Rechtliche Möglichkeiten und Grenzen des Ausstiegs aus der Kernenergie [1 ed.] 9783428480432, 9783428080434

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Rechtliche Möglichkeiten und Grenzen des Ausstiegs aus der Kernenergie [1 ed.]
 9783428480432, 9783428080434

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KLAUS BORGMANN

Rechtliche Möglichkeiten und Grenzen des Ausstiegs aus der Kernenergie

Schriften zum Umweltrecht Herausgegeben von Prof. Dr. M ich a e I Klo e p fe r , Berlin

Band 37

Rechtliche Möglichkeiten und Grenzen des Ausstiegs aus der Kernenergie Von

Klaus Borgmann

DUßcker & Humblot . Berliß

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Borgmann, Klaus:

Rechtliche Möglichkeiten und Grenzen des Ausstiegs aus der Kernenergie / von Klaus Borgmann. - Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Schriften zum Umweltrecht ; Bd. 37) Zug!.: Regensburg, Univ., Diss., 1993 ISBN 3-428-08043-2 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4247 ISBN 3-428-08043-2

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist während meiner dreijährigen Tätigkeit als Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl von Herrn Prof. Dr. Hermann Soell entstanden und wurde von der Juristischen Fakultät der Universität Regensburg im Wintersemester 1993/94 als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Schrifttum konnten bis September 1993, vereinzelt auch noch danach, berücksichtigt werden. Mein ganz besonderer Dank gilt meinem Doktorvater und Lehrer, Herrn Prof. Dr. Hermann Soell, dessen plötzlicher und viel zu früher Tod den Abschluß dieser Arbeit überschattet. Er gab den Anstoß für diese Untersuchung und hat ihren Fortgang mit großem Engagement gefördert. Neben meiner Tätigkeit an seinem Lehrstuhl ließ er mir für diese Arbeit großzügig bemessenen zeitlichen und inhaltlichen Freiraum und gewährte mir dabei jede ihm mögliche Unterstützung. Danken möchte ich auch meinem Freund Martin Hermann, mit dem mich die gemeinsame Assistentenzeit am Lehrstuhl von Prof. Dr. Soell verbindet und ohne dessen zahlreiche wertvolle Denkanstöße die Arbeit in dieser Form nicht zustandegekommen wäre. Für die vielfältige inhaltliche und technische Hilfe beim Erstellen dieser Arbeit möchte ich mich außerdem bedanken bei meinem Freund Ulrich Haas und bei meinem Bruder Frank sowie bei Herrn Wolfgang Schönfeld vom Rechenzentrum der Universität Regensburg für die drucktechnische Überarbeitung der Tabellen und Abbildungen. Herrn Prof. Dr. Otto Kimminich danke ich für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens. Dank gebührt nicht zuletzt all jenen hier nicht namentlich Genannten, die mich beim Anfertigen dieser Arbeit unterstützt haben.

Coesfeld, im Januar 1994 Klaus Borgmann

Inhaltsübersicht Einleitung ...................................................................................................

ErSler Teil Rechtstatsachen

25

28

§ 1:

Der derzeitige Stand der friedlichen Nutzung der Kernenergie

28

§ 2:

Risiken der friedlichen Nutzung der Kernenergie........................................

46

§ 3:

Die Folgen eines Verzichts auf die Kernenergienutzung ...............................

118

Zweiler Teil Der administrative Ausstieg § 4:

134

Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit als Auslegungs- und Anwendungsgrundsatz ........................................................................

135

§ 5:

Rücknahme von Genehmigungen nach § 17 Abs. 2 AtomG ...........................

145

§ 6:

Widerruf von Genehmigungen nach § 17 Abs. 5 AtomG ..............................

149

§ 7:

Widerruf von Genehmigungen nach § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG ........... ...........

161

§ 8:

Entschädigungsfragen .........................................................................

174

§ 9:

Das Auseinanderfallen des Bund-Länder-Konsenses beim Vollzug des AtomG ...

182

Driller Teil Der legislative Ausstieg

215

§ 10:

Skizzierung der bisherigen Initiativen ............................................. ,........

215

§ 11:

Art. 74 Nr. 11a GG als Verfassungsauftrag zur Nutzung der Kernenergie? ........

222

§ 12:

Der Grundsatz der Gewaltenteilung ........................................................

227

§ 13:

Die Verteilung der Handlungsmöglichkeiten zwischen Bund und Ländern .........

247

§ 14:

Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ...........................

285

10

Inhaltsübersicht

§ 15:

Art. 74 Nr. lla GG als eingriffslegitimierende Kompetenznorm? ............. .......

293

§ 16:

Pflicht des Staates zum Schutz der Umwelt ...............................................

296

§ 17:

SichersteIlung der Energieversorgung als Aufgabe des Staates .......................

306

§ 18:

Grundrechte der Kemkraftwerksbetreiber .................................................

315

§ 19:

Der Grundsatz des Vertrauensschutzes ....................................................

366

§ 20:

Der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers...........................................

379

§ 21:

Internationale Verpflichtungen...... .................... ....... .......... ....... ........ .....

402

Zusammenfassung der rechtlichen Ergebnisse

413

Anhang .....................................................................................................

426

Literaturverzeichnis .......................................................................................

440

Inhaltsverzeichnis Einleitung

25

Erster Teil Rechtstatsachen

28

§ 1 Der derzeitige Stand der fried6chen Nutzung der Kernenergie

28

A. Der Brennstoffkreislauf und die verschiedenen Reaktortypen ..............................

30

I.

Der Brennstoffkreislauf ........................................................................

30

n.

Die Reaktortypen ................................................................................

31

I. Leichtwasserreaktoren .......................................................................

32

a) Siedewasserreaktoren ...................................................................

33

b) Druckwasserreaktoren ..................................................................

33

2. Hochtemperaturreaktoren...................................................................

34

3. Schnelle Brutreaktoren ......................................................................

35

Sicherheitsvorkehrungen .......................................................................

36

IV. Die Betreiber der deutschen Kernenergieanlagen .........................................

40

B. Die Bedeutung der Kernenergie fiir die Energieversorgung .................................

41

m.

§ 2 Risiken der fried6chen Nutzung der Kernenergie

46

A. Die Brennstoffgewinnung ..........................................................................

51

I.

Der Uranabbau ..................................................................................

51

n. m.

Die Urananreicherung ..........................................................................

54

Die Brennelementeherstellung ................................................................

55

I. Die Transnuklearaffäre ......................................................................

57

2. Vorfall im Siemens-Brennelementewerk Hanau, Betriebsteil 'Uranverarbeitung', 12. Dezember 1990 .................................................................

59

3. Vorfälle im Siemens-Brennelementewerk Hanau, Betriebsteil 'Mischoxidverarbeitung' im Jahr 1991 ......................................................................

60

12

Inhaltsverzeichnis 4. Brennstab-Fehlleitung, Februar 1992 ............. ................... ............. .......

61

5. Manipulation an Genehmigungsunterlagen ..............................................

62

B. Der Kernkraftwerksbetrieb ........................................................................

63

Nonnalbetrieb....................................................................................

63

I.

1. Strahlenbelastung der Bevölkerung .......................................................

63

2. Strahlenexposition durch berufliche Tätigkeit ..........................................

68

3. Der Einsatz von Mischoxid-Brennelementen ......... ..................................

70

4. Abwänne ......................................................................................

72

11. Störfalle, Unfalle und sonstige besondere Vorkommnisse ...............................

73

1. Störfalle und Unfalle nach der StriSchVO ...............................................

73

2. Bewertungsskalen und Meldepflichten ...................................................

76

3. Gefahrenquellen ..............................................................................

78

a) Der Biblis-Störfall vom Dezember 1987 ............... .......................... .. .

79

b) Weitere Zwischenfalle (exemplarisch) ...............................................

81

c) Der Reaktorunfall von Tschernobyl und Schlußfolgerungen für deutsche Kernkraftwerke ...........................................................................

84

4. Risikobewertungen ...........................................................................

87

a) Gesellschaft für Reaktorsicherheit: Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke ..

87

b) Sachverständigenrat für Umweltfragen: Umweltgutachten 1987 ...............

91

c) Internationale Atomenergie-Organisation (lAEO) .................................

92

d) Öko-Institut ....... .............. .......... ............. .......... ............... ..........

92

e) Golay/Todreas ............................................................................

93

C. Die Entsorgung ......................................................................................

94

Das Entsorgungskonzept ................................................................. ......

94

11. Der Stand der Entsorgung in der Bundesrepublik Deutschland ........................

98

1. Reststoff- und Abfallmenge in der Bundesrepublik ....................................

98

a) Wiederverwertbare radioaktive Reststoffe ..........................................

98

b) Radioaktive Abfalle .....................................................................

99

I.

2. Gegenwärtige und zukünftige Entsorgungskapazitäten ...............................

101

a) Zwischenlager für bestrahlte Brennelemente .......................................

101

b) Zwischenlager für radioaktive Abfalle ...............................................

102

c) Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente .................................

104

d) Endlager für schwach- bis mittelradioaktive Abfalle..............................

107

Inhaltsverzeichnis

13

aa) Das Salzbergwerk Asse D .......................................................

107

bb) Das ehemalige Eisenerzbergwerk Konrad ....................................

107

ce) Das Endlager fiir radioaktive Abfalle Morsleben (ERAM) ................

109

e) Endlager fiir hochradioaktive Abfalle ................................................

11 0

f) Plutonium-Entsorgung ..................................................................

113

ID. Würdigung ........................................................................................

114

§ 3 Die Folgen eines Verzichts auf die Kemeoergienutzung

118

A. Folgen des Verzichts fiir die Energieversorgung ..............................................

118

Sofortiger Ausstieg aus der Kernenergie... ............. .. ............. . .... ...... .. . .......

119

I.

D. Mittel- oder langfristiger Ausstieg aus der Kernenergie .................................

120

B. Folgen des Verzichts fiir die Umwelt ............................................................

124

C. Folgen des Verzichts fiir die Wirtschaft .........................................................

130

D. Zusammenfassung ...................................................................................

133

Zweiter Teil

Der administrative Ausstieg

134

§ 4 Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit

als Auslegungs- und Anwendungsgrundsatz

135

A. Die Abwehr- und Schutzfunktion des Grundrechts ...........................................

135

B. Grundrechtsschutz vor Gefahren und Risiken ..................................................

137

§ 5 Rücknahme von Genehmigungen nach § 17 Abs. 2 AtomG

145

A. Die Rücknahmevoraussetzungen .................................................................

145

B. Die Ermessensausübung ...........................................................................

147

§ 6 Widerruf von Genehmigungen nach § 17 Abs. 5 AtomG

149

A. Erhebliche Gefahrdung .............................................................................

150

Das Ausmaß der Gefahrdung .................................................................

150

D. Die Gefahrenursache ...........................................................................

153

I.

ID. Widerruf bei anfanglichen Gefahrdungen? .................................................

155

IV. Änderung der Sicherheitsphilosophie als Widerrufsgrund? .............................

156

B. Abhilfe durch nachträgliche Auflagen ...........................................................

159

14

Inhaltsverzeichnis § 7 Widerruf von Genebmigungennach § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG

161

A. Wegfall der Genehmigungsvoraussetzungen ...................................................

162

B. Keine Abhilfe in angemessener Zeit .............................................................

163

Einzelfalle .............................................................................................

163

Entsorgungsengpässe als Widerrufsgrund? .................................................

163

c.

I.

ß. Die Ersetzbarkeit einzelner Kernkraftwerke als Widerrufsgrund? § 8 Entschlldigongsfragen

171 174

A. Entschädigungspflichtiger und interner Ausgleich ............................................

175

B. Höhe der Entschädigung ...........................................................................

177

c.

178

Die Ausschlußgründe des § 18 Abs. 2 Nr. 3 AtomG ........................................ I.

Gefahr in der genehmigten Anlage begründet .............................................

178

ß. Gefahr nachträglich eingetreten ..............................................................

180

§ I} Das Auseinanderfallen des Bund-Llinder-Konsenses

beim Vollzug des AtomG

182

A. Ausstiegsorientierter Gesetzesvollzug ...........................................................

182

B. Einwirkungsmöglichkeiten des Bundes ..........................................................

186

I.

Der Erlaß von Verwaltungsvorschriften ....................................................

187

ß. Weisungen ........................................................................................

188

1. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ..................................

189

2. Stellungnahme ................................................................................

192

a) Die Gegenmeinung ......................................................................

192

b) Eigener Lösungsansatz ..................................................................

193

c) Keine Mitwirkungspflicht der Länder bei schweren Verfassungsverstößen ..

197

d) Zulässigkeit allgemeiner Weisungen? ................................................

199

e) Die inhaltliche Reichweite des Weisungsrechts ....................................

201

f) Durchsetzung der Weisung ............................................................

207

C. Haftungsfragen im Bund-Länder-Verhältnis ....................................................

209

Inhaltsveneichnis

15

Driuer Teil Der legislative Ausstieg

21 5

§ 10 Skizzierung der bisherigen IDitiativen

215

A. Das 'Atomsperrgesetz' .............................................................................

215

B. Das 'Kernenergieabwicklungsgesetz' ............................................................

216

C. Weitere Versuche ....................................................................................

218

Das nordrhein-wesWilische Volksbegehren ................................................

218

n. Das bayerische Volksbegehren .. .................... .............. ........ ........ ...........

219

m.

Änderung des niedersächsischen Landes-Raumordnungsprogramms .................

220

IV. Der Verfassungsentwurf des Landes Brandenburg .......................................

220

I.

§ 11 Art. 74 Nr. 11a GG als VerfassUDgsauftrag

zur Nutzung der Kernenergie?

222

§ 12 Der Grundsatz der Gewaltenteilung

227

A. Das Gewaltenteilungsprinzip im heutigen Verfassungsverständnis ........................

227

B. Unbegrenztes parlamentarisches Zugriffsrecht? ...............................................

228

C. Die Gegenposition ...................................................................................

231

I.

Die Gegner der Kernbereichsthese ...........................................................

234

n.

Eigener Lösungsansatz .........................................................................

235

D. Die Prüfung der verschiedenen Ausstiegsgesetze .............................................

237

I.

Das Atomsperrgesetz, das Kernenergieabwicklungsgesetz und der brandenburgische Verfassungsentwurf ....................................................................

237

n. m.

Das nordrhein-westfälische Volksbegehren ................................................

237

Widerruf oder Rücknahme einzelner AnIagengenehmigungen per Gesetz ...........

238

IV. Standort- und Flächensperrungen ............................................................

239

1. Exkurs: Positive Standortvorsorge ........................................................

239

2. Standortsperrungen als raumplanerisches Instrument zur Verhinderung atomarer Anlagen ....................................................................................

243

§ 13 Die VerteüUDg der HandIUDgsmöglichkeiten

zwischen Bund und Ländern

247

A. Die Gesetzgebungszuständigkeit ..................................................................

247

Zuständigkeit des Bundes ......................................................................

247

I.

16

Inhaltsverzeichnis ß. Zuständigkeit der Länder ......................................................................

248

1. Länderkompetenz aus Art. 74 Nr. lla GG? ............................................

249

a) Ausschöpfung der Kompetenz des Art. 74 Nr. lla GG durch den Bund .....

249

b) Bedürfnis fiir eine bundesgesetzliche Regelung ....................................

251

2. Länderkompetenz aus anderen Kompetenztiteln? ......................................

252

a) Die von den Initiatoren des nordrhein-westfälischen und des bayerischen Volksbegehrens vorgetragene Begründung .........................................

252

b) Das Problem der Doppel- oder Mehrfachkompetenz .............................

253

aa) Die These der 'Mehrfachzuordnung' ..........................................

253

bb) Die Gegenansicht ..................................................................

254

c) Zuordnung mehrdeutiger Gesetze ........................... .........................

256

aa) Die Auslegung des Kompetenztitels ...........................................

257

bb) Bestimmung des Inhalts der zuzuordnenden Regelung .....................

258

d) Die Zuordnung der landesrechtlichen Ausstiegsgesetze ..........................

259

aa) Die Bestimmung des Inhalts der einschlägigen Kompetenztitel ..........

260

(1) Der Umfang der durch Art. 74 Nr. lla GG erteilten Ermächtigung, dargestellt am Beispiel des § 7 Abs. 2 Nr. 6 AtomG ..................

261

(2) Abgrenzung zu Art. 74 Nr. 15 GG ........................................

266

(3) Abgrenzung zu Art. 75 Nr. 4 GG ................. ........... .......... ...

267

bb) Die eigentliche Zuordnung der zu beurteilenden Regelungen ............

271

(I) Das nordrhein-westfälische Volksbegehren ..............................

271

(2) Das bayerische Volksbegehren .............................................

272

(3) Art. 42 Abs. 8 des Entwurfs der brandenburgischen Verfassung....

274

m. Zusammenfassung ...............................................................................

275

B. Kollision zwischen Bundesrecht und Landesrecht.............................................

276

I.

Inhalt und Reichweite des Art. 31 GG ......................................................

276

ß. Verstoß eines landes rechtlichen Ausstiegsgesetzes gegen Art. 74 Nr. lla GG

als 'grundsätzliche Billigung der Kemenergienutzung' ..................................

277

m. Der Förderungszweck des § 1 Nr. 1 AtomG ..............................................

278

IV. Prüfung fiir den Fall, daß § 1 Nr. 1 AtomG gestrichen wird ...........................

279

C. Der Grundsatz der Bundestreue ..................................................................

281

- als Schranke fiir die Länder .................................................................

281

ß. - als Schranke fiir den Bund ...................................................................

283

D. Zusammenfassung ................................. ..................................................

284

I.

Inhaltsverzeichnis

17

§ 14 Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversebrtheit

285

A. Schutz vor radioaktiver Strahlung ................................................................-

288

B. Schutz vor Schadstoffemissionen .................................................................

290

C. Schutz des sozialen Wohlbefindens? .............................................................

291

§ 15 Art. 74 Nr. 11a GG als eingriffslegitimierende Kompetenznonn?

293

§ 16 Pflicht des Staates zum Schutz der Umwelt

296

A. Die Pflicht zum Umweltschutz in den Landesverfassungen .................................

296

B. Die Pflicht zum Umweltschutz nach dem Grundgesetz ......................................

297

Kompetenzbestimmungen ......................................................................

298

11. Grundrechte......................................................................................

299

l. Grundrechte als Abwehrrechte ............................................................

299

I.

2. Grundrechte als objektive Wertentscheidungen ........................................

300

1Il. Das Sozialstaatsprinzip .........................................................................

302

C. Zusammenfassung...................................................................................

304

§ 17 Sicherstellung der Energieversorgung als Aufgabe des Staates

306

A. Was sind öffentliche oder staatliche Aufgaben und welche Folgen knüpfen sich an

diese Qualifizierung? ................................................................................

306

B. Die Pflicht des Staates zur SichersteIlung der Energieversorgung .........................

309

§ 18 Grundrechte der Kernkraftwerksbetreiber

315

A. Der Schutzbereich der Grundrechte..............................................................

315

Art. 12 Abs. I GG ..............................................................................

315

11. Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG ........................................................................

316

I.

1Il. Art. 3 Abs. I GG ................................................................................

318

B. Die Grundrechtsfahigkeit der Kernkraftwerksbetreiber ......................................

318

Die Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG .....................................................

319

I.

I. Grammatikalische Auslegung ......................................... ......... ............

319

2. Historische Betrachtung .....................................................................

319

3. Teleologische Auslegung ...................................................................

321

a) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Grundrechtsfahigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts .............. ...... ........ .....

321

2 Borgmann

18

Inhaltsverzeichnis b) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Grundrechtsflihigkeit juristischer Personen des Privatrechts ..........................................

323

c) Stellungnahmen aus der Literatur.....................................................

326

d) Eigener Lösungsansatz ..................................................................

328

aa) Rechtfertigungsbedürftigkeit staatlicher Beteiligung an privatrechtlichen Unternehmen und Einwirkungspflicht des Staates ....................

329

bb) Einwirkungsmöglichkeiten des Staates auf gemischtwirtschaftliche Unternehmen .......................................................................

331

(1) Abgrenzung nach dem Beteiligungsgrad ..................................

332

(2) Gesellschaftsrechtliche Einflußmöglichkeiten des Staates .............

335

ce) Öffentliche Unternehmen als Instrument staatlicher Politik ..... ... .......

338

U. Überprüfung der Grundrechtsfahigkeit der Kernkraftwerksbetreiber anhand des gefundenen Lösungsmodells ..................................................................

345

1. Die Beteiligungsverhältnisse ...............................................................

345

2. Die AufgabensteIlung 'Energieversorgung' und die sich daraus ergebenden Einflußmöglichkeiten des Staates .........................................................

346

3. Gesellschaftsrechtliche Einwirkungsmöglichkeiten ....................................

351

4. Finanzielle Förderung der Kernenergie durch den Staat..............................

355

a) Subventionen .............................................................................

355

b) Die Freistellungsregelung der §§ 34 ff. AtomG ...................................

356

5. Kooperation und personelle Verflechtungen ............................................

359

6. Originär staatliche Prägung der Atomwirtschaft .......................................

361

7. Gesamtbetrachtung ...........................................................................

363

§ 19 Der Grundsatz des Vertrauensschutzes

366

A. Verfassungsrechtliche Verortung des Vertrauensschutzes ...................................

367

Grundrechte......................................................................................

367

U. Das Rechtsstaatsprinzip ........................................................................

368

ill. Weitere Ansatzpunkte ..........................................................................

372

B. Die Schranken des Vertrauensschutzes für den Gesetzgeber ................................

372

I.

§ 20 Der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers

379

A. Geeignetheit des Ausstiegs zum Schutz vor den Gefahren und Risiken der Kernenergienutzung ............................................................................................

380

Inhaltsverzeichnis

19

B. Erforderlichkeit des Ausstiegs zum Schutz vor den Gefahren und Risiken der Kernenergienutzung .................................................................................... ;..

382

C. Angemessenheit......................................................................................

383

I.

Die Abwägungskriterien .......................................................................

11. Ansätze einer Kollisionslösung rur den legislativen Ausstieg aus der Kernenergie 1. Schutz vor den Gefahren der Kernenergie ..............................................

383 386 386

2. Erhöhung der Schadstoffemissionen durch vermehrten Einsatz fossiler Brenn-

stoffe ............................................................................................

388

3. Energieversorgung und gesamtwirtschaftliche Folgen ................................

390

4. Betreibergrundrechte ........................................................................

390

a) Art. 12 Abs. 1 GG .......................................................................

391

b) Art. 14 Abs. I GG .......................................................................

394

c) Art. 3 Abs. 1 GG .......... ....... .......... ......... ....... ....... .......... ........ ....

398

5. Rechtsstaatlicher Vertrauensschutz ... .... ... .......... ..... ...... .............. ..........

399

D. Zusammenfassung...................................................................................

400

§ 21 Internationale Verpflichtungen

402

A. Der Vertrag zur GIilndung der Europäischen Atomgemeinschaft ..........................

402

B. Verhinderung des Imports von Atomstrom? ...................................................

407

Zusammenfassung der rechtlichen Ergebnisse

413

Anhang

426

A. Kernkraftwerke in der Bundesrepublik Deutschland..........................................

426

B. Beteiligungsstruktur der Kernkraftwerksbetreiber.............................................

429

Literaturverzeichnis

440

Verzeichnis der abgedruckten Tabellen und Abbildungen Tabelle 1: Positionen zur künftigen Nutzung der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland .....................................................................................

26

Tabelle 2: Die Bedeutung der Kernenergie fiir die öffentliche Elektrizitätsversorgung seit 1987 ..............................................................................................

44

Tabelle 3: Stromerzeugung in der Bundesrepublik im Jahre 1992 ..............................

45

Tabelle 4: Die durchsclmittliche Strahlenbelastung der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland seit 1986 in mSv/a .............................................................

50

Tabelle 5: Berufliche Strahlenexposition in westdeutschen Kernkraftwerken seit 1980 .....

69

Abbildung 1: Wahrscheinlichkeit von Schadenszuständen und Kernschrnelzunfallen fiir das Kernkraftwerk Biblis B nach der von der Gesellschaft fiir Reaktorsicherheit erstellten 'Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke, Phase B' .........................

89

Tabelle 6: Der Bestand radioaktiver Abfalle in der Bundesrepublik am 31. 12. 1986, 1989,1990 und 2000 ..........................................................................

101

Tabelle 7: Energiebedingte klimarelevante Spurengase in der Bundesrepublik Deutschland (ohne ehemalige DDR) im Jahr 2005 .... ......... ..... ..... .................... ...........

127

Anhang A: Kernkraftwerke in der Bundesrepublik Deutschland ................................

426

Anhang B: Beteiligungsstruktur der Kernkraftwerksbetreiber ....................................

429

Abkürzungsverzeichnis AG

Aktiengesellschaft; Amtsgericht; Ausfiihrungsgesetz

AKUR

Arbeitskreis fiir Umweltrecht

ANF

Advanced-Nuclear-Fuels GmbH

AöR

Archiv des öffentlichen Rechts

AtomG

Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz)

AtVfV atw

Atomrechtliche Verfahrensverordnung Atomwirtschaft - Atomtechnik (Offizielles Fachblatt der Kerntechnischen Gesellschaft e. V.)

BauGB

Baugesetzbuch

BayGO

Bayerische Gemeindeordnung

BayHO

Bayerische Haushaltsordnung

BayLPlG

Bayerisches Landesplanungsgesetz

BayVBI.

Bayerische Verwaltungsblätter

BB

Betriebsberater

BDatSchG

Bundesdatenschutzgesetz

Beil.

Beilage

BiS

Bundesamt fiir Strahlenschutz

BGBI.

Bundesgesetzblatt

BHO BhnSchG

Bundeshaushaltsordnung

BMFT

Bundesminister fiir Forschung und Technik

BMU

Bundesminister fiir Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

BNFL

British Nuclear Fuels

Bq BR-Drs.

Becquerel

BT-Drs.

Bundestagsdrucksachen

Bundesimmissionsschutzgesetz

Bundesratsdrucksachen

BWVBI.

Baden-Württembergische Verwaltungsblätter

CH 4

Methan

CO 2

Kohlendioxid

COGEMA

Compagnie Generale des Matieres Nucleaires

DB

Der Betrieb

DNS

Desoxyribonukleinsäure

DÖV

Die öffentliche Verwaltung

DRL

Deutscher Rat fiir Landespflege

Dt.AtRS

Deutsches Atomrechts-Symposium

DVBI.

Deutsche Verwaltungsblätter

22 DWK

Abkürzungsverzeichnis Deutsche GeseJlschaft für die Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen

DWR

Druckwasserreaktor

EnWG

Gesetz zur Förderung der Energiewirtschaft (Energiewirtschaftsgesetz)

et

Energiewirtschaftliche Tagesfragen

EuGRZ

Europäische Grundrechtszeitschrift

EVU

Energieversorgungsunternehrnen

GRS

GeseJlschaft für Reaktorsicherheit

GVBI.

Gesetz- und Verordnungsblatt

GW/h

Gigawattstunde

FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung

HdBStR

Handbuch des Staatsrechts

HEW

Hamburgische Electricitätswerke

HGrG HTR IAEO IZE JA JÖR JuS JZ KKW KTA

Haushaltsgrundsätzegesetz Hochtemperaturreaktor Internationale Atomenergie Organisation Informationszentrale der Elektrizitätswirtschaft e. V. Juristische Arbeitsblätter Jahrbuch des öffentlichen Rechts Juristische Schulung Juristenzeitung Kernlcraftwerk Kerntechnischer Ausschuß

Kw/h

Kilowattstunde

LBG

Landbeschaffungsgesetz

LKV Ls.

LWR MI MOX mSv mSv/a MW MWe

NJW

Landes- und Komunalverwaltung (Zeitschrift) Leitsatz Leichtwasserreaktor Megajoule Mischoxid Millisievert Millisievert pro Jahr Megawatt Megawatt elektrisch Neue Juristische Wochenschrift

NOx

Stickoxide

NuR

Natur und Recht

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

NVwZ-RR

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht - Rechtsprechungsreport

NWVBI.

Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter

OS ART

Operational Safety Review Teams

PlUS

Process Inherent Ultimately Safe

Pu

Plutonium

Abkürzungsverzeichnis

RBU

Reaktor-Brennelemente-Union

RGBI.

Reichsgesetzblatt

RSK

Reaktorsicherheitskommission

RWE SDAG

Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Wismut

SNR SRU

23

Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerke Schneller natriumgekühlter Reaktor (Schneller Brutreaktor) Sachverständigenrat filr Umweltfragen

SSK

Strahlenschutzkommission

StriSchVO

Strahlenschutzverordnung

StrVG

Strahlenschutzvorsorgegesetz

Sv

Sievert

SWR

Siedewasserreaktor

SZ

Süddeutsche Zeitung

THTR

Thorium-Hochtemperaturreaktor

U

Uran

UCPTE

Union filr die Koordinierung der Erzeugung und des Transports elektrischer Energie

U02 UPR

Urandioxid Umwelt- und Planungsrecht

UVPG

Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz

VEBA

Vereinigte Elektrizitäts- und Bergwerks AG

VerwArch

Verwaltungsarchiv

VEW

Vereinigte Elektrizitätswerke Westfalen AG

VIAG

Vereinigte Industrieanlagen Gesellschaft

VVDStRL

Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer

WAA

Wiederaufarbeitungsanlage

WiR

Wirtschaftsrecht

WuV

Wirtschaft und Verwaltung (Beilage zum Gewerbearchiv und zu Umwelt- und Planungsrecht)

ZfA

Zeitschrift filr Arbeitsrecht

ZfU

Zeitschrift filr Umweltpolitik und Umweltrecht

ZG

Zeitschrift filr Gesetzgebung

ZRP

Zeitschrift filr Rechtspolitik

ZUR

Zeitschrift filr Umweltrecht

Einleitung Kaum ein anderes Thema der Energieversorgung wurde und wird so kontrovers diskutiert wie die Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung. War die Diskussion zunächst eher durch die Gefahr eines Mißbrauchs der Spaltprodukte zu militärischen Zwecken geprägt, so konzentriert sie sich seit den siebziger Jahren vor allem auf Sicherheits- und Gesundheitsrisiken bei der friedlichen Kernenergienutzung. Der bisherige Höhepunkt der Auseinandersetzung wurde zweifelsohne nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl erreicht. 1 Vor allem in der SPD konnten sich danach die Kernenergiegegner durchsetzen und auf dem Parteitag im August 1986 den Beschluß zur Forderung des Ausstiegs aus der Kernenergie erwirken. In der Bevölkerung waren die Reaktionen durch tiefgreifende Verunsicherungen und durch Glaubwürdigkeitsverluste der politischen und administrativen Institutionen gekennzeichnet, nicht zuletzt wegen der widersprüchlichen Interpretationen der Lage und der unterschiedlichen Empfehlungen für Vorsichtsmaßnahmen. 2 Neuen Auftrieb hat die Diskussion durch die Energiekonsens-Gespräche zwischen Politikern, Umweltverbänden und Vertretern der Energiewirtschaft erhalten, die durch das gemeinsame Schreiben des RWE-Vorstandsvorsitzenden Friedhelm Gieske und des mittlerweile verstorbenen VEBA-Vorstandsvorsitzenden Klaus Piltz an den Bundeskanzler vom 23. November 1992 eingeleitet wurden. Dieses Schreiben enthält Überlegungen für einen Kernenergiekonsens und insbesondere Vorschläge zur Kernenergieforschung und -entwicklung, zu Bedingungen für den Neubau kommerzieller Kernenergieanlagen, zur Restlaufzeit bestehender Kernkraftwerke sowie zur Entsorgung der bestehenden Kernkraftwerke. 3 Die von verschiedenen Meinungsforschungsinstituten ermittelten Positionen der Bevölkerung zur Kernenergie weichen je nach Fragestellung zum Teil erheblich voneinander ab und sind daher nur begrenzt aussagekräftig. Tenden-

Vgl. dazu i.e. PeterslHennen, et 1989, 376 ff. 2

PeterslHennen, et 1989, 382. Das Schreiben ist abgedruckt auf S. 2 der SZ vom 5.16. 12. 1992.

Einleitung

26

ziell hat jedoch das Tschernobyl-Reaktorunglück zu einer ungefähren Verdoppelung der Ausstiegsbefürworter geführt. 4 Eine bundesweit durchgeführte repräsentative Befragung von knapp 2.000 Personen durch die 'Programmgruppe Technik und Gesellschaft' der Kernforschungsanlage Jülich in Zusammenarbeit mit dem Meinungsforschungsinstitut 'Infratest Sozialforschung' , München, erbrachte folgendes Ergebnis: 5 Tabelle 1: Positionen zur zukünftigen Nutzung der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland Nov. 86

Mai 87

Mai 88

Wir sollten soviel Kernenergie wie möglich nutzen und bei Bedarf noch weitere Kernkraftwerke bauen.

7,2 %

8,7 %

5,1 %

Wir sollten den gegenwärtigen Stand der Kernenergienutzung beibehalten und neue Kernkraftwerke nur dann bauen, wenn dafür alte stillgelegt werden.

21,4 %

25,1 %

22,6 %

Wir sollten die heute im Betrieb oder im Bau befindlichen Kernkraftwerke bis zum Ende ihrer Lebensdauer nutzen, jedoch keine neuen bauen.

31,2 %

31,6 %

34,8 %

Wir sollten unsere Kernkraftwerke im Laufe der nächsten Jahre stillegen und auf die Nutzung der Kernenergie ganz venichten.

30,9 %

27,6 %

30,8 %

9,3 %

7,2 %

7,2 %

Wir sollten alle unsere Kernkraftwerke sofort abschalten.

Infolge der Wiedervereinigung hat sich das Meinungsbild der Gesamtbevölkerung etwas zugunsten der Kernenergie verschoben. Eine vom 'Informationskreis Kernenergie', Bonn, beim Institut für Demoskopie, Allensbach, in Auftrag gegebene repräsentative Untersuchung der Kernenergieakzeptanz in Deutschland ergab Ende 1991 folgendes Resultat: 6 Befürworter in:

Westdeulschland

Ostdeulschland

gesamt

Bau weiterer Kernkraftwerke oder Ersetzung alter durch modeme Anlagen.

28 %

43 %

31 %

Kein neuer Kernkraftwerksbau, aber Weiterbetrieb der bestehenden Anlagen.

32 %

22 %

30 %

PeterslHennen, el 1989, 380. Nach PeterslHennen, el 1989, 380, Tabelle 3. Vgl. et 1992, 39 f.

Einleitung

27

Immerhin äußern jedoch noch 47 % der Westdeutschen Vorbehalte gegenüber der Kernenergie, während nur 35 % eine positive Einstellung zur Kernenergie bekennen. Der Bau neuer Kernkraftwerke wird in Westdeutschland von 60 % und in Ostdeutschland von 47 % der Bevölkerung abgelehnt. 7 Bei den Kernkraftgegnern können in zeitlicher Hinsicht drei verschiedene Ausstiegsmodelle unterschieden werden: sofortiger, mittelfristiger und langfristiger Ausstieg. Der sofortige Ausstieg sieht die Abschaltung sämtlicher Kernkraftwerke innerhalb weniger Monate vor, ohne daß dies von der Bereitstellung hinreichender Ersatzkapazitäten abhängen soll. Hingegen bedeutet mittelfristiger Ausstieg die vorzeitige Stillegung aller Atomkraftwerke innerhalb der nächsten Jahre und langfristiger Ausstieg die Weiternutzung der vorhandenen Kernkraftwerke bis zum Ende ihrer Lebensdauer, wobei beide Modelle allerdings voraussetzen, daß die Energieversorgung durch rechtzeitige Bereitstellung von Ersatzkapazitäten oder durch Energieeinsparungsmaßnahmen sichergestellt ist. 8 Während diese beiden Positionen annähernd gleich viele Anhänger aufweisen können, wird die sofortige Abschaltung der Kernkraftwerke nur von einem wesentlich geringeren Anteil der Ausstiegsbefürworter gefordert. Ein Ende der Auseinandersetzung ist nicht abzusehen und selbst bei einem sofortigen Ausstieg wären die Folgen der bisherigen Kernenergienutzung aufgrund der Entsorgungsproblematik wohl noch Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte lang spürbar und müssen bewältigt werden. Die Bewertung der Kernenergienutzung ist jedoch geprägt durch erhebliche U ngewißheit, da unser gegenwärtiges Wissen vor allem über die langfristigen Auswirkungen radioaktiver Strahlung auf Umwelt und Gesundheit noch immer als begrenzt bezeichnet werden muß. Die Entscheidung über den Ausstieg aus der Kernenergienutzung ist in erster Linie eine politische Entscheidung. Ziel dieser Arbeit ist es, die rechtlichen Möglichkeiten und Grenzen dieser Entscheidung zu ermitteln. Dabei kann aber auf eine vorherige Untersuchung der Rechtstatsachen, insbesondere der Bedeutung der friedlichen Nutzung der Kernenergie für die heutige Energieversorgung, der Risiken der Kernenergienutzung sowohl im Normalbetrieb als auch bei Störfällen, der Entsorgungsproblematik und schließlich der unterschiedlichen Folgen der einzelnen Ausstiegsmodelle nicht verzichtet werden (Teil 1). Erst im Anschluß daran sind rechtliche Überlegungen zu den verschiedenen Ausstiegsmodellen anzustellen; zum "administrativen" Ausstieg nach geltendem Recht (Teil 2) und zum "legislativen" Ausstieg durch den Gesetzgeber (Teil 3).

et 1992, 39 f. Vgl. auch Sante, Ausstieg, S. 8 f., 11.

Erster Teil

Rechtstatsachen § 1 Der derzeitige Stand der friedlichen Nutzung der Kernenergie

Die heutige Form der Nutzbarmachung der bei Kernreaktionen freiwerdenden Energie geht zurück auf die von Otto Hahn und Fritz Straßmann im Jahre 1938 entdeckte Kettenreaktion bei der Spaltung (Fission) von Kernen des Uran-Isotops 235 durch den Beschuß mit langsamen Neutronen. Hierbei wird Energie in großen Mengen freigesetzt, welche im Reaktor vor allem in Form von Wärme auftritt, die ihrerseits wieder zur Erzeugung elektrischer Energie genutzt werden kann. Die vollständige Spaltung eines Kilogramms U-235 liefert etwa 84 Millionen Megajoule (MJ) = 24 Millionen Kilowattstunden (kWh) Strom. I Die bei der Kernspaltung übrig bleibenden Spaltprodukte besitzen zumeist einen erheblichen Neutronenüberschuß und sind daher in der Regel radioaktiv. In der heutigen wirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie spielen vor allem die Uranisotope U-233 und U-235 sowie das Plutoniumisotop Pu-239 als Spaltstoffe eine Rolle, da die Kettenreaktion bei diesen Elementen leicht auszulösen und leicht zu steuern ist. Natururan enthält allerdings zu 99,3 % das nicht spaltbare Uranisotop U-238 und nur zu 0,7 % den eigentlichen Spaltstoff U-235. Für den Spaltprozeß in Leichtwasserreaktoren wird dieser Anteil durch Anreicherung in Isotopentrennanlagen auf 2 bis 3,5 % erhöht. 2 Beim Reaktortyp "Schneller Brüter" kann jedoch das Uranisotop U-238 als Brutstoff etwa 60 mal besser ausgenutzt werden als in Leichtwasserreaktoren3 , indem es in mehreren Stufen in den Spaltstoff Pu-239 umgewandelt wird. Aus diesem Grund wird die Weiterentwicklung dieses Reaktortyps auch nach der Zum Vergleich: bei der Verbrennung von I kg Kohle entstehen etwa 33,5 MJ. Dazu näher unter § 2 A. ll. Bei der Anreicherung wird aus dem Natururan etwa 18,5 bis 18,75 % eigentlicher Spaltstoff (angereichertes Uran) gewonnen, der abgereicherte Rest besteht aus nicht spaltbarem Uran-238 und ist damit Abfall bzw. kann als Erstausstattung fiir Schnelle Brutreaktoren genutzt werden, vgl. Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 24 und 65 f. Teilweise findet abgereichertes Uran aufgrund seiner hohen Dichte Verwendung bei der Herstellung kompakter Ausgleichsgewichte im Flugzeugbau (Veith, Strahlenschutzverordnung, S. 15). Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 11/8030, S. 517 f. 2

§ 1 Stand der friedlichen Nutzung der Kernenergie

29

Aufgabe des Schnellen Brüters in Kalkar von verschiedenen Seiten mit Nachdruck gefordert. Die kontrollierte Verschmelzung von Atomkernen (Fusion), bei der die Menge freiwerdender Energie die der Spaltung von Uranisotopen um ein achtfaches übersteigt, kann trotz erster Erfolge" in absehbarer Zeit aufgrund der hierfür erforderlichen extrem hohen Temperaturen von 100 Millionen Grad Celsius noch nicht in ausreichendem Umfang wirtschaftlich nutzbar gemacht werden. 5 Am 2. Dezember 1942 gelang Enrico Fermi und anderen in Chicago die Inbetriebnahme des ersten Kernreaktors. Die Forschung zur friedlichen Anwendung der Kernenergie setzte jedoch in größerem Umfang erst nach dem Kriege ein. In den fünfziger Jahren wurden in zahlreichen Ländern Kernkraftwerke in Betrieb genommen. Die Bundesrepublik Deutschland ist erst seit den Pariser Verträgen von 1955 wieder an der Kernforschung beteiligt. Nach Beseitigung der alliierten Vorbehalte und nach Erlaß des Gesetzes über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (AtomG) bei gleichzeitiger Schaffung der vefassungsrechtlichen Voraussetzungen (Einführung der Art. 74 Nr. Ha und 87c GG)6, in Kraft getreten am 1. 1. 1960, war der Weg für die friedliche Nutzung der Kernenergie in der Bundesrepublik frei. Der erste Reaktor zu Versuchszwecken wurde 1957 in Garching, das erste Versuchskernkraftwerk 1960 in Kahl am Main in Betrieb genommen. Jedoch erst 1968 wurde mit dem Kernkraftwerk Obrigheim die rein kommerzielle Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken aufgenommen. Das AtomG wurde seither mehrfach geändert? und ist in modifizierter Form8 nach wie vor in Kraft.

Bei einem Fusionsexperiment des von den EG-Staaten, Schweden und der Schweiz betriebenen Gemeinschaftsprojekts "Joint European Torus" (JE1) im britischen Culham gelang im November 1991 erstmals eine kontrollierte Kernfusion im Labor. Dabei brannte ein verdünntes Gemisch aus 14 % Tritium und 86 % Deuterium zwei Sekunden lang bei 200 Millionen Grad. Hierbei wurden nur 0,2 Gramm Tritium verbraucht, aber eine Leistung von 1,5 bis 2 Millionen Watt erzeugt - knapp ein Zehntel der Leistung, die zum Aufheizen des Plasmas erforderlich war. Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 11/8030, S. 518 f., 555; von Keszycki, Beilage 'Energie und Umwelt' der SZ Nr. 256 vom 6. 11. 1991, S.li. BGB!. 1959 I, S. 813 f. ? Vg!. Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 484; eingehend zur Entwicklung der Kernenergienutzung in der Bundesrepublik und des AtomG: Beckuns, atw 1985, 20 ff.; Haedrich, AtomG, Einfiihrung Rn. 1- 6; Müller, atw 1988,585 ff. In der Fassung der Bekanntmachung vom 15. 7. 1985, zuletzt geändert durch Gesetz vom 26. 8. 1992, BGB!. I, S. 1564.

30

Teil 1: Rechtstatsachen A. Der Brennstoffkreislauf und die verschiedenen Reaktortypen

In der Bundesrepublik befinden sich insgesamt 20 Reaktorblöcke mit einer installierten Gesamtleistung von 22.395 MWe in Betrieb. 9 Der Betrieb des Kernkraftwerks Mülheim-Kärlich ist seit der Aufhebung der Ersten Teilerrichtungsgenehmigung durch Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. 9. 1988 10 unterbrochen. 13 Reaktoren einschließlich des Hochtemperaturreaktors in Hamm/Uentrop sind bereits endgültig stillgelegt. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR wird zur Zeit kein Kernkraftwerk mehr betrieben. Die Anlage Rheinsberg vom sowjetischen Typ WWER-70 wurde am 12. 11. 1990 stillgelegt. Das gleiche Schicksal erfuhren die Blöcke 1 - 4 in Greifswald. Die in Stendal bei Magdeburg und in Greifswald geplanten beziehungsweise zum Teil fertiggestellten weiteren 8 Reaktorblöcke werden nicht zu Ende gebaut. 11 Die Energieversorgungsunternehmen RWE-Energie AG, Preussen-Elektra AG und Bayernwerk AG befürworteten ursprünglich die Errichtung zweier neuer "Konvoi-Anlagen" westlicher Bauart mit einer Leistung von jeweils 1.300 Megawatt in Greifswald und Stendal. Nachdem aber die von den Unternehmen gewünschte grundsätzliche Zustimmung der SPD nicht erlangt werden konnte, nahmen sie im Frühjahr 1991 von den Vorhaben Abstand.

I. Der Brennstoffkreislauf2 Die Erzeugung elektrischer Energie mit Hilfe von Kernkraftwerken verläuft in einem Brennstoffkreislauf, bei dem man zwischen Brennstoffversorgung und Brennstoffentsorgung unterscheidet. 13 Die Brennstoffversorgung verläuft von der Spaltstoffgewinnung (Uranerzabbau, Urananreicherung, Brennelementefertigung) bis hin zur Bestrahlung der Brennelemente im Reaktor. Die Entsorgung beginnt mit der Auswechslung der verbrauchten Brennelemente im Reaktor und setzt sich fort in der Zwischenlagerung und Wiederautbereitung der Brennstoffe zur Wiederverwendung einerseits und in der Behandlung und Endlagerung des nicht mehr verwendbaren radioaktiven Mülls andererLiebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1993, S. 192. BVerwGE 80, 207 ff. 11 Der Spiegel Nr. 7/91, S. 109 meldet, die im Bau befindlichen Kernkraftwerke würden abgerissen. Die Kosten fiir die Beseitigung trägt die Treuhandanstalt als Eigentümerin der ehemals volkseigenen Kernkraftwerke. 12 Dazu eingehend Luckow, Brennstoftkreisläufe, S. 23 - 67; ferner Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 432 ff. 13 HoppeiBeckmann, Umweltrecht, § 29 Rn. 5; Luckow, Brennstoftkreisläufe, S. 23; Offermann/elas, NVwZ 1989, 1114. 10

§ 1 Stand der friedlichen Nutzung der Kernenergie

31

seits. Die Brennstoffentsorgung kann in der Bundesrepublik zur Zeit mangels aufnahmebereiter Endlager noch nicht als gesichert angesehen werden. Darauf wird an anderer Stelle noch einmal zurückzukommen sein. 14

II. Die Reaktortypen Mehr als 90 % des in der Bundesrepublik erzeugten Stroms stammt aus Wärmekraftwerken. In ihnen wird Wärme produziert, mit der Wasser in einem Dampferzeuger zum Verdampfen gebracht wird. Dieser Wasserdampf treibt eine Turbine mit angeschlossenem Generator zur Stromerzeugung an. Der aus der Turbine austretende Dampf wird in einem Kondensator verflüssigt und als Wasser in den Dampferzeuger zurückgeführt. Bei Kernkraftwerken übernimmt der Reaktor die Rolle der Feuerung des Dampfkessels von konventionellen Kraftwerken. Die WärIneerzeugung erfolgt im Reaktor durch die Kettenreaktion, indem Atomkerne (insbes. Uran) in den Brennelementen mit Hilfe von Neutronen gespalten werden. Die Bewegungsenergie der entstehenden Spaltprodukte und Neutronen wird im Reaktor in Wärme umgewandelt. Diese Primärwärme wird durch ein Kühlmittel (zumeist Wasser) abgeführt und zur Stromerzeugung genutzt. Auch die durch die Kettenreaktion bedingte Nachzerfallswärme, die noch entsteht, wenn der Reaktor abgeschaltet ist, wird verwertet. Die Leistung eines Reaktors kann durch Veränderung der Menge der zur Spaltung benutzten Neutronen reguliert werden. Dies geschieht durch Steuerstäbe, die mehr oder weniger weit in den Reaktor eingefahren werden und dadurch die Zahl der Kernspaltungen abschwächen. Das volle Einfahren der Steuerstäbe in den Reaktorkern bewirkt die Abschaltung des Reaktors. Die in der Bundesrepublik Deutschland verwendeten Reaktortypen lassen sich wie folgt klassifizieren: 15 Leichtwasserreaktoren (LWR), ihrerseits unterteilt in Druckwasserreaktoren (DWR) und Siedewasserreaktoren (SWR), Hochtemperaturreaktoren (HTR) und Schnelle Brutreaktoren (SBR oder SNR). In der Bundesrepublik werden vor allem Leichtwasserreaktoren eingesetzt. Dies läßt sich vor allem dadurch erklären, daß Leichtwasserreaktoren ur14

§ 2 C.

Bender/SpalWf1Sser, Umweltrecht, Rn. 426 - 431 m.w.N.; Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre', BT-Drs. 11/8030, S. 516 ff. 15

32

Teil 1: Rechtstatsachen

spfÜllglich für die amerikanischen U-Boote entwickelt worden sind und somit für diesen Reaktortyp bei der Aufnahme der Kernenergienutzung zur Energieerzeugung bereits Erfahrungswerte voriagen. 16 Daneben wurden fortschrittliche Reaktortypen, die den Energiegehalt der Kernbrennstoffe effizienter ausnutzen, wie der Hochtemperaturreaktor und der "Schnelle Brüter" als Pilotanlagen entwickelt. Der in dem havarierten Kernkraftwerk von Tschernobyl verwendete Reaktortyp (graphitmoderierter, leichtwassergekühlter Druckröhrenreaktor), der auch sicherheitstechnisch anders aufgebaut ist als deutsche Kernkraftwerke, ist eine eigenständige sowjetische Entwicklung, die vom westlichen Ausland nicht übernommen wurde. 1. Leichtwasserreaktoren Bei Leichtwasserreaktoren wird das Wasser als Moderator (Neutronenbremsmittel) und gleichzeitig als Wärlnetransport- und Kühlmittel verwendet. Die Bezeichnung 'Leichtwasserreaktoren' ist irreführend, da normales Wasser als Moderator und Kühlmittel verwendet wird. Sie dient lediglich der Abgrenzung zu den Schwerwasserreaktoren, die mit Deuterium (sog. schwerem Wasser) moderiert und gekühlt werden. 17 Leichtwasserreaktoren arbeiten mit U-238, das in den Brennelementen auf bis zu 3,5 % mit dem Uranisotop U-235 angereichert ist. Nur dieses U-235 kann als Spaltstoff verwendet werden, wobei sich sein Anteil nach 3 Betriebsjahren auf weniger als 1 % verringert. 18 Deshalb ist ein ständiger Nachschub an natürlichem Uran notwendig. Ein Leichtwasserreaktor vom Typ Biblis benötigt beispielsweise jährlich einen Nachschub von 30 t angereichertem Uran, das aus etwa 160 t Natururan gewonnen werden kann. 19 Hierfür wiederum ist der Abbau der ca. zwanzigfachen Menge Uranerzes erforderlich. Die 30 t angereicherten Urans enthalten nach dem Abbrand in drei Jahren noch 28,7 t = 95,7 % Resturan; 0,3 t = 1,0 % Plutonium und 1,0 t = 3,3 % sonstige Spaltprodukte wie z.B. Krypton-85, Jod-129, Strontium-90, Cäsium-134 und -137 sowie stabile Nukiide. 2O Durch den Nachladungsbedarf werden die nur begrenzt vorhandenen Natururanvorräte strapaziert; außerdem wächst die Abfallmenge an nicht verwertbarem U-238 stetig an.

16

SRU 1987, Tz. 1922; Golaytrodreas, Scientific Arnerican, April 1990, 60.

