziehungen der anderen Gemeinschaftsorgane zum EuGH, ergeben. b) Das institutionelle Gleichgewicht als Interorgangrenze für die richterliche Rechtsfortbildungskompetenz Der zuletzt angedeutete Gedanke, die Abgrenzung der eher rechtsbewahrenden Aufgabe des Gerichtshofs von der mehr rechtssetzenden Aufgabe der politischen Organe (Rat, Parlament, Kommission), ist freilich noch arg schwammig und taugt als solcher nicht dazu, eine klare Grenze zwischen zulässiger und unzulässiger Rechtsfortbildung zu bestimmen. Dennoch ist der hinter dieser vagen Grenze stehende Gedanke von solcher Tragweite, dass es gerechtfertigt erscheint, ihm eine vertiefte Aufmerksamkeit zu zollen. Diese Einschätzung der Aufgabe des Gerichtshofs ist nämlich letzten Endes durch das klassische Gewaltenteilungsbild einer Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative geprägt, welches auf die Gemeinschaften freilich nicht ganz übertragbar ist.264 Da es aber um die Verteilung von 262 Eine umfassende Darstellung und Erörterung sämtlicher Verfahrensarten vor dem EuGH wie auch dem EuG findet sich bei Rengeling/Middecke/Gellermann, passim. 263 Zum Umfang der Kontrollaufgabe des Gerichtshofs gegenüber dem Gemeinschaftsgesetzgeber vgl. U. Everling, FG Gündisch, S. 89 ff. 264 So auch Oppermann, Europarecht, § 5 Rn. 5; ebenso W. Hummer, FS Verdross zum 90. Geburtstag, S. 459.

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rechtsschöpfenden Befugnissen geht, nämlich der Rechtssetzung (v. a. durch den Rat unter Beteiligung der Kommission, des Europäischen Parlaments und gegebenenfalls des Ausschusses der Regionen) einerseits und der richterlichen Rechtsfortbildung andererseits, ist der Gedanke der Gewaltenteilung im Kern zutreffend. Allerdings spricht man im europäischen Gemeinschaftsrecht eher von einem institutionellen Gleichgewicht,265 da vor allem die Legislative und Exekutive nicht stets leicht voneinander abzugrenzen sind, wenn auch die Judikative mit EuGH und EuG klar ausgebildet ist. Meines Erachtens lassen sich aus dem Gedanken des institutionellen Gleichgewichts einige Grenzen ableiten, die in den Befugnissen der verschiedenen Organe und deren Verhältnis zueinander begründet liegen.266 Da es sich um das Verhältnis der Kompetenzen der Organe zueinander und deren begrenzende Funktion für die Rechtsfortbildungsbefugnis des EuGH handelt, könnte man von Interorgangrenzen sprechen. Im Folgenden gilt es nun, das Prinzip des institutionellen Gleichgewichtes zunächst allgemein zu erläutern [aa)], bevor im Einzelnen sich daraus ergebende Grenzen für die Rechtsfortbildungskompetenz des Gerichtshofs herausgearbeitet werden sollen [bb)]. aa) Inhalt des Prinzips des institutionellen Gleichgewichts Was genau alles unter das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts zu fassen ist, ist nicht ganz geklärt. Betont wird aber stets, dass es sich um ein System von „checks and balances“ handele.267 Von Interesse ist im Rahmen dieser Untersuchung – da nach den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz gesucht wird –, inwieweit sich aus dem Prinzip des institutionellen Gleichgewichts Kompetenzschranken für die Rechtsfortbildung durch den EuGH ergeben können. 265 Zu diesem Begriff siehe aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs EuGH, Urt. v. 13.6.1958, RS. 9/56 (Meroni), Slg. 1958, 9, 44; EuGH, Urt. v. 29.10.1980, RS. 138/79 (Roquette Frères/Rat), Slg. 1980, 3333, 3360 (Rn. 32 ff.); EuGH, Urt. v. 29.10.1980, RS. 139/79 (Maizena/Rat), Slg. 1980, 3393, 3424 (Rn. 33 ff.); aus der Lehre Hummer, FS Verdross zum 90. Geburtstag, S. 459 ff.; siehe auch W. Bernhardt, S. 145 ff.; G. C. Rodríguez Iglesias, EuR 1992, 225, 229 ff. 266 So wohl auch Wegener, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 220 EGV Rn. 15; vgl. auch Ukrow, S. 215 ff. 267 Siehe EuGH, Urt. v. 22.5.1990, RS. C-70/88 (Parlament/Rat, I-2041 (dort LS. 1), I-2072 (Rn. 21 f.); Beschluss des EuGH-Präsidenten R. Lecourt v. 22.10.1975, RS. 109/75 R National Carbonising Company), Slg. 1975, 1201, 1202 (Rn. 8); Hummer, FS Verdross zum 90. Geburtstag, S. 459 ff.; Oppermann, Europarecht, § 5 Rn. 5.

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Normativer Anknüpfungspunkt für den Gedanken des institutionellen Gleichgewichts ist meiner Ansicht nach Art. 7 Abs. 1 EGV.268 Wenn es dort in Art. 7 Abs. 1 S. 2 EGV heißt: „Jedes Organ handelt nach Maßgabe der ihm im Vertrag zugewiesenen Befugnisse“, so kann man aus diesem Satz ablesen, dass jedem Organ der Gemeinschaften ein bestimmter Bereich an Befugnissen zusteht. Das Gleichgewicht ergibt sich dann aus einer gewissen Ausgeglichenheit der vertraglich zugewiesenen Kompetenzen von Rat, Parlament, Kommission und Gerichtshof sowie der weiteren Organe.269 Die jeweiligen Befugnisse müssen zu einer relativ ebenbürtigen Stellung der Organe im Rahmen des Vertrages führen. Der Gerichtshof hat zum institutionellen Gleichgewicht ausgeführt, dass es auch vom Demokratieprinzip gestützt werde. So argumentierte er etwa in der Rechtssache Roquette Frères, die Beteiligung des Europäischen Parlaments im Rechtssetzungsverfahren durch den Rat sei eine wesentliche Formvorschrift, da hierin ein wesentliches demokratisches Prinzip – die Beteiligung der Völker an der Ausübung der Hoheitsgewalt – widergespiegelt sei.270 Vereinzelt wird allerdings behauptet, der Gerichtshof habe das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts nicht auf sich angewendet und wolle es auch nicht auf sich angewendet wissen. Dennoch ist klar, dass es auch für ihn gilt.271 Richtig an der Aussage, der EuGH habe das institutionelle Gleichgewicht nicht auf sich erstreckt, ist, dass er dieses – soweit ersichtlich – bislang noch nicht ausdrücklich getan hat. Jedoch spricht etwa die Zurückhaltung bei der Überprüfung der Zweckdienlichkeit einer Verordnung, deren Beurteilung eine Sache des Rates sein soll, oder auch die deutliche Ablehnung, Probleme des Haushaltsplans zu lösen, eine klare Sprache. Hier achtet der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gewisse Zuständigkeitsbereiche der anderen Organe und wahrt damit zugleich – wenn auch nicht ausdrücklich hervorgehoben – das institutionelle Gleichgewicht.272 268

Ebenso wohl Callies, in: ders./Ruffert, EUV/EGV, Art. 7 Rn. 1 ff., der das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts im Rahmen seiner Kommentierung zu Art. 7 EGV erörtert. 269 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 22.5.1990, RS. C-70/88 (Parlament/Rat), I-2041 (LS. 1), I-2072 Rn. 21 f.); Oppermann, Europarecht, § 5 Rn. 5; siehe auch ausführlich Hummer, FS Verdross zum 90. Geburtstag, S. 459, 460 f. 270 Vgl. EuGH, Urt. v. 29.10.1989, RS. 138/79 (Roquette Frères/Rat), Slg. 1980, 3333, 3360 (Rn. 33); ebenso EuGH, Urt. v. 29.10.1980, RS. 139/79 (Maizena/Rat), Slg. 1980, 3393, 3394 (LS. 5), 3424 (Rn. 24). 271 So auch W. Bernhardt, S. 145 ff. der aber darauf hinweist, dass der EuGH sich selbst nicht in das Gefüge des institutionellen Gleichgewichts einbezogen habe. 272 So etwa in EuGH, Urt. v. 13.7.1966, RS. 32/65 (Italien/Kommission), Slg. 1966, 457, 458 (LS. 1), 482.

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Aus diesen Beispielen wird dann auch ersichtlich, inwieweit das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts als Verfassungsprinzip der Gemeinschaft der richterlichen Rechtsfortbildung Schranken zu ziehen vermag. Um ein Gleichgewicht zwischen den Organen zu wahren, muss diesen jeweils ein Kernbereich an Kompetenzen zustehen, in welche die anderen Organe nicht eindringen dürfen. Ein gewisser Bereich ihrer Befugnisse, die sich ansonsten durchaus überlappen, ist den Gemeinschaftsgewalten zu ihrer ausschließlichen Wahrnehmung überlassen.273 Da hier nach Grenzen der Rechtsfortbildung gesucht wird, bedeutet dieses, dass Bereiche des Gemeinschaftshandelns gesucht werden müssen, die der Rechtsprechung und somit auch der Rechtsfortbildung des Gerichtshofs (und des Gerichts erster Instanz) entzogen sind. Die Frage ist also, ob sich aus dem Prinzip des institutionellen Gleichgewichts Kernkompetenzen anderer Gemeinschaftsorgane ergeben, deren Wahrnehmung nicht justitiabel ist, und – sollte dieses der Fall sein – um welche Bereiche es sich dabei handelt. Da es sich bei richterlicher Rechtsfortbildung um die Ausfüllung von Lücken im Gemeinschaftsrecht handelt, es sich also um eine rechtsschöpfende Tätigkeit handelt, dürften für die Grenzen der Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH insbesondere die Kernbereichskompetenzen der als Gemeinschaftsgesetzgeber fungierenden Organe von Interesse sein. bb) Einzelne Kernbereiche, die der richterlichen Rechtsfortbildungskompetenz Grenzen ziehen Im nationalen Recht wird die Kernbereichsthese – wenn auch selten in Bezug auf die richterliche Rechtsfortbildung – ebenfalls vertreten.274 Nichtsdestotrotz lassen sich einige Ansätze erkennen, welche unter diesen Gedanken gefasst werden können. So wird etwa häufig erörtert, ob etwa das Haushaltsrecht vor dem Hintergrund des Budgetrechts des Parlaments den Gerichten entzogen ist, ebenso werden Beziehungen zu anderen Staaten für nicht justitiabel gehalten.275 273 Im deutschen Verfassungsrecht wurde die Kernbereichsthese als Vorbehaltsbereich der Exekutive, insbesondere der Gubernative entwickelt, vgl. etwa BVerfGE 67, 100, 136 ff.; siehe auch Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 44 Rn. 62 ff. Für eine Anwendung des Kernbereichsgedankens auf die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung spricht sich Gusy, DÖV 1992, 461, 462 zum nationalen Recht aus. 274 So von Gusy, DÖV 1992, 461, 462. 275 Vgl. etwa BVerfGE 67, 100, 139; BayVerfGH, DVBl. 1986, 233, 234. Als Kernbereich der Regierung im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten kann man wohl auch die Kündigung völkerrechtlicher Verträge bezeichenen, welche nach – unzutreffender – h. M. nicht der Zustimmung des Bundestages bedarf.

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Untersucht man die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, so lässt sich hier ebenfalls eine gewisse Zurückhaltung in bestimmten Bereichen erkennen. So hat sich der Gerichtshof etwa im Haushaltsrecht der Gemeinschaften ebenso wie bei der Beurteilung der Zweckdienlichkeit eines Verordnungserlasses durch den Rat zur Zurückhaltung gezwungen gesehen. (1) Haushaltsrecht – die Rs. 34/86 (Rat/Parlament) In dem der Rechtssache 34/86 zugrunde liegenden Rechtsstreit ging es um die Gültigkeit des Haushaltsplanes für das Jahr 1986.276 Der Auseinandersetzung lag eine unterschiedliche Auffassung des Umfangs der nicht-obligatorischen Ausgaben und deren Steigerung – über die nach Art. 272 Abs. 3 ff. EGV Einvernehmen zwischen Rat und Parlament zu erzielen war – zugrunde. Schließlich stellte der Präsident des Europäischen Parlaments das Zustandekommen des Haushaltsplanes gem. Art. 272 Abs. 7 EGV fest, obwohl dieser vom Rat in dieser Form nicht mitgetragen wurde.277 In der daraufhin ergangenen Entscheidung des Gerichtshofs, wurde der Feststellungsbeschluss des Parlamentspräsidenten aufgehoben.278 Der Gerichtshof zeigte jedoch auch ihm selbst gezogene Entscheidungsgrenzen auf.279 So hat der EuGH einige Abschnitte des Haushaltsverfahrens ausdrücklich von der gerichtlichen Prüfung ausgenommen und auf die Zuständigkeit der anderen Organe verwiesen.280 Seiner Ansicht nach sollen Fragen einer gerichtlichen Überprüfung (und damit auch einer richterlichen Rechtsfortbildung), nicht zugänglich sein, bei denen es sich vorwiegend um politische handelt.281 So führt der Gerichtshof aus, und das ist gerade vor dem Hintergrund der letzten großen Erweiterungsrunde vom 1. Mai 2004 von Interesse, dass es jedenfalls nicht Sache des Gerichtshofs sei, einvernehmlich zu regeln, welche Erfordernisse sich für den Haushaltsplan der Gemeinschaft aus besonderen Situationen wie dem Betritt von neuen Mitgliedern oder dem Abbau der Altlasten ergäben. Hier seien Rat und Parlament aufgefordert, eine einvernehmliche Lösung zu finden.282 Der EuGH ist sich hier offensichtlich 276

Vgl. EuGH, Urt. v. 3.7.1986, RS. 34/86 (Rat/Parlament), Slg. 1986, 2155 ff. Siehe EuGH, Urt. v. 3.7.1986, RS. 34/86 (Rat/Parlament), Slg. 1986, 2155 ff. 278 EuGH, Urt. v. 3.7.1986, RS. 34/86 (Rat/Parlament), Slg. 1986, 2155 ff. Dazu R. Bieber, DVBl. 1986, 961 ff. 279 EuGH, Urt. v. 3.7.1986, RS. 34/86 (Rat/Parlament), Slg. 1986, 2155, 2209 f. (Rn. 38). 280 EuGH, Urt. v. 3.7.1986, RS. 34/86 (Rat/Parlament), Slg. 1986, 2155, 2209 f. (Rn. 38). 281 Diese Einschätzung teilt Bieber, DVBl. 1986, 961, 966. 282 EuGH, Urt. v. 3.7.1986, RS. 34/86 (Rat/Parlament), Slg. 1986, 2155, 2209 f. (Rn. 38); hierzu Bieber, DVBl. 1986, 961, 966; siehe auch Bernhardt, S. 145. 277

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der Tatsache bewusst, dass in der Bewertung der finanziellen Auswirkungen von Beitrittskosten und Altlasten eine rein politische Aufgabe zu sehen ist, die von den für die Aufstellung des Haushaltsplanes zuständigen Organen und nicht etwa von ihm vorzunehmen ist. In der Rechtssache 34/86 fährt der Gerichtshof fort, seine eigenen Kompetenzgrenzen aufzuzeigen. So heißt es nur wenig später: „Wenn es auch dem Gerichtshof obliegt, dafür zu sorgen, daß die Organe, die die Haushaltsbehörde bilden, die Grenzen ihrer Zuständigkeit beachten, so gehört es doch nicht zu seinen Aufgaben, in den Prozeß der Verhandlungen zwischen dem Rat und dem Parlament einzugreifen, der unter Einhaltung dieser Grenzen zur Erstellung des Gesamthaushaltsplans der Gemeinschaften führen muß.“283

Zuletzt sieht sich der Gerichtshof nicht dafür zuständig, die Gründe, die das Zustandekommen einer Einigung zwischen Rat und Parlament über einen neuen Höchstsatz verhindert haben, einer gerichtlichen Kontrolle zu unterziehen: „Der Gerichtshof hat nicht zu untersuchen, inwieweit das Verhalten des Rates oder des Parlaments während der gesamten Haushaltsverhandlungen sie daran gehindert hat, zu einer Einigung zu gelangen. Er muß sich auf die Feststellung beschränken, daß der Präsident des Parlaments wegen des Fehlens dieser wesentlichen Einigung nicht rechtmäßig feststellen konnte, daß der Haushaltsplan endgültig festgestellt sei.“284

Betrachtet man diese drei Äußerungen des Gerichtshofs, so fällt auf, dass der Gerichtshof sich nicht in Fragen einmengen wollte, welche die inhaltliche Erstellung des Haushaltsplanes betrafen, sondern sich bewusst auf eine bloße Prüfung des Verfahrens, also des ordnungsgemäßen Zustandekommens des Haushaltsplanes beschränkt hat. Der EuGH hat hier selbst eine Grenze seiner Jurisdiktionsgewalt festgestellt, da er die erwähnten Bereiche für nicht justitiabel hält. Damit hat er freilich auch eine Grenze richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz determiniert. Die Zurückhaltung, die sich der Gerichtshof hier auferlegt, ist angesichts des Art. 272 EGV, der in zehn (!) ausführlichen Absätzen ein äußerst detailliertes Verfahren zur Aufstellung des Haushalts vorsieht, nicht nur verständlich, sondern nachgerade aus der Norm heraus geboten. Der Vertrag hätte kein so ausführliches System der Einigung zwischen Rat und Parlament vorsehen müssen, wenn letztlich der Gerichtshof im Wege der Rechtsfortbildung über den Inhalt des Haushaltsplanes befinden könnte. Die Aufgabe des EuGH kann lediglich darin bestehen – und dieses hat er in der 283 So EuGH, Urt. v. 3.7.1986, RS. 34/86 (Rat/Parlament), Slg. 1986, 2155, 2210 (Rn. 42). 284 EuGH, Urt. v. 3.7.1986, RS. 34/86 (Rat/Parlament), Slg. 1986, 2155, 2211 (Rn. 45); siehe auch Bieber, DVBl. 1986, 961, 966.

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Rechtssache 34/86 klar herausgestrichen – festzustellen, ob die Verfahrensanforderungen erfüllt sind, worunter auch die noch bestehende Differenzierung zwischen obligatorischen und nicht-obligatorischen Ausgaben fällt, da diese das Verfahren maßgeblich mitbestimmt.285 Diese vom Vertrag gebotene Zurückhaltung des Gerichtshofs, wird durch das Institut des Nothaushalts in Art. 273 EGV gestützt, dessen es nicht bedürfte, wenn der Gerichtshof „durchentscheiden“ könnte und über den Inhalt des Haushaltsplans das letzte Wort hätte. Als interorganschaftliche Rechtsfortbildungsgrenze zweiter Stufe lässt sich also festhalten, dass der EuGH im Bereich des Haushaltsrechts keine inhaltlichen Fragen entscheiden beziehungsweise hierzu keine Rechtsfortbildungen entwickeln darf, da diese Fragen nicht justitiabel sind. (2) Einschätzungsprärogative des Gemeinschaftsgesetzgebers beim Normerlass In der Rechtsprechung des EuGH lässt sich ein weiterer Bereich ausmachen, in welchem sich der Gerichtshof mit Entscheidungen und erst recht mit richterlicher Rechtsfortbildung zurückgehalten hat, obwohl hier angebliche Lücken im Sekundärrecht bestanden, welche auch richterrechtlich hätten ausgefüllt werden können. Dabei ging es um Fälle, in denen etwa die Zweckmäßigkeit eines Verordnungserlasses durch den Rat in Rede stand oder der Kläger – ein Beamter der Gemeinschaften – beantragte, die Kommission zu verpflichten, eine Bestimmung des Inhalts in das Beamtenstatut aufzunehmen, dass der Dienstherr generell das Währungsrisiko bei der Beamtenbesoldung zu tragen habe. Zur ersten Sache entschied der EuGH: „Es ist Sache des Rates, zu beurteilen, ob der Erlass einer Verordnung zweckdienlich ist“,286 womit er zugleich ablehnt, diese Frage zu seiner Angelegenheit zu machen. Hinsichtlich der Normenerlassklage des Beamten beschied der Gerichtshof knapp: „Es ist nicht Sache des Gerichtshofs, den Gemeinschaftsbehörden Weisungen zu erteilen. Dieser Klageantrag ist daher als unzulässig abzuweisen.“287 285

Siehe zu dieser Unterscheidung erläuternd Oppermann, Europarecht, § 11 Rn. 37 f. Auch nach den finanzverfassungsrechtlichen Bestimmungen des Vertrages über eine Verfassung für Europa besteht diese Justitiabilitätsschranke weiter, weshalb auch nach diesem eine Rechtsfortbildungsschranke für den EuGH bestehen wird. Zur Finanzordnung nach dem Vertrag über eine Verfassung für Europa S. Magiera, FS Ress, S. 623 ff.; K-H. Fischer, S. 207 ff. 481 ff. 286 Vgl. EuGH, Urt. v. 13.7.1966, RS. 32/65 (Italien/Kommission), Slg. 1966, 457, 458 (LS. 1), 482. 287 Siehe EuGH, Urt. v. 16.6.1971, verb. RS. 63–75/70 (Bode/Kommission), Slg. 1971, 549 (LS. 1), 554 (Rn. 2).

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Die Zurückhaltung des Gerichtshofs bei (noch) nicht erlassenen Sekundärrechtsakten rechtsfortbildend tätig zu werden bzw. im Wege der Rechtsfortbildung ein Organ zum Erlass einer bestimmten Norm zu verpflichten, könnte man normativ mit dem Initiativrecht begründen, welches für das Sekundärrecht ausschließlich der Kommission zusteht (sog. Initiativmonopol der Kommission).288 Der Rat kann zumeist erst beschließen, nachdem die Kommission ihm einen Rechtssetzungsvorschlag unterbreitet hat (vgl. Art. 250 Abs. 1 EGV). Verpflichtete der EuGH nun im Wege richterlicher Rechtsfortbildung ein Organ zum Normerlass oder füllte er selbst eine bewusste Normlücke, so unterminierte er damit das Initiativrecht der Kommission. Als wahre Grenze richterlicher Rechtsfortbildungsbefugnis kann jedoch auch das Initiativrecht nicht angesehen werden, da letztlich bei jeder Rechtsfortbildung eine Lücke geschlossen wird, die die Gemeinschaftsgesetzgebungsorgane im ordentlichen Verfahren auch selbst schließen könnten. Als Grenze bleibt somit festzuhalten, dass der Gerichtshof einen gewissen Spielraum der normgebenden Organe beim Normerlass akzeptiert, welchen er nicht mittels richterlicher Rechtsfortbildung ausfüllt. Dies ist nun freilich keine präzise Grenze. Der Gedanke eines Kernvorbehalts der Entscheidungsbefugnisse des Gesetzgebers erlaubt allenfalls eine gewisse Annäherung an einen dem Gerichtshof entzogenen Bereich. Diesen scheint der Gerichtshof dort anzuerkennen, wo er Organe zum Normerlass verpflichten müsste – hierzu sieht er sich nicht befugt289 –, also bei der Frage nach dem „Ob“ des Normerlasses, aber in gewissem Maße räumt er dem Rat auch einen nicht überprüfbaren Ermessensspielraum hinsichtlich des „Wie“ des Normerlasses ein, wie die Entscheidung zur Zweckmäßigkeit einer Verordnung zeigt.290 Da diese Rechtsfortbildungsgrenze aber nicht besonders scharf zu ziehen ist, gibt es auch Fälle, welche man als Verletzung derselben durch den Gerichtshof einstufen kann. So etwa in einem Rechtsstreit, in dem es darum ging, ob die Kommission bestimmte einstweilige Maßnahmen auf Grundlage einer Verordnung erlassen durfte.291 Generalanwalt J.-P. Warner kam nach einer ausführlichen Untersuchung der fraglichen Bestimmungen m. E. 288 Das Initiativmonopol der Kommission beim Erlass von Sekundärrecht behandelt umfassend v. Buttlar, passim; siehe auch Oppermann, Europarecht, § 5 Rn. 92, § 6 Rn. 117. 289 Vgl. EuGH, Urt. v. 16.6.1971, verb. RS. 63–75/70 (Bode/Kommission), Slg. 1971, 549 (LS. 1), 554 (Rn. 2). 290 Siehe dazu EuGH, Urt. v. 13.7.1966, RS. 32/65 (Italien/Kommission), Slg. 1966, 457, 458 (LS. 1), 482. 291 EuGH, Beschluss v. 17.1.1980, RS. 792/79 R (Camera Care/Kommission), Slg. 1980, S. 119 ff.

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zu Recht zu dem Ergebnis, dass die Ratsmitglieder sich – wie sich aus der Systematik der Vorschrift ergab – bewusst gegen eine solche Befugnis der Kommission entschieden hatten und führte folglich, auf eine eventuelle, anderslautende Rechtsfortbildung des Gerichtshofs abzielend, aus: „Die Antragstellerin und die Kommission haben teilweise überzeugende Gründe dafür vorgetragen, daß es wünschenswert wäre, wenn die Kommission eine solche Befugnis hätte. Meiner Meinung nach sollten diese Gründe dem Rat vorgetragen werden und nicht dem Gerichtshof. Aufgabe des Gerichtshofs ist es, zu entscheiden, was Rechtens ist, und nicht, was Rechtens sein sollte.“292

Damit weist Warner deutlich auf eine Rechtsfortbildungsgrenze hin, nämlich dass der Gerichtshof eine klare, an sich lückenlose Regelung des Gemeinschaftsgesetzgebers selbst dann nicht ergänzen dürfe, wenn dieses rechtspolitisch wünschenswert sei. Der Gerichtshof ist jedoch dem Antrag des Generalanwalts nicht gefolgt und hat die fragliche Befugnis der Kommission richterrechtlich geschaffen.293 Insoweit besteht nicht immer die Zurückhaltung des Gerichtshofs vor der Entscheidung des Normgebers. Im zuletzt geschilderten Fall hat der Gerichtshof seine Kompetenzen überschritten. Ich teile die Ansicht des Generalanwalts Warner, dass der Rat eine abschließende Regelung geschaffen hatte, welche die Möglichkeit des Erlasses einstweiliger Verfügungen durch die Kommission nicht vorsah. Besser als Warner kann man es kaum ausdrücken; Aufgabe des Gerichtshofs ist es eben nur, zu entscheiden, was Rechtens ist, nicht hingegen, was Rechtens sein sollte.294 Der Gerichtshof hat hier also eine Rechtsfortbildung betrieben, die, da sie in die Kernbefugnisse des Rates zur Rechtssetzung eingegriffen hat, als wegen Verstoßes gegen das institutionelle Gleichgewicht unzulässig zu qualifizieren ist. Festzuhalten ist also, dass eine richterliche Rechtsfortbildung aufgrund des Vorranges der Entscheidung des Normgebers unzulässig ist, sofern der Gemeinschaftsgesetzgeber eine abschließende (sekundärrechtliche) Regelung treffen wollte. Es fehlt dann bereits an der „tatbestandlichen“ Voraussetzung der planwidrigen Regelungslücke. Diesen gesetzgeberischen Plan kann und darf der EuGH nicht durch seine eigene rechtspolitische Auffassung – und sei sie auch vom effet utile getragen – ersetzen. Er würde sonst in den Kernbereich der Legislativorgane der Gemeinschaften eingreifen. 292

GA J.-P. Warner, Schlussanträge v. 9.1.1980, RS. 792/79 R (Camera Care/ Kommission), Slg. 1980, 133, 137. 293 Vgl. EuGH, Beschluss v. 17.1.1980, RS. 792/79 R (Camera Care/Kommission), Slg. 1980, 119, 132 (Rn. 20). 294 Warner, Schlussanträge v. 9.1.1980, RS. 792/79 R (Camera Care/Kommission), Slg. 1980, 133, 137.

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Zusammenfassend lässt sich folgendes als Rechtsfortbildungsgrenze zweiter Stufe herauskristallisieren: Erstens ist der Gerichtshof nicht befugt, andere Gemeinschaftsorgane zum Erlass von sekundärrechtlichen Normen zu verpflichten (sofern keine ausdrückliche Verpflichtung zu deren Erlass im Gemeinschaftsrecht verankert ist), insoweit besteht eine Einschätzungsprärogative des Gemeinschaftsgesetzgebers, zweitens besteht ein gewisser, vom Gerichtshof nicht überprüfbarer Ermessensspielraum des Gemeinschaftsgesetzgebers, in welcher Weise er eine Regelung erlassen möchte und drittens darf der Gerichtshof vom Gemeinschaftsgesetzgeber rechtmäßig getroffene Entscheidungen, mögen sie ihm auch rechtspolitisch zuwiderlaufen, nicht richterrechtlich korrigieren. (3) Der Nulla-poena-Grundsatz Im nationalen Recht wurde als Schranke richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz das verfassungsrechtliche Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG herausgearbeitet. Dieses kann man als rechtstaatlich geforderten Ausdruck des Wesentlichkeitsprinzips verstehen.295 Damit aber kann man den Nulla-poena-Grundsatz auch als Abgrenzung der Staatsgewalten dergestalt verstehen, dass es der Legislative auferlegt ist, Sanktionsnormen zu schaffen und den rechtsanwendenden Gerichten untersagt ist, im Wege der Rechtsfortbildung selbst Strafnormen zu schaffen.296 Die Strafrechtssetzung kann somit dem absoluten Kernbereich der Legislative zugerechnet werden, so dass sich hieraus die hier vorgenommene Einordnung als Interorgangrenze erhellt. Kann nun aber der Nulla-poena-Grundsatz auch im Gemeinschaftsrecht – und damit für den EuGH – als Grenze richterlicher Rechtsfortbildungsbefugnis fruchtbringend herangezogen werden? Dabei stellen sich zwei Fragen: Zum einen ist unklar, wo im Gemeinschaftsrecht der Nulla-poenaGrundsatz überhaupt zu verankern ist, zum anderen bedarf es, damit der Grundsatz überhaupt eine gemeinschaftsrechtliche Rechtsfortbildungsgrenze markieren kann, eines konkreten Anwendungsbereichs im Gemeinschaftsrecht. 295 So etwa BVerfGE 92, 1, 12 st. Rspr.; ferner Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Art. 103 Rn. 97 ff., 139, 156 ff.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Rn. 227; Gemeint ist mit der Bezeichnung Analogieverbot nicht bloß die Analogie im technischen Sinne, sondern jede Art der rechtsfortbildenden Ausdehnung der Strafnorm zu Lasten des Täters, so zu Recht BVerfGE 92, 1, 12; B. Schünemann, S. 79; W. Hassemer, Tatbestand und Typus, S. 162 ff. 296 So BVerfGE 92, 1, 12; 87, 209, 224; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103, Rn. 227; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 103 II Rn. 39 ff.; deutlich auch Kunig, in: v. Münch/ders., GGK III, Rn. 26 zu Art. 103.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

(a) Normative Grundlage Der Grundsatz „Nulla poena sine lege“ ist im EG-Vertrag nicht ausdrücklich festgeschrieben. Sucht man dennoch nach einer tragfähigen Verankerung für diesen, so muss man auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrecht zurückgreifen. In Betracht kommt hier ebenso eine grundrechtliche, wie auch eine rechtsstaatliche Anknüpfung. Grundrechtlich wäre anzuführen, dass es sich beim Nulla-poena-Grundsatz wohl um einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts handelt.297 Knüpft man an Art. 6 Abs. 2 EUV an, so ist festzustellen, dass sich der Nulla-poena-Grundsatz sowohl in Art. 7 Abs. 1 EMRK,298 wie auch in den mitgliedstaatlichen Verfassungen (vgl. etwa Art. 103 Abs. 2 GG; Art. 14 Belg. Verf.; § 23 Estn. Verf.; Art. 8 Finn. Verf.; Art. 8 Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen 1789; Art. 25 Abs. 2 Ital. Verf.) allgemein anerkannt ist.299 Es handelt sich also um ein grundlegendes Menschenrecht, welches als solches auch zu den ungeschriebenen, allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehört.300 Für die Annahme, der Nulla-poena-Grundsatz sei als allgemeiner Rechtsgrundsatz im Gemeinschaftsrecht enthalten, spricht auch, dass er sich in Art. 49 Abs. 1 der rechtlich zwar unverbindlichen, aber politisch dennoch bedeutsamen EU-Grundrechtecharta wiederfindet. Als zweite Grundlage für die Annahme des Nulla-poena-Grundsatzes im Gemeinschaftsrecht kommt das Rechtsstaatsprinzip in Betracht, welches im Gemeinschaftsrecht anerkannt ist und in Art. 6 Abs. 1 EUV als eine der Grundlagen der Union genannt wird. Der Nulla-poena-Grundsatz ist nun eine besonders wichtige Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips, verbietet es doch Willkür durch die Gerichte mittels rechtsfortbildender, straf297 Siehe dazu EuGH, Urt. v. 8.10.1987, RS. 80/86 (Kolpinghuis Nijmegen), Slg. 1987, 3969, 3987 (Rn. 13 f.); EuGH, Urt. v. 10.7.1984, RS. 63/83 (Regina/ Kirk), Slg. 1984, 2689, 2718 (Rn. 21 ff.) beide zum Grundsatz nulla poena sine lege praevia; siehe auch Schilling, EuGRZ 2000, 3, 22; Schultze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 103 II Rn. 6 f.; Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 103 Rn. 115. 298 Vgl. dazu Grabenwarter, EMRK, § 24 Rn. 84 ff. Zur Bedeutung des Grundsatzes „ne bis in idem“ im Gemeinschaftsrecht vgl. W. Schomburg, NJW 2000, 1833 ff. 299 So auch die Argumentation des EuGH, Urt. v. 10.7.1984, RS. 63/83 (Regina/ Kirk), Slg. 1984, 2689, 2718 (Rn. 22); darstellend auch Schultze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 103 II Rn. 6 f.; weitere vergleichbare Verfassungsbestimmungen auch aus anderen EU-Mitgliedstaaten finden sich bei Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 103 ganz am Anfang. 300 So EuGH, Urt. v. 10.7.1984, RS. 63/83 (Regina/Kirk), Slg. 1984, 2689, 2718 (Rn. 22); Schilling, EuGRZ 2000, 3, 22.

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begründender Analogie und überträgt allein dem Gesetzgeber die Aufgabe, sich mit der Strafbarkeit zu befassen und diesbezüglich Regelungen zu treffen.301 Folglich ist der Nulla-poena-Grundsatz auch bereits im geltenden Gemeinschaftsrecht verankert. Im Vertrag über eine Verfassung für Europa – von dem noch nicht abzusehen ist, wann er in Kraft treten wird – ist der Nulla-poena-Grundsatz als Art. II-109 Abs. 1 vorgesehen.302 (b) Anwendungsbereiche im Gemeinschaftsrecht Nachdem nunmehr festgestellt worden ist, dass der Nulla-poena-Grundsatz im Gemeinschaftsrecht verankert werden kann, bleibt zu untersuchen, in welchen Bereichen er als Rechtsfortbildungsschranke für den EuGH von Bedeutung sein kann. (aa) Strafrecht Zunächst ist sicherlich an das Strafrecht zu denken. Fraglich ist jedoch, ob das Strafrecht überhaupt ein Bereich ist, der für das Gemeinschaftsrecht von Bedeutung ist.303 Als möglicher Ansatzpunkt eines gemeinschaftsrechtlichen Strafrechts wird insbesondere der Art. 280 Abs. 4 EGV erörtert. So ist etwa Tiedemann304 der Ansicht, hiermit sei eine Kompetenz der Gemeinschaft zur Setzung von Strafrecht begründet worden. Er stützt seine Ansicht darauf, dass in einer systematischen Auslegung zu Art. 280 Abs. 2 EGV die „erforderlichen Maßnahmen“ nach Abs. 4 auch solche strafrechtlicher Natur sein müssten.305 Hiergegen wird jedoch mit Recht eingewendet, dass Art. 280 301

So, für das nationale Recht, BVerfGE 92, 1, 12; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 103, Rn. 227; Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 103, Rn. 156. 302 Dieses liegt darin begründet, dass die EU-Grundrechtecharta als Teil II in den Vertrag über eine Verfassung für Europa Eingang gefunden hat. Die Regelung des Art. II-109 VVE ist Art. 7 EMRK deutlich angelehnt. 303 Festzustellen ist bereits, dass das Schrifttum zum europäischen Strafrecht immer mehr zunimmt. Vgl. etwa Hecker, Einführung in das europäische Strafrecht, 2004; H. Jung, JuS 2000, 417 ff.; M. Wasmeier, ZStW 116 (2004), 320 ff.; A. Musil, NStZ 2000, 68 ff.; K. Tiedemann, FS Roxin, 1401 ff.; aus dem ausländischen Schrifttum siehe Gilles de Kerchove, passim; zur Situation nach dem Verfassungsvertrag W. Hassemer, ZStW 2004, 304 ff. 304 Tiedemann, FS Roxin, 1401, 1406; vergleichbare Ansätze auch bei Jung, JuS 2000, 417, 420. 305 So Tiedemann, FS Roxin, 1401, 1407 f.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

Abs. 4 S. 2 EGV, der bestimmt, dass die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten von diesen Maßnahmen unberührt bleiben solle, gegen die Annahme spreche, Art. 280 Abs. 4 S. 1 EGV verleihe der Gemeinschaft eine Kompetenz zur „Strafrechtsgesetzgebung“.306 Eine solche wäre auch eine so bedeutsame Neuerung im Vertrag gewesen, dass die Mitgliedstaaten es deutlicher gemacht hätten, wenn sie beabsichtigt hätten, den Rat zur Schaffung von Strafrechtsnormen zu ermächtigen.307 Auf dem Gebiet des Gemeinschaftsrechts existiert also keine Rechtssetzungsbefugnis der Gemeinschaftsorgane.308 Folglich kann der Nulla-poena-Grundsatz hier schon keine Bedeutung erlangen, da es kein Gemeinschaftsstrafrecht gibt. Dann aber kann er auch keine Rechtsfortbildungsgrenze formen. Die Gemeinschaft verfügt nämlich weder über eine Kompetenz zur Strafrechtsangleichung noch ist sie ermächtigt, eigenes Strafrecht zu setzen. Insoweit zieht bereits das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung aus Art. 5 Abs. 1 EUV dem EuGH eine aus der Verbandskompetenz fließende Rechtsfortbildungsgrenze erster Stufe. Nichtsdestotrotz hat der EuGH in einer unlängst veröffentlichten Entscheidung eine Gemeinschaftskompetenz für die Vereinheitlichung nationaler Umweltstrafvorschriften grundsätzlich bejaht.309 In der Rechtssache ging es darum, dass die EU-Mitgliedstaaten im Rat einen Rahmenbeschluss gefasst hatten, der den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht betraf.310 Der EuGH hob den Rahmenbeschluss auf, der vorsah, die Koordinierung im Bereich des strafrechtlichen Umweltschutzes, der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Bereich der dritten Säule vorzubehalten und entschied: „Grundsätzlich fällt das Strafrecht, ebenso wie das Strafprozessrecht auch, nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft. [. . .] Dies kann den Gemeinschaftsgesetzgeber jedoch nicht daran hindern, Maßnahmen in Bezug auf das Strafrecht der Mitgliedstaaten zu ergreifen, die seiner Meinung nach erforderlich sind, um die volle Wirksamkeit der von ihm zum Schutz der Umwelt erlassenen Rechtsnormen zu gewährleisten, wenn die Anwendung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen durch die zuständigen nationalen Behörden eine unerlässliche Maßnahme darstellt.“311 306 307 308

Richtig erkennt dies Musil, NStZ 2000, 68, 69. Ebenso Musil, NStZ 2000, 68, 69. So auch Musil, NStZ 2000, 68, 69; ebenso im Ergebnis Jung, JuS 2000, 417,

420 f. 309

Vgl. EuGH, Urt. v. 13.9.2005, RS. C-176/03 (Kommission u. a./Parlament u. a.), EuZW 2005, 632 ff. 310 EuGH, Urt. v. 13.9.2005, RS. C-176/03 (Kommission u. a./Parlament u. a.), EuZW 2005, 632. 311 So EuGH, Urt. v. 13.9.2005, RS. C-176/03 (Kommission u. a./Parlament u. a.), EuZW 2005, 632, 634 (Rn. 47 f.).