Der einzige SchwelWasserreaktor, der in der Bundesrepublik betrieben wurde, war das Kernkraftwerk Niederaichbach mit einer Nennleistung von 106 MWe. 17

18 19

20

Luckaw, Brennstofflcreisläufe, S. 26; SRU 1987, Tz 1943. Luckaw, Brennstofflcreisläufe, S. 24. Luckaw, Brennstofflcreisläufe, S. 26 m.w.N.

§ 1 Stand der friedlichen Nutzung der Kernenergie

33

a) Siedewasserreaktoren Siedewasserreaktoren arbeiten mit einem emzlgen, in sich geschlossenen Kühlkreislauf. Das Kühlmittel Wasser wird im Reaktor sogleich in Dampf zum direkten Antrieb der Turbine verwandelt. Die Druckverhältnisse sind so gewählt, daß das Wasser beim Durchfluß durch den Reaktorkern verdampft. Dieser Dampf wird abgetrennt und direkt zur Turbine geleitet. An die Turbine ist ein Generator zur Stromerzeugung gekoppelt. Der Dampf ist schwach radioaktiv, so daß sich in den Leitungen, der Turbine und dem Kondensator radioaktive Ablagerungen bilden können. Die dadurch bedingte Strahlung bedarf besonderer Sicherheitsvorkehrungen. In der Bundesrepublik werden zur Zeit folgende Siedewasserreaktoren betrieben: Brunsbüttel, lsar I, Gundremmingen Bund C, Krümmel, Philippsburg 1 und Würgassen. 21

b) Druckwasserreaktoren Druckwasserreaktoren arbeiten mit nicht nur einem, sondern mit zwei Wasserkreisläufen. Die in den Brennelementen erzeugte Wänne wird durch Wasser des Primärkreislaufs in einem Wännetauscher (Dampferzeuger) an das Wasser des Sekundärkreislaufs übertragen. Das Wasser des Primärkreislaufs wird unter hohem Druck von etwa 160 bar gehalten, damit es nicht siedet. Aufgrund des niedrigen Drucks im Sekundärkreislauf entsteht Dampf, welcher der Turbine zugeführt wird, von wo er nach Kondensation als Speisewasser wieder zum Dampferzeuger zurückgeleitet wird. Infolge der Trennung beider Kreisläufe wird vermieden, daß Radioaktivität in den Sekundärkreislauf und somit in die Turbine gelangt. Zur Zeit befinden sich in der Bundesrepublik folgende Druckwasserreaktoren in Betrieb: Biblis A und B, Brokdorf, Emsland, Grafenrheinfeld, Grohnde, Isar 2, Neckar 1 und 2, Obrigheim, Philippsburg 2, Stade und Unterweser. 22 Es handelt sich damit um den am häufigsten verwendeten Reaktortyp. Modeme Druckwasserreaktoren wie z.B. Emsland, lsar 2 und Neckar 2 sind als standardisierte, zeichnungsgleiche 'Konvoi-Anlagen' ausgelegt.

21

Vgl. Anhang A.

22

Vgl. Anhang A.

3 Borgmann

34

Teil 1: Rechtstatsachen

2. Hochtemperaturreaktoren Hochtemperaturreaktoren sind graphitmoderierte und heliumgekühlte Reaktoren. Im Unterschied zu den Leichtwasserreaktoren erfolgt beim HTR die Wärmeabfuhr nicht durch Wasser oder Dampf, sondern durch Heliumgas. Dieses durchströmt eine lose Schüttung von Graphitkugeln mit einem Durchmesser von c.a. 6 cm, die als Spaltstoff jeweils etwa 1 Gramm Uran-235 und als Brutstoff etwa 10 Gramm Thorium-232 in Form kleiner Partikel enthalten. Der Hochtemperaturreaktor stellt einen Teil seines Spaltstoffes selbst her, indem er aus dem Thorium-232 spaltbares Uran-233 erbrütet. Als Neutronenreflektor dient ein Behälter aus Graphit, der seinerseits von einem Eisenmantel umgeben ist. Zur weiteren Abschirmung dient eine Dichthaut aus Stahl, die schließlich nach außen durch einen Spannbetonbehälter geschützt wird. Die Wärme wird über den Heliumkühlkreis in Wärmetauschern an einen WasserDampfkreislauf abgegeben. Das Helium kann dabei Temperaturen von bis nahezu 1.000 Grad Celsius erreichen. Hochtemperaturreaktoren können daher - und das ist der Unterschied zu den "herkömmlichen" Reaktortypen - nicht nur zur Stromerzeugung, sondern auch für Prozeßwärmeanlagen (z.B. zur Kohlevergasung bzw. zur thermischen Wasserspaltung) genutzt werden. 23 Ohnehin liegt bei gasgekühlten Reaktoren die Umwandlung der Wärmeenergie in Elektrizität mit 40 % deutlich über der Effizienz von Leichtwasserreaktoren, die lediglich 33 % erreichen. 24 Hochtemperaturreaktoren können während des Betriebs ständig mit neuen Brennelementen beschickt werden, ohne daß die Anlage vom Netz genommen werden muß. Außerdem besitzen die für Hochtemperaturreaktoren charakteristischen keramischen Kernstrukturen und Brennelemente eine große Wärmeaufnahmekapazität25 , wodurch sich die Sicherheit vor allem bei Störfällen erhöht. Beim Überschreiten einer bestimmten Temperaturgrenze wird der Reaktor unterkritisch und schaltet sich automatisch ab. 26 Aufgrund ihrer größeren Störanfälligkeit und ihrer Kostenintensität konnten sich die Hochtemperaturreaktoren bislang jedoch nicht gegenüber der Leichtwasserreaktortechnik durchsetzen. Der THTR Hamm-Uentrop ist nach dem Beschluß der nordrhein-westfälischen Landesregierung vom 16. 8. 1989 und dem gemeinsamen Stillegungsbeschluß von Bund, Land und Betreibergesellschaft vom 1. 9. 1989 vom Netz genommen worden. In der Entwicklung sind 23 BenderlSparwasser, Umweltrecht, Rn 431; Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 1118030, S. 517. 24 Go/ayfFodreas, Scientific American, April 1990, 59. 25 BMU, 'Umwelt 90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 80 f.; Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 1118030, S. 517. 26 SRU 1987, Tz. 1924.

§ 1 Stand der friedlichen Nutzung der Kernenergie

35

zur Zeit allerdings Hochtemperatur-Modulreaktoren mit einer thermischen Leistung von 200 bis 300 MW und einer niedrigen Leistungsdichte. Dadurch läßt sich die maximale Kerntemperatur auf ca. 1.600 Grad begrenzen, so daß auch beim Ausfall der Kühlmittelsysteme keine Spaltprodukte aus dem Reaktor entweichen. An einem Standort könnten bis zu vier Modulreaktoren errichtet werden. 27 Bislang existiert allerdings noch nicht einmal eine Demonstrationsanlage. 3. Schnelle Brutreaktoren Die Technik dieses Reaktortyps baut darauf auf, daß bei der Kernspaltung durch ein Neutron jeweils mehr als ein neues Neutron freigesetzt wird. Dies ermöglicht nicht nur die Aufrechterhaltung einer Kernkettenreaktion, sondern unter bestimmten Bedingungen auch das sogenannte "Brüten" von neuem spaltbaren Material. Der "Schnelle Brüter" erzeugt ab der zweiten Brennelementebestückung mehr spaltbares Material, als er gleichzeitig zur Energieerzeugung verbraucht. Die Kernspaltung erfolgt mit schnellen, ungebremsten Neutronen; als Kühlmittel wird flüssiges Natrium ("Schneller natriumgekühlter Reaktor", SNR) verwendet, da Wasser die Neutronen zu schnell abbremsen würde und darüber hinaus nicht in der Lage wäre, die Wärmeenergie schnell genug abzuführen. 28 Beim SNR sind drei Kühlkreisläufe hintereinandergeschaltet: Ein Natrium-Primärkreislauf gibt die Wärme an einen NatriumSekundärkreislauf ab. Erst der dritte Kreislauf ist ein Wasser-Dampf-Kreislauf, der die Turbine antreibt. Dies ist aus Sicherheitsgründen erforderlich, da Natrium sowohl mit Sauerstoff als auch mit Wasser heftig reagiert. 29 Nur der Primärkreis lauf, der vollständig in die Sicherheitszone des Reaktorgebäudes integriert ist, enthält radioaktives Material (Natrium). Der "Schnelle Brüter" ist der einzige Reaktortyp, der auch mit dem in der Natur am häufigsten vorkommenden Uran-Isotop U-238 wirtschaftlich arbeitet. Er wandelt dieses direkt nicht spaltbare Uran-238 im sogenannten "Brutprozeß" in spaltbares Plutonium um. 30 Damit können die Natururanvor27 Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 11/8030, S.554. 28 Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 11/8030, S. 518, 554. 29 SRU 1987, Tz. 1925; Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre', BT-Drs. 11/8030, S. 554. 30 Vgl. dazu eingehend Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 430; GolaylTodreas, Scientific American, April 1990, 59 f. Allerdings ist eine mehr als zweifache Aufarbeitung nach Ansicht der Gesellschaft für Reaktorsicherheit nicht sinnvoll, da mit jeder weiteren Wiederaufarbeitung die Mengen teilweise hochradioaktiver Nebenprodukte, die sich nicht entfernen

36

Teil 1: Rechtstatsachen

räte gestreckt werden. Beim Spaltprozeß werden im SNR Brennstäbe mit einer Mischung aus 80 % Natururan und 20 % Plutonium (Pu-239) eingesetzt. In der Bundesrepublik Deutschland wurde diese Technik von 1971 bis 1991 in der 'kompakten natriumgekühlten Kernreaktoranlage I und 11' in Karlsruhe (Nennleistung: 20 MW) erprobt und sollte im Schnellbrüter-Prototypkraftwerk SNR-300 in Kalkar erstmals wirtschaftlich genutzt werden. Nachdem jedoch die Landesregierung von NordrheinlWestfalen die Genehmigung für die Inbetriebnahme dieser Anlage nicht erteilt hat, hat die Bundesregierung im März 1991 in Übereinstimmung mit der beteiligten Elektrizitätswirtschaft die Aufgabe des 'Schnellen Brüters' als Forschungsprojekt beschlossen. In der Bundesrepublik sowie in Frankreich und Großbritannien laufen allerdings noch Planungsarbeiten für den sog. 'European-Fast-Reactor' EFR-1.500. 31 Er soll für eine elektrische Leistung von 1.520 MW ausgelegt sein. Die Standortfrage ist noch nicht entschieden. Der Baubeginn war ursprünglich für 1997 vorgesehen. Der Termin ist allerdings durch Betriebsstörungen in den beiden französischen Brütern Phenix und Superphenix Anfang 1992 in Frage gestellt. Im November 1992 erklärte Großbritannien seinen Rückzug aus dem europäischen Programm für die Erforschung der Brüter-Technologie. 32

III. Sicherheitsvorkehrungen 33 Zweck des Atomgesetzes ist es unter anderem, "Leben, Gesundheit und Sachgüter vor den Gefahren der Kernenergie und der schädlichen Wirkung ionisierender Strahlen zu schützen ... " und "zu verhindern, daß durch Anwendung oder Freiwerden der Kernenergie die innere oder äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet wird", § 1 Nr.2 und 3 AtomG. Dabei genießt der Schutzzweck des § 1 Nr. 2 AtomG Vorrang vor dem Förderungszweck des § 1 Nr. 1 AtomG.34 Dementsprechend verlangt zum lassen, so stark ansteigen, daß deren weitere Verwendung als Kernbrennstoff nicht in Betracht kommt; vgl. FAZ vom 26.3. 1991, S. 33. 31 Dazu auch Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1993, S. 178 f.; Maier, Brüten über dem Eurobrüter, SZ v. 13. 2. 1992, S.43; ders., Der Traum vom Schnellen Brüter, SZ v. 3. 9. 1992, S. 49. 32 SZ v. 20. 11. 1992, S. 2; WeinländerlRoser, in: Jahrbuch der Atomwirtschaft 1993, S.20. 33 Instruktiv dazu Heuser, et 1989, 738 ff.; SRU 1987, Tz. 1964 ff. 34 St. Rspr. seit BVerwG, DVBI. 1972,678 [680] = DÖV 1972,757 [758] - Würgassen, vgl. etwa BVerIGE 53, 30 [58] - Mülheim-Kärlich; zuletzt BVerwG, NVwZ 1989, 1170 [1171] - Würgassen; aus der Literatur z.B. Haedrich, § 1 AtomG Rn. 8 m.w.N.; Hanlke, Energierecht, S. 111; Heilseh, Kerntechnische Anlagen, S. 24; HoppelBeckmann, Umweltrecht, § 29 Rn. 15; Kloepjer, Umweltrecht, § 8 Rn. 12; Lange, NJW 1986, 2460 f.; Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 80 ff.; SendJer, DÖV 1992, 183. Nach Plänen der RegierungskoaIition soll der Förderungszweck ohnehin noch in dieser Legislaturperiode aus dem AtomG gestrichen werden, vgl. § 1 des

§ 1 Stand der friedlichen Nutzung der Kernenergie

37

Beispiel § 7 Abs. 2 AtomG für die Errichtung, den Betrieb oder die sonstige Innehabung kerntechnischer Anlagen die Erfüllung hoher Sicherheitsanforderungen. Die Sicherheit von Kernkraftwerken muß immer auf dem höchstmöglichen Niveau gewährleistet sein und ist dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik ständig anzupassen (dynamisches Vorsorgeprinzip).35 Hierbei sind Sicherheitsanalysen zugrundezulegen, die auf Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen beruhen (ProbabiIistik). Die Sicherheit einer Anlage muß auch ohne Eingreifen aktiver Sicherheitssysteme allein durch passive Schutzmaßnahmen gewährleistet sein (inhärente Sicherheit). 36 Sicherheitstechnische Einrichtungen von Kernkraftwerken sind darauf auszurichten, Personal und Umwelt vor Strahlenbelastungen zu schützen, vor allem einen Unfall zu verhindern oder wenigstens in seinen Schadensfolgen zu begrenzen. Bei Planung, Bau und Betrieb der Anlage ist ein Sicherheitskonzept zu entwickeln und zugrundezulegen, das darauf abzielt, das Entstehen radioaktiver Stoffe sowohl beim Normalbetrieb als auch bei Störfällen unter Kontrolle zu halten und die Auswirkungen von Störfällen möglichst auf die Anlage selbst zu beschränken. Präventiver Schutz muß dabei in jedem Fall Vorrang vor Maßnahmen zur Schadensbegrenzung haben. 37 Dazu muß der Reaktor unter allen Betriebs- und Störfallbedingungen jederzeit abgeschaltet d.h. die Kernspaltung unterbrochen - und die verbleibende Nachzerfallswärme sicher abgeführt werden können. Die radioaktiven Stoffe müssen sicher eingeschlossen bleiben. 38 Sämtlichen deutschen Kernkraftwerken liegt ein gestaffeltes Mehr-Barrieren-System zugrunde, welches zur Abschirmung der DirektstraWung und zur Verhinderung des Austretens radioaktiver Stoffe von innen nach außen betrachtet folgende 6 Sicherheitsvorkehrungen vorsieht: 39

1. Der Brennstoff selbst bindet in seinem Kristallgitter den größten Teil der entstehenden Spaltprodukte.

Referentenentwurfs vom 21. 12. 1992 zur Änderung des Atomgesetzes und die dortige Begrundung (S. 47 und 54). 35 BVerfGE 49, 89 [139 f.] - Kalkar. Der Referentenentwurf zum Atomrechtsänderungsgesetz (vgl. Fn. 34) sieht dementsprechend in § 19a die Einfiihrung periodischer Sicherheitsüberprufungen fiir Kernkraftwerke vor. 36 BMU, 'Umwelt 90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 83; Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 11/8030, S. 519. 37 Heuser, et 1989, 740. 38 RSK, Umwelt 4/5 1986, S. 28; Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre', BT-Drs. 1118030, S. 519. 39 RSK, Umwelt 4/5 1986, S. 28; GRS, Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke, Phase B, S. 9 f.

38

Teil 1: Rechtstatsachen

2. Die Hüllrohre für den Brennstoff (Brennstäbe) sind gasdicht verschweißt, damit die bei der Kernspaltung entstehenden Edelgase und leicht flüchtigen Spaltprodukte nicht nach außen gelangen können. Eine größere Anzahl von Brennstäben wird dabei zu Brennelementen zusammengefaßt. 3. Der Reaktordruckbehälter (aus besonderem, 10 bis 20 cm starkem Stahl) und der Reaktorkühlmittelkreislauf sind beide hermetisch abgeschlossen.

4. Ein bis zu 2 Meter dicker Stahlbetonmantel mit besonderer Kühlung umschließt als sogenannter 'biologischer Schild' den Reaktor (Primärabschirmung). 5. Eine dichte, kugelförmige Hülle aus 30 Millimeter dickem Spezialstahl (Containment) mit einer zusätzlichen Stahldichthaut von 4 Millimeter Stärke umschließt den gesamten Reaktor einschließlich Kühlkreislauf gasdicht und druckfest. Im Innern dieses Sicherheitsbehälters herrscht ständig Unterdruck. Die aus ihm herausführenden Rohrleitungen sind mit schnellschließenden Armaturen versehen. Sein Innenraum kann nur über besondere, dicht abschließende und druckfeste Personen- und Materialschleusen erreicht werden, so daß keine direkten Verbindungen zwischen dem Innenund dem Außenbereich des Sicherheitsbehälters bestehen. 40

6. Eine bis zu 1,80 Meter dicke äußere Stahlbetonhülle schützt den Reaktor gegen Einwirkungen von außen und dient als zusätzliche Barriere gegen den Austritt radioaktiver Stoffe. Durch Anlegen von Unterdruckzonen innerhalb dieser Sicherheitsbarrieren soll erreicht werden, daß bei Auftreten von Undichtigkeiten keine kontaminierten Stoffe aus dem Reaktorgebäude entweichen, sondern daß Luft von außen in die Unterdruckzone strömt. Allerdings muß diese Technik versagen, wenn der Unterdruck bei größeren Schäden nicht aufrechterhalten werden kann. Die aktiven Schutzsysteme greifen bei Überschreiten bestimmter Grenzwerte automatisch ein und schalten etwa bei Störung der Wärmeabfuhr den Reaktor ab. Ein Eingreifen des Bedienungspersonals ist in der ersten Phase eines Störfalls nicht möglich und nicht erforderlich. Sämtliche wichtigen Sicherheitssysteme wie Notversorgung, Ventile, Rohrleitungen und Pumpen sind mehrfach vorhanden und voneinander unabhängig (Prinzip der Redundanz). Für den Ausfall eines Sicherheitssystems sind Reserven vorgesehen. 41 So sind beispielsweise für den folgenschweren Bruch der 40 Ein solcher Sicherheitsbehälter war beispielsweise in dem Unfallreaktor von Tschernobyl nicht vorhanden; vgl. RSK, Umwelt 4/5 1986, S. 28; Lukes, BB 1986, 1306. 41 BMU,' Umwelt 90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 83; SR U 1987, Tz. 1968.; Wagner, NJW 1987, 411 Fn. 2.

§ 1 Stand der friedlichen Nutzung der Kernenergie

39

Kühlmittelleitung alle Niederdruckbereiche von Systemen, die an den Reaktorkühlkreislauf anschließen, durch zwei oder mehr in Reihe liegende Absperrarmaturen vom Reaktorkühlkreislauf getrennt, die für den vollen Reaktordruck ausgelegt sind. Teilweise werden hierfür Rückschlagarmaturen eingesetzt, die selbsttätig schließen. Jede der beiden Absperrarmaturen stellt also bereits allein den Einschluß des Reaktorkühlmittels in allen Betriebszuständen sicher. 42 Auch das Notkühlsystem zur Verhinderung der Überhitzung des Reaktorkerns basiert auf dem Prinzip der Redundanz. Ferner sind anlageninterne Notfallmaßnahmen, die vom Betriebspersonal im Falle des Versagens des automatischen Sicherheitssystems zu ergreifen sind oder die über die automatischen beziehungsweise fest vorgeplanten Sicherheitsaktionen hinausgehen, vorgesehen. 43 Redundante Teilsysteme werden nach Möglichkeit räumlich getrennt oder baulich besonders geschützt, damit Fehler in einem System nicht auf das Nachbarsystem übergreifen können. Die parallelen, dem gleichen Zweck dienenden Sicherheitssysteme basieren in ihrer Wirkungsweise auch auf unterschiedlichen Verfahrenstechniken (Prinzip der Diversität)44, weil andernfalls die Gefahr bestünde, daß baugleiche Sicherheitsvorkehrungen konstruktionsbedingt gleichzeitig ausfallen könnten. Die Reaktorleistung wird zum Beispiel ständig mit unterschiedlichen Meßmethoden überwacht:

1. Durch Messung des Neutronenflusses (Anzahl der Kernspaltungen pro Zeiteinheit) , 2. durch Messung der Temperatur des Reaktorkühlmittels, 3. durch Druckmessung im Primärkreislauf. Schließlich sind die Sicherheitseinrichtungen nach Möglichkeit so aufeinander abgestimmt, daß die Funktion eines Sicherheitssystems im Falle eines Versagens der Anlage nicht beeinträchtigt wird, sondern von selbst in die richtige Richtung wirkt (Fail-Safe-Technik).45 So werden etwa die (aus Cadmium oder Bor bestehenden) Steuerstäbe des Reaktors elektromagnetisch über dem Reaktorkern gehalten. Bei Unterbrechung der Stromversorgung fallen sie somit von selbst in den Reaktorkern und stoppen die Kettenreaktion dadurch in weniger als 2 Sekunden.

42 Stellungnahme der Gesellschaft für Reaktorsicherheit zum Bibis-Störfall, et 1989, S. 6. Vgl. hierzu auch die Darstellung in § 2 B. n. 3. a). 43 Heuser, et 1989, 740. 44 Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 11/8030, S. 520; SRU 1987, Tz. 1968. 45 BMU, 'Umwelt 90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 83; Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 11/8030, S. 520; SRU 1987, Tz. 1968.

Teil 1: Rechtstatsachen

40

Trotz all dieser weitreichenden Sicherheitssysteme können Unfälle auch nach Ansicht der AnIagenbetreiber jedoch nie mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen werden. 46 N. Die Betreiber der deutschen Kemenergieanlagen

Betroffen von einem Ausstieg aus der Kernenergie wären in erster Linie die Betreiber der Anlagen. Energieerzeugungs- und Energieversorgungsunternehmen werden häufig als gemischtwirtschaftliche Unternehmen betrieben, welche privatrechtlich organisiert sind und an denen neben der öffentlichen Hand auch Privatpersonen beteiligt sind. Die gemischtwirtschaftlichen Unternehmen können ihrerseits je nach den Einflußmöglichkeiten der öffentlichen Hand wieder unterteilt werden in verwaltungsbeherrschte, verwaltungskontrollierte und privatbeherrschte. 47 Schon früh haben sich Kommunen und staatliche Stellen in der Energieversorgung engagiert. Heute sind die größeren Verbundunternehmen zumeist als Kapitalgesellschaften verfaßt, wobei die Höhe der Beteiligung der öffentlichen Hand für die Klassifizierung als gemischtwirtschaftliches Unternehmen keine Rolle spielt. Gleiches gilt für die Frage, ob der Staat unmittelbar oder nur mittelbar beteiligt ist. 48 1987 haben diejenigen gemischtwirtschaftlichen Energieversorgungsunternehmen, an denen die öffentliche Hand mit mehr als 25 % beteiligt ist, etwa 83 % des Stroms produziert. 49 Bei den Kemkraftwerksbetreibern in der Bundesrepublik Deutschland handelt es sich überwiegend um Schachtelbeteiligungen, an denen die öffentliche Hand entweder durch Zwischenschaltung von Holding-Gesellschaften oder über Kapitalbeteiligungen an anderen Unternehmen - insbesondere der großen Energieversorgungsunternehmen - partizipiert. Die meisten Betreiber haben die Rechtsform der GmbH gewählt. Die BeteiligungsverhäItnisse sind naturgemäß ständigen Schwankungen unterworfen. Trotz einer gewissen Tendenz 46

Heuser, et 1989, 739.

Ehlers, Verwaltung, S. 10, Ronellenfitsch, HdbStR m, § 84, Rn. 28. Die von Ehlers gewählte Differenzierung allein nach dem Beteiligungsgrad (verwaltungsbeherrscht: mehrheitliche Beteiligung der öffentlichen Hand, verwaltungskontrolliert: öffentliche Hand zwischen 25 und 50 % beteiligt, privatbeherrscht: öffentliche Hand zu weniger als 25 % beteiligt) gibt allerdings über die tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse keine zuverlässige Auskunft, wie Ehlers selbst einräumt. Auch auf privatbeherrschte gemischtwirtschaftliche Unternehmen im Ehlers'schen Sinne kann die öffentliche Hand gezielt Einfluß nehmen. Vgl. dazu auch ausfiihrlich unter § 18 B. 47

48

S. 2 f.

Christi Degenhan, Durchgriff, S. 40; SchmidJ-Aßmann, BB-Beil. 34 zu Heft 27/1990,

49 Hofmann, Privatwirtschaft, S. 31 f.; nach Wesener, Energieversorgungskonzepte, S. 70, 72 liegt dieser Anteil sogar noch darüber.

§ 1 Stand der friedlichen Nutzung der Kernenergie

41

zur Privatisierung (z.B. VIAG; VEBA) ist jedoch die dominierende Stellung der öffentlichen Hand am Ende der Beteiligungskette in vielen Fällen deutlich. Sie können daher insoweit als verwaltungsbeherrscht bzw. verwaltungskontrolliert im obigen Sinne angesehen werden. Bezüglich der Beteiligungsverhältnisse im einzelnen wird auf die Darstellung im Anhang B verwiesen. Die Errichtung von Zwischen- und Endlagern für radioaktive Abfälle hat ohnehin gemäß § 9a Abs. 3 AtomG durch die Länder bzw. durch den Bund zu erfolgen, wobei sich diese allerdings zur Erfüllung ihrer Pflicht auch Dritter bedienen können.!iO B. Bedeutung der Kernenergie f"ür die Energieversorgung51

Die Ausstiegsdiskussion kann an der Bedeutung der Kernenergie für die Energieversorgung und damit zusammenhängend an der Frage der Ersetzbarkeit der Kernenergie durch andere Energiequellen nicht vorbeigehen. Auf letztere soll allerdings erst an späterer Stelle52 eingegangen werden. Die Sicherstellung hinreichender Energieversorgung hat gerade in einer Industrienation wie der Bundesrepublik Deutschland enorme Bedeutung für die Volkswirtschaft und für die allgemeinen Lebensbedingungen. Der Staat ist hierbei besonders in die Verantwortung genommen. 53 Ohne die Problematik an dieser Stelle schon vertiefen zu wollen54 , kann bereits hier festgestellt werden, daß der Staat zur Sicherung hinreichender Energieversorgung vor allem aufgrund des Sozialstaatsprinzips und aufgrund der Grundrechte verpflichtet ist, sofern ihm diese Pflicht nicht ohnehin durch die jeweilige Landesverfassung55 ausdrücklich auferlegt ist. Die Pflicht zur Förderung bestimmter Energiequellen läßt sich daraus allerdings nicht herleiten; die Staatsaufgabe zur Sicherstellung der Energieversorgung ist vielmehr energiequellenneutral zu verstehen. 56

!iO Nach den Koalitionsvereinbarungen der Bundesregierung soll jedoch die Endlagerung noch in dieser Legislaturperiode privatisiert werden, vgl. dazu §§ 9a, 9b, 23 und 58 Abs. 6 u. 7 des Referentenentwurfs vom 21. 12. 1992 zur Änderung des Atomgesetzes. 52

Vgl. dazu auch Ronellenjitsch, Genehmigungsverfahren, S. 22 - 35 (insbes. S. 34 f.). § 3 A.

53

Jarass, Wirtschaftsverwaltungsrecht, § 20 Rn. 2.

51

54

Näheres s.u., § 17.

55

Vgl. etwa Art. 152 S. 2 Bay.Verf.

56

Anders u. U. auf einfachgesetzlicher Ebene, vgl. § 1 Nr. 1 AtomG.

42

Teil 1: Rechtstatsachen

Ausfluß dieser staatlichen Inpflichtnahme ist beispielsweise das Gesetz zur Förderung der Energiewirtschaft (Energiewirtschaftsgesetz) vom 13. 12. 193557 , dessen in der Präambel verankerte Zielsetzung es ist, ... .. ... die Energiewirtschaft als wichtige Grundlage des wirtschaftlichen und sozialen Lebens im Zusammenwirken aller beteiligten Kräfte der Wirtschaft und der öffentlichen Gebietskörperschaften einheitlich zu filhren, den notwendigen öffentlichen Einfluß in allen Angelegenheiten der Energieversorgung zu sichern, volkswirtschaftlich schädliche Auswirkungen des Wettbewerbs zu verhindern, einen zweckmäßigen Ausgleich durch Verbundwirtschaft zu fördern und durch all dies die Energieversorgung so sicher und billig wie möglich zu gestalten".

Ferner ist in diesem Zusammenhang das Energiesicherungsgesetz vom 20. 12. 197458 sowie die Elektrizitätssicherungsverordnung vom 26. 4. 198259 zu nennen. Beide haben zum Ziel, bei schwerwiegenden einfuhrbedingten Versorgungsengpässen von Mineralöl oder Erdgas Maßnahmen zur Deckung des lebenswichtigen Bedarfs an Energie anordnen zu können. 60 Aufgrund der fortschreitenden Verknappung der natürlichen Energieressourcen wie Kohle, Erdöl, Erdgas etc. sowie infolge der anwachsenden Umweltbelastungen gewinnen andere Energiequellen wie vor allem die Kernenergie' aber auch regenerative Energiequellen (Wasser, Biomasse, Geothermik, Wind und Sonne) sowie Maßnahmen zur Energieeinsparung zunehmend an Bedeutung. Erneuerbare Energien61 trugen beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1988 etwa 6 % zur elektrischen Arbeit bei62 , wodurch allerdings nur etwa 2,5 %. des Primärenergiebedarfs gedeckt wird. Dieser Prozentsatz soll sich nach der Zielsetzung des Gesetzes über die Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Energien in das öffentliche Netz (Stromeinspeisungsgesetz) vom 7. 12. 199063 erhöhen. Hiernach sind die öffentlichen Energieversorgungsunternehmen verpflichtet, den in ihrem Versorgungsgebiet aus erneuerbaren Energien erzeugten Strom abzunehmen und hierfür eine Mindestvergütung zu entrichten. Im Jahre 2010 könnten Schätzungen zufolge 10 % des Primärenergiebedarfs durch regenerative Energiequellen gedeckt werden. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen fordert eine Quote von 7 bis 10 % bis zur Jahrhundertwende. 64 Das Bundesministe57 58 59

60 61 62

RGBI. I, S. 1451, zuletzt geändert durch Gesetz vom 19.12.1977, BGBI. I, S. 2750. BGBI. I, S. 3681, zuletzt geändert durch Gesetz vom 19. 12. 1979, BGBI. I, S. 2305. BGBI. I, S. 514.

ObemoltelDanner, Energiewirtschaftsrecht ß, XVO S. Ib u. XVß S. 59. Hierzu auch SRU 1987, Tz. 2002 - 2012 sowie ausfilhrlich unter § 3 A. Müller/Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. 5.

BGBI. I S. 2633, in Kraft getreten am 1. Januar 1991. SRU 1987, Tz. 2021. Zu den Möglichkeiten und Grenzen der Nutzung regenerativer Energieträger vgl. Voß, 8. Dt.AtRS, S. 245 ff. 63 64

§ 1 Stand der friedlichen Nutzung der Kernenergie

43

rium für Forschung und Technologie stellte 1991 für erneuerbare Energien und rationelle Energieverwendung Mittel in Höhe von 318 Mio. DM bereit. 65 Die friedliche Nutzung der Kernenergie ist gegenwärtig an der Stromerzeugung in Kraftwerken der öffentlichen Versorgung in der Bundesrepublik zu etwa einem Drittel beteiligt. In den sog. alten Bundesländern liegt ihr Anteil seit der Inbetriebnahme des letzten Konvoi-Kraftwerks im Jahre 1988 sogar noch deutlich höher (1989: 39,3 %, 1990: 37,9 %, 1991: 37,0 %, 1992: 39,4 %). Dabei weicht der Stromerzeugungsanteil der Kernenergie in den einzelnen Bundesländern ganz erheblich voneinander ab. Während im Jahre 1990 in den Ländern Berlin, Bremen, Hamburg, Rheinland-Pfalz und Saarland überhaupt keine Kernkraftwerke betrieben wurden, wird der Stromerzeugungsanteil der Kernenergie in Schleswig-Holstein mit 84,7 %, in Hessen mit 67,3 %, in Niedersachsen mit 65,0 %, in Bayern mit 62,5 %, in Baden-Württemberg mit 57,4 % und in Nordrhein-Westfalen mit 0,9 % angegeben. 66 Allerdings werden einige der kernkraftwerksfreien Bundesländer (insbes. Hamburg) von ihren Nachbarländern in teilweise erheblichem Umfang mit Atomstrom versorgt. Die Bedeutung der Kernenergie für die öffentliche Elektrizitätsversorgung seit 1987 kann der nachstehenden Tabelle entnommen werden. Die Angaben beziehen sich nur auf die Kraftwerke der öffentlichen Versorgung und erfassen somit nicht die Stromerzeugungskapazitäten von Bergbau, verarbeitendem Gewerbe und Deutscher Bundesbahn. 67

65 Dies bedeutet gegenüber 1990 eine Steigerung um ca. 30 % (vgl. BMFf-Joumal Nr. 5/1991, S. 6). 66 Deutsches Atomforum, Kemenergie-Aktuell 1991 (Faltblatt). 67 Die GesamJ-Stromerzeugung in der Bundesrepublik Deutschland verteilte sich im Jahre 1989 beispielsweise wie folgt: Kraftwerke der öffentlichen Versorgung: 378,2 Mio. MWh = 85,8 %; Stromerzeugungsanlagen in Bergbau und verarbeitendem Gewerbe: 57,2 Mio. MWh = 13,0 %; Stromerzeugungsanlagen der Deutschen Bundesbahn: 5,4 Mio. MWh = 1,2 % (Statist. Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 1991, S. 233; Müller/Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. B 28).

Teil 1: Rechtstatsachen

44

Tabelle 2: Die Bedeutung der Kernenergie für die öffentüche Elektri1.itätsversorgung seit 1987 a) Brutto-Stromerzeugung b) davon Kerninsgesamt in Anteil der Mio.MWh energie in Mio Kernenergie (ca.) MWh (ca.) in Prozent

Jahr 1987 d) 1988 d) 1989 d) 1990 e) 1991 e) 1992 e)

355,0 367,3 378,2 466,0 459,6 460,8

129,5 144,1 148,6 151,5 146,3 157,6

36,5 39,2 39,3 32,5 31,6 34,2

insgesamt inMW (ca.) 86.761 87.994 89.591 108.306

Brutto-Engpaßleistung c) davon Kernenergie Anteil der inMW Kernenergi (ca.) in Prozent 19.778 22.481 23.791 25.343 noch keine Angaben noch keine Angaben

22,8 25,5 26,5 23,4

a) Quellen: Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 1991, S. 233; MüUerlLiebhoIz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. B 25 - B 27; Deutsches Atomforum, Kernenergie-AIctuell 1991 (FaItblatt); lnformationszentraIe der Elektrizitätswirtschaft, Energiewirtschaft kurz und bündig, Ausgabe 1991, S. 16 - 18; dies., Strom-Themen Nr. 3/1993, S. 6. b) Elektrizitätserzeugung sämtlicher StromerzeugungsanIagen der öffentlichen Versorgung (ab Generator) im gesamten Jahr einschließl. des Eigenverbrauchs der Stromerzeugungsan!age. c) Summe der maximalen Dauerleistung der Kraftwerlce, die unter NormaIbedingungen erreicht werden kann. Sie wird begrenzt durch das leistungsschwächste AnIagenteil. Von der Brunoleistung ist die Nenoleistung zu unterscheiden, die sich nach Abzug des Eigenverbrauchs der Kraftwerlce bei der Stromerzeugung ergibt. Die Differenz beträgt etwa 6 bis 8 Prozent (vgl. SRU 1987, Tz. 1839). Noch geringer als die Netto-Engpaßleistung ist die /atsilchlich zur Elektrizitätserzeugung veTjügbare Leistung, da hierzu noch KraftwerlcsaustäUe beispielsweise durch Reparaturen oder Revisionen oder durch Auskopplung von Fernwärme im Winter mit der Folge einer geringeren Stromausbeute zu berücksichtigen sind. d) "Alte" Bundesländer. e) "Alte" und "neue" Bundesländer.

Von 1961 bis Ende 1991 wurden in der Bundesrepublik mehr als 1,6 Mrd. MWh Atomstrom erzeugt. 68 Auch wenn in den neuen Bundesländern der Strom fast ausschließlich in Braunkohlekraftwerken gewonnen wird, ist die Kernenergie - auf das gesamte Bundesgebiet bezogen - nach wie vor die bedeutendste Energiequelle_ Die folgende Tabelle zeigt den Anteil der einzelnen Energieträger an der Bruttostromerzeugung im Jahr 1992:

68

atw 1992, S. A 155.

§ 1 Stand der friedlichen Nutzung der Kernenergie

45

Tabelle 3: Stromeneugung in der Bundesrepublik im Jahre 1992 a) EnergiequeUe

alte Bundesländer Mio.MWh Prozent

neue Bundesländer Mio.MWh Prozent

gesamt Mio.MWh Prozent

Kernenergie Braunkohle Steinkohle Erdgas Wasserlcraft Heizöl Sonstige

157,6 83,6 111,3 19,2 17,3 7,0 3,6

39,4 20,9 27,9 4,8 4,3 1,8 0,9

0,0 58,0 0,1 0,8 1,6 0,7 0,0

0,0 94,8 0,2 1,3 2,6 1,1 0,0

157,6 141,6 111,4 20,0 18,9 7,7 3,6

34,2 30,7 24,2 4,4 4,1 1,6 0,8

Summe

399,6

100,0

61,2

100,0

460,8

100,0

a) lnformationszentrale der Elektrizitätswirtschaft, Strom-Themen Nr. 3/1993, S. 6 (vorliufige Zahlen).

Weltweit waren im September 1992 in 29 Ländern 417 Kernkraftwerksblöcke mit einer Gesamtbruttoleistung von 346.242 MWe in Betrieb, 74 Blöcke mit 68.079 MWe befanden sich im Bau. 69 Mit 21 in Betrieb befindlichen Anlagen (einschließlich Mülheim-Kärlich) befand sich die Bundesrepublik Deutschland damit an 6. Stelle, aufgeschlüsselt nach der Gesamtbruttoleistung der Anlagen allerdings auf Platz 4. 70 Gemessen am Anteil der Kernenergie an der Netto-Stromerzeugung lag die Bundesrepublik im ersten Halbjahr 1992 EG-weit mit 32 % auf Platz 4 hinter Frankreich (73 %), Belgien (62 %) und Spanien (34 %).71 Zur Erzeugung des im Jahre 1990 in der EG aus Kernenergie gewonnenen Stroms wären 190 Millionen Tonnen Steinkohle erforderlich gewesen. 72 Weltweit werden etwa 17 % der gesamten elektrischen Arbeit aus Kernenergie umgewandelt. Aufgeschlüsselt nach der geleisteten Bruttoarbeit befanden sich 1989 unter den zehn leistungsstärksten Kernkraftwerksblöcken der Erde allein sieben aus der Bundesrepublik, angeführt vom Kernkraftwerk Grohnde mit 10.867 GWh.73 Die durchschnittliche Zeitverfügbarkeit der bundesdeutschen Anlagen betrug 1989 83,3 %, die durchschnittliche Arbeitsverfügbarkeit 80,9 % und die durchschnittliche Arbeitsausnutzung 76,3 %.74

Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1993, S. 150 f. Vgl. die Statistik bei Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1993, S. 151. 71 Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1993, S. 177. 72 SZ vom 19.3.1991, S. 27. 73 Müller/Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. 2. 74 Müller/Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S.35 und S. B 40; atw 1990, S. 400. 69

70

§ 2 Risiken der friedlichen Nutzung der Kernenergie

Die Energiegewinnung aus Kernkraft wird in erster Linie mit dem Risiko von Strahlenschäden an Mensch und Umwelt verbunden. Daneben spielen allerdings auch Auswirkungen nichtradiologischer Art wie z.B. die Sozialverträglichkeit der Kernenergienutzung eine Rolle. 1 Die teilweise harten verbalen und nichtverbalen Auseinandersetzungen um den Einsatz der Kernenergie in der Bundesrepublik seit den siebziger Jahren haben dies deutlich vor Augen geführt. Die folgende Untersuchung konzentriert sich jedoch auf eine Analyse der radiologischen Risiken der Kernenergienutzung. 2 Ionisierende Strahlen (von radioaktiven Elementen ausgehende Alpha-, Beta-, Gamma-, Röntgen- oder Neutronenstrahlen) können für die Umwelt also für lebende und für tote Materie, vor allem aber für Leben und Gesundheit der Bevölkerung - erhebliche Folgen haben. Man unterscheidet generell zwischen der externen, also von außen auf den menschlichen Körper einwirkenden Strahlung und der internen Strahleneinwirkung. Letztere beruht vor allem auf der Inhalation von Radionukliden mit der Atemluft und auf der Inkorporation von Radionukliden mit der Nahrungsaufnahme (Ingestion). Die Auswirkungen radioaktiver Strahlen auf einen Organismus hängen vor allem von deren Energiedosis ab, wobei die Verweildauer eines Nuklids im Körper eine große Rolle spielt. Radioisotope können sich zum einen krankheitserregend, zum anderen erbanlagenverändernd (mutagen) auswirken3 , wobei eine Steigerung der Strahlendosis zwar nicht in jedem konkreten Fall, aber zumindest im statistischen Mittel die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts erhöht. Die Beziehung zwischen der Strahlendosis und deren Auswirkungen ist also linear; eine Untergrenze, bei der Strahlenschäden absolut ausgeschlossen sind, ist bisher nicht festgestellt worden. 4 Zumindest für vererbbare Defekte und maligne Erkrankungen wie Leukämie und Krebs geht die StrahlenschutzEnquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 11/8030, S. 538, 550 f. 2 Zur Bewertung der Sozialverträglichkeit der Kernenergienutzung und des Ausstiegs aus der Kernenergie sei verwiesen auf Meyer-Abich/Schejold, Atomwirtschaft, insbes. S. 23 ff., 86 ff., 163 ff. Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 471 ff. 4 Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 11/8030, S. 536 f.; BVerwGE 61, 256 [266); Bender/Sparwasser, UmweItrecht, Rn. 476; Roßnagel, UPR 1990, 89; Veith, Strahlenschutzverordnung, S. 12.

§ 2 Risiken der Kemenergienutzung

47

kommission davon aus, daß keine Schwellendosis besteht, die erst überschritten werden müßte, damit diese Strahlenwirkungen ausgelöst werden. Hier kann bereits die Schädigung einer einzigen Zelle genügen, um Erkrankungen zu verursachen. 5 Die Strahlenexposition setzt chemische Reaktionen in den Körper- und Keimzellen in Gang. Dabei ist zwischen Früh- und Spätschäden zu unterscheiden. Bei hoher Strahlenexposition treten beim Menschen Frühschäden in somatischer Form wie etwa Hautverbrennungen, Haarausfall, Organfunktionsstörungen und Veränderungen des Blutbildes auf, die unter Umständen unmittelbar zum Tod führen können. Etwa ab einer Äquivalentdosis von 0,5 Sv treten Sofortschäden in Gestalt von Blutbildveränderungen, Übelkeit und Durchfall auf. Eine Dosis von 2 Sv und mehr kann innerhalb weniger Wochen den Tod verursachen; etwa ab 5 Sv ist diese Folge zwingend. Bei geringerer Strahlenbelastung können komplexe Moleküle wie etwa die DNS geschädigt werden. Dadurch kann es zu Störungen der Zellteilungen, Veränderungen von Größe oder Form der Zellen und zu Zellwucherungen (Krebs) kommen. Veränderungen der Erbanlagen haben unter Umständen embryonale Mißbildungen zur Folge. Ob, wann und in welcher Form solche Spätfolgen auftreten, ist nur schwer vorhersehbar. Die Strahlenwirkung ist jedoch im Vergleich zu höherer Strahlenbelastung nicht schwächer, sondern nur seltener; d.h. bei einer Strahlenexposition von 10.000 Menschen mit 1 Sv sind die gleichen Auswirkungen zu erwarten wie bei einer Bestrahlung von 1 Millionen Menschen mit 1 mSv. Aufgrund ihrer höheren Zellteilungsfrequenzen sind allerdings Lebewesen in jüngerem Alter stärker gefährdet als in höherem Alter. Beim Reaktorunfall von Tschernobyl wurden 3 bis 4 % des radioaktiven Inventars des Reaktors mit 1,8 x 1018 Bq. freigesetzt, wobei diese Zahlen allerdings auf offiziellen Angaben der ehemaligen UdSSR beruhen und daher mit einem hohen Unsicherheitsfaktor belastet sind. Innerhalb weniger Wochen starben über 30 zum Bedienungspersonal und zu den Rettungsmannschaften gehörende Personen, die einer Strahlenexposition von 2 bis 16 Sv ausgesetzt waren. Im Umkreis von 30 km wurden 135.000 Menschen mit einer Dosis von 0,16 bis 0,3 Sv belastet. Insgesamt sind etwa 400 Millionen Menschen betroffen, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Fast 5 Millionen Menschen leben nach wie vor in Gebieten mit erhöhtem Risiko. Auf die Fläche des damaligen Bundesgebietes verteilt war die Menge von "nur" einem Gramm Jod-BI und einigen hundert Gramm Cäsium-134 und -137 niederge-

Bundesregierung, Berichte über die Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung in den Jahren 1989 und 1990, BT-Drs. 12/69, S. 10 f. und 12/2677, S. 39.

48

Teil 1: Rechtstatsachen

gangen. 6 Dennoch geht der Sachverständigenrat für Umweltfragen in seinem 1987 erstellten Gutachten von einer zusätzlichen effektiven Dosis in der Bundesrepublik Deutschland infolge des Reaktorunfalls von bis zu 1,5 mSv für Kinder und bis zu 1,1 mSv für Erwachsene im ersten Jahr nach dem Unfall aus und gibt die innerhalb der nächsten 50 Jahre zu erwartende Gesamtdosis für jeden einzelnen Bundesbürger mit bis zu 5 mSv an. 7 Statistischen Berechnungen zufolge werden weltweit 28.000 Menschen vorzeitig aufgrund der Reaktorkatastrophe sterben; davon die Hälfte in der früheren Sowjetunion und 13.000 im übrigen Europa. 8 Nach neuesten Angaben sind bislang 6.000 bis 8.000 Menschen in der ehemaligen UdSSR an Krebs oder anderen Folgen der Radioaktivität gestorben. 9 Die Zahl der an Krebs erkrankten Kinder in der Ukraine und in Weißrußland hat im Vergleich zu der Zeit vor dem Reaktorunfall deutlich zugenommen. Achtzig Fälle von Schilddrüsenkrebserkrankungen registrierte die Weltgesundheitsorganisation in der weißrussischen Region Gomel bei einer Million Kindern unter 15 Jahren. Normal wäre ein Fall pro Million und Jahr. Die jährliche Quote der Geburtsschäden und der Wachstumsprobleme bei Kindern ist in der Ukraine um 230 % und in Weißrußland um 180 % gestiegen. Außerdem leiden zwei- bis dreieinhalbmal mehr Kinder unter Immunschwäche als vor dem Unfall. lO Offiziell waren in der Sowjetunion im Jahre 1991 576.000 Strahlengeschädigte registriert. Allein 1991 summierten sich die von der UdSSR getragenen Kosten des Reaktorunglücks auf 10,3 Milliarden Rubel. II Der Mensch und seine Umwelt ist zwar permanent einem gewissen Maß natürlicher ionisierender Strahlungen ausgesetzt, die er ohne größeren Schaden verträgt. Hierzu zählen insbesondere die kosmische Strahlung, die terrestrische Strahlung sowie die Eigenstrahlung des menschlichen Körpers durch inkorporierte radioaktive Stoffe. Jedoch ist ungewiß, welche zusätzlichen Dosen künstlicher Strahlung, verursacht etwa durch Atomwaffeneinsatz, durch Anwendung ionisierender Strahlen und radioaktiver Stoffe in der Medizin, durch Baustoffe in Gebäuden, durch die von TV -Geräten ausgehende Strahlung oder eben durch kerntechnische Anlagen vom Menschen ohne weiBT-Drs. 11/13, S. 16; Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 458 Fn. 28. SRU 1987, Tz. 1978 f. Auch diese Zahlen müssen allerdings mit Skepsis beurteilt werden. Der Direktor der Hauptabteilung für Kemsicherheit der Internationalen Atomenergieorganisation (lAEO), Rosen, prognostizierte beispielsweise allein für die Bevölkerung der damaligen UdSSR eine Erhöhung der Zahl der Krebstoten um 24.000 (vgl. BT-Drs. 11/755, S. 4; Der Spiegel Nr. 17/1990, S. 196). Andere Experten gehen noch von wesentlich höheren Zahlen aus (vgl. Der Spiegel, a.a.O.). SZ v. 27. 4. 1992, S. 6. 10

11

SZ v. 28. 3.1992, S. 8, v. 4. 9.1992, S. 9 u. v. 27. 4.1993, S. 8. SZv. 19.4.1992, S. 10.

§ 2 Risiken der Kemenergienutzung

49

tere Erkrankungen oder Erbschäden verkraftet werden. Vor allem letztere Erscheinungen sind nur unzuverlässig zu prognostizieren, da sie sich frühestens ab der nächsten Generation auswirken, unter Umständen sogar noch viel später. Außerdem ist anzunehmen, daß auch die natürliche Strahlenbelastung zumindest teilweise für das Auftreten von Krebs, von Mutationen und von Mißbildungen verantwortlich ist, wenn auch ein strenger Nachweis hierfür bisher nicht erbracht wurde. Als besonders gefährlich für den menschlichen Organismus ist Plutonium einzustufen. Plutonium entsteht beim Einsatz der Brennelemente im Reaktor durch Neutroneneinfang aus dem nicht spaltbaren Uran-Isotop 238. Die Halbwertszeit des Plutonium-Isotops 239 beträgt 24.110 Jahre. Seine AlphaTeilchen verursachen im menschlichen Organismus vor allem in den Organen und in den Knochen eine karzinogene Wirkung. Bereits ein millionstel Gramm Pu-239 kann zu akuten Lungenschäden führen. Lungenkrebs kann durch eine noch geringere Menge ausgelöst werden. 12 Einen Überblick über die durchschnittliche Strahlenbelastung der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland geben die jährlich gem. § 5 Abs. 2 Strahlenschutzvorsorgegesetz vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit gegenüber dem Deutschen Bundestag und Bundesrat erstatteten Berichte über die Radioaktivität in der Umwelt. 13 Die Zahlen können der nachstehend abgedruckten Tabelle entnommen werden. Angegeben ist jeweils die mittlere effektive Jahresäquivalentdosis in mSv. Hierbei ist im Gegensatz zu den ZusammenstelluiIgen für frühere Jahre 14 sowohl das genetische Risiko als auch das somatische Strahlenrisiko der betroffenen Person berücksichtigt. 15 Zur natürlichen Strahlenexposition wird auch die zivilisatorisch bedingte Erhöhung der Strahlenexposition aus natürlichen Strahlenquellen, insbesondere durch Inhalation von Radon in Wohnungen, gerechnet. 16 Die Werte der natürlichen und zivilisatorisch bedingten Strahlenexposition sind seit 1986 mit Ausnahme der durch den Reaktorunfall von Tschernobyl verursachten Belastung nahezu konstant. Allerdings handelt es sich bei den angegebenen Daten nur um Mittelwerte. So ist beispielsweise die durch die kosmische Strahlung hervorgerufene Dosisleistung von der Höhe über 12 Rubner, SZ v. 5. 12. 1991, S. 66; Roll, SZ v. 16. 1. 1992, S. 3. Nach einem Forschungsbericht der 'Organisation Internationaler Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges' soll ein 27-rnillionstel Gramm Plutonium genügen, um Lungenkrebs auszulösen (SZ v. 10. 8. 1993, S.5).

13 Vgl. Bundesregierung, Berichte über die Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung, BT-Drs. 11/5049 für 1986, 11/6142 für 1987, 11/6144 für 1988, 12/69 für 1989 und 12/2677 für 1990. 14 Vgl. z.B. BT-Drs. 11/949 für 1983 bis 1985. 15 Bundesregierung (pn. 13), BT-Drs. 11/5049, S. 2; 11/6142, S. 2. 16 Bundesregierung (pn. 13), BT-Drs. 12/69, S. 3; Veith, Strahlenschutzverordnung, S. 10. 4 Borgnwm

Teil 1: Rechtstatsachen

50

dem Meeresspiegel abhängig. Sie beträgt in Meereshöhe 0,3 mSv/a, in München (Höhe ü.d.M.: 535 m) 0,37 mSv/a, in 1.000 m Höhe 0,75 mSv/a und in 2.000 m Höhe 0,9 mSv/a. Auch die terrestrische Strahlung ist ortsabhängig. Sie schwankt von 0,14 mSv/a (Schleswig-Holstein) bis 1,46 mSv/a (Bayerischer Wald). Ferner spielt die Dauer des Aufenthalts in Häusern und im Freien eine Rolle. Schließlich ist auch die durch die Anwendung radioaktiver Stoffe und ionisierender Strahlen in der Medizin hervorgerufene effektive Dosis mit einer Schwankungsbreite von ca. 50 % behaftet. 17 Der Reaktorunfall von Tschernobyl hat zu einer Erhöhung der Umweltradioaktivität in der Bundesrepublik Deutschland geführt. Im Jahre 1986 betrug die durch die Havarie bedingte Strahlenexposition im Mittel ca. 5 % der natürlichen Strahlenexpositionl 8 , wobei dieser Anteil bis zum Jahre 1990 auf 1 % zurückgingY Allerdings ist zu beachten, daß diese Dosis in einigen Gebieten, insbesondere südlich der Donau, bis zu einem zehnfachen des angegebenen Mittelwertes betragen kann. 20 Tabelle 4: Die durchschnittliche Strahlenbelastung der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland seit 1986 in mSv/a. 1986

1987

1988

1989

1990

Natürliche Strahlenexposition: . durch kosmische StrahlwllF

0,3

0,3

0,3

0,3

0,3

. durch terrestrische Strahlung:

0,5

0,5

0,5

0,5

0,5

- durch Inhalation von Radon in Wohnungen:

1,3

1,3

1,3

1,3

1,3

- durch lokorporation natürlicher radioaktiver Stoffe:

0,3

0,3

0,3

0,3

0,3

Summe der natürI. Strahlenexposition:

2,4

2,4

2,4

2,4

2,4

Zivilisatorische Strahlenexposition: - durch kerntechnische Anlagen (ohne Tschernobyl):

< 0,01

- durch Anwendung radioaktiver Stoffe und ionisierender Strahlen in der Medizin (insbes. Röntgendiagnostik):

17 18 19

20

Bundesregierung Bundesregierung Bundesregierung Bundesregierung

(Fn. (Fn. (Fn. (Fn.

13), 13), 13), 13),

BT-Drs. BT-Drs. BT-Drs. BT-Drs.

< 0,01

1,5

11/5049, 1115049, 12/2677, 12/2677,

1,5

S. S. S. S.

< 0,01

1,5

< 0,01

1,5

2, 12/69, S. 3; 12/2677, S. 3. 3. 3 und 12. 12.

< 0,01

1,5

§ 2 Risiken der Kemenergienutzung

51

- durch Anwendung radioaktiver Stoffe und ionisierender Strahlen in Forschung, Technik und Haushalt:

< 0,02

< 0,02

< 0,02

< 0,02

< 0,01

- durch berufliche Strahlenexposition:

< 0,01

< 0,01

< 0,01

< 0,01

< 0,01

- durch besondere Vorkommnisse: - durch Fall-Out von Kemwaffenversuchen:

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

< 0,01

< 0,01

< 0,01

< 0,01

< 0,01

Summe der zivll. Strahlenexposition:

1,55

1,55

1,55

1,55

1,54

Strahlenexposition durch den Reaktorunfall von Tschernobyl:

0,11

0,07

0,05

0,03

0,025

Gesamtsumme:

4,06

4,02

3,99

3,98

3,965

A. Die Brennstoffgewinnung

Die Gefahr radioaktiver Belastung von Mensch und Umwelt besteht bereits bei der Brennstoffgewinnung, also dem Uranabbau, der Urananreicherung und der sich daran anschließenden eigentlichen Brennstoffherstellung. I. Der Uranabbau

Ausgangsstoff für die Brennelementeherstellung ist Uranerz, dessen Vorkommen sich gleichmäßiger als bei fossilen Brennstoffen auf die Kontinente und Länder verteilt. Uranerz enthält allerdings kein Uran in reiner Form, sondern nur in einer chemisch stabilen Verbindung mit Sauerstoff (Uranoxid), dessen Anteil in den Trägergesteinen selten über 0,5 % liegt. Das Uranerz wird im Tief- oder Tagebau gewonnen. Noch in der Lagerstätte werden die Uranoxide durch Einwirkung von Säuren oder Laugen aus dem Erz herausgelöst, wodurch das Konzentrat Ammoniumdiuranat - wegen seiner gelben Farbe auch 'Yellow Cake' genannt - gewonnen wird, welches bereits 70 bis 90 % Natururan enthält. Dieses Endprodukt wird für den Transport und die anschließende weitere Bearbeitung in Urananreicherungsanlagen in Fässer verpackt. Beim Uranabbau fällt Abraummaterial in großem Umfang an, welches in der Regel in oberirdischen Halden in der Nähe der Bergbaubetriebe deponiert wird. Außerdem bleiben bei der Auslaugung des Uranerzes Schlämme übrig, die zur Verdunstung oder Versickerung des Wasseranteils und zur endgültigen Deponierung in Absetzbecken gepumpt werden. Umweltbelastungen werden

52

Teil 1: Rechtstatsachen

dabei vor allem durch die Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Atmosphäre oder in Oberflächen- bzw. Grundwasser verursacht. Hinzu kommen Fernwir-· kungen durch die Verwendung kontaminierten Haldenmaterials beispielsweise beim Straßen- oder Häuserbau. 21 Die Zeiträume, in denen Altlasten des Uranerzbergbaus die Umwelt potentiell belasten können, sind aufgrund der Halbwertszeiten der radioaktiven Rückstände22 extrem lang. Der Uranbedarf der westlichen Welt lag Ende der achtziger Jahre bei etwa 42.000 t pro Jahr. 23 Führend in der Uranproduktion ist Kanada mit einem Produktionsanteil von 32 % im Jahre 1989, gefolgt von den USA, Australien, Frankreich, Namibia, Südafrika und Niger. 24 In den alten Ländern der Bundesrepublik wird Uranerzabbau allerdings nur in sehr geringem Umfang betrieben und hat daher zu keinen nennenswerten Umweltbelastungen geführt. 2~ Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR wurde jedoch in den heutigen Ländern Sachsen und Thüringen von der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft Wismut (SDAG) in weitaus größerem Umfang Uranbergbau und Erzautbereitung betrieben. In Spitzenzeiten betrug die Uranproduktion ca. 8.000 t pro Jahr. 26 In den sechziger Jahren war die DDR der größte Uranproduzent der Welt. 27 Allerdings diente der Uranabbau nicht der Brennstoffversorgung der DDR-Kernkraftwerke, sondern ausschließlich dem Export in die UdSSR. Bereits vor der Wende im Jahre 1989 hat die Sowjetunion jedoch wegen der sich abzeichnenden Erschöpfung der Uranvorräte in der DDR ihren Rückzug aus der SDAG angekündigt. 28 Inzwischen wurde der Uranabbau völlig eingestellt. Die Gesamtfläche, in der Uranbergbau und Erzautbereitung betrieben wurden oder Altbergbau auf uranführenden Lagerstätten stattfand, umfaßt ca. 1.200 bis 1.400 km2 • Ersten Auswertungen zufolge weisen 20 % davon erhöhte Strahlenpegel auf. 29 Insgesamt sind durch den Uranabbau über 3.000 teilweise radioaktiv kontaminierte, teilweise schwermetallführende Abraum-

21 Zu den Belastungspfaden vgl. BMU, Informationsmaterial zur Sanierung der Altlasten des Uranbergbaus (Stand: 21. 4. 1992), S. 13 ff. 22 Uran-238: 4,5 Milliarden Jahre; Uran-235; 700 Millionen Jahre; Thorium-230: 80.000 Jahre. 23 OJfermann-Clas, NVwZ 1989, 1114. 24 BraatzlDibben, in: Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. A 35. 2~ SRU 'Energie und Umwelt', Tz. 125; SRU 1987, Tz. 1928. Vgl. auch VGH Mannheim, NuR 89, 130 [136] (dort auch zu berg- und naturschutzrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit der Uraner,zgewinnung). 26 Müller/Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. 165. 27 BraatzlDibben, in: Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. A 36. 28 Müller/Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. 165. 29 SZ v. 25. 7. 92, S. 34; SickenjJerger, SZ v. 20. 8. 92, S. 33.

§ 2 Risiken der Kemenergienutzung

53

halden entstanden. 30 Oberflächengewässer wie EIbe, Zwickauer Mulde, Weiße Elster und Pleiße wurden mit radioaktiven Abfällen belastet, wobei allerdings seit der Einstellung des Bergbaus ein Rückgang festzustellen ist. 31 Untersuchungen kanadischer Experten haben ergeben, daß langfristig die Möglichkeit einer Kontamination von Grund- und Oberflächenwasser sowohl mit chemisch-toxischen Stoffen wie z.B. Schwefelsäure und Arsen als auch mit radioaktiven Stoffen (insbes. Uran) besteht. Erhebliche Probleme bereitet auch die Sanierung eingesickerter Schlämme aus der Erzaufbereitung. Im Raum Ronneburg und Königstein wurden im Haldenmaterial und im Gestein große Mengen Schwefelsäure festgestellt, die durch das Einsickern von Niederschlagswasser und durch Laugung von Uran entstanden sind. 32 Als besonders schwierig erweist sich auch die Sanierung der Absetzanlagen in Seelingstädt und Crossen, welche bis zu 70 m mächtige Schichten von Aufbereitungsschlämmen enthalten. 33 In einigen Gebieten kommt eine eventuelle Erhöhung der Radonkonzentration hinzu. Das radioaktive Edelgas Radon ist in der kristallinen Struktur des Uranerzes eingebunden und wird beim Aufschließen des Gesteins freigesetzt. Es sammelt sich in unterirdischen Hohlräumen an, die durch den Bergbau entstanden sind, und gelangt durch Spalten in Gebäude bzw. ins Freie. Bei Untersuchungen von Wohnungen im Bergbaugebiet wurde teilweise eine hohe Radonbelastung festgestellt. Vereinzelt wurden Spitzenwerte von mehr als 100.000 Bq pro m3 gemessen. In Schneeberg wiesen über 50 % der Häuser mehr als 250 Bq pro m 3 auf, in Ronneburg 15 %, in Johanngeorgenstadt 13 % und in Schlemma 8 %.34 Bei langzeitigem Überschreiten dieses Wertes empfiehlt die Strahlenschutzkommission, Maßnahmen zu ergreifen, um den Pegel zu senken. Schätzungen zufolge dürften in den neuen Bundesländern hiervon ca. 400.000 Häuser betroffen sein. Sofortmaßnahmen sind ab ca. 15.000 Bq pro m3 erforderlich. 35 Die Internationale Strahlenschutzkommission geht davon aus, daß etwa 8 % aller Lungenkrebserkrankungen in den betroffenen Gebieten auf Radon zurückzuführen sind. Im weiteren Umfeld der

30 'Umwelt' 1991, S. 470 f.; BMU, Informationsmaterial zur Sanierung der Altlasten des Uranbergbaus (Stand: 21. 4. 1992), S. 18; Bundesregierung (Fn. 13), BT-Drs. 1212677, S. 5; Sickenberger, SZ v. 20. 8. 92, S. 33. 31 'Umwelt' 1991, S. 470; BMU (Fn. 30), S. 46 f. 32 'Umwelt' 1991, S. 32 f. 33 BMU (Fn. 30), S. 23. 34 BMU (Fn. 30), S. 33 f. 35 Sickenberger, SZ v. 20. 8. 92, S. 33.

54

Teil 1: Rechtstatsachen

Bergbauregionen soll allerdings keine unmittelbare Gefährdung der Bevölkerung zu befürchten sein. 36 Von den ca. 500.000 Mitarbeitern, die während der gesamten Betriebszeit bei der Wismut beschäftigt waren, sind etwa 40 % als strahlenexponiert anzusehen. Die Wismut gibt die Zahl der Lungenkrebserkrankungen mit ca. 7.000 an, wovon etwa 5.300 Fälle als Folge berufsbedingter Belastungen anerkannt und entschädigt wurden. Die Bundesregierung rechnet allerdings mit einer Dunkelziffer nicht erfaßter berufsbedingter Bronchialkarzinome. 37 Außerdem sind nach Aufzeichnungen der Wismut-AG etwa 15.000 Bergleute an Silikose erkrankt. Betroffen sind vor allem Bergleute aus der Anfangszeit, die dem hohen Radongehalt in den Urangruben, möglicherweise verbunden mit Gesteinsstaub und Schwermetallen, schutzlos ausgeliefert waren. 38 Im Zusammenhang mit den durch den Uranerzbergbau in Thüringen und Sachsen entstandenen bzw. noch zu erwartenden Umweltbelastungen sind bereits Sanierungsmaßnahmen angelaufen. 39 Die Gesamtkosten der Sanierung werden auf 13 Milliarden DM geschätzt. Wegen der langen Halbwertszeiten der radioaktiven Rückstände ist bei allen Sanierungsplanungen die Sicherstellung der langfristigen Stabilität der Schutzeinrichtungen erforderlich, wozu auch die Einkalkulierung von Erdbeben, Klimaveränderungen und sonstigen Prozessen gehört, die in geologischen Zeiträumen auftreten können.

II. Die Urananreicherung Für den Betrieb von Leichtwasserreaktoren wird das Uranisotop U-235 benötigt, das allerdings im Natururan lediglich zu 0,7 % vorhanden ist. Deshalb wird der Anteil an spaltbarem U-235 in Urananreicherungsanlagen künstlich auf bis zu 3,5 % erhöht. 40 Hierzu wurde ein Ultrazentrifugenverfahren entwickelt, wodurch das ursprünglich in der Gesamtmenge enthaltene U-235 in einer Teilmenge konzentriert werden kann. Dazu muß zuvor der 'Yellow Cake' in Uranhexafluorid (UF6) umgewandelt (konvertiert) werden, 36 'Umwelt' 1991, S. 470; BMU (pn. 30), S. 31, 33; Sickenberger, SZ v. 20. 8. 92, S. 33. Genauere Ergebnisse wird erst eine vom BMU in Auftrag gegebene Fall-Kontrollstudie liefern, die voraussichtlich Ende 1994 vorliegen wird. 37 Bundesregierung (pn. 13), BT-Drs. 12/2677, S. 6; Husemann, SZ v. 25. 11. 1992, S. 14. 38 'Umwelt' 1991, S. 470; BMU (pn. 30), S. 34 f. 39 Zu den Sanierungskonzepten vgl. näher BMU (pn. 30), S. 19 ff. In einem Pilotprojekt konnte bereits in einigen Häusern die Strahlung von 10.000 Bq pro m3 auf weniger als 250 Bq pro m3 gesenkt werden (SZ v. 22. 10. 1992, S. 6). 40 S. bereits oben, § 1 vor A. Weiterfuhrend MohrhauenKrey, in: Jahrbuch der Atomwirtschaft 1993, S. 54 ff.

§ 2 Risiken der Kemenergienutzung

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welches bereits ab 56 Grad Celsius in den gasförmigen Zustand übergeht. Da das Gewicht der U-235 F 6-Moleküle etwas geringer ist als das der U-238 F 6-Moleküle, kann die leichtere Fraktion durch Zentrifugalkraft in der Mitte angereichert werden. Um den für Leichtwasserreaktoren erforderlichen U-235-Anteil von ca. 3 % zu erreichen, müssen 10 bis 20 Anreicherungsstufen hintereinandergeschaltet werden. Weitere Anreicherungsverfahren wie z.B. die Anreicherung mit Hilfe von Lasern befinden sich noch im Entwicklungs- bzw. Erprobungsstadium. In der Bundesrepublik Deutschland wird seit 1985 eine auf dem Ultrazentrifugalverfahren basierende Urananreicherungsanlage von der Ureneo Deutschland OHG in GronauIWestfalen mit einer Kapazität von 1000 t Urantrennarbeit pro Jahr betrieben. Die Umweltbelastungen im Normalbetrieb durch Emissionen aller Art sind gering4l; nennenswerte Störfälle sind bislang nicht bekannt geworden. Bei schweren Störfällen oder Einwirkungen von außen könnten jedoch größere Mengen Uranhexafluorids freigesetzt werden. Beeinträchtigungen der Umwelt wären dann vor allem aufgrund der chemischen Toxizität des Uranhexafluorids und seiner Reaktionsprodukte zu befürchten. Uranhexafluorid spaltet sich bei Kontakt mit Feuchtigkeit in giftige, ätzende Substanzen. Anfang 1986 starb ein Arbeiter an solchen ätzenden Dämpfen bei einem Unglück in einer US-Uranverarbeitungsanlage. Die Gefahr einer StraWenbelastung ist im Vergleich dazu eher niedrig einzustufen. 42 Bei der Reinigung der Transportbehälter des U ranhexafluorids fallen chemische und schwach- bis mittelradioaktive Rückstände an, die entsorgt werden müssen. 43

IlI. Die Brennelementeherstellung Die Brennelemente für Leichtwasserreaktoren werden aus bis zu 250 Brennstäben zu einer meist quadratischen Anordnung zusammengesetzt (assembliert). Die Brennstäbe selbst sind gasdicht verschweißte Rohre aus einer hochfesten Zircaloylegierung mit einer Länge von ca. 4 m und einem Durchmesser von etwa 11 mm. "Herkömmliche" Brennstäbe enthalten den Kernbrennstoff Urandioxid (UOz) in Form von Brennstofftabletten mit einer Länge von 10 bis 15 mm und einem Gewicht von ca. 10 Gramm (sog. Pellets). Das Urandioxid wird auf chemischem Wege aus dem angereicherten 41 SRU 1987, Tz. 1929. Zu den radioaktiven Emissionen und zur Strahlenexposition im Jahr 1990 vgl. den Bericht der Bundesregierung (pn. 13), BT-Drs. 12/2677, Tab. 5, 10 und 11 (S. 16 u. 19). 42 Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 1118030, S. 522; SRU 'Energie und Umwelt', Tz. 127; SRU 1987, Tz. 1929. 43 SRU 1987, Tz. 1930.

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Teil 1: Rechtstatsachen

Uranhexafluorid gewonnen, in Tabletten gepreßt und dann bei ca. 1700 Grad Celsius in einem Sinterofen verfestigt. In den Produktionshallen herrscht ständiger Unterdruck, damit bei einem eventuellen Leck keine Materialien nach außen gelangen können. Außerdem ist ein Teil dieser Anlage mit Schutzwänden aus Plexiglas ausgerüstet. Hersteller von Uran-Brennelementen in Deutschland ist das SiemensBrennelementewerk Hanau, Betriebsteil "Uranverarbeitung" , mit einer Zweigstelle im bayerischen Kar1stein. Im Umkreis von 25 km dieser Anlage leben ca. 1.383.000 Menschen. 44 Das Siemens-Brennelementewerk ist aus dem Entflechtungskonzept des Bundesumweltministers Töpfer nach dem Atommüll skandal um die Firmen 'Nukem' und 'Transnuklear' im Jahre 1987 hervorgegangen. Dabei hat Siemens die frühere 'Reaktor-Brennelemente-Union' (RBU) übernommen, deren Anteile zu 40 % von Nukem gehalten wurden und die zuvor der Haupthersteller von Uranbrennelementen war. Siemens arbeitet heute auf diesem Gebiet mit der 'Advanced-NucIear-Fuels GmbH' (ANF) in Lingen - einer 100 %-igen Tochtergesellschaft der ANF-Corporation USA deren Unternehmensgegenstand u.a. die Bearbeitung und der Verkauf von Nuklearbrennstoffen ist"5, zusammen. Beim Einsatz der Brennelemente in Leichtwasserreaktoren wandeln sich innerhalb von 3 Jahren etwa 1 % der U-238 Atome durch Neutroneneinfang in Plutonium um. Die Brennelemente werden dann ausgewechselt. Um die hierdurch bedingte ständig anwachsende Plutoniummenge46 , für die ein gesichertes Entsorgungskonzept bis heute nicht vorliegt, wenigstens teilweise zu bewältigen, ist man neben der Produktion von Brennelementen aus reinem Uran auch zur Herstellung von Mischoxid-(MOX)-brennelementen übergegangen, die in Leichtwasserreaktoren zum Einsatz kommen. 47 Dies sind Brennelemente, die anstelle von U-235 mit Plutoniumoxid angereichert sind, wodurch sich das Anwachsen des Plutoniumabfalls um etwa ein Drittel reduzieren ließe. 48 Jedes MOX-Brennelment enthält etwa 5 kg Plutonium. Theoretisch ließen sich auch die MOX-Brennelemente ihrerseits wieder rezyklieren, wobei aber wegen der allmählichen Verschlechterung der Plutoniumzusammensetzung maximal 2 bis 3 Rezyklierungen für sinnvoll erachtet werden. 49 44

Bundesregierung, 'Tschernobyl und die Folgen - Ein Jahr danach', BT-Drs. 111755,

AnI. 2, S. 34.

Müller/Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. A 92. Schätzungen gehen von 100 Tonnen Plutonium im Jahre 2000 allein in Deutschland aus; vgl. Rubner, SZ vom 5. 12. 1991, S. 66. 47 Zu den hiermit verbundenen Risiken siehe § 2 B. I. 3. 48 Rubner, SZ vom 5. 12. 1991, S. 66. 49 Krebs/Schmiedel, Rückführung, S. 75 f., 79. 45 46

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Einziger Hersteller von MOX-Brennelementen in Deutschland ist das Siemens-Brennelementewerk Hanau, Betriebsteil "Mischoxid-Verarbeitung"; früher 'Alkem', eine 40 %-ige Nukem-Tochter. Die Produktion wurde seit der Änderung des AtomG im Jahre 1975 ohne Betriebsgenehmigung allein aufgrund von Vorabzustimmungen betrieben. Diesbezüglich eingeleitete Strafverfahren wegen illegalen Betriebs einer kerntechnischen Anlage bzw. wegen Beihilfe hierzu endeten allerdings im Jahre 1987 wegen fehlenden Vorsatzes mit Freisprüchen. Die endgültige Betriebsgenehmigung wurde vom hessisehen Umweltminister Weimar (CDU) am 11. März 1991 noch in aller Eile nach der verlorenen Landtagswahl vor dem Regierungswechsel am 5. April 1991 erteilt. 50 Die Energieversorgungsunternehmen haben sich zum Teil gegenüber der Siemens-AG zur Abnahme von MOX-Brennelementen vertraglich verpflichtet. Im Falle einer von den Energieversorgungsunternehmen zu vertretenden Unterschreitung der Auslastungszusage entstehen beträchtliche Schadensersatzverpflichtungen gegenüber Siemens. 51 Ohnehin sind die MOX-Brennelemente in der Herstellung erheblich teurer als herkömmliche Uran-Brennstäbe; die Angaben des Teuerungsfaktors schwanken zwischen 1,5 und 13. 52 In den Hanauer Brennelemente-Werken kam es in der Vergangenheit zu einer signifikanten Häufung von Zwischenfällen, die im folgenden kurz dargestellt werden. Zwar reichen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts einzelne Störfälle nicht aus, um eine Genehmigung nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 AtomG wegen fehlender Zuverlässigkeit des Antragstellers zu versagen bzw. zu widerrufen. Anders ist die Lage jedoch dann zu beurteilen, wenn die Störfalle "grundlegende Mängel oder Schwächen bei den verantwortlichen Personen oder in der Organisation des Betriebs oder in der Aus- und Fortbildung des Betriebspersonals erkennen lassen, die ein erhöhtes Risiko bedeuten. "53 1. Die Transnuklear-Affare54 In den achtziger Jahren zahlten Mitarbeiter von 'Transnuklear' - ein seinerzeit marktführendes Spezialunternehmen zum Transport von Brennelementen 50

51

52

SZ vom 13. 3. 1991, S. 5; Der Spiegel Nr. 49/1991, S. 65. Vgl.SZvom30. 11. 1991,S. 24. SZvom30. 11. 1991,S. 24.

BVerwG, et 1993, 418 [422] = DVBI. 1993,734 [737] - Mülheim-Kärlich. Dazu z.B. Bender/Spa1Wf1Sser, Umweltrecht, Rn. 460; liebmann, et 1988, 795 ff.; Rosenkranz/Meichsner/Kriener, Atomwirtschaft, S. 265 f.; SZ vom 9. 7. 1991, S. 6; Der Spiegel Nr. 15/1988, S. 116 f. 53 54

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für Kernkraftwerke, abgebrannten Kernbrennstoffen und radioaktiven Abfällen - Schmiergelder über Schweizer Konten in Höhe von über 5 Millionen DM an Beschäftigte der Hanauer Nuklearfirmen und Entsorgungsbeauftragte von Kernkraftwerken, um für ihre Firma Aufträge zur Entsorgung schwach radioaktiver Abfälle zu bekommen. Die Bestechungen wurden nach einer Umbesetzung in der Geschäftsführung der Transnuklear Anfang 1987 aufgedeckt. In der Folgezeit kamen Atommüll-Schiebereien in großem Umfang zutage, in die Transnuklear verwickelt war: Im belgischen Kernenergiezentrum CEN in Mol werden radioaktive Abfälle normalerweise so bearbeitet, daß sie in deutschen Atomkraftwerken bis zur Fertigstellung der geplanten Endlagerstätten zwischengelagert werden können. Der Transport wurde damals über Transnuklear abgewickelt. Anstelle des deutschen Atommülls hat Transnuklear jedoch entgegen den Angaben in den Begleitpapieren einige hundert Fässer mit hochaktivem belgischen Müll zurückgenommen, die auch Plutonium und Kobalt enthielten. Außerdem haben Beschäftigte der Abteilung 'Abfallaufarbeitung' in Mol illegal spaltbares Material angenommen, das bei Störfällen in der Bundesrepublik angefallen ist.

Ferner gab es Hinweise darauf, daß von Nukem, der Muttergesellschaft der Transnuklear, Spaltmaterial, möglicherweise Plutonium, unter Verletzung des Atomwaffensperrvertrages nach Pakistan und Libyen geliefert wurde. Dieser Verdacht konnte allerdings in den Ermittlungen nicht bestätigt werden. Eine Überprüfung der Lagerbestände von Transnuklear ergab Anfang 1988, daß dort 6,6 Tonnen Natururan lagerten, obwohl die Lagergenehmigung nur Gemische aus Natururan und anderen chemischen Stoffen, nicht aber reines Natururan zuließ. Der Stoff stammte aus dem Kernforschungszentrum Karlsruhe. Ferner wurden bei Nukem in Absprache mit Euratom die Herkunftsvermerke von Uranlieferungen ausgetauscht, um auf diese Weise Sicherheitsund Handelsauflagen der Herkunftsländer USA, Kanada und Australien zu umgehen. Der Skandal hatte zahlreiche Entlassungen und Strafverfahren sowie eine tiefgreifende Umstrukturierung der Hanauer Nuklearfirmen zur Folge. Bundesumweltminister Töpfer wies im Dezember 1987 die zuständigen Behörden der Länder an, Transnuklear die Transportgenehmigungen zu entziehen und vorerst keine neuen Genehmigungen mehr zu erteilen. Auch Nukem wurde die Betriebsgenehmigung entzogen. Im Zuge der Entflechtung der Ver-und Entsorgungswirtschaft übernahm Siemens die bisherigen Nukem-Tochtergesellschaften RBU und Alkem. ~~ Nukem hat sich inzwischen aus der Brennele~~ VgJ. auch Der Spiegel Nr. 15/1988, S. 116 f.; BMU, 'Umwelt 90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 112 u. 135.

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mentefertigung vollständig zurückgezogen, erbringt aber nach wie vor Dienstleistungen im nuklearen Brennstoftkreislauf wie Handel und Vermittlung von Kernbrennstoffen und Anreicherungsleistungen. 56 Alleingesellschafter der Nukern GmbH ist jetzt die RWE-AG. Transnuklear wurde aufgelöst und die Transportaktivitäten von der Nuclear Cargo + Service GmbH übernommen; einer 100 %-igen Tochtergesellschaft der Bundesbahn. Die Transnuklear-Lager für unbestrahltes nukleares Material sowie deren Drittelbeteiligung an drei kleineren Nuklearfirmen erwarb die Frima 'Reederei und Spedition "Braunkohle" GmbH', hinter der die RWE-AG stehtY Um unnötige Rücktransporte zu vermeiden, vereinbarten Deutschland und Belgien, daß die widerrechtlich auf dem Territorium des anderen Staates lagernden Abfälle untereinander nicht wieder ausgetauscht werden sollten. 2. Vorfall im Siemens-Brennelementewerk Hanau, Betriebsteil 'Uranverarbeitung' , 12. Dezember 199058 Am 12. Dezember 1990 kam es im "inneren Sicherungsbereich " des Betriebsteils 'Uranverarbeitung' im Hanauer Siemens-Brennelementewerk zu einer Explosion eines sog. Abgaswäschers. Abgaswäscher sind Anlagen, in denen Reste aus der Produktion von Uranbrennstofftabletten von Stoffen wie Ammoniak, Nitrosegasen und Kohlendioxid gereinigt werden. Betreiber und Atomaufsichtsbehörde sind irrtümlich davon ausgegangen, daß das in dem explodierten Gaswäscher aus Abluftströmen gebildete Ammoniumnitrat in flüssigem Zustand nicht explosiv sei.

Durch die Explosion wurden außer dem Abgaswäscher selbst noch einige Vorratstanks mit flüssigem Urannitrat zerrissen, aus denen Säure mit etwa 700 kg Uran ausgelaufen ist. Auch die Leitungen des Kühlkreislaufs der Produktionsanlage wurden beschädigt. Hierdurch flossen ca. 10 m3 Kühlwasser aus und vermischten sich mit dem Urannitrat. Diese uranhaltige radioaktive Flüssigkeit ist in die Fertigungshalle gelaufen und hat dort den Boden zentimetertiefüberschwemmt. Bei dem Vorfall wurden drei Arbeiter verletzt undso eine Mitteilung des hessischen Umweltministeriums - "leicht kontaminiert". Messungen auf ihrer Hautoberfläche haben 1 bis 2 Bequerel ergeben. Der Grenzwert im Kontrollbereich liegt bei 5 Bequerel. Außerhalb des Betriebes wurde keine erhöhte Radioaktivität gemessen.

Müller/Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. A 94. Frankfurter Rundschau v. 17. 5. 1988. 58 Vgl. dazu auch Der Spiegel Nr. 3/1991, S. 72; SZ v. 13. 12. 1990, S. 1 u. v. 14. 1. 1991,S. 5. 56 57

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3. Vorfalle im Siemens-Brennelemenetewerk Ranau, Betriebsteil 'Mischoxidverarbeitung' im Jahr 1991 Eine Reihe von Zwischenfalien hat sich im Jahre 1991 im Betriebsteil 'Mischoxidverarbeitung' im Siemens-Brennelementewerk Ranau ereignet. Am 14. April 1991 riß ein Plutoniumbehälter beim Einlassen in einen Transportbehälter. Es entwickelte sich eine Raumluftaktivität von 30 Bq. pro m3 • Zwei Mitarbeiter haben Plutoniumstaub eingeatmet. 59 Am 17. Juni 1991 wurde ein Lagerraum im Plutonium-Spaltstoftbunker radioaktiv verseucht, nachdem aus der Kunststoffumhüllung eines MetalIbehälters Uran-Plutonium-Pulver ausgetreten war. Wiederum wurden dabei zwei Personen kontaminiert. Das hessische Umweltministerium ordnete daraufhin die Stillegung des Betriebsteils 'Mischoxidverarbeitung' an. 60

In der Folgezeit kam es in diesem Betriebsteil mehrfach zu Ausgasungen in den Plastikumhüllungen abgelagerter Zwischenprodukte der MischoxidBrennelementefertigung. Der hessische Umweltminister Fischer gab daraufhin beim Darmstädter Öko-Institut eine Schwachstellenanalyse in Auftrag, deren Ergebnis nach Auffassung des Bundesumweltministers zwar einige Auflagen für die Wiederinbetriebnahme, nicht aber die weitere Stillegung rechtfertigte. 61 Hieran entzündete sich ein Streit zwischen dem hessischen Umweltminister und dem Bundesumweltministerium über die Frage, ob ein gefahrloses Leerfahren der Anlage möglich sei, um die Voraussetzungen für eine drucklose Lagerung der ausgasenden Zwischenprodukte und damit eine Wiederaufnahme der Produktion von MOX-Brennstäben zu schaffen. Der Disput endete mit einer entsprechenden Weisung des Bundesumweltministers an den hessischen Umweltminister, die dieser nach anfänglicher Weigerung und zwischenzeitlicher Einschaltung des Bundesverfassungsgerichts schließlich auch Roll, SZ v. 16. 1. 1992, S. 3. SZ v. 18. 6. 1991, S. 5 u. v. 19.6. 1991, S. 1. Vorubergehend (vom 21. 12. 1991 bis zum I. I. 1992) war sogar das gesamte Brennelementewerk einschließlich der Uranbrennstoffproduktion stillgelegt, weil das hessische Umweltministerium die Unterbrechung der Wasserstoffzufuhr angeordnet hatte. Nachdem jedoch bei der Drucküberprufung der wasserstoffiihrenden Versorgungssysteme und Anlagenteile durch den TÜV-Bayern keine Sicherheitsmängel festgestellt wurden, wurde die Uranverarbeitung wieder aufgenommen (SZ v. 23. 12. 1991, S. 1 u. 5 u. v. 7. 1. 1992, S. 6). 61 Der Spiegel Nr. 49/1991, S. 65; SZ v. 19. 12. 1991, S. 8; Roll, SZ v. 16. 1. 1992, S. 3. Die Betreiberin des Brennelementewerks hat die für sofort vollziehbare Anordnung, zwei Mitarbeitern des Öko-Instituts das ungehinderte Betreten der Anlage zu ermöglichen und sie bei ihrer Tätigkeit zu unterstützen, angefochten und zugleich die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung beantragt. Über die Hauptsache ist noch nicht entschieden, der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wurde jedoch vom VGH Kassel durch Beschluß v. 10. 9. 91 zuruckgewiesen (vgl. et 1992, 483 f.). 59

60

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befolgte, so daß am 24. März 1992 mit dem Leerfahren der Anlage begonnen wurde. 62 Die Zustimmung zur Wiederinbetriebnahme der Mischoxidanlage wurde jedoch vom hessischen Umweltministerium trotz einer zum 12. 8. 1992 befristeten Weisung des Bundesumweltministers bisher nicht erteilt. 63 Am 18. 8. 1992 hat die Siemens AG deswegen eine Schadensersatzklage LH.v. 30,9 Millionen DM gegen das Land Hessen erhoben. 64 Das Unternehmen beziffert den Schaden auf rund 483.000 DM täglich. Durch Urteil des Landgerichts Wiesbaden vom 8. 4. 1993 wurde der Klage der Siemens-AG dem Grunde nach stattgegeben. Über die Schadenshöhe wurde allerdings noch nicht entschieden. 65 4. Brennstab-Fehlleitung, Februar 1992

Am 18. Februar 1992 haben Eingangskontrolleure des Brennstabherstellers Advanced Nuclear Fuels GmbH (ANF) in LingeniNiedersachsen in einem als Leergut deklarierten Behälter 50 fabrikneue U-235-Brennstäbe von 4 Meter Länge mit einem Gesamtgewicht von 109 kg entdeckt. Die Brennstäbe stammten ursprünglich aus Lingen und hätten beim Siemens-Brennelementewerk KarlsteiniBayern zu Brennelementen für Siedewasserreaktoren verarbeitet werden sollen. Die leeren Behälter sollten nach Lingen zurückgebracht werden. Der Vorfall ist nach Einschätzung der Werksleitung auf menschliches Versagen zurückzuführen. Fast eine Woche lang war bei Siemens niemandem aufgefallen, daß die Brennstäbe in den Bilanzen fehlten. 66 Das bayerische und das hessische Umweltministerium untersagten Siemens daraufhin vorübergehend alle Transporte von Kernbrennstoffen und Leergut. Nachdem sich Siemens zu technischen, organisatorischen und personellen Konsequenzen verpflichtete67 , wurde das Transportverbot im März 1992 wieder aufgehoben. Ähnliche Vorfälle haben sich bereits früher ereignet. So wurden im Mai 1990 durch ANF 147 kg Urantabletten als "Leerguttransport" in die USA geschickt. 1985 wurde in Kar1stein ein Transportbehälter nicht vollständig ent62 Vgl. 'Umwelt' 1992, S. 131 f.; Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1993, S. 244 ff. 63 atw 1992, 384. 64 65

atw 1992, 377; Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1993, S. 246. SZ V. 10. 4. 1993, S. 1 u. 25.

SZ V. 20. 2.1992, S. 2; v. 21. 2.1992, S. 2 u. v. 22. 2.1992, S. 2. U.a. Erstellung von Tagesbilanzen über den An- und Abtransport der Kembrennstäbe; Bestellung eines Betriebsleiters, der für den Transport verantwortlich ist; Installation einer automatischen, personenunabhängigen Überwachungseinrichtung. 66

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Teil 1: Rechtstatsachen

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laden und als vermeintlich leerer Behälter zwei Jahre lang unbemerkt in einem Leergutlager aufbewahrt. 68 Im Februar 1987 gelangte mit einer Lieferung vermeintlich reinen Urans durch das Kernforschungszentrum Karlsruhe unbemerkt auch Plutonium in den damaligen Hanauer Nuklearbetrieb 'Nukem'. 'Nukem' besaß lediglich die Genehmigung für die Verarbeitung mit Uran; die Lieferung war auch dementsprechend deklariert. Beim Öffnen eines Behälters mit 4,3 Gramm Uran wurde die Verunreinigung mit Plutonium entdeckt. 14 Mitarbeiter der 'Nukem' haben dabei Plutonium inkorporiert und dabei die jährlich zulässige Aufnahmemenge überschritten. 5. Manipulation an Genehmigungsunterlagen Für die MOX-Produktion hat Siemens den Bau einer neuen Produktionsanlage mit einer Kapazität von 120 t Mischoxidbrennstoff pro Jahr eingeleitet, der bereits kurz vor der Vollendung steht. Hierfür wurde noch von dem damaligen hessischen Umweltminister Weimar (eDU) die fünfte Teilgenehmigung erteilt und für sofort vollziehbar erklärt. Im Dezember 1990 hatten Beamte des Umweltministeriums 22 Kisten mit Aktenordnern, gefüllt mit 25.000 Blatt Genehmigungsunterlagen, angeblich aus Platzgründen ausgerechnet zur Antragstellerin, der Siemens-AG, nach Hanau schaffen lassen. Anfang Februar 1991 schickte Siemens die Unterlagen an den TÜV-Bayern, von wo sie am 8. 2. 1991 durch einen Ministeriumsmitarbeiter wieder abgeholt wurden. Später wurde allerdings festgestellt, daß es sich hierbei nicht um die Original-Unterlagen handelte, sondern um von Siemens gefertigte Kopien, die noch dazu in mindestens 150 Fällen von z.T. erheblicher sicherheitstechnischer Bedeutung von den ursprünglichen Akten abwichen. Ein kompletter Satz mit Originalunterlagen existiert wahrscheinlich nicht mehr; die Abweichungen konnten jedoch in einem vom Umweltministerium in Auftrag gegebenen Gutachten durch Vergleich der von Siemens zurückgelieferten Akten mit zuvor beim TÜV Bayern gefertigten Kopien sowie mit anderen im Ministerium verbliebenen Unterlagen verifiziert werden. Siemens selbst spricht nach anfänglichem Dementi jetzt von "geringfügigen Angleichungen und Korrekturen" . 69 Nach erheblichen Verzögerungen der Inbetriebnahme des weitgehend fertiggestellten Neubaus kündigte Hessens Umweltminister Fischer im Mai 1993 einer Aufforderung des Bundesumweltministeriums entsprechend den Vollzug der fünften Teilgenehmigung an, um Schadensersatzansprüche der Siemens-AG zu vermeiden.

68

SZ v. 21. 2.1992, S. 2.

Vgl. SZ v. 19. 12. 1991, S. 8 und v. 14. 3. 1992, S. 5; Roll, SZ v. 16. 1. 1992, S. 3; ferner Der Spiegel Nr. 49/1991, S. 59 ff. 69

§ 2 Risiken der Kemenergienutzung

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B. Der Kernkraftwerksbetrieb Die Funktionsweise der verschiedenen in der Bundesrepublik Deutschland eingesetzten Reaktortypen und die Sicherheitsvorkehrungen wurden bereits oben behandelt. 70 Im folgenden Teil sollen die mit dem Kernkraftwerksbetrieb verbundenen Risiken und Gefahren erörtert werden.

I. Normalbetrieb Ionisierende Strahlung tritt beim Betrieb kerntechnischer Anlagen zunächst bei der Kernspaltung selbst auf. Die hierbei entstehenden Spaltprodukte sind häufig ihrerseits wieder radioaktiv und senden bei ihrem weiteren Zerfall ionisierende Strahlen aus. Schließlich wird auch das zunächst inaktive Material wie etwa das Kühlmittel, Teile des Reaktorkerns etc. durch die ständige Bertihrung mit radioaktiven Spaltstoffen und Spaltprodukten aktiviert und setzt Strahlungen frei. Auch beim bestimmungsgemäßen Betrieb von Kernkraftwerken läßt sich der Austritt von Radioaktivität nicht vollständig vermeiden. Es gibt bis heute beispielsweise kein Verfahren, mit dem das in Wassermoleküle gebundene radioaktive Tritium aus dem anfallenden Abwasser restlos entfernt werden kann. Auch die radioaktiven Edelgase Krypton und Xenon sowie das leichtflüchtige Jod nebst verschiedenen Aerosolen können nicht gänzlich zurückgehalten werden und werden daher mit der Abluft freigesetzt. Allerdings sind die Mengen gering. 71 Gelegentlich wird auch ein Kausalzusammenhang zwischen dem Waldsterben und der zivilisatorisch bedingten Radioaktivität vermutet. Ein Nachweis hierfür konnte jedoch bisher nicht erbracht werden. 72 1. Strahlenbelastung der Bevölkerung Im Umkreis von 25 km um die Kernkraftwerke in der Bundesrepublik Deutschland weist das Kernkraftwerk Phillipsburg mit 956.000 Personen die höchste Bevölkerungsdichte auf, gefolgt von Biblis mit 943.000 und Neckar-

70

§ 1 A. 11. und

m.

Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 1118030, . S. 519; SRU 1987, Tz. 1934 f. 71

72

SRU 1987, Tz. 1937.

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Teil 1: Rechtstatsachen

westheim mit 909.000 Menschen. 73 Das Schlußlicht (die Einzugsgebiete ausländischer Kernkraftwerke nicht mitgerechnet) bildet Brunsbüttel mit ca. 195.000 Personen. Die in der Bundesrepublik zu beachtenden Anforderungen an den Strahlenschutz für die Bevölkerung ergeben sich aus der Strahlenschutzverordnung. 74 Oberster Grundsatz ist das Strahlenvermeidungs- und -minimierungsgebot des § 28 Abs. 1 StrlSchVO. Danach ist jede unnötige75 Strahlenexposition oder Kontamination von Personen, Sachgütem oder der Umwelt zu vermeiden76 und jede andere (= unvermeidbare) Strahlenexposition oder Kontamination auch dann, wenn sie die Grenzwerte der StrlSchVO nicht erreicht, so gering wie möglich zu halten. 77 Das Strahlenminimierungsgebot wird allerdings durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begrenzt, wonach der geforderte Aufwand nicht außer Verhältnis zu dem angestrebten und erreichbaren Erfolg stehen darf. Daher können beispielsweise von einem Betreiber einer kerntechnischen Anlage keine hohen Investitionen verlangt werden, die unterhalb der Dosisgrenzwerte der StrlSchVO nur zu einer geringfügigen Verminderung der Strahlenbelastung führen können. 78 Ohnehin kommt den Strahlenschutzgrundsätzen des § 28 Abs. 1 StrlSchVO keine drittschützende Wirkung zu, so daß der Einzelne auf ihre Einhaltung keinen einklagbaren Rechtsanspruch hat. 79 Unbeschadet dieser Strahlenschutzgrundsätze gelten nach der StrlSchVO für nicht beruflich strahlenexponierte Personen folgende Grenzwerte: Die effektive Dosis für den ganzen Körper, verursacht durch den Normalbetrieb sämtlicher in- und ausländischer kerntechnischer Anlagen, darf außerhalb der Strahlenschutzbereiche in der engeren Umgebung einer solchen Anlage für eine am ungünstigsten Punkt verweilende Referenzperson 0,3 mSv jährlich in keinem Fall überschreiten.1K) Diese Dosis bewegt sich innerhalb der Schwan73 Eine vollständige Aufstellung der Bevölkerungszahlen, die im Umkreis von 25 km um Kernkraftwerke leben, kann der Antwort der Bundesregierung auf die Grolle Anfrage 'Tschernobyl und die Folgen - Ein Jahr danach' (BT-Drs. 11/755, S. 34, Anl. 2) entnommen werden. 74 In der Fassung vom 30. 6. 1989, BGBI. I, S. 1321 ff., zuletzt geändert durch den Einigungsvertrag vom 31. 8. 1990, BGBI. n, S. 889 u. 1116. 75 Zur Auslegung dieses Begriffs vgl. näher Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 186 f. 76 § 28 Abs. 1 Nr. 1 StrlSchVO. 77 § 28 Abs. 1 Nr. 2 StrlSchVO. 78 BenderlSparwasser, Umweltrecht, Rn. 594; HoppelBeckmann, UmweItrecht, § 29 Rn. 85; Veith, Strahlenschutzverordnung, S. 26. 79 BVerwGE 61, 256 [267) - Stade; BVerwG, DVBI. 1982, 960 [963) - Krümmel; BenderlSparwasser, UmweItrecht, Rn. 594; Greipl, DVBI. 1992, 599; Haedrich, Vorbem. vor §§ 3 ff., Rn. 13 und § 7, Rn. 84; a.A. OVG Münster, et 1975, 220 [223 ff.); OVG Lüneburg, DVBI. 1978, 67 [69). IK) § 45 Abs. I Nr. 1 StrlSchVO.

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kungen der natürlichen Strahlenexposition von 0,3 mSv/a (sog. 30-MilliremKonzept81 ) und gilt als sehr vorsichtig. Außerdem setzt § 45 Abs. 1 StrlSchVO für einzelne Organe und Gewebe noch besondere Dosisgrenzwerte fest. Die Grenzwerte des § 45 StrlSchVO haben nach herrschender Meinung drittschützenden Charakter und können daher vom Betroffenen im Klagewege durchgesetzt werden. 82 Zu beachten ist allerdings, daß die Grenzwerte sich nur auf die durch Ableitung radioaktiver Stoffe bedingte Strahlenexposition, also den genehmigten störfallfreien Normalbetrieb, beziehen. Nicht zu berücksichtigen sind nach § 28 Abs. 2 StrlSchVO Vorbelastungen durch die natürliche Strahlenexposition, die Strahlenexposition durch ärztliche oder zahnärztliche Untersuchungen oder Behandlungen sowie andere, außerhalb des beruflichen Tätigkeitsbereichs liegende Strahlenexpositionen. Auch die durch Störfälle oder Unfälle kerntechnischer Anlagen im In- oder Ausland verursachten Strahlenvorbelastungen sind bei der Ermittlung der Dosisgrenzwerte des § 45 Abs. 1 StrlSchVO nicht mitzurechnen. 83 Außer Betracht bleibt daher auch die Strahlenexposition aufgrund des Reaktorunfalls von Tschernobyl, die in einigen Regionen Deutschlands allein bis zu 0,3 mSv/a und mehr erreichte84 , so daß im Falle einer Berücksichtigungspflicht im Rahmen des § 45 StrlSchVO schon aufgrund dieser Vorbelastung u.U. keine atomrechtliche Genehmigung mehr hätte erteilt werden können. 85 In der Bundesrepublik beträgt die durchschnittliche Strahlenexposition durch den störungsfreien Normalbetrieb sämtlicher Kernkraftwerke pro Person weniger als 0,01 mSv im Jahr. 86 Die tatsächlichen Jahresabgaben liegen im allgemeinen weit unter den Genehmigungswerten und den Grenzwerten der StrlSchVO. Die hierdurch verursachte Strahlenexposition ist wesentlich geringer als die Schwankungsbreite der natürlichen Strahlenexposition in der Bundesrepublik und hat auch an der zivilisatorischen Strahlenexposition nur einen Anteil von weniger als 1 %.87 Im Vergleich dazu kann die Freisetzung Vgl. die amtl. Begriindung zur StriSchVO, BR-Drs. 375/76, S. 12. BVeIWGE 61, 256 [264] - Stade; Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 600; Haedrich, Vorbem. zu §§ 3 ff., Rn. 12 d). 83 BVeIWG, DVBl. 1991, 883 [884); OVG Lüneburg, NVwZ 1987, 75 [76]; a.A. VG Regensburg, NVwZ 1989,1195 [1196 f.]. 84 Bericht der Bundesregierung über die Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung im Jahr 1986, BT-Drs. 11/5049, S. 8. 85 Vgl. Murswiek, JuS 1992,439 f. 86 S.o., Tabelle 4. Die maximale Strahlenexposition in der Umgebung einzelner Kernkraftwerke in den Jahren 1975 bis 1984 zeigt die Tabelle 3.2.13 in SRU 1987, S. 520. Vgl. ferner die jährlichen Berichte der Bundesregierung an den Deutschen Bundestag über Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung (Fn. 13), BT-Drs. 11/949, S. 14 - 17; 12/69, S. 21 - 23; 1212677, S. 17 - 19. 87 Bundesregierung (Fn. 13), BT-Drs. 11/949, S. 3 f.; 11/5049, S. 3; 12/69, S. 3, 1212677, S.3. 81

82

5 BorgmaDD

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Teil 1: Rechtstatsachen

der in Brennstoffen enthaltenen natürlichen Radionuklide in Rauch und Asche durch Verbrennungsvorgänge in Steinkohlekraftwerken sogar um ein mehrfaches höher liegen als die von einem Atomkraftwerk gleicher Leistung ausgehende Strahlung. 88 Um Unterschätzungen auszuschließen, geht die Internationale Strahlenschutzkommission bezüglich der Strahlenexposition von einer linearen DosisWirkung-Beziehung ohne unteren Schwellenwert der Unschädlichkeit aus. 89 Eine meßbare Erhöhung maligner Erkrankungen in der Bevölkerung tritt jedoch erst im Dosisbereich von einigen Zehnteln bis 1 Sv ein. Epidemiologisch-statistische Untersuchungen der Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki haben ergeben, daß jedenfalls nach Strahlendosen von 0,5 Sv und mehr mit einer signifikanten Erhöhung der Leukämieerkrankungen gerechnet werden muß. 90 In niedrigeren Dosisbereichen, wie z.B. bei der Strahlenexposition durch den störungsfreien Betrieb kerntechnischer Anlagen, lassen sich die Strahlenrisiken nur rechnerisch ermitteln. 91 Bei einer Ganzkörperexposition einer Million Menschen mit 10 mSv ergeben sich beispielsweise Risikokoeffizienten im Bereich von 200 bis 1.000 Todesfällen durch Leukämie und Krebs. 92 Die zusätzliche Bestrahlung großer Bevölkerungsgruppen mit 0,01 mSv (also der maximalen jährlichen Strahlenexposition durch den Normalbetrieb von Kernkraftwerken in der Bundesrepublik) führt zu einer Erhöhung des ca. 20 % betragenden spontanen Krebsrisikos um ein viertausendstel.93 Die Qualifizierung einer Leukämie- oder Krebserkrankung im Einzelfall als strahlenbedingt ist allerdings kaum möglich, da sich eine strahlenverursachte maligne Erkrankung in ihrer Erscheinungsform und ihrem klinischen Verlauf nicht von einer .. spontanen" malignen Erkrankung unterscheidet. 94 In der Vergangenheit sind immer wieder Meldungen über erhöhtes Auftreten von Krebs- und Leukämieerkrankungen in der Umgebung von Kernkraftwerken aufgetaucht. Vor allem in der Nähe der kerntechnischen Anlagen von Sellafield/Großbritannien wurde eine signifikant erhöhte Leukämiesterblichkeit von Kindern festgestellt, wobei in fast allen Todesfällen die Väter in den

88 Ei1zlRecker/Uffmann, et 1986, 829; Veith, Strahlenschutzverordnung, S. 10 m.w.N.; Wagner, NVwZ 1993, 514. 89 Grawe, et 1990, 572 f.; Roßnagel, Grundrechte, S. 24; vgl. auch Bundesregierung (Fn. 13), BT-Drs. 12/69, S. 13 und 1212677, S. 41. 90 Bundesregierung (Fn. 13), BT-Drs. 12/69, S. 12; 12/2677, S. 40. 91 Bundesregierung (Fn. 13), BT-Drs. 12/69, S. 12 f.; 1212677, S. 41. 92 Bundesregierung (Fn. 13), BT-Drs. 12/69, S. 13; 1212677, S. 41. 93 Grawe, et 1990, 572. 94

Bundesregierung (Fn. 13), BT-Drs. 12/69, S. 11 f.; 1212677, S. 40.