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Der EuGH führt weiter aus, dass die Maßnahmen, welche im Rahmenbeschluss vorgesehen waren, auf Art. 175 EGV hätten gestützt werden können.312 Damit aber räumt der Gerichtshof der Gemeinschaft eine Rechtssetzungsbefugnis im Bereich von Umweltstraftaten ein, die von den Mitgliedstaaten so nicht übertragen worden ist. Die Gemeinschaft ist nach Art. 175 EGV zwar ermächtigt, zum Schutze der Umwelt tätig zu werden, jedoch ist den detaillierten Vorschriften der Art. 174, 175 EGV nicht zu entnehmen, dass die EG auch Kompetenzen im Bereich des Umweltstrafrechts besitzen soll. Gerade der Art. 175 EGV, welcher genau bestimmt, in welchen Rechtsbereichen die Gemeinschaft zur Verwirklichung ihrer umweltpolitischen Ziele rechtssetzend tätig werden darf, hätte eine so grundlegend neue Befugnis, wie sie eine Rechtssetzungskompetenz im Bereich des (Umwelt-)Strafrechts darstellte, ausdrücklich aufnehmen müssen. Dass dieses nicht geschehen ist, spricht gegen die auf den effet utile der umweltpolitischen Maßnahmen gestützte Aussage des Gerichtshofs, die Mitgliedstaaten unterlägen einer derartigen Gemeinschaftskompetenz. Auch wird die Auffassung des Gerichtshofs nicht etwa vom Wortlaut des EG-Vertrages gefordert. Folglich hat der EuGH, über den noch möglichen Wortsinn des Art. 175 EGV hinaus, die Gemeinschaftskompetenzen erweitert, so dass das in Rede stehende Urteil als Rechtsfortbildung einzustufen ist. Die vorgenommene Erweiterung der Gemeinschaftskompetenzen muss aber zugleich als unzulässige Rechtsfortbildung qualifiziert werden, da es dem Gerichtshof aufgrund des dem EG-Vertrag in Art. 5 Abs. 1 EGV zugrundeliegenden Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung und insbesondere durch Art. 48 EUV, wie bereits ausführlich dargetan,313 verwehrt ist, Vertragsänderungen im Wege richterlicher Rechtsfortbildung vorzunehmen. Somit ist die Entscheidung des Gerichtshofs, der Gemeinschaft stehe eine Rechtssetzungskompetenz gegenüber den Mitgliedstaaten bei Umweltstraftaten zu, eine (unzulässige) Rechtsfortbildung contra pactum. Sollte der Gerichtshof – um zum Nulla-poena-Grundsatz zurückzukehren – auf Grundlage dieser Rechtsprechung vom Gemeinschaftsgesetzgeber ergriffene, das mitgliedstaatliche Umweltstrafrecht betreffende Harmonisierungsmaßnahmen analog anwenden, bzw. in sonstiger Weise zu Lasten eines Täters fortbilden, so verstieße dies zudem gegen die Rechtsfortbildungsgrenze des Nulla-poena-Grundsatzes. Auch die Europäische Union verfügt im Rahmen der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit nicht über eine Rechtsetzungskompetenz für 312 EuGH, Urt. v. 13.9.2005, RS. C-176/03 (Kommission u. a./Parlament u. a.), EuZW 2005, 632, 634 (Rn. 51). 313 Zu dieser Rechtsfortbildungsgrenze erster Stufe siehe bereits die ausführlichen Erörterungen oben unter § 2 D. III. 2. a).

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

eigenständiges Unionsstrafrecht. Zwar lassen sich gewisse Annäherungen der nationalen Strafrechtsbestimmungen (siehe dazu Art. 29 Abs. 2 Nr. 3 EUV; Art. 31a EUV) im Wege der Rahmenbeschlüsse nach Art. 34 Abs. 2 EUV erreichen, jedoch stellen diese nur ein wenig einschneidendes Instrumentarium dar.314 Auch ist die Jurisdiktion des EuGH in diesem Bereich, wie bereits erläutert, durch Art. 35 EUV stark eingeschränkt.315 Auch im Bereich der dritten Säule der Europäischen Union fehlt es dem Nulla-poena-Grundsatz folglich am Anwendungsbereich, so dass er nicht als Rechtsfortbildungsgrenze für den Gerichtshof in Betracht kommt. Allerdings ergeben sich über das Strafrecht hinaus Bereiche, in denen der Nulla-poena-Grundsatz als Rechtsfortbildungsgrenze auch im Gemeinschaftsrecht eine Rolle spielen könnte. So ist im nationalen Recht anerkannt, dass der Nulla-poena-Grundsatz auch für das Ordnungswidrigkeitenrecht oder beamtenrechtliche Disziplinarmaßnahmen eingreift.316 In diesen Bereichen könnte der Grundsatz auch als Rechtsfortbildungsgrenze für den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften – beziehungsweise hinsichtlich des Dienstrechts auch für das EuG – wirken. (bb) Verhängung von Bußgeldern durch die EG-Kommission Ein wichtiger Bereich, bei dem die Gemeinschaft zu erheblichen Sanktionen greifen darf, und die Kommission dieses in letzter Zeit auch verstärkt getan hat, ist das Kartellrecht.317 Primärrechtlicher Anknüpfungspunkt hierfür ist Art. 83 Abs. 2 lit. a)–e) EGV, der mittels eines Beispielkatalogs den wesentlichen Rahmen für die sekundärrechtliche Gesetzgebung absteckt.318 Im Vordergrund stand hierbei lange Zeit die Verordnung 17/62 EWG, die jedoch seit dem 1. Mai 2004 durch die wesentlich veränderte neue Kartellverordnung 1/2003 EG abgelöst wurde.319 Nach dieser neuen Kartellverord314 Hierzu Wasmeier, ZStW 116 (2004), 320, 322 ff.; siehe auch Musil, NStZ 2000, 68, 69; vgl. ebenfalls Gilles de Kerchove, passim. 315 Vgl. dazu oben. unter § 2 D. III. 3. a) aa) (3). 316 Im Ordnungswidrigkeitenrecht sieht dies § 3 OWiG ausdrücklich vor. Zum Disziplinarrecht vgl. BVerfGE, 60, 215, 233 f.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 103 II Rn. 16; Pieroth/Schlink, Rn. 1085; a. A. ist Rüping, in: BK-GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 78. 317 Vor dem Hintergrund der in der Höhe stark angestiegenen Bußgelder äußern sich zu diesen U. Soltész/C. Steinle/H. Bielesz, EuZW 2003, 202 ff. sehr kritisch; vgl. allgemein zur neuen Kartell-VO 1/2003 EG Koenigs, DB 2003, 755 ff.; kritisch zur VO äußert sich K. Schmidt, BB 2003, 1237 ff. 318 Dazu Koenigs, DB 2003, 755 f.; Oppermann, Europarecht, § 15 Rn. 52. 319 So Koenigs, DB 2003, 755 ff.; Schmidt, BB 2003, 1237 ff.; siehe aber auch Oppermann, Europarecht, § 15 Rn. 52.

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nung 1/2003 EG werden die Sanktionsmaßnahmen (Geldbußen), über welche die Kommission verfügt, sogar noch wesentlich verschärft (vgl. Art. 23 ff. der VO 1/2003 EG).320 Auch im Bereich des Wettbewerbsrechts hat das Analogieverbot also seinen Platz. Geldbußen dürfen nur verhängt werden, soweit dieses durch die Verordnung „gesetzlich“ vorgesehen ist. Eine rechtsfortbildende, analoge Anwendung solcher Bestimmungen durch den Gerichtshof, oder, präziser, durch die Kommission, bestätigt durch den Gerichtshof, würde gegen den Nulla-poena-Grundsatz verstoßen. Ein solches könnte sich dadurch ergeben, dass eine von der Kommission entsprechend angewendete Sanktionsnorm im Rechtsstreit vor den EuGH oder das EuG gelangt, da Entscheidungen zur Festsetzung einer Geldbuße gerichtlich voll nachgeprüft werden können, vgl. Art. 229 EGV, Art. 31 VO 1/2003 EG. Da es sich bei den Bußgelder um quasi-strafrechtliche Maßnahmen handelt,321 erlangt der Nulla-poena-Grundsatz als Rechtsfortbildungsgrenze hier im Gemeinschaftsrecht erhebliche Bedeutung. Zweifeln könnte man hieran allenfalls, da von den kartellrechtlichen Sanktionen in der Regel nur juristische Personen betroffen sein werden,322 nicht aber natürliche, da diese Bußgelder gegen die Unternehmen verhängt werden. Jedoch muss der Nulla-poena-Grundsatz, sofern es wie bei den Bußgeldern um eine „Bestrafung“ des betreffenden Unternehmens geht, auch auf diese Anwendung finden. Das Bestimmtheitsgebot ist als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts anerkannt und somit hat das aus diesem resultierende Analogieverbot auch auf juristische Personen Anwendung zu finden. Folglich ist das Wettbewerbs-/Kartellrecht ein Anwendungsbereich des Nulla-poena-Grundsatzes als Rechtsfortbildungsgrenze zweiter Stufe für den EuGH.

320

Oppermann, Europarecht, § 15 Rn. 52. In diese Richtung argumentieren auch Soltész/Steinle/Bielesz, EuZW 2003, 202, 204 ff., die zu Recht darauf hinweisen, dass eine Sanktion nach dem Gemeinschaftsrecht, selbst wenn sie keinen strafrechtlichen Charakter besitzt, nur dann verhängt werden darf, wenn sie auf einer klaren und eindeutigen Rechtsgrundlage beruht, zu diesem Nulla-poena-sine-lege-stricta-Grundsatz vgl. EuGH, Urt. v. 25.9.1984, RS. 117/83 (Könecke/BALM), Slg. 1984, 3291, 3304 (Rn. 16). Der EuGH respektiert in diesem Fall eindeutig eine Rechtsfortbildungsgrenze, da er sich weigert, eine Lücke zu schließen. Vgl. auch EuGH, Urt. v. 18.11.1987, RS. 137/85 (Maizena/BALM), Slg. 1987, 4587, 4607 (Rn. 15). 322 So soll im deutschen Verfassungsrecht mangels Strafbarkeit juristischer Personen Art. 103 Abs. 2 GG nur auf natürliche Personen anwendbar sein, vgl. nur Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 103 Rn. 162. 321

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

(cc) Disziplinarrecht der Gemeinschaften Eine gewisse Bedeutung könnte die Rechtsfortbildungsgrenze des Nullapoena-Grundsatzes auch noch im gemeinschaftsrechtlichen Disziplinarrecht gegenüber den Beamten der Gemeinschaften erlangen.323 Fraglich ist jedoch, ob das Analogieverbot überhaupt auf das Dienst- und Disziplinarrecht erstreckt werden sollte. Im nationalen Recht wird dieses teilweise mit dem Argument abgelehnt, die disziplinarrechtlichen Sanktionen bezweckten nicht die öffentliche Feststellung eines schuldhaften Pflichtenverstoßes der Person gegenüber der Allgemeinheit zum Zwecke der Repression, wie es beim Strafrecht der Fall sei, sondern zielten auf die Funktionsfähigkeit der Verwaltung in der Zukunft.324 Diese Argumentation könnte auch für das Gemeinschaftsrecht gelten, denn ohne Zweifel soll auch das gemeinschaftsrechtliche Disziplinarrecht das Funktionieren der Gemeinschaftsverwaltung gewährleisten.325 Gegen diese restriktive Ansicht wird jedoch mit Recht eingewendet, dass auch die Verhängung berufs- und disziplinarrechtlicher Sanktionen die Feststellung eines schuldhaften Verhaltens voraussetzt und den Einzelnen unter Umständen in vergleichbarer Weise treffen kann, wie straf- oder ordnungswidrigkeitsrechtliche Sanktionen.326 Zudem dürfte auch der Grundrechtscharakter des Nulla-poena-Grundsatzes dafür streiten, jedenfalls solche Sanktionen unter das Analogieverbot fallen zu lassen, die aus Sicht des durchschnittlichen Betrachters vergleichbare Wirkungen erzeugen.327 Diese Argumentation erscheint mir überzeugend zu sein und ist auch auf das Gemeinschaftsrecht übertragbar. Nolte weist zudem darauf hin, dass dies der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK entspreche, die insoweit auch auf Art. 7 EMRK übertragbar sei.328 Auf Art. 7 EMRK rekurriert aber auch 323

Allgemein zum Disziplinarrecht der EG P. Specke, ZBR 2002, 259 ff. So von Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Rn. 196; auf die Sicherung der Funktionsfähigkeit der Verwaltung durch das Disziplinarrecht weist auch D. Rogalla, S. 142 hin. 325 So wohl auch Rogalla, S. 142; der ausdrücklich darauf hinweist, das Disziplinarrecht habe lediglich die Aufgabe, die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaftsverwaltung zu sichern, eine Sühne- oder Vergeltungsfunktion komme ihm nicht zu. 326 So für Art. 103 Abs. 2 GG überzeugend Dürig, in: Maunz/Ders. (Vorauflage), Art. 103 Rn. 116; nunmehr auch Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 103. Rn. 107. 327 Siehe ebenso Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 103 Rn. 107. 328 So auch Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 103 Rn. 107; a. A. ist J. A. Frowein, in: ders./Peukert, EMRK, Art. 7 Rn. 5; zumindest für eine teilweise Einbeziehung des Disziplinarrechts spricht sich Grabenwarter, EMRK, 3. Teil, 2. Kapitel Rn. 129 (S. 338) aus. 324

D. Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung

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der EuGH zur Feststellung, dass das Bestimmtheitsgebot ein allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts sei.329 Insoweit muss man auch das gemeinschaftsrechtliche Disziplinarrecht als Anwendungsbereich der Rechtsfortbildungsgrenze des Nulla-poena-Grundsatzes berücksichtigen. Das bedeutet, dass nur der Gemeinschaftsgesetzgeber über die Sanktionierbarkeit eines Verhaltens zu entscheiden hat, nicht aber die Richter des EuG oder des EuGH (vgl. Art. 236 EGV), beziehungsweise seit neuestem jene des neu eingerichteten Gerichts für den öffentlichen Dienst330. Somit dürfen das Gericht erster Instanz oder der Gerichtshof im Bereich der Disziplinarordnung für die Europäischen Beamten (Art. 86–89 EurBSt) keine Rechtsfortbildung zu Lasten der Beamten betreiben. Das gilt bereits für einzelne Tatbestandsmerkmale. So könnten das EuG oder auch der EuGH nicht etwa im Wege der Analogie neue Dienstpflichten begründen, um damit zugleich einen Verstoß gegen diese i. S. d. Art. 86 Abs. 1 EurBSt zu bejahen, was allerdings bei so reichlich unbestimmten Dienstpflichten wie der Pflicht zum dienstlichen und außerdienstlichen Wohlverhalten aus Art. 12 EurBSt auch nicht erforderlich sein dürfte.331 Auch im Bereich des europäischen Disziplinarrechts zieht der Nullapoena-Grundsatz der europäischen Gerichtsbarkeit also eine Rechtsfortbildungsgrenze zweiter Stufe, da Sanktionserweiterungen hier dem Gemeinschaftsgesetzgeber vorbehalten sind. (4) Allgemeiner gemeinschaftsrechtlicher Gesetzesvorbehalt Neben dem Nulla-poena-Grundsatz stellt sich die Frage, ob auch ein allgemeiner, gemeinschaftsrechtlicher Vorbehalt des Gesetzes existiert, welcher dann im Bereich des Sekundärrechts als Rechtsfortbildungsgrenze von Bedeutung wäre. Es müsste sich dabei um grundrechtsrelevante Bereiche handeln, in denen der Unionsbürger belastet werden soll.332 329 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 10.7.1984, RS. 63/83 (Regina/Kirk), Slg. 1984, 2689, 2718 (Rn. 22 f.). 330 Vgl. zum neu eingerichteten Gericht für den öffentlichen Dienst Beschluss des Rates v. 2.11.2004 über die Errichtung des Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union, Abl. EU L/333/7 (v. 9.11.2004). Siehe auch Feststellung des Präsidenten des EuGH, dass das Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union ordnungsgemäß konstituiert ist, Abl. EU L 325/1 (v. 12.12.2005). 331 Zu diesem weitgefassten Tatbestand siehe Specke, ZBR 2002, 259, 260. 332 Siehe hierzu Jarass, EU-Grundrechte, § 6 Rn. 36, § 7 Rn. 44; ders., EuR 1995, 202, 222; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 13 Rn. 41; W. Pauly, EuR 1998, 242, 255 f.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

(a) Grundlegung des Gesetzesvorbehalts im europäischen Gemeinschaftsrecht Eine ausdrückliche Bestimmung, welche einen Vorbehalt der Verordnung – denn nur um eine solche kann es sich handeln, weil nur sie nach Art. 249 Abs. 2 EGV geeignet ist, den Bürger unmittelbar zu belasten, da im Übrigen nationale Umsetzungsakte dem Gesetzesvorbehalt aber Genüge tun – begründet, findet sich im Primärrecht nicht.333 Nichtsdestotrotz stellt sich die Frage nach einem solchen allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Gesetzesvorbehalt, der dann eine Grenze richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz formen würde. Der EuGH hat im Zuge seiner Grundrechtsrechtsprechung einen allgemeinen Gesetzesvorbehalt auch für das Gemeinschaftsrecht postuliert. In der Rechtssache Hoechst hat er ausgeführt: „Indessen bedürfen in allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung jeder – natürlichen oder juristischen – Person einer Rechtsgrundlage und müssen aus den gesetzlich vorgesehenen Gründen gerechtfertigt sein; diese Rechtsordnungen sehen daher, wenn auch in unterschiedlicher Ausgestaltung, einen Schutz gegen willkürliche und unverhältnismäßige Eingriffe vor. Das Erfordernis eines solchen Schutzes ist folglich als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts anzuerkennen.“334

Der Gerichtshof scheint mir hier davon auszugehen, dass der Schutz vor willkürlichen und unverhältnismäßigen Eingriffen nur dann zu gewährleisten ist, wenn die Eingriffe in die Bürgersphäre aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage erfolgen. Danach erhebt er diesen Gesetzesvorbehalt über einen Vergleich der Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten zu einem allgemeinen Prinzip des Gemeinschaftsrechts. Auch in der Lehre ist das Erfordernis der Existenz eines gemeinschaftsrechtlichen Rechtssatzvorbehaltes anerkannt,335 so dass man diesen Grundsatz als im Gemeinschaftsrecht bestehend erachten kann. Freilich ist aber auch dieser durch richterliche Rechtsfortbildung des EuGH geschaffen worden. 333

Vgl. wiederum Jarass, EU-Grundrechte, § 6 Rn. 36 f., der allerdings den interessanten Gedanken äußert, dass gegebenenfalls eine unmittelbar wirksame Richtlinie ausreichende Grundlage sein könnte. Natürlich käme auch eine entsprechende Primärrechtsregelung als entsprechende Grundlage einer Grundrechtseinschränkung in Betracht. 334 Vgl. EuGH, Urt. v. 21.9.1989, verb. RS. 46/87 und 227/88 (Hoechst/Kommission), Slg. 1989, 2859, 2924 (Rn. 19). 335 Vgl. nur Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 13 Rn. 41, § 7 Rn. 73 (dort zu den Grundfreiheiten); Pauly, EuR 1998, 242, 255 f.; Jarass, EU-Grundrechte, § 6 Rn. 36 ff.; ders., EuR 1995, 202, 222; J. Bast, S. 512.

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Fraglich ist indes, inwieweit durch den allgemeinen Gesetzesvorbehalt, richterliche Rechtsfortbildung ausgeschlossen sein kann. Hierzu ist es zunächst einmal erforderlich, den Inhalt vom Vorbehalt des Gesetzes im Gemeinschaftsrecht präziser zu fassen, bevor versucht werden kann, hieraus resultierende Grenzen im Einzelnen aufzuzeigen. (b) Inhalt und Bedeutung des Gesetzesvorbehalts Ausgehend von den nationalen Rechtsordnungen soll der Gesetzesvorbehalt im Gemeinschaftsrecht näher beleuchtet werden. (aa) Der Gesetzesvorbehalt in Deutschland Die historische Funktion des Gesetzesvorbehalts lag im 19. Jh. darin, die bürgerliche Gesellschaft gegen die monarchische Exekutive zu schützen.336 Dabei reichte es ursprünglich aus, dass überhaupt eine gesetzliche Regelung vorlag, besondere Anforderungen, etwa an die Bestimmtheit der Eingriffsermächtigung, sah der Grundsatz vom Gesetzesvorbehalt aber nicht vor.337 Unter dem Grundgesetz verlangt der Grundsatz vom Gesetzesvorbehalt zunächst auch nur das Vorliegen einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage für Grundrechtseingriffe.338 Um dem Gesetzgeber jedoch die Möglichkeit zu nehmen, sich mittels weitreichender gesetzlicher Ermächtigungsgrundlagen seiner Verantwortung zu entledigen, versteht das Bundesverfassungsgericht den Gesetzesvorbehalt als Parlamentsvorbehalt. Folglich muss der Gesetzgeber in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, die wesentlichen Entscheidungen selbst treffen (vgl. auch Art. 80 GG).339 Welche Entscheidungen wesentlich im Sinne der sog. Wesentlichkeitstheorie sind, bestimmt sich nach der Intensität der Grundrechtsbetroffenheit. Diese beeinflusst sowohl die Frage nach dem „Ob“, als auch die nach dem „Wie“ einer gesetzlichen Regelung. Je intensiver die Grundrechte betroffen sind, desto genauer und differenzierter muss das Gesetz sein.340 Letztlich kann man auch Art. 103 Abs. 2 GG und Art. 104 GG 336

Ausführlich zu den historischen Hintergründen des Gesetzesvorbehalts E.-W. Böckenförde, 1. Teil; siehe auch W. Krebs, Jura 1979, 304; J. Pietzcker, JuS 1979, 710. 337 Siehe etwa Pieroth/Schlink, Rn. 262; Pietzcker, JuS 1979, 710. 338 Dazu Pieroth/Schlink, Rn. 263; V. Epping, Grundrechte, Rn. 461; G. Manssen, Rn. 158 ff. 339 So BVerfGE 61, 260, 275; vgl. auch BVerfGE 88, 103, 116. 340 BVerfGE 49, 168, 181; 59, 104, 114; 86, 288, 311; Maurer, Staatsrecht I, § 8 Rn. 21; Pieroth/Schlink, Rn. 268.

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in dieses System mit einbeziehen. Im Nulla-poena-Grundsatz wie auch im Habeas-corpus-Gedanken des Art. 104 GG findet die Wesentlichkeitslehre ihren Höhepunkt. Hier sind die Grundrechtseingriffe in die persönliche (Fortbewegungs-)Freiheit so stark, dass der Gesetzgeber sie vollständig (abstrakt) regeln muss, wo er dies nicht getan hat, sind Grundrechtseingriffe verfassungswidrig.341 Interessant für die hier verfolgte Fragestellung nach den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz ist, dass das Bundesverfassungsgericht die Wesentlichkeitstheorie auch im Verhältnis der Rechtsprechung zur Gesetzgebung anerkannt hat.342 So hat es ausgeführt, dass der Gesetzgeber verpflichtet sei, in grundlegenden normativen Bereichen, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen. Fehlten gesetzliche Regelungen, müsse die Rechtssprechung sachgerechte Lösungen entwickeln, soweit es um das Verhältnis gleichgeordneter Grundrechtsträger gehe. Gehe es hingegen zumindest auch um das Verhältnis des Staates zu Privatrechtssubjekten, so sei eine gesetzliche Regelung unentbehrlich.343 Aus dieser kurzen Passage wird deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht den Gesetzesvorbehalt und die Wesentlichkeitstheorie als Schranke richterlicher Rechtsfortbildungsbefugnis begreift. (bb) Der Gesetzesvorbehalt in Frankreich Eine der deutschen im Wesentlichen vergleichbare Konstruktion des Vorbehalts des Gesetzes findet sich im französischen Verfassungsrecht unter der Bezeichnung „sous réserve de la loi“ oder auch „réserve de compétence législative“.344 Dabei spielt insbesondere der Art. 4 der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen von 1789 eine bedeutende Rolle, in welchem es heißt: „La liberté consiste a pouvoir faire tout ce qui ne nuit pas à autrui: Ainsi, l’exercice des droits naturels de chaque homme, n’a de bornes que celles qui assurent aux autres membres de la société la jouissance de ces mêmes droits. Ces bornes ne peuvent être déterminées que par la loi.“345 Der Gesetzesvorbehalt wird hier durch den letzten Satz des Art. 4 der Déclaration von 1789 zum Ausdruck gebracht.346 341 Das ist die logische Konsequenz aus BVerfGE 49, 168, 181; 59, 104, 114; 86, 288, 311. 342 Vgl. BVerfGE 88, 103, 115 f. 343 So BVerfGE 88, 103, 116. 344 Vgl. hierzu Favoreu, Rn. 1243 f. 345 In deutscher Übersetzung lautet Art. 4 DDHC: „Die Freiheit besteht darin, alles tun zu dürfen, was einem anderen nicht schadet: Die Ausübung der natürlichen Rechte jedes Menschen hat also nur die Grenzen, die den anderen Mitgliedern der

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Im Übrigen wird in der französischen Lehre teilweise rechtsvergleichend auf das deutsche Bundesverfassungsgericht und dessen Wesentlichkeitstheorie verwiesen, um den Inhalt des Gesetzesvorbehalts im französischen Recht zu umreißen.347 Insofern kann auf nähere Ausführungen verzichtet werden; es besteht zwischen Bundesverfassungsgericht und Conseil constitutionnel ein weitgehender Gleichklang in Bezug auf Gesetzesvorbehalt und Wesentlichkeitstheorie.348 (cc) Der Gesetzesvorbehalt im Europäischen Gemeinschaftsrecht Nun ist freilich fraglich, ob ein solches Verständnis vom Vorbehalt des Gesetzes, wie es sich im deutschen und französischen Verfassungsrecht findet, auch auf das Verständnis des Vorbehalts des Gesetzes in der Europäischen Gemeinschaft übertragbar ist. Die Vorstellung vom Parlamentsvorbehalt fußt nämlich auf dem montesquieuschen Gewaltenteilungsmodells einer Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative und sollte vor allem vor der Willkür der monarchischen Exekutive schützen.349 Vor allem eine klare Differenzierung zwischen einer unmittelbar demokratisch legitimierten Legislative und einer nur mittelbar legitimierten Exekutive, findet sich allerdings auf europäischer Ebene in dieser Weise nicht wieder.350 Zu Recht merkt Albrecht Weber deshalb an, dass der gemeinschaftsrechtliche Regelungsvorbehalt eine dem innerstaatlichen Parlamentsvorbehalt vergleichbare demokratische Legitimation nur begrenzt im Mitentscheidungsund Zustimmungsverfahren durch das Europäische Parlament vermitteln könne, während der rechtsstaatlichen Legitimation für einen Grundrechtseingriff durch die vom Rat als „Hauptgesetzgeber“ verabschiedete Rechtssetzung Genüge getan werde. Da in den Mitgliedstaaten Gesetzesvorbehalt stets den formellen Gesetzesvorbehalt meine, sei eine schlichte Übernahme desselben für das Europarecht wenig sinnvoll.351 Gesellschaft den Genuss der gleichen Rechte sichert. Diese Grenzen können nur durch Gesetz bestimmt werden.“ 346 Favoreu, Rn. 1243 f. 347 Vgl. Favoreu, Rn. 1243 f. 348 Favoreu, Rn. 1243 f. 349 Hierzu auch K.-P. Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 20 Rn. 274 m. w. N.; zur rechtsstaatlichen/gewaltengeteilten Dimension v. a. vor historischem Hintergrund auch Krebs, Jura 1979, 304 f. 350 Kritisch deswegen etwa A. Weber, NJW 2000, 537, 543; Der EuGH, Urt. v. 21.9.1989, verb. RS. 46/87 u. 227/88 (Hoechst/Kommission), Slg. 1989, 2859, 2924 (Rn. 19) verweist allerdings uneingeschränkt auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. 351 Weber, NJW 2000, 537, 543.

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Zwar ist Weber zuzugeben, dass dem Rat bei seiner Rechtssetzung nicht im gleichen Maße (unmittelbare) demokratische Legitimation zukommt wie den direkt gewählten nationalen Parlamenten, jedoch ist nicht ersichtlich, weshalb deshalb gleich die Übertragung der in den Mitgliedstaaten entwickelten Vorstellungen vom Vorbehalt des Gesetzes ausscheiden muss. Ich halte den Vorbehalt des Gesetzes und die Wesentlichkeitstheorie für durchaus übertragbar, sie müssen nur an die gemeinschaftsrechtliche Aufgabenverteilung angepasst werden. Betrachtet man nämlich Rat und Parlament als rechtsetzende Gewalt, so kann man diese relativ klar von der Exekutive (Verwaltungen der Mitgliedstaaten; Kommission), vor allem aber auch – und dieses ist hier für die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz von besonderer Bedeutung – von der rechtsprechenden Gewalt (EuGH, EuG) abgrenzen.352 Unter diesen Kautelen lassen sich Gesetzesvorbehalt und Wesentlichkeitstheorie aber durchaus auf das Gemeinschaftsrecht übertragen, wohnt dem Grundsatz des Gesetzesvorbehaltes doch vor allem ein rechtsstaatliches Element inne, das vor behördlicher und richterlicher Willkür schützen und die allgemeine Gleichbehandlung sichern soll. Diese rechtsstaatliche Dimension rechtfertigt es, auch im Gemeinschaftsrecht zu fordern, dass wesentliche Entscheidungen vom Gemeinschaftsgesetzgeber, also Rat und Parlament, getroffen werden und nicht etwa von den vollziehenden Verwaltungen der Mitgliedstaaten, der Kommission oder dem EuGH oder EuG. Dieses hat auch noch einen weiteren Grund: Hat nämlich der Rat im jeweils geforderten Zusammenwirken mit dem Europäischen Parlament die wesentlichen Entscheidungen bereits gefällt, so verhindert dieses auch eine unterschiedliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts, gewährleistet damit eine Gleichbehandlung aller Unionsbürger und fördert damit auch die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts. Diese rechtsstaatliche Dimension des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes wird auch im Gemeinschaftsrecht durch die grundrechtliche Dimension gestützt, die ebenfalls eine Gleichbehandlung der Unionsbürger fordert, was am ehesten durch eine klare Rechtsgrundlage erreicht werden kann.353 352 Siehe zu dieser Gewaltenverteilung auf Ebene der Europäischen Gemeinschaften Streinz, Europarecht, §§ 6, 7, 8. Freilich ist es richtig, dass es eine klare Gewaltenteilung insbesondere zwischen Legislative und Exekutive nicht gibt. Dieses gilt aber teilweise auch für die Mitgliedstaaten. Der eigentliche, wesentliche Unterschied zu den Mitgliedstaaten dürfte darin liegen, dass der Rat als hauptsächliche rechtssetzende Gewalt lediglich mittelbar legitimiert ist. 353 Die Auffassung des EuGH, es müsse bei Eingriffen in die Grundrechte eine gemeinschaftsrechtliche Rechtsgrundlage existieren, wie in EuGH, Urt. v. 21.9. 1989, verb. RS. 46/87 u. 227/88 (Hoechst/Kommission), Slg. 1989, 2859, 2924 (Rn. 19) festgestellt, scheint mir im Wesentlichen auf der grundrechtlich-abwehrrechtlichen Dimension des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes zu beruhen. Ebenso wohl auch Jarass, EU-Grundrechte, § 6 Rn. 36 ff.; Ehlers, in: ders., Euro-

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Dient der gemeinschaftsrechtliche Regelungsvorbehalt nun aber auch vorwiegend dazu, Entscheidungen über Eingriffe in Grundrechte vorhersehbar zu machen, so besteht kein Anlass, nicht auch die Wesentlichkeitstheorie auf das Gemeinschaftsrecht anzuwenden. Kann man nun aber auch unter dem gemeinschaftsrechtlichen Regelungsvorbehalt verstehen, dass die wesentlichen Entscheidungen über die Voraussetzungen, Umstände und Folgen von Grundrechtseingriffen durch den Gemeinschaftsgesetzgeber selbst getroffen werden müssen, wobei sich die Wesentlichkeit der Entscheidungen nach der Intensität der Grundrechtsbetroffenheit bemisst, so formt dies nicht nur eine Schranke für exekutives Tätigwerden, sondern zieht auch der rechtsprechenden Gewalt (EuGH und EuG) Grenzen. Hier muss entsprechend gelten, was das Bundesverfassungsgericht für sich und die deutsche Fachgerichtsbarkeit postuliert hat, nämlich, dass die Wesentlichkeitslehre auch im Verhältnis von Gesetzgeber und Rechtsprechung Geltung beansprucht.354 Folglich ist richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH bei wesentlichen, grundrechtsbeeinträchtigenden Maßnahmen ausgeschlossen, hier muss der Gemeinschaftsgesetzgeber tätig werden. Insoweit bilden der gemeinschaftsrechtliche Regelungsvorbehalt und das Wesentlichkeitsprinzip eine Rechtsfortbildungsgrenze zweiter Stufe. (dd) Zwischenergebnis Der Vorbehalt des Gesetzes für Eingriffe in die Rechtssphäre natürlicher oder juristischer Personen durch die hoheitliche Gewalt beansprucht als allgemeiner Rechtsgrundsatz auch im Gemeinschaftsrecht Geltung. Dabei begrenzt er die Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH und des EuG. Bei der Entscheidung über wesentliche Grundrechtseingriffe handelt es sich um eine Kompetenz im Kernbereich des Gemeinschaftsgesetzgebers. In diesen Kompetenzbereich darf die rechtsprechende Gewalt nicht eingreifen. Festzuhalten bleibt also, dass bei wesentlichen, grundrechtsrelevanten Eingriffen eine Rechtsfortbildungsgrenze für den EuGH dahingehend besteht, dass die Voraussetzungen für diese Eingriffe allein vom Gemeinschaftsgesetzgeber, nicht aber durch ihn im Wege richterlicher Rechtsschöpfung festgelegt werden können.

päische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 13 Rn. 41. Zu den Grundrechten siehe allgemein auch J. Kühling, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 ff.; zu den Grundfreiheiten siehe T. Kingreen, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 631 ff. 354 So BVerfGE 88, 103, 116.