§ 2 Risiken der Kemenergienutzung

67

Anlagen beschäftigt waren. 95 Von den bundesdeutschen Anlagen waren insbesondere das am 14. 9. 1983 in Betrieb genommene Kernkraftwerk Krümmel und das benachbarte Forschungszentrum Geesthacht mehrfach Gegenstand solcher Meldungen. 96 In der näheren Umgebung dieser Anlagen sind innerhalb weniger Jahre sechs Kinder unter zehn Jahren und ein 17-jähriger Jugendlicher an Leukämie erkrankt; zwei Kinder sind inzwischen gestorben. Im Jahre 1989 gab das Bundesumweltministerium beim Institut für Medizinische Statistik und Dokumentation der Universität Mainz eine Untersuchung der Häufigkeit von Krebserkrankungen im Kindesalter in der Umgebung westdeutscher kerntechnischer Anlagen in Auftrag. Zu diesem Zweck wurden die Standorte von 20 kerntechnischen Einrichtungen mit 20 anderen Regionen verglichen, die eine ähnliche Bevölkerungs- und Siedlungsstruktur aufweisen. Ferner wurden in die Untersuchung 6 Regionen einbezogen, in denen der Bau bzw. die Inbetriebnahme weiterer Kernkraftwerke geplant war, aber niemals verwirklicht wurde. Die Studie umfaßt den Zeitraum von 1980 bis 1990, in dem insgesamt 1.610 Kinder unter 15 Jahren in den untersuchten Gebieten erkrankten. 97 Die im Februar 1992 fertiggestellte Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, daß im Umkreis von 15 km um westdeutsche kerntechnische Anlagen keine Erhöhung der Krebs- und Leukämieerkrankungen gegenüber den Vergleichsregionen festzustellen war. 98 Bei Kindern unter 5 Jahren, die im Umkreis von 5 km zu Kernkraftwerken leben, ergab die Untersuchung zwar eine statistische Erhöhung des Leukämierisikos, allerdings auf der Basis sehr kleiner Fallzahlen sowie aufgrund unerwartet niedriger Erkrankungsraten in den ausgewählten Vergleichsregionen, so daß daraus nicht unbedingt der Schluß ge95

S. I.

Der Spiegel Nr. 32/1991, S. 58; MichaelislKoller/HaaflKaatsch, Krebserkrankungen,

96 Vgl. Der Spiegel Nr. 32/1991, S. 56 f.; SZ v. 31. 7. 91, S. 6 u. v. 11.112.7.92, S. 5; Brilt, SZ v. 14. 8. 91, S. 3. Eine von der niedersächsischen Landesregierung eingesetzte Expertenkommission zur Aufklärung der Blutkrebserkrankungen hat mittlerweile erhöhte Tritiumablagerungen in Pflanzen nachgewiesen. Tritium entsteht bei der künstlichen Kernspaltung. Bei der Untersuchung von fünf Eltern leukämiekranker Kinder wurden überdurchschnittlich viele Veränderungen an Erbgut gefunden. Andere Verdachtsmomente (Holzschutzmittel, häufiges Röntgen oder bestimmte Medikamente) ließen sich als Ursache der Leukämie ausschließen (SZ v. 11.112.7.1992, S. 5 u. v. 26.11. 1992, S. 6). 97 Vgl. i.e. Michaelis/KollerlHaaf/Kaatsch, Krebserkrankungen, S. 5 - 14. Die Untersuchung erfaßt allerdings aufgrund ihrer zeitlichen Begrenzung nicht sämtliche in der Umgebung des Kernkraftwerks Krümmel aufgetretenen Erkrankungen (so ausdrücklich S. 27 und 37 der Studie). 98 Michaelis/KollerlHaaf/Kaatsch, Krebserkrankungen, S. 20 ff. Eine von der schleswigholsteinischen Landesregierung eingesetzte Sachverständigenkomrnission zur Aufklärung der Leukämieerkrankungen in der Elbmarsch kommt hingegen zu dem Schluß, daß für Kinder unter 15 Jahren, die im 15-Kilometer-Radius eines Kernkraftwerks wohnen, ein um 14 % erhöhtes Risiko bei bestimmten Krebsarten bestehe (SZ v. 7. 5. 1993, S. 6).

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Teil 1: Rechtstatsachen

zogen werden kann, daß diese Erhöhung durch die von den kerntechnischen Anlagen ausgehende Strahlung zu erklären ist. In den 6 Regionen um die lediglich geplanten Kernkraftwerke wurde beispielsweise gegenüber den Vergleichsregionen ebenfalls eine Erhöhung des Leukämierisikos für Kinder unter 5 Jahren im 5-km-Umkreis festgestellt. 99 Das relative Erkrankungsrisiko liegt nach der Studie in der Umgebung älterer Anlagen im allgemeinen höher als in der Umgebung neuerer Anlagen, wobei aber auch hier nur kleine Fallzahlen zugrundeliegen und teilweise auch gegenläufige Trends beobachtet wurden. 100 Auch eine Untersuchung des Instituts für Strahlenhygiene in Neuherberg bei München konnte im Zeitraum von 1983 bis 1989 im Umkreis der fünf kerntechnischen Anlagen in Bayern keine Erhöhung der Leukämieerkrankungen bei Kindern feststellen. 101 2. Strahlenexposition durch berufliche Tätigkeit Viele Personen sind bei ihrer Berufsausübung ionisierenden Strahlen durch radioaktive Stoffe ausgesetzt. Außerhalb des medizinischen Bereichs tragen vor allem die kerntechnischen Anlagen zur beruflichen Strahlenexposition bei. Ein Teil des technischen Personals eines Kernkraftwerks hat beispielsweise Aufgaben (insbes. Reparaturen und Reinigungsarbeiten) in Anlagenbereichen wahrzunehmen, in denen erhöhte Radioaktivität auftreten kann. Hier werden teilweise auch Leiharbeiter eingesetzt, die innerhalb kurzer Zeit die zulässige Jahresdosis erhalten. Für beruflich Strahlenexponierte lO2 legen die §§ 49 bis 56 StrlSchVO besondere Dosisgrenzwerte fest, die um ein Vielfaches über den für die allgemeine Bevölkerung zugelassenen Grenzwerten liegen. Die Summe der in allen Kalenderjahren ermittelten effektiven Dosen beruflich strahlenexponierter Personen (maximale Ganzkörper-Lebensdosis) darf allerdings 400 mSv nicht überschreiten. 103 Die §§ 57 bis 66 StrlSchV0 bestimmen verschiedene Strahlenschutzbereiche in unmittelbarer Umgebung einer kerntechnischen Anlage und enthalten Zutrittsbeschränkungen, Tätigkeitsverbote und notwendige 99 Michaelis/KollerlHaaf/Kaatsch, Krebserkrankungen, S. 39 f. Zur Klärung dieser Erhöhung soll allerdings eine weiterfiihrende Fall-Kontroll-Studie erstellt werden [a.a.O., S. 41]. 100 Michaelis/KollerlHaaf/Kaatsch, Krebserkrankungen, S. 25 ff. und S. 38. 101 SZ v. 29. 4. 92, S. 29.

102 Das sind nach Anlage I zu § 2 Abs. I StrlSchVO Personen, die bei ihrer Berufsausübung mehr als 1110 der Grenzwerte der Anlage X zur StrlSchVO, Tabelle X 1 Spalte 2 erhalten können. Dies wäre z.B. bei Überschreiten einer effektiven Jahres-Gesamtkörperdosis von 5 mSv der Fall. 103 § 49 Abs. 1 S. 3 StrlSchVO.

§ 2 Risiken der Kernenergienutzung

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Überwachungsmaßnahmen. 104 Auch hier gilt allerdings grundsätzlich das Strahlenvermeidungs- und -minimierungsgebot des § 28 Abs. 1 StrlSchVO. Sämtliche beruflich strahlenexponierten Personen, bei denen die Möglichkeit einer erhöhten Strahlenexposition von außen besteht, werden durch amtliche Meßstellen mit Personendosimetem überwacht. Die Zahl der überwachten Personen betrug beispielsweise im Jahre 1990 insgesamt ca. 357.000; davon allein im medizinischen Bereich ca. 237.000 und im Bereich der Leistungskernkraftwerke (einschließ!. der DDR) ca. 36.500. IOS Die nachfolgende Tabelle lO6 gibt die Entwicklung der Daten zur beruflichen Strahlenexposition in westdeutschen Leistungskemkraftwerken seit 1980 wieder: Tabelle 5: Berufliche Slrahlenexposition in wesldeulschen Kernkraftwerken seil 1980

Jahr

Anzahl Kernkraftwerke

Überwachte Personen

KoUektivdosis in Sv

eleIctrische Energiccrzeugung in GWh

1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990

10

13.822 18.105 21.458 21.203 19.617 22.343 24.607 22.949 30.823 33.032 32.318

51 62 87 78 43 49 50 46 54 53 41

43.345 53.081 62.976 64.329 92.252 125.709 124.465 123.333 145.275 149.453 147.243

11 11

12 15 16 16 17 20 21 20

Die deutliche Verringerung des Kollektivrisikos seit 1984 bei gleichzeitiger Steigerung der elektrischen Energieerzeugung wird vor allem auf besondere Umrüstungs- und Prüfungsmaßnahmen und auf eine weitere Optimierung des Strahlenschutzes zurückgeführt. 107 Die mittlere Jahres-Personendosis sämtlicher beruflich strahlenexponierter Personen betrug im Jahre 1990 0,3 mSv. Dabei ist allerdings zu beachten, daß bei etwa 85 % aller Überwachten ein Personendosiswert von Null festgestellt wurde. Bildet man einen Mittelwert nur für diejenigen Personen, bei denen Vgl. dazu näher Veilh, Strahlenschutzverordnung, S. 26 ff. Bericht der Bundesregierung über die Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung im Jahr 1990, BT-Drs. 12/2677, S. 10 und 20. 106 Vgl. den Bericht der Bundesregierung über die Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung im Jahr 1990, BT-Drs. 12/2677, S. 20, Tabelle 12a). Die Angaben der elektrischen Energieerzeugung weichen geringfügig von den Angaben des Statistischen Bundesamtes und im Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991 ab, die der Tabelle 2 in § I B. zugrundeliegen. 107 Bericht der Bundesregierung über die Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung im Jahr 1989, BT-Drs. 12/69, S. 7. 104 lOS

Teil 1: Rechtstatsachen

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ein Jahres-Personendosiswert über Null gemessen wurde, so ergibt sich für diesen Personenkreis eine durchschnittliche Jahres-Personendosis von 1,7 mSv. 108 Sie liegt damit deutlich über der Schwankungsbreite der natürlichen Strahlenexposition von 0,3 mSv/a, überschreitet allerdings nicht die Gesamtdosis der natürlichen Strahlenexposition und geht z.B. auch nur wenig über den Mittelwert der Strahlenexposition in der Medizin hinaus. 109 Im Jahre 1988 wurde der in der StrlSchVO festgesetzte Grenzwert der jährlichen Körperdosis für beruflich Strahlenexponierte bei einer Gesamtzahl von 285.000 überwachten Personen in 9 Fällen überschritten. 110

3. Der Einsatz von Mischoxid-Brennelementenlll Seit einiger Zeit wird in der Atomindustrie über den Einsatz von Mischoxid-Brennelementen in Leichtwasserreaktoren über den bereits probeweise erfolgten Einsatz hinaus nachgedacht, um die beim Austausch herkömmlicher Uran-Brennelemente anfallende Plutoniummenge zumindest teilweise wieder dem Brennstoffkreislauf zuzuführen. Derzeit haben 10 deutsche Kernkraftwerke eine Genehmigung zum Einsatz von MOX-Brennelementen, für 8 weitere Anlagen laufen die Genehmigungsverfahren. 112 Zusätzlichen Auftrieb haben diese Pläne durch das "Aus" für den Schnellen Brüter im Jahre 1991 erhalten, da dieser mit Plutonium hätte betrieben werden können und so zumindest einen Teil des Plutoniumüberschusses aufgefangen hätte. Parallel zur Verarbeitung von Plutonium soll durch eine Steigerung des Uran-235-Anteils in den Brennelementen deren Abbrandwert um bis zu 25 % erhöht werden, wodurch diese länger im Reaktor behalten werden können. 113 Dabei wird auch in Kauf genommen, daß die Produktion von MOX-Brennelementen gegenüber der Herstellung der bisher eingesetzten Uran-Brennstäbe erheblich teurer ist. Die Verwendung dieses Brennelemente-Typs ist jedoch unter Atomwissenschaftlem umstritten. Sicherheitsprobleme treten zum einen bei der Herstel-

108 Bericht der Bundesregierung über die Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung im Jahr 1990, BT-Drs. 12/2677, S. 10. 109 Zu diesen Werten siehe die Tabelle 4.

BMU, 'Umwelt 90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 34 f. Dazu auch Hohle/elder, 8. Dt.AtRS, S. 203 f.; KrebslSchmiedel, Rückführung, S. 73 ff.; ferner bereits oben, § 2 A. m. vor 1. 112 DibbenlPassig, Entsorgung, S. 43, KrebslSchmiedel, Rückführung, S. 82; OffermannClas, NVwZ 1989, 1114; vgl. auch Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 1111632, S. 10 sowie dies., Entsorgungssituation abgebrannter Brennelemente und Einsatz von MOX-Brennelementen, BT-Drs. 121719, Fragen 14 bis 17 (S. 4 f.) und Anlage 2 (S. 8). 113 KrebslSchmiedel, Rückführung, S. 74; Rubner, SZ v. 5. 12. 91, S. 66. 110 111

§ 2 Risiken der Kemenergienutzung

71

lung der MOX-Elemente auf. 114 Das hochgiftige Plutonium muß in einer Wiederaufarbeitungsanlage vom Uran abgetrennt werden, wodurch erhebliche Mengen schwach- und mittelradioaktiven Abfalls entstehen, die bei einer direkten Endlagerung der Uran-Brennelemente nicht anfallen würden. Außerdem stellt das herausgetrennte Plutonium selbst ein zusätzliches Gefahrenpotential dar und erfordert erhebliche Sicherheitsvorkehrungen. 115 Weitere Risiken ergeben sich durch den Transport der abgebrannten Brennelemente von den Kernkraftwerken zur Wiederaufarbeitungsanlage und von dort zu den Brennelementeherstellern bzw. wieder zurück zu den Kraftwerken. Bei einer Verwendung von 30 % MOX in den Reaktoren bildet sich nach Angaben der Gesellschaft für Reaktorsicherheit bei der Kettenreaktion dreibis viermal mehr alpbastrahlendes Plutonium als bei herkömmlichen Brennelementen. Dadurch entstehen mehr energiereiche Neutronen. Das wiederum kann dazu führen, daß das Reaktormaterial schneller versprödet als bei der Verwendung gewöhnlicher Uran-Brennelemente." 6 Wegen der schlechteren Wänneleitfähigkeit der MOX-Brennelemente kann es zu lokalen Überhitzungen kommen. Außerdem ist der Neutronenfluß schwieriger zu steuern als bei herkömmlichen Reaktoren. Menschliche Fehler beim Positionieren von Brennstäben mit unterschiedlichem Plutoniumgehalt könnten, so wird befürchtet, katastrophale Auswirkungen haben. 117 Beim höheren Abbrand bilden sich vermehrt Oxidschichten an den Hüllen der Brennelemente, wodurch diese schneller korrodieren. Außerdem ist die Nachzerfallswänneleistung sowohl bei gesteigertem Abbrand als auch beim MOX-Einsatz höher als bei herkömmlichen Brennelementen, was sich bei Kühlrnittelverlust negativ auswirken kann. 118 Schwierig gestalten sich schließlich aufgrund der hohen Plutoniumkonzentration und Wänneentwicklung der MOX-Elemente sowohl deren Wiederaufarbeitung als auch deren Endlagerung. Die Reaktorsicherheitskommission empfahl bislang wegen des Risikos, nicht mehr als 25 % der Uran-Brennelemente durch MOX-Brennelemente zu ersetzen. 119 Die Betreiber der bayerischen Kernkraftwerke Gundremmingen Bund C und Isar 1 haben am 17. 1. 1989 die atomrechtliche Genehmigung zum Einsatz plutoniumhaltiger Brennstäbe beantragt. In Gundremmingen sollen 38 % der 782 Uran-Brennelemente gegen MOX-Brennelemente ausgetauscht werSiehe bereits oben, § 2 A. III. 3. Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 37; Rubner, SZ v. 5. 12. 91, S. 66. Bei der Verwendung der MOX-Brennstäbe entsteht beispielsweise das extrem langlebige Plutonium-Isotop Pu-242 (Halbwertszeit: 380.000 Jahre). 116 SZ v. 9. 4. 91, S. 20; Rubner, SZ v. 5. 12.91, S. 66. 117 SZ v. 9.4. 91, S. 20. 118 Rubner, SZ v. 5. 12. 91, S. 66. 119 SZ v. 9. 4. 91, S. 20. 114 115

Teil 1: Rechtstatsachen

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den; in Isar 1 sogar 54 %.120 Mit der Produktion der MOX-Brennelemente für Gundremmingen wurde im Hanauer Brennelementewerk bereits in einem frühen Stadium des Genehmigungsverfahrens begonnen. 121 Die Verwendung von MOX-Brennelementen in diesen Reaktoren ist besonders umstritten, weil es sich bei ihnen um Siedewasserreaktoren handelt, in denen im Gegensatz zu Druckwasserreaktoren nur ein Wasserkreislauf zur Verfügung steht. Sollten also beispielsweise durch Temperaturschwankungen Haarrisse an den Brennelementen entstehen, besteht die Gefahr, daß hochgiftiges Plutonium über die Turbine an die Umwelt abgegeben wird. 122 Offenbar vor dem Hintergrund der Stillegung des Betriebsteils 'Mischoxidverarbeitung' des Siemens-Brennelementewerks Hanau und der ungewissen Lage um die Inbetriebnahme der neuen MOX-Produktionsanlage l23 hatte das zuständige bayerische Umweltministerium das atomrechtliche Genehmigungsverfahren zum Einsatz der MOX-Brennelemente im Oktober 1991 vorübergehend ausgesetzt. Nachdem Siemens jedoch wegen des Ausfalls seiner Produktionsanlagen die Brennstäbe ab 1994 beim belgischen Brennelementehersteller COMMOX anfertigen lassen will, wird das Genehmigungsverfahren seit Oktober 1992 fortgesetzt. l24 Die Fertigungskapazitäten in Belgien reichen allerdings bei weitem nicht aus. Allein der Jahresbedarf an MOX-Brennelementen in Deutschland beträgt nach Angaben der Atomindustrie 80 Tonnen. Davon kann jedoch in ganz Europa zur Zeit lediglich etwa die Hälfte produziert werden. 125 4. Abwärme Ein weiteres ökologisches Problem beim Betrieb von Kernkraftwerken stellt der Anfall an Abwärme dar. zumal der Wirkungsgrad von Leichtwasserkemkraftwerken erheblich geringer ist als der von fossil befeuerten Kraftwerken. 126 Eine Wärmeeinleitung in Oberflächengewässer über das Kühlwasser des Reaktors kann nicht ganz vermieden, mit Hilfe der Kühlturmtechnik jedoch in Grenzen gehalten werden. Befürchtungen, daß es hierdurch zu nen120 So die Angaben der Bundesregierung, Entsorgungssituation abgebrannter Brennelemente und Einsatz von MOX-Brennelementen, BT-Drs. 121719, S. 8. 121 SZ v. 12. 12. 91, S. 28. 122 SZ v. 23. 3. 91, S. 24, 25. 10.91, S. 24. 123 S.o., § 2 A. ill. 3. und 5. 124 125

SZ v. 23. 10. 1992, S. 59 u. v. 26. 10. 1992, S. 45. SZ v. 20. 11. 1992, S. 49.

126 SRU 'Energie und Umwelt' Tz. 144; SRU 1987, Tz. 1934; Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 466.

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nenswerten lokalen Klimabeeinflussungen komme 127 , werden vom Sachverständigenrat für Umweltfragen nicht geteilt. 128

11. Störfälle, Unfälle und sonstige besondere Vorkommnisse Kernkraftwerksgegner beklagen immer wieder das ihrer Meinung nach zu hohe Stör- und Unfallrisiko beim Betrieb von Kernkraftwerken. 129 Die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe sei zwar gering, das mögliche Ausmaß eines Schadens und damit die Qualität des Risikos jedoch unermeßlich groß und mit anderen Technologien nicht vergleichbar. Die Nutzung einer Energiequelle, bei der ein Unfall ganze Landstriche dauerhaft unbewohnbar mache, der Tausende von Menschen das Leben kosten kann und dessen Folgen sich über Generationen erstrecken können, sei nicht länger zu verantworten. Das Risiko lasse sich auch gar nicht zuverlässig abschätzen, da hierzu Voraussagen über Folgen und Gefahren einer Technologie getroffen werden müßten, über die noch keine bzw. nur wenige empirische Daten vorliegen. 130 Befürworter der' Kernenergie weisen hingegen auf den hohen Sicherheitsstandard deutscher Kernkraftwerke hin. 131 Gerade im Hinblick auf die osteuropäischen Reaktoren müsse das Erfahrungs- und Innovationspotential der kemtechnischen Industrie genutzt und in die internationalen Sicherheitsbemühungen eingebracht werden. 1. Störfälle und Unfälle nach der StrlSchVO Die StrlSchVO unterscheidet zwischen Störfällen und Unfällen. 132 Danach ist ein Störfall ein "Ereignisablauf, bei dessen Eintreten der Betrieb der Anlage oder die Tätigkeit aus sicherheitstechnischen Gründen nicht fortgeführt werden kann und für den die Anlage auszulegen ist oder für den bei der Tätigkeit vorsorglich Schutzvorkehrungen vorzusehen sind." Es handelt sich 127 Begrondung der Fraktion 'Die Gronen' zu ihrem Entwurf eines Atomsperrgesetzes, BTDrs. 10/1913, S 6. 128 SRU 'Energie und Umwelt', Tz. 259. 129 VgL z.B. die Begrondungen der Gronen zum Entwurf eines Atomsperrgesetzes (BT-Drs. 10/1913, S. 8 f.) und der SPD zum Entwurf eines Kernenergieabwicklungsgesetzes (BT-Drs. 11113, S. 15 f.). 130 VgL auch SRU 1987, Tz. 1973 a.E. 131 Energiebericht der Bundesregierung, BT-Drs. 10/6073, S. 8; Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage verschiedener Bundestagsabgeordneter und der SPD-Fraktion zum Thema 'Tschernobyl und die Folgen - Ein Jahr danach', BT-Drs. 111755, S. 2; BMU, 'Umwelt '90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 103; Grawe, et 1990, 572. 132 VgL § 2 Abs. 1 StrlSchVO i.V.m. Anlage I.

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Teil 1: Rechtstatsachen

also mit anderen Worten um Vorkommnisse, bei denen größere Mengen an Radioaktivität freigesetzt werden können, als bei bestimmungsgemäßem Betrieb maximal vorgesehen ist, deren Eintritt aber dennoch im technischen Sicherheitskonzept der Anlage zu berücksichtigen sind. 133 Für welche Ereignisabläufe die Anlage auszulegen ist, ergibt sich wiederum aus § 28 Abs. 3 StrlSchVO i.V.m. Anlage X Tabelle X 1 Spalte 2. Die maximale effektive Ganzkörperdosis beträgt danach unbeschadet des Strahlenvermeidungs- und -minimierungsgebots l34 50 mSv/a; für einzelne Organe, Gewebe und Körperteile gelten wiederum besonder Teilkörperdosisgrenzwerte. Diese Grenzwerte gelten allerdings nur für die Planung der Anlage ("Auslegungsstörfall"), nicht für ihren späteren Betrieb. 135 Nach § 28 Abs. 3 S.4 StrlSchVO kann die Genehmigungsbehörde eine ausreichende Störfallvorsorge dann als getroffen ansehen, wenn der Antragsteller bei der Auslegung der Anlage die Sicherheitskriterien und Störfall-Leitlinien für Kernkraftwerke des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zugrundegelegt hat. 136 Die Störfallplanungsdosis des § 28 Abs. 3 StrlSchVO gilt für den ungünstigsten Störfall. Eine Addition möglicher Störfälle und ihrer Gefahrdungspotentiale ist jedoch nicht erforderlich. 137 Die hinreichende Vorsorge zur Einhaltung der Störfallgrenzwerte steht nicht unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit, sondern ist vielmehr dem Bereich der Gefahrenabwehr zuzuordnen. Sie ist damit eine unbedingte und für Dritte einklagbare Genehmigungsvoraussetzung. 138 Unter Unfällen sind nach Anlage I zu § 2 Abs. 1 StrlSchVO Ereignisabläufe zu verstehen, die für eine oder mehrere Personen eine die Störfallgrenzwerte übersteigende Strahlenexposition zur Folge haben können (insbes. Kernschmelze unter Freisetzung des radioaktiven Inventars). Solche nicht beherrschbaren Ereignisabläufe werden zwar für theoretisch denkbar, aber dennoch für so unwahrscheinlich gehalten, daß gezielte Maßnahmen zu ihrer Verhinderung oder zur Begrenzung ihrer Folgen nicht für erforderlich erachtet werden und die Anlage somit nicht gegen solche Ereignisabläufe ausgelegt

Ähnlich SRU 1987, Tz. 1939. § 28 Abs. 1 StrlSchVO (s.o., § 2 B. I. 1.). 135 Vgl. Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 608; Veith, Strahlenschutzverordnung, S. 164. 136 Sicherheitskriterien fiir Kernkraftwerke v. 21. 10. 1977, Bundesanzeiger Nr. 206 v. 3. 11. 1977 (dazu i.e. Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 200 - 203) und Störfalleitlinien u. -berechnungsgrundlagen v. 18. 10. 1983, Beil. 59/83 zum Bundesanzeiger Nr. 245a v. 31. 12. 1983 (dazu i.e. Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 203 - 211); vgl. ferner SRU 1987, Tz. 1939 u. 1971; Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 607 ff. 137 BVerwGE 72, 300 [323] - Wyhl. 138 Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 210; SRU 1987, Tz. 1971. 133

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werden muß. 139 Diese Abläufe werden nicht dem Bereich der Gefahrenabwehr , sondern der Risikovorsorge zugerechnet, weshalb Vorsorgemaßnahmen von der Genehmigungsbehörde lediglich unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips (einschließl. des Kostenaufwands für etwaige technische oder organisatorische Präventivmaßnahmen) angeordnet werden dürfen. Dementsprechend legt die StrlSchVO hierfür auch keine Dosisgrenzwerte fest. 14O Dritte haben danach keinen Anspruch auf behördliche Anordnung bestimmter Maßnahmen zur Vorsorge vor Unfällen oder zur Begrenzung der Unfallfolgen. 141 Die Zurechnung eines Ereignisablaufs in den Störfall-Leitlinien des BMU entweder zur Störfall- oder zur Unfallkategorie bemißt sich nach dem Produkt aus vorgestelltem Schadensumfang und erwarteter Eintrittswahrscheinlichkeit. 142 Da jedoch bei einer Überschreitung der Störfallgrenzwerte nicht mehr von einem geringen Schadensausmaß gesprochen werden kann, liegt ein Unfall nach dieser Formel nur dann vor, wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses für extrem gering gehalten wird. Die Störfall-Leitlinie des BMU präsentiert allerdings nur das Ergebnis solcher Überlegungen, ohne zu offenbaren, wie hoch jeweils Schadensumfang und Eintrittswahrscheinlichkeit der einzelnen Ereignisabläufe veranschlagt wurden. 143 Daß verschiedene externe zivilisatorische Einwirkungen auf Kernkraftwerke wie z.B. Flugzeugabstürze, äußere Einwirkungen gefährlicher Stoffe und Ereignisabläufe mit angenommenem Ausfall des Schnellabschaltsystems "wegen ihres geringen Risikos" ausdrücklich aus den Störfall-Leitlinien ausgegrenzt und damit dem Bereich des Restrisikos (Unfälle) zugeschlagen wurden l44 , stimmt somit bedenklich; insbesondere dann, wenn man die Richtlinien als normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften mit bindender Wirkung für die Verwaltungsgerichtsbarkeit ansieht. 145 Daß jedoch derartige zivilisatorische Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 610; SRU 1987, Tz. 1940, 1972. Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 610; Haedrich, Vorbem. zu §§ 3 ff., Rn. 12 b) bb) und § 7 Rn. 59 c); SRU 1987, Tz. 1940. 141 BVerwGE 72, 300 [318] - Wyhl; BVerfGE 49, 89, [141 ff.] - Kalkar; Kloepjer, Umweltrecht, § 8 Rn. 32 u. 36; Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 210; SRU 1987, Tz. 1972. 142 Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 209 f.; SRU 1987, Tz. 1973. 143 Kritisch dazu insbesondere Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 209 f. 139

140

144 Vgl. das Vorwort zu den Störfall-Leitlinien v. 18. 10. 1983, Beil. zum Bundesanzeiger 59/83, S. 4; dazu auch Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 204 und 209; SRU 1987, Tz. 1972; VGH Kassel, NVwZ 1989, 1183 [1187]. 145 Dies hat das Bundesverwaltungsgericht bisher zwar ausdrücklich nur fiir die" Allgemeine Berechnungsgrundlage fiir Strahlenexposition bei radioaktiven Ableitungen mit der Abluft oder in Oberflächengewässer" (Richtlinie zu § 45 StriSchVO v. 15. 8. 1979) entschieden, vgl. BVerwGE 72, 300 [320] - Wyhl. Daß das Bundesverwaltungsgericht die zu § 28 Abs. 3 S. 4 StriSchVO aufgrund ihrer ähnlichen Funktion jedoch ebenso einstufen würde, liegt nahe (so auch Sellner, NVwZ 1986, 619; offen VGH Kassel, NVwZ 1989, 1183 [1187]). Von rechtsstaatlichen Bedenken gegen die Rechtsfigur der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften

76

Teil 1: Rechtstatsachen

Einwirkungen so unwahrscheinlich nicht sind, zeigen Abstürze von Militärflugzeugen bei Übungsflügen in unmittelbarer Nähe der Kernkraftwerke Isar 1 und 2 und Philippsburg 1 und 2 im Jahre 1988. Immerhin verlangen die Leitlinien der Reaktorsicherheitskommission für Druckwasserreaktoren mittlerweile Vorkehrungen zur Minimierung des Risikos beim Absturz von Flugzeugen. 146 2. Bewertungsskalen und Meldepflichten Nach § 36 S. 2 StrlSchVO ist der Eintritt eines Unfalls, eines Störfalls oder eines sonstigen sicherheitstechnisch bedeutsamen Ereignisses der atomrechtlichen Aufsichtsbehörde und, falls dies erforderlich ist, auch der für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zuständigen Behörde unverzüglich anzuzeigen. Anzeigepflichtig sind z.B. auch Strahlenexpositionen aus besonderem Anlaß oder aufgrund anderer außergewöhnlicher Umstände sowie Überschreitungen der Grenzwerte für beruflich strahlenexponierte Personen, §§ 66 Abs. 2 u. 3, 70 Abs. 1 StrlSchVO.147 Hierzu existiert ein für die Praxis bedeutsames Rundschreiben des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit vom 31. 5. 1988 148 zu 'Meldekriterien und Meldeverfahren für besondere Vorkommnisse in Anlagen der Versorgung und der Entsorgung des Kembrennstoffkreislaufs'. In einer Anlage zu diesem Rundschreiben werden beispielhaft meldepflichtige sicherheitstechnisch relevante Ereignisse umschrieben. 149 Dabei werden je nach Dringlichkeit der Information für die Aufsichtsbehörde und nach dem Gefährdungsgrad des Ereignisses für Personen, für die Anlage oder für die Umwelt 3 Meldeverfahren unterschieden: Sofortmeldung (S)ISO, Eilmeldung (E)151 und abgesehen, weist Jarass (9. Dt.AtRS, S. 113) allerdings zu Recht darauf hin, daß es sich bei der "Allgemeinen Berechnungsgrundlage ... " wie auch bei den "Sicherheitskriterien ... " und "Störfall-Leitlinien" des BMU mangels Beteiligung des Bundesrates (Art. 85 Abs. 2 GG) ohnehin nicht um Verwaltungsvorschriften im eigentlichen Sinne handelt (ebenso Hei/sch, Kerntechnische Anlagen, S. 312 f.), sondern um schlichte Richtlinien, die weder gegenüber den Vollzugsbehörden noch gegenüber den Verwaltungsgerichten bindende Wirlrung entfalten können (kritisch auch Blickle, 9. Dt.AtRS, S. 127 - 130 sowie BentkrlSparwasser, Umweltrecht, Rn. 605; dem Bundesverwaltungsgericht grundsätzlich zustimmend allerdings beispielsweise Degenhan, et 1989,752 u. 756 f.). 146 Vgl. RSK-Leitlinien rur Druckwasserreaktoren, 3. Ausgabe vom 14. 10. 1981, Tz. 19.1. 147 Weitere Anzeigepflichten ergeben sich aus §§ 27 Abs. 3 S. 3, Abs. 4 S. 2, 30 Abs. I S. 3, 61 Abs. 2, 75 S. 3, 79, 80 StriSchVO. 148 GM BI. S. 414; wiedergegeben auch bei Kloepfer, (Hrsg.) Textsammlung des Umweltrechts der Bundesrepublik Deutschland, Loseblatt, Nr. 912. 149 Ziff. 2 der Anlage des Rundschreibens.

ISO Zum Meldeverfahren S zählen "Vorkommnisse, die wegen ihrer akuten sicherheitstechnischen Relevanz der Aufsichtsbehörde s%n zu melden sind, damit von Behördenseite ggf. in

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Normalmeldung (N)IS2. Ein weiteres Meldeverfahren (V) ist für Vorkommnisse vor Inbetriebnahme der Anlage vorgesehen. Kann ein Ereignis verschiedenen Meldeverfahren zugeordnet werden, so gilt das Meldeverfahren mit der jeweils kürzesten Meldefrist. 153 Die meldepflichtigen Ereignisse werden vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit quartalsweise in 'Übersichten über besondere Vorkommnisse in Kernkraftwerken der Bundesrepublik Deutschland' bekanntgegeben. Im Jahre 1991 lagen beispielsweise 234 Ereignisse in der Kategorie N und 8 Ereignisse in der Kategorie E.I54 In der Kategorie S war kein Vorkommnis zu verzeichnen. Seit dem 1. Januar 1991 wird zur sicherheitstechnischen Bewertung besonderer Vorkommnisse außerdem eine siebenstufige internationale Bewertungsskala herangezogen, die von einem Expertenteam der internationalen Atomenergiebehörde und der Kemenergiebehörde der OECD erarbeitet wurde. ISS Die oberen Stufen 4 bis 7 umfassen Unfälle, die unteren Stufen 1 bis 3 Störfälle und sonstige besondere Vorkommnisse. Ereignisse, die zwar vorsorglich meldepflichtig sind, aber keine sicherheitstechnische oder radiologische Bekürzester Frist Maßnahmen veranlaßt werden und Prüfungen eingeleitet werden können. Hierunter fallen insbes. Freisetzungen oder erhebliche Ableitungen radioaktiver Stoffe in die Umgebung, gefahrbringende Strahlenexpositionen von Personen, Schäden an sicherheitsteclUlisch bedeutsamen Einrichtungen, die Auswirkungen auf den sicheren Einschluß und die Abschirmung radioaktiver Stoffe mit hohem Gefährdungspotential haben oder die für die Überführung der Anlage in einen sicheren Zustand bzw. für die langfristige Aufrechterhaltung des sicheren Zustandes notwendig sind.", Ziff. 3 der Anl. d. Rdschr. (Hervorh. vom Verf.). Beispiel: "Ableitung radioaktiver Stoffe, die zur Überschreitung eines gemäß StrlSchV oder behördlich festgelegten Jahresgrenzwertes für Ableitungen geführt hat bzw. diese Überschreitung erkennbar ist." (Ziff. 2.1.2. a) der AnI. d. Rdschr.). 151 Hierzu zählen "Vorkommnisse, die wegen ihrer potentiellen sicherheitstechnischen Relevanz der Aufsichtsbehörde kun,{ristig zu melden sind, damit von Behördenseite ggf. Maßnahmen veranlaßt und die Ursachen so schnell wie möglich geklärt werden können. Hierunter fallen insbes. Ausfälle von oder Schäden an sicherheitstechnisch bedeutsamen Einrichtungen. sofern der Betrieb der Anlage oder der Teilanlage bzw. die Tätigkeit aus sicherheitstechnischen Gründen nicht fortgeführt werden kann, erhöhte Ableitungen radioaktiver Stoffe in die Umgebung. erhöhte Strahlenexpositionen von Personen.", Ziff. 3 der An!. d. Rdschr. (Hervorh. vom Verf.). Beispiel: "Ableitung radioaktiver Stoffe, die zur Überschreitun~ eines behördlich festgelegten Kurzzeitgrenzwertes für Ableitungen geführt hat bzw. diese Uberschreitung erkennbar ist." (Ziff. 2.1.2. b) der An!. d. Rdschr.). 152 Dies sind "Vorkommnisse mit sicherheitstechnischer Bedeutung. die über rou1inemäßige be1riebliche Ereignisse hinausgehen, jedoch im Sinne der Schadens- bzw. Risikovorsorge dazu beitragen, die Anlagensicherheit und den Strahlenschutz weiter zu verbessern und eine unnötige Strahlenexposition oder Kontamination zu vermeiden.". Ziff. 3 der An!. d. Rdschr. (Hervorh. vom Verf.). Beispiel: "Gegenüber dem bestimmungsgemäßen Betrieb erhöhte Ableitung radioaktiver Stoffe." (Ziff. 2.1.2. c) der An!. d. Rdschr.). 153 Ziff. 3 der Anlage des Rundschreibens. 154 Hinzu kommen weitere 6 Ereignisse im ersten Halbjahr aus Anlagen in der ehemaligen DDR, da diese bis zum 30. 6. 1991 nach anderen Meldevorschriften einzustufen waren. 155 Vg!. 'Umwelt' Nr. 2/1991. S. 79: SZ v. 25. 3. 92. S. 6.

Teil 1: Rechtstatsachen

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deutung haben, werden der Stufe 0 zugeordnet. 1S6 Im Jahre 1991 wurden 239 Vorkommnisse in bundesdeutschen Kernkraftwerken der Stufe 0 und 10 Ereignisse der Stufe 1 zugerechnet. Oberhalb diese Stufe wurden keine Vorkommnisse notiert. 3. Gefahrenquellen Ungeachtet aller Bemühungen, die Gefahr von Stör- oder UnfaIlen beim Betrieb von Kernkraftwerken weiter zu reduzieren, kann es keine absolute Sicherheit geben. m Fehleinschätzungen und Mängel bei der Konstruktion und beim Bau der Anlagen oder Materialermüdungen können trotz des hohen Sicherheitsstandards zum Versagen der Sicherheitssysteme führen. Nicht ausschließen läßt sich auch eine Gefährdung durch den "Risikofaktor Mensch" 158, also entweder durch unbeabsichtigtes menschliches Versagen etwa bei der Überwachung der Anlage oder gar durch Sabotage. Schließlich sind auch Einwirkungen von außen l59 auf die Anlage denkbar, denen die Schutzeinrichtungen des Kernkraftwerks nicht standhalten. 156

Im einzelnen umfaßt die Sicherheitsskala folgende Kategorien:

Stufe 0: Keine Gefährdung der Sicherheit (no safety significance). Stufe 1: Anormalität. Ungewöhnliches Ereignis bei Funktion oder Betrieb, das kein Risiko darstellt, aber auf einen Fehler in den Sicherheitsvorkehrungen schließen läßt. Stufe 2: Zwischenfall (ineident). Technischer Zwischenfall oder Anormalität (nicht notwendig gravierender Art), der ein Überdenken der Sicherheitsvorkehrungen notwendig macht. Beispiel: Sosnowy Bor (Rußland), 1992. Stufe 3: Schwerer Zwischenfall (serious incident). Austritt von Radioaktivität, die über den festgesetzten Grenzen, aber unterhalb der natürlichen Strahlenbelastung liegt. Außerhalb des Reaktors sind keine Maßnahmen notwendig. Weitere Fehler im Sicherheitssystem könnten zu einem Unfall führen. Beispiele: Vandellos (Spanien), 1989; Tomsk (Rußland), 1993. Stufe 4: Unfall vorwiegend in der Anlage (accident mainly in installation). Austritt von Radioaktivität in größerem Ausmaß. Der Reaktorkern ist beschädigt. Beispiel: Saint Laurent (Frankreich), 1980. . Stufe 5: Unfall mit Risiken außerhalb des Reaktors (accident with off-site risks). Austritt von spaltbarem Material. Schwere Beschädigung eines großen Teils des Reaktorkerns. Teilweise Inkrafttreten eines Sicherheitsplans. Beispiele: Windscale (Großbritannien), 1957; Three Mile Island (USA), 1979. Stufe 6: Schwerer Unfall (serious accident). Austritt großer Mengen an spaltbarem Material. Volles Inkrafttreten des Sicherheitsplans. Stufe 7: Größter Unfall (major accident). Freilegung eines Großteils des Reaktorkerns und Austritt von spaltbarem Material mit langer und kurzer Zerfallszeit. Möglichkeit akuter Gesundheitsschäden. Spätere Auswirkungen über einem weiten Gebiet, auch mehrerer Staaten. Langanhaltende Konsequenzen für die Umwelt. Beispiel: Tschernobyl (ehern. UdSSR), 1986. 157 SRU 1987, Tz. 1977; Heuser, et 1989, 739. 158

BenderlSpatwaSser, Umweltrecht, Rn. 461.

159

Z.B. Flugzeugabstürze, Terroranschläge, kriegerische Ereignisse, Erdbeben.

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Besonders schwerwiegende Auswirkungen hätte ein gleichzeitiger Ausfall des Kühl- und des Notkühlsystems. Ein solcher Zwischenfall kann innerhalb kurzer Zeit zu einer Überhitzung des Reaktors führen. Mögliche Folge wäre eine Dampfexplosion unter hohem Druck, das Schmelzen des Reaktorkerns, das Versagen des Containments und damit die unkontrollierte Freisetzung radioaktiver Spaltprodukte. l60 Mit zahlreichen Todesfalien und akuten Gesundheitsschäden und der großflächigen Verseuchung ganzer Landstriche wäre zu rechnen 161 , wie auch der Reaktorunfall von Tschernobyl gezeigt hat. a) Der Biblis-Störfall vom Dezember 1987 Am 16./17. Dezember 1987 kam es im Block A des Kernkraftwerks Biblis, einem seit dem 16. Juli 1974 in Betrieb befindlichen Druckwasserreaktor, durch eine Verkettung technischen und menschlichen Versagens zu einem schweren Zwischenfall. 162 Anfang Dezember 1987 war der Block A des Kernkraftwerks Biblis wegen notwendiger Reparaturarbeiten abgeschaltet worden. Die Nachzerfallswärme des Reaktors wurde über das Not- und Nachkühlsystem abgeführt, welches für einen wesentlich geringeren Druck ausgelegt ist als der Primärkreislauf. Die Vermeidung von Verbindungen zwischen Hoch- und Niederdrucksystemen gilt als einer der wesentlichen Grundsätze der Reaktorsicherheit. Beim Wiederanfahren des Reaktors muß deshalb der Abzweig des Primärkreislaufs zum Not- und Nachkühlsystem unbedingt geschlossen sein, da sich nun wieder höherer Druck aufbaut. Hierfür sind zwischen beiden Kreisläufen aus Sicherheitsgründen zwei Absperrarmaturen hintereinandergeschaltet. Infolge der Verunreinigung eines Rückschlagventils war jedoch die Erstabsperrung zwischen den beiden Kühlkreisläufen bei der Wiederinbetriebnahme des Reaktors nicht vollständig geschlossen. In der Schaltwarte des Kernkraftwerks wurde diese Störung auf dem Bedienpult durch ein Leuchtzeichen signalisiert. Der Reaktorfahrer unternahm daraufhin ohne Erfolg den Versuch, das Ventil dem Betriebshandbuch entsprechend durch motorischen Antrieb zu schließen. Er informierte darüber jedoch weder seinen Schichtleiter noch die Folgeschicht, so daß das Wiederanfahren des Reaktors fortgeführt wurde. Erst nach 15 Stunden bemerkte die übernächste Schicht einen unge-

160

Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' . BT-Drs. 11/8030.

S. 519 ff., 532 f. 161 SRlJ 1987. Tz. 1963.

162 Vgl. dazu Bend.er/Sparwasser. Umweltrecht. Rn. 459; Birkhojer. 8. Dt.AtRS. S. 45 ff.; Rosenkranz/Meichnzer/Kriener. Atomwirtschaft. S. 192 ff.; Der Spiegel Nr. 50/1988. S. 87 ff.; et 1989, 5 f.; 'Umwelt' 1989. S. 27 ff.. 85 f.

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wöhnlichen Temperaturanstieg in einem Hilfssystem und erkannte, daß die Erstabsperrung nicht geschlossen war. Sie leitete daraufhin das Abfahren des Reaktors ein. Um die immer noch geöffnete Erstabsperrung zu schließen, wurde nun entgegen den Betriebsvorschriften versucht, den Druck auf diese Absperrung dadurch zu verringern, daß man durch kurzzeitige Öffnung eines weiteren, zwischen der Erst- und Zweitabsperrung liegenden Ventils eine vom Nachkühlsystern abzeigende Prüfleitung freischaltete. Diese Leitung war allerdings ebenfalls für den Druck des Primärkreislaufs nicht ausgelegt. Daher kam es zu einem Druckstoß des radioaktiven Wasser-Dampf-Gemischs aus dem Primärkreislauf in die Prüfleitung, welches über ein Sicherheitsventil außerhalb des Sicherheitsbehälters des Reaktors im sog. Ringraum entwich und teilweise über den Kamin freigesetzt wurde. Nach ca. sieben Sekunden wurde das Ventil zur Prüfleitung wieder geschlossen. Wäre dies nicht gelungen oder hätte das Sicherheitsventil nicht angesprochen, so hätte die Prüfleitung aufgrund des zu hohen Drucks aufplatzen und das den Reaktor vor Überhitzung schützende Kühlwasser in größerer Menge entweichen können. 163 Die geöffnete Erstabsperrung hatte auch auf diese Maßnahme nicht reagiert. Später konnte sie allerdings nach weiterer Druckabsenkung im Primärkreislauf durch den elektrornotorischen Stellantrieb wieder geschlossen und der Reaktor wieder angefahren werden. Dieser Vorfall wurde der zuständigen Aufsichtsbehörde zwar fristgerecht mitgeteilt, die Meldung wurde jedoch vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit später als unzureichend und unvollständig bezeichnet. l64 So hatte die Betreiberin der Anlage das Vorkommnis in Kategorie N eingestuft, weil die entwichene Menge an Radioaktivität unterhalb der Grenzwerte lag und weil der Defekt zum Zeitpunkt der Meldung bereits behoben war. Spätere Überprüfungen durch die Gesellschaft für Reaktorsicherheit führten jedoch dazu, daß der Störfall vom hessischen Umweltministerium der nächsthöheren Kategorie E zugeordnet wurde. In der Öffentlichkeit wurde der Vorfall erst nach etwa einem Jahr durch Meldungen in der amerikanischen Presse bekannt, was zu heftigen Diskussionen über die Sicherheit der Kernenergie und über die Veröffentlichungspraxis von Zwischenfällen geführt hat. Eine vom Mannheimer 'Elektrowatt Ingenieurunternehmen' (EWI) im Auftrag des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit durchgeführte Analyse und Bewertung der Vorfälle kam zum Ergebnis, daß 163 164

Vgl. auch 'Umwelt' 1989, S. 28. 'Umwelt' 1989, S. 86.

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die Vorkommnisse zum einen noch weit von einem schweren Kemschaden bzw. einer Kemschmelze entfernt waren und daß zum anderen dem Personal selbst bei einer theoretisch vorstellbaren Kemschmelze noch Eingriffsmöglichkeiten zur Verfügung gestanden hätten, die eine Ausweitung zu einem schweren Reaktorunfall hinreichend unwahrscheinlich gemacht hätten. 165 Der Antrag mehrerer im Umkreis des Kernkraftwerks Biblis wohnender Personen, im Wege der einstweiligen Anordnung eine vorläufige Stillegung der Anlage zu erreichen, wurde vom VGH Kassel als unbegründet zurückgewiesen. 166 Dennoch haben die Ereignisse zu einer Reihe technischer und organisatorischer Sicherheitsmaßnahmen geführt, um eine Wiederholung zu vermeiden und eine schnellere und umfassendere Information der Öffentlichkeit zu gewährleisten. 167 b) Weitere Zwischenfälle (exemplarisch)

(1) Obwohl für den Absturz eines Flugzeugs auf ein Kernkraftwerk eine Eintrittswahrscheinlichkeit von 1 x 10-7 pro Jahr errechnet wurde l68 , stürzte am 30. 3. 1988 ein Kampfflugzeug der französischen Luftwaffe in ein Waldgebiet, das ca. 2 km von den Kernkraftwerken Isar 1 und 2 und Niederaichbach bei Landshut entfernt liegt. Einen Tag darauf stürzte ein amerikanischer Jagdbomber in eine Wohnstraße der Gemeinde Forst in 10 km Entfernung der Kernkraftwerke Philippsburg 1 und 2. Nach einer Anordnung des Verteidigungsministeriums dürfen (deutsche) Militärflugzeuge Atomanlagen nicht als Anflugsziel benutzen und müssen einen seitlichen Mindestabstand von 1.500 Metern zu kerntechnischen Anlagen einhalten, wenn sie nicht höher als 600 Meter fliegen. Gleichwohl wurden am 17. 2. 1989, also ein knappes Jahr nach den oben beschriebenen Vorfällen, zwei deutsche Kampfflugzeuge des Typs F 16 beim Vorbeiflug am Kernkraftwerk Gundremmingen in geringer Höhe mit einem seitlichen Abstand von 600 Metern fotografiert. (2) Im Juli 1989 mußte das Kernkraftwerk Isar 1 zum Brennelementewechsel und zur Jahresrevision vom Netz genommen werden. Beim Auswechseln der Brennelemente fielen 69 je 8 Millimeter große und 2 Gramm schwere Stahlkugeln aus einem Kugellager in den offenen Druckbehälter des Reaktors. Hiervon konnten trotz intensiver dreiwöchiger Suche nur 60 Stück wiedergefunden werden. Nachdem Gutachter des TÜV -Bayern sicherheitstechnische 165 'Umwelt' 1989, S_ 28, 85 f. Ebenso Birkhojer, 8. Dt. AtRS, S. 47, der die Wahrscheinlichkeit weiterer Fehler mit katastrophalen Folgen, wie einem Schmelzen des Reaktorkerns, mit weniger als 1 : 100.000 angibt. 166 VGH Kassel, NVwZ 1989, 1183 ff. 167 168

Vgl. 'Umwelt' 1989, S. 86 f; Birkhojer, 8. Dt. AtRS, S. 47 f. Schneider, Verantwortung, S. 133 m.w.N.

6 Borgmann

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Bedenken verneint hatten, wurde der Reaktor nach Genehmigung durch das bayerische Umweltministerium Anfang September 1989 wieder angefahren. Nach nur 11 Tagen mußte das Kernkraftwerk jedoch wegen eines Anstiegs der Radioaktivität im Kühlkreislauf erneut abgeschaltet werden. Diese Störung wurde allerdings nicht durch die noch im Reaktor befindlichen Stahlkugeln, sondern durch einen Brennelementedefekt verursacht. 169 Am 27. September 1989 ging der Reaktor wieder ans Netz. (3) Am 16. November 1990 brach im Maschinenhaus des Kernkraftwerks Isar 2 ein Schwelbrand aus. 170 Ursache dafür waren feine Haarrisse in wasserstofführenden Leitungen, die durch Generatorschwingungen entstanden sind. Dadurch kam es zum Austritt leicht entzündlichen und hochexplosiven Wasserstoffs, der zur Kühlung des Generators verwendet wird. Da auch das Belüftungssystem nicht ausreichend war, entzündete sich der Wasserstoff und zerstörte Teile der Isolierung und Abdichtung. Der Brand konnte von Werkskräften gelöscht werden; der nukleare Bereich des Kraftwerks war nicht betroffen. Man habe allerdings, so der Anlagenbetreiber, nicht gewußt, daß Generatorschwingungen diese Auswirkungen auf das System haben können. 171 (4) Im August 1988 verweigerte das Kieler Energieministerium die Genehmigung zum Wiederanfahren des erst am 8. Oktober 1986 in Betrieb gegangenen Atomkraftwerks Brokdorf. Grund war ein Inspektionsbericht des TÜV -Norddeutschland, in dem festgestellt wurde, daß einer von 360 Zentrierstiften im Reaktordruckbehälter gebrochen war, die bei einer Schnellabschaltung des Reaktors für ausreichende Abstände zwischen den Brennelementen sorgen. Außerdem waren nach dem TÜV -Bericht beim Brennelementewechsel 18 Brennstäbe beschädigt worden, von denen nun kleine Abstandshalterecken und Federstücke fehlten. Es sei nicht auszuschließen, so der TÜV, daß es deswegen zu Brennstabschäden und zu einer weiteren Freisetzung von Radioaktivität im Kühlwasser komme. Gleichwohl seien die an den Reaktorkern zu stellenden sicherheitstechnischen Anforderungen (Abschaltbarkeit, Nachkühlbarkeit) für den zweiten Zyklus sicher gewährleistet. Dennoch erwog das schleswig-holsteinische Energieministerium, daher die Zustimmung zum Wiederanfahren des Kernkraftwerks nur unter der Auflage einer Überprüfung der Anlage mit Ultraschall vor dem Wiederbeginn des Betriebs zu erteilen, was allerdings mehrere Monate in Anspruch genommen hätte. Da jedoch "Sicherheitsbedenken nicht entgegenstehen", wies das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit die Kieler Behörde an, die Zustimmung zum Wiederanfahren der Anlage zu erteilen. Mit Bescheid vom 29. 8. 1988 stimmte das Ministerium daraufhin dem 169 170 171

atw 1990, 253.

Vgl. Müller/Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. 37 f. SZ v. 25. 1. 91, S. 18.

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Wiederanfahren der Anlage zu, verbunden allerdings mit 13 nachträglichen Auflagen gern. § 17 Abs. 1 S. 3 AtomG. Hiergegen setzten sich die Betreiber mit Erfolg gerichtlich zur Wehr. 172 Wenige Monate später, im Dezember 1988, wurde festgestellt, daß bei der Montage des Kernkraftwerks im Jahre 1986 wichtige Teile in sämtlichen Notstromaggregaten nicht eingebaut worden waren. Diese Aggregate haben die Aufgabe, bei Abschaltung des Kraftwerks unabhängig voneinander die Nachwärmeabfuhr zu gewährleisten. Das Fehlen der Teile hätte zum Versagen aller vier Notdiesel führen können. Der Vorfall wurde in die Meldekategorie E eingestuft. (5) Ende 1989 ordnete Bundesumweltminister Töpfer die Überprüfung von Atomkraftwerken der Baulinie 1969 an, nachdem das schleswig-holsteinische Energieministerium die Bruchsicherheit der Frischdampf- und Speisewasserleitungen des Kernkraftwerks Brunsbüttel bezweifelt und in größerem Umfang Schäden an Schrauben der Frischdampf-Isolationsventile festgestellt hatte. Die Reaktor-Sicherheitskommission konnte bei den Kernkraftwerken Brunsbüttel und Würgassen keine Defizite erkennen. Für die Anlagen Isar 1 und Philippsburg 1 ließ sich ein Leitungsbruch jedoch nicht generell ausschließen, da in diesen Fällen außerhalb des Sicherheitsbehälters die Leitungen im Unterschied zu Brunsbüttel und Würgassen nicht zwischenzeitlich erneuert worden sind. Ein eventueller Bruch, so die Reaktor-Sicherheitskommission, könne allerdings aufgrund von Ausschlagsicherungen sicher beherrscht werden. Die Beschädigungen an den Schrauben wurden für die Kraftwerke Brunsbüttel und Philippsburg 1 bestätigt; rund ein Drittel der untersuchten Schrauben wiesen Rißanzeigen auf. Diese Schäden sind jedoch nach Auffassung des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit "sicherheitstechnisch nicht gravierend". 173 Da allerdings im Jahre 1991 im Kühlsystem des Kernkraftwerks Würgassen bei den Schweißnähten herstellungsbedingte Risse von teilweise erheblicher Tiefe festgestellt wurden, ordnete das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit erneut die Überprüfung der Rohrleitungen im nuklearen Sicherheitsbereich für alle deutschen Leichtwasserreaktoren an. 174 Im Rahmen dieser Untersuchungen wurden im Kernkraftwerk Brunsbüttel in den Kühlwasserrohren 108 Risse festgestellt, wovon mindestens 4 betriebsbedingt und nicht auf Herstellungsfehler zurückzuführen sind. Mit ähnlichen Rohren bestückt sind auch die Kernkraftwerke Isar 1, Gundremmingen, Philippsburg und Würgassen. 175

172 Vgl. OVG Lüneburg, NVwZ 1989, 1180 ff. = DVBI. 1989, 1106 ff. m. abI. Anm. von Sleinberg !Hanung. 174

'Umwelt' 1990, S. 37 - 39. SZ V. 3. 4. 1992, S. 6.

175

SZ V. 2. 2. 1993, S. 2.

173

Teil 1: Rechtstatsachen

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(6) Am 13. April 1992 ereignete sich ein Erdbeben, dessen Epizentrum im niederländischen Roermond lag und das vor allem im Rheinland erhebliche Schäden anrichtete. Betroffen waren auch die Kernkraftwerke Biblis und Mülheim-Kärlich. Die seismographischen Instrumente in Block A des Kernkraftwerks Biblis lieferten Meßwerte, die nach dem Betriebshandbuch ein Abschalten der Anlage erforderlich machten. Für Block B wurden solche Werte hingegen nicht gemessen. Das Erdbeben hatte zu Beschleunigungswerten von 0,1 m/s2 geführt. Biblis ist jedoch gegen ein Erdbeben mit einer Maximalbeschleunigung von 1,5 m/s2 ausgelegt. In Mülheim-Kärlich wurden 0,44 m/s2 gemessen. Das Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich, das zur Zeit des Bebens nicht in Betrieb war, ist für einen Maximalwert von 2 m/s2 ausgelegt. 176 c) Der Reaktorunfall von Tschernobyl und Schlußfolgerungen für deutsche

Kernkraftwerke

Am 26. April 1986 ereignete sich im 4. Reaktorblock eines sowjetischen Kernkraftwerks bei Tschernobyl in der Ukraine ein schwerer und folgenreicher Unfall. 177 Der Reaktor sollte anIäßlich der jährlichen Revision vom Netz genommen werden. Bei dieser Gelegenheit wollte man unter reduzierter Reaktorleistung testen, wie lange nach Abschalten einer Turbine deren Rotationsenergie genutzt werden kann, um die Kühlmittelpumpen mit elektrischer Energie zu versorgen. Durch Anforderungen des Stromnetzes kam es zu einer Verzögerung, so daß mit dem Test erst in der Nacht begonnen werden konnte und auf der Betriebsmannschaft ein hoher Zeitdruck lastete. Nach Erreichen der für den Test erforderlichen niedrigen Reaktorleistung wurden die Notkühlsysteme blockiert, um ein während des Tests unerwünschtes Ansprechen des Reaktorschutzsystems zu verhindern. Für den Unfallablauf hatte dies jedoch keine Bedeutung. Infolge eines Bedienungsfehlers sank allerdings die Reaktorleistung weit unter das für den Test erforderliche Niveau, wodurch der Reaktor in einen unsicheren Betriebszustand geriet. Nachdem es dem Bedienungspersonal durch Ausfahren der Regel- und AbschaItstäbe und Außerkraftsetzen der Reaktornotabschaltung zunächst gelang, den Reaktor wieder annäherungsweise zu stabilisieren, stieg die Reaktorleistung durch Bildung einer immer größer werdenden Anzahl von Dampfblasen im Reaktorkern plötzlich innerhalb we-

176

atw 1992, S. 425.

Zum Unfallhergang vgl. den Bericht der Bundesregierung über den Reaktorunfall von Tschernobyl und seine Konsequenzen für die Bundesrepublik Deutschland, BT-Drs. 10/6442 (insbes. S. 3 tf. und 13 tf.); Hicken, et 1986, 683 tf.; RSK, 'Umwelt' Nr. 4/5 1986, S. 27; Der Spiegel Nr. 17/1990, S. 180 tf. Die Darstellungen weichen teilweise voneinander ab. 177

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niger Sekunden auf ein Vielfaches der Nennleistung an. 178 Der Brennstoff erhitzte sich stellenweise auf 4.000 bis 5.000 Grad. Diese Leistung konnte nicht mehr an das Kühlmittel abgeführt werden; die Hitze verbog viele Reaktorstäbe oder ließ sie zerbersten. Auch ein Betätigen des Notschaltknopfes konnte den Unfallablauf nicht mehr verhindern; der Reaktor war zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr beherrschbar. Durch austretendes WasserDampf-Gemisch und herausgeschleudertes Brennmaterial und Graphit nach zwei Explosionen wurde die ca. 1.000 t schwere obere Deckenplatte des Reaktors angehoben und senkrecht gestellt. Sämtliche Kühlkanäle auf beiden Seiten der Reaktorabdeckung wurden abgeschnitten. Eine anschließende Wasserstoffexplosion riß das Dach völlig auf und ließ den schweren Deckenkran aus großer Höhe in den offenen Reaktor stürzen. Anschließend kam es zur Kernschmelze und zum Brand des Graphitmoderators. Erst am 6. Mai konnte das Feuer eingedämmt werden. Mittlerweile waren aber große Mengen radioaktiver Stoffe freigesetzt und über ganz Europa verteilt worden. 179 In den nächsten Monaten errichtete man eine Ummantelung aus Betonwänden mit einem abstützenden Stahlgerüst um den havarierten Reaktor. Inzwischen hat sich dieser "Sarkophag" allerdings als undicht erwiesen. Da die Ummantelung in großer Eile und mit unzureichenden technischen Mitteln errichtet wurde und sich zudem die verwendeten Materialien nicht gut miteinander verbunden haben, hat sie mittlerweile zahlreiche Risse bekommen. Aus einer 1.400 Quadratmeter großen Fläche tritt weiterhin Radioaktivität aus. Hinzu kommt, daß der nach wie vor senkrecht stehende ehemalige Verschlußdeckel des Reaktordruckbehälters in den alten Reaktorschacht abzurutschen droht. Im Innern des "Sarkophags" befinden sich noch 186 t radioaktiven Brennstoffs und mindestens 15 t radioaktiven Staubs, die bei einem Herunterstürzen der Deckelplatte aufgewirbelt werden können. Außerdem besteht nach wie vor die Gefahr, daß der im unterirdischen Schacht des Reaktorblockes befindliche Brennstoff allmählich in Grundwasserschichten durchsickert. l80 Ob die Gefahr durch eine zweite Ummantelung gebannt werden kann, ist umstritten. 181 In anschließenden Stellungnahmen zum Tschernobyl-Unfall wurde immer wieder betont, daß die konstruktionsbedingten Unterschiede zwischen dem havarierten RBMK-Reaktortyp und Reaktoren westdeutscher Bauart so groß sind, daß das Sicherheitskonzept deutscher Kernkraftwerke durch den Unfall nicht in Frage gestellt werde und keine besonderen Maßnahmen zur weiteren Sog. "superprompte überkritische Leistungsexkursion ". Zu den Unfallfolgen s.o., § 2 vor A. 180 Vgl. Haury, SZ v. 28. 3. 1991, S. 50; Fröhlich, SZ v. 21. 10.91, S. 3; Samlowsky, SZ v. 29.11. 91, S. 14. 181 Haury, SZ v. 28. 3. 91, S. 50; SZ v. 6. 2. 92, S. 8. 178 179

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Reduzierung des Restrisikos erforderlich seien. l82 So neigt der TschernobylReaktortyp beispielsweise zu Instabilitäten und gilt vor allem bei niedrigen Nennleistungen als schwer steuerbar. Für den Unfallhergang entscheidend war die Verwendung von Graphit als Moderator und Wasser als Kühlmittel. Dies hat zur Folge, daß die Neutronen durch das Graphit auch dann auf die zur Kernspaltung erforderliche Geschwindigkeit abgebremst werden, wenn ein Kühlmittelverlust eintritt. Auch in einem solchen Fall läuft mithin die Kernspaltung ungehindert weiter. Durch einen Dampfblasenanstieg bei Verdampfen von Kühlmittel kommt es sogar zu einer Leistungssteigerung (sog. "positiver Dampfblasenkoeffizient"). Der Leistungsanstieg wird also nicht durch inhärente physikalische Eigenschaften des Reaktors gebremst, sondern vielmehr noch erhöht. Somit sind in einem solchen Fall in besonderem Maße aktive Maßnahmen erforderlich, um die Reaktorleistung zu stabilisieren. Leichtwasserreaktoren westlicher Bauart verwenden hingegen Wasser als Moderator und zugleich als Kühlmittel. Durch einen Kühlmittelverlust kommt hier also der Spaitprozeß automatisch zum Erliegen; der Reaktor stabilisiert sich selbst. 183 Aktive Maßnahmen müssen hierzu nicht ergriffen werden. 184 Als problematisch erweist sich auch die Druckröhrenkonstruktion des RBMK-Reaktors. Die Einfahrgeschwindigkeit der AbschaItstäbe in die Druckröhren, in denen der Brennstoff enthalten ist, liegt mit 0,4 m/sec. weit unter den bei Leichtwasserreaktoren erreichbaren Geschwindigkeiten. Hinzu kommt, daß die Kernhöhe bei Leichtwasserreaktoren maximal 4 Meter beträgt; beim RBMK-Reaktor hingegen 7 Meter. Jede einzelne der über 1.600 Druckröhren verfügt über eine eigenständige Anschlußleitung zum Kühlmittelsystem und ist daher schwer zu inspizieren und zu warten. 185 Die oberen Anschlußleitungen an die Druckrohre sind von keiner Druckkammer umgeben, sondern sind zur Reaktorhalle hin praktisch offen. Anders als bei westlichen Reaktortypen ist die Reaktorhalle mitsamt dem Kühlmittelkreislauf auch nicht von einem Sicherheitsbehälter umgeben, der einem möglichen 182 RSK, 'Umwelt' Nr. 4/5 1986, S. 26 ff. [35]; RSK 'Umwelt' 1989, S. 21 - 27; RSK-Stellungnahme, abgedr. in BT-Drs. 10/6442, S. 20 ff.; Bundesregierung, BT-Drs. 10/6442, S. 5 f., BT-Drs. 10/6073, S.4; BT-Drs. 111755, S.20 und BT-Drs. 12/1799, S. 32; Birkhojer, et 1987, 337 f.; Heuser, et 1989, 739; Hicken, et 1986, 687; Lukes, BB 1986, 1306 f. In ihrem Abschlußbericht hat die RSK allerdings punktuelle Verbesserungsmöglichkeiten aufgezeigt und insbesondere Maßnahmen eines anlageninternen Notfallschutzes und periodische Sicherheitsüberprüfungen kerntechnischer Anlagen befürwortet (vgl. BT-Drs. 111755, S. 20 f.; 'Umwelt' 1989, S. 21 ff.). 183 Wobei freilich noch die Nachzerfallswärme abgeführt werden muß. 184

684.

RSK, 'Umwelt' Nr.4/5 1986, S. 26 f., 31 f.; Birkhojer, et 1987, 337; Hicken, et 1986,

185 Auch beim Zwischenfall im RBMK-Reaktor des russischen Kernkraftwerks Sosnowy Bor am 24. 3. 1992 war in einer der Druckröhren ein Leck aufgetreten, das zur Freisetzung von Kühlmittel führte; vgl. atw 1992, S. 161; 'Umwelt' 1992, S. 209.

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Druckanstieg standhält. Somit fehlt hier eine weitere wesentliche Sicherheitsbarriere. 186 Aufgrund all dieser Unterschiede soll ein Unfallhergang, wie er sich in Tschernobyl ereignet hat, in Kernkraftwerken westdeutscher Bauart ausgeschlossen sein. 4. Risikobewertungen Die Gefahr von Zwischenfällen mit größerem Schadensausmaß beim Betrieb von Kernkraftwerken wird von Experten unterschiedlich hoch eingeschätzt. Die folgende Darstellung soll einen Überblick über die wichtigsten Stellungnahmen hierzu aus jüngerer Zeit geben.

a) Gesellschaft für Reaktorsicherheit: Deutsche Risikostudie Kemkrajtwerke l87 Im Auftrag des Bundesministeriums für Forschung und Technologie führte die Gesellschaft für Reaktorsicherheit zwei Risikostudien durch. Hierfür wurde der 1976 in Betrieb genommene Druckwasserreaktor Biblis B als Referenzanlage ausgewählt. Während die Untersuchung in Phase A sich vor allem damit befaßte, die mit Unfällen verbundenen Schadensfolgen außerhalb der Anlage, insbesondere das Ausmaß und die Häufigkeit gesundheitlicher Schäden für die Bevölkerung zu ermitteln, hatte Phase B der Untersuchung zum Ziel, Schwachstellen und Möglichkeiten sicherheitstechnischer Verbesserungen zu identifizieren sowie Sicherheitsreserven bei Störfall- und Unfallabläufen zu ermitteln und anlageninterne Notfallmaßnahmen zu beurteilen. ISS Oberstes Ziel aller Sicherheitsüberlegungen bei Kernkraftwerken ist es, den Einschluß radioaktiver Stoffe sicherzustellen. Etwa 95 % des gesamten Aktivitätsinventars eines Kernkraftwerks befinden sich im Reaktorkern. Da hiervon wiederum 98 % im Kristallgitter des Brennstoffs eingebunden sind, kann der überwiegende Teil der radioaktiven Stoffe nur freigesetzt werden, wenn der Kern schmilzt. l89 Die Risikoanalyse konzentrierte sich daher auf Ereignisabläufe, die trotz weitreichender Schutz- und Sicherheitseinrichtungen zur 186

684 f.

RSK, 'Umwelt' Nr.4/5 1986, S. 26 f., 32; Birkhojer, et 1987, 337; Bicken, et 1986,

187 Vgl. dazu auch die zusammenfassende Darstellung der Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre', BT-Drs. 1118030, S. 520 f., 532 f. sowie von Heuser, et 1989, 738 ff. ISS GRS, Risikostudie B, S. 7 u. 759; Heuser, et 1989, 739. 189 GRS, Risikostudie B, S. 14.

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Kernschmelze führen können. Kernkraftwerke besitzen aber auch dann noch Sicherheitsreserven, wenn Auslegungsgrenzen überschritten werden. Oft besteht zwischen dem Störfall und dem Erreichen eines kritischen Auslegungszustands noch genügend Zeit, um durch anlageninterne Notfallmaßnahmen (accident management) eine Kernschmelze zu verhindern, zu verzögern oder zumindest in ihren Auswirkungen zu begrenzen. 190 Die Studie untersucht dazu ausführlich Maßnahmen, mit denen die Kühlung des Reaktorkerns rechtzeitig vor Einsetzen der Kernschmelze wiederhergestellt werden kann. Gelingt es jedoch nicht, die Anlage in dieser Zeit in einen sicheren Zustand zu überführen, so kommt es zur Kernschmelze. Der Sicherheitsbehälter ist dann die letzte Barriere, durch die die Freisetzung einer erheblichen Menge von Spaltprodukten in die Atmosphäre und ins Grundwasser verhindert werden kann. Allerdings hat nicht jede Kernschmelze zwangsläufig ein Versagen des Sicherheitsbehälters und damit erhebliche Schäden auch außerhalb der Anlage zur Folge, wie auch der Unfall im amerikanischen Kernkraftwerk Three-MileIsland im Jahre 1979 gezeigt hat. Die folgende Abbildung zeigt die in der Studie errechneten Wahrscheinlichkeiten von Schadenszuständen und Kernschmelzfa11en pro Jahr für die Referenzanlage Biblis B, gestützt auf die bisherigen Betriebserfahrungen und auf Schätzungen: 191

190 191

GRS, Risikostudie B, S. 14; Heuser, et 1989, 740 f. GRS, Risikostudie B, S. 16 ff.; Heuser, et 1989, 740.

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Auslösendes Ereignis

(= Störung und Schaden an Komponenten und

Anlagenteilen, die Anforderungen von Sicherbeitssystemen auslösen) .)

I

Verl'iigbarkeit der Sicberbeitssysteme (= Störfallbeberrscbung)

I Übergang zu Scbadenszust&nd (= Ausfall der Wänneabfuhr aus dem Reaktorlcem) Erwartete Häullgkeit: 2,9 x 10-5/a b) = etwa I x in 34.500 Jahren

I Übergang in einen slcberen Zustand durcb anlageninterne Notrallmaßnahmen (WiederbersteUung einer ausreichenden Wänneabfuhr) Erwartete Häufigkeit: 88 % aUer Schadenszustände bzw. 2,5 x 10-5/a d) = etwa 1 x in 40.000 Jahren

Übergang zu Kernsebmelzunrauen Erwartete Häufigkeit: 12 % aller Schadenszustände bzw. 3,6 x 10-6/a c) = etwa I x in 275.000 Jahren, davon wiederum 87,5 % unter niedrigem und 12,5 % unter hohem Druck e)

I Rückhaltefunktion des Slcherbeitsbehiilters gewährleistet Erwartete Häufigkeit: Quantif"lZierung nicht bzw. nur bedingt möglich 0

Sicherheitsbehälter versagt (Freisetzung von RadioaIctivität) Erwartete Häufigkeit: Quantifizierung nicht bzw. nur bedingt möglich 0

Abbildung 1: Wahrscheinlichkeit von Schadenszuständen und Kernschrnelzunfallen fiir das Kernkraftwerk Biblis B nach GRS, Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke, Phase B a) Anlageninterne Ereignisse (z.B. Lecks in der HauptkühlmiueUeitung, am Druckhalter, Betriebs-Transienten u.s.w.); übergreifende anIageninteme Ereignisse (Brand und RingraumÜberflutung); anIagenexteme Ereignisse (Erdbeben und Flugzeugabstürze). b) GRS, Risikostudie B, S. 44; 763. Die Häufigkeit ergibt sich aus der Multiplilcation der Eintrittshäufigkeit der auslösenden Ereignisse mit der Versagenswahrscheinlichkeit der angeforderten Sicherbeitssysteme. In Phase A der Untersuchung wurde hierzu noch eine Häufigkeit von etwa 1 x in 10.000 Jahren errechnet. Das günstigere Ergebnis in Phase B ist vor allem durch systemtechnische Verbesserungen im Kernkraftwerlc Bi~~is B se~t Abschluß der Phase A zu erlclären (Heuser, et 1989d~ 741). .. . c) GRS, Risikostudie B, S. 56; 7 6 5 . ' GRS, RISikostudie B, S. 65; 766. e) GRS, Risikostudie B, S. 65; 69. f) GRS, Risikostudie B, S. 71 f.; 769. Allerdings zeigen Forschungsergebnisse, daß die Schmelze im Reaklordruckbehäller viel stärlcer in vertilcaIer Richtung in den Beton vordringt als früher angenommen und daß die Schmelze auch bei Wasserbedeckung nicht ausreichend gekühlt wird und deswegen das Betonfundament erodiert (Risikostudie B, S. 62; 767 f.). Dadurch wird jedoch die RückhaltefunIction des SicherheilSbehällers nicht zwingend beeinträchtigt.

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Die Studie hat eine Reihe wesentlicher Verbesserungen der Anlagentechnik und der Vorgehensweise zur Störfallbeherrschung sowie eine Erweiterung des Betriebshandbuchs angeregt. Diese Empfehlungen wurden inzwischen weitestgehend umgesetzt. Besonders hervorzuheben sind hier anlageninterne Notfallmaßnahmen, die bei einem Versagen der Sicherheitssysteme eine Kernschmelze noch verhindern oder wenigstens in ihren Auswirkungen begrenzen können. 192 Zu bedenken ist allerdings, daß in die Studie nicht alle Abläufe einbezogen wurden, die möglicherweise zu Kernschäden und Freisetzungen nach außen führen. 193 Ausgeklammert blieben wegen gering eingeschätzter Häufigkeit oder Unfallauswirkungen z.B. Ereignisse wie Reaktivitätsstörfälle, Störfälle beim An- und Abfahren und bei der Revision, Speisewasser-Leitungsleck oder -bruch, Kleinst-Leck < 2 cm2 im Primärkreislauf, großflächiges Versagen von Primärkreislaufkomponenten und des Dampferzeugers, Einwirkungen durch Sabotage oder Krieg. Ferner berücksichtigt die Untersuchung neben den bereits durchgeführten Änderungen an der Anlage auch solche Änderungen, die durch Zwischenberichte der Studie angeregt wurden, sofern hierfür bewertungsfahige Unterlagen vorgelegt wurden. l94 Außerdem können die für Biblis B ermittelten Ergebnisse nicht ohne weiteres auf andere Anlagen übertragen werden, sondern liefern nur Anhaltspunkte für deren Beurteilung. 195 Rechnet man die erwartete Häufigkeit von Kernschmelzunfällen auf alle 20 zur Zeit in der Bundesrepublik betriebenen Kernkraftwerke hoch, ergibt sich die Wahrscheinlichkeit eines Kernschmelzunfalls in 13.750 Jahren. Dies bedeutet m.a.W. eine Eintrittshäufigkeit von 0,1 % in 13,75 Jahren im Bundesgebiet.

GRS, Risikostudie B, S. 83; 772 f. GRS, Risikostudie B, S. 82 f.; 96 f.; 774. 194 GRS, Risikostudie B, S.7; 35; 96; 762; Heuser, et 1989, 741. Hieran entzündet sich auch die Hauptkritik an der Untersuchung; vgl. z.B. die Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. ll/8030, S. 533; Der Spiegel Nr. 50/1988, S. 95 ff. [97]. 195 GRS, Risikostudie B, S. 774; Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre', BT-Drs. 11/8030, S. 520 f.; Heuser, et 1989, 742. Für die sieben zur Zeit in Deutschland betriebenen SiedeKwserreaktoren läßt die Untersuchung ohnehin kaum Schlußfolgerungen zu; vgl. Der Spiegel Nr. 50/1988, S. 98. 192

193

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b) Sachverständigenrat für Umweltfragen: Umweltgutachten 1987 Der Sachverständigenrat für Umweltfragen stellt in seinem Umweltgutachten 1987 für die Kernenergie "einen mehr oder minder hohen Grad der Unvorhersehbarkeit von Unfällen mit Freisetzung radioaktiver Stoffe sowie einem großen potentiellen räumlichen und zeitlichen Schadensausmaß " fest. 196 Trotz aller Sicherheitsvorkehrungen könne ein Restrisiko bei der Nutzung der Kernenergie nicht geleugnet werden. l97 Angesichts des hohen Sicherheitsstandards der deutschen Kernkraftwerke hält der Rat jedoch deren weitere Nutzung für umweltpolitisch verantwortbar l98 , wenn zur Minimierung des Restrisikos folgende Forderungen erfüllt werden: 199 -

Überprüfung der Reaktorsicherheit,

-

Nachrüstung von notwendigen Sicherheitseinrichtungen nach dem Stand von Wissenschaft und Technik,

-

Einführung eines verbindlichen international gültigen Sicherheitsstandards auf hohem Niveau und dessen Überwachung, Stillegung von Reaktoren, bei denen durch Bauweise und Laufzeit ein gesicherter Betrieb fraglich geworden ist,

-

Klärung aller Fragen für ein optimales Konzept der Endlagerung und Wiederaufarbeitung; gesicherte und umweltverträgliche Entsorgung; Genehmigung weiterer Kernkraftwerke nur dann, wenn potentielle Umweltschäden durch Zwischenlagerung, Wiederaufarbeitung und Endlagerung der abgebrannten Brennelemente genauestens untersucht und geeignete Maßnahmen zu ihrer Verhütung ergriffen werden und wenn die entsprechenden Anlagen und Einrichtungen tatsächlich vorhanden sind, Verstärkung der Bemühungen zur Begrenzung des Schadensumfangs bei möglichen Unfällen,

-

Schaffung klarer Regelungen für alle Fälle, bei denen Maßnahmen zur Minimierung der Strahlenexposition der Bevölkerung zu ergreifen sind,

-

Erforschung und Erprobung von Reaktortypen, bei denen größere Freisetzungen von Radionukliden naturgesetzlieh weitestgehend ausgeschlossen sind und die damit für einen künftigen Kernkrafteinsatz besser geeignet wären als Leichtwasserreaktoren (insbes. Hochtemperaturreaktoren in kleineren Einheiten [Modulbauweise]). 196 197

198 199

SRU SRU SRU SRU

1987, 1987, 1987, 1987,

Tz. Tz. Tz. Tz.

1976. 1977, 1990. 1988,2013. 1990 f., 2020.

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Teil 1: Rechtstatsachen

c) Inte17Ultioflllle Atomenergie-Organisation (IAEO)

Aufgrund des Tschernobyl-Unfalls führt die Internationale AtomenergieOrganisation (IAEO) in Wien ein Programm durch, welches den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit gibt, Kernkraftwerke überprüfen zu lassen. Die Untersuchungen werden durch international besetzte Expertenteams, "Operational Safety Review Teams" (OSART) unter Begleitung von Beobachtern aus nukleartechnischen Schwellenländern vorgenommen. Die Bundesrepublik ließ seitdem vier Anlagen untersuchen: Biblis A (Herbst 1986), Krümmel (Frühjahr 1987), Philippsburg 2 (Herbst 1987) und Grafenrheinfeld (Herbst 1991). Die Überprüfungen erstreckten sich auf sicherheitsrelevante Bereiche wie Management und Betriebsorganisation, Ausbildung und Fachkunde des Personals, Betriebsführung, Instandhaltung, technische Dienste, Rückfluß von Betriebserfahrungen, Strahlenschutz, Kraftwerkschemie und Notfallplanung. Insgesamt ergaben alle Untersuchungen positive Gesamtergebnisse, lieferten andererseits aber auch eine Reihe von Empfehlungen und Anregungen zur Optimierung der Sicherheitssysteme. 200 d) Öko-Institut

In einem vom Hamburger Senat in Auftrag gegebenen Gutachten des Darmstädter Öko-Instituts über die Sicherheit der Kernkraftwerke Stade, Brunsbüttel, Brokdorf und Krümmel, an denen die HEW-AG beteiligt ist20 t, wird auf zahlreiche Schwachstellen dieser Anlagen hingewiesen. 202 Insbesondere seien die Sicherheitsbehälter der beiden Siedewasserreaktoren Brunsbüttel und Krümmel anfällig für "erhebliche Undichtigkeiten und größere Verluste von Kondensationskammerwasser" . Ein solcher Störfall sei kaum zu beherrschen, der Sicherheitsbehälter drohe zu bersten. Ähnliche Ergebnisse lieferte bereits zwei Jahre zuvor eine Untersuchung des TÜV-Norddeutschland. Die Reaktorsicherheitskommission hatte hingegen dem Kernkraftwerk Krümmel eine zufriedenstellende "Integrität des Sicherheitsbehälters " bescheinigt. 203 Nachdem das Öko-Institut im Jahre 1991 das Kernkraftwerk Stade erneut untersucht und 23 Mängel an Teilen des Notkühlsystems über die Notstrom-

200 Vgl. 'Umwelt' 1987, S. 76 f., 152 ff. und 1992, S. 405; Bundesregierung, Tschernobyl und die Folgen - Ein Jahr danach, BT-Drs. 11/755, S. 20; BMU, 'Umwelt 90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 96 f. 201 Vgl. Anhang B.

202 203

Vgl. Der Spiegel Nr. 22/1988, S. 95 f. Der Spiegel Nr. 22/1988, S. 96.

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versorgung bis zum Brandschutz festgestellt hat204 , plant der zu zwei Dritteln an dieser Anlage beteiligte Stromkonzern Preussen-Elektra nun, das Kernkraftwerk stillzulegen und stattdessen ein neues Erdgaskraftwerk zu errichten. 20S e) Golay/Todreas

Nach Auffassung zweier international angesehener amerikanischer Atomwissenschaftler des Massachusetts Institute of Technology - Michael W. Golay und Neil E. Todreas206 - müssen alle herkömmlichen Leichtwasserreaktoren in die Kategorie "Wirtschaftlichkeit geht vor Sicherheit.. eingeordnet werden. 207 Erst in jüngerer Zeit würden in den USA, in Japan, Frankreich und Großbritannien fortschrittliche Reaktortypen entwickelt, die bei meist reduzierter Leistung und verbessertem passiven Sicherheitssystem ein höheres Sicherheitsniveau insbesondere auch bei Kernschmelzen gewährleisten. 208 Kennzeichnend dafür ist zum einen ein Wasserreservoir über dem Reaktorkern, welches im Bedarfsfall allein durch Schwerkraft eine Kühlung der Brennelemente ermöglicht, so daß die Gefahr eines Pumpenausfalls vermieden wird. Zum anderen gehört zu den passiven Sicherheitsmaßnahmen auch eine besondere Luftkühlung des Sicherheitsbehälters bei Überhitzung, wodurch der Druck im Innern des Sicherheitsbehälters reduziert und damit die Gefahr eines Bruchs vermindert wird. 209 Die wohl radikalste Lösung wäre das schwedische Konzept PlUS (Process Inherent Ultimately Safe), das allerdings bisher niemals verwirklicht wurde. 210 Es gewährleistet selbst bei Sabotage oder Aufgabe des Kraftwerks eine automatische Abschaltung und Kühlung des Reaktors. Die Reaktoren erzeugen maximal 500 bis 600 MWe und arbeiten bei niedrigeren Temperaturen und mit geringerem Kühlmitteldruck als herkömmliche Druckwasserreaktoren. Der Prlmärkreislauf ist an einen besonders geschützten SpannbetondruckbeSZ v. 19. 6. 1991, S. 6. ws SZ v. 8. 2. 1992, S. 34. 206 Todreas leitete die Untersuchungskommission des 'Three-Mile-Island Unfalls. 207 Golayfl'odreas, Scientific Arnerican, April 1990, 58 ff. [64: "emphasis on economics"]. 208 Vgl. auch Bürkle, atw 1992,404 ff.; Rinig, atw 1992, 352 ff.; Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1993, S. 274 ff. 209 Golayfl'odreas, Scientific Arnerican, April 1990, 63 f. 210 Golayfl'odreas, Scientific Arnerican, April 1990, 64; Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 11/8030, S. 534. Vgl. hierzu und zu weiteren fortschrittlichen Reaktortypen auch Rosenkranz/Meichsner/Kriener, Atomwirtschaft, S. 242 ff.; vgl. ferner die Nachweise bei Roßnagel, UPR 1993, 132 Fn. 39 und 40. 204

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häher angeschlossen, der mit boriertem Wasser gefüllt ist. Die Borsäure absorbiert bei einem Störfall die Neutronen im Reaktor, wodurch die Kernspaltung zum Erliegen kommt. Dabei wird das Gemisch allein durch Schwerkraft, also ohne Pumpen, in den Kühlmittelkreislauf geleitet und wirkt somit gleichzeitig als Abschaltsystem und Wärmesenke. Der Hauptnachteil diese Systems aus wirtschaftlicher Sicht besteht neben dessen zusätzlichen Kosten darin, daß es sehr empfindlich auf Störungen reagiert und daß es so möglicherweise zu "unnötigen" bzw. unerwünschten Reaktorabschaltungen kommt. Befindet sich die Borsäure einmal im Primärkreislauf, dauert es mindestens 24 Stunden, bis der Reaktor wieder angefahren werden kann. Wegen seiner wirtschaftlichen Unattraktivität bestehen z. Zt. wohl wenig Aussichten, daß dieses Konzept umgesetzt wird. C. Die Entsorgung

"Die sichere Entsorguilg der Kernkraftwerke und hierbei insbesondere die geordnete Beseitigung radioaktiver Abfalle haben für die friedliche Nutzung der Kernenergie herausragende Bedeutung. Die sichere Entsorgung der Kernkraftwerke ist für die Bundesregierung unverändert Voraussetzung für deren Errichtung und Betrieb. "211 Die Entwicklung auf dem Gebiet der Entsorgung hat jedoch mit der Inbetriebnahme von Kernkraftwerken seit mehr als 25 Jahren nicht Schritt gehalten. 212 Zwar besteht seit längerem ein Entsorgungskonzept der Bundesregierung, doch ist man gerade bei der problematischen Entsorgung hochradioaktiver Abfalle noch nicht über das Stadium der Suche nach einem geeigneten Endlagerstandort hinausgekommen.

I. Das Entsorgungskonzept Das Entsorgungskonzept der Bundesregierung ist in den 'Grundsätzen zur Entsorgungsvorsorge für Kernkraftwerke' vom 18. 3. 1980 verankert213 , die vom Bund-Länder-Ausschuß für Atomkernenergie aufgrund eines Beschlusses der Regierungschefs von Bund und Ländern vom 28. September 1979 erarbeitet wurden. Es geht vom Grundsatz der Entsorgung im Inland aus und 211 Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 11/1632, S. 3. Zur Frage, ob die gesicherte Entsorgung wirklich Genehrnigungsvoraussetzung für den Betrieb kemtechnischer Anlagen ist, vgl. § 7 C. I. 212 So auch SRU 1987, Tz. 1947. 213 Bundesanzeiger Nr. 58 vom 22. März 1980; abgedruckt auch im Entsorgungsbericht der Bundesregierung, BT-Drs. 11/1632, Anl. 2 [So 23 ff.].

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sieht die Realisierung der Entsorgung durch kraftwerksinterne und -externe Zwischenlagerung sowie anschließende Wiederaufarbeitung der abgebrannten Brennelemente, Verwertung der radioaktiven Reststoffe und Konditionierung sowie Endlagerung der radioaktiven Abfälle vor (sog. "integriertes Entsorgungskonzept"). 214 Die direkte Endlagerung wurde jedoch durch Beschluß des Bundeskabinetts vom 23. Januar 1985215 in Übereinstimmung mit § 9a Abs. 1 AtomG als derzeit nachrangig gegenüber der Wiederaufarbeitung eingestuft, da sie zwar grundsätzlich technisch realisierbar sei, jedoch noch weiterer Forschungs- und Entwicklungsarbeiten bedürfe. Nachdem allerdings das Konzept der inländischen Wiederaufarbeitung mit der Aufgabe der Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf gescheitert und die Forschung auf dem Gebiet der direkten Endlagerung mittlerweile fortgeschritten ist, soll nach den Koalitionsvereinbarungen der Bundesregierung im Rahmen der Novellierung des AtomG die rechtliche Grundlage dafür geschaffen werden, Wiederaufarbeitung und direkte Endlagerung abgebrannter Brennelemente als gleichberechtigte Entsorgungswege zuzulassen. 216 Ausgewechselte Brennelemente verbleiben zunächst mehrere Monate, bei Kompaktlagern u.U. sogar mehrere Jahre, in einem mit Wasser gefüllten Abklingbecken im Reaktorgebäude. 217 In dieser Zeit geht die Radioaktivität und die Wärmeentwicklung der Brennelemente erheblich zurück. Anschließend werden die Brennelemente entweder in kraftwerksinternen oder -externen Zwischenlagern eingelagert. 218 Danach können die Brennelemente entweder in einer Wiederaufarbeitungsanlage rezykliert und die hierbei zurückgewonnenen Kernbrennstoffe dann dem Brennstoffkreislauf wieder zugeführt werden219 oder aber nach entsprechender Vorbehandlung (Konditionierung) im Wege der direkten Endlagerung beseitigt werden. Außer den Brennelementen sind jedoch auch sonstige radioaktive Betriebsabfälle zu entsorgen. Hierzu gehören beispielsweise hochaktive Konzentrate von Spaltprodukten, die bei der Wiederaufarbeitung von BrenneleVgl. Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 11/1632, S. 5. Vgl. Bundesregierung, Energiebericht, BT-Drs. 10/6073, S. \0 und Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 11/1632, Anl. 3 [So 26], dazu auch Haedrich, § 9a, Rn. 25; Offermann-Clas, NVwZ 1989,1118. 216 'Umwelt' 91, 510 [514]; Hohle/elder, et 1991, 401 [404 f.] sowie jetzt auch § 9a Abs. 1 Nr. 3 des Referentenentwurfs vom 21. 12. 1992 zum Atomrechtsänderungsgesetz. 217 Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 1118030, S. 535; Haedrich, § 6 Rn. 5 f.; Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 27; SRU 1987, Tz. 1943. 218 Näher Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 54 ff. 219 Zu den Verfahrenstechnilcen vgl. i.e. Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 30 - 32, 36; s. auch BenderlSparwasser, Umweltrecht, Rn. 437 f. 214

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menten anfallen; ferner feste, flüssige und gasförmige Rückstände, die bei der Reinigung des Reaktorkühlmittels entstehen, radioaktiver Abfall infolge von Wartungs- oder Reparaturarbeiten, kontaminierte Arbeitskleidung, u.s. w. Zu entsorgen sind auch erhebliche Mengen radioaktiver Abfälle, die beim Abbruch ausgedienter Kernkraftwerke anfallen. 220 Nach Angaben des Worldwatch-Institute verursacht der Abriß eines Kernkraftwerks annähernd dreimal soviel Atommüll wie sein Betrieb. 221 Die Kosten für die Stillegung eines 1.300 MW-Druckwasserreaktors mit sicherem Einschluß und nachfolgender Beseitigung werden mit 650 bis 700 Mio. DM veranschlagt. 222 95 % des Volumens aller radioaktiven Abfälle sind schwach- bis mittelaktiv und nicht bzw. nur gering wärmeentwickelnd. Sie enthalten nur 1 % der Aktivität des gesamten radioaktiven Abfalls, während die restlichen 99 % in 5 % des Gesamtabfallvolumens eingebunden sind. 223 Diese Abfallsorten müssen auf verschiedene Weise konditioniert werden, bevor sie zwischen- oder endgelagert werden können. 224 Die schwach- bis mittelaktiven Abfälle werden zur Reduzierung des Volumens gepreßt, verbrannt oder eingedampft, anschliessend in Zement oder Beton eingebunden und dann in Fässer oder Gußeisenbehälter gefüllt. Die hochaktiven, wärmeentwickelnden Abfälle werden in Glasblöcke eingeschmolzen und dann mit Edelstahl ummantelt. Sie bedürfen einer wesentlich längeren Abklingzeit in oberirdischen Zwischenlagern, die bis zu 30 Jahren und mehr betragen kann. Auch bei der Endlagerung ist zwischen hochaktiven Abfällen und schwachbis mittelaktiven Abfällen zu unterscheiden. 22s Für hochradioaktive Abfälle besteht ein internationaler Konsens darüber, daß diese in tiefen geologischen

220 So wird z. Zt. in einem weltweit erstmals angewendeten Verfahren der 1974 nach nur 19 Tagen Betriebsdauer stillgelegte Reaktor Niederaichbach demontiert. Solange ein Endlager für die hierbei anfallenden radioaktiven Abfalle noch nicht zur Verfügung steht, werden diese im Kernforschungszentrum Karlsruhe zwischengelagert. Für die Abbruchkosten in Höhe von rund 280 Mio. DM kommt größtenteils das Bundesforschungsministerium auf. Die aus der Beseitigung gewonnenen Erkenntnisse lassen allerdings kaum Rückschlüsse für große Leichtwasserreaktoren nach langjährigem Betrieb zu (Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 1118030, S. 536). Inzwischen wurde auch die Genehmigung für die Demontage des 1977 stillgelegten Reaktorblocks A des Kernkraftwerks Gundremmingen erteilt (SZ v. 20. 8. 1992, S. 18 u. v. 8. 9. 1992, S. 18; hierzu auch Eickelpasch/Steiner, et 1993, 320 ff.). 221 Rosenkranz/Meichsner/Kriener, Atomwirtschaft, S. 262. 222 Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1993, S. 256 (preisstand: 31. 12. 1990). 223 Würden allerdings die ausgedienten Brennelemente ohne Wiederaufarbeitung direkt endgelagert werden, so müßten sie ebenfalls den hochaktiven wärmeentwickelnden Abfallen zugerechnet werden. Das prozentuale Verhältnis der schwach- bis mittel aktiven Abfalle zu den hochaktiven Abfallen würde sich damit erheblich verschieben. 224 Vgl. näher Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 33 - 36, 39 f.; Wamecke, et 1993,93 ff. 22S Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 43 ff.

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Formationen endzulagern sind. 226 Wesentliche Voraussetzung ist die Stabilität der betreffenden geologischen Formationen über einen langen Zeitraum. Bisher ist weltweit noch kein einziges Endlager für hochradioaktive Abfalle in Betrieb; erforscht werden: Salzformationen (Bundesrepublik Deutschland, Niederlande, Frankreich, GUS), Granit (Kanada, Schweden, Frankreich, Großbritannien, Japan, Schweiz), Ton (Frankreich, Belgien, Italien) und vulkanisches Tuffgestein (USA). Für verfestigte schwach- bis mittelaktive Abfalle besteht die Möglichkeit der Beseitigung entweder durch oberflächennahes Vergraben oder ebenfalls durch Verbringen in tiefere geologische Schichten. 227 Die erste Variante wird beispielsweise in Frankreich, Großbritannien, Belgien, Rußland und den USA praktiziert, ist aber in der Bundesrepublik nicht in der Diskussion. Hier setzt man ebenso wie z.B. in der Schweiz und in Schweden auf die Endlagerung in tiefen geologischen Formationen. Sonstige Endlagerungskonzepte228 werden in der Bundesrepublik nicht bzw. nicht mehr verfolgt. Insbesondere für die Versenkung radioaktiver Abfalle im Meer hat sich die Bundesrepublik gemeinsam mit anderen Vertragsstaaten in der 'Londoner Dumping-Konvention' einem Moratorium unterworfen. 229 Nach § 9a Abs. 3 S. 1 AtomG sind Einrichtung, also Errichtung und BetrielJ230 von Zwischen- und Endlagern in der Bundesrepublik Aufgabe der Länder bzw. des Bundes. Für deren Benutzung werden von den Ablieferungspflichtigen nach §§ 21a, 21b AtomG LV.m. der AtKostV231 und der EndlagervorausleistungsV232 Kosten und Beiträge erhoben. Das Verursacherprinzip ist hier also nicht voll verwirklicht: Die Verursacher haben zwar die Finanzierungsverantwortung, die Realisierungsverantwortung trägt jedoch der Staat. 233 Im Zuge der anstehenden Atomrechtsnovelle soll diese Privilegierung jedoch als Konsequenz aus der ebenfalls zu erwartenden Streichung des Förderprin-

226 Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 11/1632, S. 19; Hohle/eider, 8. Dt.AtRS, S. 208; 'Umwelt' 91, S. 514. 227 Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 11/1632, S. 18; 'Umwelt' 91, S. 514; Wamecke, et 1993, 99 f. 228 Vg\. Luckuw, Brennstoffkreisläufe, S. 40 ff. 229 Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 1111632, S. 17. 230 Haedrich, § 9a, Rn. 40 m.w.N. 231 Vom 17. 12. 1981, BGB\. I, S. 1457.