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(5) Judicial self-restraint als Grenze richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz? Vereinzelt wird diskutiert, ob sich nicht aus der Figur des judicial selfrestraint eine Grenze für die Rechtsfortbildungsbefugnis ergeben könnte.355 Diese Rechtsfigur entstammt dem US-amerikanischen Verfassungsrecht und wurde vom US Supreme Court entwickelt.356 Sie soll dazu dienen, den Umfang der Zuständigkeit der Bundesgerichtsbarkeit zu begrenzen. Zunächst soll hier die genaue Bedeutung des self-restraint näher erläutert werden [(a), (b)], bevor der Vergleichbarkeit von EuGH und US Supreme Court nachgegangen werden soll [(c)], woran sich dann auch die Frage anschließt, inwieweit die US-amerikanische Lehre auf das Gemeinschaftsrecht als Grenze richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz auf den EuGH übertragbar ist [(d)]. (a) Inhalt und Bedeutung des judicial self-restraint Die vielleicht bedeutsamste Schranke wird der bundesgerichtlichen Gewalt der Vereinigten Staaten von Amerika durch eine Reihe von Prinzipien, die als „justiciability doctrines“ bezeichnet werden, gezogen.357 Nach diesen „Lehren“ bestimmt sich, welcher Rechtssachen sich ein Bundesgericht annehmen und welche es abweisen muss. Sämtliche Kriterien wurden dabei vom US Supreme Court richterrechtlich geschaffen und lassen sich als solche nicht ausdrücklich aus dem Wortlaut der Verfassung der Vereinigten Staaten oder deren Amendments ableiten.358 Dennoch unterscheidet der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten zwischen solchen Prinzipien, die er aus einer Interpretation des Art. III der US-Verfassung abgeleitet hat, und solchen, welche einer selbst auferlegten, zurückhaltenden richterlichen Tätigkeitswahrnehmung („prudent judicial ad355 Dieser Gedanke liegt nahe, ist doch der judicial self-restraint eine Selbstbegrenzung des judicial activism des US Supreme Court, vgl. hierzu M. Stoevesandt, insbes. S. 70 ff. Für den EuGH zu Recht ablehnend vgl. Ukrow, S. 157 ff. 356 Einen Überblick über die Judikatur bieten hier die Lehrbücher zum US-amerikanischen Verfassungsrecht, vgl. etwa D. Kommers/J. Finn/G. Jacobson, p. 69 ff.; E. Chemerinsky, Constitutional Law, p. 49 ff.; ders., Federal Jurisdiction, p. 44 ff.; R. Rotunda/J. Nowak, Treatise on Constitutional Law, vol. 1, § 2.13–2.16; G. Stone/L. Seidmann/C. Sunstein/M. Trushnet, Constitutional Law, p. 85 ff.; L. Tribe, American Constitutional Law, p. 52 ff. 357 Chemerinsky, Federal Jurisdiction, p. 44; ders., Constitutional Law, p. 49 f.; Tribe, American Constitutional Law, p. 52 f.; siehe aber auch W. Brugger, S. 18. 358 Vgl. Chemerinsky, Federal Jurisdiction, p. 44 ff.; ders. Constitutional Law, p. 53.

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ministration“) entspringen.359 Häufig lässt sich keine klare Einteilung treffen, ob ein Kriterium verfassungsrechtlich oder in richterlicher Zurückhaltung verankert ist. Dennoch wird man aber vor allem letztere Fälle, als diejenigen des judicial self-restraint erachten müssen. Im Einzelnen handelt es sich bei den Fällen, in denen der Supreme Court eine richterliche Entscheidung für unzulässig hält, um die Fälle von standing (Nichtvorliegen der Klagebefugnis), ripeness (Nichtvorliegen der Entscheidungsreife), mootness (noch keine Klageerledigung), collusive cases, wobei es um Fälle eines kollusiven Zusammenwirkens der Parteien mit dem Ziel, eine Entscheidung des Supreme Court herbeizuführen, geht oder auch bei Vorliegen einer political question, also einer rein politischen Streitigkeit.360 Sämtliche dieser Justitiabilitätslehren sollen das Gewaltenteilungsprinzip sichern, indem sie die richterliche Macht beschränken. So erläuterte Chief Justice Warren, dass die Worte „cases and controversies“ in Art. III der US-amerikanischen Verfassung „define the role assigned to the judiciary in a tripartite allocation of power to assure that the federal courts will not intrude into areas committed to the other branches of government.“361 Zum anderen sollen die justiciability doctrines auch die Funktionsfähigkeit der Bundesgerichte sichern und diese entlasten.362 Als mögliche Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung dürften dabei jedoch kaum sämtliche dieser Kriterien von Interesse sein. Reine Zulässigkeitsvoraussetzungen, wie das Vorliegen der Klagebefugnis (standing), der Entscheidungsreife (ripeness) oder auch des Nichtvorliegens einer Klageerledigung (mootness) sind als Rechtsfortbildungsgrenzen von untergeordneter Bedeutung. Ist eine Klage unzulässig, darf der Gerichtshof selbstverständlich keine materiellen Rechtsfragen erörtern und schon gar nicht das Recht fortbilden. Auch die collusive cases scheinen mir über das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis leicht im Rahmen der Zulässigkeit zu lösen, dürfte es an eben jenem bei kollusivem Zusammenwirken doch fehlen. Interessanter erscheint mir aber die political question doctrine zu sein, die zur Zurückhaltung der Judikative bei rein politischen Streitigkeiten auffordert. Diese könnte damit auch eine materielle Grenze richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz im Verhältnis zu anderen Gewalten aufzeigen. 359

So Kommers/Finn/Jacobson, p. 69. Siehe zu diesen Lehren erläuternd Kommers/Finn/Jacobson, p. 69 ff.; Chemerinsky, Constitutional Law, p. 49 ff.; ders., Federal Jurisdiction, p. 44 ff.; Rotunda/ Nowak, Treatise on Constitutional Law, vol. 1, § 2.13–2.16; Stone/Seidmann/Sunstein/Trushnet, Constitutional Law, p. 85 ff.; Tribe, American Constitutional Law, p. 52 ff. Einen raschen Überblick gewährt Brugger, S. 17 ff. 361 In Flast v. Cohen, 392 U. S. 83, 92 (1968), zitiert nach Chemerinsky, Federal Jurisdiction, p. 45. 362 So Chemerinsky, Federal Jurisdiction, p. 45 f. 360

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(b) Die political question doctrine Unter der political question doctrine wird verstanden, dass der US Supreme Court und die Bundesgerichte, obwohl die Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt sind, nicht über gewisse Behauptungen verfassungswidrigen Verhaltens der Regierung befinden.363 Unter political question sind aber nicht etwa politisch umstrittene Fragen zu verstehen, über die der Oberste Gerichtshof häufiger entscheidet, sondern vielmehr Sachverhalte, in denen der US Supreme Court aus verfassungsrechtlichen, funktionellen oder pragmatischen Gründen keine Urteile fällt.364 Der Oberste Gerichtshof hat insoweit vorgebracht, dass die Interpretation der Verfassung (und damit auch deren Rechtsfortbildung) den politischen Gewalten der Regierung (Präsident und Kongress) überlassen bleiben solle.365 Obwohl also die Behauptung einer Verfassungsverletzung im Raum steht, verweigern es die Bundesgerichte, über eine solche politische Frage zu entscheiden und überlassen die Lösung der Verfassungsstreitigkeit dem politischen Prozess.366 Allerdings ist äußerst unklar, bei welchen Fällen es sich um solcherart politische, nicht justitiable Fragen handelt. So wird dem US Supreme Court in der US-amerikanischen Lehre auch vorgeworfen, es sei ihm nicht gelungen, brauchbare Kriterien zu entwickeln, anhand derer festgestellt werden könne, ob es sich bei einer Rechtsfrage um eine political question handele.367 Die vom Obersten Gerichtshof hierfür stets wiederholte Passage aus dem Urteil Baker v. Carr368 ist nur beschränkt hilfreich. Die entscheidende Passage lautet: „Prominent on the surface of any case held to involve a political question is found a textually demonstrable commitment of the issue to a coordinate political department; or a lack of judicially discoverable and manageable standards for solving it; or the impossibility of deciding without an initial policy determination of a kind clearly for nonjudicial discretion; or the impossibility of a court’s undertaking independent resolution without expressing lack of the respect due coordinate branches of government; or an unusual need for unquestioning adherence 363

Chemerinsky, Federal Jurisdiction, p. 143 f. So Brugger, S. 21; vgl. auch Stoevesandt, S. 77. 365 Tribe, American Constitutional Law, p. 72 f.; Chemerinsky, Federal Jurisdiction, p. 144; Brugger, S. 21; Stoevesandt, S. 77. 366 Tribe, American Constitutional Law, p. 73; Chemerinsky, Federal Jurisdiction, p. 144. 367 Sehr kritisch Henkin, Is there a political question doctrine?, 85 Yale Law Journal, p. 597 ff. (1976); siehe auch Tribe, American Constitutional Law, p. 71 ff., der davon spricht, dass die political question doctrine „in some state of confusion“ sei; kritisch auch Chemerinsky, Federal Jurispudence, p. 144 f. 368 Vgl. Baker v. Carr 369 U. S. 186 (1962). 364

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to a political question already made; or the potentiality of embarrassment from multifarious pronouncements by various departments in one question.“369

Sie reißt zwar mehrere Punkte an, lässt jedoch keine klaren Grundsätze erkennen, wann eine Frage als politische zu qualifizieren sei und wann nicht.370 Aus der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs lassen sich jedoch einige Fälle als Präzedenzentscheidungen festhalten, in denen der Supreme Court davon ausging, dem Streit liege eine political question zugrunde, weshalb er nicht entscheiden dürfe.371 Diese verleihen der political question doctrine etwas mehr Gestalt. So hat etwa in Luther v. Borden der US Supreme Court entschieden, dass die Frage nach der republikanischen Regierungsform von Bundesstaaten, welche in Art. IV § 4 der Verfassung der Vereinigten Staaten festgelegt ist, eine politische Frage sei, welche seiner Rechtsprechung nicht zugänglich sei.372 Letztlich wäre es um die Legitimität der Regierung eines Bundesstaates gegangen, über die der Oberste Gerichtshof wohl nicht entscheiden wollte.373 Auch in mehreren Fällen des Wahlrechts, in denen es um die Wahlkreiseinteilung, etwa bei Bevorzugung der ländlichen Gebiete, in diversen Bundesstaaten ging, hat sich der US Supreme Court auf die political question doctrine berufen und seine Entscheidung verweigert.374 Gerrymandering375 hingegen hat der Oberste Gerichtshof als justitiabel erachtet.376 Aber auch im Bereich der Außenpolitik, der Selbstverwaltung des Kongresses und der Annahme von Amendments zur Verfassung hat der US Supreme Court unter Berufung auf seine political question doctrine richterliche Zurückhaltung geübt.377 Insgesamt lässt sich also festhalten, dass gewisse materielle Verfassungsfragen vom Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten lediglich deshalb 369

Baker v. Carr 369 U. S. 186 (1962). Kritisch hierzu, die aus Baker v. Carr stammende Formel näher analysierend Stoevesandt, S. 78 ff. 371 Zu den verschiedenen Fallgestaltungen vgl. insbesondere Stone/Seidman/Sunstein/Tushnet, Constitutional Law, p. 85 ff. mit zahlreichen abgedruckten Urteilspassagen. 372 Luther v. Borden 48 US (7 How.) 1 (1849). 373 So Chemerinsky, Federal Jurisdiction, p. 150 f. 374 Etwa in Colgrove v. Green 328 U. S. 549 (1946). 375 Bei Gerrymandering handelt es sich um ein Zuschneiden der Wahlkreise mit dem Ziel in einem Mehrheitswahlsystem, trotz einer verhältnismäßigen Minderheit des Stimmenanteils, dennoch die Mehrheit der Parlamentssitze zu erringen. Vgl. dazu Tribe, American Constitutional Law, p. 756 ff. 376 Davis v. Bandemer 478 U. S. 109 (1986). 377 Vgl. mit diversen Nachweisen zur Rechtsprechung des US Supreme Courts Chemerinsky, Federal Jurisprudence, p. 155 ff. 370

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nicht entschieden werden, weil diese als zu politisch eingestuft werden und der Oberste Gerichtshof deren Klärung möglichst den anderen Gewalten überlassen möchte. Entscheidet er diese Verfassungsstreitigkeiten über politische Fragen nicht, so besteht für ihn freilich insoweit auch eine (selbst auferlegte) Grenze der Rechtsfortbildungskompetenz. Um festzustellen, ob diese richterliche Zurückhaltung überhaupt auf den EuGH übertragen werden kann, ist zunächst erforderlich festzustellen, ob der EuGH und der US Supreme Court vergleichbar sind. Erst sofern dieses zu bejahen ist, kann über eine Übertragung der political question doctrine auf den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften nachgedacht werden, um weitere Rechtsfortbildungsgrenzen zu gewinnen. (c) Vergleichbarkeit von US Supreme Court und EuGH Eine gewisse Vergleichbarkeit von US Supreme Court und EuGH besteht insoweit, als dass es sich bei beiden sowohl um oberste Fachgerichte als auch zugleich um Verfassungsgerichte handelt, worauf bereits Jörg Ukrow zutreffend hingewiesen hat. Sowohl der US Supreme Court wie auch der EuGH verfügen für ihren Bereich also über einen umfassenden Rechtsprechungsauftrag.378 Insoweit besteht zwischen beiden eine hinreichende Vergleichbarkeit, so dass über eine Übertragbarkeit der political question doctrine auf das Gemeinschaftsrecht nachgedacht werden kann.379 (d) Political question doctrine – eine Rechtsfortbildungsgrenze für den EuGH? Lässt man die Frage der generellen Eignung der political question doctrine zur Begrenzung richterlicher Rechtsfortbildung einmal außer Betracht380 – so unscharf und unklar wie diese Figur ist, ist sie praktisch nämlich kaum anwendbar –, so stellt sich dennoch die Frage, ob sie für den EuGH Anwendung finden könnte und sollte. M. E. sprechen gegen ihre Anwendung bereits die Bestimmungen des EG-Vertrages. Art. 220 EGV überträgt dem EuGH und dem Gericht erster Instanz nämlich die Aufgabe, das Recht bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages zu wahren. Hieraus hat der Gerichtshof zu Recht abgeleitet, dass er Streitigkeiten im Rahmen 378

Ukrow, S. 208. Im Ergebnis ebenso Ukrow, S. 205 ff. 380 An deren Eignung kann man angesichts der Verworrenheit der political question doctrine durchaus zweifeln, vgl. dazu Henkin, Is there a political question doctrine?, 85 Yale Law Journal, p. 597 ff. (1976); siehe auch Tribe, American Constitutional Law, p. 71 ff. 379

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seiner Zuständigkeit zu entscheiden habe, da er ansonsten gegen das auch im Gemeinschaftsrecht geltende Rechtsverweigerungsverbot (Verbot des déni de justice) verstieße.381 Die Zuständigkeit des EuGH bestimmt sich aber ausschließlich aus den Vertragsbestimmungen. Eine selbst auferlegte richterliche Zurückhaltung aufgrund des Vorliegens einer political question ist mit dem System des Vertrages unvereinbar. Sofern dieser nämlich die Zuständigkeit des EuGH begründet, muss der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften auch entscheiden, Entscheidungskompetenz und -pflicht gehen insoweit Hand in Hand. Folglich kann die political question doctrine und die Vorstellung eines judicial self-restraint im Gemeinschaftsrecht auch nicht als Grenze richterlicher Rechtsfortbildung herangezogen werden.382 Ist der EuGH nach den Vorschriften des Vertrages für die Entscheidung einer Rechtsstreitigkeit zuständig, so hat er diese auch zu entscheiden und kann sich nicht auf die political question doctrine oder eine sonstige justiciability doctrine zurückziehen, um seine Entscheidung zu verweigern. Für eine political question doctrine ist im Gemeinschaftsrecht insoweit kein Raum. (e) Zwischenergebnis zum judicial self-restraint Die aus der Rechtssprechung des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten stammende Lehre vom judicial self-restraint und insbesondere die hierzu zählende political question doctrine, können für das Gemeinschaftsrecht keine Anwendung finden und den EuGH nicht in seiner Rechtsfortbildungskompetenz beschränken. Für den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gilt aufgrund des Art. 220 EGV im Rahmen seiner Zuständigkeit das Verbot des déni de justice, mit dem ein judicial self-restraint unvereinbar ist. Sofern der Europäische Gerichtshof zuständig ist, hat er auch zu entscheiden und kann sich nicht darauf berufen, dass es sich um eine nicht justitiable Streitigkeit handele. Folglich bilden judicial self-restraint und political question doctrine keine Grenze richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH.

381 Der EuGH hat das Rechtsverweigerungsverbot für sich ausdrücklich als verpflichtend erachtet, vgl. EuGH, Urt. v. 12.7.1957, RS. 7/56, 3/57–7/57 (Algera u. a./ Gemeinsame Versammlung), Slg. 1957, 83, 118.; siehe auch Schweitzer/Hummer, Rn. 447. 382 Im Ergebnis ebenso, wenn auch mit anderem Begründungsansatz Ukrow, S. 208 f.

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(6) Ergebnis zu den Rechtsfortbildungsgrenzen zweiter Stufe Als Rechtsfortbildungsgrenzen zweiter Stufe, also solche, die sich aus der Organkompetenz ergeben konnten folgende Fallgruppen herausgearbeitet werden. Die Zuständigkeitsvorschriften der Art. 47 EUV sowie der Art. 220 EGV bilden, soweit sie die Zuständigkeit des Gerichtshofs beschränken, eine Intraorgangrenze. Der Gerichtshof darf rechtsfortbildend nur tätig werden, sofern er in einem zulässigen Verfahren angerufen worden ist. Fehlt es hieran, so ist ihm durch die entsprechenden Verfahrensvorschriften, die seine Zuständigkeit begründen, auch eine Rechtsfortbildungsgrenze gezogen. Als Interorgangrenzen wurden der gemeinschaftsrechtliche Gesetzesvorbehalt, insbesondere auch der Grundsatz Nulla-poena-sine-lege, eine gewisse Einschätzungsprärogative des Gemeinschaftsgesetzgebers beim Normerlass sowie das Haushaltsrecht herausgearbeitet. Diese ziehen der Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH Grenzen. 3. Gesamtergebnis zu den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung im Gemeinschaftsrecht Bei den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung handelt es sich um Kompetenzgrenzen. Demnach lassen sich zwei Grenzabstufungen richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz unterscheiden. Als Rechtsfortbildungsgrenze erster Stufe kann man dabei die aus der Verbandskompetenz der Gemeinschaften fließenden Grenzen bezeichnen, während die aus der Organkompetenz entspringenden Grenzen richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz dann solche 2. Stufe sind. Letztere lassen sich wiederum in intra- und interorganschaftliche Grenzen unterteilen. Als Rechtsfortbildungsgrenze erster Stufe wurde insbesondere das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gem. Art. 5 Abs.1 EGV herausgearbeitet. Wo nämlich der Gemeinschaft als Herrschaftsverband schon die Befugnis zum Handeln fehlt, kann der Gerichtshof auch nicht rechtsfortbildend tätig werden. Von zentraler Bedeutung für die richterliche Fortbildung des primären Gemeinschaftsrechts ist zudem die Vertragsänderungskompetenz, die nach Art. 48 EUV in den Händen der Mitgliedstaaten liegt. Die Abgrenzung zwischen (noch) zulässiger Vertragsfortbildung und unzulässiger richterlicher Vertragsänderung kann in Anlehnung an die zu Art. 308 EGV vom Gerichtshof gefundenen Kriterien getroffen werden. Danach sind Rechtsfortbildungen, welche ein verfassungsrechtliches Gewicht erreichen, wegen Missachtung der den Mitgliedstaaten vorbehaltenen Vertragsänderungskompetenz unzulässig. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren

E. Rechtsfolgen grenzüberschreitender Rechtsfortbildung

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Wirkung von Richtlinien als verbandskompetenzwidrig und damit als unzulässige, vertragswidrige Rechtsfortbildung dar. Aber auch die Verfassungskernvorbehalte mitgliedstaatlicher Verfassungen, wie z. B. Art. 23 Abs. 1 GG, lassen sich über die Rechtsfortbildungsgrenze des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung erfassen. Zudem stellt sich das Subsidiaritätsprinzip aus Art. 5 Abs. 2 EGV als mittelbare Rechtsfortbildungsgrenze erster Stufe dar. Als Interorgangrenze sticht auf der 2. Stufe das Wesentlichkeitsgebot hervor, das seine Ausprägung auch im Nulla-poena-Grundsatz findet, aber auch im Haushaltsrecht und beim gesetzgeberischen Ermessen beim Normerlass finden sich Rechtsfortbildungsgrenzen. Als Intraorgangrenze spielen die Zuständigkeitsvorschriften der Art. 220 ff. EGV eine gewichtige Rolle, da der Gerichtshof nur im Rahmen eines hiernach vorgesehenen Verfahrens rechtsfortbildend tätig werden darf, aber auch die Gemeinschaftsgrundrechte ziehen dem EuGH Grenzen. Keine Anwendung findet hingegen die aus dem US-amerikanischen Verfassungsrecht stammende Lehre vom judicial self-restraint.

E. Rechtsfolgen grenzüberschreitender Rechtsfortbildung Was ist nun aber die Folge, wenn ein rechtsfortbildendes Urteil des EuGH als grenzüberschreitende Rechtsfortbildung contra pactum eingestuft wird? Beansprucht eine solche Entscheidung dennoch umfassende Rechtsgeltung oder ist die Rechtsfortbildung unwirksam (I.)? Ferner stellt sich die Frage, ob gegen eine grenzüberschreitende Rechtsfortbildung Rechtsschutz vor dem EuGH oder den mitgliedstaatlichen (Verfassungs-)Gerichten besteht (II.). Schließlich kann überlegt werden, ob eine grenzüberschreitende Rechtsfortbildung geheilt werden kann (III.).

I. Wirksamkeit der grenzüberschreitenden Rechtsfortbildung Fraglich ist, welche Rechtswirkungen ein die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung überschreitendes Urteil zu erzeugen im Stande ist. Sofern man der Auffassung ist, dass dem Richterrecht Rechtsquellenqualität beizumessen ist, ergibt sich daraus fast zwingend, dass eine Grenzüberschreitung im Ergebnis keine Bedeutung erlangt. Denn dann steht die richterliche Rechtsfortbildung als eigenständige Rechtsquelle da und ist als sol-

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che zunächst auch wirksam. Da das Richterrecht auch stets den Rang der Regelung einnähme, auf deren Ebene die Rechtsfortbildung erfolgt ist, bei einer primärrechtlichen Regelung also denselben Rang wie das Primärrecht selbst, ergäbe sich auch kaum die Möglichkeit einer Unwirksamkeit der grenzüberschreitenden Rechtsfortbildung wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht. Dann aber wäre die Rechtsfortbildung stets verbindlich, es ergäben sich keine Unterschiede zu einem „normalen“ Urteil des Gerichtshofs. Insoweit soll also zunächst der Frage nachgegangen werden, ob (rechtsfortbildenden) Urteilen des EuGH Rechtsquellencharakter zukommt (1.). Nur wenn dieses zu verneinen ist, soll untersucht werden, welche Geltung ein Urteil, das die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz überschreitet, beansprucht (2.). 1. Rechtsquellenqualität von Richterrecht? Die Frage, ob dem Richterrecht, welches im Wege richterlicher Rechtsfortbildung durch Lückenfüllung die Rechtsordnung ergänzt, Rechtsquellenqualität beizumessen ist, gehört zu den umstrittensten Problemen der juristischen Methodenlehre überhaupt.1 Als Rechtsquelle sind dabei die Regeln zu begreifen, aus denen der Rechtsanwender seine Entscheidung ableiten soll.2 Der Streit dreht sich also um die Frage, ob eine richterliche Entscheidung zu jenen Regeln zu zählen ist, ob also eine richterliche Rechtsfortbildung einen derartigen Rechtscharakter erlangen kann. a) Richterrecht ist Rechtsquelle Teile der (nationalen) Methodenlehre sind der Auffassung, dass auch richterlichen Entscheidungen eine derartige Rechtsquellenqualität zukommt.3 Teilweise wird dem Richterrecht auch der Rang von Gewohnheitsrecht allgemein zuerkannt, was im Ergebnis ebenfalls dazu führt, dass dem Richterrecht – vermittelt über die allgemein anerkannte Rechtsquelle des Gewohnheitsrechts – Rechtsquellenqualität zugesprochen wird.4 Eine Ex1

Als solches wird es zumindest von F. Bydlinski, JZ 1985, 149, 150 eingestuft. Diese Definition findet sich bei Röhl, S. 514; ähnlich auch Larenz, Methodenlehre, S. 431; Grundlegend zu den Rechtsquellen A. Ross, Theorie der Rechtsquellen, passim. 3 Die Auffassung, dass solche Präjudizien eine Rechtsquelle sind, wird besonders vertreten von Germann, S. 45 ff.; auch Bötticher, RdA 1969, 367 ff. spricht dem Richterrecht diese Qualität zu; kritisch zur herrschenden Gegenansicht äußert sich auch Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 258. 4 So muss man Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 258 wohl verstehen. 2

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tremposition vertritt Hermann Isay, der die richterlichen Entscheidungen sogar als die eigentlichen Rechtsnormen ansieht, während das Gesetz bloßes Programm sei.5 Für eine präjudizielle Wirkung richterlicher Rechtsfortbildung kann dabei angeführt werden, dass mit einer solchen der Rechtssicherheit Genüge getan werde, da nachfolgende Entscheidungen nicht von der ersten Entscheidung zu derselben Rechtsfrage abweichen dürften.6 In der europarechtlichen Literatur werden die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vereinzelt als Rechtsquelle bezeichnet.7 Ob damit allerdings auch die aus dieser Bezeichnung folgenden Konsequenzen bewusst mitgemeint sind oder die Bezeichnung für Urteile eher zufällig gewählt wurde, geht daraus nicht hervor. Aus der Judikatur des Gerichtshofs selbst ist nicht klar ersichtlich, ob der EuGH seinen Urteilen Rechtsquellenqualität beimisst. Allerdings haben zahlreiche rechtsfortbildende Urteile eine solche praktische Bedeutung erlangt, dass in nachfolgenden Urteilen zu derselben Rechtsfrage häufig nur noch auf diese Entscheidungen verwiesen wird.8 Hieraus könnte man gegebenenfalls den Schluss ziehen, dass der Gerichtshof seinen Urteilen in gewissem Umfange Rechtsquellencharakter zuspricht. Mit Sicherheit festzustellen ist dies allerdings nicht, erspart der Verweis auf frühere Rechtsprechung doch vor allem erneuten Argumentationsaufwand, so dass aus der bloßen Verweisungspraxis noch nicht darauf geschlossen werden kann, der EuGH sehe seine Urteile als Rechtsquellen an.9 Begreift man aber mit den vereinzelten Stimmen in der Literatur die Gerichtsentscheidungen als Rechtsquellen, so wäre eine Grenzüberschreitung bei der Rechtsfortbildung ohne Bedeutung, erlangte die Rechtsfortbildung contra pactum doch als Rechtsquelle Verbindlichkeit.

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Vgl. H. Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, S. 56 ff. So etwa Germann, S. 45 ff. 7 So von Oppermann, Europarecht, § 6 Rn. 59, der das vom EuGH im Wege der Rechtsfortbildung geschaffene Richterrecht im Kapitel „Quellen des Unions- und Gemeinschaftsrechts“ behandelt. 8 Die Präjudizien haben dabei mittlerweile eine solche Bedeutung erlangt, dass sie vereinzelt, wenn auch völlig verfehlt, als eigene Auslegungsmethode verstanden werden. So von Dederichs, Die Methodik des EuGH, passim; vgl. auch dies., EuR 2004, 345 ff. 9 Dass der Verweis auf frühere Rechtsprechung v. a. dem Zweck dient, sich die erneute Argumentation zu ersparen, verkennt Dederichs, Die Methodik des EuGH, passim. 6

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b) Richterrecht ist keine Rechtsquelle Die ganz überwiegende Ansicht lässt dem Richterrecht hingegen keine Rechtsquellenqualität zukommen.10 Rechtsquellen seien nur Gesetze im materiellen Sinne sowie Gewohnheitsrecht.11 Zwar sei ein rechtssoziologischer Einfluss von Präjudizien unbestreitbar, Urteile seien aber über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus nicht rechtlich, sondern bloß faktisch von Bedeutung.12 Die bloße rechtsfortbildende Entscheidung als solche ist demnach keine Rechtsquelle. Zu einer solchen kann sie lediglich werden, wenn eine richterliche Rechtsfortbildung zu Gewohnheitsrecht erstarkt.13 Dazu reicht es jedoch nicht aus, dass die Rechtsprechung über einen längeren Zeitraum stets in derselben Weise entscheidet. Maßgeblicher Geltungsgrund für das Gewohnheitsrecht ist nämlich darüber hinaus auch die allgemeine Rechtsüberzeugung in den beteiligten, rechtsanwendenden Kreisen. Nur sofern auch diese gegeben ist, kann aus Richterrecht Gewohnheitsrecht entstehen.14 Zur Begründung, dass es sich beim Richterrecht als solchem nicht um eine Rechtsquelle handelt, wird angeführt, dass der Richter nicht an das Präjudiz, sondern nur an eine richtig ausgelegte oder fortgebildete Norm gebunden sei. Darüber, ob eine Norm zutreffend ausgelegt oder fortgebildet worden sei, habe er stets selbst zu befinden.15 Eine Bindung über den entschiedenen Einzelfall hinaus könnte zu einer Erstarrung des Rechts in einer unrichtigen Auslegung oder Rechtsfortbildung führen.16 10 Siehe nur Larenz, Methodenlehre, S. 356, 429 ff., 477 ff.; ders., FS Schima, S. 247 ff.; Röhl, S. 513 ff.; Löwisch, RdA 1980, 1, 2, der das Richterrecht nicht für eine Rechtsquelle erachtet, aber eine Entwicklung desselben zu Gewohnheitsrecht für möglich erachtet; ebenfalls gegen die Rechtsquellenqualität spricht sich Bydlinski, JZ 1985, 149 ff. aus, der allerdings eine vermittelnde Position einnimmt; Ablehnend hinsichtlich der Rechtsquellenqualität des Richterrechts auch Ennercus/Nipperdey, S. 206; Die Ansicht, Richterrecht und Gerichtsgebrauch hätten keine autonome Autorität, findet sich bereits bei B. Windscheid, S. 38 ff.; um eine klare Differenzierung zwischen Richterrecht und Gewohnheitsrecht bemüht sich auch Esser, FS v. Hippel, S. 93 ff. 11 Vgl. Larenz, FS Schima, S. 247, 249 ff.; Röhl, S. 513 ff. 12 Larenz, FS Schima, S. 247, 249 f. 13 Von dieser Möglichkeit gehen grundsätzlich aus Larenz, FS Schima, 247, 250; Röhl, S. 545 f. Bydlinski, JZ 1985, 149, 151 f.; Ablehnend hingegen J. Esser, FS v. Hippel, 93, 113 ff.; Germann, S. 46 ff., was auch logisch ist, misst Germann der richterlichen Rechtsfortbildung doch eigene Rechtsquellenqualität zu; ders., Rechtsfindung, S. 269 ff.; R. Walter, ÖJZ 1963, 225 ist sogar, ausgehend von der Reinen Rechtslehre H. Kelsens, der Auffassung, dass die Gewohnheit in Österreich kein Rechtserzeugungstatbestand sei. 14 Larenz, FS Schima, S. 247, 252 f.; Röhl, S. 545. 15 So auch Larenz, FS Schima, S. 247, 261.

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Legt man diese überwiegende Ansicht der Methodenlehre in Deutschland wie auch in Frankreich auch für das europäische Gemeinschaftsrecht zugrunde17 – anders stellt sich die Lage freilich im englischen common law dar18 –, so wäre die (rechtsfortbildende) Rechtsprechung des EuGH nicht als Rechtsquelle einzustufen, mit der Folge, dass sie nicht als solche Geltung beanspruchen könnte. c) Eigene Stellungnahme Letzterer Ansicht ist beizupflichten. Einerseits handelt es sich beim europäischen Gemeinschaftsrecht im Kern um eine kontinentaleuropäische Rechtsordnung, so dass der Verweis auf die Stellung von Gerichtsurteilen im Mitgliedstaat Vereinigtes Königreich nicht durchgreifen kann. So liegt es historisch nahe, dass den Urteilen des Gerichtshofs keine Rechtsquellenqualität zukommen soll, entspricht dies doch der überwiegenden Ansicht in den Methodenlehren der beiden wichtigsten Gründungsmitglieder Deutschland und Frankreich. Andererseits ist zu bedenken, dass, sollte man tatsächlich von einer Bindungswirkung von Präjudizen im Lückenbereich ausgehen, es sehr schwierig wäre, eine einmal getroffene Rechtsprechung wieder abzuändern, im Bereich des Primärrechts bedürfte es gar des aufwändigen Verfahrens einer Vertragsänderung nach Art. 48 EUV. Eine Möglichkeit der Abänderung einer einmal getroffenen Rechtsfortbildung könnte sich aus den im common law, welches sich mit den Problemen der Präjudizienbindung besonders auseinanderzusetzen hat, entwickelten Methoden des distinguishing und overruling ergeben.19 Freilich werden Entscheidungen des EuGH vereinzelt auch heute schon durch Vertragsänderungen rückgängig gemacht, so etwa durch das sog. Barber-Pro16

Röhl, S. 534 spricht ebenfalls von der Gefahr einer Erstarrung des Rechts. Vgl. hierzu Larenz, Methodenlehre, S. 356, 429 ff., 477 ff.; ders., FS Schima, S. 247 ff.; Röhl, S. 513 ff.; ebenfalls gegen die Rechtsquellenqualität spricht sich Bydlinski, JZ 1985, 149 ff. aus, der allerdings eine vermittelnde Position einnimmt; Ablehnend hinsichtlich der Rechtsquellenqualität des Richterrechts auch Ennercus/ Nipperdey, S. 206; Die Ansicht, Richterrecht und Gerichtsgebrauch hätten keine autonome Autorität, findet sich bereits bei B. Windscheid, S. 38 ff.; um eine klare Differenzierung zwischen Richterrecht und Gewohnheitsrecht bemüht sich Esser, FS v. Hippel, S. 93 ff. 18 Da das englische Recht auf case law basiert, ist dort das Richterrecht freilich schon als Rechtsquelle einzustufen, vgl. etwa aus der englischen Literatur A. V. Dicey, p. cxliii. Darstellend auch Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 238 f. 19 Bei distinguishing handelt es sich um ein differenzieren zwischen dem Präjudizienfall und dem aktuell zu entscheidenden Fall. Overruling bedeutet ein Verwerfen durch eine höhere Instanz, wobei die höchste Instanz an ihre eigenen Präjudizien nicht in dem Maße gebunden ist, dass sich jede Rechtsprechungsänderung verböte. 17

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tokoll zu Art. 119 EGV.20 Dass eine solche „Versteinerung“21 von den Mitgliedstaaten beabsichtigt war, lässt sich weder aus den Verträgen, noch aus der EuGH-Satzung herauslesen. Vielmehr spricht gegen eine Rechtsquellenqualität von Urteilen des Gerichtshofs, dass sich die Mitgliedstaaten Vertragsänderungen nach Art. 48 EUV selbst vorbehalten haben, so dass eine entsprechende Rechtswirkung von EuGH-Urteilen nicht gewollt sein kann. Deshalb ist die Ansicht, dass richterlichen Entscheidungen, auch soweit sie rechtsfortbildend wirken, keine Rechtsquellenqualität zukommt, zustimmungswürdig. Folglich ist eine Grenzüberschreitung bei der richterlichen Rechtsfortbildung nicht schon deshalb unbeachtlich, weil das Richterrecht ohnehin zur Rechtsquelle erstarkt sei, so dass sich weiterhin die Frage nach den Rechtsfolgen einer grenzüberschreitenden Rechtsfortbildung stellt. Von Bedeutung erscheint dabei zuvörderst die Frage zu sein, welche Wirkungen ein solches Urteil überhaupt hervorrufen kann. 2. Rechtswirkungen einer grenzüberschreitenden Rechtsfortbildung durch den EuGH Auch wenn Urteilen des EuGH, welche die Grenzen der Rechtsfortbildung überschreiten, keine Rechtsquellenqualität zukommt und die Grenzüberschreitung nicht bereits aus jenem Grunde unbeachtlich wird, so stellt sich dennoch die Frage, welche Wirkung einer solchen Entscheidung zukommen soll. Möglicherweise entfaltet ein solches immerhin Kompetenzgrenzen überschreitendes Judikat, nämlich überhaupt keine Rechtswirkungen. Im EGVertrag lässt sich auf diese Frage keine eindeutige Antwort finden, allerdings bestimmt Art. 65 VerfO EuGH, dass ein Urteil des Gerichtshofs am Tage seiner Verkündung rechtskräftig wird. Art. 65 VerfO EuGH differenziert hier nicht zwischen „gewöhnlichen“, den Vertrag auslegenden Urteilen einerseits und solchen, die das Gemeinschaftsrecht nicht nur fortbilden, sondern dabei auch noch die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz übersteigen, sondern legt allgemein fest, dass die Urteile des Ge20 Vgl. BGBl. 1992 II, 1296, welches das Urteil EuGH, Urt. v. 17.5.1990, RS. C-262/88 (Barber), Slg. 1990, I-1944 ff. korrigiert. Siehe ebenfalls Protokoll zum EUV/EGV betreffend Art. 40.3.3 der irischen Verfassung im Gefolge der Entscheidung EuGH, Urt. v. 4.10.1991, RS. C-159/90 (Society for the protection of unborn children in Ireland), Slg. 1991, I-4685 ff.; siehe auch R. Schulze/U. Seif, S. 1, 11. 21 Röhl, S. 534, spricht in diesem Zusammenhang von Erstarrung.

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richtshofs rechtskräftig werden. Danach würden auch solche Urteile zwischen den Parteien, bzw. bei Klagen gegen Rechtsakte gem. Art. 230, 231 EGV auch erga omnes wirken.22 Es stellt sich allerdings die Frage, ob dieses Auslegungsergebnis vor dem Hintergrund der herausgearbeiteten Grenzen richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz mit der Aufgabe des Gerichtshofs, das Recht zu wahren, die sich aus Art. 220 EGV ergibt, vereinbar ist, oder ob man nicht Art. 65 VerfO EuGH vielmehr in der Weise einschränkend auszulegen hat, dass Urteile, welche die Rechtsfortbildungskompetenzen überschreiten, nicht rechtskräftig werden. Wollte man nämlich auch derartige Urteile in Rechtskraft erwachsen lassen, so billigte man dem EuGH das Recht zu (nicht zu korrigierenden) Fehlurteilen zu. Fraglich ist also, ob der EuGH nach den Bestimmungen des Vertrages in Art. 220 ff. EGV zu wenn auch falschen, so doch rechtswirksamen Entscheidungen ermächtigt wird, sein rechtliches Können also weiter gefasst ist, als sein rechtliches Dürfen. a) Kompetenz zu Fehlurteilen Peter Michael Huber versteht Art. 220. EGV nun tatsächlich so, dass die Übertragung der Rechtsprechungsaufgabe an den EuGH faktisch auch die Kompetenz zu Fehlurteilen in dem Sinne umfasse, dass die Jurisdiktionsgewalt des EuGH nicht mit der Begründung in Frage gestellt werden könne, der Gerichtshof habe eine Bestimmung des Gemeinschaftsrechts falsch ausgelegt.23 Dass das Bundesverfassungsgericht die Inanspruchnahme richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz durch den EuGH gebilligt habe und nur davon spreche, dass die durch das Grundgesetz gezogenen Grenzen seiner Nachprüfung unterlägen, impliziere, dass auch ein Ultra-vires-Handeln des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften von den Mitgliedstaaten grundsätzlich hingenommen werden müsse.24 Huber will also auch einem ultra vires ergangenen Urteil die Wirksamkeit nicht grundsätzlich versagen. Als ultra vires ergangen dürften dabei in erster Linie diejenigen rechtsfortbildenden Urteile zu verstehen sein, die die Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe, also die Verbandskompetenzen der Gemeinschaft übersteigen, jedoch kann man hierunter auch diejenigen Urteile begreifen, welche Rechtsfortbildungsgrenzen zweiter Stufe verletzen. 22 Eine allgemeine Übersicht zur Wirkung der Urteile des Gerichtshofs in den verschiedenen Verfahrensarten findet sich bei Rengeling/Middecke/Gellermann, S. 81 f., 144 ff. 174, 202 u. w. m. 23 P. M. Huber, AöR 116 (1991), 210, 219. 24 So Huber, AöR 116 (1991), 210, 219.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

b) Keine Kompetenz zu Fehlurteilen Zurückhaltender in der Akzeptanz eines ultra vires ergangenen, also die Grenzen der Rechtsfortbildungskompetenz überschreitenden, Urteils zeigt sich Theodor Schilling.25 Eine letztverbindliche Entscheidung des EuGH über die Grenzen der Gemeinschaftskompetenzen sei nicht hinzunehmen, soweit reiche die Übertragung der Rechtsprechungsaufgabe in Art. 220 EGV nicht, da dieses faktisch einer Kompetenzkompetenz des Gerichtshofs gleichkäme.26 Eine Entscheidung des Gerichtshofs, die dieses ignoriere, könne zumindest für das Bundesverfassungsgericht nicht bindend sein. Denn dieses sei berufen, über die Einhaltung der Grenzen der Integration zu wachen.27 Einfachen Fachgerichten hingegen soll nicht das Recht zustehen, darüber zu befinden, ob der EuGH im Hinblick auf die Kompetenzabgrenzung richtig entschieden hat.28 Legte man die Auffassung Schillings in Bezug auf die Wirkungen von Urteilen, welche das Recht contra pactum fortbilden, zugrunde, so wären Urteile, welche die Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe verletzen, also über die Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten befinden, für die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte nicht verbindlich, demgegenüber wären rechtfortbildende Urteile, bei welchen der EuGH die Rechtsfortbildungsgrenzen zweiter Stufe verletzt, die Verbandskompetenz also nicht betroffen wäre, nach dieser Auffassung wohl wirksam. c) Die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts Die Auffassung Schillings tendiert in die Richtung der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts. In seiner Maastricht-Entscheidung hat dieses nämlich für Kompetenzfragen im Ergebnis ein Letztentscheidungsrecht für sich reklamiert.29 So hat es ausgeführt, dass es prüfe, „ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen oder Organe sich in dem ihnen eingeräumten Grenzen halten oder aus ihnen ausbrechen.“30 Und weiter heißt es, dass bei der Auslegung von Befugnisnormen durch Einrichtungen oder Organe der Ge25 So führt T. Schilling, Der Staat 29 (1990), 161, 174 aus: „. . . auch das bloße widerrechtliche, gleichwohl rechtsbeständige Können ist rechtlich nicht hinnehmbar.“ 26 Schilling, Der Staat 29 (1990), 161, 173 f. 27 So mit Recht Schilling, Der Staat 29 (1990), 161, 181. 28 Nachdrücklich Schilling, Der Staat 29 (1990), 161, 181. 29 So BVerfGE 89, 155, 156 (LS. 6), 188, 210. Ähnlich auch bereits BVerfGE 75, 223. 30 So BVerfGE 89, 155, 156 (LS. 6), 188, 210.

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meinschaft zu beachten sei, dass der Unionsvertrag grundsätzlich zwischen der Wahrnehmung einer begrenzt eingeräumten Hoheitsbefugnis und der Vertragsänderung unterscheide, weshalb eine Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH im Ergebnis nicht einer Vertragsänderung gleichkommen dürfe.31 Damit beschreibt das Bundesverfassungsgericht eine Verletzung der Verbandskompetenzen, also – auf die hier interessierende richterliche Rechtsfortbildung bezogen – der in dieser Untersuchung als Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe bezeichneten Rechtsfortbildungsschranken. Die aus einer Verletzung dieser Grenze resultierende Folge formuliert das Bundesverfassungsgericht unmissverständlich. „Eine solche Auslegung einer Befugnisnorm würde für Deutschland keine Bindungswirkung entfalten.“32 Hieraus kann man schließen, dass das Bundesverfassungsgericht solche ausbrechenden Rechtsakte (v. a. auch rechtsfortbildende Urteile des Gerichtshofs) für nichtig hält, weshalb sie für Deutschland keine Bindungswirkung entfalten können. Diese für nichtig zu erklären steht dem Bundesverfassungsgericht allerdings nicht zu, würde es damit doch zugleich über das Gemeinschaftsrecht und über den Souveränitätsbereich anderer Mitgliedstaaten entscheiden.33 Deshalb hat es sich auch darauf beschränkt, solche ausbrechenden Rechtsakte, d.h. Ultra-vires-Handeln der Gemeinschaftsorgane, als für Deutschland nicht verbindlich zu bezeichnen.34 Auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts wären also Verletzungen der Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe bei Rechtsfortbildungen durch den EuGH vom Bundesverfassungsgericht zu überprüfen. Verletzungen der Rechtsfortbildungsgrenzen zweiter Stufe hingegen dürften nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht durch dieses nachprüfbar sein. d) Eigene Stellungnahme Der gemeinsame Ansatzpunkt der drei dargestellten Auffassungen ist, dass es sich bei einer solchen grenzüberschreitenden Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften letztlich um einen Ultra-vires-Akt handelt. Auch die vom Bundesverfassungsgericht gewählte Bezeichnung des „ausbrechenden Rechtsakts“ besagt nichts anderes. Somit erscheint es nützlich, zunächst zu klären, was ultra vires bedeutet. 31

BVerfGE 155, 210. BVerfGE 155, 210. 33 Dieses steht dem Bundesverfassungsgericht als Teil der deutschen Staatsgewalt selbstverständlich nicht zu. 34 Vgl. BVerfGE 89, 155, 156 (LS. 6), 188, 210. 32

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aa) Ultra-vires-Akt Vires bedeutet dabei Rechtsmacht oder auch Kompetenz. Ultra beschreibt ein Hinausgehen über diese Kompetenzen.35 Damit man aber über eine eingeräumte Rechtsmacht hinausgehen kann, ist erforderlich, dass diese Kompetenz begrenzt ist.36 Nunmehr wird deutlich, weshalb es bedeutsam war, herauszuarbeiten, dass es sich bei den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung um Kompetenzgrenzen handelt. Werden nämlich diese Grenzen überschritten, so handelt der Gerichtshof jenseits seiner Befugnisse, also ultra vires. In der Literatur wird nun bei den Ultra-vires-Akten teilweise zwischen solchen im engeren und solchen im weiteren Sinne unterschieden.37 Ultravires-Akte im engeren Sinne sollen vorliegen, wenn dem entscheidenden Organ bereits die Verbandskompetenz zur Vornahme des fraglichen Rechtsakts fehlt, Ultra-vires-Akte im weiteren Sinn sind hingegen solche, bei denen es an der Organkompetenz fehlt.38 In diese Unterscheidung fügt sich nun die von mir vorgeschlagene Differenzierung von Rechtsfortbildungsgrenzen erster und zweiter Stufe nahtlos ein: Die Überschreitung einer Rechtfortbildungsgrenze erster Stufe stellt einen Ultra-vires-Akt im engeren Sinne dar, während eine Grenzüberschreitung zweiter Stufe sich als Ultra-vires-Akt im weiteren Sinne präsentiert. bb) Folgen der Differenzierung Nunmehr stellt sich aber die Frage, welche Folgen diese Differenzierung in den Ultra-vires-Akten für die grenzüberschreitende Rechtsfortbildung durch den EuGH hat. (1) Urteile des EuGH als Ultra-vires-Akte i. e. S. Für den Erlass eines Ultra-vires-Akts i. e. S. fehlt es, mangels Verbandskompetenz, jedenfalls an der Rechtsgrundlage. Soweit nämlich Kompetenzen – wie bei den Europäischen Gemeinschaften – nach Sachbereichen oder Zielvorgaben bestimmten Kompetenzträgern zugewiesen sind, liegt 35

Ebenso F. C. Mayer, Kompetenzüberschreitung, S. 72 ff. Mayer, Kompetenzüberschreitung, S. 72 ff. 37 So von Mayer, Kompetenzüberschreitung, S. 24 ff. 38 Diese überzeugende Abgrenzung trifft Mayer, Kompetenzüberschreitung, S. 22 ff. 36

E. Rechtsfolgen grenzüberschreitender Rechtsfortbildung

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dann ein Ultra-vires-Akt i. e. S. vor, wenn Tatbestandsmerkmale, die solche Sachbereiche oder Zielvorgaben bestimmen und an die die Rechtsfolge der Kompetenzzuweisung geknüpft wird, nicht erfüllt sind.39 Bei Überschreitung der Verbandskompetenz, also im hier interessierenden Fall bei Verletzung der Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe durch den EuGH, fehlt es also bereits an der Rechtsgrundlage zum Erlass eines solchen Urteils. Das Fehlen der Rechtsgrundlage zieht aber als Rechtsfolge stets die Nichtigkeit des entsprechenden Rechtsakts, also auch des rechtsfortbildenden Urteils des EuGH, nach sich.40 Bei den Ultra-vires-Akten i. e. S., also jenen rechtsfortbildenden Urteilen des Gerichtshofs, welche die Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe missachten, tritt als Rechtsfolge dieser Grenzüberscheitung die Nichtigkeit derselben ein. Folglich erlangen diese Urteile als nichtige Rechtsakte keinerlei Wirkung, sie sind unverbindlich. Dieses entspricht auch der Maastricht-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, da die von diesem betonte Unterscheidung zwischen der Wahrnehmung einer begrenzt eingeräumten Hoheitsbefugnis und der Vertragsänderung auch auf die Problematik des Nichtvorliegens der Verbandskompetenz abzielt.41 (2) Ultra-vires-Akte i. w. S. Schwieriger zu beantworten ist die Frage, welche Rechtswirkungen einem rechtsfortbildenden Urteil des EuGH beizumessen sind, das „lediglich“ die Rechtsfortbildungsgrenzen zweiter Stufe überschreitet und damit bloß ein Ultra-vires-Akt i. w. S. ist. So ist insbesondere fraglich, ob auch in diesem Fall die strenge Folge der Nichtigkeit zur Anwendung kommen muss, immerhin besteht hier grundsätzlich eine Verbandskompetenz der Gemeinschaft. Hier besteht also zumindest nicht die Gefahr einer Veränderung von Verbandskompetenzen. Nichtsdestotrotz werden hier Befugnisgrenzen überschritten. Der EuGH ist nämlich ebenso wenig ermächtigt, die Organkompetenzgrenzen zu verschieben, wie er mittels seiner Rechtsfortbildung die Verbandskompetenz erweitern darf. Er darf also durch seine Rechtsfortbildung nicht in die Kernbereiche anderer Gewalten eingreifen. Diese sind insoweit nicht weniger schutzwürdig als die Mitgliedstaaten bei Eingriffen in deren Verbandskompetenz. Missachtet der Europäische Gerichtshof die seiner Rechtsfortbildungskompetenz gezogenen Grenzen zweiter Stufe, so bildet er 39

Mayer, Kompetenzüberschreitung, S. 24 f. So, bezogen auf Rechtsakte der EG, wenn auch nicht explizit zu Urteilen des EuGH B. Raschauer, ÖJZ 2000, 241, 250, 251. 41 Vgl. BVerfGE 155, 188, 210. 40

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

das Recht ebenso ohne Ermächtigungsgrundlage fort wie bei einer Verletzung einer Rechtsfortbildungsgrenze erster Stufe, da eine solche, in die Kernkompetenzbereiche anderer Organe übergreifende Rechtsfortbildungskompetenz nicht mehr vom Rechtsbewahrungsauftrag des Art. 220 EGV erfasst ist. Dann aber muss das Fehlen einer Ermächtigungsgrundlage auch bei den Ultra-vires-Akten i. e. S. zu einer Nichtigkeit derselben führen. Dass Fragen der Verbandskompetenz nicht berührt werden, kann der Nichtigkeit eines solchen rechtsfortbildenden Urteils des EuGH nicht im Wege stehen. e) Zwischenergebnis Sowohl bei Rechtsfortbildungen, welche die durch die Verbandskompetenz gezogenen Grenzen erster Stufe verletzen, wie auch bei solchen, die die durch die Organkompetenz bestimmten Grenzen zweiter Stufe überschreiten, handelt der Europäische Gerichtshof ultra vires. Da ihm für ein solches kompetenzübersteigendes Verhalten, wobei man zwischen Ultra-vires-Akten i. e. S., bei denen es bereits an der Verbandskompetenz fehlt, und solchen i. w. S., bei denen lediglich die Organkompetenz nicht vorliegt, unterscheiden kann, an einer Ermächtigungsnorm fehlt, sind solche ultra vires ergehenden Urteile nichtig. An der Ermächtigung hierzu fehlt es, da die Rechtsfortbildungsgrenzen erster und zweiter Stufe die Rechtsfortbildungskompetenz gerade beschränken. 3. Das „Problem“ des letztentscheidenden Gerichts Eine gewisse Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass der EuGH, auch wenn er rechtsfortbildend tätig wird und die seiner Rechtsfortbildungskompetenz gezogenen Grenzen überschreitet, so doch als letztinstanzliches Gericht tätig wird. So mögen die Urteile zwar wegen des Ultra-vires-Handelns nichtig sein, formal besehen ist die Frage nach der Richtigkeit einer Entscheidung beim Fehlen einer übergeordneten Instanz jedoch sinnlos.42 Die Letztentscheidung impliziert nämlich die Richtigkeit der Entscheidung, da ihre Unrichtigkeit oder gar Nichtigkeit nicht mehr festgestellt werden kann. Dieses drückt letztlich auch Art. 65 VerfO EuGH aus, der bestimmt, dass Entscheidungen des Gerichtshofs am Tage ihrer Verkündung rechtskräftig werden. Nun stellt sich also das Problem, dass Entscheidungen des Gerichtshofs, soweit sie nicht mehr gerichtlich überprüft werden können, zwar wegen Verletzung der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz nichtig 42

Dies merkt auch Mayer, Kompetenzüberschreitung, S. 28 an.

E. Rechtsfolgen grenzüberschreitender Rechtsfortbildung

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sein mögen, dasselbe jedoch nicht feststellbar ist, so dass die Urteile ihre faktische Wirksamkeit behalten. Entscheidend ist also die Frage, ob Entscheidungen, welche die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz überschreiten, gerichtlich noch überprüfbar sind. Die teilweise propagierte Einführung eines europäischen Kompetenzgerichts43 soll im Rahmen dieser Untersuchung außer Betracht bleiben, änderte die Einführung eines solchen Kompetenzgerichts doch nichts an der Problematik der ausbrechenden Rechtsakte, sondern verlagerte diese bloß auf ein anderes, neu zu schaffendes europäisches Organ.44 Damit verbleiben für die gerichtliche Überprüfung von EuGH-Urteilen, in welchen sich eine Rechtsfortbildung contra pactum findet, lediglich nationale Höchst- oder Verfassungsgerichte und möglicherweise der EuGH selbst.

II. Rechtsschutz gegen unzulässige Rechtsfortbildung durch den EuGH Fraglich ist also, inwieweit gegen Urteile des EuGH überhaupt noch Rechtsschutz zu erlangen ist. Dabei könnte man zwischen solchen Urteilen, die die Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe überschreiten und solchen, welche die Rechtsfortbildungsgrenze zweiter Stufe überschreiten, zu differenzieren sein, da hier unterschiedlichen Gerichten die Letztentscheidungsbefugnis zustehen könnte. Liegt diese aber beim EuGH, so scheidet eine Überprüfung des die Rechtsfortbildungsgrenzen übersteigenden Urteils aus. Es bleibt dann faktisch wirksam und erwächst nach Art. 65 VerfO EuGH in Rechtskraft. 1. Letztentscheidendes Gericht bei der Verletzung von Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe durch den EuGH Die Frage, welches Gericht über die durch die Verbandskompetenz gezogenen Grenzen letztlich entscheiden darf, ob der EuGH oder ein mitgliedstaatliches Höchst-/Verfassungsgericht, hängt davon ab, welche Rechtsordnung – die gemeinschaftliche oder die mitgliedstaatliche – sich durchsetzt, welcher als im Ergebnis der Vorrang vor der anderen zukommen soll. Denn 43 Vgl. etwa S. Broß, VerwArch 2001, 425, 426 f.; ähnlich wohl die Vorschläge von U. Di Fabio, F. A. Z. v. 2.2.2001, S. 8; Siehe auch J. H. Weiler, EurLawRev. 22 (1997), 150, 155; European Constitutional Group, A Proposal for a European Constitution (193), p. 13. 44 Ähnlich kritisch, mit der zutreffenden Begründung, die Gemeinschaften verfügten mit dem EuGH bereits über ein Kompetenzgericht, F. C. Mayer, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 255.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

das letztentscheidende Gericht muss Organ des Herrschaftsverbandes sein, dessen Rechtsordnung sich bei Kompetenzkonflikten durchsetzen soll. Insoweit hängen die Fragen von Letztentscheidung und Vorrang zusammen.45 Die Frage nach dem Vorrang gehört zu den umstrittensten Fragen des Europarechts überhaupt. Der EuGH auf der einen, die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte auf der anderen Seite nehmen hier gegensätzliche Positionen ein und beanspruchen jeweils das Recht zur letztverbindlichen Entscheidung. a) Die Auffassung des EuGH Der EuGH hat ausgehend von van Gend & Loos46 und Costa/ENEL47 und insbesondere auch durch die Rechtssache Internationale Handelsgesellschaft48, den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht entwickelt. Dieser Vorrang soll nach Ansicht des EuGH vor nationalem Recht jeder Rangstufe gelten, also auch vor dem nationalen Verfassungsrecht.49 Legt man diese Ansicht, welche in der europarechtlichen Literatur auf breite Zustimmung gestoßen ist,50 zugrunde, so muss dem Gerichtshof das Letztentscheidungsrecht auch über diese die Verbandskompetenz betreffenden Fragen zustehen. Hat nämlich das Gemeinschaftsrecht Vorrang auch 45

So auch Everling, GS Grabitz, S. 57, 64 f.; deutlich auch Mayer, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 229 f.; wohl auch Huber, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 220 Rn. 29 ff. 46 Vgl. EuGH, Urt. v. 5.2.1963, RS. 26/62 (van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung) Slg. 1963, 1, 24 f., in welchem der Gerichtshof die Eigenständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung betont. 47 Siehe EuGH, Urt. v. 15.7.1964, RS. 6/64 (Costa/E.N.E.L.), Slg. 1964, 1251, 1269 f., in welchem der EuGH erstmals den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht betont. 48 EuGH, Urt. v. 17.12.1970, RS. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel), Slg. 1970, 1125, 1135 (Rn. 3 f.); von Bedeutung ist ebenfalls EuGH, Urt. v. 8.3.1978, RS. 106/77 (Staatliche Finanzverwaltung/Simmenthal), Slg. 1978, 629, 643 (Rn. 14/16 ff.) In dieser Entscheidung gibt der EuGH die Grundsätze vor, nach denen der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht durchzusetzen ist. 49 So EuGH, Urt. v. 17.12.1970, RS. 11/70 (Internationale Hnadelsgesellschaft/ Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel), Slg. 1970, 1125, 1135 (Rn. 3 f.). 50 Siehe etwa Oppermann, Europarecht § 7 Rn. 2 ff., Rn. 7; E. Grabitz, Gemeinschaftsrecht, passim; s. auch R. Streinz, FS Söllner, 1139, 1145 ff.; T. Schilling, ZfRV 1998, 149 ff. jeweils mit zahlreichen weiteren Nachweisen; häufig wird der Vorrang allerdings als durch die von Art. 23 GG gezogenen Integrationsschranken begrenzt gesehen.

E. Rechtsfolgen grenzüberschreitender Rechtsfortbildung

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vor jeglichem Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten, und besitzt der EuGH das Auslegungsmonopol für das Gemeinschaftsrecht, so muss ihm auch die letztendliche Entscheidung über dessen Umfang zustehen. Hierfür ließe sich anführen, dass es dem Erfordernis gleichmäßiger Geltung des Gemeinschaftsrechts entspricht, dass über die Gültigkeit von Gemeinschaftsrechtshandlungen nur einheitlich und das bedeutet nur durch den EuGH entschieden werden kann und darf. b) Die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts und anderer Verfassungsgerichte Bundesverfassungsgericht51 – und ähnlich auch andere mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte52 für ihre jeweilige Verfassungsordnung – haben demgegenüber eine differenziertere Position eingenommen. Dabei räumt das Bundesverassungsgericht dem Gemeinschaftsrecht grundsätzlich Vorrang vor dem nationalen Recht, auch vor dem nationalen Verfassungsrecht, ein.53 Allerdings macht es eine Einschränkung, soweit es um Bereiche geht, welche von der Integration ausgenommen sind. Genauer formuliert bedeutet dies den Vorhaltsbereich der Verfassung, der mittels der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG dem verfassungsändernden Gesetzgeber und folgerichtig in Art. 23 Abs. 1 GG der Integration entzogen ist.54 Einbrüche der Gemeinschaftsgewalt in diese Bereiche unterliegen somit der Nachprüfbarkeit durch das Bundesverfassungsgericht.55 51 Vgl. etwa die Urteile BVerfGE 89, 155 ff.; 73, 339; 102, 147 ff. Eine klare Darstellung der Rechtsprechungsentwicklung findet sich bei Schweitzer, Rn. 68 ff. Siehe auch unter der zugespitzen Formulierung eines „Kampfes der Rechtsordnungen“ C. Enders, FS Böckenförde, S. 29 ff. 52 Vgl. z. B. Italien: Corte Constituzionale, RS. 232/89 (Fragd), Foro Italiano 1990, p. 1855; RS. 117/94 (Zerini), Raccolta Ufficiale 1994, p. 785; Spanien: Tribunal Constitucional, RS. 28/1991 (EP-Wahlen), Boletin Oficial del Estado vom 15.3.1991; Tribunal Constitucional, Erklärung 108/1992 (Maastricht), EuGRZ 1993, 285 (dt. Übersetzung); aus spanischer Sicht auch A. Lopéz Castillo/J. Polakiewicz, EuGRZ 1993, 277.; Dänemark: Højesteret, Entscheidung v. 6.4.1998 (Carlsen et al./Rasmussen), EuGRZ 1999, 49 (dt. Übersetzung); einen Überblick über die verschiedenen Verfassungsgerichte bietet G. Sander, DÖV 2000, 588, 591 ff.; siehe auch M. Nettesheim, Jura 2001, 686 ff. 53 Das Bundesverfassungsgericht geht dabei von einem Vorrang des Gemeinschaftsrechts kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung aus, vgl. etwa BVerfGE 22, 293 296; 31, 145, 173; 73, 339, 379; 75, 223, 240 f. vgl. auch Streinz, Europarecht, Rn. 224 ff. 54 BVerfGE 89, 155, 188, 209 f. 55 Vgl. BVerfGE 89, 155, 188, 209 f.; wohl auch BVerfGE 73, 339, 379 und BVerfGE 37, 271, 280. Ebenso für Dänemark das Højesteret, EuGRZ 1999, 49, 52; dazu R. Hofmann, EuGRZ 1999, 1 ff.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

Aber auch für allgemeine Verletzungen der Verbandskompetenz nimmt das Bundesverfassungsgericht ein Letztentscheidungsrecht in Anspruch.56 Dies bedeutet, dass – bei Zugrundelegung der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts – rechtsfortbildende Urteile, welche die Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe übersteigen und damit eine Verletzung der Verbandskompetenz bedeuten, von ihm überprüft werden können. Prüfungsgegenstand ist dabei nicht das Gemeinschaftsrecht oder der Gemeinschaftsrechtsakt unmittelbar, sondern das deutsche (bzw. jeweilige mitgliedstaatliche) Zustimmungsgesetz zu den Europäischen Gemeinschaftsverträgen. Danach liegt die letzte Entscheidung über die Verbandskompetenzgrenzen bei den Verfassungsgerichten der Mitgliedstaaten. Dieses folgt schon allein daraus, dass über jene Grenzen ausschließlich ein Gericht des die Kompetenzen übertragenden Herrschaftsverbandes entscheiden kann, sofern – wie dies bei den Mitgliedstaaten im Verhältnis zu den Europäischen Gemeinschaften noch der Fall ist – bei diesem Verband die Kompetenzkompetenz verortet ist.57 c) Eigene Stellungnahme Meiner Ansicht nach ist der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf das Letztentscheidungsrecht über die Verbandskompetenzen beizupflichten. Solange nicht ein europäischer Bundesstaat entsteht und damit die Kompetenzkompetenz auf die Gemeinschaften als Zentralverband übergeht,58 müssen die letzten Entscheidungen über das Ausmaß der übertragenen Kompetenzen durch die Mitgliedstaaten – und damit im Streitfall durch die jeweiligen Verfassungsgerichte – getroffen werden. Dass dieses Ergebnis zu einer uneinheitlichen Geltung des Europarechts führen könnte, was selbstverständlich tunlichst vermieden werden sollte, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass eben diese Gefahr in einem supranationalen Zusammenschluss mit angelegt ist. Auch das von Vertretern eines Letztentschei56 So m E. BVerfGE 89, 155, 188, 209 f.; 73, 339, 379; 37, 271, 280. Ebenso für Dänemark das Højesteret, EuGRZ 1999, 49, 52; Hofmann, EuGRZ 1999, 1 ff. 57 Ebenso im Ergebnis, wenn auch nicht zur richterlichen Rechtsfortbildung, Mayer, Kompetenzüberschreitung, S. 260 ff., der seine detaillierte Studie zu den verschieden Verfassungsrechtslagen in den Mitgliedstaaten dort zusammenfasst. 58 Mit der Kompetenzkompetenz argumentiert BVerfGE 89, 155, 209 f.; kritisch hierzu P. Lerche, FS Heymanns Verlag (1995), S. 409 ff.; siehe bereits ders., FS Redeker, S. 131 ff. Allgemein zu diesem zentralen Merkmal der Verortung der Kompetenzkompetenz beim Gesamtstaat, was den Bundesstaat vom Staatenbund oder Staatenverbund unterscheidet siehe Starck, FS Delbrück, S. 711, 723 ff., der völlig zu Recht betont, dass die Übertragung von Kompetenzen auf die supranationale Union grundsätzlich keine Souveränitätsaufgabe darstelle, sondern vielmehr ein Akt der Souveränität sei.

E. Rechtsfolgen grenzüberschreitender Rechtsfortbildung

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dungsrechts des EuGH stets wieder vorgebrachte Argument, mit seiner Rechtsprechung gefährde das Bundesverfassungsgericht letztlich den Bestand der Europäischen Einigung, was mit der im Grundgesetz angelegten Integrationsfreundlichkeit, die sich aus der Präambel sowie Art. 23 GG ergebe, unvereinbar sei,59 kann nicht durchschlagen. Denn Integration kann und soll es nur insoweit geben, als die Mitgliedstaaten den Gemeinschaften hierfür die Befugnis übertragen haben. Ob und inwieweit sie dies getan haben, ist aber eine Frage des nationalen Rechts, nicht hingegen des Europarechts, so dass auch die nationalen Verfassungsgerichte hierüber zu entscheiden haben. Aber auch aus dem Europarecht ergibt sich, dass das Letztentscheidungsrecht über Kompetenzüberschreitungen nicht beim EuGH liegen kann. Aus Art. 48 Abs. 2 EUV ergibt sich nämlich klar, dass eine Vertragsänderung – wie es eine Verschiebung der Verbandskompetenz bedeutete – nicht ohne den Willen der Mitgliedstaaten gelten soll. Letztlich handelt es sich hierbei um die Frage, wem die Souveränität zukommen soll, und Art. 48 EUV bringt zum Ausdruck, dass noch stets die Mitgliedstaaten die Herren der Verträge sind. Will man nun diese Wertung des Art. 48 EUV, dass die Mitgliedstaaten über den Umfang der Kompetenzen der Gemeinschaft entscheiden, nicht ad absurdum führen, dann muss im Streitfall darüber, ob eine richterliche Rechtsfortbildung die Grenzen der Verbandskompetenz überschreitet, das letzte Wort auch bei einem mitgliedstaatlichen Gericht liegen.60 Folglich liegt das Letztentscheidungsrecht hinsichtlich der Grenzen der Verbandskompetenz, also, im hier besonders interessierenden Fall, der Überschreitung der Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe, bei den mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten bzw. entsprechenden Höchstgerichten. Allerdings wäre aus Gründen der Gemeinschaftstreue aus Art. 10 EGV zu erwägen, dass die nationalen Höchstgerichte, bevor sie einen Gemeinschaftsrechtsakt, also etwa ein rechtsfortbildendes Urteil, als in ihrem Land unanwendbar erklären, weil die Gemeinschaftsorgane ihre Verbandskompetenz überschritten hat, dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften noch einmal die Möglichkeit einräumen, seine Ansicht zu korrigieren. 59 So zahlreiche Kritiker der Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, vgl etwa Everling, GS Grabitz, S. 57, 69; C. Tomuschat, EuGRZ 1993, 489, 495; sehr nachdrücklich auch G. Sander, DÖV 2000, 588, 594 ff.; wohl auch H. P. Ipsen, EuR 1994, 1, 10 f. 60 Im Ergebnis ebenso BVerfGE 89, 155, 188, 210; vgl. auch V. Götz, JZ 1993, 1081, 1082; ebenso für Dänemark mit ausdrücklicher Erörterung der Rechtsfortbildungsproblematik durch den EuGH das Højesteret, EuGRZ 1999, 49, 52; dazu Hofmann, EuGRZ 1999, 1 ff.; für den Rahmen des Art. 79 Abs. 3 GG gesteht dies auch Everling, GS Grabitz, 57, 69 zu.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

Sollte der Gerichtshof dann noch stets bei seiner die Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe übersteigenden Rechtsfortbildung bleiben, so steht es den nationalen Verfassungsgerichten aber zu, die Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten zu wahren.61 Auf die verfassungsrechtlichen und -prozessualen Möglichkeiten dieser Wahrung wird an späterer Stelle dieser Arbeit (§ 2 E. II. 4. a., insbes. ee.) eingegangen. Bei einer Überschreitung der Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe durch den EuGH liegt die definitive, letztverbindliche Entscheidung über den Umfang der Verbandskompetenz bei den mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten oder entsprechenden Höchstgerichten. 2. Letztentscheidendes Gericht bei den Rechtsfortbildungsgrenzen zweiter Stufe Nachdem nunmehr festgestellt wurde, dass in Bezug auf die Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe das Bundesverfassungsgericht bzw. das jeweilige nationale Verfassungsgericht letztverbindlich entscheiden darf, drängt sich die Frage auf, ob dieses auch für die Rechtsfortbildungsgrenzen zweiter Stufe gilt. Führt man sich vor Augen, worum es bei den Grenzüberschreitungen zweiter Stufe geht, nämlich um die Organkompetenzgrenzen bei grundsätzlich bestehender Verbandskompetenz, so scheint mir für diesen Fall die Antwort auf die Frage nach dem letztentscheidenden Gericht ziemlich klar auf der Hand zu liegen. Über die Organkompetenzgrenzen eines Verbandes muss auch stets ein Gericht des Verbandes entscheiden, im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften also der EuGH als deren „Verfassungsgericht“62. Da es sich bei den Organkompetenzen um Fragen des Verhältnisses der Organe zueinander innerhalb desselben Herrschaftsverbandes handelt, konkret also um die Stellung der Gemeinschaftsorgane zueinander, erscheint es abwegig, dieses Verhältnis durch ein Gericht eines anderen Herrschaftsverbandes, also eines Mitgliedstaates, letztverbindlich bestimmen zu 61 Dieses Recht beanspruchen BVerfGE 89, 155, 188, 210; Højesteret, EuGRZ 1999, 49, 52; im Ergebnis, wenn auch nicht ausdrücklich das spanische Tribunal Constitucional, EuGRZ 1993, 285, 286. Siehe dazu auch Götz, JZ 1993, 1081, 1082. 62 W. Schroeder, EuR 1999, 452, 464 („Jedes Höchstgericht muss das letzte Wort zur Auslegung der Rechtsnormen in seinem Rechtsbereich haben, . . .“); Mayer, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 255, spricht sich für ein weitgehend umfassendes Letztentscheidungsrecht des EuGH aus und spricht a. a. O. S. 273 ff. vom EuGH als Verfassungsgericht der Gemeinschaften. Ebenfalls vom EuGH als Verfassungsgericht sprechen G. C. Rodríguez Iglesias, EuR 1992, 225 ff. C. Kakouris, FS Everling, Bd. I, S. 629.; ebenfalls M. Zuleeg, BB 1994, 581 ff.

E. Rechtsfolgen grenzüberschreitender Rechtsfortbildung

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lassen. Dieses muss im Falle der Europäischen Gemeinschaften schon allein deshalb so sein, da anderenfalls 27 verschiedene Verfassungs- oder Höchstgerichte über dieselbe Frage nach der Kompetenzverteilung zwischen den Organen der Gemeinschaften urteilen könnten, was zwangsläufig zu einer innerhalb einer Rechtsgemeinschaft nicht hinzunehmenden Rechtsunsicherheit führte. Hierin liegt auch ein Unterschied zur Frage nach der Verbandskompetenz begründet. Während bei der Frage nach der Verbandskompetenz die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte nur feststellen können, ob es sich im Hinblick auf ihre Verfassungsordnung um einen ausbrechenden Rechtsakt der Gemeinschaft handelt, also zu unterschiedlichen Fragen judizieren, würden sie im Hinblick auf die Organkompetenz alle über dieselbe – zudem klar rein gemeinschaftsrechtliche – Frage urteilen, was nicht richtig sein kann. Sinnvollerweise kann die Beurteilung der Grenzen der jeweiligen Organkompetenz der Gemeinschaftsorgane nur von einem einzigen Gericht, nämlich dem EuGH, vorgenommen werden. Insoweit wird man Art. 220 EGV so verstehen müssen, dass dem EuGH hiermit auch die Aufgabe übertragen wird, letztverbindlich über die Grenzen der Organkompetenz der Mitgliedstaaten zu entscheiden. Da kein eigenständiges Organstreitverfahren im EG-Vertrag vorgesehen ist,63 dürfte dieses vor allem im Rahmen einer Nichtigkeitsklage (Art. 229, 231 EGV) von Bedeutung sein. Für eine Überprüfung der eigenen rechtsfortbildenden Entscheidung fehlt es hingegen an einem geeigneten Verfahren, so dass diese nicht mehr überprüfbar ist. Festzuhalten bleibt also, dass für Entscheidungen über die Grenzen der Organkompetenz der EuGH letztverbindlich entscheidet. Die Entscheidung darüber, ob er die Rechtsfortbildungsgrenzen zweiter Stufe überschritten hat, also ultra vires i. w. S. gehandelt hat, liegt bei ihm selbst. Insoweit steht auch dem EuGH das „Privileg“ letztentscheidender Gerichte zu, sich zwar irren zu können (d.h. im hier interessierenden Fall die Rechtsfortbildungsgrenzen zweiter Stufe zu überschreiten), aber dennoch rechtskräftig zu irren (vgl. Art. 65 VerfO EuGH), was bedeutet, dass die Rechtsfortbildung, welche die Grenzen zweiter Stufe verletzt, nicht mehr nachprüfbar ist, da es hierfür am geeigneten Verfahren fehlt.64 63 Zu überlegen wäre, ob es nicht de lege ferenda einen solchen europäischen Organstreit geben sollte. Zu erwägen wäre auch, ob ein solcher nicht im Wege richterlicher Rechtsfortbildung eingeführt werden könnte. 64 Insofern ist weder Schilling, Der Staat 29 (1990), 161, 181; noch Huber, AöR 116 (1991), 210, 219 vollumfänglich zuzustimmen. Vielmehr stimmt die Aussage Hubers, der EuGH besitze eine Kompetenz zu Fehlurteilen für Ultra-vires-Akte i. w. S., hingegen ist Schillings Aussage, dieses sei nicht hinzunehmen, für Ultra-vires-Akte i. e. S. zutreffend.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

3. Zwischenergebnis Über die Verbandskompetenzen der Gemeinschaft und damit auch über die Rechtsfortbildungen des Europäischen Gerichtshofs, die die Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe betreffen, dürfen letztverbindlich die nationalen Verfassungsgerichte entscheiden,65 während dem EuGH das Letztentscheidungsrecht in Bezug auf die Organkompetenzgrenzen, also die Rechtsfortbildungsgrenzen zweiter Stufe zusteht. Dieses unterschiedliche Ergebnis führt freilich auch zu verschiedenen Folgen in den Rechtsschutzmöglichkeiten gegen eine die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz übersteigende Rechtsfortbildung. Bei Grenzverletzungen erster Stufe kann nach Rechtsschutzmöglichkeiten auf der nationalen Ebene gesucht werden, während bei Grenzüberschreitungen zweiter Stufe nur der EuGH selbst in Betracht kommt. 4. Einzelne Rechtsschutzmöglichkeiten gegen grenzüberschreitende Rechtsfortbildung durch den EuGH Zunächst soll untersucht werden, inwieweit Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe übersteigende Urteile des EuGH bestehen, wobei die Untersuchung an dieser Stelle auf das Bundesverfassungsgericht beschränkt werden soll [a)], sodann wird untersucht, ob es gegen Rechtsfortbildungen des Gerichtshofs, welche die Rechtsfortbildungsgrenze zweiter Stufe verletzen, vor dem Gerichtshof selbst eine Rechtsschutzmöglichkeit gibt [b)]. a) Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht bei Überschreitungen der Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe Wie sich aus der Rechtsprechungspraxis des Bundesverfassungsgerichts selbst ergibt, kommen als Rechtsschutzverfahren gegen die Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe übersteigenden Urteile des EuGH insbesondere die Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG66 sowie die konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1, §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG67 in Betracht. Zu erwägen wäre, in65 Einen Überblick über die diversen nationalen Gerichte liefert hier Mayer, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 230 f. 66 BVerfGE 37, 271 ff.; 73, 339 ff.; 89, 155 ff.; siehe auch Streinz, Europarecht, Rn. 241; R. Zuck/C. Lenz, NJW 1997, 1193 ff.; T. Trautwein, JuS 1997, 893, 894; eine verfassungsgerichtliche Kontrolle mit Nachdruck gänzlich ablehnend G. Hirsch, NJW 1996, 2457 ff. 67 Vgl. BVerfGE 52, 187 ff.; 102, 147 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 241.