232 Vom 28. 4. 1982, BGB\. I, S. 562, zu\. geänd. durch VO v. 27. 11. 1986, BGB\. I, S.2094. 233 Hohle/eider, 8. DLAtRS, S. 192. 7 Borgmann

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zips des § 1 Nr. 1 AtomG entfallen und die Endlagerung privatisiert werden. 234

Il. Der Stand der Entsorgung in der Bundesrepublik Deutschland Die Entsorgungspflicht umfaßt nach § 9a Abs. 1 Nr. 1 AtomG die Pflicht zur schadlosen Wiederverwertung radioaktiver Reststoffe sowie ausgebauter oder abgebauter radioaktiver Anlagenteile und, soweit eine Wiederverwertung nach dem Stand von Wissenschaft und Technik nicht möglich, wirtschaftlich nicht vertretbar oder mit den Zwecken des § 1 Nr. 2 bis 4 AtomG nicht vereinbar ist, deren geordnete Beseitigung als radioaktive Abfälle, § 9a Abs. 1 Nr. 2 AtomG. 1. Reststoff- und Abfallmenge in der Bundesrepublik Nicht nur die eigentlichen radioaktiven Abfälle, sondern auch die wiederverwertbaren Reststoffe spielen bei der Entsorgung eine Rolle, da letztere einen erheblichen Teil der Zwischenlagerkapazitäten in Anspruch nehmen. Im folgenden soll daher zwischen wiederverwertbaren radioaktiven ReststojJen und zwischen nicht wiederverwertbaren radioaktiven Abfällen unterschieden werden.

a) Wiederverwertbare radioaktive ReststojJe Hierzu zählen vor allem die abgebrannten Brennelemente235 , die gleichzeitig den ganz überwiegenden Anteil der wiederverwertbaren radioaktiven Reststoffe ausmachen. Daneben kommt beispielsweise eine Wiederverwertung von abgereichertem Uran für nicht-kerntechnische Zwecke oder von dekontaminiertem Metallschrott zur Verwendung als konventionellem Schrott in Betracht. 236 Pro Jahr fallen in der Bundesrepublik mehr als 500 t abgebrannter Brennelemente an. 237 Bis Ende 1989 sind insgesamt ca. 3.520 tabgebrannter Brenn234 Vgl. Hohle/eider, et 1991, 404 sowie jetzt die §§ 9a, 9b des Referentenentwurfs vom 21. 12. 1992 zum Atomrechtsänderungsgesetz; kritisch hierzu Lange, ZRP 1992, 309 f.; Wagner, et 1992,474 ff.; ders., DVBI. 1992,1510 ff.; ders., NVwZ 1993, 516 ff.; Wolf, ZUR 1993,15. 235 Vgl. auch Ziff. I. 1. der Entsorgungsvorsorgegrundsätze (s.o., Fn. 213). 236 Haedrich, § 9a, Rn. 11, 15. 237 Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 11/1632, Anl. 4.1 und 4.2, S. 27, dort aufgeschlüsselt nach einzelnen Kernkraftwerken; Enquete-Kommission 'Vorsorge zum

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elemente zusammengekommen238 , die bis auf einen verschwindend geringen Teil239 in der Versuchs-Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe oder in den Wiederaufarbeitungsanlagen La Hague (Frankreich) und Sellafield (Großbritannien) aufgearbeitet wurden bzw. werden, solange eine direkte Endlagerung noch nicht möglich ist. Bei der Wiederaufarbeitung entstehen allerdings erhebliche Mengen radioaktiven Abfalls, die von den ausländischen Vertragspartnern lagerfähig in die Bundesrepublik zurückgeführt werden und die hier beseitigt werden müssen. 2AO Für das Jahr 2000 prognostiziert die Bundesregierung einen Bestand von 10.150 t abgebrannter Brennelemente bei einer elektrischen Kernenergieleistung von 23.600 MW bzw. 10.410 t bei einer Leistung von 27.500 MW.241 b) Radioaktive Abfälle Bei den radioaktiven Abfällen muß unterschieden werden zwischen unkonditionierten und konditionierten Abfällen, wobei beide Abfallarten wiederum in wärmeentwickelnder und deshalb für die Entsorgung problematischer Form und mit vernachlässigbarer Wärmeentwicklung auftreten können. Die Abfallmenge wird ab Mitte der neunziger Jahre erheblich ansteigen, da die Verträge mit den ausländischen Wiederaufarbeitern vorsehen, daß das bei der Wiederaufarbeitung zurückgewonnene Uran und Plutonium sowie die radioaktiven Abfälle von den Kunden zurückgenommen werden müssen. Hochaktive Abfalle werden aus Frankreich ab 1994 und aus Großbritannien ab 1997 zurückgeliefert. Mit der Rücklieferung der schwach- bis mittelaktiven Abfälle soll ab 1997 begonnen werden. 242 Im jährlichen Mittel handelt es sich ab 1997 um ca. 20.000 m3 radioaktive Abfälle, die die vorläufigen Annahmebedingungen

Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 1118030, S. 535; Dibben/Passig, Entsorgung, S. 32; Wamecke, et 1993, 90. 238 BMU, 'Umwelt 90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 118.

239 Vgl. Bundesregierung, Entsorgungssituation der bundesdeutschen Atomanlagen, BT-Drs. 1114849, S. 6. 2AO Vgl. Bundesregierung, Entsorgungssituation der bundesdeutschen Atomanlagen, BT-Drs. 1114849, S. 3 f.

241 Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 1111632, Anl. 5.1 und 5.2, S. 28 f. Frühere Prognosen wie z.B. die des Sachverständigenrats rur Umweltfragen in seinem Umweltgutachten 1987, Tz. 1945, gingen von einem weiteren Ausbau der Kemkraftwerkskapazitäten in der Bundesrepublik aus und sind mittlerweile überholt. 242 Dibben/Passig, Entsorgung, S. 49; Janberg/SchlesingerlWeh, Wiederaufarbeitungsverträge, S. 105 f.; Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1993, S. 257.

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für das Endlager Konrad erfüllen, und etwa 8.000 m3, bei denen dies nicht der Fall ist. 243 Die Abfa11mengen jeweils am Jahresende der Jahre 1986, 1989 und 1990 sowie die für das Jahr 2000 prognostizierten Abfa11mengen können der nachstehenden Tabelle entnommen werden. Dabei weichen vor allem die Prognosen z. T. erheblich voneinander ab, was wohl dadurch zu erklären ist, daß die Fortschritte bei den Bemühungen um Volumen- und Gebindereduzierung unterschiedlich eingeschätzt werden. 244 Zu beachten ist allerdings, daß die Prognosen für das Jahr 2000 wohl erheblich nach oben korrigiert werden müßten, sollte die Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente zugunsten der direkten Endlagerung aufgegeben werden. 245

243 Marting, Entsorgungsvorsorge, S. 21. Zu den Abfallmengen vgl. auch Janberg/Schlesinger/Weh, Wiederaufarbeitungsverträge, S. 99 ff. und Tabelle 1 sowie Wamecke, et 1993, 91. 244 So nennt noch der Sachverständigenrat rur Umweltfragen in seinem Umweltgutachten 1987 wesentlich höhere Zahlen (SRU 1987, Tz. 1942, basierend auf Angaben der PhysikalischTechnischen-Bundesanstalt). 245 Als Abfall müßten wohl auch die ursprünglich rur den SNR-Kalkar vorgesehenen 123 Brennelemente angesehen werden, die z. Zt. im Hanauer Brennelementewerk zwischengelagert sind (vgl. auch Haedrich, § 5 Rn. 5, § 6 Rn. 4). Da die dortigen Lagerkapazitäten anderweitig benötigt werden, sollen die Brennelemente, die etwa 1,2 t Plutoniumdioxid enthalten, auf dem Luftweg in 7 Schüben nach Dounray/Schottland gebracht werden. Hierfilr sollen Transportbehälter verwendet werden, die in den Vereinigten Staaten schon seit 1987 nicht mehr erlaubt sind (vgl. SZ v. 27. 4. 1993, S. 7) Ob aber die Brennelemente in Schottland überhaupt noch eingesetzt werden, ist ungewiß. Die britische Regierung hat jedenfalls beschlossen, den schottischen 'Prototype Fast Reactor' (pFR) in Dounray stillzulegen (vgl. Der Spiegel Nr. 47/1992, S. 157f.).

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Tabelle 6: Radioaktive Abftille konditioniert mit vemacblässigbarer Wärmeentwicklung

unkonditioniert mit vemacblässigbarer Wärmeentwicklung

konditioniert, wärmeentwickelnd

unkonditioniert, wärmeentwickelnd

31. 12. 1986

33.600 m 3 a)

6.500 m3 a)

250 m 3 a)

63 m 3 a)

31. 12. 1989

44.400 m 3 b)

13.000 m3 b)

500 m 3 b)

71 m 3 b)

31. 12. 1990

49.997 m 3 c)

14.875 m3 c)

573 m 3 c)

73 m 3 c)

31. 12. 2000

195.600 196.500 m 3 a) 174.294 m 3 c) 196.000 m 3 d) 129.896 170.874 m 3 e)

Bestand am

keine Angaben a)

keine Angaben a)

keine Angaben a)

keine Angaben c) keine Angaben d) keine Angaben e)

3.346 m3 c) 5.800 m 3 d) 3.211 3.603 m 3 e)

keine Angaben c) keine Angaben d) keine Angaben e)

a) Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 1111632, S. 13. b) BMU, . Umwelt 90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 121 f. c) Bundesamt für Strahlenschutz (nach Liebholz [Hrsg.J, Jahrbuch der Atomwirtschaft 1993, S. 248); vgl. auch Marting, 9. Dt.AIRS, S. 340. d) Hohlefelder, 8. Dt.AIRS, S. 197 f. e) MüllerILiebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. B 54.

2. Gegenwärtige und zukünftige Entsorgungskapazitäten

a) Zwischenlager für bestrahlte Brennelemente Die Zwischenlagerung bestrahlter Brennelemente ist nur ein Zwischenschritt bei der Entsorgung und stellt keine dauerhafte Alternative zur Wiederaufarbeitung oder Endlagerung dar. Es muß unterschieden werden zwischen kraftwerksinternen und -externen Zwischenlagern. Die Lagerkapazität der kraftwerksintemen Zwischenlager betrug Anfang 1990 ca. 7.060 t, wovon ca. 6.530 t bereits genehmigt und ca. 465 t zusätzlich beantragt waren. 246 Im Lager eines jeden Kernkraftwerks ist Raum für die Aufnahme einer Kernladung freizuhalten. 247 Bei einem modemen Druckwasserreaktor vom Typ Isar 2 sind dies z.B. 193 Brennelemente mit einem 246 BMU, 'Umwelt 90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 118 f. Die Lagerkapazitäten der einzelnen Kernkraftwerke per 31. 12. 1990 einschließlich der noch freien Kapazitäten können der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage zur Entsorgungssituation der bundesdeutschen Atomanlagen (BT-Drs. 121719, Anl. I, S.7) entnommen werden. Vgl. ferner Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1993, S. 254. 247 Vgl. Ziff. 11. 2.1. Satz 3 der Entsorgungsvorsorgegrundsätze (BT-Drs. 1111632, S. 24); dazu auch Offermann-Clas, NVwZ 1989, 1117.

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Urangewicht von 103 t. Die internen Lagerkapazitäten dürfen grundsätzlich nicht kraftwerksübergreifend genutzt werden. Ferner sind in der Bundesrepublik inzwischen zwei externe Zwischenlager für bestrahlte Brennelemente errichtet worden: eins in GorlebenlOstniedersachsen und eins in Ahaus/MÜDSterland. Beide sind als Trockenlager ausgelegt und haben eine Lagerkapazität von je 1.500 t Uran bzw. 420 Stellplätzen für Brennelementetransportbehälter. 248 Mit der Aufgabe der WAA Wackersdorf, für die ein Brennelemente-Eingangslager mit einer Kapazität von ebenfalls 1.500 t Uran vorgesehen war249 , ist also ein Drittel der ursprünglich vorgesehenen externen Zwischenlagerkapazität entfallen. Die Gesamtkapazität der beiden errichteten Brennelemente-Zwischenlager umfaßt somit nur einen Teil der für das Jahr 2000 prognostizierten Brennelementemenge. 25O Da jedoch bedeutende kraftwerksinterne Zwischenlagerkapazitäten bestehen und ohnehin fast alle Brennelemente in Frankreich und Großbritannien wiederaufgearbeitet werden, dürfte es in absehbarer Zeit nicht zu Engpässen kommen. Anders wäre die Situation allerdings mangels verfügbarer Endlager, wenn man die Brennelemente nicht mehr wiederaufarbeiten ließe und deren Entsorgung somit nur noch auf dem Wege der direkten Endlagerung erfolgen könnte. Wäre dies ab 1995 der Fall, so wären die Brennelemente-Zwischenlager Gorleben und Ahaus etwa 1999 gefüllt. Alle drei Jahre würde dann ein neues Zwischenlager dieses Typs benötigt. 2St

b) Zwischenlager für radioaktive Abfälle Da zur Zeit noch kein Endlager für radioaktive Abfälle zur Verfügung steht, müssen diese einstweilen zwischengelagert werden (vgl. auch § 86 StrlSchVO). Die Zwischenlagerung wärmeentwickelnder radioaktiver Abfälle erfolgt derzeit im Kernforschungszentrum und in der Versuchs-Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe. Das Kernforschungszentrum hat eine Lagerkapazität von ca. 248 BMU, 'Umwelt 90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 113; Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 11/1632, S. 9 f. u. 31; SZ, 14. 2. 91, S. 6; Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 56. In Gorleben sollen ab Januar 1993 die ersten Brennelemente aus dem Kernkraftwerk Gundremmingen zwischengelagert werden; in Ahaus werden seit dem 25. 6. 1992 die Brennelemente des stillgelegten TIlTR Hamm-Uentrop angeliefert, die insgesamt etwa 118 der Lagerkapazität der Anlage ausschöpfen. Zu den speziellen Risiken der Trockenlagerung vgl. die Darstellung der Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 1118030, S. 535. 249 Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 1111632, S. 31; Hohle/eider, 8. Dt.AtRS, S. 200. 250 S.o., § 2 C. 11. 1. a).

2St

Matting, Entsorgungsvorsorge, S. 25.

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380 m3 für konditionierte Abfälle, die allerdings erweitert werden soll. In der WAA Karlsruhe können ca. 125 m3 unkonditionierte Abfälle (vor allem flüssiges Spaltstoffkonzentrat) zwischengelagert werden. 252 Für einen Teilbereich des Zwischenlagers Gorleben wurde im Jahre 1988 ein Genehmigungsantrag zur Zwischenlagerung hochradioaktiver Abfälle gestellt. 253 Angesichts der Prognosen für wärmeentwickelnde hochradioaktive Abfälle im Jahr 2()()()254 scheinen die genannten Kapazitäten allerdings knapp bemessen zu sein255 , zumal ein Endlager für diese Abfälle noch lange nicht zur Verfügung stehen wird. Schwach- bis mittelradioaktive Abfälle mit vemachlässigbarer Wärmeentwicklung fallen nicht nur beim Betrieb von Kernkraftwerken und bei der Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente an, sondern auch in Forschungseinrichtungen, in der Industrie und in der Medizin, wenn Radioisotope angewendet werden. Diese Abfälle werden derzeit auf dem Gelände der Kernkraftwerke, in den Kemforschungszentren und Industriefirmen, in Landessammelstellen und in den externen Zwischenlagern Gorleben und Mitterteich zwischengelagert. 256 Das Faßlager für radioaktive Abfälle in Gorleben hat eine Kapazität von ca. 10.600 m3 , das Zwischenlager der bayerischen Energieversorgungsunternehmen in Mitterteich eine solche von ca. 21.600 m3 • 257 Die Gesamtkapazität der übrigen Zwischenlager wird mit ca. 90.000 m3 angegeben, so daß zur Zeit insgesamt mehr als 120.000 m3 zur Verfügung stehen. 258 Durch die Verzögerung der Inbetriebnahme des Endlagers Konrad ergibt sich allerdings für die Energieversorgungsunternehmen insbesondere wegen der demnächst aus Frankreich zurückzunehmenden Abfälle die Notwendigkeit, die Zwischenlagerkapazitäten zu erweitern. 259

Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 1111632, S. 13 f. Bundesregierung, Entsorgungssituation der bundesdeutschen Atomanlagen, BT-Drs. 1114849, S. 4; Dibberl/Passig, Entsorgung, S. 49; Hohle/eider, 8. Dt. AIRS, S. 200; Janberg/SchlesingerlWeh, Wiederaufarbeitungsverträge, S. 108. 254 S.o., § 2 C. D. 1. b), Tabelle 6. 255 So auch die Einschätzung der Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 1118030, S. 535. 256 BMU, 'Umwelt 90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 114 u. 130; Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 11/1632, S. 13; Mal1ing, Entsorgungsvorsorge, S. 20; Müller/Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. B 54. 257 BMU, 'Umwelt 90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 116 u. 130; Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 11/1632, S. 13; Müller/Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. B 54. 258 BMU, 'Umwelt 90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 130; Hohle/eider, 8. Dt.AtRS, S. 200 f.; Mal1ing, 9. Dt.AtRS, S.340; ders., Entsorgungsvorsorge, S.22; Müller/Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. B 54. 259 Ebenso Mal1ing, Entsorgungsvorsorge, S. 22 f.; Wamecke, et 1993, S. 97 f. 252 253

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Teil 1: Rechtstatsachen

In Gorleben soll ein zusätzliches Zwischenlager mit rund 150.000 m3 Fassungsvermögen errichtet werden, das ab Mitte der neunziger Jahre schwach- und mittelaktiven Abfall aus deutschen Kernkraftwerken aufnehmen soll.260 Außerdem hat der Landtag von Mecklenburg-Vorpommern der Errichtung eines atomaren Zwischenlagers in Greifswald durch die zuständige Behörde unter strengen Auflagen zugestimmt, welches allerdings nur zur Aufnahme von Atommüll aus stillgelegten Kernkraftwerken der ehemaligen DDR dienen soll.261 Nach Angaben des Bundesumweltministeriums reichen die vorhandenen und geplanten Zwischenlagerkapazitäten für radioaktive Abfälle mit vernachlässigbarer Wärmeentwicklung bei konstanten Abfallmengen bis etwa 1996 aus. 262 Der Zubau weiterer Zwischenlagerkapazitäten wäre angesichts der Rücknahmeverpflichtungen gegenüber COGEMA und BNFL allenfalls dann entbehrlich, wenn das Endlager Konrad spätestens 1997 in Betrieb gehen würde. 263 Damit ist aber angesichts des derzeitigen Verfahrensstandes kaum noch zu rechnen. c)

Wiederaujarbeitung abgebrannter Brennelemente

In den siebziger Jahren war geplant, in Gorleben ein sog. "integriertes nukleares Entsorgungszentrum " zu errichten, in dem alle Entsorgungsanlagen, also Brennelementelager , Wiederaufarbeitungsanlage, Anlagen zur Abfallund Abgasbehandlung, Anlage zur Mischoxid-Brennelementeherstellung und Endlager an einem Standort angesiedelt werden sollten. 264 Die Reaktor-Sicherheitskommission und die Strahlenschutzkommission hielten damals das Projekt für sicherheitstechnisch realisierbar. Nach einer Anhörung mit 65 Wissenschaftlern aus zehn Nationen im Frühjahr 1979 erklärte jedoch die niedersächsische Landesregierung, daß für die Errichtung einer Wiederaufarbeitungsanlage keine wirtschaftspolitische Notwendigkeit bestehe, solange die Entscheidung über die großtechnische Nutzung der Schnellen Brüter noch of-

260 Vgl. SZ v. 21. 10.1992, S. 6. Der Gemeinderat von Gorleben hat mit knapper Mehrheit sein Einvernehmen zur Erteilung einer entsprechenden Baugenehmigung erteilt. 261 Matting, Entsorgungsvorsorge, S. 22. 262 BMU, 'Umwelt 90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 122; vgl. auch OffermannClas, NVwZ 1989, 1117. 263 DibbertlPassig, Entsorgung, S. 50; JanberglSchlesingerlWeh, Wiederaufarbeitungsverträge, S. 106, 110; Matting, Entsorgungsvorsorge, S. 22. 264 Dazu näher Luckow, Brennstoftkreisläufe, S. 58 ff.; vgl. auch BenderlSparwasser, Umweltrecht, Rn. 441; Haedrich, § 9a Rn. 23.

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fen sei. Auch sei die Bevölkerung nicht von der Notwendigkeit und sicherheitstechnischen Vertretbarkeit dieser Anlage zu überzeugen. 265 Nach dem Scheitern des integrierten Entsorgungszentrums wurde von der Deutschen Gesellschaft für Wiederaufarbeitung von Kernbrenstoffen am 28. 10. 1982 ein Antrag auf Erteilung der Errichtungs- und Betriebsgenehmigung für eine Wiederaufarbeitungsanlage mit Brennelementeeingangslager, Zwischenlager für radioaktive Abfalle, Anlagen zur Abfall- und Abgasbehandlung und Anlage zur MOX-Brennelementeherstellung in Wackersdorf/Oberpfalz gestellt. Diese Anlage war für einen Jahresdurchsatz von 350 t Kernbrennstoff mit der Möglichkeit einer Erweiterung in einer zweiten Ausbaustufe vorgesehen. 266 Mit den Bauarbeiten wurde im Dezember 1985 begonnen, die Inbetriebnahme war für 1996 geplant. Dieses Projekt stieß jedoch bei der Bevölkerung auf unerwartet heftigen Widerstand und verursachte erheblich mehr Kosten als ursprünglich veranschlagt. Nach Verhandlungen mit der Compagnie Generale des Matieres Nucleaires (COGEMA) und der British Nuclear Fuels (BNFL) entschloß man sich im Frühjahr 1989, das Projekt zugunsten der Wiederaufarbeitung im Ausland aufzugeben. 267 Bei Einstellung der Bauarbeiten Ende Mai 1989 waren bereits 2 bis 2,5 Milliarden DM Planungskosten und 300 bis 400 Millionen DM Baukosten in die W AA Wackersdorf investiert worden. 268 Der Verzicht auf die Wiederaufarbeitung führt nach Auffassung der Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' eindeutig zu geringeren Strahlenbelastungen und -risiken. 269 Mit der COGEMA und der BNFL wurden langfristige Verträge zur Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente aus deutschen Leichtwasserreaktoren in den Anlagen La Hague und Sellafield abgeschlossen. Dabei handelt es sich um Festmengen- und Bedarfsmengenverträge. Die deutschen Vertragspartner verpflichten sich darin, sämtliche bei ihnen bis zum Jahre 2005 einschließlich anfallenden Wiederaufarbeitungsmengen in Frankreich und Großbritannien aufarbeiten zu lassen. Über 2005 hinaus werden ihnen für 265

Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 59 f.

Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 11/1632, S. 4 u. 10; Luckow, Brennstoftkreisläufe, S. 61. 267 BMU, 'Umwelt 90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 119 f., 129; BenderlSparwasser, Umweltrecht, Rn. 438; Offennann-Clas, NVwZ 1989,1114. In diesem Zusammenhang wurde ebenfalls beschlossen, die seit 1971 in Karlsruhe betriebene Versuchs-WAA stillzulegen (SZ, 12. 12. 1991, S. 7). Diese Anlage war für 35 t Kernbrennstoff jährlich ausgelegt und diente in erster Linie der Forschung. Die Abwicklungskosten wurden ursprünglich mit 1,95 Milliarden DM beziffert und lägen damit fast zehnmal so hoch wie die Baukosten. Mittlerweile geht die Bundesregierung sogar von Stillegungskosten von bis zu 5 Milliarden DM aus (SZ, 4. 3. 1993, S. I u. 21). 268 BenderlSparwasser, Umweltrecht, Rn. 438. 266

269 Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 11/8030, S. 522,536.

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Teil 1: Rechtstatsachen

weitere zehn Jahre verbindliche Optionen zur Wiederaufarbeitung eingeräumt. Die Einzelverträge dürfen von den ausländischen Wiederaufarbeitern nur im Falle höherer Gewalt gelöst werden, was allerdings auch das gesetzliche Verbot der Wiederaufarbeitung im Lande des Kunden oder des Wiederaufarbeiters einschließt. 270 Die Kapazität der Anlage in La Hague soll auf insgesamt 1.600 t pro Jahr erweitert werden; Sellafield soll auf 800 t pro Jahr ausgebaut werden. 271 Die vereinbarten Wiederaufarbeitungsmengen für deutsche Brennelemente betragen 6.297 t für La Hague und 2.249 t für Sellafield. 272 Die Kostenvorteile für die deutschen Kernkraftwerksbetreiber im Vergleich zur Wiederaufarbeitung im Inland werden mit ca. 1 Milliarde DM jährlich angegeben. Die Durchführung der Wiederaufarbeitung im Inland ist zwar weder im AtomG noch in der StrlSchVO ausdrücklich vorgeschrieben. 273 Nach den Entsorgungsvorsorgegrundsätzen der Bundesregierung konnte jedoch der Nachweis der Entsorgungsvorsorge als Voraussetzung für der Erteilung der 1. Teilerrichtungsgenehmigung für ein Kernkraftwerk durch Vorlage von Verträgen mit ausländischen Wiederaufarbeitern ab dem 1. 1. 1985 nur noch erbracht werden, wenn bis zu diesem Zeitpunkt eine Standortvorauswahl für eine inländische Wiederaufarbeitungsanlage getroffen worden ist. 274 Hiervon abrückend hat die Bundesregierung am 6. 6. 1989 durch Kabinettsbeschluß entschieden, daß eine vertraglich dauerhaft abgesicherte Wiederaufarbeitung in EG-Staaten auch ohne Fortschritte bei der Errichtung einer inländischen Wiederaufarbeitungsanlage als Teil des integrierten Entsorgungskonzepts und damit als Entsorgungsvorsorgenachweis anerkannt wird. 275 Die Musterverträge der deutschen Energieversorgungsunternehmen mit COGEMA und BNFL wurden vom Bundeskabinett am 14. 3. 1990 gebilligt. 276

270 Dibben/Passig, Entsorgung, S. 38; Müller/Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. 89. 271 Bender/Sparwasser, UmweItrecht, Rn. 444. 272 Dibben/Passig, Entsorgung, S. 56 Abb. 4; Janberg/SchlesingerfWeh, Wiederaufarbeitungsverträge, S. 96; Wamecke, et 1993, S. 90 Tabelle 4; vgl. auch die Antwort der Bundesregierung, BT-Drs. 121719, S. 1 f. 273 So auch Offennann-Clas, NVwZ 1989, 1114, 1116; Roßnagel, DVBI. 1991, 840 f. 274 Entsorgungsvorsorgegrundsätze, Ziff. D. 2.2.1. b) und Anhang I, Ziff. 3. (BT-Drs. 1111632, S. 24 f.); vgl. auch Hohle/eider, 8. Dt.AtRS, S. 202. 275 BMU, 'Umwelt 90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 137; Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 442; Müller/Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. 89; Roßnagel, DVBI. 1991, S. 839 f. 276 Dibben/Passig, Entsorgung, S. 38 f.; Müller/Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. 89; Rengeling, Entsorgung, S. 327.

§ 2 Risiken der Kemenergienutzung

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d) Endlager für schwach- bis mittelradioaktive Abfälle aa) Das Salzbergwerk Asse 11 Im ehemaligen Salzbergwerk Asse 11 bei Braunschweig wurden von 1967 bis 1978 versuchsweise Fässer mit schwach- bis mittelaktiven Abfallen eingelagert. 277 Hierdurch wurde nahezu der gesamte bis dahin angefallene schwach- bis mittelaktive Abfall bewältigt. Schwachaktive Abfalle wurden in Stahlblechfässer gefüllt oder in Betonbehältern untergebracht und dann in Abbaukammern übereinander gestapelt bzw. in Hohlräume abgekippt und mit Salz bedeckt. Mittelaktive Abfalle wurden in Bitumen oder Beton eingebunden und dann ebenfalls in Stahlfässern verpackt. Für den Transport dieser Fässer waren zusätzliche Abschinnbehälter erforderlich. Die Endlagerung erfolgte ferngesteuert direkt aus diesen Abschinnbehältern in eine hennetisch abgeschlossene Einlagerungskammer . Insgesamt wurden in Asse 11 124.500 Fässer mit schwachaktiven und 1.289 Fässer mit mittelaktiven Fässern eingelagert. 278 Aufgrund der Einführung des Planfeststellungsverfahrens für Errichtung und Betrieb von Endlagern durch § 9b AtomG im Rahmen der vierten Atomrechtsnovelle wird das Salzbergwerk Asse 11 seit 1978 nicht mehr genutzt. Bis 1992 wurden allerdings noch Forschungs- und Entwicklungsarbeiten zur Erprobung von Endlagerungskonzepten für das geplante Endlager Gorleben durchgeführt. Auch wurde erkundet, ob der Standort Asse eventuell als Endlager genutzt werden kann. 279 Inzwischen sind jedoch alle Versuche eingestellt worden. 280 bb) Das ehemalige Eisenerzbergwerk Konrad Das ehemalige Eisenerzbergwerk Konrad in Salzgitter ist als Endlager für schwach- bis mittelradioaktive Abfalle mit vernachlässigbarer Wänneentwicklung, insbesondere für die aus Frankreich und Großbritannien zurückzunehmenden Abfalle vorgesehen. 281 In dem geplanten Endlager wird ein Nutzvolumen von ca. 650.000 m3 zur Verfügung stehen, das für etwa 40 Jahre 277 278

Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 46 f.; Wamecke, et 1993, 99; 'Umwelt' 91, S. 512 f. Luckow, Brennstoftkreisläufe, S. 46.

279 BMU, 'Umwelt 90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 134; Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 1111632, S. 17. 280 SZ v. 14. 12. 1992, S. 3. 281 BMU, 'Umwelt 90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 117, 123, 132; Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 1111632, S. 4, 8, 16; Bender/SpaTWaSser, Umweltrecht, Rn. 439; Luckow, Brennstoftkreisläufe, S. 48 f.; Offermann-Clas, NVwZ 1989, II 17 f.; Pionrek, ZUR 1993, 65 ff.; Wamecke, et 1993, 97 f.

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ausreichen soll. Die Lagerung soll in einer Tiefe zwischen 850 und 1.300 Metern erfolgen. Die Kosten bis zur Fertigstellung werden auf über 1,4 Milliarden DM geschätzt. 282 Am 31. 8. 1982 hat die Pysikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB), deren Rechtsnachfolgerin das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) ist, die Erteilung eines Planfeststellungsbeschlusses nach § 9b AtomG beantragt. Ursprünglich wurde angenommen, daß das Endlager in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre in Betrieb genommen werden könnte. 283 Diese Schätzungen erwiesen sich allerdings als zu optimistisch. 284 In den Koalitionsvereinbarungen von SPD und Grünen, die seit der Landtagswahl vom 13. 5. 1990 die niedersächsische Landesregierung stellen, wurde vereinbart, daß "die Koalitionsparteien alle Möglichkeiten ausschöpfen werden, das Planfeststellungsverfahren für Schacht Konrad nicht weiter zu verfolgen. "285 In der Tat wurde die Fortführung des Planfeststellungsverfahrens seither mehrfach verzögert. Nachdem das Land Niedersachsen im April 1991 in einem Bund-Länder-Streit vor dem Bundesverfassungsgericht nach entsprechender Weisung des Bundesumweltministeriums gem. Art. 85 Abs. 3 GG verpflichtet wurde, das Verfahren öffentlich bekanntzumachen und die Planunterlagen auszulegen286 , gingen beim niedersächsischen Umweltministerium innerhalb der Auslegungsfrist mehr als 289.000 Einwendungen gegen das Vorhaben ein. 287 Wegen neuerlicher Verzögerungen wies das Bundesumweltministerium das niedersächsische Umweltministerium im Frühjahr 1992 an, mit der Erörterung der Einwendungen spätestens am 28. 9. 1992 zu beginnen. 288 Mit der Erörterung wurde am 25. 9. 1992 begonnen. Zum Abschluß der Erörterungen am 3. 3. 1993 erklärte das niedersächsische Umweltministerium, das Endlager werde vorerst nicht genehmigt. Es müßten noch weitere Gutachten abgewartet werden, die Anfang 1994 vorliegen sollen. Mit einer Entscheidung über die Genehmigung sei erst 1995 oder 1996 zu rechnen. 289 Daß die Inbetriebnahme des Endlagers angesichts dieses Verfahrensstandes tatsächlich Mitte der neunziger Jahre erfolgen kann290 , erscheint damit ausgeschlossen. SZ v. 10.4. 1991, S. 2. Luckow, Brennstoftkreisläufe, S. 48 f. 284 So auch Hohle/eider, 8. Dt.AtRS, S. 206. 285 Zit. nach Rösel, in: Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. A 48. Vgl. auch 'Umwelt' 1992, S. 406 f. 286 BVerfGE 84, 25 ff. 282 283

287 . 288 289

Pionrek, ZUR 1993, 66 . Pionlek, ZUR 1993, 68. SZ V. 4. 3.1993, S. 6.

290 So noch BMU, 'Umwelt 90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 132; 'Umwelt' 91, S. 514; Bundesregierung, Energiepolitik für das vereinte Deutschland, BT-Drs. 12/1799, S. 34; vgl. auch BVerfGE 84, 25 [26).

§ 2 Risiken der Kemenergienutzung

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cc) Das Endlager für radioaktive Abfalle Morsleben (ERAM) Im ehemaligen Salzbergwerk Bartensleben bei Morsleben nahe der früheren deutsch-deutschen Grenze Getzt Sachsen-Anhalt) wurden von 1912 bis 1918 vornehmlich Kalisalze und bis 1969 Steinsalz gewonnen. Die Übernahme der Grube Bartensleben als Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfalle mit überwiegend kurzen Halbwertzeiten erfolgte 1970; die Genehmigung zum Dauerbetrieb für die Endlagerung wurde 1981 erteilt. 291 Bis Ende 1990 wurden ca. 14.000 m3 radioaktive Abfalle eingelagert. Nach Angaben der Betreiber stehen in den Morslebener Salzstöcken 40.000 m 3 Hohlraum und langfristig weitere 100.000 m 3 zur Verfügung. 292

Nach § 57a Abs. 1 Nr. 1 S. 1 AtomG gilt die zuletzt erteilte Dauerbetriebsgenehmigung vom 22. 4. 1986 bis zum 30. 6. 2000 als Planfeststellungsbeschluß fort; und zwar für die Erfassung und Endlagerung schwach- bis mittelradioaktiver Abfalle aus den alten und den neuen Bundesländern. 293 Nachdem das Bezirksgericht Magdeburg zunächst in einer vorläufigen Entscheidung vom 20. 2. 1991294 und dann im Hauptsacheverfahren am 27. 11. 1991295 die Einstellung der weiteren Erfassung und Endlagerung anordnete, weil die Dauerbetriebsgenehmigung zwar fortgelte, aber eine Übertragung auf das Bundesamt für Strahlenschutz weder kraft Gesetzes noch durch Rechtsgeschäft erfolgt sei, hob das Bundesverwaltungsgericht auf die Revision des Bundesumweltministeriums hin am 25. 6. 1992 diese Entscheidungen mit der Begründung auf, der Übergang der atomrechtIichen Genehmigung auf den neuen Betreiber habe im Einigungsvertrag bzw. in § 57a AtomG nicht ausdrücklich geregelt werden müssen. 296 Das Endlager Morsleben soll demnächst wieder in Betrieb genommen werden. Um es auch nach dem 30. 6. 2000 nutzen zu können, soll das Bundesamt für Strahlenschutz auf Initiative des Bundesumweltministeriums die Durchführung eines Planfeststellungsverfahrens beantragen. Allerdings soll Morsleben 291 Rösel, in: Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. ASO; Wamecke, et 1993, 98. Zu den einzelnen Genehmigungsschritten vgl. auch Rengeling, DVBI. 1992, 223. 292 SZ v. 26. 6. 1992, S. 6. 293 Landtag und Landesregierung von Sachsen-Anhalt vertreten allerdings die Auffassung, daß fiir das Endlager eine Beschränkung fiir radioaktive Abfälle aus dem Einzugsgebiet der früheren DDR gelte (vgl. Blümel, Atomrecht, S. 7 und 50). Das Bundesumweltministerium hat trotz gegenteiliger Auffassung veranlaßt, daß sich der Einlagerungsbetrieb zunächst vorrangig auf die in den neuen Bundesländern anfallenden radioaktiven Abfälle erstreckt ('Umwelt' 1992, S. 409). Inzwischen hat das OVG Magdeburg im vorläufigen Rechtsschutz die uneingeschränkte Berechtigung zur Einlagerung radioaktiver Abfälle, die aus Westdeutschland stammen, bestätigt (vgl. SZ v. 18.119. 12. 1993, S. 5). 294 DÖV 1991, 465 ff. 295 296

SZv.29. 11. 1991, S. 6; Wamecke, et 1993, 98. BVerwG, DVBI. 1992, 1236 ff.

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Teil 1: Rechtstatsachen

das geplante Endlager Konrad nicht ersetzen. 297 Vielmehr ist Morsleben nur für solche Radionuklide vorgesehen, bei denen davon auszugehen ist, daß deren Aktivität nach 10.000 Jahren etwa soweit abgeklungen ist, daß keine gefahrlichen Freisetzungen mehr zu befürchten sind. Das trifft nur auf solche radioaktiven Abfalle zu, die in anderen Staaten oberflächennah vergraben werden. 298 Somit kann Morsleben zwar für die Entsorgung von Kernkraftwerksbetriebsabfallen eine Entlastung bringen, nicht jedoch für die aus dem Ausland zurückzunehmenden Wiederaufarbeitungsabfalle und für die Abfalle aus der Brennelementeherstellung .299 e) Endlager für hochradioaktive Abfälle Hochradioaktive Abfalle fallen vor allem bei der Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente in Form von flüssigen Spaltproduktkonzentraten an. 3OO Als mögliches Endlager für hochaktive, aber auch für schwach- und mittelaktive Abfalle wurde 1977 von der niedersächsischen Landesregierung der Salzstock Gorleben nach einer Vorauswahl unter mehr als 200 Salzstöcken für die weitere Erkundung vorgeschlagen. 301 Er ist insofern noch ein Überbleibsel des ursprünglich konzipierten "integrierten Entsorgungszentrums" . 302 In Gorleben könnten nach Modellplanungen etwa 2,5 Millionen m3 Abfalle aller Kategorien eingelagert werden. 303 Die übertägige Erkundung wurde 1983 abgeschlossen und bestätigte die Eignungshöffigkeit des Salzstockes als Endlager. 304 Mit der untertägigen Erkundung wurde im Mai 1984 begonnen, nachdem die Bundesregierung am 13. 7. 1983 der Aufnahme der Erkundungsarbeiten zugestimmt hat. Dabei werden vor allem der Innenaufbau des Salzstocks und potentielle Wasserwegsamkeiten untersucht. Hierzu werden derzeit 2 Schächte im Gefrierverfahren abgeteuft. Die weitere Erkundung erfolgt dann von einer Erkundungssohle in über 800 m Tiefe aus. 305 Ende 1989 wurde im 1. Schacht der Salzspiegel er-

297

298 299 300

SZ v. 19./20. 10. 1991, S. 6 u. v. 11.112.7.1992, S. 5; 'Umwelt' 1992, S. 408 f. 'Umwelt' 91, S. 513. Wamecke, et 93, 98; ders., Endlagerung, S. 115. S.o., § 2 C. I.

301 Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 1111632, S. 8, 15 f.; 'Umwelt' 91, S. 513; Luckow, Brennstoftkreisläufe, S. 47 f. 302 S.o., § 2 C. 11. 2. c). 303 Hohlejelder, 8. Dt.AtRS, S. 198. 304 BMU, 'Umwelt 90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 123 f.; Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 1111632, S. 16; 'Umwelt' 91, S. 513. 305 'Umwelt' 91, S. 513.

§ 2 Risiken der Kemenergienutzung

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reicht. Der 2. Schacht wird seit dem Frühjahr 1989 niedergebracht. 306 Nach Erreichen der Endteufe soll ab 1995 der geplante Endlagerbereich durch Strecken und Bohrungen eingehend untersucht werden. 307 Die Untersuchungen sollen Ende der neunziger Jahre abgeschlossen sein. Bei einem positiven Ergebnis soll das Endlager nach Durchführung des Planfeststellungsverfahrens etwa ab 2010 in Betrieb genommen werden. 308 Auch hier war ursprünglich eine wesentlich frühere Inbetriebnahme geplant. Die Bundesregierung ging noch 1988 von einer Einlagerung "etwa ab dem Jahre 2000" aus. 309 Am 12. Mai 1987 ereignete sich jedoch unter Tage ein Unfall, durch den die Erkundungsarbeiten um 20 Monate unterbrochen wurden. 3 \O Zuvor waren deutliche Stoßschiebungen mit Auswirkungen auf den Betonformsteinausbau festgestellt worden, die durch zusätzliche Stahlstützringe aufgefangen werden sollten. Beim Absturz eines dieser Stahlstützringe möglicherweise infolge hohen einseitigen Gebirgsdrucks, der zum Bruch einer Schweißnaht geführt hat - kam es zu dem folgenschweren Unglück. 311 Hierbei waren 1 Todesopfer und 5 Verletzte zu beklagen. Nach Auffassung der Bundesregierung sind die aufgetretenen Probleme allerdings bergbaulicher und geomechanischer Natur und stellen die Eignungshöffigkeit des Salzstockes Gorleben nicht grundsätzlich in Frage. 312 Die niedersächsische Landesregierung verabschiedete jedoch am 12. 6. 1990 folgende Koalitionsvereinbarung: 313 "Für beide Koalitionspartner haben die bisherigen Erkundungsergebnisse am Standort des geplanten Endlagers Gorleben dessen mangelnde Eignungshöjfigkeit hinreichend belegt. Sie lehnen daher ein Endlager für radioaktive Abfälle am Standort Gorleben ab. Im Rahmen des geltenden Rechts werden die Koalitionspartner alle Möglichkeiten ausschöpfen, um die Baumaßnahmen zu beenden. " Seither wurden die Teuf- und Bohrarbeiten in den Schächten 1 und 2 mehrfach auf Anordnung der niedersächsischen Behörden unterbrochen314 , u.a. wegen eines Austritts von Salzlauge in Schacht 1. 315 Der bis zum 31. 12. 1992 befristete Rahmen306 307

BMU, 'Umwelt 90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 133. 'Umwelt' 91, S. 513.

Bundesregierung, Energiepolitik für das vereinte Deutschland, BT-Drs. 12/1799, S. 34. Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 11/1632, S. 8. 3\0 Dazu ausführlich Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 1111632, Anhang, S. 34 - 40; vgl. auch Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 440. 311 Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 11/1632, Anhang, S. 38 f. 312 Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 11/1632, S. 16 u. 40. 313 Zit. nach Rösel in: Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. A 46. 314 Näher dazu Rösel in: Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. A 46 - A 48; vgl. auch Bremer Nachrichten v. 8. 3. 1991, S. 18. 315 SZ v. 4. 1. 1992, S. 5 u. v. 16. 1. 1992, S. 6. 308 309

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Teil 1: Rechtstatsachen

betriebsplan zur Erkundung des Endlagers wurde vom zuständigen Oberbergamt Clausthal-Zellerfeld nicht verlängert, weil die hierfür erforderliche Umweltverträglichkeitsprüfung noch nicht durchgeführt wurde. Vorerst wurde lediglich ein eingeschränkter Hauptbetriebsplan erteilt, der zur Sicherheit der Bergleute und zum Schutz der Sachwerte das Einsetzen von Fundamenten und einen standfesten Innenausbau in den beiden Schächten erlaubt. Ein weiteres Abteufen der Schächte ist danach nicht möglich. 316 Mit erheblichen Verzögerungen der Erkundungsarbeiten und des Planfeststellungsverfahrens muß somit gerechnet werden. In Gorleben soll außerdem eine Pilot-Konditionierungsanlage zur Konditionierung ausgedienter Brennelemente, Brennstäbe und Brennelementebauteile in eine für die direkte Endlagerung geeignete Form mit einer Kapazität von 35 t pro Jahr errichtet werden. 317 Dort soll vor allem das Behandeln und endlagergerechte Verpacken abgebrannter Brennelemente demonstriert werden. Dazu werden die Brennelemente in extrem belastbare sog. Pollux-Behälter eingeschweißt. Ein solcher Container wiegt, beladen mit 8 Brennelementen, ca. 65 t, hat eine Länge von 6 Metern und einen Durchmesser von 1,5 Metern. Anders als die Glasblöcke mit hochaktivem Atommüll werden die Pollux-Behälter nicht in Bohrlöchern endgelagert, sondern auf den horizontalen Bergwerksstrecken abgesetzt und dann mit Salzgrus verfüllt. 318 Der Genehmigungsantrag wurde von der Deutschen Gesellschaft für die Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen (DWK) im Jahre 1986 gestellt; die erste Teilerrichtungsgenehmigung wurde am 31. 1. 1990 erteilt. Die Betriebsgenehmigung wird für 1994 erwartet. 319 Neben der Erkundung des Standorts Gorleben als potentiellem Endlager für hochradioaktive Abfälle beteiligt sich die Bundesrepublik seit 1983 an der Untersuchung von Granit als für die Endlagerung geeignete Gesteinsformation im schweizerischen Forschungslabor Grimsel. 320 Nach den bisherigen Untersuchungsergebnissen ist auch Granit grundsätzlich zur sicheren Endlagerung hochradioaktiver Abfälle geeignet. Eine Standortsuche für entsprechende Endlagerstätten in der Bundesrepublik ist jedoch nicht beabsichtigt. Vielmehr hat

SZ v. 31. 12. 1992, S. 6; Rösel in: Jahrbuch der Atomwirtschaft 1993, S. 88. Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 1111632, S. 5,11; BMU, 90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 116 f., 131. Zum Entwicklungsstand der Endlagerung vgl. auch Closs, et 1993, 328 ff.; Wagner, DVBI. 1991, 1514 f. 318 Jung-Hünl, SZ v. 18. 4. 1991, S. I. 319 Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 1111632, S. 5, 11; BMU, 90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 131; Hohle/eider, 8. Dt.AtRS, S. 205. 320 BMFT-Joumal, Okt. 1991, S. 5; Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, 1lI1632, S. 17. 316 317

'Umwelt direkten

'Umwelt BT-Drs.

§ 2 Risiken der Kemenergienutzung

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die Bundesregierung in ihrem Entsorgungsbericht 1988321 erklärt: "Die Untersuchung von alternativen Standorten zu Gorleben ist weder nach den bisherigen geologischen Befunden geboten noch entsorgungspolitisch notwendig . ... Sollte sich der Salzstock Gorleben als ungeeignet erweisen, könnte ein Endlnger für die verbleibenden Abfälle ... etwa zehn Jahre später zur Verfügung stehen. Diese wärmeentwickelnden Abfälle mit einem reIntiv kleinen Volumen (ca. 7.000 trf bis zum Jahre 2000) lnssen sich für diese Zeit ohne Gefahren für Mensch und Umwelt und ohne Nachteile für die spätere Endlngerung sicher zwischenlngem. " f) Plutonium-Entsorgung

Bei der Wiederaufarbeitung bestrahlter Brennelemente entsteht Plutonium, das gern. § 9a AtomG entweder schadlos zu verwerten oder als radioaktiver Abfall geordnet zu beseitigen ist. Die aus Frankreich und Großbritannien zurückkommende Plutoniummenge nimmt in den nächsten Jahren rapide zu. Die jährlich zurückzunehmende Menge steigt von 500 kg Plutonium im Jahre 1992 über 2,5 t im Jahre 1995 auf über 5 t im Jahre 1998. Allein nach den Altverträgen, die vor dem Verzicht auf die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf mit COGEMA und BNFL geschlossen wurden, müssen die deutschen Energieversorgungsunternehmen danach bis zum Jahre 2000 insgesamt ca. 25 t Plutonium zurücknehmen. 322 Die Entsorgung dieses Plutoniums im Wege der Endlagerung bzw. der Verwendung als Brennmaterial in Schnellen Brutreaktoren kommt derzeit nicht in Betracht. Ein Endlager für hochradioaktive Abfälle wird frühestens im Jahre 2010 zur Verfügung stehen und der SNR Kalkar wurde 1991 aufgegeben. Der einzig denkbare Entsorgungsweg ist somit zur Zeit die Verarbeitung des Plutoniums in MOX-Brennelementen, die in Leichtwasserreaktoren zum Einsatz kommen. 10 Leichtwasserreaktoren in der Bundesrepublik haben bereits eine Genehmigung zum Einsatz der MOX-Brennelemente, für 8 weitere Anlagen laufen die Genehmigungsverfahren. 323 Der Schlüssel zum Plutonium-Entsorgungsnachweis ist also die MOXBrennelementeproduktion. 324 Die einzige Produktionsanlage in Deutschland ist das Siemens-Brennelementewerk in Hanau. Allerdings ist die alte Produktionsanlage zur Zeit wegen mehrerer Zwischenfälle stillgelegt und die neue 321 BT-Drs. 11/1632, S. 8; dazu auch Hohle/eider, 8. Dt. AtRS , S. 206; Offermann-Clas, NVwZ 1989,1118.

323

DibbenlPassig, Entsorgung, S. 42. S.o., § 2 A. m. 3. und B. I. 3.

324

Ebenso Matting, Entsorgungsvorsorge, S. 28.

322

8 BorgDllDll

Teil 1: Rechtstatsachen

114

Anlage, die im ersten Halbjahr 1993 in Betrieb gehen und bis 1995 ihre volle Kapazität erreichen sollte, angesichts der Aktenmanipulationen in den Jahren 1990/91325 von den hessischen Behörden nach wie vor noch nicht abschließend genehmigt worden. Durch diese Verzögerung ist also im Hinblick auf die demnächst zu erwartenden Plutoniumrückführungen aus dem Ausland der Plutonium-Entsorgungsnachweis grundsätzlich in Frage gestellt, da auch die Kapazität der MOX-Fertigungsanlagen im belgischen Dessei und weiterer MOX-Produktionsstätten im Ausland nahezu ausgeschöpft sind. IIl. Würdigung

Bei der Entsorgung radioaktiver Abfälle muß verhindert werden, daß diese in einer für die Umwelt schädlichen Konzentration in die Biosphäre gelangen. Wegen der teilweise sehr langen Halbwertszeiten der Radionuklide bedeutet dies, daß diese für einen Zeitraum von der Umwelt femgehalten werden müssen, der das Alter der Menschheit übersteigt. "Zukünftigen Generationen dürfen durch die von uns gewählte Beseitigung der Abfälle nicht Bürden aufgelastet werden. die wir zu tragen deneit nicht bereit wären. "326 Der Eisenengrube Konrad wird teilweise eine gute Abdichtung gegen oberflächennahe Grundwässer durch ein überwiegend tonhaltiges Deckengebirge bescheinigt. 327 Bei einer Erosionsrate von 0,1 mm/a wäre der Höhenzug erst nach ca. 1.000.000 Jahren nicht mehr vorhanden. Nach einigen hunderttausend Jahren sei aber die Radiotoxizität der Endlagerformationen mit der natürlichen Radiotoxizität der Endlagerformation vergleichbar. 328 Von den betroffenen Gemeinden beauftragte Geologen halten hingegen die bisher vom Bundesamt für Strahlenschutz vorgelegten Planunterlagen nicht für ausreichend, um die Eignung der Schachtanlage Konrad für die Endlagerung abschließend beurteilen zu können. Insbesondere der Verlauf der Grundwasserströme und deren mögliche Austrittswege seien nicht hinreichend untersucht worden. 329 Ende 1988 beauftragte der Bundesumweltminister die Gesellschaft für Reaktorsicherheit mit der Durchführung einer 'Sicherheitsanalyse des Transports radioaktiver Abfälle zum Endlager Konrad (Transportstudie Kon325

S.o., § 2 A. ill. 5.