E. Rechtsfolgen grenzüberschreitender Rechtsfortbildung

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wieweit bei solchen ultra vires i. e. S. ergangenen Urteilen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften eine abstrakte Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG analog oder ein Verfahren gem. Art. 100 Abs. 2 GG, §§ 13 Nr. 12, 83 f. BVerfGG angestrengt werden könnte.68 aa) Verfassungsbeschwerde, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG Das Bundesverfassungsgericht wurde mehrfach mit Verfassungsbeschwerden befasst, welche im Zusammenhang mit der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs standen.69 Betrachtet man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, so sind hierbei zwei Fallgruppen zu unterscheiden: Wie aus der Maastricht-Entscheidung deutlich wird, differenziert das Bundesverfassungsgericht nämlich zwischen ausbrechenden Rechtsakten, zu denen es auch richterliche Rechtsfortbildungen zählt, welche die dieser gezogenen Grenzen nicht wahren, zum einen70 und der Wahrung des vom Grundgesetz unbedingt geforderten Grundrechtsstandards zum anderen.71 (1) Absinken des geforderten Grundrechtsstandards Soweit es „nur“ um die Sicherung des durch Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG unabdingbaren Grundrechtsstandards geht, hat das Bundesverfassungsgericht durch seine Entscheidungen Solange II,72 Maastricht73 und Bananenmarktordnung74 im Wege richterlicher Rechtsfortbildung des Verfassungsprozessrechts für die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde relativ hohe Hürden errichtet.75 Diese soll nämlich nur dann noch zulässig sein, „wenn 68 Streinz, Europarecht, Rn. 241 ff. nennt noch allgemein den Bund-Länder-Streit gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG, vgl. BVerfGE 80, 74, 79; 92, 203, 226 ff. sowie den Organstreit gem Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG. Diesen Verfahren dürfte allerdings für ultra vires Akte des EuGH kaum Bedeutung zukommen. 69 Vgl. BVerfGE 37, 271 ff.; 73, 339 ff.; 89, 155 ff. 70 So in BVerfGE 89, 155, 188 für ausbrechende Rechtsakte und BVerfGE 89, 155, 175 für den gewöhnlichen Grundrechtsschutz. Vgl. auch die LS. 6 und 7 dieses Urteils. Ebenfalls von dieser Differenzierung gehen etwa Zuck/Lenz, NJW 1997, 1193, 1194 ff. aus. 71 BVerfGE 89, 155, 175; siehe auch Zuck/Lenz, NJW 1997, 1193, 1194 ff. 72 BVerfGE 73, 339 ff. 73 BVerfGE 89, 155 ff. 74 BVerfGE 102, 147 ff. 75 Diese Ansicht teilt auch Dollinger, in: Umbach/Clemens/ders., BVerfGG, § 80 Rn. 49, der von einer „wohl unerreichbare[n] Höhe“ der Hürde spricht; darstellend und diese Fortbildung des Verfassungsprozessrechts aus integrationspolitischen Ge-

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des EuGH [. . .] unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken ist.“76 Ansonsten fehlt es an der Beschwerdebefugnis. Nach dieser Rechtsprechung wird eine gründliche Auseinandersetzung mit dem europäischen Primärrecht und insbesondere auch der Rechtsprechung des EuGH erwartet, wobei darzulegen ist, dass der vom Grundgesetz geforderte Minimalstandard des Grundrechtsschutzes auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaften nicht mehr gewährleistet wird.77 Sofern das Bundesverfassungsgericht – wofür einiges spricht – allerdings so zu verstehen sein sollte, dass eine Verfassungsbeschwerde nur noch dann zulässig sein soll, wenn der Grundrechtsstandard generell, d.h. losgelöst vom konkreten Einzelfall, nicht mehr gewährleistet wird,78 ist diese Auffassung zu eng. Der bundesverfassungsgerichtliche Grundrechtsschutz muss nämlich bereits im ersten, vor dem Grundgesetz nicht mehr zu rechtfertigenden Absinken des Grundrechtsstandards auf Ebene der Europäischen Gemeinschaften eingreifen. Es kann nicht hingenommen werden, dass erst einige inakzeptable Grundrechtsverletzungen abzuwarten wären, bevor von einem Absinken gesprochen werden kann und das Bundesverfassungsgericht seine Prüfungskompetenz wahrnimmt.79 Aber auch so hat diese zugangserschwerende Hürde, bei welcher eine anspruchsvolle Darlegung des Gemeinschaftsgrundrechtsstandards erwartet wird, den Zugang zum Bundesverfassungsgericht in reinen Grundrechtsfällen erheblich erschwert, wenn nicht gar ausgeschlossen.80 Dieses ist freilich in großen Teilen der begrüßenswerten Grundrechtsrechtssprechung des EuGH zu danken. Sofern aber dargelegt werden kann, dass durch eine Rechtsfortbildung des Europäischen Gerichtshofs der vom Grundgesetz geforderte Mindeststandard an Grundrechtsschutz nicht mehr gewährleistet ist, kann dieses mit sichtspunkten begrüßend M. Nettesheim, Jura 2001, 686, 689; siehe auch C.-D. Classen, JZ 2000, 1157 ff. 76 BVerfGE 102, 147 (LS. 1). 77 So auch Nettesheim, Jura 2001, 686, 689; Classen, JZ 2000, 1157 f. 78 In dieser Weise wird man das Bundesverfassungsgericht aber verstehen müssen. Ebenso die Einschätzung von Dollinger, in: Umbach/Clemens/ders., BVerfGG, § 80 Rn. 49. Für ein bloß generelles Verständnis des Grundrechtsstandards hat sich bereits D. Grimm, RdA 1996, 66, 68 ausgesprochen. Vgl. dazu auch den „Koaufsatz“ von M. Zuleeg, RdA 1996, 71 ff. 79 Zu Recht kritisch gegenüber einem generellen Verständnis des schützenswerten Grundrechtsstandards, wenn auch noch zur Maastricht-Rechtsprechung Zuck/Lenz, NJW 1997, 1193, 1195; A. Weber, FS Everling, Bd. II, S. 1625, 1634; D. Horn, DVBl. 1995, 89, 95; wohl auch E. Klein, GS Grabitz, S. 270, 278 f. 80 Ebenso Dollinger, in: Umbach/Clemens/ders., BVerfGG, § 80 Rn. 49.

E. Rechtsfolgen grenzüberschreitender Rechtsfortbildung

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der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden, wobei dann der Beschwerdegegenstand das bundesdeutsche Zustimmungsgesetz zu den EG-Verträgen wäre.81 (2) Kontrolle von ausbrechenden Rechtsakten Im interessanteren Fall der ausbrechenden Rechtsakte und damit auch grenzüberschreitender Rechtsfortbildungen erster Stufe durch den EuGH, hat das Bundesverfassungsgericht eine solche Hürde nicht aufgestellt, sondern im Maastricht-Urteil deutlich gemacht, dass es Ultra-vires-Akte der Gemeinschaft stets auf ihre Vereinbarkeit mit dem Zustimmungsgesetz zu den Europäischen Gemeinschaftsverträgen prüfen werde.82 Das Bundesverfassungsgericht hat dabei nicht etwa gefordert, dass das Ausbrechen aus der Kompetenzordnung besonders qualifiziert oder offensichtlich sein müsse, sondern unterwirft jeden gemeinschaftsrechtlichen Rechtsakt seiner Kontrolle, soweit behauptet und dargetan wird, dieser sei ultra vires ergangen.83 Das Ausbrechen eines Rechtsakts muss also im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde dargelegt werden. Ein Urteil des Gerichtshofs, welches die Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe übersteigt, kann folglich – sofern die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen neben dem tauglichen Verfahrensgegenstand erfüllt sind – indirekt über den Umweg des Zustimmungsgesetzes als ausbrechender Rechtsakt vor dem Bundesverfassungsgericht mittels der Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG gegen das Zustimmungsgesetz angegriffen werden. bb) Konkrete Normenkontrolle, Art. 100 Abs. 1 GG Möglicherweise kommt mittelbar gegen ein die Grenzen der Rechtsfortbildung erster Stufe übersteigendes Urteil des EuGH auch die konkrete Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs. 1 GG, §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG in 81

Vgl. etwa BVerfGE 89, 155 ff. zum Zustimmungsgesetz zum Maastrichter Ver-

trag. 82

BVerfGE 89, 155, 188, 210. Das Erfordernis einer besonders qualifizierten Kompetenzverletzung ist dem Urteil jedenfalls nicht zu entnehmen, vgl. BVerfGE 89, 155, 188, 210; vgl. auch BVerfGE 75, 223, 235, 242; ebenso Zuck/Lenz, NJW 1997, 1193, 1196; darstellend auch Benda/Klein, Rn. 79, die sich allerdings kritisch dazu äußern; siehe auch P. Kirchhof, EuR Beiheft 1/1991, 11, 19, der betont, die bloß generelle Überprüfung habe das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich auf den Grundrechtsbereich beschränkt; so auch Streinz, FS C. Heymanns Verlag 1995, 663, 673, 677; ablehnend Heintzen, AöR 119 (1994), 564, 585. 83

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

Betracht. Fraglich ist jedoch, was der Vorlagegegenstand ist.84 Art. 100 Abs. 1 GG bestimmt als Vorlagegegenstand ein Gesetz. Als Gesetz ist dabei jede Norm anzusehen, die Ergebnis eines Gesetzgebungsverfahrens ist (prozeduraler Gesetzesbegriff).85 Vorlagegegenstand i. S. d. Art. 100 Abs. 1 GG ist auch im Verfahren der konkreten Normenkontrolle das deutsche Zustimmungsgesetz. Die Kontrolle der Rechtsfortbildung des Gemeinschaftsrechts, welche die Grenzen der Rechtsfortbildung erster Stufe übersteigt, erfolgt also mittelbar über die Überprüfung des Zustimmungsgesetzes.86 Der Vorlagegegenstand bildet also, was die bundesverfassungsgerichtliche Überprüfung der Wahrung der Kompetenzgrenzen der EG bei richterlicher Rechtsfortbildung durch den EuGH anbelangt, kein Hindernis. Ungewiss ist ebenfalls, was Prüfungsmaßstab bei einer konkreten Normenkontrolle zu einer Kompetenzüberschreitung durch den EuGH ist. Art. 100 Abs. 1 GG spricht davon, dass das aussetzende Gericht das Gesetz für verfassungswidrig halten muss, so dass als Prüfungsmaßstab des Zustimmungsgesetzes nur das Grundgesetz in Betracht kommt. Nun sind verbandskompetzüberschreitende Rechtsfortbildungen des EuGH, wie die unmittelbare Wirkung von Richtlinien oder die Begründung einer europäischen Strafrechtskompetenz für Umweltdelikte, nicht per se mit dem integrationsoffenen Grundgesetz unvereinbar. Sofern die Grenzen des Art. 23 Abs. 1 S. 1, 3 GG durch die Rechtsfortbildung des Gerichtshofs verletzt sind, ist eine Verfassungswidrigkeit eindeutig festzustellen. Jenseits dieser Extremfälle aber kann sich die Verfassungswidrigkeit nur aus dem Fehlen der Verbandskompetenz der Gemeinschaft selbst ergeben, da dann durch eine solche Rechtsfortbildung die mitgliedstaatliche Souveränität beeinträchtigt ist. In welchem Umfang allerdings Hoheitsrechte vom Mitgliedstaat, hier also der Bundesrepublik, auf die Gemeinschaften übertragen worden sind, inwieweit der EuGH bei einer Rechtsfortbildung also ultra vires handelt oder nicht, bestimmt sich letztlich nach dem Verständnis des Zustimmungsgesetzes zum EG-Vertrag. Insoweit wird die Verfassungswidrigkeit mittelbar über das Verständnis des Bundesverfassungsgerichts vom EG-Vertrag ausgefüllt. 84 Trautwein, JuS 1997, 893, 894, meint hier eine Rechtsschutzlücke zu diagnostizieren; kritisch ebenfalls Benda/Klein, Rn. 808. 85 So J.-R- Sieckmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 100 Rn. 19. 86 So etwa Zuleeg, NJW 1997, 1201; Ulsamer, in: Maunz/u. a., BVerfGG, § 80 Rn. 53. Primäres Vertragsrecht kann somit lediglich mittelbar über die Vertragsgesetze zum Gegenstand einer Vorlage gemacht werden., vgl. BVerfGE 52, 197, 199 ff.; siehe auch Sturm, in: Sachs, GG, Art. 100 Rn. 9; W. Heun, AöR 122 (1997), 610, 616; vgl. im Detail R. Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 142 f.

E. Rechtsfolgen grenzüberschreitender Rechtsfortbildung

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Prüfungsgegenstand der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG ist die Auslegung des Kompetenzverhältnisses durch des EuGH, der dieses anhand des EG-Vertrages bestimmt hat. Wie das Bundesverfassungsgericht im Ernstfall einer tatsächlich die Grenzen der Verbandskompetenz überschreitenden Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof vorzugehen gedenkt, lässt sich aus dem KloppenburgBeschluss ebenso wenig herauslesen wie aus dem Maastricht-Urteil.87 Von Interesse dürfte im hier untersuchten Fall der die Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe überschreitenden Rechtsfortbildung durch den Europäischen Gerichtshof auch noch das Erfordernis der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage sein. Das konkrete Normenkontrollverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG ist nur zulässig, sofern die Entscheidung der verfassungsrechtlichen Frage zur abschließenden Beurteilung des konkreten gerichtlichen Verfahrens unerlässlich ist.88 Sollte ein Gericht an der Kompetenzmäßigkeit einer für den konkret zu entscheidenden Fall relevanten, vom EuGH vorgenommenen Rechtsfortbildung zweifeln, so wird man nun aber fordern müssen, dass es das Verfahren zunächst aussetzt und seine diesbezüglichen Bedenken dem EuGH gem. Art. 234 EGV zur Vorabentscheidung vorträgt. Erst wenn der EuGH auf der Rechtsfortbildung, welche nach Ansicht des nationalen Fachgerichts die Grenzen der Rechtsfortbildung erster Stufe übersteigt, beharrt, kann es das Bundesverfassungsgericht mit dem Antrag auf Überprüfung der Verfasssungsmäßigkeit des bundesdeutschen Zustimmungsgesetzes anrufen. Bei Vorliegen der soeben aufgezeigten Voraussetzungen und unter Wahrung der übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen kann ein Gericht mittelbar durch Vorlage der deutschen Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschaftsverträgen, die verbandskompetenzwidrige Rechtsfortbildung des EuGH durch das Bundesverfassungsgericht im Verfahren der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1, §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG überprüfen lassen.89 cc) Abstrakte Normenkontrolle, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG Möglicherweise käme sogar eine abstrakte Normenkontrolle gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG für eine bundesverfassungs87 Deutliche Zweifel an der tatsächlichen Handhabbarkeit des Art. 100 Abs. 1 GG in diesem Fall äußern Benda/Klein, Rn. 808. 88 So etwa BVerfGE 50, 108, 113; 76, 100, 104; 78, 201, 203; vgl. auch Clemens, in: Umbach/ders., GG, Art. 100 Rn. 101. 89 Ablehnend aber Hirsch, NJW 1996, 2457 ff.; Sander, DÖV 2000, 588, 595 f.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

gerichtliche Überprüfung grenzüberschreitender Rechtsfortbildung durch den EuGH in Betracht.90 Die Möglichkeit einer abstrakten Normenkontrolle ist vom Kontrollgegenstand in selber Weise zu begründen, wie dies bei der konkreten Normenkontrolle geschehen ist. Gegenstand der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG muss also ebenfalls das Zustimmungsgesetz zum jeweiligen Gemeinschaftsvertrag sein. Allerdings ist die Begründung hier ebenso umständlich wie die soeben im Rahmen der konkreten Normenkontrolle aufgezeigte. Zwar ist es nicht sonderlich wahrscheinlich, dass die im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle Antragsbefugten diesen Weg beschreiten werden, um eine grenzüberschreitende Rechtsfortbildung des EuGH zu korrigieren, stehen ihnen hierzu in der Regel doch politische Wege offen91, jedoch erscheint ein abstraktes Normenkontrollverfahren grundsätzlich zulässig. Somit wäre eine Rechtsfortbildung ultra vires i. e. S. durch den EuGH über das Zustimmungsgesetz zum jeweiligen Gemeinschaftsvertrag auch mittels der abstrakten Normenkontrolle gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG möglich. dd) Art. 100 Abs. 2 GG analog? Fraglich ist, ob nicht eine Überprüfung der rechtsfortbildenden Urteile des EuGH, welche die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung erster Stufe überschreiten, anhand einer analogen Anwendung des Normverifizierungsverfahrens gem. Art. 100 Abs. 2 GG, §§ 13 Nr. 12, 83 f. BVerfGG möglich wäre.92 Eine entsprechende Anwendung wäre vonnöten, da Art. 100 Abs. 2 GG unmittelbar, wie sich aus seinem Wortlaut unzweideutig ergibt, nur die Feststellung betrifft, ob gewisse Völkerrechtsregeln als „allgemeine“ i. S. d. Art. 25 GG einzustufen sind.93 90

Von dieser Möglichkeit geht jedenfalls Streinz, Europarecht, Rn. 241 aus. So ist bislang auch noch kein abstraktes Normenkontrollverfahren zu einem der Zustimmungsgesetze zu den europäischen Einigungsverträgen beim Bundesverfassungsgericht anhängig gemacht worden. 92 Vgl. allgemein zum Normenverifizierungsverfahren nach Art. 100 Abs. 2 GG Benda/Klein, Rn. 850 ff.; Schlaich/Korioth, Rn. 157 ff.; F. Münch, JZ 1964, 163 ff.; M. Ruffert, JZ 2001, 633 ff. 93 Unter den allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind nur das Völkergewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze zu verstehen, vgl. BVerfGE 23, 288, 317; 94, 315, 328; 95, 96, 129. Vom Anwendungsbereich des Art. 100 Abs. 2 GG nicht erfasst ist demnach auch das Recht der Europäischen Union, siehe zu dieser Konstellation BFHE 193, 170, 174; F. Schorkopf, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, §§ 83, 84 Rn. 13. 91

E. Rechtsfolgen grenzüberschreitender Rechtsfortbildung

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Angesichts des für das Bundesverfassungsgericht geltenden Enumerationsprinzips ist jedoch bereits zweifelhaft, ob eine entsprechende Anwendung des Art. 100 Abs. 2 GG auf Fälle grenzüberschreitender Rechtsprechung des EuGH überhaupt in Betracht kommt.94 Es dürfte nämlich aufgrund des begrenzten Zuständigkeitskatalogs des Bundesverfassungsgerichts bereits an dem für eine Analogie konstitutiven Erfordernis einer planwidrigen Regelungslücke fehlen. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts sind nämlich im Grundgesetz und dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz abschließend geregelt.95 Das bedeutet aber, dass das Bundesverfassungsgericht nur tätig werden darf, wenn der Weg zu ihm nach diesen Vorschriften eröffnet ist.96 Zu Recht betont Bethge, dass es „irgendwelche freiwüchsigen, exeptionellen Befugnisse, die nicht aus verfassungsrechtlichen bzw. einfachgesetzlichen Zuweisungen ableiten lassen“ nicht gebe.97 Insoweit fehlt es bereits an der Regelungslücke. Ein bloßes rechtspolitisches Bedürfnis allein kann die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts nicht begründen. Folglich scheidet eine analoge Anwendung des Normenverifizierungsverfahrens gem. Art. 100 Abs. 2 GG, §§ 13 Nr. 12, 83 f. BVerfGG als Überprüfungsmöglichkeit für Urteile des EuGH, welche die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung erster Stufe übersteigen, aus. ee) Zwischenergebnis Es lässt sich feststellen, dass – von der Verfassungsbeschwerde abgesehen, welche sich gegen die deutschen Vollzugsakte, bzw. das unter Zugrundelegung der Rechtsfortbildung des EuGH ergangene mitgliedstaatliche Urteil richtet – keines der Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht wirklich auf eine Kontrolle der die Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe überschreitende Rechtsfortbildung des EuGH anwendbar ist. Zwar kann man die Zulässigkeit von konkreter und abstrakter Normenkontrolle bejahen, durch die über den Umweg des deutschen Zustimmungsgesetzes mittelbar auch eine die Verbandskompetenzgrenzen übersteigende Rechtsfortbildung des EuGH durch das Bundesverfassungsgericht überprüft werden könne, jedoch bedürfte es schon schon eines erheblichen argumentativen Aufwandes. Diese Verfahren sind nicht wirklich dazu geschaffen, Rechtsakte zu überprüfen, welche von einem anderen Herrschaftsverband stammen, auch wenn diesem deutsche Hoheitsrechte durch ein völkerrechtliches Zustimmungsgesetz übertragen worden sind. 94 95 96 97

Das Enumerationsprinzip ausführlich erläuternd H. Bethge, Jura 1998, 529 ff. BVerfGE 22, 293, 298; 63, 73, 76; siehe auch Bethge, Jura 1998, 529. BVerfGE 13, 54, 96 f.; 22, 293, 298; 63, 73, 76. Bethge, Jura 1998, 529.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

ff) Verbandskompetenzprüfungsverfahren Insoweit stellt sich die rechtspolitische Frage, ob nicht de constitutione ferenda ein neues Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht eingeführt werden sollte, in dem ebenjene Fragen nach der Verbandskompetenz bei ausbrechenden Rechtsakten geklärt werden können. Hierbei müssten Rechtsakte der Gemeinschaften, unter welche auch Urteile des EuGH fallen müssten, daraufhin überprüft werden, ob sie sich im Rahmen der durch das Zustimmungsgesetz übertragenen Hoheitsrechte bewegen oder aus diesem ausbrechen. Da es sich dabei letztlich um ein dem Normenkontrollverfahren zumindest ähnliches Verfahren handeln würde, erscheint es sinnvoll, sich an diesem orientieren. Zu beachten wäre allerdings, dass ausgeschlossen sein muss, dass die Nichtigkeitsklage vor dem EuGH nach Art. 230 EGV umgangen wird. Dieses Rechtsmittel müsste also erschöpft sein, bevor das nationale Verfassungsgericht, hier also das Bundesverfassungsgericht, angerufen werden kann. Hier wäre eine besondere Zulässigkeitsvoraussetzung im Bundesverfassungsgerichtsgesetz einzuführen. Im hier besonders interessierenden Fall einer die Verbandskompetenzgrenzen verletzenden Rechtsfortbildung des EuGH, wäre ein solches Verfahren dann allerdings stets zulässig, da gegen eine solche Entscheidung des Gerichtshofs die Nichtigkeitsklage nicht möglich wäre und auch sonstige Rechtsbehelfe vor dem Gerichtshof ausscheiden dürften.98 Gegebenenfalls wäre aber zu erwägen, dem Verfassungsgericht aus Gründen der Gemeinschaftstreue aufzugeben, das Verfahren auszusetzen, um dem EuGH Gelegenheit zur Korrektur seiner Rechtsfortbildung zu geben. Als Antragsberechtigte des Verbandskompetenzprüfungsverfahrens sind entsprechend der abstrakten Normenkontrolle in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG die Bundesregierung und ein Drittel der Mitglieder des Bundestages zu erwägen. Fraglich ist hingegen, ob es erforderlich ist, einer Landesregierung ein Antragsrecht für ein solches Verbandskompetenzprüfungsverfahren zuzusprechen. Abgegrenzt werden sollen nämlich nur zwei Kompetenzebenen, nämlich die gemeinschaftsrechtliche von der des Völkerrechtssubjektes Bundesrepublik Deutschland. Deren Organe sind aber Bundesregierung und Bundestag, nicht aber eine Landesregierung. Jedoch ist zu beachten, dass 98 Zu den außerordentlichen Rechtsmitteln, durch die es gegebenenfalls zu einer Durchbrechung der Rechtskraft kommen kann, weiter unten im Rahmen des Rechtsschutzes gegen Rechtsfortbildungen des EuGH, welche die Rechtsfortbildungsgrenzen zweiter Stufe verletzen. Im Ergebnis muss eine solche inhaltliche Korrektur der Rechtsauffassung aufgrund der Rechtskraft des Urteils des EuGH, welche in Art. 65 VerfO EuGH festgeschrieben ist, ausscheiden.

E. Rechtsfolgen grenzüberschreitender Rechtsfortbildung

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im deutschen Verfassungsprozessrecht auch ein Land eine Norm eines anderen Landes zur Überprüfung beim Bundesverfassungsgericht stellen kann.99 Dieser Fall ist mit dem vorliegenden insoweit vergleichbar, als es bei beiden Vorlagen – der eines anderen Landesgesetzes sowie der einer Vertragsauslegung durch den EuGH – vorrangig um den Schutz der Kompetenzordnung der Bundesverfassung, also des Grundgesetzes, geht.100 Die Sorge um die Einhaltung der Kompetenzordnung des Grundgesetzes ist demnach auch den Ländern mit übertragen. Insoweit sollte auch den Landesregierungen ein entsprechendes Vorlagerecht zugebilligt werden. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich nunmehr folgender Formulierungsvorschlag für das Verbandsprüfungsverfahren, welches als Art. 93 Abs. 1 Nr. 2b GG eingeführt werden könnte: „Art. 93 Abs. 1: Das Bundesverfassungsgericht entscheidet: 2b. bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln über die förmliche Vereinbarkeit von Gemeinschaftsrechtsakten mit der durch die Übertragung der deutschen Hoheitsrechte an die Europäischen Gemeinschaften begründeten Verbandskompetenzordnung auf Antrag der Bundesregierung, eines Drittels der Mitglieder des Bundestages oder einer Landesregierung.“

Im Übrigen könnten die Regelungen der §§ 76 ff. BVerfGG entsprechend herangezogen werden. Mit einem solchen abstrakten Kompetenzkontrollverfahren könnten dann richterliche Rechtsfortbildungen, welche die Grenzen der Verbandskompetenz verletzen, als für Deutschland unverbindlich erklärt werden. Dieses hätte gegenüber der geltenden Verfassungslage nicht nur den Vorteil der Klarheit, vielmehr wäre es auch möglich, unabhängig etwa von einer Verfassungsbeschwerde, auch in Bereichen die Einhaltung der Kompetenzordnung gerichtlich durchsetzen zu können, in denen Grundrechtsträger nicht betroffen sind. Auch muss die Gelegenheit einer für den Nationalstaat verbindlichen Gerichtsentscheidung zur Verteidigung seiner Kompetenzen neben den – möglicherweise erfolglosen politischen Druckmitteln – gegeben sein. b) Verfahren vor dem EuGH bei Überschreitung der Grenzen zweiter Stufe Es wurde oben bereits festgestellt, dass der EuGH über die Organkompetenzgrenzen als letztentscheidendes Gericht zu befinden hat, weshalb auch eine diesbezügliche Nachkontrolle seiner die Grenzen der Rechtsfort99

K. Kruis, FS Lerche, 475, 484 ff. BVerfGE 83, 37, 49; so auch Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 93, Rn 120; vgl. auch Kruis, FS Lerche, 475, 484 ff. Kritisch dazu Graßhof, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 76 Rn. 15. 100

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

bildung zweiter Stufe übersteigenden Rechtsprechung durch nationale Verfassungs- oder Höchstgerichte ausscheidet. Da also der EuGH letztentscheidendes Gericht ist, stellt sich die Frage, ob und in welcher Weise eine durch ihn gefällte Ultra-vires-Entscheidung i. w. S. gegebenenfalls noch korrigiert werden kann. Ausgangspunkt der Überlegungen muss dabei sein, welche Wirkung einem ergangenen Urteil des Gerichtshofs innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung beizumessen ist. Die hierfür maßgebliche Norm des Art. 65 VerfO EuGH bestimmt, dass Urteile des Gerichtshofs am Tage ihrer Verkündung rechtskräftig werden. Legt man diese Aussage zugrunde, so wäre eine Entscheidung des EuGH, mit welcher er die aus der Organkompetenz fließenden Rechtsfortbildungsgrenzen verletzt, nicht mehr zu korrigieren. Nichtsdestotrotz sehen EuGH-Satzung und VerfO EuGH Verfahren vor, durch welche ein fehlerhaftes Urteil des Gerichtshofs möglicherweise noch korrigiert und die Rechtskraft eines solchen ultra vires ergangenen Urteils noch beseitigt werden könnte. Abhilfe könnten nämlich möglicherweise das Urteilsauslegungsverfahren nach Art. 34 EuGH-Satzung i. V. m. Art. 102 VerfO EuGH [aa)] oder auch das Verfahren zur Urteilsberichtigung aus Art. 66 § 1 VerfO EuGH [bb)] schaffen. Auch an eine Wiederaufnahme des Verfahrens gem. Art. 98 ff. VerfO EuGH kann gedacht werden [cc)]. Bei allen Verfahren stellt sich allerdings die Frage, in welchem Verhältnis sie zu Art. 65 VerfO EuGH stehen. aa) Das Auslegungsverfahren Nach Art. 34 EuGH-Satzung, Art. 102 VerfO EuGH kann der Gerichtshof auf Antrag einer Partei des Verfahrens oder eines Gemeinschaftsorgans ein Urteil auslegen, sofern Zweifel über Sinn und Tragweite desselben bestehen. Bereits in den Anfangsjahren seiner Rechtsprechung hat der EuGH dazu Stellung genommen, welche Teile des Urteils auslegungsfähig sind, und wo die Grenzen der Auslegungsbefugnis liegen.101 Im Wege einer teleologischen Auslegung kommt der Gerichtshof zu dem zustimmungswürdigen Ergebnis, dass „außer der Urteilsformel auch die das Urteil tragenden Entscheidungsgründe, nicht aber bloße obiter dicta ausgelegt werden“ kön101 Vgl. bereits EuGH, Urt. v. 28.6.1955, RS. 5/55 (ASSIDER/Hohe Behörde), Slg. 1954/1955, 275 ff.; aus jüngerer Zeit siehe EuGH, Urt. v. 19.1.1999; RS. C-245/95 P-INT (NSK u. a./Kommission), Slg. 1999, I-1 ff.; EuGH, Beschluss v. 20.4.1988, verb. RS. 146 u. 431/85 (Maindiaux u. a./WSA u. a.), Slg. 1988, 2003 ff.; EuGH, Beschluss v. 29.9.1983, RS. 9/81 (Rechnungshof/Williams), Slg. 1983, 2859 ff.

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nen.102 Rechtsfortbildungen, welche die Grenzen zweiter Stufe überscheiten, dürften allerdings fast immer zu den, den Tenor stützenden Urteilsgründen zu zählen sein, so dass sie als Auslegungsgegenstand in Betracht kommen. Fraglich ist jedoch, was unter „Auslegung“ eines Urteils i. S. d. Art. 34 EuGH-Satzung, Art. 102 VerfO EuGH zu verstehen ist, bzw. ob und inwieweit die Auslegung die Rechtskraft des ausgelegten Urteils berühren darf. Wie sich aus Art. 102 § 2 S. 2 EuGH VerfO ergibt, wird das auslegende Urteil mit dem ausgelegten verbunden, so dass mit der Auslegung jedenfalls eine Texterläuterung des ersten Urteils und damit auch eine andere Wortwahl einhergehen kann, ergäbe doch sonst die Verbindung der beiden Urteile wenig Sinn. Darf aber nach der Auslegung dem ausgelegten Urteil ein neuer Sinn beigemessen werden oder sperrt hier Rechtskraft aus Art. 65 VerfO EuGH eine solche Sinnveränderung? Nimmt man Art. 34 EuGH-Satzung, Art. 102 § 1 S. 1 VerfO EuGH wörtlich, so muss man davon ausgehen, dass die Auslegung nur der Erhellung von unverständlichen oder missverständlichen Urteilspassagen dienen soll.103 Hingegen kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Gerichtshof, durch die Auslegung seines Urteils, dieses nunmehr revidieren kann. Vielmehr spricht der Wortlaut der Art. 34 EuGH-Satzung; Art. 102 § 1 S. 1 VerfO EuGH dafür, dass lediglich Unklarheiten dadurch beseitigt werden können, dass dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften mit dem Auslegungsverfahren die Möglichkeit gegeben werden soll, auf Antrag unklare Argumente und Formulierungen präziser zu fassen und seine Rechtsauffassung zu verdeutlichen.104 Aber nicht nur der Wortsinn, sondern auch die Systematik spricht dafür, dass der EuGH im Verfahren nach Art. 34 EuGH-Satzung nicht berichtigend, sondern lediglich klarstellend tätig werden darf. Wäre nämlich auch eine inhaltliche Veränderung und nicht bloß eine Klarstellung des bestehenden Urteils mit dem Verfahren der Urteilsauslegung nach Art. 34 EuGHSatzung, Art. 102 VerfO EuGH beabsichtigt gewesen, so wäre die Einordnung dieses Verfahrens in den Dritten Titel, 6. Kapitel der Verfahrensord102

So EuGH, Urt. v. 28.6.1955, RS. 5/55 (ASSIDER/Hohe Behörde), Slg. 1954/1955, 275, 291 (4.). 103 So im Ergebnis ebenfalls, wenn auch ohne Angabe von Gründen EuGH, Urt. v. 19.1.1999, RS. C-245/95 P-INT (NSK u. a./Kommission), Slg. 1999, I-1, I-7 (Rn. 15); EuGH, Beschluss v. 20.4.1988 (Maindiaux u. a./WSA u. a.), Slg. 1988, 2003, 2005 (Rn. 5); EuGH, Urt. v. 13.7.1966, RS. 110/63a (A. Williams/Kommission), Slg. 1966, 619. 104 Vgl. EuGH, Urt. v. 19.1.1999, RS. C-245/95 P-INT (NSK u. a./Kommission), Slg. 1999, I-1, I-7 (Rn. 15). Ähnlich S. Hackspiel, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 27 Rn. 32.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

nung über die außerordentlichen Rechtsbehelfe sinnvoll gewesen. Die Tatsache, dass jedoch für das Auslegungsverfahren ein eigener Abschnitt in der Verfahrensordnung geschaffen wurde (Dritter Titel, 8. Kapitel) zeigt, dass die Aussagen des auszulegenden Urteils, anders als bei einem außerordentlichen Rechtsbehelf, nicht angetastet werden dürfen. Beachtet man Sinn und Zweck des Auslegungsverfahrens, so soll dieses dazu dienen, Unklarheiten im auszulegenden Urteil zu beseitigen, um zukünftigen Streit über die unklaren Urteilspassagen zu verhindern. Das Auslegungsverfahren hat damit die Funktion, zur Sicherung des durch das erste Urteil eigentlich geschaffenen Rechtsfriedens beizutragen. Damit unvereinbar erscheint mir allerdings eine Änderung des Urteilsinhalts, beeinträchtigte eine solche Korrekturmöglichkeit doch eher den Rechtsfrieden, als dass es ihm dienen würde. Denn die im anfänglichen Rechtsstreit unterlegene Partei wäre dann stets geneigt, über das Auslegungsverfahren ein ihr günstigeres Urteil zu erwirken. Folglich darf das Auslegungsverfahren nicht dazu führen, dass der Inhalt des Urteils, welches ausgelegt werden soll, abgeändert werden kann. Damit erhellt sich aber auch das Verhältnis von Art. 34 EuGH-Satzung; Art. 102 VerfO EuGH zu Art. 65 VerfO EuGH. Das Auslegungsverfahren stellt keine Durchbrechung der formellen oder materiellen Rechtskraft dar, welche durch Art. 65 VerfO EuGH festgeschrieben wird.105 Dieses Verbot der „autorité de la chose jugée“ wird insbesondere auch von der französischen und belgischen Judikatur und Doktrin für das jeweilige nationale Urteilsinterpretationsverfahren betont, so dass auch deshalb davon auszugehen ist, dass dieses auch für das Verfahrensrecht des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften gilt.106 Da eine Korrektur einer gem. Art. 65 VerfO EuGH in Rechtskraft erwachsenen Entscheidung durch das Auslegungsverfahren gem. Art. 34 EuGH-Satzung; Art. 102 VerfO EuGH somit ausscheidet, bietet dieses Verfahren auch keine Möglichkeit, eine Entscheidung, welche die Grenzen der Rechtsfortbildung zweiter Stufe übersteigt, also ultra vires i. w. S. ergangen ist, zu revidieren. Mit dem Auslegungsverfahren ist eine die Organkompetenzen verletzende Entscheidung des Gerichtshofs also nicht angreifbar.

105 Ebenso, dabei maßgeblich auf Art. 65 VerfO EuGH abstellend, F.-J. Degenhardt, S. 71. 106 Degenhardt, S. 73 mit zahlreichen Nachweisen zur französischen und belgischen Literatur. Zum deutschen Zivilprozessrecht, in dem es kein spezifisches Urteilsauslegungsverfahren gibt, stellt sich die Problematik aber im Rahmen der Rechtskrafterstreckung siehe Rosenberg/Schwab/Gottwald, S. 925 f., mit etlichen Hinweisen zur Rechtsprechung des BGH.

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bb) Das Verfahren der Urteilsberichtigung Nach Art. 66 § 1 EuGH VerfO kann der Gerichtshof – unbeschadet der Bestimmungen über die Auslegung von Urteilen – Schreibfehler, Rechenfehler und offenbare Unrichtigkeiten von Amts wegen oder auf Antrag einer Partei, der binnen zwei Wochen nach Urteilsverkündung zu stellen ist, berichtigen. Im Urteilsberichtigungsverfahren gem. Art. 66 § 1 VerfO EuGH kann inhaltliche Korrektur einer vom EuGH noch dazu beabsichtigten Rechtfortbildung allerdings nicht vorgenommen werden, handelt es sich bei der Rechtsfortbildung doch kaum um eine offensichtliche Unrichtigkeit des Urteils i. S. d. Art. 66 § 1 VerfO EuGH. cc) Wiederaufnahme des Verfahrens Von den wirklichen außerordentlichen Rechtsbehelfen, welche im Gemeinschaftsrecht vorgesehen sind, kommt für eine Korrektur einer Rechtsfortbildung contra pactum nur das Wiederaufnahmeverfahren gem. Art. 98 ff. VerfO EuGH in Betracht. Dieses ermöglicht nämlich eine Durchbrechung der durch Art. 65 VerfO EuGH postulierten Rechtskraft des ersten (rechtsfortbildenden) Urteils und eine Neubewertung der Rechtslage. Dazu müsste es sich allerdings bei der vorgenommenen Rechtsfortbildung um eine Tatsache i. S. d. Art. 98 VerfO EuGH handeln. Zwar wird der Begriff der Tatsache weit verstanden,107 jedoch umfasst er keinesfalls rechtliche Bewertungen.108 Rechtliche Ausführungen können schon deshalb nicht unter den Begriff der Tatsache i. S. Art. 98 VerfO EuGH subsumiert werden, weil damit ein allgemeines Rechtsmittel zur Verfügung stünde. Ein solches kann es aber nicht geben, da damit die Rechtsfrieden stiftende Funktion eines EuGH-Urteils vollständig eliminiert würde. Somit kann die grenzüberschreitende Rechtsfortbildung durch den EuGH auch nicht im Wege des Wiederausgreifens des Verfahrens nach Art. 98 ff. VerfO EuGH korrigiert werden.

107 So werden unter Tatsachen nicht nur vergangene Verhältnisse, Zustände und Geschehnisse, die dem Beweise zugänglich sind, verstanden, sondern der EuGH fasst hierunter etwa auch das Auffinden neuer Beweismittel, vgl. EuGH, Urt. v. 21.1.1971 (Mandelli/Kommission), RS. 56/70, Slg. 1971, S. 1 ff., wo die Wiederaufnahme wohl nur daran scheitert, dass die vorgebrachte Tatsache nicht neu war. 108 Erachtet man die Beweiszugänglichkeit zumindest in einem gewissen Rahmen als Kriterium einer Tatsache, so kann eine rechtliche Bewertung keine Tatsache sein.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

dd) Zwischenergebnis Weder durch die Verfahren der Urteilsauslegung bzw. Urteilsberichtigung, noch durch den außerordentlichen Rechtsbehelf des Wiederaufgreifens des Verfahrens ist eine Korrektur eines die Grenzen der Rechtsfortbildung zweiter Stufe übersteigenden Urteils des EuGH möglich. Insofern steht dem Gerichtshof mit der Befugnis zur Rechtsfortbildung und dem Letztentscheidungsrecht im Bereich der Organkompetenz wenn auch nicht das Recht, so doch die Macht zu, die ihm gezogenen Rechtsfortbildungsgrenzen zweiter Stufe zu überschreiten.109 Insoweit übersteigt das rechtliche Können des Gerichtshofs sein rechtliches Dürfen.110 Der EuGH kann zwar rechtsirrig entscheiden, aber er irrt rechtskräftig.111 Das Risiko eines nicht mehr zu korrigierenden Fehlurteils liegt in der Natur eines letztentscheidenden Gerichts und wird mithin auch in Kauf genommen.112 Eine Korrektur einer solchen Entscheidung kann nur dadurch bewirkt werden, dass die Kompetenzverteilung im lückenhaften Bereich durch die Mitgliedstaaten klargestellt wird oder versucht wird, in späteren, ähnlich gelagerten Fällen, durch die anderen Organe den Gerichtshof von seiner Rechtsfortbildung wieder abzubringen.

III. Heilung grenzüberschreitender Rechtsfortbildung? Zuletzt stellt sich noch die Frage, was geschieht, wenn der EuGH eine Rechtsfortbildung contra pactum stets weiter betreibt, und diese im Falle von Grenzverletzungen erster Stufe nicht von den nationalen Verfassungsgerichten als für den jeweiligen Mitgliedstaat unverbindlich erklärt werden, bzw. bei Überschreitung der durch die Verbandskompetenz gezogenen Grenzen zweiter Stufe vom EuGH selbst aufgegeben oder von den Mitgliedstaaten korrigiert wird. Erstarkt dann die gemeinschafsrechtliche Rechtsfortbildung, obwohl contra pactum geschaffen, zu Gewohnheitsrecht und derogiert damit die entgegenstehenden vertraglichen Regelungen, die einer solchen Rechtsfortbildung ursprünglich Grenzen gezogen haben (1.)? Oder wird die Rechtsfortbildung contra pactum auf anderem 109 Insoweit wäre Huber, AöR 116 (1991), 210, 219 zuzustimmen, dass die Übertragung der Rechsprechungsaufgabe an den EuGH durch die Art. 220 ff. EGV faktisch auch die „Kompetenz“ zu Fehlurteilen impliziere und zwar in dem Sinne, dass seine Jurisdiktionsgewalt grundsätzlich nicht mit der Begründung in Frage gestellt werden könne, er habe die Bestimmungen des EGV falsch ausgelegt. 110 So auch Huber, AöR 116 (1991), 210, 219. 111 Ähnlich Hirsch, NJW 1996, 2457, 2466. 112 So auch Hirsch, NJW 1996, 2457, 2466.

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Wege geheilt, ohne dass sie die Qualität von Gewohnheitsrecht erreicht haben muss (2.)? Soweit allerdings eine Heilungsmöglichkeit gänzlich ausgeschlossen werden sollte, wäre weiterhin von der Unwirksamkeit und Nichtigkeit einer kompetenzwidrigen Rechtsfortbildung auszugehen, auch wenn es, wie bei der Verletzung der Rechtsfortbildungsgrenzen zweiter Stufe, kein Verfahren gibt, diese rechtswirksam festzustellen. 1. Heilung kompetenzwidriger Rechtsfortbildung durch Erstarken zu Gewohnheitsrecht Möglicherweise könnte eine schon lange bestehende, die Grenzen der Rechtsfortbildung übersteigende Judikatur, wie etwa die Rechtsprechung zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien, die eigentlich, da kompetenzwidrig geschaffen, nichtig sein müsste, dadurch geheilt worden sein, dass sie allgemein akzeptiert worden ist und damit zu Gewohnheitsrecht erstarkt ist. a) Existenz und Voraussetzungen von Gewohnheitsrecht im europäischen Gemeinschaftsrecht Eine ausdrückliche Aussage über die Existenz von Gewohnheitsrecht und dessen etwaigen Voraussetzungen lässt sich dem europäischen Gemeinschaftsrecht nicht entnehmen. Auch der EuGH hat, soweit ersichtlich, Gewohnheitsrecht im Gemeinschaftsrecht noch nicht ausdrücklich anerkannt, auch wenn es gewisse Ansätze hierfür gibt.113 So wird denn auch diskutiert, ob es auf Ebene der europäischen Gemeinschaften überhaupt ein Gewohnheitsrecht geben kann. Ostertun setzt sich in seiner umfassenden Untersuchung zum europäischen Gewohnheitsrecht ausführlich mit den Bedenken auseinander.114 Diese werden aus dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und einem daraus resultierenden begrenzten Kanon der Handlungsformen, gegen ein europäisches Gewohnheitsrecht erhoben. Danach soll die Herausbildung von Gewohnheitsrecht aufgrund der beschränkten Anzahl an möglichen Handlungsformen in den Europäischen Gemeinschaften ausgeschlossen sein.115 113 So kann man möglicherweise im ständigen Verweis auf die frühere Rechtsprechung durch den Gerichtshof einen ersten Ansatz des Entstehens von Gewohnheitsrecht erblicken. 114 D. Ostertun, S. 94. 115 Bleckmann, EuR 1981, 101 ff.

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Ostertun weist diese Argumentation jedoch zurück. Mit Recht stellt er fest, die Gemeinschaftsverträge seien dem ungeregelten Gewohnheitsrecht gegenüber „indifferent und offen“.116 Für eine Existenz des Gewohnheitsrechts auch im europäischen Gemeinschaftsrecht spricht, dass sowohl in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen wie auch im Völkerrecht das Gewohnheitsrecht eine anerkannte Rechtsquelle bildet.117 Für das Völkerrecht lässt sich dieses sogar ausdrücklich aus Art. 38 Abs. 1 lit. c) IGH-Statut ablesen. Somit ist auch davon auszugehen, dass das Gewohnheitsrecht auch auf Ebene der Europäischen Gemeinschaften neben dem geschriebenen Recht seinen Platz hat.118 Fraglich ist allerdings, inwieweit auch die Anforderungen an die Entstehung von Gewohnheitsrecht aus dem nationalen bzw. dem Völkerrecht auf das Gemeinschaftsrecht übertragen werden können und inwiefern sie angepasst werden müssen.119 Sowohl in der deutschen Lehre vom Gewohnheitsrecht wie auch in der französischen Doktrin der coûtume, wird für die Qualifizierung als Recht und nicht bloß als letztlich unverbindlicher Brauch, zweierlei verlangt. Zum einen muss es sich um ein in ständiger Übung gepflegtes Verhalten handeln, zum andern muss dieses Verhalten von der allgemeinen Rechtsüberzeugung der Betroffenen getragen sein.120 Gewohnheitsrecht entsteht also bei einem über einen längeren Zeitraum im Glauben an dessen Rechtsqualität geübten Verhalten.121 Im Völkerrecht gelten diese Anforderungen, wie sich aus Art. 38 Abs. 1 lit. c) IGH-Statut unschwer ablesen lässt, ebenso,122 wobei 116

Neben Ostertun, S. 95 ff. geht hiervon neben anderen auch Bleckmann, EuR 1981, 101 ff. 117 Zum nationalen Recht siehe etwa Canaris, Systemdenken, S. 67; Larenz, Methodenlehre, S. 433; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 213 ff.; J. Dabin, p. 31 ff.; F. Terré, Rn. 306 ff.; F. Chabas, p. 151 ff. 118 So auch Bleckmann, EuR 1981, 101, 104. 119 Von der Notwendigkeit einer Modifizierung ist etwa Bleckmann, EuR 1981, 101, 108 ff. überzeugt. 120 Man kann hier durchaus auch die üblichen lateinischen Bezeichnungen von longa consuetudo und opinio iuris necessitatis verwenden. Speziell zu diesen Voraussetzungen in Bezug auf das Europarecht Ostertun, S. 83 ff. 121 Vgl. Chabas, p. 151 f.; Dabin, p. 31; Terré, Rn. 309–311; Schmidt, NVwZ 2004, 930; v. d. Pfordten spricht in seiner Rechtsethik, S. 205, gleichbedeutend von diuturnus usus, statt von longa consuetudo. 122 Vgl. etwa IGH, ICJ Rep. 1969, p. 3, 44: „Not only must the acts amount to a settled practice, but they must also be such [. . .] as to be the evidence of a belief that this practice is rendered obligatory by the existence of a rule of law, requiring it.“ Siehe auch Doehring, Völkerrecht, Rn. 285 ff.; R. Berhardt, Costumary International Law, EPIL, Bd. I, 1992, S. 899 f.; Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 16, Rn. 4 ff.; A. Verdross, ZaöRV 1969, 635 ff.

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allerdings das Merkmal der ständigen Übung, wie bereits schon früher betont, in Fluss geraten ist und man nunmehr die Figur des instant costumary law diskutiert.123 Dabei soll ein einziger Fall genügen, um Völkergewohnheitsrecht zu begründen.124 Da hiermit jedoch das Element der ständigen Übung gänzlich eliminiert wird, ist dieser Ansatz abzulehnen. Bleckmann125 weist auf die Vorteile hin, die es mit sich brächte, ließe man einer ständigen Rechtsprechung die Qualität von Gewohnheitsrecht zukommen. So führt er an, dass durch die Verfestigung einer ständigen Auslegungspraxis zu Gewohnheitsrecht die Gefahr gebannt werde, dass die meist nur nach mühevollen Kompromissen erreichte Einigkeit in der Auslegung des Gemeinschaftsrechts bei einer ständigen Erweiterung der EG durch die neuen Mitgliedstaaten, immer wieder in Frage gestellt werde, da die neuen Mitglieder an dieses Richterrecht dann als Teil des acquis communautaire gebunden wären.126 Wie bei der Erweiterung des Kreises der Völkerrechtssubjekte auf der universellen Ebene die neuen Staaten an das bisherige Völkerrecht gebunden seien, müssten die neuen Mitgliedstaaten auch das Gewohnheitsrecht der EG gegen sich gelten lassen.127 Dieses entspräche dem immer weiter fortschreitenden Integrationsprozess, da sich auch die bisherigen Mitglieder nicht ohne weiteres vom bisher erreichten Integrationsstand lossagen könnten.128 Auch deshalb wird man das Bestehen von Gewohnheitsrecht mit den Gemeinschaftsverträgen für vereinbar ansehen müssen. Für das Gemeinschaftsrecht wird man davon ausgehen dürfen, dass für seine Entstehung jene beiden Voraussetzungen vorliegen müssen.129 Zum einen muss also, bezogen auf die Rechtsfortbildung durch den EuGH, die Rechtsfortbildung bereits über einen längeren Zeitraum bestehen, es sich also um ständige Rechtsprechung handeln, zum anderen muss diese Rechtsfortbildung von der allgemeinen Rechtsüberzeugung der betroffenen Rechtskreise getragen sein. Das Vorliegen von longa consuetudo und opinio iuris kann man konkret nur für jeden Einzelfall feststellen, dennoch soll hier zumindest noch präzi123 Siehe Fink, FS Schiedermair, S. 803 ff.; darstellend Doehring, Völkerrecht, Rn. 288 ff. m. w. N. So soll das instant costumary law etwa im Weltraumrecht gelten. 124 Kritisch etwa Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 16 Rn. 4, 12; Doehring, Völkerrecht, Rn. 289; ablehnend auch Schmidt, NVwZ 2004, 930, 931. 125 Bleckmann, EuR 1981, 101, 102 f. 126 Vgl. Bleckmann, EuR 1981, 101, 102 f. 127 So zu Recht Bleckmann, EuR 1981, 101, 102 f. 128 Überzeugend Bleckmann, EuR 1981, 101, 103. 129 Im Ergebnis ebenso Ostertun, S. 83 ff., wenn auch ohne nähere Begründung.

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siert werden, ab wann man von einer ständigen Übung ausgehen kann und auf wessen Rechtsüberzeugung es für die Entstehung von Gewohnheitsrecht im Gemeinschaftsrecht ankommt. In der rechtswissenschaftlichen Diskussion bewegen sich die Zeiträume von praktisch null beim instant costumary law130 bis zu sehr langen Zeiträumen von 40 Jahren131, wie sie teilweise im nationalen Recht gefordert werden. Welcher Zeitrahmen ist nun auf Ebene des europäischen Gemeinschaftsrechts für sinnvoll zu erachten, damit Gewohnheitsrecht entstehen kann? Angesichts der Tatsache, dass das EG-Recht eine relativ junge Rechtsordnung ist, sollte der Zeitraum nicht übermäßig lang sein, jedoch muss dennoch durch eine Zeitdauer gewährleistet sein, dass nicht zu rasch von gewohnheitsrechtlicher Geltung einer bestimmten richterlichen Rechtsschöpfung ausgegangen werden kann. Der Feststellbarkeit einer gesicherten Rechtspraxis dürfte ausreichend Rechung getragen sein, wenn diese über etwa 25 Jahre konstant eingehalten wurde.132 Hinsichtlich des zweiten Entstehungserfordernisses von Gewohnheitsrecht, der opinio iuris communitatis, ist zu klären, auf wessen allgemeine Rechtsüberzeugung es ankommt. Sicher erscheint mir, dass die Organe der EG die Rechtsüberzeugung mittragen müssen. Aber auch eine Gewohnheitsrechtsbildung durch die Gemeinschaftsorgane gegen oder ohne den Willen der Mitgliedstaaten ist ausgeschlossen, käme dies doch letztlich einer Ermächtigung der Organe zur Vertragsänderung gleich.133 Für das Primärrecht kann dabei darauf verwiesen werden, dass der Art. 48 EUV für die Vertragsänderung ebenfalls eine Beteiligung der Gemeinschaftsorgane wie auch der Mitgliedstaaten vorsieht. Folgendes kann also festgehalten werden: Auch im Recht der Europäischen Gemeinschaften kann Gewohnheitsrecht existieren, dessen Voraussetzungen ebenso wie im nationalen Recht ständige Übung und allgemeine Rechtsüberzeugung sind. Für die ständige Übung wird hier ein Zeitraum von 25 Jahren vorgeschlagen, wobei es auf die opinio iuris der Gemeinschaftsorgane wie auch der Mitgliedstaaten ankommt.

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Dazu bereits oben, vgl. auch Doehring, Völkerrecht, Rn. 288 f. Dafür plädiert Friauf, Evang. Staatslexikon I (3. Aufl.), Sp. 1152. 132 Für einen solchen Zeitraum („20–30 Jahre“) spricht sich für das nationale Recht auch Schmalz, Rn. 44 aus. 133 Für eine Beteiligung von Staaten und Organen bei höher organisierten Internationalen Organisationen spricht sich auch Oppermann, Europarecht, § 6 Rn. 18 aus. Dies lässt sich im Europäischen Gemeinschaftsrecht in Anlehnung an Art. 48 EUV, welcher eine gewisse Beteiligung der Organe beim Vertragsänderungsverfahren vorsieht, rechtfertigen. 131

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b) Bedenken gegen die Heilung grenzüberschreitender Rechtsfortbildung durch Erstarken zu Gewohnheitsrecht Trotz der grundsätzlichen Anerkennung des Gewohnheitsrechts auch im Europarecht, bestehen dennoch gewisse Bedenken gegen die Heilung der grenzüberschreitenden richterlichen Rechtsfortbildung. Da es sich um eine Rechtsfortbildung contra pactum handelt, ergibt sich zunächst das Problem, ob es ein die Verträge bzw. genauer einzelne Bestimmungen derselben derogierendes Gewohnheitsrecht geben kann oder ob eine solche Derogation im Gemeinschaftsrecht ausgeschlossen ist. Eine explizite Regelung hierüber findet sich in den Gemeinschaftsverträgen nicht. Da es sich aber bei der Rechtsfortbildung, welche die ihr gezogenen Grenzen verletzt, nicht bloß um einen vertragsergänzenden Vorgang – also um Rechtsfortbildung praeter pactum – geht, der gegebenenfalls zu einem vertragsergänzenden Gewohnheitsrecht führen kann,134 sondern sich diese Rechtsfortbildung als ein vertragsänderndes Gewohnheitsrecht darstellen würde, tut sich die Frage auf, ob hier nicht der Art. 48 EUV das Entstehen von Gewohnheitsrecht ausschließt bzw. ob eine gewohnheitsrechtliche Derogation des primären Gemeinschaftsrechts überhaupt möglich ist. Sollte mit Art. 48 EUV eine abschließende Regelung zur Vertragsänderung getroffen worden sein, welche auch die Entstehung von vertragsderogierendem Gewohnheitsrecht sperrt, so kann auch keine Heilung der vertragsübersteigenden Rechtsfortbildung durch Erstarken zu Gewohnheitsrecht erfolgen. Zunächst soll ein kurzer Blick auf die nationale Rechtslehre und das Völkerrecht Aufschluss darüber geben, inwieweit derogierendes Gewohnheitsrecht anerkannt ist. aa) Deutschland In Deutschland lassen sich zur Frage nach der gesetzesderogierenden Kraft des Gewohnheitsrechts zwei Ansichten ausmachen. So führt etwa Larenz, der ein gesetzesderogierendes Gewohnheitsrecht für möglich erachtet, aus: „Ist erst einmal ein Gewohnheitsrecht entstanden, dann kommt es auch nicht mehr darauf an, ob die Rechtsprechung, aus der es hervorgegangen ist, ursprünglich mit dem gesetzlichen Recht nicht zu vereinbaren war; es genügt, daß das nun 134

Als Fälle des vertragsergänzenden Gewohnheitsrechts werden etwa die Möglichkeit der Vertretung der Mitgliedstaaten durch Staatssekretäre (Erweiterung von Art. 203 EGV), die Anerkennung eines Interpellationsrechts des Europäischen Parlaments gegenüber dem Rat und die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien genannt, vgl. Oppermann, Europarecht, § 6 Rn. 18.

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entstandene Gewohnheitsrecht der Verfassung oder anderen, vorrangigen Rechtsprinzipien nicht widerspricht.“135

Aus der zitierten Passage wird sehr deutlich, dass Larenz dem Gewohnheitsrecht gesetzesderogierende Kraft beimisst und davon ausgeht, dass eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung durch dieses letztlich zu Recht werden kann, also gewissermaßen geheilt wird. Aber selbst Kelsen anerkennt in seiner Reinen Rechtslehre die gesetzesderogierende Wirkung des Gewohnheitsrechts.136 Dabei sollen Gesetzes- und Gewohnheitsrecht einander nach dem Grundsatz der lex posterior derogieren.137 Kelsen geht sogar davon aus, dass ein Verfassungsgesetz, das die Anwendung von Gewohnheitsrecht ausdrücklich ausschließt, derogiert werden kann, da er den Geltungsgrund für das Gewohnheitsrecht auf der Ebene der Grundnorm verankert sieht.138 Insgesamt lässt sich feststellen, dass in der deutschen Literatur hinsichtlich des einfachen Gesetzesrechts, die überwiegende Ansicht auf dem Standpunkt steht, dass derogierendes Gewohnheitsrecht möglich ist. Damit kann es eine Rechtsfortbildung contra legem heilen. Demgegenüber lehnt die herrschende Lehre in der deutschen Diskussion die Derogation von Verfassungsrecht ab.139 Diese Ablehnung von verfassungsderogierendem Gewohnheitsrecht wird überzeugend mit dem Erfordernis der Wortlautänderung in Art. 79 Abs. 1 GG begründet. bb) Frankreich In Frankreich herrscht in der Lehre ebenfalls Streit darüber, ob Gesetzesrecht von einem gegenläufigen Gewohnheitsrecht derogiert werden kann. Die dies befürwortende Position, welche etwa von Chabas140 vertreten wird, beruft sich hierfür auf eine Äußerung von Portalis141, einem der Väter des Code civil, welcher ausgeführt hat: „Les lois conservent leur effet tant qu’elles ne sont point abrogés par d’autres lois ou qu’elles ne sont pas tombées en désuétude. Si nous n’avons pas formellement autorisé la mode d’abrogation par désuétude, c’est parce que cela aurait été dan135

So Larenz, Methodenlehre, S. 433. Ausdrücklich Kelsen, S. 233. 137 Siehe Kelsen, S. 233. 138 Kelsen, S. 229, 233. 139 Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, S. 72 ff., 132 ff., 144 ff., mit dem zutreffenden Argument, das Erfordernis der Wortlautänderung in Art. 79 Abs. 1 GG schließe die Entstehung von Gewohnheitsrecht aus; ähnlich ist wohl auch T. Schilling, Rang und Geltung, S. 172 f. zu verstehen. 140 Chabas, p. 153 ff. 141 Zitiert nach Chabas, p. 154. 136

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gereux à faire [. . .] Mais peut-on se dissimuler le pouvoir de cette sorte d’abrogation, l’influence et l’utilité de ce concert indélibéré, de cette puissance invisible, par laquelle, sans secousse et sans commotion, les peuples se font justice des mauvaises lois, et qui semble protéger la société contre les mauvaises lois, et le législateur contre lui-même?“142

Die Gegenansicht, welche ein gesetzesderogierendes Gewohnheitsrecht ablehnt, betont, dass ein Brauch, welcher sich entgegen der geltenden Gesetzeslage entwickele, ein permanenter Rechtsbruch sei.143 Auch die Tatsache, dass dieses Verhalten über eine lange Zeit geübt werde und in den maßgeblichen Rechtskreisen die opinio iuris diesbezüglich entstehe, könne hieran nichts ändern.144 Für das hier im Ergebnis zu untersuchende Problem der Möglichkeit von Gewohnheitsrecht contra pactum im Europarecht, scheint mir noch das folgende Argument gegen gesetzesderogierendes Gewohnheitsrecht von besonderem Interesse. Dabin145 wirft nämlich die Frage auf, in welchem Umfang die Organe der Staatsgewalt die Freiheit besitzen, das Recht, an welches sie gebunden sind, außer Acht zu lassen. Die Antwort auf diese Frage, so Dabin, ergebe sich aus der jeweiligen Verfassungsordnung.146 Damit streicht diese Ansicht einen ganz zentralen Gesichtspunkt gegen eine Heilung grenzüberschreitender Rechtsfortbildung durch derogierendes Gewohnheitsrecht heraus, nämlich die Bindung der Judikative und der Exekutive an Gesetz und Recht. cc) Völkerrecht Im Völkerrecht kann die Problematik des derogierenden Gewohnheitsrechts lediglich bei völkerrechtlichen Verträgen auftauchen. Dass das Völ142

Die deutsche Übersetzung dieser Stelle lautet: „Die Gesetze behalten ihre Wirkung solange sie nicht durch andere Gesetze geändert werden oder nicht deren ständige Nicht-Übung eingetreten ist. Dass wir die Form der Gesetzesänderung durch ständige Nicht-Übung nicht formell erlaubt haben liegt daran, dass es gefährlich gewesen wäre, dieses zu tun. Aber kann man sich über die Kraft einer solchen Änderung, den Einfluss und die Nützlichkeit dieses ungeordneten Konzerts, diese unsichtbare Kraft, durch die die Völker ohne Aufstand und Aufruhr über schlechte Gesetze richten und die die Gesellschaft gegen schlechte Gesetze und den Gesetzgeber gegen sich selbst schützt, freimachen?“ 143 So Dabin, p. 39, der nicht ganz zu Unrecht daruf hinweist, die Anerkennung derogierenden Gewohnheitsrechts käme einer „prime officielle à la désobéissance“ gleich, also einer Prämie auf den Ungehorsam. Ablehnend gegenüber derogierendem Gewohnheitsrecht zeigt sich auch Terré, Rn. 316. 144 Dabin, p. 39; zweifelnd auch Terré, Rn. 316, zumindest insoweit der ordre public betroffen ist. 145 Vgl. Dabin, p. 39. 146 Dabin, p. 40.

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kergewohnheitsrecht durch eine gegenläufige Übung (desuetudo) außer Kraft gesetzt werden kann, ist dagegen unbestritten.147 Die Frage, ob Vertragsrecht durch gegenläufiges Gewohnheitsrecht derogiert werden kann, gestaltet sich im Völkerrecht etwas schwierig. Allerdings wird ein Fall eines vertragsändernden Gewohnheitsrechts diskutiert, nämlich im Zusammenhang mit dem Stimmverhalten der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates. Art. 27 Abs. 3 UNO-Charta verlangt hier eine ausdrückliche Zustimmung („affirmative vote“), dennoch ist in der ständigen Praxis des Sicherheitsrates die Enthaltung eines ständigen Mitgliedes nicht als Veto anzusehen. Insoweit kann man von vertragsderogierendem Gewohnheitsrecht ausgehen.148 Ändert sich hingegen einfach die Praxis zwischen Vertragspartnern eines bi- oder multilateralen Vertrages, so liegt es näher, von einer stillschweigenden Aufhebung des Vertrages auszugehen, als dessen gewohnheitsrechtliche Derogation anzunehmen. Dennoch wird im Schrifttum149, wie auch in der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs150 die Möglichkeit von vertragsderogierendem Gewohnheitsrecht grundsätzlich anerkannt. Bedeutsam scheint mir allerdings – gerade im hier untersuchten Zusammenhang – eines zu sein: Doehring betont nämlich, dass Internationale Gerichte Gewohnheitsrecht allein durch ihre Rechtspraxis und ihre Rechtsprechung nicht begründen könnten, da nur die Völkerrechtssubjekte (also Staaten, Internationale Organisationen und gewisse Sonderfälle wie der Heilige Stuhl) eine Praxis entwickeln könnten, die Gewohnheitsrecht begründen könne.151 Die Internationalen Gerichte sind folglich nicht Teil der für eine Begründung von Gewohnheitsrecht maßgeblichen Rechtsgemeinschaft. Diese besteht nämlich nur aus Völkerrechtssubjekten. Dies hat dann aber auch für den EuGH zu gelten.

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Vgl. nur Doehring, Völkerrecht, Rn. 285, der jedoch unabänderliche Normen, praktisch zwingendes Recht, erwägt. Als solches sollen etwa das Verbot des Angriffskrieges und das Verbot unmenschlicher Behandlung gelten, vgl. a. a. O. Rn. 300. Siehe auch Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 16 Rn. 41 f., 48. 148 Zu diesem Beispiel Doehring, Völkerrecht, Rn. 307; s. auch B. Simma/ S. Brunner, Rn. 46 ff., 62 ff. 149 Doehring, Völkerrecht, Rn. 303; Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 15 Rn. 112, § 16 Rn. 48; Capotorti, Corso di diritto internazionale, p. 516 f. 150 IGH, Gutachten im Namibia-Fall, ICJ Reports 1971, p. 16 ff. 22. 151 Zu Recht Doehring, FS 600 Jahre Heidelberg, S. 541 ff.; ders. Völkerrecht, Rn. 311, wo er diese Äußerungen ausdrücklich (auch) auf den EuGH bezieht.

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dd) Europäische Gemeinschaften Nach diesem kurzen Überblick, inwieweit derogierendes Gewohnheitsrecht besteht, stellt sich nunmehr die Frage, ob ein vertragsänderndes Gewohnheitsrecht im europäischen Gemeinschaftsrecht anzuerkennen wäre. Sofern dies bejaht wird, könnte man nämlich von einer Heilung der ultra vires ergangenen grenzüberschreitenden Rechtsfortbildung ausgehen. Betrachtet man die Gemeinschaftsverträge und den Unionsvertrag, so könnte einem vertragsderogierenden Gewohnheitsrecht der Art. 48 EUV entgegenstehen. Sollte diese Bestimmung nämlich dahingehend zu verstehen sein, dass die Gemeinschaftsverträge ausschließlich in dem dafür vorgesehenen Verfahren geändert werden können, so wäre eine formlose Änderung der Verträge durch stillschweigende Akzeptanz der grenzüberschreitenden Rechtsfortbildung durch die Mitgliedstaaten sowie der nach Art. 48 EUV beteiligten Organe ausgeschlossen. Eine solche Akzeptanz könnte man darin manifestiert sehen, dass die Vertragswidrigkeit einer solchen Rechtsfortbildung im Zuge der großen Vertragsrevisionen nicht deutlich gemacht wurde. Ob neben dem in Art. 48 EUV vorgesehenen Änderungsverfahren allerdings noch ein solches allgemeines, formloses, völkerrechtliches Änderungsverfahren möglich sein soll, ist umstritten. (1) Völkerrechtliche Position Eine mehr völkerrechtlich orientierte Position erachtet ein Abweichen der Mitgliedstaaten von der Formvorschrift des Art. 48 EUV für möglich.152 Sie beruft sich dafür auf den im Völkerrecht geltenden Grundsatz, dass Verträge, selbst wenn sie eine Formvorschrift vorsehen, dennoch formlos von den Vertragsparteien geändert werden können.153 Demnach sei eine Änderung von Gründungsverträgen internationaler Organisationen durch die nachfolgende Übung auch in Abweichung von speziellen vertraglichen Änderungsvorschriften möglich, sofern alle Beteiligten – was bei höher entwickelten internationalen Organisationen die Organe der Organisation mit einschließe – konkludent zustimmten.154 152

So noch Wohlfahrt, in: ders./Everling/Glaesner/Sprung, Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft – Kommentar zum Vertrag (1960), Art. 236 EWG-Vertrag, Rn. 2; Shermers/Blokker, International Institutional Law, Rn. 51136; Karl, S. 81. 153 Wohlfahrt, in: ders./Everling/Glaesner/Sprung, Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft – Kommentar zum Vertrag (1960), Art. 236 EWG-Vertrag, Rn. 2; allgemein zu dieser Regel Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 505 (§§ 792 ff.). 154 Karl, S. 81, 95.

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Demnach wäre eine Abänderung der Gemeinschaftsverträge außerhalb des Verfahrens nach Art. 48 EUV möglich, weshalb eine völkergewohnheitsrechtliche Geltung der grenzüberschreitenden richterlichen Rechtsfortbildung in Betracht käme. Dadurch würde dieser dann aber der Makel der Vertragswidrigkeit und damit der Nichtigkeit genommen, man könnte dann insofern von einer Heilung sprechen. (2) Gemeinschaftsrechtliche Position Die überwiegende Ansicht in der Literatur155 wie auch der EuGH156 stehen hingegen auf dem Standpunkt, bei Art. 48 EUV handele es sich um eine zwingende Vorschrift. Danach können die Verträge ausschließlich im Verfahren nach Art. 48 EUV geändert werden.157 Zur Begründung werden hier vor allem gemeinschaftsrechtliche, aber auch völkerrechtliche Argumente vorgebracht. Verwiesen wird etwa auf Art. 40 Abs. 1 WVRK, welcher als lex specialis Art. 39 WVRK verdränge und wonach sich das Verfahren zur Änderung von Gründungsverträgen internationaler Organisationen (ausschließlich) nach den in solchen Verträgen enthaltenen besonderen Vorschriften richte. Folglich hätten sich die Mitgliedstaaten selbst völkerrechtlich verpflichtet, den EU-Vertrag und die Gemeinschaftsverträge nur im Verfahren nach Art. 48 EUV zu ändern.158 Aber auch stärker auf die Eigenständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung pochende Argumente werden vorgebracht: Die formlose, von Art. 48 EUV abweichende Vertragsänderung sei deshalb ausgeschlossen, da sich das Gemeinschaftsrecht – wenn auch auf völkerrechtlicher Grundlage – soweit verdichtet und verselbständigt habe, dass für die Anwendung der allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätze kein Raum mehr sei.159 Legt man diese Ansicht zugrunde, so kann ein vertragsderogierendes Gewohnheitsrecht im Bereich des europäischen Gemeinschaftsrechts nicht ent155 So etwa Everling, FS Bernhardt, S. 1161, 1169; ders. FS Mosler, 173, 185; R. Bernhardt, FS Kutscher, S. 17, 21; Louis, CDE 1980, 553, 556 ff.; Schwarze, EuR 1983, 1, 14; Jacot-Guillarmod, p. 11. 156 EuGH, Urt. v. 8.4.1976, RS. 43/75 (Defrenne I), Slg. 1976, 455, 478: „Änderungen des Vertrages sind [. . .] nur im Wege des Vertragsänderungsverfahrens nach Art. 236 möglich.“ 157 Allerdings könnten die Mitgliedstaaten den Art. 48 EUV ändern, vgl. Meng, in: v. d. Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. N EUV Rn. 31; Everling, FS Mosler, S. 173, 178 ff.; Jacot-Guillarmod, p. 12. 158 Meng in: v. d. Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. N EUV Rn. 31; Everling, FS Mosler, S. 173, 178 ff. 159 Zum Verhältnis von allgemeinem Völkerrecht zum Gemeinschaftsrecht siehe insbesondere Schwarze, EuR 1983, 1 ff., insbes. 14; vgl. auch Bernhardt, FS Bindschedler, 229, 231 ff.