So zu Recht der ParI. Staatssekretär beim Bundesumweltministerium Bernd Schmidbauer in einer Rede auf dem 7. Felsmechanik-Kongreß am 16. 9. 1991 in Aachen, vgl. 'Umwelt' 91, S. 511. 327 Röthemeyer, 8. Dt.AtRS, S. 219. 328 Röthemeyer, 8. Dt.AtRS, S. 220 f. Zu den vorläufigen Endlagerungsbedingungen für die Schachtanlage Konrad vgl. BrenneekelBerg, et 90, 878 ff. 329 Vgl. den Bericht von Rasper in SZ v. 19. 11. 1992, Beilage 'Umwelt, Wissenschaft, Technik', S. I. 326

§ 2 Risiken der Kemenergienutzung

115

rad)'. Nach dem Ergebnis dieser Studie gehen in der Standortregion des geplanten Endlagers von den dort zusammenlaufenden Abfalltransporten "keine ins Gewicht fallenden zusätzlichen Risiken" aus, und zwar weder durch den bestimmungsgemäßen Transport noch durch eventuelle Transportunfälle. 33O Vom Bundesumweltministerium in Auftrag gegebene Sicherheitsanalysen des Endlagers Morsleben durch die Gesellschaft für Reaktorsicherheit, die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe und durch die Reaktorsicherheitskommission haben im Frühjahr 1991 übereinstimmend eine Gefährdung für das Betriebspersonal und für die Bevölkerung durch die bereits erfolgte und durch die bis zum Jahr 2000 beabsichtigte Einlagerung ausgeschlossen. 331 Allerdings wurden eine Reihe von Empfehlungen zur Minderung des Risikos und zur Gewährleistung der langfristigen Sicherheit gegeben, die Z.B. den Brandschutz unter Tage, die Einlagerungstechnik und das Konzept zur Beherrschung der Laugenzuflüsse und zur Sicherung der gebirgsmechanischen Stabilität der Einlagerungshohlräume betreffen. In einer Expertise des Darmstädter Öko-Instituts wurden hingegen erhebliche sicherheitstechnische Mängel und Zweifel an der Stabilität des Salzstockes geltend gemacht. 332 Schwerwiegende Bedenken hinsichtlich der Langzeitsicherheit äußerte auch Greenpeace. Es gebe zahlreiche Wasserzuflüsse, die die Standsicherheit des Endlagers beeinträchtigen. Hierdurch bestehe die Gefahr, daß die Grube einstürze oder durch zufließende Wassermassen unterspült werde. 333 Außerdem wurde in einem Gutachten des Instituts für Salzlagerstätten der TU Clausthal nachgewiesen, daß zumindest an einer Stelle des Endlagers eine Verbindung zum Grundwasser besteht. 334 Für den vollständigen und langfristigen Einschluß der hochaktiven Abfälle wird Salz von vielen Fachleuten als besonders geeignete Gesteinsformation angesehen335 , auch wenn die Eignung von Salzformationen als Endlagerstätte nicht unumstritten ist. 336 Salzformationen zeichnen sich jedenfalls durch eine hohe geologische Stabilität aus und stehen nicht mit dem Grundwasser in Verbindung. Außerdem besitzt Steinsalz eine große Plastizität und eine gute Wärmeleitfähigkeit. Dadurch bleibt ein Salzstock himeichend dicht gegenüber eindringenden Flüssigkeiten bzw. entweichenden eingelagerten Abfällen und die beim Zerfall der Spaltprodukte entstehende Wärme wird besser abgeführt 330

331 332 333

334 335

Vgl. 'Umwelt' 91, S. 361 f.; 'Umwelt' 92, S. 127 ff. 'Umwelt' 91, S. 362 f.; 'Umwelt' 92, S. 36 f. u. 408 f.; SZ, 9. 3. 91, S. 5. SZ v. 14. I!. 1990, S. 3. SZ V. 9. 2. 1993, S. 5. Schneider, SZ v. 25. 2. 1993, S. 44. 'Umwelt' 91, S. 512.

336 Zu den Gegenstimmen vgl. bei Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 45; Offermann-Clas, NVwZ 1989,1120.

116

Teil 1: Rechtstatsachen

als in anderen Gesteinen. 337 Nach bisherigen Erkenntnissen ist die Ablaugungsrate des Salzstocks Gorleben gering und das Isolationspotential nicht gefährdet. 338 Eine endgültige Beurteilung möglicher Mineralreaktionen und Stofftransporte durch Einwirkung von Lösungen in den tieferen Teilen des Salzstocks und damit der Eignung als Endlager kann jedoch erst nach Abschluß der Untertageerkundung getroffen werden. 339 Zweifelhaft scheint allerdings, ob es überhaupt verantwortet werden kann, kerntechnische Anlagen in Betrieb zu nehmen und damit zwangsläufig eine erhebliche Menge radioaktiven Abfalls zu erzeugen, bevor nicht die Möglichkeit der schadlosen Entsorgung geschaffen wurde. 34O Hier ist insbesondere zu fragen, ob es angesichts des langen Erkundungszeitraums vertretbar ist, für hochradioaktive Abfälle nur einen Standort zu untersuchen. Der bis zur Entscheidungsreife entstandene radioaktive Abfall erzeugt ohne Zweifel einen massiven Entscheidungsdruck. Sollte sich am Ende die fehlende Eignung des Salzstocks zur Endlagerung herausstellen, so ist der von der Bundesregierung avisierte Zeitraum von 10 Jahren341 für die Bereitstellung eines Alternativstandortes wohl zu optimistisch. Der in jüngster Zeit von den Energieversorgungsunternehmen im Zusammenhang mit den Konsensbemühungen ins Gespräch gebrachte Verzicht auf Gorleben als Endlagerstätte zugunsten eines Standorts in der GUS342 kann angesichts des dortigen sorglosen Umgangs mit radioaktiven Abfällen343 keine vertretbare Alternative zur Entsorgung im Inland darstellen. Zu bedenken ist schließlich auch, daß die Zuverlässigkeit von Prognosen zu den zukünftig herrschenden Umweltbedingungen stark abnimmt, wenn ein Zeitraum von mehr als 10.000 Jahren überschritten wird. 344 Deshalb wäre zu erwägen, ob bei der Endlagerung nicht die Zugänglichkeit und damit die Rückholbarkeit der Abfälle gewährleistet sein sollte, um erforderlichenfalls 337

Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 43.

338

Rörhemeyer, 8. Dt.AtRS, S. 222.

339 Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs.

1111632, S. 40; BMU, 'Umwelt 90 - Strahlenschutz, Reaktorsicherheit', S. 124; Rörhemeyer, 8. Dt.AtRS, S. 223. 340 Kritisch auch Ojfermonn-C/as, NVwZ 1989, 1119 und bereits Roßnagel, Grundrechte, S 102. 341 Bundesregierung, Entsorgungsbericht 1988, BT-Drs. 11/1632, S. 8 (siehe bereits oben, § 2 C. 11. 2. e». 342 Vgl. SZ v. 5./6. 12. 1992, S. 1.

343 Die Sowjetunion hat von 1959 bis 1991 insgesamt 191.000 m3 flüssige radioaktive Abfälle in der Barents-See sowie 32.000 m3 feste radioaktive Abfälle und mindestens 7 Atomreaktoren in der Kara-See versenkt (vgl. SZ v. 2. 2. 1993, S. 7). Einer Ankündigung der russischen Regierung zufolge soll die Verklappung von Atommüll auf See so lange fortgesetzt werden, bis genügend Lagerkapazitäten an Land bereitstehen (SZ v. 1. 4. 1993, S. 12). 344 'Umwelt' 91, S. 514; Pionrek, ZUR 1993, 67.

§ 2 Risiken der Kemenergienutzung

117

frühere Fehlentscheidungen revidieren zu können. Fraglich ist in diesem Zusammenhang, wie die Weitergabe des Wissens über die Standorte von Endlagern für radioaktive Abfälle und über die Einlagerungsbedingungen an zukünftige Generationen sichergestellt werden kann. Zu welchen Informationsverlusten politische Umwälzungen oder gar der Zusammenbruch eines Staatsgefüges führen kann, zeigen beispielsweise die heutigen Erkenntnislücken über Munitionslager im Zweiten Weltkrieg, über die Verminung der früheren innerdeutschen Grenze und über die auf den Mülldeponien der früheren DDR gelagerten Abfälle. Auch bei atomaren Endlagern besteht angesichts der Langlebigkeit einiger Spaltprodukte in besonderer Weise die Gefahr, daß die Nachwelt mit atomaren Abfalldeponien leben muß, deren Lage sie nicht kennt, von deren Gefahrlichkeit sie nichts weiß und deren technischen Kontext sie nicht beherrscht. Schäden durch ungewollte Freilegung des Endlagers etwa beim Aufsuchen von Rohstoffen sind daher nicht auszuschließen. Das Entsorgungskonzept der Bundesregierung gibt sich für die Inbetriebnahme von Kernkraftwerken mit weniger als der vorauseilenden oder zumindest zeitgleichen Realisierung der Entsorgungsschritte zufrieden. Das Entstehen eines Entsorgungsnotstands wird dadurch zumindest in Kauf genommen. Angesichts der bereits jetzt eingetretenen erheblichen Verzögerungen muß jedoch bezweifelt werden, ob wirklich "die Realisierbarkeit der vorgesehenen Entsorgungseinrichtungen nach praktischer Vernunft angenommen ... und die Entsorgungseinrichtungen im einzelnen bedarfsgerecht geplant und zeitgerecht verwirklicht" werden können. 345

345 So ausdlÜcklich Hohle/eider, Leiter der Abteilung Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium, 8. Dt.AtRS, S. 190.

§ 3 Die Folgen eines Verzichts auf die Kemenergienutzung

Bei der Entscheidung über den Ausstieg aus der Kernenergienutzung müssen auch die Folgen berücksichtigt werden, die ein Kernenergieverzicht für die Energieversorgung, für die Umwelt und für die wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik hätte. A. Folgen des Verzichts für die Energieversorgung

Die Kernenergie ist in der Bundesrepublik an der Stromerzeugung zu etwa einem Drittel beteiligt; in einigen Regionen liegt dieser Anteil sogar noch wesentlich höher. l Es stellt sich daher die Frage, ob und unter welchen Umständen auf die Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung verzichtet werden kann, ohne daß dadurch die Energieversorgung gefährdet wird. Dabei sind die Jahreshöchstlasten des Versorgungsnetzes zugrundezulegen, da Elektrizität nicht bzw. nur begrenzt gespeichert und deshalb nicht in Zeiten geringen Energiebedarfs "auf Vorrat" produziert werden kann, sondern im Moment ihres Verbrauchs erzeugt werden muß. Zur Befriedigung des Spitzenbedarfs werden Mittellastkraftwerke (insbes. Steinkohlekraftwerke) eingesetzt, die mit ihrer Erzeugung den Verbrauchsschwankungen folgen. Sie sind kurzfristig verfügbar und erlauben daher schnelle Leistungsanpassungen. Demgegenüber wird der Grundbedarf durch Grundlastkraftwerke (insbes. Wasser-, Braunkohle- und Kernkraftwerke) gedeckt, die aus technischen Gründen weniger flexibel sind und daher wesentlich gleichmäßiger arbeiten. Das erklärt, weshalb allein aus Gründen der Versorgungssicherheit zwar u.U. auf Wasser-, Braunkohle- und Kernkraftwerke verzichtet werden kann, wenn dies durch einen entsprechenden Zubau von Steinkohlekraftwerken ausgeglichen wird, umgekehrt aber ein Mindestbestand an Steinkohlekraftwerken unverzichtbar ist, sofern nicht ständig Elektrizität auf dem Niveau des Spitzenbedarfs erzeugt werden soll. Im folgenden wird zwischen dem sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie auf der einen Seite und dem mittel- bis langfristigen Ausstieg auf der anderen Seite unterschieden. Denn nur im ersten Fall besteht keine Zeit, die aus-

S.o., § 1 B.; vgl. dazu ferner SRU 1987, Tz. 1842; Sante, Ausstieg, S. 18 f.

§ 3 Folgen eines Kernenergieverzichts

119

fallende Stromerzeugungskapazität der Kernkraftwerke durch den Zubau anderer Kraftwerke oder sonstige Maßnahmen zu ersetzen. I. Sofortiger Ausstieg aus der Kernenergie

Für den Fall des sofortigen Ausstiegs aus der Kernenergie soll untersucht werden, ob am Tag der Jahreshöchstlast im Netz der öffentlichen Versorgung noch genügend Reservekapazitäten bestehen und damit die Energieversorgung als gesichert bezeichnet werden kann, wenn man von der an diesem Tag verfügbaren Leistung den Anteil der Kernenergie und den Energiebedarf zur Zeit der Höchstbelastung abzieht. Liegt das Ergebnis im negativen Bereich, so ist die Energieversorgung keinesfalls mehr gewährleistet. Aber auch bei einem positiven Wert ist eine sichere Energieversorgung nicht unbedingt gegeben, denn für plötzliche Ausfalle von Kraftwerkskapazitäten, Störungen im Übertragungs- und Verteilungsnetz oder auch für unerwartet hohe Nachfragen wird das Bereitstehen einer Reserveleistung für erforderlich gehalten. Die Ansichten über deren Höhe gehen allerdings weit auseinander. 2 Zur Zeit liegt die Reservekapazität bei etwa 25 %. 3 Als Berechnungsbeispiel sei hier der 20. Dezember 1989 als Tag der statistisch relevanten Jahreshöchstlast des Jahres 1989 zugrundegelegt. 4 Die verfügbare LeistungS aller Kraftwerke der öffentlichen Versorgung einschließlich der Industrieübergabeleistung von 4.140 MW und des Auslandssaldos von + 4.000 MW belief sich an diesem Tag auf insgesamt 79.344 MW.6 Die Kernenergie hatte hieran einen Anteil von 18.250 MW. Zur Zeit der Höchstbelastung des Versorgungsnetzes wurden unter voller Auslastung der Kernkraftwerke insgesamt 58.564 MW zur Stromerzeugung eingesetzt. Beim Verzicht auf die Kernenergie hätte die Reserveleistung daher 2.530 MW1 betra-

2

Vgl. Sante, Ausstieg, S. 15. SRU 1987, Tz. 1983. 4 Zwar sind bei diesem Beispiel die Leistungskapazitäten und der Strombedarf im Gebiet der froheren DDR noch nicht berocksichtigt. Jedoch können die Zahlen nach wie vor als Grundlage filr die Berechnung der Versorgungssicherheit in den 'alten' Bundesländern dienen, da die 'neuen' Bundesländer noch dem osteuropäischen Verbundnetz angehören und die Stromversorgung in den beiden Teilen Deutschlands vorerst noch über getrennte Netzstrukturen erfolgt. Eine Verbindung beider Netze ist vor allem wegen ihrer unterschiedlichen Frequenztoleranzen problematisch und wird voraussichtlich erst Ende 1993 verwirklicht werden (vgl. SZ v. 21. 10. 1992, S. 22). Zu deren Berechnung s.o., § 1 B. Zu diesen und den folgenden Zahlen vgl. Müller/Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. B 25. 79.344 MW - 18.250 MW - 58.564 MW.

120

Teil 1: Rechtstatsachen

gen, wohingegen bei einem Einsatz der Kernenergie eine Reserveleistung von 20.780 MW8 zur Verfügung stand. Bei einer so geringen Reserveleistung im Falle des Verzichts auf die Nutzung der Kernenergie kann jedoch die Stromversorgung nicht mehr als gesichert bezeichnet werden. 9 Denn selbst wenn der Energiebedarf im Jahresmittel deutlich niedriger liegt und sich die Nachfrage auch zu den Höchstlastzeiten durch rationelle Energieverwendung reduzieren ließe, so ist doch auf der anderen Seite zu berücksichtigen, daß die Kraftwerkskapazitäten regional stark unterschiedlich strukturiert sind und in einigen Gebieten der Bundesrepublik eine weit überdurchschnittliche Abhängigkeit von der Kernenergie besteht, die durch einen Leistungsaustausch über das Verbundnetz in größerem Umfang zumindest nicht längerfristig ausgeglichen werden kann. 10 Daher wäre die Elektrizitätsversorgung in der Bundesrepublik Deutschland bei einem sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie zumindest zu Zeiten erhöhter Stromnachfrage nicht mehr uneingeschränkt gewährleistet. 11 Zu bedenken ist allerdings, daß sich die Höhe der bereitzuhaltenden Reserveleistung bei einem Verzicht auf die Kernenergie erheblich reduzieren ließe. Denn für den Ausfall eines 1.300 MW -Kraftwerkblocks muß notgedrungen eine wesentlich höhere Reserveleistung bereitgehalten werden als für den Ausfall kleinerer Einheiten. 12

11. Mittel- oder langfristiger Ausstieg aus der Kernenergie Anders sieht das Ergebnis bei einem mittel- oder langfristigen l3 Verzicht auf die Nutzung der Kernenergie aus. Selbst nach Ansicht von Atomenergiebefürwortern wäre die Energieversorgung in einem solchen Falle nicht gefährdet, da für Anpassungsmaßnahmen wie z.B. dem Zubau anderer Kraftwerke, der Umstrukturierung des Versorgungsnetzes und verstärkte Bemühungen um Energieeinsparungen genügend Zeit bliebe, um den Ausfall der 79.344 MW - 58.564 MW. Zum gleichen Ergebnis kommt Sanle, Ausstieg, S. 11 - 23, rur die Höchstlasten in den Wintern 1986/87 und 1987/88. Im Winter 1991/92 lag die Netzhöchstlast in den 'alten' Bundesländern bei 62.300 MW (Kapazitätsauslastung 90 %) und in den 'neuen' Bundesländern bei 9.660 MW (Kapazitätsauslastung 89 %) und damit noch über den hier zugrundegelegten Werten, vgl. SZ v. 21. 10. 1992, S. 22. 10 Vgl. Bundesregierung, Energiebericht, BT-Drs. 10/6073, S. 6; EirzlReckerlUjJmann, et 1986, 828; Sanre, Ausstieg, S. 18 - 20 m.w.N. 11 Ebenso Bundesregierung, Energiebericht, BT-Drs. 10/6073, S. 6; EirzlReckerlUjJmJ:mn, et 1986, 828 f.; Sanre, Ausstieg, S. 22 f. 12 SRU 1987, Tz. 1983. 13

Zum Begriffsverständnis s.o. in der Einleitung.

§ 3 Folgen eines Kemenergieverzichts

121

Kernkraftwerkskapazitäten zu kompensieren. 14 Ohnehin zeichnet sich seit 1992 nicht nur in den neuen, sondern auch in den alten Bundesländern ein tendenzieller Rückgang des Stromverbrauchs ab. 1s Fünf deutsche Energieversorgungsunternehmen verhandeln zur Zeit unter Führung der Hamburger Electricitätswerke-AG mit Norwegen über den Import von Strom aus Wasserkraft. Norwegen verfügt insoweit mit zahlreichen Talsperren über erhebliche Überkapazitäten. Sollte hier eine Einigung für mindestens 10 Jahre zustandekommen, wäre nach Ansicht der HEW-AG "in begrenztem Umfang ... ein Ersatz unserer Kernenergie durch Strom aus Norwegen möglich." Die Kosten für die zunächst geplante 600 km lange Gleichstromübertragungsleitung werden mit 1 Mrd. DM angegeben und liegen damit erheblich niedriger als die Kosten für den Bau eines Kohle- oder Kernkraftwerks mit vergleichbarer Kapazität. 16 Eine möglicherweise bislang unterschätzte Option für die künftige Energieversorgung stellt die Nutzung der Sonnenenergie dar. Allein die jährlich auf die Landfläche der Erde einfallende Sonneneinstrahlung beträgt etwa das dreitausendfache des derzeitigen weltweiten Primärenergieverbrauchs. Würde man nur einen geringen Teil der Landfläche für eine Energieumwandlung durch Solarstrahlung mit einem Gesamtwirkungsgrad von 5 % (einschließlich aller Umwandlungs-, Verteilungs- und Speicherverluste) und zusätzlich einen Teil des technisch nutzbaren Potentials der Wasser- und Windkraft nutzen, so könnte dadurch das zwei- bis dreifache des heutigen globalen Primärenergiebedarfs gedeckt werden. 17 Selbst in Deutschland liefert die Sonnenenergie jährlich ca. 1.000 KWIh pro m2 Bodenfläche. Rein rechnerisch würde daher

14 EilzlReckerlUjJmann, et 1986, 828; Same, Ausstieg, S. 9 m.w.N.; zurückhaltender die Bundesregierung in ihrem Energiebericht, BT-Drs. 10/6073, S. 6. Ein erhebliches Energieeinsparungspotential konstatieren WielschellHaasis/JankelRenIZ, et 1993, 460 ff. Nach ihrer Auffassung ist die rationelle Energieverwendung "eine der wesentlichen, wenn nicht die wesentliche Option zur Senkung der CÜz-Emissionen fiir die kommenden Jahre. n Nach einem von der niedersächsischen Landesregierung in Auftrag gegebenen gemeinsamen Gutachten der Prognos AG (Basel), des Pestel-Instituts (Hannover) und des Öko-Instituts (Freiburg) kann auf die vier in Niedersachsen betriebenen Kernkraftwerke bis zum Jahre 2005 velZichtet werden, ohne daß dadurch die Versorgungssicherheit gefährdet wäre. Der Versorgungsausfall soll ausgeglichen werden durch konventionelle Kraftwerke (insbes. Erdgas- und Steinkohleverstromung), durch den Ausbau regenerativer EnergieelZeugung und durch verstärkte Anstrengungen im Einsparungsbereich. Die jährlichen Mehrinvestitionen im Vergleich zur weiteren Kernenergienutzung betragen danach ca. 800 Mio. DM. Die CÜz-Emissionen lägen um 0,2 % niedriger als im Jahre 1987. Kritisch hierzu Michaelis, et 1993, 390 ff. IS SZ v. 2. 2.1993, S. 23. 16 SZv. 23.11. 1992, S. 23; Der Spiegel Nr. 48/1992, S. 16. 17 Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 11/8030, S.70.

122

Teil 1: Rechtstatsachen

ein sechzigstel der Gesamtfläche der Bundesrepublik genügen, um den Strombedarf durch Solarenergie zu decken. 18 Sonnenenergie läßt sich zur Stromgewinnung auf technologische und auf biologische Weise nutzen. Während auf dem ersten Weg (Einsatz von Sonnenkollektoren, Photozellen etc.) gegenwärtig nur ein Teil des Strombedarfs der Bundesrepublik gedeckt werden kann, könnte die biologische Nutzung der Sonnenenergie möglicherweise schon in naher Zukunft die Energienachfrage auf umweltverträgliche Weise befriedigen. Der Ingenieur und Botaniker Wolfgang Ständer vom Polytechnischen Institut München hat festgestellt, daß manche Pflanzenarten unter günstigen Bedingungen drei- bis viermal mehr Biomasse liefern als herkömmliche Agrarpflanzen. 19 Hierzu zählen vor allem perennierende, wuchsstarke C 4-Pflanzen (insbes. Schilfgräser). Die Bezeichnung 'C 4-Pflanze' beruht auf dem Umstand, daß bei diesen Pflanzen das erste stabile chemische Produkt nach der Photosynthese ein Molekül ist, das vier Kohlenstoffatome enthält. 20 C 4-Schilfgräser setzen die Sonnenenergie optimal um und sind dabei relativ anspruchslos. Sie wachsen im Jahr bei geringem Wasser- und Nährstoftbedarf bis zu sechs Metern. Im Vergleich zu C 3-Pflanzen sind sie besonders reich an Biomasse und wachsen dabei zehnmal schneller als der Wald. Anders als C 3-Pflanzen nehmen C 4-Pflanzen auch nachts CO2 auf und können Wasser, Licht und Nährstoffe effektiver nutzen. Durch die Anordnung ihrer Blätter erhalten auch die unteren Bereiche der Schilfgräser genügend Sonnenlicht. Schilfgras muß nicht jedes Jahr neu angepflanzt werden, sondern wächst nach der Ernte im nächsten Jahr automatisch nach. 21 Die Biomasse der Schilfgräser ließe sich nach Ansicht Ständers zur Stromund Wärmeerzeugung in dezentralen Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen nutzen. 22 Dazu müßte das Pflanzenmaterial zunächst in Mark und Fasern zerkleinert (pulverisiert) und anschließend in einer Keramikbrennkammer bei 1.450 Grad unter Druck verbrannt werden. Dadurch ließe sich eine Turbine antreiben und somit Wärme und Elektrizität gewinnen. Erforderlich ist der Einsatz kleiner, ortsnaher Kraftwerke mit einer Leistung von 100 bis 200 KW und damit eine Dezentralisierung des Energiemarktes. Auf diese Weise ließe

18

Schmüll in: Energie und Umwelt, Beilage der SZ Nr. 260 v. 10. 11. 1992, S. 11.

Ständer, Energieprobleme, S. 39 Die meisten bei uns wachsenden Pflanzen sind C3-Pflanzen, deren erstes stabiles Produkt nach der Photosynthese drei Kohlenstoffatome besitzt. 21 HielZU und zum vorhergehenden näher Ständer, Energieprobleme, S. 30 u. 39. 19

20

22 Dazu Ständer, Energieprobleme, S. 40. Weitere Nutzungsmöglichkeiten sind die Herstellung von Chemikalien und Kunststoffen durch Umwandlung von Pflanzenstaub in Synthesegas, die Produktion mobiler Kraftstoffe für Fahrzeuge und schließlich die Herstellung von Industriestoffen, die als Bau- und Verpackungsmaterial verwendet werden kölUlen (i.e. vgl. Ständer, Energieprobleme, S. 41 f.).

§ 3 Folgen eines Kemenergieverzichts

123

sich der Wirkungsgrad der Kraftwerke auf 50 % erhöhen23 , während bei herkömmlichen Großkraftwerken ca. zwei Drittel der erzeugten Energie als ungenutzte Wärme verlorengehen, die die Umwelt zusätzlich belasten. C4-Pflanzen produzieren etwa das zwanzigfache der Energie, die eingesetzt werden muß, um die Anbaufläche zu bearbeiten. Mit langfristigen Stromerzeugungskosten von 6,3 Pfg. pro KW/h24 wäre die Nutzung von Biomasse zur Elektri.zitätsgewinnung sogar erheblich günstiger als heutige Stromerzeugungstechniken einschließlich der Kernenergie. 1 kg Schilfmaterial entspricht in seinem Energiegehalt etwa 0,4 kg Heizöl. Die Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft geht von einem durchschnittlichen Ertrag von 30 t Biomasse pro ha. aus, was dem Heizwert von 12.000 I Öl oder 24 t Braunkohle oder 17,4 t Steinkohle entspricht. Durch den Anbau von 15 ha. Schilfgras ließen sich bei einem jährlichen Ertrag von 30 t Biomasse pro ha. etwa 4.500 t Schilfmaterial ernten und damit ca. 2.025 MW/h Strom erzeugen. Ständer zufolge würde eine Anbaufläche von 1,07 Mio. ha. ausreichen, um den gesamten in bundesdeutschen Kernkraftwerken erzeugten Strom durch Biomasse zu ersetzen. 25 Bereits heute werden in der Bundesrepublik 2,4 Mio. ha. ursprünglich landwirtschaftlich genutzte Flächen nicht mehr benötigt. Somit würde der Anbau von C4-Pflanzen gleichzeitig eine Zukunftsperspektive für die Landwirtschaft bedeuten. Nach Berechnungen der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft könnte bis zum Jahre 2000 mindestens 60 % der Stromerzeugungskapazität kerntechnischer Anlagen durch die Nutzung von Biomasse ersetzt werden. Der große Vorteil der Stromerzeugung mit C4-Pflanzen liegt darin, daß dieser Weg COrneutral ist und daher den Treibhauseffekt nicht zusätzlich forciert. Zwar wird bei der Verbrennung der Biomasse ebenfalls CO2 freigesetzt, jedoch nur in dem Umfang, in dem die Pflanzen der Atmosphäre beim Wachstum CO2 durch Photosynthese entnommen haben. 26 Die Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft hat bisher die Umweltverträglichkeit und Energiebilanz von 12 verschiedenen C4 -Pflanzen untersucht und ihnen ein grundsätzlich positives Ergebnis attestiert. Sie empfiehlt aber dennoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keinen großflächigen Anbau, solange nicht weitere Forschungsergebnisse erzielt worden sind. 27 Die bisher größte Schilfgras-Anbaufläche in Deutschland wird von der VEBA-ÖI-AG

23 24 25 26

27

Ständer, Ständer, Ständer, Ständer, Ständer,

Energieprobleme, Energieprobleme, Energieprobleme, Energieprobleme, Energieprobleme,

S. S. S. S. S.

16,31,40. 17. 34. 3, 30. 14.

Teil 1: Rechtstatsachen

124

bewirtschaftet. Hier werden 40 t Biomasse pro ha. gewonnen. 28 Allerdings bestehen noch eine Reihe offener Fragen, insbesondere zu folgenden Problembereichen: -

Anbau-, Ernte-, Transport- und Lagermethoden,

-

Winterresistenz der C 4-Pflanzen,

-

Empfindlichkeit gegen Schädlingsbefall,

-

Boden-, Wasser- und Nährstoffansprtiche der Pflanzen,

-

Anbauflächenbedarf, Monokulturen,

-

realistische Ertragsannahmen,

-

Verfeuerungstechnik,

-

staatliche Förderung.

Immerhin wird die Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der Stromerzeugung durch Biomasse mittlerweile staatlich unterstützt. Kleinere Anpflanzungen sind inzwischen in ganz Deutschland vorhanden. In Brandenburg ist beabsichtigt, 2,5 % der landwirtschaftlich genutzten Fläche mit Schilfgras zu bepflanzen. Die Landeshauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns, Schwerin, hat eine umfangreiche Studie über die Nutzung der C 4-Pflanzen in Auftrag gegeben. Auch das Bundesministerium für Forschung und Technologie will bis 1994 in den neuen Bundesländern 4 bis 6 Pilotkraftwerke mit einer Leistung zwischen 1 und 40 MW fördern und hat 30 Mio. DM für ein Forschungsprogramm zur Verfügung gestellt. Im thüringischen Schkölen soll noch im Herbst 1993 ein Strohheizkraftwerk mit einer thermischen Leistung von 7,15 MW in Betrieb gehen. Von den Investitionen in Höhe von 8,6 Mio. DM übernimmt die Deutsche Bundesstiftung Umwelt 6,6 Mio. DM. Schließlich hat auch die EG 300 Mio. ECU zur Erforschung und Umsetzung des Ständer' sehen Konzepts bewilligt. 29 B. Folgen des Verzichts f"dr die Umwelt

Der natürliche Treibhauseffekt der Atmosphäre wird durch die Treibhausgase Wasserdampf, Kohlendioxid, Ozon, Distickstoff und Methan verursacht. Er bewirkt eine globale Durchschnittstemperatur von 15 Grad. Ohne den natürlichen Treibhauseffekt läge diese Temperatur bei ca. - 18 Grad. Seit Beginn der Industriealisierung wird dieser Treibhauseffekt durch zusätzliche anthropogene Spurengasemissionen forciert. Das Spurengas Kohlendioxid (C02) trägt wesentlich zur Verstärkung des natürlichen Treibhauseffekts und damit 28

Ständer, Energieprobleme, S. 11.

29

Ständer, Energieprobleme, S. 48.

§ 3 Folgen eines Kemenergieverzichts

125

zur globalen Klimaveränderung (Erwärmung der Erdatmosphäre) bei. 30 Als Folgen des Temperaturanstiegs werden Klimazonenverlagerungen mit Ausweitungen der Trockengebiete und Verringerung der Niederschläge in den mittleren Breiten sowie der Anstieg des Meeresspiegels durch Abschmelzen der Polkappen befürchtet. Man schätzt, daß das CO2 derzeit zu etwa 50 % am zusätzlichen Treibhauseffekt beteiligt ist. 31 Allein aus dem Energiebereich wurden im Jahre 1987 weltweit ca. 20,5 Milliarden t CO2 emittiert; die Tendenz ist steigend. Die Bundesrepublik Deutschland (ohne ehemalige DDR) hatte daran einen Anteil von 715 Millionen t, also etwa 3,5 %.32 Fast ein Drittel der COTEmissionen in der Bundesrepublik im Jahre 1987 sind bei der Stromerzeugung durch Verfeuerung fossiler Brennstoffe entstanden, die damit Hauptemittent dieses Spurengases war. 33 Tag für Tag werden gegenwärtig mehr fossile Brennstoffe verbraucht, als in 1.000 Jahren entstanden sind. Bei der Entscheidung für oder gegen die weitere Kernenergienutzung muß daher auch berücksichtigt werden, wie groß das CO2-Reduktionspotential der Stromerzeugung durch Kernkraft gegenüber dem Einsatz anderer Energiequellen ist. Gegenüber fossilen Energieträgern hat die Kernenergie den Vorteil, daß Kernkraftwerke im Normalbetrieb erheblich weniger Schadstoffe und insbesondere kein CO2 emittieren. Andererseits sind jedoch die schädlichen Auswirkungen bei Unfällen ungleich größer als bei allen anderen Energiequellen. Hinzu kommen die bis heute nicht geklärten Fragen der Entsorgung und sonstige Umweltbelastungen im Brennstoffkreislauf (insbes. beim Uranabbau). Die Nutzung der Kernenergie ist allerdings nicht der einzige Weg zur Reduktion energiebedingter klimarelevanter Spurengase. Weitere Möglichkeiten bestehen beispielsweise in der rationelleren Energieerzeugung und -nutzung, im Einsatz erneuerbarer Energieträger, in der Emissionsrückhaltung , in der Umstellung auf CO2-ärmere Energiequellen und in der Förderung umweltbewußteren Verhaltens. 34 Insbesondere das Einsparpotential wird häufig unter30 Zu den Wirkungszusammenhängen vgl. den Bericht der Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 11/8030, S. 88 ff. 31 Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 11/8030, S. 30 und 458; Michaelis, et 1990, 825; Müller/Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. B 68; Umweltbundesamt, Jahresbericht 1990, S. 123. Eine weitere Rolle spielen Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe, Methan, troposphärisches Ozon, Distickstoff (Lachgas) und stratosphärischer Wasserdampf. 32 Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 11/8030, S. 34,460. 33 Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 11/8030, S. 460. Daneben trugen der Verkehr mit 20 %, die Industrie mit 18 %, die Haushalte mit 16 % und sonstige (Handwerk, Dienstleistungsbereich, Landwirtschaft, etc.) mit 10 % zu den C~-Emissionen bei. 34 Vgl. auch Umweltbundesamt, Jahresbericht 1990, S. 129 f.

126

Teil 1: Rechtstatsachen

schätzt und nicht zuletzt auch durch eine auf möglichst hohe Verbrauchszuwächse abzielende Verkaufspolitik bzw. Marktstrategie der Energieversorgungsunternehmen konterkariert, die hohen Stromverbrauch durch günstigere Tarifklassen honoriert. 35 Im übrigen ist die Stromerzeugung durch Kernenergie nicht vollkommen COrfrei, wie von den Energieversorgungsunternehmen vielfach suggeriert wird. Bezieht man nämlich den gesamten Brennstoffkreislauf von der Uranerzgewinnung über die Brennelementeherstellung bis zur Endlagerung einschließlich der hierfür erforderlichen Transporte in die CO2 -Bilanz mit ein, so ergibt sich nach Berechnungen des Darmstädter ÖkoInstituts ein Wert von insgesamt 54 Gramm CO2 pro KW /h Strom aus Kernenergie. 36 Das Bundeskabinett hat am 13. Juni 1990 Zielvorstellungen verabschiedet, wonach die COrEmissionen in der Bundesrepublik bis zum Jahre 2005 um 25 % - bezogen auf das Emissionsvolumen des Jahres 1987 - gesenkt werden sollen. 37 Die Emissionswerte im früheren Bundesgebiet zugrundegelegt, bedeutet dies eine Reduzierung um 178,75 Mio. t CO2 im Jahre 2005. Geht man von den Emissionen in beiden Teilen Deutschlands im Jahre 1987 aus, müßten die CO2 -Emissionen um 266,75 Mio. t auf insgesamt 800,25 Mio. t vermindert werden. Allerdings wäre allein für die Stabilisierung der troposphärischen COrKonzentration eine sofortige Reduktion der globalen CO2 -Emission um 50 bis 80 % erforderlich. 38 Am 3. Dezember 1987 wurde vom Präsidenten des Deutschen Bundestages die Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' konstituiert, die unter anderem den Auftrag hat, Maßnahmen zur Eindämmung des anthropogenen zusätzlichen Treibhauseffekts, insbesondere durch die Reduktion energiebedingter klimarelevanter Spurengasemissionen, zu untersuchen. In ihrem dritten Bericht vom 1. Oktober 1990 beschreibt die Kommission drei verschiedene Reduktionsszenarien und untersucht deren Reduktionspotentiale. 39 Das Reduktionsszenario "Energiepolitik" geht von der Beibehaltung der jetzigen Kapazität der Kernkraft unter Erhöhung der Auslastung der Kernkraftwerke um 16 % aus; das Szenario "Kernenergieausstieg" von der Stillegung der Kernkraftwerke bis 2005 und das Szenario "KernenergieausSRU 1987, Tz. 1996. RosenkranzlMeichsner/Kriener, Atomwirtschaft, S. 66 m.w.N. 37 Der Kabinettsbeschluß ist in seinem vollen Wortlaut abgedruckt in 'Umwelt' 1990, S. 350 f. Im November 1990 hat die Bundesregierung wesentliche Eckpfeiler für ein C(h-Minderungsprogramm verabschiedet (vgl. BMU, Umweltschutz in Deutschland, S. 144 f.). 38 Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 11/8030, S. 113 m.w.N. Die Stabilisierung des C(h-Gehalts der Atmosphäre ist auch Ziel der KlimaKonvention, die auf der UNO-Konferenz 'Umwelt und Entwicklung' in Rio de Janeiro im Juni 1992 von über 150 Staaten unterzeichnet wurde. 39 BT-Drs. 11/8030, S. 392 ff.; vgl. auch Michaelis, et 1990, 827. 35 36

127

§ 3 Folgen eines Kemenergieverzichts

bau" von der Erweiterung der Erweiterung der Stromerzeugungskapazität der Kernkraftwerke bis 2005 auf ca. 60 % und dem Einsatz von Hochtemperaturreaktoren zur industriellen Prozeßdampferzeugung.4O Alle drei Szenarien gelangen zu CO2-Reduktionswerten von über 30 % im Jahr 2005, allerdings mit erheblichen Unterschieden bei der Verminderung des Energieverbrauchs. Während das Ziel beim Szenario "Energiepolitik" bei einer Senkung des Energieverbrauchs um 18,9 % im Vergleich zu 1987 erreicht werden kann, muß der Verbrauch beim Szenario "Kernenergieausstieg" um 28,7 % reduziert werden. Im Falle des Kernenergieausbaus würde eine Verminderung um 13,2 % ausreichen. 41 Das Reduktionspotential der drei Szenarien für die Spurengase Kohlendioxid (C02), Methan (CH4), für Stickoxide (NO x) und für andere flüchtige organische Verbindungen ohne Methan (NMVOC) kann der nachstehenden Tabelle entnommen werden. Tabelle 7: Energiebedingte klimarelevante Spurengase in der Bundesrepublik Deutschland (ohne ehemalige DDR) im Jahr 2005 a)

Emissionen 1987

C02 in Mio. t

CI4 in 1.000 t

NOx in 1.000 t

NMVOC in 1.000 t

715

1.797

2.599

1.530

Szenario' Energiepolitik' - Emission - Reduktion absolut - Reduktion in %

474 - 241 - 33,7

1.165 - 632 - 35,2

1.157 - 1.442 - 55,2

244 - 1.289 - 84,2

Szenario 'Kemenergieausstieg 2005' - Emission - Reduktion absolut - Reduktion in %

474 - 241 - 33,7

1.391 - 406 - 22,6

1.080 - 1.519 - 58,4

232 - 1.298 - 84,9

40 Von der Enquete-Kommission nicht untersucht wurden die Auswirkungen eines sofonigen Verzichts auf die Kernenergie. Der Sachverständigenrat rur Umweltfragen hält einen sofortigen Verzicht unter umweltpolitischen Gesichtspunkten nicht tur wünschenswert, da er die Absenkung der Emissionsströme tur die ersten Jahre zumindest verzögern würde (SRU 1987, Tz. 2016; ähnlich auch Bender, DÖV 1988, 818 f. und Sante, Ausstieg, S. 23 ff.). Das Freiburger Öko-Institut hielt hingegen nach einer im August 1990 vorgelegten Studie eine Verminderung der C(h-Emissionen auf 463 tla im Jahr 2005 bei einem Kernenergieverzicht bis zum Jahre 1995 tur möglich; ablehnend dazu Henssen/Michaelis, et 1991, 234 ff. 41 Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre', BT-Drs. 1118030, S.425.

128 Szenario 'Kemergieausbau' - Emission - Redulction absolut - Redulction in %

Teil 1: Rechtstatsachen

459 - 256 - 35,8

1.131 - 668 -40,9

1.227 - 1.372 - 52,8

201 - 1.329 - 86,6

a) Enquete-Kommission 'Vonorge zum Schutz der Erdattnosphäre', BT-Dn. 11/8030, S. 417, Tabelle 11.

Nach diesen Untersuchungen ist also daß Ziel der Reduzierung der COrEmissionen bis zum Jahre 2005 um 30 % bei einem gleichzeitigen Ausstieg aus der Atomenergie durchaus erreichbar. Daß das CO2-Reduktionspotential aller drei Szenarien annähernd gleich ist, obwohl bei der Kernenergie keine Spurengase emittiert werden, ist dadurch zu erklären, daß beim Ausstiegsszenario Kapital, Know-how und Forschungsmittel frei werden, die bei den anderen Szenarien in die Forschung und Entwicklung der Kernenergie eingebunden sind und deshalb nicht für die Ausweitung sonstiger SpurengasReduktionsmöglichkeiten (z.B. Energieeinsparung, Einsatz regenerativer Energiequellen, Kraft-Wärme-Kopplung und Förderung CO2-armer fossiler Energieträger) zur Verfügung stehen. 42 Das Reduktionsszenario "Kernenergieausstieg" setzt allerdings eine grundlegend gewandelte Energiepolitik voraus und verlangt bis zum Jahre 2005 die Mobilisierung eines Investitionsvolumens von rund 500 Milliarden DM.43 Die Zielvorgabe läßt sich im Vergleich zu den anderen beiden Szenarien nur erreichen durch noch stärkere Ausschöpfung der Möglichkeiten rationeller Energieverwendung, durch Beschleunigung des Einsatzes erneuerbarer Energiequellen, durch zusätzliche Ausweitung der Kraft-Wärme-Kopplung und durch Substitution durch Erdgas. Allerdings könnte allein der Ausstiegsbeschluß nach Auffassung der Enquete-Kommission zusätzliche Innovationspotentiale in der Wirtschaft und in der Bevölkerung erschließen. 44 Die Enquete-Kommission hält eine Verschärfung der Zielvorgaben der Bundesregierung bezüglich der CO2-Reduzierung auf Werte von mindestens 30 % bis zum Jahre 2005, weitere 20 % bis zum Jahre 2020 und weiter 30 % bis zum Jahre 2050 für notwendig. 45 Hierzu wird ein Mischkonzept von Abgabenlösungen, Anreizsystemen und sektorspezifischen MaßnahmebÜlldeln 42 Vgl. auch Rosenkranz/Meichsner/Kriener, Atomwirtschaft, S. 104. 43 Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 11/8030,

S. 407; Henssen/Michaelis, et 1991, 239; Michaelis, et 1990, 832. Allein die Folgekosten des Reaktorunfalls von Tschernobyl wurden von der sowjetischen Regierung am fiinften Jahrestag der Katastrophe mit 600 Milliarden Dollar angegeben. 44 Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 11/8030, S.409. 45 Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 11/8030, S. 60 f.; Michaelis, et 1990, 827.

§ 3 Folgen eines Kemenergieverzichts

129

vorgeschlagen, wobei Maßnahmen zur Verbesserung der Energieeffizienz, zur rationelleren Energienutzung und -umwandlung, zur Energieeinsparung sowie zum Ausbau der Nutzung regenerativer Energien Priorität haben sollen. Ein massiver Ausbau der Kernenergie oder aber ein sofortiger Kernenergieausstieg wurde zwar von keinem Kommissionsmitglied gefordert, aber dennoch konnte sich die Kommission nicht auf eine einheitliche Bewertung und Empfehlung zur Kernenergiepolitik einigen. Während ein Teil der Kommissionsmitglieder den längerfristigen Verzicht auf die Kernenergienutzung befürwortet, ist nach Auffassung der übrigen Kommissionsmitglieder eine angemessene Verringerung der COrEmissionen bei Abscbaltung der Kernkraftwerke "nur unter nicht vertretbaren Bedingungen und nicht zu verantwortenden Konsequenzen" zu erreichen. 46 Noch nicht berücksichtigt wurden im Rahmen der Untersuchung der Enquete-Kommission allerdings die Möglichkeiten der CO2-neutralen Stromerzeugung durch Verbrennung von BiomasseY Ließe sich diese in größerem Umfang umsetzen, könnte bei einer entsprechenden Neuorientierung der Energiepolitik das Ziel der COrMinderung bei gleichzeitigem Ausstieg aus der Atomenergie unter Umständen mit erheblich geringerem Aufwand als von der Enquete-Kommission angenommen erreicht werden. Eine flächendeckende verbrauchemahe Energieversorgung mit Kraft-Wärme-gekoppelten Heizkraftwerken ist Atomkraftwerken in der CO2-Bilanz sogar überlegen, weil hierdurch zahlreiche einzelbefeuerte Wohnungsheizungsanlagen überflüssig würden. In jüngerer Zeit wird auch an Konzepten für eine klimaneutrale Nutzung der fossilen Brennstoffe durch CO2 -Endlagerung gearbeitet. 48 Als Deponien kommen in Betracht: leere Erdgas- oder Erdölfelder, der Meeresgrund sowie terrestrische Eisendlager. Bei allen Konzepten bleibt das CO2 entweder für immer im Lagerort oder wird nur in geringen kontrollierten Mengen mit erheblicher zeitlicher Verzögerung freigesetzt. 49 Sind diese Konzepte auch noch 46 Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 1I/8030, S. 70 - 72 und 434 f., vgl. auch die Kontroverse auf den S. 516 - 568, 605 - 640, 706 - 709 und 740 - 748; ferner Michaelis, et 1990, 828, 830 f. 47 S.o., § 3 A. n.

Vgl. dazu eingehend SeijrilZ, et 1992, 846 ff. Bei dem von SeijrilZ favorisierten Trockeneiskonzept würde das C~ noch im Kohlekraftwerk zu C~-Eisblöcken vereist. Dieses Trockeneis würde bei - 78,5 Grad kugelförmig bei einer Masse von ca. 52 Mio. t und einem Durchmesser von ca. 400 m an der Erdoberfläche in unmittelbarer Nähe des Kraftwerks gelagert. Der Eisdom selbst würde bei entsprechender thermischer Abschirmung durch Styropor oder Mineralwolle nur sehr langsam sublimieren und wäre erst nach einigen Jahrtausenden abgebaut. Neuen Berechnungen zufolge würde der zusätzliche Treibhauseffekt nahezu vollständig gestoppt, wenn mindestens 75 % des weltweiten C~-Aus­ stosses in Trockeneisrepositorien gespeichert würden. Allerdings müßte gegenüber herkömmlichen Kohlekraftwerken etwa ein Viertel des Heizwertes filr die C~-Vereisung geopfert werden. 48

49

9 Borgmann

130

Teil 1: Rechtstatsachen

lange nicht ausgereift und deshalb gegenwärtig nicht nutzbar, so sollte die Erforschung der CO 2-Endlagerungsmöglichkeiten bei einer Neuorientierung in der Energiepolitik dennoch im Auge behalten werden. C. Folgen des Verzichts für die Wirtschaft

Die volkswirtschaftlichen Auswirkungen verschiedener Ausstiegsszenarien (insbes. die Entwicklung der Strompreise, des Wirtschaftswachstums und des Arbeitsplatzmarktes) waren bereits Gegenstand mehrerer Untersuchungen. Allerdings sind diesbezügliche Prognosen mit besonders vielen Unwägbarkeiten belastet, so daß es nicht verwundert, daß die Ergebnisse der Studien von unterschiedlichen Rahmenbedingungen ausgehend - zum Teil erheblich voneinander abweichen ..lO Tendenziell werden jedenfalls von einer Reihe von Gutachtern beim sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie Strompreiserhöhungen von 30 % und mehr

erwartet. 51 In der Folge würden die Fertigungskosten vor allem stromintensiver Massenprodukte wie z.B. Chlor, PVC, Ferrochrom und Hüttenaluminium deutlich steigen. Dadurch entstünden Wettbewerbsnachteile für die deutsche Industrie auf dem internationalen Markt. Neben den direkten Verlusten von etwa 50.000 Arbeitsplätzen in der kerntechnischen Forschung und Industrie müsse mit dem Verlust weiterer 100.000 Arbeitsplätze in stromintensiven Branchen gerechnet werden. 52 Andere Studien nennen Arbeitslosenzahlen von 62.000 bis 100.000 für den kurz- und mittelfristigen Verzicht. Im Falle eines langfristigen Ausstiegs seien aber keine nennenswerten gesamtwirtschaftlichen Nachteile zu erwarten. 53 Veith beschreibt die betriebswirtschaftlichen Auswirkungen eines Kernenergieausstiegs für die betroffenen Energieversorgungsunternehmen, der zumindest für diejenigen Unternehmen, die ihren Strom überwiegend aus Kernenergie gewinnen, erhebliche, teilweise sogar existentielle Folgen haben soll. 54 Die spezifischen Kapitalkosten des Kraftwerks würden um ca. 50 % steigen, so daß man auf der Basis der Importkohle mit einer 60 bis 80-prozentigen Erhöhung der Stromerzeugungskosten rechnen müßte. Auch müßten allein in der Bundesrepublik zur Einlagerung der gesamten jährlichen C(h-Emissionen zwanzig solcher Eisdome pro Jahr errichtet werden (vgl. Seijritz, et 1992, 849 f.) . .lO Vgl. dazu auch VoßlFriedrichlKaltschmitt, et 1986, 927 ff. 51 Vgl. EitzlReckerlUjJmann, et 1986, 829. Von einer "beachtlichen Verteuerung" der Elektrizität im Falle des kurzfristigen Kernenergieverzichts geht auch die Bundesregierung in ihrem Energiebericht (BT-Drs. 10/6073, S. 6) aus; ähnlich auch Bender, DÖV 1988, 818. 52 EitzlReckerlUjJmann, et 1986, 831. Ähnliche Annahmen legt auch die Bundesregierung ihrem Energiebericht (BT-Drs. 10/6073, S. 6) zugrunde. 53 Vgl. die Nachweise bei VoßlFriedrichlKaltschmitt, et 1986, 931. 54 Veith, Energieversorgungsunternehmen, S. 15 - 18.

§ 3 Folgen eines Kernenergieverzichts

131

Bei einem sofortigen Ausstieg sei für Energieversorgungsunternehmen mit hohem Kernenergieanteil wie z.B. dem Bayernwerk, dem Badenwerk oder den Hamburgischen Electricitätswerken eine Aufzebrung des Eigenkapitals und damit der Konkurs nicht zu venneiden. Bei einem längerfristig angelegten Ausstieg etwa ab dem Zeitpunkt der planmäßigen Stillegung der Kernkraftwerke seien hingegen keine unmittelbaren nachteiligen Folgen für die einzelnen Unternehmen zu befürchten. Nach Ansicht des Sachverständigenrats für Umweltfragen müssen zumindest bei einem längerfristigen Ausstieg aus der Kernenergie die Strompreise nicht notwendigerweise steigen, wenn die Stillegung erst am Ende der Laufzeit der Kraftwerke und in enger Abstimmung mit der Energieeinsparung erfolgt. 55 Allerdings hält der Rat dennoch Kosten- und Wettbewerbsnachteile für die deutsche Industrie in beschränktem Ausmaß für möglich, wenn die Bundesrepublik als einziges Land auf die Stromerzeugung durch Kernenergie verzichten würde und die Wirtschaft in anderen Staaten wie z.B. Frankreich weiterhin auf hoch subventionierte Atomenergie zurückgreifen könnte. 56 Mit Arbeitsplatzverlusten dürfte jedoch beim mittel- bis langfristigen Ausstieg kaum zu rechnen sein, da hier die frei werdenden Arbeitskräfte in die Umstrukturierung der Energiewirtschaft integriert werden können. Die Beurteilungen der Preis-, Wachstums- und Beschäftigungseffekte eines Verzichts auf die Kernenergie basieren überwiegend auf der Einschätzung der zukünftigen Produktionskosten, für die wiederum die Höhe der Strompreise eine wesentliche Rolle spielt. Hier klaffen die Ergebnisse der Untersuchungen wegen der unterschiedlichen Rahmenannahmen weit auseinander. Während teilweise sogar vorübergehende Kosteneinsparungen von bis zu 0,6 Pfg. pro KW /h errechnet werden, gehen die pessimistischsten Prognosen von Mehrkosten in Höhe von 5,2 Pfg. pro KW/h ausY Tendenziell wird allerdings beim langfristigen Ausstieg mit geringeren Kostensteigerungen gerechnet als beim sofortigen Kernenergieverzicht. Kostenvergleiche zwischen der Erzeugung von Strom aus Kernenergie und aus anderen Energiequellen hängen jedoch vor allem von den zukünftigen Entsorgungskosten ab und sind daher mit einem großen Unsicherheitsfaktor belastet. Die Kosten der Endlagerung radioaktiver Abfalle für mehrere hundert oder tausend Jahre lassen sich kaum vorausberechnen. Schwer zu prognostizieren sind ferner die Kosten für die Nachrüstung und die spätere Stillegung und Beseitigung der bereits in Betrieb befindlichen kerntechnischen Anlagen. Auch hier fehlen bislang zuverlässige Erfahrungswerte. Beschränkt man sich

56

SRU 1987, Tz. 1985. SRU 1987, Tz. 1987.