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stehen. Vielmehr haben die Mitgliedstaaten seiner Entstehung durch die zwingende Formvorschrift des Art. 48 EUV von vorneherein widersprochen. Dann kommt aber auch eine Heilung der vertragswidrigen, grenzüberschreitenden Rechtsfortbildung nicht in Frage. Eine Heilung einer solchen Rechtsfortbildung contra pactum wäre dann lediglich im Wege des Vertragsänderungsverfahrens gem. Art. 48 EUV möglich. Soweit die Aufnahme der vertragswidrigen Rechtsfortbildung – wie etwa bei der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien160, der Erasmus-Entscheidung161, der Außenkompetenz der Europäischen Gemeinschaft im AETR-Urteil162 und der Strafrechtskompetenz der Gemeinschaft für Umweltdelikte163 – nicht erfolgt ist, handelt es sich noch stets um eine grenzübersteigende und damit grundsätzlich nichtige Rechtsfortbildung des EuGH. (3) Differenzierende Ansicht Eine dritte Ansicht differenziert hinsichtlich der Rechtswirkungen des Art. 48 EUV zwischen der völkerrechtlichen und der gemeinschaftsrechtlichen Ebene.164 Völkerrechtlich könne es den Mitgliedstaaten nicht versagt werden, auch außerhalb des Verfahrens gem. Art. 48 EUV, die Verträge abzuändern.165 Einer solchen völkerrechtlichen Abmachung müsste jedoch innergemeinschaftlich die Wirksamkeit versagt werden.166 Die Mitgliedstaaten würden durch die Missachtung des Verfahrens gem. Art. 48 EUV nämlich gemeinschaftsrechtswidrig handeln, da sie sich verpflichtet hätten, die Verträge nur im Verfahren nach Art. 48 EUV abzuändern. Man könnte also 160

Vgl. nur EuGH, Urt. v. 4.12.1974, RS. 41/74 (van Duyn/Home Office), Slg. 1974, 1337, 1348 (Rn. 12). 161 EuGH, Urt. v. 30.5.1989, RS. 242/87 (Erasmus), Slg. 1989, 1425 ff. 162 Siehe EuGH, Urt. v. 31.3.1971, RS. 22/70 (Kommission/Rat – „AETR“), Slg. 1971, 263, 274 ff. (Rn. 6/8 ff.). Grundsätzlich kritisch, wenn auch nicht ablehnend, zum AETR-Urteil auch C. Sasse, EuR 1971, 208 ff. 163 EuGH, Urt. v. 13.9.2005, RS. C-176/03 (Kommission u. a./Parlament u. a.), EuZW 2005, 632 ff. 164 So etwa Koenig/Pechstein, EuR 1998, 130, 138 ff.; Vedder/Folz, in: Grabitz/ Hilf, Das Recht der EU, Art. 48 EUV Rn. 47 ff.; H.-J. Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 48 EUV, Rn. 4 ff.; Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rn. 9. 165 So etwa Vedder/Folz, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Art. 48 EUV Rn. 48; Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rn. 501. 166 Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rn. 502; Koenig/Pechstein, EuR 1998, 130, 138; Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rn. 9; Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rn. 5; Vedder/Folz, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Art. 48 Rn. 48. Der EuGH kann einen außerhalb von Art. 48 EUV geschlossenen Vertrag zwar nicht aufheben, wohl aber einen Vertragsverstoß der Mitgliedstaaten feststellen, vgl. da Cruz Vilaca/Picarra, CDE 1993, 3, 15.

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formulieren, dass nach dieser Ansicht das völkerrechtliche Können der Mitgliedstaaten ihr gemeinschaftsrechtliches Dürfen übersteigt. Die differenzierende Auffassung führt zu ihrer Begründung an, Art. 48 EUV sei keine als ius cogens völkerrechtlich zwingende Norm – eine solche könne es auch nicht sein, wollten die Mitgliedstaaten nicht zugleich ihre Souveränität aufgeben –, sondern er sei lediglich für den Bereich des Unions- und Gemeinschaftsrechts eine zwingende Vorschrift.167 Nach dieser Ansicht wäre eine Abänderung der Verträge durch Gewohnheitsrecht, welches durch die Akzeptanz der ständigen, anfänglich vertragswidrigen, da grenzübersteigenden Rechtsfortbildung des Gerichtshofs durch die Mitgliedstaaten und Gemeinschaftsorgane entstehen könnte, völkerrechtlich grundsätzlich möglich. Jedoch wäre dies vertragswidrig und somit gemeinschaftsrechtlich abzulehnen. Deshalb ist bei Zugrundelegung dieses Verständnisses von Art. 48 EUV kaum anzunehmen, dass ein Völkergewohnheitsrecht entsteht, welches auf eine Billigung der Rechtsfortbildung contra pactum hinausläuft. Da die Mitgliedstaaten sich nicht ausdrücklich zu den vertragsübersteigenden Rechtsfortbildungen durch den EuGH bekannt haben, müsste man von einer stillschweigenden Akzeptanz dieser Rechtsprechung durch deren Nichtkorrektur bei den diversen Vertragsrevisionen ausgehen. Eine dadurch beabsichtigte Begründung einer gewohnheitsrechtlichen Geltung ist jedoch nicht anzunehmen, verstießen die Mitgliedstaaten hierdurch doch gegen das Gemeinschaftsrecht. Einen solchen „revolutionären Akt“ wird man den Mitgliedstaaten jedoch nur unterstellen können, sofern dieser ausdrücklich vorgenommen wurde, nicht aber bei bloßer stillschweigender Akzeptanz einer Rechtspraxis.168 Hiernach dürfte die Entstehung von vertragsderogierendem Gewohnheitsrecht ausgeschlossen sein. (4) Eigene Stellungnahme und Ergebnis Letztgenannter Ansicht, welche zwischen der völkerrechtlichen und der innergemeinschaftlichen Wirkung differenziert, ist beizupflichten. Nicht nur die genannten Argumente sprechen für sie, vielmehr lassen sich darüber hinaus noch weitere Gründe zu ihren Gunsten anführen. So dürfte der EuGH derogierendes, allgemein-völkerrechtliches (!) Gewohnheitsrecht aufgrund des beschränkten Zuständigkeitsrahmens der Art. 220 ff. EGV nicht auslegen und kontrollieren, da dieses – aufgrund des Verstoßes gegen Art. 48 EUV – nicht Bestandteil des Gemeinschaftsrechts geworden wäre. Erachtete 167 168

So Vedder/Folz, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Art. 48 Rn. 48. Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 48 EUV Rn. 5.

E. Rechtsfolgen grenzüberschreitender Rechtsfortbildung

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man nun aber derogierendes Gemeinschaftsrecht für innerhalb der Gemeinschaft anwendbar, so gefährdete man hierdurch die vom EuGH zu sichernde Einheit und praktische Wirksamkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung.169 Nähmen die Mitgliedstaaten dies in Kauf, so verstießen sie damit gegen das Prinzip der Gemeinschaftstreue. Da aber keine andere wirksame Sanktion für diesen Verstoß erkennbar wäre, ist eine gemeinschaftsrechtsinterne Unanwendbarkeit des derogierenden Gewohnheitsrechts anzunehmen.170 Noch bedeutsamer als diese aus dem Gebot der Gemeinschaftstreue fließenden Erwägungen erscheinen mir jedoch Überlegungen zu sein, die an das Demokratieprinzip anknüpfen. Mit der Annahme einer gemeinschaftsrechtlichen Unanwendbarkeit von gegen Art. 48 EUV verstoßenden völkerrechtlichen Änderungen – und sei es durch die Mitwirkung an der Entstehung derogierenden Gewohnheitsrechts durch die Akzeptanz grenzüberschreitender Rechtsfortbildung – wird zugleich die demokratische Legitimationsgrundlage der Gemeinschaftsverträge geschützt.171 Da die supranationalen Verträge innerhalb der Mitgliedstaaten unmittelbare Rechtswirkungen auch gegenüber den Bürgern entfalten, bedürfen sie der über die nationalen Zustimmungsgesetze vermittelten demokratischen Legitimation. Diese ist aber nur gewährleistet, sofern die nationalen Parlamente auch mittels eines Zustimmungsgesetzes beteiligt werden, was bei einer formlosen Änderung der Gemeinschaftsverträge durch ständige Übung gerade nicht gesichert wäre.172 Also fordert auch das Demokratieprinzip eine Unbeachtlichkeit von entgegen Art. 48 EUV vorgenommenen Änderungen der Gemeinschaftsverträge. Auch vom Individualrechtsschutz aus erscheint es, anknüpfend an den soeben ausgeführten Demokratieprinzipgedanken, vorzugswürdig, eine gemeinschaftsinterne Geltung derogierenden Gewohnheitsrechts abzulehnen. Ist nämlich für eine Änderung der Gemeinschaftsverträge gem. Art. 48 EUV ein Zustimmungsgesetz vonnöten, kann sich der Bürger gegen dieses mittels einer Verfassungsbeschwerde zur Wehr setzen, sofern eine Verletzung seiner in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG genannten Rechte möglich erscheint.173 Eine solche Rechtsschutzmöglichkeit gegen eine Beeinträchtigung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten – wobei hier insbesondere an das Wahlrecht aus Art. 38 GG zu denken ist174 – bestünde aber nicht, wollte man den formlosen Änderungen des Gemeinschaftsvertra169

Ebenso Koenig/Pechstein, EuR 1998, 130, 138 f. Richtig Koenig/Pechstein, EuR 1998, 130, 138 f. 171 So Koenig/Pechstein, EuR 1998, 130, 139 f. 172 Ebenso Koenig/Pechstein, EuR 1998, 130, 140. 173 Vgl. dazu nur das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 89, 155 ff. 170

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

ges durch das Gewohnheitsrecht innergemeinschaftliche Wirkung verleihen. Ein Verfahren, welches eine derartige Übertragung von Hoheitsrechten auf die supranationale Ebene überprüfen könnte, dürfte mangels tauglichen Verfahrensgegenstandes bereits unzulässig sein. Um eine solche ginge es zumindest bei einer gewohnheitsrechtlichen Anerkennung einer Rechtsfortbildung, welche die Grenzen erster Stufe überschreitet, im Ergebnis. Aber auch der Bürger darf nicht rechtsschutzlos gegen seine Rechte möglicherweise beeinträchtigende Übertragungen von Hoheitsrechten durch eine Rechtsfortbildung im Bereich des Primärrechts gestellt werden. Auch aus diesem Grund muss eine Abänderung der Gemeinschaftsverträge durch Gewohnheitsrecht abgelehnt werden, da dieses nicht dem Verfahren nach Art. 48 EUV, welches vor den nationalen Verfassungsgerichten überprüfbar wäre, entspricht. Vertragsderogierendes Gewohnheitsrecht kann somit innergemeinschaftlich keine Geltung beanspruchen. Da die völkerrechtliche Entstehung eines solchen durch eine ständige Übung, die durch die allgemeine Rechtsüberzeugung der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaftsorgane getragen wird, zugleich einen Verstoß gegen die aus Art. 10 EGV fließende Verpflichtung zur Gemeinschaftstreue bedeutete, kann aus dem bloßen Schweigen der Mitgliedstaaten bei diversen Vertragsrevisionen nicht deren opinio iuris oder gar stillschweigende Zustimmung zur grenzübersteigenden Rechtsfortbildung herausgelesen werden. Somit kann ein die vertragswidrige Rechtsfortbildung heilendes Gewohnheitsrecht nicht entstehen. Eine Heilung der Rechtsfortbildung des EuGH, welche die Grenzen der Rechtsfortbildung erster oder zweiter Stufe übersteigt, durch ein Erstarken zu gemeinschaftsrechtlichem Gewohnheitsrecht, das die Verträge insoweit derogiert, scheidet somit aus. 2. Heilung durch Akzeptanz der Mitgliedstaaten Möglicherweise kommt eine Heilung einer grenzüberscheitenden Rechtsfortbildung durch eine einfache – gerade auch stillschweigende – Akzeptanz derselben durch die Mitgliedstaaten in Betracht, ohne dass es zu einem Erstarken der Rechtsfortbildung zu Gewohnheitsrecht kommen muss. In der Lehre wird die Bedeutung der Akzeptanz der Rechtsfortbildung durch die Mitgliedstaaten sehr hoch eingestuft.175 Allerdings wird kaum diskutiert, ob 174 Auf das Wahlrecht aus Art. 38 Abs. 1 wurde die Verfassungsbeschwerde gegen das Zustimmungsgesetz gegen den EG-Vertrag in der Fassung von Maastricht maßgeblich gestützt und war nur insoweit zulässig, vgl. BVerfGE 89, 155 ff. 175 So etwa in der Untersuchung von Ukrow, S. 226 ff.

E. Rechtsfolgen grenzüberschreitender Rechtsfortbildung

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die Akzeptanz einer grenzüberschreitenden Rechtsfortbildung in der Tat zu einer Heilung führen kann, welche dieser Grenzüberschreitung die Rechtswidrigkeit nimmt. Hierfür spricht, dass sich selbst so bekannte grenzüberschreitende Rechtsfortbildungen wie die unmittelbare Wirkung von Richtlinien kaum Widerspruch durch die Regierungen der Mitgliedstaaten gefunden haben. Andererseits spricht gegen eine solche Heilungsmöglichkeit, dass bloß die stillschweigende Hinnahme einer (rechtswidrigen) grenzüberschreitenden Rechtsfortbildungspraxis nicht über deren Rechtswidrigkeit hinweghelfen kann. Ganz klar festzuhalten ist nämlich, dass eine Grenzüberschreitung entweder eine Verletzung von Verbands- oder Organkompetenzgrenzen bedeutet. Dieser Kompetenzverstoß wird nicht dadurch beseitigt, dass die Mitgliedstaaten ihn nicht als solchen geißeln. Eine Beseitigung des „Makels“ der grenzüberschreitenden Rechtsfortbildung kommt nur durch ausdrückliche Aufnahme der Rechtsfortbildung in die Verträge in Betracht. Hat eine Rechtsfortbildung aber Eingang in die Gemeinschaftsverträge gefunden, so ist es letztlich überflüssig, dieses als Heilung der Rechtsfortbildung zu bezeichnen, vielmehr handelt es sich dann um geltendes Gemeinschaftsrecht. Rückwirkend kann dieses aber keine Heilungswirkung entfalten. 3. Zwischenergebnis zur Heilung grenzüberschreitender Rechtsfortbildung Eine Heilung grenzüberschreitender Rechtsfortbildung sei es durch Erstarken der richterrechtlichen Rechtsnorm oder schlicht durch stillschweigende Akzeptanz richterlicher Entwicklungen durch die Mitgliedstaaten ist nicht möglich. Die Rechtswidrigkeit der Grenzüberschreitung bleibt so lange bestehen, bis nicht die Rechtsfortbildung durch die Aufnahme in die Verträge für die Zukunft akzeptiert worden ist. Allerdings hat diese Rechtswidrigkeit keine praktischen Auswirkungen, solange sie nicht irgendwie festgestellt wurde. Die Rechtskraft des Urteil gem. Art. 65 VerfO EuGH wird nicht dadurch berührt, dass es sich als eine grenzüberschreitende Rechtsfortbildung präsentiert. Die Rechtskraft hat unmittelbar ohnehin nur Bedeutung zwischen den Parteien (inter partes). Ausnahme ist hier die Nichtigkeitsklage, deren Rechtskraft sich erga omnes erstreckt. Die Rechtskraft eines Urteils also nur insoweit allgemeine Bedeutung, als sich einem rechtskräftigen Urteil eher die Vermutung der Richtigkeit innewohnt, weshalb sich eine Fortführung einer Praxis auf seiner Grundlage anbietet. Solange die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte, der die Grenzen erster Stufe verletzenden Rechtsfortbildung des EuGH nicht dadurch die Legitimationsgrundlage entziehen, dass sie diese für im jeweiligen Mitgliedstaat

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

unanwendbar erklären oder die Verträge durch die Regierungen so klargestellt werden, dass eine grenzüberschreitende Rechtsfortbildung bzw. eine Fortführung derselben nicht mehr möglich ist, zeitigt die Grenzüberschreitung folglich keinerlei unmittelbare Wirkung. Ein rechtsfortbildendes Urteil des Gerichtshofs mag zwar vertragswidrig sein, es ist jedoch wirksam, da das Gegenteil nicht festgestellt worden ist. Insoweit kommt der Rechtsfortbildung, auch wenn sie contra pactum erfolgt ist, rechtlich Bestand zu. Sie wird allerdings in einem Mitgliedstaat unanwendbar, wenn dessen national zuständiges Höchstgericht von seinem Letztentscheidungsrecht hinsichtlich der Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe Gebrauch macht. Im entsprechenden Mitgliedstaat ist diese Rechtsfortbildung dann als nichtig anzusehen, wobei zu überlegen bleibt, ob sie als ex tunc nichtig anzusehen ist, es ich bei dem Urteil des nationalen Verfassungsgerichts also um ein Feststellungsurteil handelt, oder ob die entsprechende Rechtsfortbildung erst mit dem Ausspruch des nationalen Verfassungsgerichts als im entsprechenden Staat unanwendbar anzusehen ist, also ein Gestaltungsurteil ergeht. Meines Erachtens muss beim Fehlen der Verbandskompetenz eine Nichtigkeit ex tunc angenommen werden, so dass das Urteil des nationalen Verfassungs- oder Höchstgerichts als Feststellungsurteil zu qualifizieren ist. Freilich hat das Feststellungsurteil aber nur Rechtswirkungen für den betreffenden Mitgliedstaat. In den anderen Mitgliedstaaten bedarf es einer jeweils eigenständigen Feststellung der jeweiligen Unvereinbarkeit mit der Verbandskompetenzordnung. Allerdings kann eine solche feststellende Entscheidung, auch wenn sie rückwirkend erfolgt, nur Folgen für das unmittelbar streitbefangene Urteil des EuGH haben. Eine Rückwirkung auf frühere, nicht vor den nationalen Verfassungsgerichten angegriffene Entscheidungen des Gerichtshofs kommt nicht in Betracht. Eine Heilung ist auch ausgeschlossen, wenn die Mitgliedstaaten, wie dies im sog. Barber-Protokoll geschehen ist, eine vom EuGH vorgenommene Rechtsfortbildung korrigieren. Damit bringen sie klar zum Ausdruck, dass eine solche nicht dem Willen der Vertragsparteien entspricht.

IV. Gesamtergebnis zu den Folgen grenzüberschreitender Rechtsfortbildung Grenzüberschreitungen bei der Rechtsfortbildung sind Ultra-vires-Akte. Bei einer Grenzüberschreitung erster Stufe, also dem Fehlen der Verbandskompetenz der Gemeinschaft für das fortgebildete Recht, kann man von einem Ultra-vires-Akt im engeren Sinne sprechen. Sofern es sich bei einer Rechtsfortbildung „bloß“ um eine Grenzüberschreitung zweiter Stufe handelt, wurde hier vorgeschlagen, dies als Ultra-vires-Akt im weiteren Sinne

F. Kennzeichen gelungener Rechtsfortbildung durch den EuGH

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zu bezeichnen. Bei solchen kompetenzübersteigenden Rechtsakten ist die Rechtsfolge grundsätzlich die Nichtigkeit, was auch im europäischen Gemeinschaftsrecht gelten muss. Allerdings kann dieser Grundsatz nur Bedeutung erlangen, wenn es eine Instanz gibt, welche diese Nichtigkeit feststellen kann. Hierfür kommen bei Grenzüberschreitungen erster Stufe die nationalen Verfassungsgerichte in Betracht, da diese letztverbindlich darüber befinden können müssen, und dies nach der einschlägigen Rechtsprechung der Verfassungsgerichte auch tun, wo die Grenzen der Verbandskompetenz liegen. Allerdings sollte de constitutione ferenda ein abstraktes Kontrollverfahren eingeführt werden, was es ohne verfassungsprozessuale „Verbiegungen“ ermöglicht, ausbrechende Rechtsakte der Gemeinschaft – in der Regel wird es sich dabei um die Verbandskompetenzgrenzen verletzende Rechtsfortbildung des EuGH handeln – anhand des Umfangs der nationalen Aufgabenübertragung zu überprüfen. Dabei können sie allerdings die grenzüberschreitende Rechtsfortbildung des EuGH nicht für nichtig erklären, hierzu sind sie nicht befugt, sondern sie müssen das Urteil für im jeweiligen Mitgliedstaat unverbindlich erklären. Rechtsfolge bei Urteilen, welche die Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe verletzen, ist also, sofern ein Verfassungsgericht dies feststellt, die Unanwendbarkeit im betreffenden Mitgliedstaat. Anderes gilt für die Rechtsfortbildungsgrenzen zweiter Stufe übersteigende Urteile. Da es sich dabei lediglich um eine Frage des Umfangs der Organkompetenz handelt, muss das Gericht des Herrschaftsverbandes darüber letztverbindlich entscheiden dürfen. Insoweit übersteigt das rechtliche Können des EuGH, grenzüberschreitende Rechtsfortbildung vorzunehmen, dessen rechtliches Dürfen. Das Risiko eines Fehlurteils ist bei Höchstgerichten wie dem EuGH in deren Position impliziert. Dieses wurde mit der Übertragung der Aufgabe, das Recht zu wahren, bewusst in Kauf genommen. Folglich gibt es kein Verfahren, ein solches Urteil, welches die Rechtsfortbildungsgrenzen zweiter Stufe überschreitet, zu überprüfen. Insoweit lässt sich die eigentliche Nichtigkeit einer solchen Rechtsfortbildung nicht feststellen, so dass die Überschreitung der Rechtsfortbildungsgrenzen zweiter Stufe durch den EuGH keine Rechtsfolgen nach sich zieht. Diese bleiben also vollumfänglich wirksam und verbindlich.

F. Kennzeichen gelungener Rechtsfortbildung durch den EuGH Nachdem soeben geklärt worden ist, welche Folgen grenzüberschreitende Rechtsfortbildung des EuGH nach sich zieht, soll abschließend noch ein Blick auf die rechtsfortbildenden Entscheidungen, die diese Grenzen wah-

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

ren, und ihre rechtlichen Folgen geworfen werden. Zweifellos sind diese Entscheidungen im Einzelfall wirksam, doch vermögen sie darüber hinaus auch rechtspolitische, ja teilweise sogar rechtliche Folgen für die Gemeinschaftsrechtsordnung zu zeitigen. Man kann dann von Zeichen gelungener Rechtsfortbildung durch den EuGH sprechen, wobei es hier um Maßstäbe eines objektiven Erfolges der Rechtsfortbildung geht.

I. Akzeptanz Häufig wird darauf verwiesen, dass die Akzeptanz der Rechtsfortbildung für deren Bestehen von erheblicher Bedeutung sei.1 Nun ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen, dass eine Rechtsfortbildungspraxis, soll sie über den jeweiligen Einzelfall hinaus eine gewisse rechtliche Bedeutung erlangen, auch auf die Akzeptanz durch die Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ angewiesen ist. Das bloße Kriterium der Akzeptanz hilft jedoch in den seltensten Fällen weiter. Zu suchen ist vielmehr nach Gesichtspunkten, an denen sich die Akzeptanz durch Mitgliedstaaten ausdrückt. Dies kann zum einen darin zu sehen sein, dass sie die Rechtsfortbildung des EuGH in positives Vertragsrecht umsetzen, zum anderen kann das Richterrecht gegebenenfalls dem acquis communautaire zugerechnet werden, auch wenn es im positiven Gemeinschaftsrecht keinen Niederschlag gefunden hat und nicht als eigene Rechtsquelle einzustufen ist, schließlich können die Mitgliedstaaten oder Organe der Gemeinschaften auch ihr sonstiges Verhalten an der Rechtsfortbildung des Gerichtshofs ausrichten, womit die Akzeptanz einer richterrechtlichen Vertrags- oder Sekundärrechtsergänzung ebenfalls zum Ausdruck kommen kann. In seltenen Fällen gibt es aber auch eindeutige Zeichen der Ablehnung einer Rechtsfortbildung des EuGH. So diente etwa das Barber-Protokoll der Korrektur einer ungewünschten Rechtsfortbildung,2 aber auch die Entscheidung in der Rechtssache Society for the protection of the unborn children, in welcher es um die Vereinbarkeit der irischen Abtreibungsgesetzgebung mit dem Gemeinschaftsrecht ging, wurde von den Mitgliedstaaten insoweit korrigiert, so dass Irland seine Regelung beibehalten konnte.3

1

Für den EuGH etwa Ukrow, S. 226 ff. Vgl. BGBl. 1992 II, 1296, welches das Urteil EuGH, Urt. v. 17.5.1990, RS. C-262/88 (Barber), Slg. 1990, I-1944 ff. korrigiert. 3 Siehe Protokoll zum EUV/EGV betreffend Art. 40.3.3 der irischen Verfassung im Gefolge der Entscheidung EuGH, Urt. v. 4.10.1991, RS. C-159/90 (Society for the protection of unborn children in Ireland), Slg. 1991, I-4685 ff.; siehe auch R. Schulze/U. Seif, S. 1, 11. 2

F. Kennzeichen gelungener Rechtsfortbildung durch den EuGH

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1. Übernahme in die Verträge oder den VVE Das deutlichste Zeichen dafür, dass eine Rechtsfortbildung durch den Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften als gelungen bezeichnet werden kann, ist die Übernahme der Rechtsfortbildung in die Verträge.4 Dieses ist mehrfach geschehen, womit die Mitgliedstaaten der Rechtsfortbildung ihren ausdrücklichen Segen erteilt haben. Insoweit wirkt die Rechtsfortbildung durch den EuGH rechtsgestaltend, sie beeinflusst und prägt das positive Recht. So wurde etwa die Stärkung der Stellung des Europäischen Parlaments im Klageverfahren, welche der EuGH richterrechtlich betrieben hat, durch die Aufwertung des Parlaments zum privilegiert Klagebefugten nicht nur nachvollzogen, sondern durch die Mitgliedstaaten noch logisch fortgesetzt. Aber auch die Grundrechtsrechtsprechung des EuGH hat in Art. 6 Abs. 2 EUV einen ersten Niederschlag gefunden, der sich mit der Aufnahme der Grundrechtecharta als Teil II des Vertrages über eine Verfassung für Europa voll entwickelt hat, da nunmehr in diesem Teil im Prinzip das gesamte Richterrecht des EuGH zu den Grundrechten niedergeschrieben ist. Übernehmen die Mitgliedstaaten also ausdrücklich eine Rechtsfortbildung des EuGH in die Verträge, so erstarkt dieses zu Primärrecht und wird damit zur Rechtsquelle des Gemeinschaftsrechts, mit der Folge einer allgemeinen Verbindlichkeit über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus. 2. Zugehörigkeit der Rechtsfortbildung zum acquis communautaire Eine Rechtsfortbildung, welche über längere Zeit immer wieder vom Gerichtshof angewendet wird und somit als Teil des Verständnisses des Gemeinschaftsrechts zu erachten ist, wird zum Bestandteil des acquis communautaire,5 dessen Übernahme zum Grundprinzip der Beitrittsbedingungen für Anwärterstaaten auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist.6 4

Allgemein zu den Zeichen gelungener Rechtsfortbildung aus nationalem Blickwinkel, ohne Berücksichtigung des EuGH K. Larenz, Kennzeichen gelungener Rechtsfortbildung, passim. 5 So EuGH, Urt. v. 15.6.1999, RS. C-140/97 (Rechberger und Greindel, Hofmeister u. a./Republik Österreich), EuZW 1999, 468; siehe auch A. Ott, EuZW 2000, 293 ff. 6 Streinz, Europarecht, Rn. 97, wenn auch nicht ausdrücklich zum Richterrecht. Streinz erwähnt a. a. O. aber das ungeschriebene Recht, wozu man das Richterrecht evtl. zählen könnte. Besser erscheint mir allerdings, davon zu sprechen, dass das Recht in seiner geltenden Auslegung Teil des gemeinschaftlichen Besitzstandes ist.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

Dieses hat der Gerichtshof in der Rechtssache Rechberger und Greindel, Hofmeister u. a./Republik Österreich selbst zum Ausdruck gebracht.7 Zum acquis communautaire gehören nämlich die Gesamtheit des Gemeinschaftsbestandes, also zum Beispiel die politischen Zielsetzungen, sowie des Gemeinschaftsrechts, also das Primärrecht, das Sekundärrecht und das ungeschriebene Recht.8 Das Gemeinschaftsrecht ist dabei in der Weise zu berücksichtigen, in welcher es vom Gerichtshof ausgelegt und fortgebildet worden ist, ist es doch alleinige Aufgabe des Gerichtshofs, das Gemeinschaftsrecht letztverbindlich auszulegen und damit gegebenenfalls auch fortzubilden.9 Da die Rechtsprechung des Gerichtshofs auch hinlänglich bekannt und damit für die angehenden Mitglieder nachvollziehbar ist, kann sie auch zum Bestand des Gemeinschaftsrecht gerechnet werden, ohne das dieses eine übermäßige Belastung für die Beitrittskandidaten bedeutete. Gehört das Richterrecht nun aber zum acquis communautaire, ohne damit zugleich Gewohnheitsrecht oder gar eigene Rechtsquelle sein zu müssen,10 so erhält es bei neuen Beitritten eine Legitimation durch die Mitgliedstaaten. Denn die Beitritte und damit auch die Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes müssen ja von allen alten Mitgliedern mitgetragen werden, zum einen mittelbar durch den Beschluss über den Beitrittsantrag im Rat gem. Art. 46 Abs. 1 S. 2 EUV, zum anderen unmittelbar durch die jeweilige innerstaatliche Ratifikation der Vertragsanpassungen im Beitrittsabkommen zwischen den Mitgliedstaaten und dem antragstellenden Staat nach Art. 46 Abs. 2 S. 2 EUV. Insoweit kann man zumindest für das Richterecht, das sich innerhalb der Rechtsfortbildungsgrenzen bewegt, mit einem neuen Beitritt und der Übernahme des acquis communautaire durch diesen von einer Akzeptanz der Rechtsfortbildung durch sämtliche Mitgliedstaaten ausgehen.11 Dies liegt schon allein darin begründet, dass das Gemeinschaftsrecht für die neuen Mitgliedstaaten nicht anders gelten kann, als für die alten, so dass auch diese sich an den acquis communautaire zu halten haben. Darin kommt der integrative und dynamische Aspekt der Gemeinschaftsverträge12 klar zum 7 EuGH, Urt. v. 15.6.1999, RS. C-140/97 (Rechberger und Greindel, Hofmeister u. a./Republik Österreich), EuZW 1999, 468; dazu Ott, EuZW 2000, 293 ff. 8 So Streinz, Europarecht, Rn. 97. 9 Ähnlich J. Neuner, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 245 f. 10 Dass es sich beim Richterrecht nicht um eine eigenständige Rechtsquelle handelt, wurde bereits ausgeführt. Sollte das Richterrecht zu Gewohnheitsrecht erstarken, gehörte es unproblematisch schon allein aus diesem Grunde zum acquis communautaire. 11 Ebenso im Ergebnis, wenn auch ohne eine Begründung, weshalb das Richterrecht Teil des acquis communautaire sein soll, Streinz, Europarecht, Rn. 97. 12 Zur Dynamik der Gemeinschaftsverträge vgl. etwa Karl, S. 81 ff.

F. Kennzeichen gelungener Rechtsfortbildung durch den EuGH

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Ausdruck, es handelt sich bei ihnen eben nicht um eine statische Verfassung, sondern die Verträge sollen stets auf eine „immer enger werdende Union der Völker Europas“ (vgl. Art. 1 EUV) hinwirken. 3. Sonstige Anpassungen an Rechtsfortbildungen des EuGH Ebenfalls von einer gelungenen Rechtsfortbildung des EuGH kann man sprechen, wenn sich die Mitgliedstaaten oder auch die Organe der Gemeinschaften einer Rechtsfortbildung entsprechend verhalten und diese damit als verbindliche Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts für sich akzeptieren. Zu denken wäre hier beispielsweise an den vom EuGH maßgeblich in den Rechtssache Francovich13 sowie Brasserie du Pêcheur und Factortame14 entwickelten gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch gegen die Mitgliedstaaten. Die Tatsache, dass die Mitgliedstaaten diesen ungeschriebenen, auf Richterrecht basierenden, gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch gegenüber ihren Bürgern erfüllen, soweit diese durch nationale Gemeinschaftsrechtsverstöße zu Schaden gekommen sind, spricht dafür, dass die Mitgliedstaaten diese Rechtsfortbildung für sich angenommen haben. Auch lässt sich sogar eine Anpassung an die grenzüberschreitende Rechtsfortbildung zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien feststellen, ist die Kommission bei der Ausarbeitung neuer Richtlinienentwürfe doch darauf bedacht, dem Rat eine möglichst detaillierte Richtlinie vorzulegen, die den Mitgliedstaaten nur noch wenig Umsetzungsspielraum zugesteht und damit in weiten Teilen eine unmittelbar anwendbare lex perfecta im Sinne der Rechtsfortbildung des EuGH ist. Sicherlich hat auch die Entwicklung eines gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtskatalogs durch den EuGH eine gewisse Anpassung der Gemeinschaftsorgane bei der Setzung von sekundären Gemeinschaftsrecht bewirkt, ohne dass sich dieser Einfluss im Einzelnen genau nachweisen ließe. Aber die Gefahr, der EuGH könnte einen Sekundärrechtsakt wegen Verstoßes gegen die zum Primärrecht zählenden Gemeinschaftsgrundrechte für nichtig erklären, dürfte hier zu einer zurückhaltenderen, bürgerfreundlicheren Normgebung durch den Rat oder auch Verwaltungstätigkeit durch die Kommission geführt haben.

13 EuGH, Urt. v. 19.11.1991, verb. RS. C-6/90 und C-9/90 (Francovich u. a.), Slg. 1991, I-5357 ff. 14 EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. RS. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-1029.

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§ 2 Hauptteil: Rechtsfortbildung durch den EuGH

II. Ergebnis Soweit die rechtsfortbildenden Urteile des Gerichtshofs nicht die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung überschreiten, teilweise selbst sogar bei deren Überschreitung, lassen sich Hinweise dafür aufzeigen, dass die Mitgliedstaaten oder auch die anderen Organe der Europäischen Gemeinschaften die Rechtsfortbildungen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften akzeptieren, so dass man von gelungener Rechtsfortbildung durch den EuGH sprechen kann. Vornehmliches Kennzeichen für eine solche Akzeptanz durch die Mitgliedstaaten ist die Aufnahme einer Rechtsfortbildung in die Gemeinschaftsverträge, wie dieses etwa im Falle der Kläger- und Beklagtenstellung des Europäischen Parlaments in den Klageverfahren vor dem EuGH geschehen ist. Aber auch bei den Grundrechten findet sich mit Art. 6 Abs. 2 EUV ein ausdrückliches Anerkenntnis dieser Rechtsfortbildung, das im Verfassungsvertrag zu einem vollständigen Grundrechtskatalog ausgebaut worden ist (vgl. Teil II VVE). Die Rechtsfortbildung kann aber beim Beitritt neuer Mitgliedstaaten für diese aber auch zum acquis communautaire zählen, den sie zu übernehmen haben, wenn sie der Europäischen Union beitreten wollen. Dann aber akzeptieren auch die alten Mitgliedstaaten diese Rechtsfortbildung, da für sie kein anderes Gemeinschaftsrecht gelten kann, als für die zukünftigen Mitglieder. Auch kann sich die Akzeptanz der Rechtsfortbildung darin ausdrücken, dass die Mitgliedstaaten oder die Organe der Gemeinschaften sich entsprechend einer richterlichen Rechtsfortbildung durch den EuGH verhalten, diese damit also stillschweigend billigen. Insoweit kann man von Kennzeichen gelungener Rechtsfortbildung sprechen.

§ 3 Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesenform Nunmehr sollen die in meiner Untersuchung gewonnenen Ergebnisse thesenartig zusammengestellt werden: 1. Richterliche Rechtsfortbildung oder, in etwa gleichbedeutend, droit jurisprudentiel, ist eines der ältesten Phänomene der Jurisprudenz, welches bereits im römischen Recht bekannt war [§ 1]. 2. In der deutschen Methodenlehre wird zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung differenziert, auch wenn stets betont wird, bei beiden handele es sich um unterschiedliche Stufen eines einheitlichen Rechtsfindungsprozesses. Dabei ist Auslegung methodisch geleitete Ermittlung des Sinngehalts einer Norm, wobei sich die Interpretation in der Regel im Rahmen des üblichen Wortlauts bewegt, ihre Grenze aber jedenfalls im möglichen Wortsinn findet [§ 2 A. I. 1.]. Rechtsfortbildung hingegen liegt vor, wenn konkrete Fälle auf eine Weise entschieden werden, die zwar nicht mehr durch den noch möglichen Wortlaut der relevanten Rechtsvorschriften gedeckt ist, die aber dennoch durch gute Gründe, nämlich durch den Zweck dieser Vorschriften oder aber durch anerkannte Rechtsprinzipien als gerechtfertigt erscheint. Dabei wird zwischen Rechtsfortbildung praeter legem (gesetzesergänzender) und solcher contra legem (gesetzesübersteigender) unterscheiden, wobei erstere der Lückenausfüllung dient, letztere hingegen die Gesetzeskorrektur zum Ziel hat. Das Ergebnis des Rechtsfortbildungsprozesses, also die durch den Richter geschaffene Norm, wird als Richterrecht bezeichnet [§ 2 A. I. 2. c)]. 3. In Frankreich ist die Unterscheidung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung nicht derart geläufig. Vielmehr wird hier der Begriff der interprétation in einem umfassenden Sinne verstanden, der auch die richterliche Rechtsfortbildung mit umfasst. Dennoch wird das Phänomen der Rechtsfortbildung in der französischen Doktrin unter der Bezeichnung pouvoir créateur du juge/de la jurisprudence erörtert. Als Begriff für das Rechtsfortbildungsergebnis wird der des droit jurisprudentiel verwendet. In Bezug auf dieses wird auch von droit jurisprudentiel praeter und contra legem gesprochen, so dass die Ähnlichkeit zur deutschen Terminologie unverkennbar ist [§ 2 A. II. 1.]. 4. Die Problematik der richterlichen Rechtsfortbildung wird in Deutschland und Frankreich zwar unter etwas anderen Vorzeichen diskutiert, unter-

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§ 3 Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesenform

scheidet sich im Ergebnis aber nicht so sehr, als dass man aus beiden Methodendiskussionen nicht auch brauchbare Erkenntnisse für die Rechtsfortbildung durch den EuGH gewinnen könnte [§ 2 A. II. 4.]. 5. Im Gemeinschaftsrecht orientieren sich die Bezeichnungen in der Lehre zumeist an den nationalen Methodenlehren. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften spricht – insoweit der französischen Doktrin folgend – stets nur von Auslegung. Dennoch erscheint es sinnvoll, da Auslegung und Rechtsfortbildung sich in gewissen Punkten methodisch unterscheiden, die aus der deutschen Methodenlehre bekannte Differenzierung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung beizubehalten [§ 2 A. III. 1., 2., 3.]. 6. Im Unterschied zum nationalen Recht kann als Scheidelinie zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung allerdings nicht einfach der mögliche Wortsinn des Normtextes festgelegt werden. Da die Wortlaute der verschiedenen authentischen Sprachfassungen der Gemeinschaftsverträge niemals vollständig deckungsgleich sein können, ist vielmehr der mögliche Wortlaut der weitesten Sprachfassung als Trennlinie zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung im Gemeinschaftsrecht festzustellen [§ 2 A. III. 2. b)]. 7. Als Rechtsgrundlage für die richterliche Rechtsfortbildung wurde in der deutschen Verfassungsordnung Art. 92 GG herausgearbeitet. Zudem ließen sich in den diversen Verfahrensordnungen im Rahmen der Revisionsbestimmungen Hinweise auf die grundsätzliche Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung nachweisen [§ 2 B. I. 2. d)]. 8. In der französischen Doktrin wird hinsichtlich der Befugnis zur Rechtsfortbildung zumeist auf Art. 4 Code civil verwiesen. In diesem wird das Rechtsverweigerungsverbot, welches als Grundlage für die Lückenausfüllung dient, ausdrücklich erwähnt. Art. 4 Code civil ist nach französischer Auffassung Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes des Rechtsverweigerungsverbots [§ 2 B. II.]. 9. Der Europäische Gerichtshof hat die Geltung des Rechtsverweigerungsverbotes für sich bereits in einer frühen Entscheidung bejaht. Mittlerweile sehen jedoch Gerichtshof und Lehre die Befugnis zur Lückenausfüllung und damit zur Rechtsfortbildung in Art. 220 EGV verankert, da in diesem dem EuGH die Aufgabe der Wahrung des Rechts übertragen wird. Die Kompetenz, das Recht im konkreten Einzelfall fortzubilden, ergibt sich dann aus Art. 220 EGV i. V. m. den jeweiligen Verfahrensvorschriften [§ 2 B. III. 2., 6.]. 10. Als Beispiele richterlicher Rechtsfortbildung kann man in Deutschland insbesondere das gesamte Arbeitskampfrecht anführen. Aber auch im allgemeinen Zivilrecht finden sich etliche richterliche Rechtsfortbildungen [§ 2 A. I. 2. c)].

§ 3 Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesenform

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11. In Frankreich ist das prominenteste Beispiel richterlicher Rechtsfortbildung die Ausarbeitung eines allgemeinen Verwaltungsrechts durch den Conseil d’Etat. Aber auch das Zivilrecht wurde durch die Cour de Cassation maßgeblich richterrechtlich umgestaltet [§ 2 A. II.]. 12. Im Gemeinschaftsrecht lassen sich zahlreiche wesentliche Bereiche als richterliche Rechtsfortbildung qualifizieren. So stellt sich etwa die Rechtsprechung zu den Gemeinschaftsgrundrechten, die unmittelbare Wirkung von Richtlinien, die Beachtlichkeit von Empfehlungen, die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung der Mitgliedstaaten sowie die schrittweise Aufwertung der Stellung des Parlaments im Klageverfahren als richterliche Rechtsfortbildung dar [§ 2 A. III. 4.]. 13. Die Mittel richterlicher Rechtsfortbildung gleichen sich in Deutschland und Frankreich, wobei allerdings die Bedeutung der Methoden variiert. In Deutschland ist das bedeutendste Mittel richterlicher Rechtsschöpfung die Analogie, während in Frankreich die Lückenschließung mittels allgemeiner Rechtsgrundsätze im Vordergrund steht. Weitere Mittel der Rechtsfortbildung sind die teleologische Reduktion, die teleologische Extension und der Erst-recht-Schluss. Als untauglich für eine methodisch saubere Rechtsfortbildung haben sich hingegen die Argumentation mit der Natur der Sache sowie der Umkehrschluss erwiesen [§ 2 C. I.]. 14. In der Rechtsprechung des EuGH lassen sich diese Argumentationsformen in den rechtsfortbildenden Urteilen nachweisen, auch wenn der Gerichtshof diese Methoden nicht stets ausdrücklich benennt. Hierbei gewinnt die Lückenschließung mittels Ableitung aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen eine ganz besondere Bedeutung, wobei sich der EuGH hierbei insbesondere die Methode der wertenden Rechtsvergleichung anwendet [§ 2 C. II., insbes. 2.]. 15. Bei der Argumentation mit effet utile und Integration bedient sich der Gerichtshof teilweise einer methodisch nicht ganz klar einzuordnenden, teleologisch motivierten Argumentation, um seine Rechtsfortbildung zu begründen [§ 2 C. II. 4.]. 16. Grenzen richterlicher Rechtsfortbildungskompetenz ergeben sich im deutschen Recht vorwiegend aus der Verfassung. Zu nennen sind hier einerseits die Analogieverbote des Art. 103 Abs. 2 GG und des Art. 104 Abs. 1 GG, welche sich teilweise auch einfachgesetzlich normiert wiederfinden (vgl. § 1 StGB, § 3 OWiG). Auf der anderen Seite lassen sich gewisse Grenzen auch aus dem Rechtsstaats- und dem Demokratieprinzip ableiten. Aus der Methodenlehre hingegen kann man hingegen keine Grenzen gewinnen, jedoch vermag sie die anhand der Verfassung gewonnenen Ergebnisse zu verdeutlichen und methodisch zu stützen [§ 2 D. I.].

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§ 3 Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesenform

17. Die in der Lehre meistbeachtete Grenze wird der richterlichen Rechtsfortbildung in Frankreich durch Art. 5 Code civil gezogen, der es verbietet, richterrechtliche Normen zu schaffen, die über den konkret zu entscheidenden Fall Allgemeingültigkeit beanspruchen. Aber auch die Habeascorpus-Bestimmung des Art. 7 S. 2 Déclaration des droits de l’homme et du citoyen und der Nulla-poena-sine-lege-Grundsatz aus Art. 8 S. 1 Déclaration des droits de l’homme et du citoyen setzen der richterlichen Rechtsfortbildungskompetenz Grenzen und fordern ein förmliches Gesetz. Auch in weiteren Rechtsbereichen, etwa im Anwendungsbereich des allgemeinen Gesetzesvorbehalt oder beim Haushaltsprivileg des Parlaments aus Art. 47 frz. Verfassung, lassen sich gewisse Kompetenzschranken bejahen, die eine richterliche Rechtsfortbildungskompetenz ausschließen [§ 2 D. II.]. 18. Untersucht man die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildungsbefugnis präzise, so muss man erkennen, dass es sich bei diesen stets um Kompetenzgrenzen handelt. So lassen sich für den EuGH Grenzen seiner Rechtsfortbildungskompetenz sowohl aus der Verbandskompetenz der Gemeinschaft als auch aus der Organkompetenz des Gerichtshofs herleiten. Sofern bereits die Verbandskompetenz der Gemeinschaften nicht besteht, darf auch der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als ihr Organ nicht tätig werden, insoweit kann man von einer Rechtsfortbildungsgrenze erster Stufe sprechen. Ist die Verbandskompetenz der Gemeinschaften hingegen grundsätzlich begründet, so können sich noch stets aus den Kompetenzen, die den anderen Organen der Gemeinschaften ausschließlich zugewiesen sind, Grenzen für die Rechtsfortbildungsbefugnis ergeben. Man kann diese Grenzen dann als Rechtsfortbildungsgrenzen zweiter Stufe bezeichnen [§ 2 D. III. 1.]. 19. Eine Rechtsfortbildungsgrenze erster Stufe ergibt sich zuvörderst aus dem Prinzip begrenzter Einzelermächtigung in Art. 5 Abs. 1 EGV. Von zentraler Bedeutung für die richterliche Fortbildung des primären Gemeinschaftsrechts ist zudem die Vertragsänderungskompetenz, die nach Art. 48 EUV in den Händen der Mitgliedstaaten liegt. Die Abgrenzung zwischen (noch) zulässiger Vertragsfortbildung und unzulässiger richterlicher Vertragsänderung kann in Anlehnung an die zu Art. 308 EGV vom Gerichtshof gefundenen Kriterien getroffen werden. Danach sind Rechtsfortbildungen, welche ein verfassungsrechtliches Gewicht erreichen, wegen Missachtung der den Mitgliedstaaten vorbehaltenen Vertragsänderungskompetenz unzulässig. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien als verbandskompetenzwidrig und damit als unzulässige, vertragswidrige Rechtsfortbildung dar. Aber auch die Verfassungskernvorbehalte mitgliedstaatlicher Verfassungen, wie z. B. Art. 23 Abs. 1 GG, lassen sich über die Rechtsfortbildungsgrenze des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung erfassen. Zudem stellt sich das

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Subsidiaritätsprinzip aus Art. 5 Abs. 2 EGV als mittelbare Rechtsfortbildungsgrenze erster Stufe dar [(§ 2 D. III. 2. a), b)]. 20. Als Interorgangrenze sticht auf der zweiten Stufe das Wesentlichkeitsgebot hervor, das seine Ausprägung etwa im Nulla-poena-Grundsatz findet; aber auch im Haushaltsrecht und beim gesetzgeberischen Ermessen beim Normerlass finden sich Rechtsfortbildungsgrenzen. Als Intraorgangrenze spielen die Zuständigkeitsvorschriften der Art. 220 ff. EGV eine gewichtige Rolle, da der Gerichtshof nur im Rahmen eines hiernach vorgesehenen Verfahrens rechtsfortbildend tätig werden darf. Aber auch die Gemeinschaftsgrundrechte ziehen dem EuGH Grenzen [§ 2 D. III. 3.]. 21. Keine Anwendung findet hingegen die aus dem US-amerikanischen Verfassungsrecht stammende Lehre vom judicial self-restraint [§ 2 D. III. 3. b) bb) (5)]. 22. Bei den Rechtsfolgen grenzüberschreitender Rechtsfortbildung durch den EuGH, ist danach zu differenzieren, ob durch diese Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe oder „lediglich“ solche zweiter Stufe überschritten wurden. Bei Grenzüberschreitungen erster Stufe stellen sich Urteile des EuGH als Ultra-vires-Akte i. e. S. dar, sofern die Rechtsfortbildung die Grenzen zweiter Stufe übersteigt, handelt es sich bei dem Urteil um einen Ultra-vires-Akt i. w. S. Grundsätzlich zieht die Einordnung als Ultra-vires-Akt die Nichtigkeit des betreffenden Aktes nach sich. Da es sich beim EuGH jedoch um ein letztinstanzliches Gericht handelt, muss ein Verfahren bestehen, in welchem diese Nichtigkeit festgestellt werden kann. Ansonsten hat die Nichtigkeit keine praktischen Auswirkungen [§ 2 E. I.]. 23. Folglich kommt es darauf an, welchem Gericht das Letztentscheidungsrecht zukommt. In Bezug auf die Verbandskompetenzgrenzen sind dies die nationalen Verfassungs- oder Höchstgerichte, da den Mitgliedstaaten die Kompetenzkompetenz zusteht und nur diese letztlich darüber befinden können, ob den Gemeinschaften eine Kompetenz des Mitgliedstaates übertragen worden ist, hinsichtlich der Grenzen der Organkompetenz muss das Letztentscheidungsrecht allerdings beim EuGH selbst liegen, da über die Verteilung der Organkompetenzen nur das Gericht des Verbandes, dem die Organe angehören, entscheiden kann [§ 2 E. II.]. 24. Vor dem Bundesverfassungsgericht können ausbrechende Rechtsakte der Gemeinschaft mittelbar über die Zustimmungsgesetze zu den Verträgen mittels der Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG, der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG und der konkreten Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs. 1 GG, §§ 13 Nr. 12, 83 f. BVerfGG überprüft werden.

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Jedoch ist diese Überprüfung mittels abstrakter und konkreter Normenkontrolle mit dem geltenden Verfassungsprozessrecht nicht überzeugend zu begründen, sind diese Verfahren doch nicht zur Kontrolle supranationaler Rechtsakte gedacht [§ 2 E. II. 4. a)]. 25. Es böte sich deshalb aus Gründen der Rechtsklarheit an, de constitutione ferenda ein Kompetenzprüfungsverfahren einzuführen, in welchem Rechtsakte der Gemeinschaft, also auch Urteile des Gerichtshofs, welche die Grenzen der Verbandskompetenz verletzen, anhand der im Zustimmungsgesetz übertragenen Kompetenzen durch das Bundesverfassungsverfassungsgericht auf ihre Vereinbarkeit mit der Verbandskompetenzordnung hin überprüft werden können [§ 2 E. II. 4. a) ff)]. 26. Für rechtsfortbildende Urteile des EuGH, welche lediglich die Rechtsfortbildungsgrenzen zweiter Stufe übersteigen, gibt es vor dem EuGH keine Möglichkeit, weitergehenden Rechtsschutz gegen diese zu erlangen. So scheiden die außerordentlichen Rechtsbehelfe hierfür ebenso aus, wie das Urteilskorrekturverfahren. Insoweit übersteigt das rechtliche Können des EuGH dessen rechtliches Dürfen, da solche Entscheidungen, auch wenn sie die Rechtsfortbildungsgrenzen zweiter Stufe verletzen, nach Art. 65 VerfO EuGH rechtskräftig sind. Das Risiko eines Fehlurteils ist der Einrichtung eines letztentscheidenden Gerichts immanent und wurde bei der Übertragung der Rechtsprechungsaufgabe an den Gerichtshof von den Mitgliedstaaten bewusst in Kauf genommen [§ 2 E. II. 4. b)]. 27. Demnach haben richterliche Rechtsfortbildungen durch den EuGH, welche die Grenzen zweiter Stufe übersteigen zur Rechtsfolge, dass sie rechtskräftig sind. Dieses trifft auch auf Entscheidungen zu, welche die Rechtsfortbildungsgrenzen erster Stufe übersteigen. Solche Entscheidungen können aber durch die nationalen Verfassungs- oder Höchstgerichte für im jeweiligen Mitgliedstaat als unverbindlich erklärt werden [§ 2 E. IV.]. 28. Eine Heilung grenzüberschreitender Rechtsfortbildung durch Erstarken einer solchen zu Gewohnheitsrecht ist nicht möglich. Rechtsfortbildung, welche die Grenzen erster oder zweiter Stufe übersteigt, kann nicht zu Gewohnheitsrecht werden [§ 2 E. III.]. 29. Sofern die Rechtsfortbildung sich innerhalb der Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildungskompetenz des Europäischen Gerichtshofs bewegt, kann man nach Kennzeichen gelungener Rechtfortbildung suchen. Von solchen Kennzeichen kann man sprechen, wenn in ihnen zum Ausdruck kommt, dass die Rechtsfortbildung auf die Akzeptanz der Mitgliedstaaten sowie der Organe der Europäischen Gemeinschaften gestoßen ist [§ 2 F. I.]. 30. Wichtigstes derartiges Kennzeichen für eine Akzeptanz ist die Übernahme einer Rechtsfortbildung in das geschriebene Gemeinschaftsrecht wie

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dies bei der Beteiligtenfähigkeit des Parlaments im Klageverfahren und in gewissem Rahmen auch bei den Gemeinschaftsgrundrechten geschehen ist [§ 2 F. I. 1.]. 31. Im Übrigen gehört das sich in den Grenzen der Rechtsfortbildungskompetenz des Gerichtshofs bewegende Richterrecht auch zum acquis communautaire und erfährt von daher bei den Beitritten neuer Mitgliedstaaten eine implizite Billigung [§ 2 F. I. 2.]. 32. Zuletzt kann in der Anpassung gewisser Verhaltensweisen an Rechtsfortbildungen durch den Gerichtshof noch eine Akzeptanz derselben durch die am Rechtsleben Beteiligten gesehen werden, etwa bei der Erfüllung des richterrechtlichen, gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs durch einen Mitgliedstaat [§ 2 F. I. 3.].

§ 4 Epilog Ich habe in meiner Dissertation versucht, Gesichtspunkte herauszuarbeiten, die für die Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften von Bedeutung sind. Dabei hat sich der Ansatz, von der deutschen und französischen Methodenlehre auszugehen, um aus dieser Erkenntnisse für das Gemeinschaftsrecht zu gewinnen, als hilfreich erwiesen. In meiner Untersuchung ist, so hoffe ich, deutlich geworden, dass ich Rechtsfortbildung durch den Richter – auch und gerade durch den EuGH, der mit dem Gemeinschaftsrecht mit einer ziemlich lückenhaften Rechtsordnung zu tun hat – für unumgänglich halte. Die Lückenlosigkeit des Rechts, von der Kelsen um der Reinheit desselben willen noch ausging, hat sich als Illusion erwiesen. Sofern die Grenzen bei der Lückenausfüllung gewahrt bleiben und der Europäische Gerichtshof sich erkennbarer Rechtsfortbildungsmethoden bedient, bestehen gegen sie auch keine rechtstaatlichen Bedenken; im Gegenteil, das Rechtsstaatsprinzip fordert geradezu richterliche Rechtsfortbildung und dies auch auf europäischer Ebene. Nichtsdestotrotz kommt es immer wieder vor, dass die Grenzen, die den Gerichten durch Verfassung oder Vertrag gezogen werden, von diesen überschritten werden. Aufgabe der Literatur ist es, diese Grenzverletzungen des EuGH, die sich etwa bei der Rechtsprechung zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien oder der Begründung einer gemeinschaftsrechtlichen Strafrechtskompetenz für Umweltdelikte aufgetan haben, als solche anzuprangern und zu kritisieren. Abschließend bleibt aber festzuhalten, dass sich der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften mit seiner Rechtsfortbildung – trotz aller kritisch zu sehenden Entscheidungen – häufig auch sehr um das Europarecht verdient gemacht hat, auch wenn seine Motivation, „Motor der Integration“ zu sein, bedenklich erscheint. Wesentliche Ausprägungen der heutigen Gemeinschaftsrechtsordnung, ja man kann sogar sagen, das gesamte Antlitz des Gemeinschaftsrechts, sind durch die Rechtssprechung des EuGH entscheidend mitgestaltet worden. Dass es sich beim Gemeinschaftsrecht tatsächlich um eine eigene Rechtsordnung handelt, wie es der Gerichtshof selbst in van Gend & Loos1 und Costa/ENEL2 ausgeführt hat, ist haupt1 EuGH, Urt. v. 5.2.1963, RS. 26/62 (van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung), Slg. 1963, 1, 25 („neue Rechtsordnung des Völkerrechts“).

§ 4 Epilog

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sächlich seiner rechtsfortbildenden Tätigkeit zu verdanken. So wäre das Gemeinschaftsrecht als eine eigene Rechtsordnung ohne die vom Europäischen Gerichtshof in richterlicher Rechtsfortbildung entwickelten Gemeinschaftsgrundrechte, den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor den nationalen Rechtsordnungen, dem gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch gegen Mitgliedstaaten wegen der Verletzung von Gemeinschaftsrecht und der schrittweisen Aufwertung des Parlaments im Klageverfahren kaum in der heutigen Form denkbar. Teilweise wurde die Rechtsfortbildung – wie die Aufwertung des Parlaments im Klageverfahren und die Aufnahme der Grundrechte in Art. 6 Abs. 2 EUV – sogar in die Verträge übernommen. Vor dem Hintergrund einer oft auch zustimmungswürdigen, sich innerhalb ihrer Grenzen bewegenden Rechtsfortbildung des EuGH, ist es sicherlich nicht beunruhigend, wenn die Gemeinschaftsrechtsordnung in einigen Bereichen bestimmt noch lückenhaft ist. Hier bleibt zu hoffen, dass der EuGH sich innerhalb der Grenzen seiner Rechtsfortbildungskompetenz bleibt und diese nicht, wie leider auch immer wieder geschehen, überschreitet. Auf die Grenzverletzungen, die immer wieder vorkommen, hat die Literatur dann kritisch hinzuweisen. Die Richter – auch des EuGH – sind weder Richterkönige noch sind sie Subsumtionsautomaten. Das von ihnen fortgebildete Richterrecht liegt zwischen diesen Extremen. So soll es denn auch nicht resignierend klingen, wenn ich mit den Worten des Göttinger Rechtslehrers Franz Gamillscheg3 schließen möchte, die dieser zum Stand der Grundrechte im deutschen Arbeitsrecht 1964 gefunden hat, die aber auch auf den EuGH passen: „Das Richterrecht bleibt unser Schicksal.“

2 EuGH, Urt. v. 15.7.1964, RS. 6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1964, 1251, 1269 („eigene Rechtsordnung“) noch einmal bestätigt und präzisiert. 3 So F. Gamillscheg, AcP 164 (1964), 385, 445.

§ 5 Résumé du thèse 1. Introduction au sujet du thèse L’œuvre „Rechtsfortbildung durch den EuGH“, c’est à dire „Le pouvoir créateur du juge du Cour de Justice des Communautés Européennes“, traite le problème du droit jurisprudentiel sur échelle des Communautés Européennes, qui n’est guère discuté dans la doctrine européenne jusqu’à aujourd’hui. Le juge, même celui de la Cour de Justice des CE, n’est-il que „la bouche, qui prononce les paroles de la loi“ comme disait Charles de Montesquieu, donc „en quelque façon nulle“ ou a-t-il le droit de créer le droit? Le but de mon exercice était de trouver en quel mesure la Cour de Justice des Communautés Européennes crée le droit et si sa méthode repose sur des modèles des droits nationaux. Cette question est intéressante, parce que les traités européens ont installé un nouveau système de droit avec une Cour de Justice, qui le protège et garantit. En plus les Communautés Européennes n’existent que 50 ans, de façon qu’on ait encore une bonne vue d’ensemble de la jurisprudence de la Cour de Justice des CE. 2. Méthode Pour bien comprendre les méthodes, dont la Cour des Communautés Européennes se sert pour créer du droit juridique, j’ai d’abord analysé les systèmes développés dans la doctrine allemande aussi bien que dans littérature juridique française. Ces deux systèmes juridiques, le système germanique ainsi que le système romane, sont les systèmes principaux, qui existait dans les Communautés Européennes lors de la fondation de la Cour de justice. C’est pourquoi que, dans les différentes chapitres du thèse, il se trouve toujours d’abord une récapitulation de la doctrine allemande et française. Puis j’ai essayé de résoudre la question, si la Cour de justice se sert d’une des méthodes nationaux ou si elle a développé des propres méthodes.

§ 5 Résumé du thèse

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3. Résumé du thèse a) Le premier chapitre de mon examen est dédiée la terminologie pour mieux comprendre le phénomène du pouvoir créateur du juge. La question essentielle était, quel jurisprudence est encore à qualifier comme interprétation et laquelle se présente déjà comme création juridique de droit. Dans la doctrine allemande, cela sont deux phases d’un processus de formation de droit. La création de droit commence là, ou le juge surmonte le sens possible du mot dans un texte normatif. Il remplit alors une lacune dans le texte normatif. On parle de „Auslegung“ (interprétation) et de „Rechtsfortbildung“ (création de droit juridique). Le droit créé par le juge s’appelle „Richterrecht“. Cependant, dans la littérature juridique française, on ne fait pas cette différence avec la même rigueur. On parle plutôt toujours d’interprétation. Néanmoins on discute le problème du pouvoir créateur du juge et on emploi les termes de droit jurisprudentiel praeter et contra legem, qui existent également dans la littérature allemande. La Cour de justice des Communautés Européennes parle dans ses jugement presque toujours d’interprétation, même lorsqu’elle crée du droit. La Cour se sert donc de la terminologie française. Néanmoins il me paraît judicieux de se servir de la terminologie allemande, parce qu’il y a malgré tout des différences méthodiques entre l’interprétation et la création de droit par un juge. b) Ensuite j’ai démontré quelques exemples de création de droit par la Cour de Justice des Communautés Européennes. Les exemples les plus connus sont le développement des droits fondamentaux (Stauder ./. Ulm), la responsabilité de l’état membre pour la non-transformation des actes législatifs européens (Francovich; Brasserie du pêcheur et Factortame), le pouvoir des affaires étrangers de la Communauté Européenne (AETR) et l’effet direct des directives ainsi que des décisions (van Duyn ./. Home Office; Franz Grad ./. Finanzamt Traunstein). c) Dans le second chapitre je me suis posé la question d’après la base de compétence pour la formation de droit par le juge. En droit allemand, c’est bien l’article 92 de la loi fondamentale (Grundgesetz), qui règle le pouvoir juridique dans le système de compétences de la constitution allemande. En France, la base du pouvoir juridique de créer du droit est l’article 4 du Code civil qui interdit sous peine le déni de justice. Dans la Communauté Européenne la compétence de la Cour de justice est l’article 220 du CCE. d) Le troisième chapitre est dédié aux méthodes de formation de droit jurisprudentiel, dont se sert la Cour de justice. Les méthodes juridiques sont

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§ 5 Résumé du thèse

les mêmes en Allemagne aussi bien qu’en France. Cependant l’importance des méthodes diffère dans ces deux systèmes juridiques. Tandis qu’en Allemagne l’analogie est le moyen le plus important de la création de droit juridique, ce sont en France les principes généraux du droit, dont on se sert pour remplir des lacunes de droit. Comme d’autres méthodes il y a l’argumentum a minore ad maius et l’argumentum a maiore ad minus. Ces méthodes se trouvent également dans les arrêts créant du droit juridique de la Cour de justice des Communautés Européennes, même si la Cour ne les nomme pas explicitement. En particulier les principes généraux du droit jouent un rôle éminent dans la jurisprudence européenne. e) Question principale du pouvoir créateur de la jurisprudence est celle des limites. Les limites du pouvoir créateur forment des limites de la compétence juridique. C’est sont donc avant tout les limites entre le pouvoir législatif et le pouvoir juridique. Sur le plan européen, il y a encore, car les Communautés Européennes sont une organisation supranational, les compétences des états membres et celles des Communautés. C’est pourquoi on peut distinguer les compétences d’organisation (Etats membres ou Communauté Européenne), lesquelles j’ai nommés celle de premier rang, et les compétences organiques (entre commission, Parlement d’Europe, Conseil des ministres et Cour de justice), c’est à dire celles de second rang. Il n’est point possible de décrire toutes les limites en détail dans ce résumé, mais il est certain que là où la compétence d’organisation manque aux Communautés Européennes, parce que les états membres ont le droit de régler une matière, le Cour de Justice des Communautés Européennes n’a point le droit de créer du droit concernant cette matière. Une violation d’un limite de premier rang est la jurisprudence sur l’effet direct des directives. Dans cet arrêt la Cour de justice a créé un nouveau acte de droit, non prévu par les états membres dans l’article 249 CCE. Elle a donc violée la compétence des états membres de déterminer les actes de droits dont les Communautés Européennes peuvent se servir. f) Finalement j’ai réfléchi sur la question, que ce qui se passe, lorsque la Cour de justice surmonte les limites imposé à son pouvoir de création de droit. A ce point, il est nécessaire de différencier entre les compétences de premier rang et celle de second rang. Si la cour viole les limites de compétences de premier rang, il s’agit d’un jugement ultra vires. Un acte ultra vires est toujours nulle. La nullité d’un tel arrêt peut être constaté par les Cours constitutionnelles nationales. Un jugement surmontant que les limites des compétences organiques ne peut pas être contrôlé par un tribunal national, la Cour de justice décide donc en dernière instance. Bien que ces jugement soit des actes ultra vires aussi bien que les jugement violant les limites de premier rang, il n’y a pas d’instance pour constater la nullité d’un tel acte, de façon qu’il soit valable.

§ 5 Résumé du thèse

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g) En tant que la création de droit par la Cour de justice respecte les limites de compétences, il est possible de parler d’un droit jurisprudentiel réussi. Un indice pour une telle création réussie est le consentement par les autres organes des Communautés Européennes et des états membres, qui s’exprime dans l’adoption dans le CCE. Cela s’est passé avec la position du Parlement d’Europe comme parti devant la Cour en Art. 230 II CCE (ex-Art. 173) (en suite de la décision Les Verts ./. Parlement), qui a beaucoup changée à cause du droit jurisprudentiel. 4. Résultat Finalement il est à affirmer, que la Cour de justice, malgré les créations jurisprudentielles qui restent à critiquer, a bien mérité du droit des Communautés Européennes. C’est à dire que le droit européen dans sa forme actuelle ne serait point possible et imaginable sans les créations de droit de la Cour de justice. Car la Cour se tient dans la plupart des cas du droit jurisprudentiel aux limites qui lui sont imposé, il n’est point inquiétant qu’il y a encore des lacunes dans les traités, que la Cour rempliera dès qu’on s’adresse à lui. Il est le devoir de la doctrine de critiquer la Cour la où elle surmonte ses limites. Les juges de la Cour de justice ne sont pas que la bouche, qui prononce les paroles de la loi, mais ils ne sont pas des juges-rois, qui peuvent créer du droit selon leur propre goût, non plus. Le pouvoir juridique de la Cour de justice des Communautés Européennes se tient entre ces extrêmes.

Anhang Wortsinngrenze x

Wortsinngrenze y

nicht von Teleologie gefordert

contra

praeter contractum Auslegung

Rechtsfortbildung

Das Drei-Bereiche-Modell im Europarecht

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Sachverzeichnis (Hauptfundstellen kursiv) acquis communautaire 170, 347, 363 ff. Allgemeine Rechtsgrundsätze 156 ff., 166 ff. – Begriff 166 – Herleitung 168 – Verhältnis zur Analogie 180 – wertende Rechtsvergleichung 168 ff. Analogie 146 ff., 161 ff. – EuGH-Rechtsprechung 161 f. – Logische Struktur 149 f. – Mittel der Rechtsfortbildung 150 – Verhältnis zum Erst-recht-Schluss 151 – Voraussetzungen 146 ff. ausbrechender Rechtsakt siehe Ultravires-Akt Auslegung 21 ff., 58, 340, siehe auch interprétation Bundesverfassungsgericht 138, 221, 318 – letztentscheidendes Gericht 318, 325 f. – Maastricht 221, 318 – Rechtsschutzverfahren 330 ff. – Solange-Rechtsprechung 221, 236 f. – Verbandskompetenzprüfungsverfahren de constitutione ferenda 338 Conseil d’Etat 369 Drei-Bereiche-Modell 43 f., 75 f., Anhang droit jurisprudentiel 50, 53 f., 225, 376 ff.

Effet utile 189 ff. – als teleologische Extension? 196 ff. – Argument freier Rechtsschöpfung 203 – und Integration 189 f. EuGH siehe Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäischer Verfassungsvertrag 363 – Aufnahme von Richterrecht als Kennzeichen gelungener Rechtsfortbildung 363 Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften – Beispiele für Rechtsfortbildung 90 ff. – Grenzen der Rechtsfortbildung 227 ff. – Kompetenz zur Rechtsfortbildung 135 ff. – Letztentscheidungskompetenz bei Grenzen Erster Stufe 323 ff. – Letztentscheidungskompetenz bei Grenzen Zweiter Stufe 328 ff. – Motor der Integration 258 – Rechtsfolgen grenzübersteigender Rechtsfortbildung 311 – und Bundesverfassungsgericht 323 ff. – und Conseil constitutionnel 323 ff. – unmittelbare Wirkung von Richtlinien 102 ff., 190 f., 199 f., 252, 254 ff. Gesetzesvorbehalt/Vorbehalt des Gesetzes 213, 226, 297 ff. – in Deutschland 213, 299 – in Frankreich 226, 300

Sachverzeichnis – Rechtsfortbildungsgrenze 213, 226, 297 ff. – Verankerung im EG-Recht 301 ff. Gewohnheitsrecht 24 ff., 54, 345 ff. – Deutschland 24 ff., 46, 349 f. – Frankreich 54, 350 f. – Heilung 345 ff. – vertragsderogierendes 353 ff. – Völkerrecht 61 ff., 64, Grenzen der Rechtsfortbildung 210 ff., 213 ff., 224 ff., 227 ff. – Begriff 211 – Deutschland 213 ff. – Erster Stufe 228 ff. – Europarecht 227 ff. – Frankreich 224 ff. – Interorgangrenzen 280 ff. – Intraorgangrenzen 269 ff. – Kernbereichslehre 283 ff. – Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 228 ff. – Rechtsfolgen grenzübersteigender Rechtsfortbildung 311 ff. – Subsidiaritätsprinzip 259 ff. – Zweiter Stufe 268 ff. grenzüberschreitende Rechtsfortbildung 252 ff., 311 ff. – Heilung 344 ff. – Kompetenz zum Fehlurteil 317 ff., 323, 328 – Rechtsschutz gegen 323 ff., 330 ff., 339 ff. – Rechtswirkungen 316, 319 ff. – Wirksamkeit 316 ff., 322 Grundrechte in der EG 84, 92 ff., 136, 143 f., 172 f., 207 f. Haushaltsrecht als Rechtsfortbildungsgrenze 226, 284 f. Heilung grenzüberschreitender Rechtsfortbildung 344 ff. – Akzeptanz 358 f. – Gewohnheitsrecht 345 ff.

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institutionelles Gleichgewicht 280 ff. – Bedeutung 281 – Intraorgangrenze 283 ff. Integration 189 ff., 196 Interorgangrenzen 280 ff. Interprétation 47 ff., 55 ff. Intraorgangrenzen 269 ff. judicial self restraint 304 ff. – Begriff 304 – political question doctrine 308 f. – Rechtsfortbildungsgrenze? 304 ff., 308 f. – Untauglichkeit im Gemeinschaftsrecht 308 f. Lücke/lacune 24 ff., 50, 76 ff., 168 – Arten 32 ff., 83 ff. – Begriff 24 – Bereichslücken 83 – Deutschland 24 ff. – Europarecht 76 ff. – Frankreich 50 – Geschlossenheit des Rechts (H. Kelsen) 27 ff., 76 – Normlücken 36 f., 86 – primäre und sekundäre 32 f., 87 f. – teleologische 34 f., 86 – Vertragslücken 85 Maastricht-Entscheidung des BVerfG 92, 318 f., 321, 331 ff. Nulla-poena-Grundsatz 214 f., 226, 289 ff. – als Rechtsfortbildungsgrenze 226, 289 ff. – Deutschland 214 f. – Europarecht 289 ff. – Frankreich 226 Organkompetenz 212 f., 268 ff.

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Sachverzeichnis

pouvoir créateur 50, 376 f. Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 228 ff., 231 ff., 240 ff. – Art. 23 Grundgesetz 231 ff. – Kernbereiche nationaler Verfassungen 231 ff., 240 ff. – Mitgliedstaaten als Herren der Verträge 247 ff. – Struktursicherungsklauseln in anderen nationalen Verfassungen 240 ff.

Solange-Rechtsprechung 236 ff. – Absinken des Grundrechtsstandards 236 f. – Kontrolle 236 f. Staatshaftung 107 ff., 172 ff., 192 f., 254, 365 Subsidiaritätsprinzip 259 ff. – Inhalt und Bedeutung 259 f. – mittelbare Rechtsfortbildungsgrenze 261 ff.

Radbruchsche Formel 219 f. – als Rechtsfortbildungsgrenze 219 f. Rechtsfortbildung 24 ff., 58 ff. – Abgrenzung zur Auslegung 21, 24 ff., 47 ff., 58 ff. – Begriff 24 ff., 50, 58 ff. – contra legem 41 ff., 50; 218 ff. – Deutschland 20 ff. – Drei-Bereiche-Modell 43, 58 ff., Anhang – EuGH 54 ff. – Frankreich 47 ff. – Grenzen 210 ff., 213 ff., 224 ff., 227 ff. – Rechtsgrundlage 111 ff., 133, 134 ff. – Terminologie des EuGH 55 ff. Rechtsgrundlage für Rechtsfortbildung 111 ff., 133, 134 ff. – Art. 4 Code civil 133, 224 – Europarecht/EG-Vertrag 134 ff. – Grundgesetz 111 ff. – Rechtsverweigerungsverbot 133 Rechtsverweigerungsverbot 39, 46, 51 f., 112 f., 141 f. – Art. 4 Code civil 51 f. – in Deutschland 46, 112 f. – in der Rechtsprechung des EuGH 141 f. Richterrecht 24 ff., 58 ff., 345 ff. – Begriff 24 ff., 58 ff. – Rechtsquelle 345 ff.

teleologische Extension 154 f., 196 ff. – Begriff 154 – Mittel der Rechtsfortbildung 155, 196 ff. teleologische Reduktion 153 f., 181 ff. – Begriff 153 – EuGH-Rechtsprechung 181 ff. Ultra-vires-Akt 320 ff. – im engeren Sinne 320 – im weiteren Sinne 321 – Urteile des EuGH als U. i. e. S. 320 – Urteile des EuGH als U. i. w. S. 321 Umkehrschluss 152 f., 205 – Begriff 152 f. – Mittel der Rechtsfortbildung 152 f., 205 unmittelbare Wirkung von Richtlinien 102 ff., 135, 190 f., 199 f., 252 ff. – ausbrechender Rechtsakt 252 ff. – vertragsändernde Rechtsfortbildung 252 ff. Verbandskompetenz 212 ff., 228 ff., 241 ff., 338 Wortlautgrenze 41 ff., 59 ff. – Bestimmung bei Mehrsprachigkeit 59 ff. – Problem der Mehrsprachigkeit der Texte 59 ff. – weiteste Wortsinnbedeutung 72 ff.