57

Vgl. i.e. Voß/Friedrich/Kaltschmitl, et 1986, 928 f.

55

132

Teil 1: Rechtstatsachen

auf die in der Vergangenheit bereits angefallenen, die gegenwärtig anfallenden und die für die Zukunft bereits abzusehenden Kosten, so ergeben sich nach Ansicht der Enquete-Kommission im Grundlastbereich Vorteile der Atomenergie gegenüber der heimischen Steinkohle und etwa ein Gleichstand gegenüber der Braunkohle. Im Mittellastbereich nimmt aber der Kostenvorteil der Kernenergie gegenüber der Steinkohleverstromung ab. 58 Der scheinbare Kostenvorteil der Elektrizitätsgewinnung aus Kernenergie gegenüber anderen Energieträgern beruht jedoch in hohem Maße darauf, daß nicht alle Kosten der Kernenergienutzung in die Energiepreise eingehen. So würde sich der Atomstrom beispielsweise deutlich verteuern, wenn nicht der Staat die Kernkraftwerksbetreiber gern. §§ 34 ff. AtomG kostenfrei von Schadensersatzverpflichtungen freistellen würde, die über die Deckungsvorsorge hinausgehen59 und sich die Betreiber gegen dieses Risiko auf dem freien Markt gegen Zahlung hoher Prämien versichern müßten. Außerdem müssen bei einem Kostenvergleich auch die Folgen eines unbeherrschten nuklearen Unfalls bedacht werden, der zu irreparablen Schäden an Mensch, Umwelt und Produktionsgütern führen und damit immense volkswirtschaftliche Auswirkungen verursachen kann. Hierzu hat das Bundeswirtschaftsministerium beim Prognos-Institut eine Studie zur "Identifizierung und Internalisierung der externen Effekte der Energieerzeugung" in Auftrag gegeben. In einer Teilstudie dazu errechneten die Münsteraner Wirtschaftswissenschaftler Ewers und Rennings, beide Mitglied bzw. Mitarbeiter des Sachverständigenrats für Umweltfragen, volkswirtschaftliche Schäden an Mensch, Natur und Vermögen in Höhe von 4 Billionen DM im Falle eines Super-GAUs im Kernkraftwerk Biblis B.60 Berechnungen des Worldwatch-Institute zufolge läge der Preis für 1 KW/h Atomstrom bei fast 4,- DM, würde man das Risiko eines Kernschmelzunfalls mit einkalkulieren. Der zu niedrige Ansatz der Energiepreise ist allerdings keine Besonderheit der Kernenergie. In der genannten Prognos-Studie wurden jährliche Kosten in Milliardenhöhe errechnet, die durch Bau- und Materialschäden, durch die Klimaveränderung, durch Waldschäden, durch Beeinträchtigung der Gesundheit in Form von Atemwegs- und Herz-Kreislauferkrankungen und eben auch durch einen potentiellen Kernschmelzunfall entstehen und die sich nicht in den Energiepreisen niederschlagen. 61

58 Enquete-Kommission 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' , BT-Drs. 1118030, S.549. 59 Dazu näher § 18 B. 11. 4. b).

60 EwerslRennings, Ztu 1991, 379 ff.; vgl. auch die Kontroverse in et 1992, 563 f. und 863 f.; ferner Rosenkranz/Meichsner/Kriener, Atomwirtschaft, S. 195. 61 SZ v. 26. 11. 1992, S. 33.

§ 3 Folgen eines Kemenergieverzichts

133

D. Zusammenfassung

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß ein sofortiger Ausstieg aus der Kernenergie für die Energieversorgung, das Ziel der CO 2-Reduzierung und die wirtschaftliche Situation in der Bundesrepublik gravierendere Folgen hätte als ein mittel- oder langfristiger Verzicht. Im Falle des sofortigen Abschaltens aller Kernkraftwerke wäre die Energieversorgung bei Spitzenlasten zumindest in einigen Regionen der Bundesrepublik nicht mehr in vollem Umfang gewährleistet. Außerdem wäre mit einem vorübergehenden Anstieg der CO2-Emissionen zu rechnen. Schließlich müßten auch Steigerungen der Strompreise und der Arbeitslosenzahlen sowie Wettbewerbsnachteile für die deutsche Wirtschaft in Kauf genommen werden. Diesen Nachteilen kann jedoch umso eher gegengesteuert werden, je stärker der Verzicht an die Bereitstellung ausreichender Ersatzkapazitäten zur Stromerzeugung gekoppelt wird. Zwar erfordert auch dies einen erheblichen technischen und finanziellen Aufwand. Bei entsprechend langfristiger Planung können die Folgen eines Kernenergieverzichts jedoch durchaus bewältigt werden.

Zweiter Teil

Der administrative Ausstieg Mit dem administrativen Ausstieg ist der Versuch gemeint, die friedliche Nutzung der Kernenergie de lege lata, also durch ausstiegsorientierte Anwendung des geltenden Rechts zu beenden. Anknüpfungspunkt für den administrativen Ausstieg aus der Kernenergie ist in erster Linie das AtomG selbst. Dabei kommen grundsätzlich zwei Wege in Betracht: zum einen die Nichterteilung beantragter Genehmigungen nach § 7 AtomG und zum anderen Rücknahme und Widerruf bereits erteilter bestandskräftiger Genehmigungen nach § 17 AtomG. Zur Zeit liegen allerdings in keinem Bundesland Anträge auf Erteilung von Genehmigungen zur Errichtung neuer Kernkraftwerke vor. Angesichts des ungewissen Ausgangs der Bemühungen um die Herstellung eines Energiekonsenses ist auch nicht damit zu rechnen, daß solche Anträge in nächster Zeit gestellt werden. Die ursprünglichen Pläne verschiedener Energieversorgungsunternehmen zur Errichtung weiterer Druckwasserreaktoren l werden jedenfalls zur Zeit nicht weiter verfolgt. Auch kurzzeitig aufgekommene Überlegungen zum Bau neuer Konvoi-Anlagen in den Kernkraftwerksstandorten Greifswald (Mecklenburg-Vorpommern) und Stendal (Sachsen-Anhalt) wurden alsbald wieder verworfen, weil den Energieversorgungsunternehmen das Investitionsrisiko zu groß erschien. 2 Der Schwerpunkt der folgenden Untersuchung liegt daher im Bereich der Vorschriften über Rücknahme und Widerruf atomrechtlicher Genehmigungen. Gleichwohl sind zahlreiche der behandelten Rechtsfragen über diese Thematik hinaus auch für die Genehmigungserteilung von Bedeutung.

Borken/Schwalm (Hessen), Vahnum A und B (Nordrhein-Westfalen), Neupotz I und 2 (Rheinland-Pfalz), Biblis C (Hessen), Hamm-Uentrop (Nordrhein-Westfalen), Rehiing/Pfaffenhofen A und B (Bayern); vgl. 'Umwelt' 1987, S. 130; Ronellenjilsch, Genelunigungsverfahren, S. 74 ff. 2

S. bereits oben, § I A.

§ 4 Leben und körperliche Unversehrtheit

135

§ 4 Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit

als Auslegungs- und Anwendungsgrundsatz

In einem ersten Schritt soll untersucht werden, welcher Schutz vor Schäden durch die friedliche Nutzung der Kernenergie aus verfassungsrechtlichen Gründen zwingend geboten ist. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG schützt das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Als vitale Basis der Menschenwürde stellt das Leben den Höchstwert innerhalb der Verfassungsordnung dar3 , es ist Voraussetzung für die Wahrnehmung aller anderen Grundrechte. Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ist dann betroffen, wenn unmittelbar oder mittelbar auf die Substanz des Körpers eingewirkt und seine Beschaffenheit verändert wird. Nicht erforderlich sind weitere Folgen wie Gesundheitsschäden, Schmerzempfindung etc. 4 Auch die Fähigkeit, gesundes Leben weitergeben zu können und damit der Schutz vor genetischen Schäden wird durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gewährleistet. 5 Für die Bestimmung des Gewährleistungsgehalts des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit sind zwei Problemkreise auseinanderzuhalten: Zum einen die Frage, ob der Schutzbereich auch dann betroffen ist, wenn die Bedrohung für die Schutzgüter nicht unmittelbar vom Staat selbst ausgeht (A.) und zum anderen, inwieweit das Grundrecht auch vor Gefährdungen von Leben und körperlicher Unversehrtheit schützen will (B.). A. Die Abwehr- und Schutzfunktion des Grundrechts

In erster Linie begreift das Bundesverfassungsgericht die Grundrechte als subjektive Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe. 6 Danach kann der einzelne Grundrechtsträger vom Staat grundsätzlich das Unterlassen verfassungswidriger Eingriffe in seine Grundrechte verlangen und dies gegebenenfalls auch (verfassungs-)gerichtlich durchsetzen. In dieser Funktion verkörpern die Grundrechte ein wirksames Gegengewicht gegen staatliche Zugriffe auf die Schutzgüter. Allein diese Abwehrfunktion könnte jedoch einen umfassenden Grundrechtsschutz nicht gewährleisten. Die Schutzgüter der Grundrechte werden nicht nur durch staatliches Handeln bedroht, sondern auch durch Dritte sowie durch menschenunabhängige Gefährdungen. Zu letzteren zählen vor allem BVerfGE 39,1 [42]; 46,160 [164]; 49, 24 [53]; Baltes, BB 1978,131. 4

Lorenz, HdBStR VI, § 128 Rn. 17; MaunzlDürig-Dürig, Art. 2 11 Rn. 30; v.Münch/Ku-

nig-Kunig, Art. 2 Rn. 62.

Hermes, Schutzpflicht, S. 224; Hofmann, Entsorgung, S. 306 f. Vgl. z.B. BVerfGE 7,198 [204 f.]; 50, 290 [336 f.].

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Teil 2: Der administrative Ausstieg

Naturkatastrophen (z.B. Erdbeben und Überschwemmungen) oder das Auftreten neuer Krankheiten (z.B. AIDS). Wenn auch die Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG nur "Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht" binden und somit die unmittelbare Grundrechtsgeltung zwischen Privaten grundsätzlich zu verneinen ist?, so leitet das Bundesverfassungsgericht doch spätestens seit der Entscheidung zur Fristenlösung8 aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG die Pflicht des Staates ab, sich schützend und fördernd vor die darin genannten Rechtsgüter zu stellen und sie insbesondere auch vor Gefährdungen durch Dritte zu bewahren. Die grundrechtliche Wertordnung verlangt daher vom Staat nicht nur die Unterlassung, sondern auch die vorbeugende Verhinderung von Schäden an den in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG geschützten Gütern, und zwar unabhängig davon, ob die Bedrohungen vom Staat selbst oder von Dritten ausgehen oder ob es sich um "naturgegebene" Gefahren handelt. 9 In allen Fällen ist der Staat grundsätzlich zur Achtung und zum Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit verpflichtet und dabei U.U. auch berechtigt, sich im Wege der Güterabwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips über andere verfassungsrechtlich geschützte Rechte hinwegzusetzen. 10 Abwehr- und Schutzfunktion der Grundrechte stehen grundsätzlich in einem gleichrangigen Verhältnis zueinander. 11 Auch pflichtwidriges Unterlassen des Staates kann danach eine Grundrechtsverletzung bedeuten. 12 Für den Grundrechtsträger macht es keinen Unterschied, ob das Schutzgut durch staatliches Handeln oder durch Vernachlässigung der staatlichen Schutzpflicht beeinAusnahmen müssen wie Z.B. im Falle des Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG ausdrücklich im Grundgesetz verankert sein. BVerfGE 39, 1 [41 f.]; seither ständige Verfassungsrechtsprechung, vgl. BVerfGE 46, 160 [164]; 49, 89 [141]; 53, 30 [57]; 56, 54 [73]; 79, 174 [201 f.]; zuletzt BVerfG, EuGRZ 1993,229 [242]. Vgl. in diesem Zusammenhang auch VGH Kassel, NJW 1990, 336 ff. zum Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für die Errichtung und den Betrieb gentechnischer Anlagen. Ebenso v.Münch/Kunig-Kunig, Art. 2 Rn. 67; Robbers, Sicherheit, S. 124; a.A. Hermes, Schutzpflicht, S. 231, der für Gefahren, "die niemandem zurechenbar sind", nicht die staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG heranzieht, sondern die "allgemeine sozialstaatliche Hilfe aus Notlagen"; desgl. Isensee, HdBStR V, § 111 Rn. 112. 10 Vgl. BVerfGE 39, 1 [42 f.]. 11 Luckaw, Brennstoffkreisläufe, S. 288 f.; VG Gelsenkirchen, ZuR 1993, 119 [120] - Mobilfunk.

12 VGH Kassel, NJW 1990, 336 [337]. Werden die Schutzgüter des Grundrechts durch Dritte gefahrdet und kommt der Staat seiner Schutzpflicht nicht oder nur unzureichend nach, dann liegt hierin allerdings noch kein Grundrechtseingriff, der eine gesetzliche Regelung unter Beachtung des Zitiergebots (Art. 2 Abs. 2 S. 3 i.V.m. Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG) verlangt (ebenso Hermes, Schutzpflicht, S. 219 - 221 und 260 f.; Jarass/Pieroth, Art. 2 Rn. 49; Luckaw, Brennstoffkreisläufe, S. 297 f.). Dennoch ist die staatliche Untätigkeit eine Grundrechtsbeeinrrächtigung im weiteren Sinne, die der verfassungsrechtIichen Rechtfertigung bedarf.

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trächtigt wird. Zudem kann eine hoheitliche Maßnahme wie z.B. der Erlaß einer Rechtsnorm gleichzeitig Ausdruck beider Grundrechtsfunktionen sein. So aktualisiert sich etwa in der normativen Festlegung von Immissionsgrenzwerten sowohl die grundrechtliche Schutzpflicht als auch die Abwehrfunktion insoweit, als dem Betroffenen die Pflicht zur Duldung von Immissionen unterhalb der Grenzwerte auferlegt wird. Allerdings bleibt die Möglichkeit der gerichtlichen Geltendmachung einer Schutzpflichtsverletzung durch den Gesetzgeber vor dem Bundesverfassungsgericht insoweit hinter der Abwehr hoheitlicher Grundrechtseingriffe zurück, als sich das Bundesverfassungsgericht bei der Schutzpflicht aus gewaltenteilerischen Gründen auf die Prüfung beschränkt, ob der Gesetzgeber diese Pflicht evident verletzt hat. 13 Auch fallen bei der Schutzpflicht im Unterschied zur reinen Abwehrkonstellation zusätzlich die Grundrechte des Dritten ins Gewicht, was sich im Rahmen der Güterabwägung schutzmindernd auswirken kann. Ein Recht auf Verletzung von Leben und Gesundheit kann daraus allerdings niemals hergeleitet werden. B. Grundrechtsschutz vor Gefahren und Risiken

Grundsätzlich trifft den Staat die Pflicht, Schäden an den Schutzgütern des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zu vermeiden bzw. wieder zu beseitigen. Im Unterschied zu bloßen Belästigungen, vor denen Art. 2 Abs.2 S. 1 GG keinen Schutz bietet l4 , ist unter einem Schaden die nicht unerhebliche Beeinträchtigung des Schutzguts zu verstehen. 15 Der Schutzbereich des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist jedoch nicht erst dann betroffen, wenn der Eintritt eines Schadens an den Schutzgütern als sicher anzunehmen ist. Vielmehr muß der Staat Leben und körperliche Unversehrtheit angesichts ihres hohen Ranges und wegen der 13 BVerfGE 56, 54 [80 f.]; 77, 381 [405]; 79, 174 [202]; vgl. auch Heilseh, Kemtechnische Anlagen, S. 24 f.; Isensee, HdBStR V, § 111 Rn. 162; Rauschning, VVDStRL 38 (1980),183. Eine andere, davon zu unterscheidende Beschränkung der Rechtsschutzmöglichkeiten des Grundrechtsträgers vor dem Bundesverfassungsgericht ergibt sich daraus, daß der objektive Gehalt der Grundrechte teilweise über deren subjektiven Gehalt hinausgeht; nämlich insoweit, als der Staat die Grundrechte auch dann zu achten und zu schützen hat, wenn sich die Bedrohung der Schutzgüter noch nicht individualisieren läßt. In diesem Fall kann eine Grundrechtsverletzung zwar mangels Individualbetroffenheit (noch) nicht vom einzelnen Grundrechtsträger im Wege der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. I Nr. 4a GG gerügt werden, wohl aber besteht die Möglichkeit eines objektiven Beanstandungsverfahrens etwa im Wege der abstrakten Normenkontrolle gern. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG. 14 So auch Balles, BB 1978,133; Hennes, Schutzptlicht, S. 225; Isensee, HdBStR V, § 111 Rn. 107; v.Münch/Kunig-Kunig, Art. 2 Rn. 66. Zu den Belästigungen zählen beispielsweise Geräuschimmissionen unterhalb des gesundheitsgefahrdenden Lärmpegels, die "nur" die Kommunikation stören. Solche Belästigungen können freilich fiir andere Grundrechte wie z.B. Art. 2 Abs. 1 GG relevant sein. 15 Ebenso HoppelBeckmann, Umweltrecht, § 4 Rn. 61.

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Gefahr der Irrevisibilität der Schäden auch dann achten und schützen, wenn lediglich die Möglichkeit der Verletzung dieser Schutzgüter besteht. Insbesondere können nicht eventuelle Schäden mit sehr geringer Eintrittswahrscheinlichkeit grundrechtsunerheblichen Belästigungen gleichgestellt werden. 16 Auch mit der Zulassung oder Duldung einer noch so geringen Eintrittswahrscheinlichkeit wird die statistisch sichere Folge einer Schutzgutsverletzung in Kauf genommen. Zufallsabhängig ist lediglich, wann und wo diese Schutzgutsverletzung eintritt. Nur dann, wenn der Schadenseintritt absolut unmöglich ist, wenn also keinerlei Besorgnispotential besteht, scheidet eine Grundrechtsbeeinträchtigung von vornherein aus. Damit gibt es grundsätzlich keinen Bereich entfernt möglicher Schäden an den Schutzgütern des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, vor denen das Grundrecht nicht schützen will. Auch die Pflicht zur Duldung von Schutzgutsverletzungen, deren Eintritt noch ungewiß ist, erscheint unter dem Blickwinkel des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht gerechtfertigt, wenn sich hierfür keinerlei kollidierende verfassungsrechtlich erhebliche Belange finden lassen. Daß das Bundesverfassungsgericht die Bürger dennoch zur Hinnahme von Ungewißheiten jenseits der Schwelle praktischer Vernunft als sozial-adäquate Lasten verpflichtet17 , ist daher keine Ausgrenzung entfernt möglicher Schutzgutsverletzungen aus dem Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, sondern eine Folge der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. 18 Unzutreffend ist daher die mitunter vertretene Auffassung, daß bei Unterschreiten einer bestimmten Risikoschwelle der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG von vornherein nicht betroffen seL19 Vielmehr bedarf jede Gefährdung der Schutzgüter nach dem Grundsatz der bestmöglichen Gefahrenabwehr und RisikovorsorgeW der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. 21 Läßt der Staat

16 17 18 19

So zu Recht Hofmann, BayVBI. 1983,35. BVerfGE 49, 89 [143). Ebenso Sleinberg, Schadensvorsorge, S. 102. So z.B. Rauschning, VVDStRL 38 (1980), 192 f., sowie besonders deutlich Degenharl, Kernenergierecht, S. 148 f. und DVBI. 1983, 928 Fn. 24, nach dessen Auffassung "gewisse Risiken, die mit der technisch-zivilisatorischen Entwicklung notwendig verbunden sind, ... als immanente Begrenzung des Schutzbereichs des Grundrechts aufzufassen" seien; ebenso Haedrich, § 1 Rn. 10. Hiergegen zu Recht Baumann, JZ 1982, 754 f.; HeilSch, Kerntechnische Anlagen, S. 35 ff.; Hermes, Schutzptlicht, S. 241 ff.; Hofmann, BayVBI. 1983, 36 f.; Isensee, HdBStR V, § 111 Rn. 108; Sleinberg, Schadensvorsorge, S. 96 ff.; de Will, 8. Dt.AtRS, S. 163. 20 BVerfGE 49, 89 [139; 143); 53, 30 [58 f.); BVerwGE 72, 300 [316). 21 Ebenso Hermes, Schutzptlicht, S. 240; Sleinberg, Schadensvorsorge, S. 88 - 95; de Will, 8. Dt.AtRS, S. 167. Zutreffend daher auch VG Gelsenkirchen, ZuR 1993, 119 [120) - Mobilfunk: "Die staatliche Pflicht zum Schutz und zur Abwehr der einem Rechtsgut drohenden Gefahrdungen erfaßt im Grundsatz jede noch so feme, bloß theoretische, ja sogar unbekannte, bloß denkbare Möglichkeit unter Einschluß des sogenannten Restrisikos, d.h. eines solchen Risikos, das nach dem gegenwärtigen Stand von Wissenschaft und Technik praktisch ausgeschlossen erscheint." Vgl. auch BVerfG, NJW 1987, 180 [180) (Gurtanlegeptlicht), wo das sich aus der Be-

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also eine Risikoerhöhung für die Schutzgüter zu oder unterläßt er die Minimierung eines Risikos, dann ist dies verfassungsrechtlich nur dann hinzunehmen, wenn dies im Interesse anderer überwiegender verfassungsrechtlich geschützter Belange erfolgt. Kann die erforderliche verfassungsrechtliche Rechtfertigung nicht erbracht werden, dann ist die Grundrechtsbeeinträchtigung verfassungswidrig. Dies gilt sowohl im Bereich der Abwehr- als auch im Bereich der Schutzfunktion des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG.22 Somit umfaßt der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG entgegen Benda23 grundsätzlich eben doch ein "Grundrecht auf risiko freies Leben" . Selbstverständlich erfordert weder die Abwehr-noch die Schutzfunktion des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in jedem Fall Maßnahmen, die gewährleisten, daß der Eintritt von Schäden an den Schutzgütern mit absoluter Sicherheit auszuschließen ist. 24 Daß selbst gezieIte staatliche Eingriffe in das Schutzgut Leben nicht per se verfassungswidrig sind, zeigen die an strenge Voraussetzungen geknüpften gesetzlichen Ermächtigungen der Polizei zu finalen Todesschüssen25, deren Verfassungsmäßigkeit überwiegend bejaht wird. 26 Der Schutz des Lebens ist damit nicht in dem Sinne absolut, daß das Leben gegenüber jedem anderen Rechtsgut ausnahmslos Vorrang genösseY Auch die körperliche Unversehrtheit genießt keine absolute Eingriffsfreiheit, sondern muß u. U. zurückstehen, wenn dies im Interesse anderer verfassungsrechtlich geschützter Interessen zwingend erforderlich ist und der Grundsatz der Angemessenheit gewahrt bleibt. Eine gesetzliche Regelung, die das Risiko einer Verletzung der körperlichen Unversehrtheit mit absoluter Sicherheit ausschließt (z.B. Nichtzulassung einer möglicherweise gefährlichen Technik), ist nach dem Gesagten nur dann erforderlich, wenn das Risiko für das Schutzgut nicht im Wege der Güterabwägung überwunden werden kann. Demgemäß muß auch zwischen Schutzguts- und Grundrechtsverletzungen unterschieden werden: Eine Grundrechtsverletzung kann nicht nur im Falle einer Verletzung des nutzung des Sicherheitsgurtes ergebende "geringe Risiko" gegen die Vorteile der Gurtbenutzung abgewogen wird. 22 Vgl. BVerfGE 56, 54 [78] - Fluglänn; VGH Kassel, NJW 1990, 336 [337] - gentechnische Anlagen; VG Gelsenkirchen, ZuR 1993, 119 [120] - Mobilfunk. Unzutreffend daher Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 299, nach dessen Ansicht zwischen entfernter Wahrscheinlichkeit und absoluter Unwahrscheinlichkeit noch ein Bereich liege, in dem die Schutzpflicht von vornherein nicht ausgelöst werde. 23 Benda, et 1981, 869. 24 BVertGE 49, 89 [143]; 56, 54 [81]; VG Gelsenkirchen, ZuR 1993, 119 [120]; Bock, Umweltschutz, S. 161 f.; Hermes, Schutzpflicht, S. 240 f.; HoppelBeckmann, Umweltrecht, § 4 Rn. 50; Kloepjer, Umweltrecht, § 2 Rn. 17; Steinberg, Schadensvorsorge, S. 94. 25 Z.B. Art. 66 Abs. I S. 2 BayPAG.

26 Jarass/Pieroth, Art. 2 Rn. 56; v.Mangoldl/Klein-Starck, Art. I Rn. 57; v.Münch/KunigKunig, Art. 2 Rn. 56; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 460. 27

BVertG, EuGRZ 1993, 229 [243] - Schwangerschaftsabbruch.

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Schutzguts - also bei sicherem Schadenseintritt - vorliegen, sondern auch im Falle einer verfassungsrechtIich nicht gerechtfertigten Gefährdung des Schutzguts. Umgekehrt bedeutet eine Verletzung des Schutzguts nicht automatisch eine Grundrechtsverletzung, sondern kann durchaus verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Für die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Verletzung oder Gefährdung der Schutzgüter des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verfassungsrechtIich gerechtfertigt ist, kommt es neben der Bedeutung des Kollisionsguts28 vor allem darauf an, welche eigenen Abwehrmöglichkeiten dem Betroffenen gegenüber der Gefahrenquelle zur Verfügung stehen. Je weniger Einfluß der Betroffene auf die Ursachen der Schutzgutsgefährdung hat, desto höher sind die verfassungsrechtIichen Hürden, wenn eine Gefährdung gleichwohl zugelassen wird. 29 Nur deshalb läßt sich auch der gezielte Todesschuß der Polizei zur Abwehr einer anderweitig nicht abwendbaren Gefahr für Leben oder körperlicher Unversehrtheit Dritter verfassungsrechtIich legitimieren, denn in diesem Fall setzt sich der durch den polizeilichen Todesschuß Bedrohte selbst durch sein Verhalten der Gefährdung aus und kann sich dieser Gefährdung somit jederzeit entziehen. Hat aber umgekehrt der Betroffene von vornherein keinerlei Möglichkeit, sich selbst vor der Bedrohung zu schützen bzw. sich der Gefahrenquelle zu entziehen, dann gelten für die verfassungsrechtIiche Rechtfertigung gleichwohl zugelassener Schutzgutsgefährdungen strengste Anforderungen. In diesem Fall sind nicht nur sicher eintretende Verletzungen, sondern auch Gefahren für Leben oder körperliche Unversehrtheit grundsätzlich unverhältnismäßig und können daher nicht im Wege der Güterabwägung überwunden werden. 30 Dabei ist der Gefahrenbegriff nicht im herkömmlichpolizeirechtIichen Sinne mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts im Falle ungehinderten Geschehensablaufs31 gleichzusetzen, sondern meint darüber hinaus bei potentiell hohem Schadensausmaß auch Fälle geringer Eintrittswahrscheinlichkeit. Das Vorliegen einer Gefahr ist somit nach 28 Anknüpfend an Isensee (HdBStR V, § 111 Rn. 165; dieser wiederum verweisend auf Canaris, AcP 184 (1984), 228 und Götz, HdBStR m, § 79 Rn. 30 f.) betont das Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang jetzt die Pflicht des Staates, bei der Verwirklichung des Schutzgebots das sog. Untermaßverbot zu beachten (BVerfG, EuGRZ 1993, 229 [243] Schwangerschaftsabbruch). Hierunter versteht das Bundesverfassungsgericht das Mindestmaß an Schutz, das unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter verfassungsrechtlich gefordert ist. Für den Gesetzgeber bedeute dies, daß die von ihm getroffenen Vorkehrungen fiir einen angemessenen und wirksamen Schutz ausreichend sein und zudem auf sorgfältigen Tatsachenermittlungen und vertretbaren Einschätzungen beruhen müssen. Insofern handelt es sich beim Untermaßverbot allerdings nicht um eine neue Rechtsfigur, sondern allenfalls um eine neue Begrifflichkeit im Zusammenhang mit der Güterabwägung bei der Erfiillung der Schutzpflicht (ebenso Hain, DVBI. 1993, 982 ff.). 29 Ebenso Hermes, Schutzpflicht, S. 245 f.

30

Murswiek, Risiken, S. 142; ähnlich Balles, BB 1978,132; Seewald, NuR 1988,165.

31

PrOVGE 77,333 (338]; 87, 301 [310].

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dem Produkt aus Schadensausmaß und Eintrittswahrscheinlichkeit zu ermitteln32 : Je größer das mögliche Schadensausmaß ist, umso geringer muß der Wahrscheinlichkeitsgrad für dessen Eintritt sein; umgekehrt ist bei geringem potentiellen Schadensausmaß eine höhere Eintrittswahrscheinlichkeit erforderlich, um eine Gefahr annehmen zu können. Die unterhalb der Gefahrenschwelle anzusiedelnden Schutzgutsbedrohungen, die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden können, sind dem Risikobereich zuzuordnen. Zwar trifft auch hier den Staat grundsätzlich eine Pflicht zur Minimierung des Risikos. Allerdings steht die Risikominimierungspflicht des Staates unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit; d.h. die Zulassung eines Risikos für die Schutzgüter des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG kann im Einzelfall dann verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein, wenn dies zum Zwecke überwiegender anderer verfassungsrechtlich geschützter Interessen zwingend erforderlich ist. 33 Anders als bei Vorliegen einer Gefahr ist somit das Risiko auch dann, wenn sich der einzelne der Bedrohung nicht entziehen kann, nicht in jedem Fall auf Null zu reduzieren. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach betont, daß das in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gewährleistete Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit die staatlichen Organe verpflichtet, die Bevölkerung vor den Gefahren der Kernenergie zu schützen. Angesichts des hohen potentiellen Schadensausmaßes bei der unkontrollierten Freisetzung radioaktiver Strahlung ist eine Gefahr im Sinne der Produktformel bereits bei niedrigster Eintrittswahrscheinlichkeit anzunehmen. 34 In Betracht zu ziehen sind dabei auch solche Schadensmöglichkeiten, die sich nur deshalb nicht ausschließen lassen, weil nach dem derzeitigen Wissensstand bestimmte Ursachenzusammenhänge weder bejaht noch verneint werden können und daher nur ein Gefahrenverdacht oder ein Besorgnispotential besteht. 35 Da der einzelne bei der Kernenergienutzung jedoch keine Möglichkeit hat, sich der Gefahrenquelle zu entziehen oder sich anderweitig selbst zu schützen36 , sind solche Gefahren aus verfassungsrechtlichen Gründen zwingend zu unterbinden. Hier findet auch keine Abwägung etwa mit den wirtschaftlichen Interessen der Kemkraftwerksbetreiber statt, die Kosten der Anlagenerrichtung und -unterhaltung

33

Hermes, Schutzpflicht, S. 239 m.w.N. Vgl. etwa BVertG, NJW 1987, 180 [180]- Gurtanlegepflicht.

34

BVertGE 49, 89 [141 f.]; 53, 30 [57]; aus der Literatur statt vieler Degenhan, et 1989,

32

755.

So jetzt ausdrucldich BVerwGE 72, 300 [315]- Wyhl. Eben hierin liegt der Unterschied zu anderen Gefahrenquellen (wie Z.B. dem Straßenverkehr oder der Gefahr eines Flugzeugabsturzes auf ein voll besetztes Stadion), die häufig zu Unrecht als Argument für die Rechtfertigung der mit der Kernenergienutzung verbundenen Gefahren und Risiken herangezogen werden (vgl. z.B. Sellner, Atom- und Strahlenschutzrecht, S. 364; zutreffend hingegen Hermes, Schutzpflicht, S.243 und Roßnagel, Grundrechte, S. 44 Fn. 63 und S. 46 Fn. 66). 35

36

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Teil 2: Der administrative Ausstieg

möglichst gering zu halten. Auch wird die Gefahrvermeidungspflicht nicht durch das "technisch Machbare" begrenzt. 37 Kann eine Gefahr aus technischen Gründen nicht unterbunden werden, dann muß der Betrieb der Anlage eben unterbleiben. Deshalb ist die friedliche Nutzung der Kernenergie nur dann mit dem Grundgesetz zu vereinbaren, wenn die Möglichkeit eines Schadenseintritts "praktisch ausgeschlossen" ist. 38 Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dafür, daß mit der Zulassung der Errichtung und des Betriebs kerntechnischer Anlagen gleichwohl ein gewisses Risiko in Kauf genommen wird, das mit der friedlichen Nutzung der Kernenergie zwangsläufig verbunden ist, liegt vor allem in der staatlichen Pflicht zur Sicherstellung einer ausreichenden Energieversorgung begründet. 39 Dieses Risiko darf aber die Gefahrenschwelle im Sinne der Produktformel niemals erreichen. Die Grenze zwischen dem Gefahren- und dem Risikobereich verläuft dort, wo es aufgrund des gegenwärtigen Erkenntnisstandes und der getroffenen Vorsorgemaßnahmen zwar nicht absolut, d.h. natur- oder denkgesetzlich, wohl aber praktisch ausgeschlossen ist, daß ein bestimmtes Schadensereignis eintritt. 40 Es dürfen somit nur Reaktoren genehmigt und betrieben werden, bei denen diese Anforderungen erfüllt sind. Im Risikobereich unterhalb der Gefahrenschwelle besteht zwar nach dem Grundsatz der bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge ebenfalls eine Risikominimierungspflicht des Staates, die es prinzipiell erlaubt, das Risiko von Schäden bei der Freisetzung radioaktiver Strahlen durch zusätzliche Schutzvorkehrungen über das verfassungsrechtlich zwingend gebotene Maß hinaus abzusenken. Hierzu gehören etwa Vorbeugemaßnahmen gegen Ereignisse, denen die Qualität einer Gefahr aufgrund der extrem niedrigen Eintrittswahrscheinlichkeit nach dem Maßstab der "praktischen Vernunft" abgesprochen wird, ferner Maßnahmen zur weiteren Reduzierung der Strahlenemissionen im Normalbetrieb über die Dosisgrenzwerte des § 45 StrlSchV hinaus. 41 Allerdings ist hier der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, da ja auch ohne die zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen Schäden "praktisch ausgeschlossen" sind. Somit ist im Bereich der Risikominimierung Raum für Kosten-Nutzen-Analysen (Wirtschaftlichkeitsüberlegungen). Diejenigen Risiken, deren weitere Minimierung unverhältnismäßig wäre, muß der einzelne hinnehmen. Man kann sie auch als "Restrisiken" bezeichnen. 42 37 BVerfGE 49, 89 [136]; Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 542; Hermes, Schutzpflicht, S. 244 f.; HoppelBeckmann, Umweltrecht, § 29 Rn. 25; Kloepjer, Umweltrecht, § 8 Rn. 30.

38 39

BVerfGE 49, 89 [143]. BVerfGE 53, 30 [58]. Hierzu näher in § 17.

41

Benda, et 1981, 868 ff.; Breuer, DVBI. 1978, 835 ff. Siehe bereits oben, § 2 B. I. 1.

42

Vgl. BVerfGE 49,89 [137, 141]; Greipl, DVBI. 1992,601.

40

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Daraus ergibt sich für die Auslegung des § 7 Abs.2 Nr. 3 AtomG als Fundamentalnorm für sicherheitsrechtliche Anforderungen im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren folgendes: Nach § 7 Abs.2 Nr. 3 AtomG darf die Genehmigung "nur erteilt werden, wenn die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage getroffen ist." Die Vorschrift räumt damit der Genehmigungsbehörde bei Vorliegen sämtlicher Tatbestandsvoraussetzungen ("wenn ... ") auf der Rechtsfolgenseite ein Ermessen ("darf ... ") ein. Tatbestandsmerkmal ist die erforderliche Schadensvorsorge. Wurde früher teilweise die Auffassung vertreten, daß dazu nur die Abwehr von Gefahren zu rechnen sei, während die Vorsorge gegen Risiken im Rahmen des Versagungsermessens berücksichtigt werden könne43 , so ist diese Auffassung seit dem Wyhl-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. 12. 198544 überholt. Danach ist die tatbestandlich erforderliche Vorsorge gegen Schäden im Sinne von § 7 Abs.2 Nr. 3 AtomG mit Gefahrenabwehr nicht identisch, sondern umfaßt darüber hinaus auch die gefahrenunabhängige Risikovorsorge. 45 Gleichwohl verlangt die Vorschrift deshalb nicht die Vermeidung eines jeden Risikos. Vielmehr stehen Maßnahmen zur Risikominimierung - anders als Maßnahmen zur Gefahrenabwehr - unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit ihres Aufwands gegenüber dem Sicherheitsgewinn. 46 Ist dieser Aufwand unverhältnismäßig hoch, dann ist die risikominimierende Maßnahme nicht mehr 'erforderlich' im Sinne des § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG. Die tatbestandliche Verpflichtung zur gefahrenunabhängigen Risikovorsorge hat aufgrund dieser Erforderlichkeitsprüfung durch die Genehmigungsbehörde insoweit wertenden Charakter. 47 Im Rahmen des Veragungsermessens ist damit für Maßnahmen zur weiteren Begrenzung des anlagebezogenen Risikos kein

43 Ronellenjilsch, Genehmigungsverfahren, S. 235 ff.; vgl. ferner die Nachweise bei Greipl, DVBI. 1992, 598; Haedrich, § 7 Rn. 84; Sleinberg, Schadensvorsorge, S. 18 Fn. 30. 44 BVerwGE 72, 300. 45 BVerwGE 72, 300 [Ls. 4 und S. 315 f.]. Zustimmend Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 526; Degenharl, et 1989, 754 f.; Greipl, DVBI. 1992, 600; Sleinberg, Schadensvorsorge, S. 27 ff. 46 Ebenso Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 545; Greipl, DVBI. 1992, 600; Kloepfer, Umweltrecht, § 8 Rn. 32 a.E.; sowie bereits Hofmann, Entsorgung, S. 338; kritisch jedoch Sleinberg, Schadensvorsorge, S. 57 ff. Im hier vertretenen Sinne allerdings jetzt auch ausdrücklich § 7 Abs. 3 des Referentenentwurfs zur Änderung des AtomG v. 21. 12. 1992: "Vorsorge gegen Schäden im Sinne des Absatzes 2 Nr. 3 ist die Abwehr von Gefahren ... sowie die Vorsorge gegen Risiken . ... Maßnahmen zur Vorsorge gegen Risiken müssen im Hinblick auf den angestrebten Erfolg geeignet, erforderlich und angemessen sein." (Hervorh. v. Verf.); zustimmend Wagner, NVwZ 1993, 514; kritisch Lange, ZRP 1992, 307 f.; ihm folgend Roßnagel, UPR 1993, 129. 47

So bereits Luckaw, Brennstoffkreisläufe, S. 264, 275 f.

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Raum mehr. 48 Hierfür besteht aufgrund der Vorholung der Risikovorsorge in den Tatbestand des § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG auch keine Notwendigkeit. Das Ermessen läßt damit nur die Einbeziehung solcher Erwägungen zu, die nicht schon bei der Festlegung der erforderlichen Schadensvorsorge zu berücksichtigen waren. Wichtigster Anwendungsfall für das Versagungsermessen ist der Entsorgungsvorsorgenachweis, da Entsorgungsdefizite vielfach nicht i.S.d. § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG als durch die Errichtung und den Betrieb der einzelnen Anlage bedingt angesehen werden. 49

48 Ebenso Greipl, DVBI. 1992, 600 f.; Papier, Genehmigung, Aufsicht, Nachrüstung, S. 130 f.; Steinberg, Schadensvorsorge, S. 65; a.A. Bender, DÖV 1988,814; Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 568; Degenhart, et 1989, 756; Seltner, Auflagen und Widerruf, S. 342; OVG Lüneburg, DVBI. 1989, 1106 [1110]. 49 Vgl. die Nachweise bei Haedrich, § 9a Rn. 52. Dementsprechend sieht der Referentenentwurf zur Änderung des AtomG (vgl. Fn. 46) nach der Aufnahme des Entsorgungsvorsorgenachweises als Genehmigungsvoraussetzung in § 7 Abs. 2 Nr. 3a AtomG auch die Streichung des Versagungsermessens vor.

§ 5 Rücknahme von Genehmigungen nach § 17 Abs. 2 AtomG

Die Möglichkeiten und Voraussetzungen für Rücknahme und Widerruf atomrechtlicher Genehmigungen sind in § 17 Abs. 2 bis 5 AtomG speziell und abschließend geregelt. 1 Insbesondere wird dadurch ein Rückgriff auf die allgemeinen Rücknahme- und Widerrufsvorschriften in den Verwaltungsverfahrensgesetzen des Bundes und der Länder ausgeschlossen. A. Die Rücknahmevoraussetzungen

Nach § 17 Abs. 2 AtomG können Genehmigungen zurückgenommen werden, wenn eine ihrer Voraussetzungen bei der Erteilung nicht vorgelegen hat. Erfaßt werden hierdurch also nur die Fälle anfänglicher Rechtswidrigkeit einer Genehmigung. Hierbei spielt es allerdings keine Rolle, ob der Bescheid aus formellen oder aus materiellen Gründen rechtswidrig ist. Auch ist keine subjektive Kenntnis des Mangels bei der Behörde oder dem Antragsteller im Zeitpunkt der Genehmigungserteilung erforderlich. Vielmehr genügt das objektive Vorliegen eines erkennbaren anfänglichen Mangels, der zur Rechtswidrigkeit der Genehmigung führt. 2 Davon· zu unterscheiden sind hingegen solche Mängel, die zwar ex post betrachtet von Anfang an vorlagen, die aber im Zeitpunkt der Genehmigungserteilung mangels entsprechender Erkenntnismöglichkeiten nicht feststellbar waren. Hierzu zählen beispielsweise neue Erkenntnisse über sicherheitsrelevante Eigenschaften bestimmter beim Bau von Kernkraftwerken verwendeter Materialien. Solche erst nachträglich möglichen Erkenntnisse führen nicht zur Rechtswidrigkeit der erteilten Genehmigung und fallen damit nicht unter die Rücknahmevorschrift des § 17 Abs. 2 AtomG, sondern werden von den Widerrufstatbeständen des § 17 Abs. 3 Nr. 2 und Abs. 5 AtomG erfaßt. 3 Eine Rücknahme kommt allerdings nur dann in Betracht, wenn die Genehmigungsvoraussetzungen gerade für die betroffene Anlage anfänglich nicht Bender, OÖV 1988, 814; Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 566; Haedrich, § 17 Rn. 10; Kloepjer, Umweltrecht, § 8 Rn. 58; Lange, NIW 1986, 2463; Schoch, OVBI. 1990, 549; Wagner, OÖV 1987, 528. 2 Schneider, Verantwortung, S. 179. Bender, OÖV 1988, 815 f.; Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 573 u. 576. 10 Borgmann

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vorgelegen haben. Allgemeine, nicht anlagenspezifische sicherheitstechnische Bedenken der Behörde gegen die Kerntechnik können damit keinen Rücknahmegrund LS.d. § 17 Abs. 2 AtomG darstellen. 4 Das schließt allerdings nicht aus, daß eine Rücknahme gleichwohl für mehrere Anlagen des gleichen Typs (z.B. für sog. Konvoi-Anlagen) in Betracht kommt, wenn bei der Prüfung einer Anlage anfanglich erkennbare Sicherheitsmängel festgestellt werden, die bei sämtlichen Anlagen dieses Typs vorzufinden sind. Fraglich ist, ob eine Rücknahmemöglichkeit nur dann besteht, wenn eine der in § 7 Abs. 2 AtomG aufgeführten tatbestandlichen Genehmigungsvoraussetzungen bei der Erteilung nicht vorgelegen hat oder auch dann, wenn die Behörde bei ihrer Ermessensausübung von nicht gegebenen Voraussetzungen ausgegangen ist. Der Wortlaut des § 17 Abs.2 AtomG ist insoweit nicht eindeutig. Nach zutreffender Ansicht ist die Möglichkeit der Rücknahme aber auch dann gegeben, wenn die Behörde bei der Ermessensausübung irrtümlich von Voraussetzungen ausgegangen ist, die in Wahrheit nicht vorlagen5 , wobei zu beachten ist, daß das Ermessen der Behörde einfachgesetzlich durch die Zweckbestimmung des § 1 AtomG gebunden ist. Außerdem können auch ermessensfehlerhaft außer Acht gelassene Umstände zur Rücknahme der Genehmigung führen. In beiden Fällen ist die erteilte atomrechtliche Genehmigung von Anfang an rechtswidrig. Nach § 7 Abs. 2 AtomG darf die Genehmigung nur erteilt werden, wenn zum einen sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen der Nm. 1 bis 6 erfüllt sind und wenn zum anderen der Genehmigungserteilung keine im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens zu berücksichtigenden Gründe entgegenstehen. Genehmigungsvoraussetzungen im Sinne des § 17 Abs. 2 AtomG sind damit alle diejenigen, die Bedingung für die rechtmäßige Erteilung der atomrechtIichen Genehmigung sind, unabhängig davon, ob sie auf der Tatbestands- oder auf der Ermessensseite berücksichtigt werden müssen. 6 Jedes anfängliche erkennbare Nichtvorliegen einer Genehmigungsvoraussetzung kann daher grundsätzlich eine Rücknahme der Genehmigung nach § 17 Abs. 2 AtomG rechtfertigen. Fraglich ist allerdings, ob die Rücknahme nach § 17 Abs. 2 AtomG auch

dann noch möglich ist, wenn die Genehmigung zuvor aufgrund von Drittkla-

gen verwaltungsgerichtlich überprüft und das Verfahren durch rechtskräftige Abweisung der Anfechtungsklage beendet wurde. 7 Beteiligt an diesen Aus4

Insoweit zutreffend Lukes, BB 1986, 1308 und Wagner, DÖV 1987, 526. Ebenso Lange, NIW 1986, 2462; Roßnagel, Nachträgliche Administrativmaßnahmen, S. 72 f.; RoßnagellGündJing, Wiederaufarbeitung, S. 155 - 157; a.A. Wagner, DÖV 1987, 527. So für die insoweit gleichgelagerte Problematik beim Widerruf nach § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG Lange, NIW 1986, 2463; Roßnagel, DVBl. 1991,846; a.A. Bender, DÖV 1988, 816; Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 578; SeUner, Auflagen und Widerruf, S. 346; offen Haedrich, § 17 Rn. 13b). 7 Das triffi für die meisten atomrechtlichen Genehmigungen zu.

§ 5 Rücknahme nach § 17 Abs. 2 AtomG

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gangsverfahren waren neben der beklagten Behörde bzw. dem beklagten Land (§§ 63 Nr. 2, 78 Abs. 1 VwGO) auch die GenehmigungsbegüDstigten als notwendige Beigeladene (§§ 63 Nr. 3, 65 Abs. 2 VwGO), die von der Rücknahme betroffen wären. Personell erstreckt sich somit die materielle Rechtskraft des Urteils nach § 121 Nr. 1 VwGO sowohl auf die Genehmigungsbehörde bzw. das Land, dessen Behörde die Genehmigung erteilt hat, als auch auf die Kernkraftwerksbetreiber. Allerdings reicht die Bindungswirkung des rechtskräftigen Urteils nach § 121 VwGO nur soweit, als "über den Streitgegenstand entschieden worden ist." Dieser wiederum wird durch Klageanspruch und Klagegrund konkretisiert. 8 Mit den klageabweisenden Urteilen der Ausgangsverfahren wird jedoch lediglich festgestellt, daß der Kläger keinen Anspruch auf Aufhebung der atomrechtlichen Genehmigung hat; nicht hingegen, daß die Genehmigung in vollem Umfang mit dem geltendem Recht vereinbar sei. Somit wird nicht rechtskräftig darüber entschieden, ob die nicht drittschützenden Genehmigungsvoraussetzungen, also insbesondere diejenigen des § 7 Abs. 2 Nm. 1,2,4 und 6 AtomG bei der Erteilung vorgelegen haben oder nicht. Auch erstreckt sich die Rechtskraft nicht auf Fragen des Kollektivrisikos und der Entsorgung, da Dritte insoweit keine eigenen Recht im Klagewege geltend machen können. Einer Rücknahme der Genehmigung wegen Rechtswidrigkeit steht die materielle Rechtskraft des Urteils gem. § 121 Nr. 1 VwGO also nur insoweit entgegen, als die Rücknahme auf das Fehlen drittschützender Genehmigungsvoraussetzungen gestützt werden soll, die bereits Gegenstand eines früheren gerichtlichen Verfahrens waren. 9 Die Rechtskraft vorausgegangener klageabweisender Urteile kann somit der Rücknahme der Genehmigungen nach § 17 Abs. 2 AtomG nur partiell entgegengehalten werden. B. Die Ermessensausübung

Die Rücknahme nach § 17 Abs. 2 AtomG ist allerdings in das Ermessen der zuständigen Behörde gestellt und wird daher durch die Pflicht zur Beachtung des Übermaßverbots begrenzt. 10 Danach ist eine Rücknahme insbesondere dann ausgeschlossen, wenn der Mangel nachträglich ausgeräumt oder geheilt und die Genehmigungsvoraussetzung auf diese Weise erfüllt werden kann. Dies kommt nicht nur bei formeller, sondern auch bei materieller RechtswidBVerwGE 52, 247 [249]; 70, 110 [112]. Ebenso Bender, OÖV 1988, 815; Roßnagel/Gündling, Wiederaufarbeitung, S. 157; weitergehend Kopp, § 121 VwGO Rn. 16, nach dessen Auffassung die Befugnis einer Behörde zur Rücknahme eines Verwaltungsaktes aufgrund besonderer gesetzlicher Vorschriften durch ein rechtskräftiges Urteil i.S.d. § 121 VwGO vollkonunen unberührt bleibe. 10 Bender, OÖV 1988, 815; Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 573; Haedrich, § 17 Rn. 12; Roßnagel, OVBI. 1991, 846; Schneider, Verantwortung, S. 179.

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Teil 2: Der administrative Ausstieg

rigkeit der Genehmigung (z.B. nicht hinreichender Schadensvorsorge i.S.d. § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG) in Betracht. Eine gleichwohl verfügte Rücknahme wäre dann nicht erforderlich und daher ermessensfehlerhaft, wenn der mit der Rücknahme bezweckte Schutz vor den Gefahren der Kernenergie ebensogut durch andere, weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden kann. 11 Rechtliche Grundlage für derartige Anordnungen ist § 17 Abs. 1 S. 3 AtomG, wonach nachträgliche Auflagen zulässig sind, soweit diese zur Erreichung der in § 1 Nm. 2 und 3 AtomG bezeichneten Zwecke erforderlich sind. Hierdurch würde der Genehmigungsbegünstigte weniger belastet als durch eine Rücknahme. Die nachträgliche Auflage muß allerdings ihrerseits verhältnismäßig sein und scheidet danach aus, wenn sie technisch nicht erfüllbar, sachlich ungeeignet oder dem Betreiber wegen des hohen Aufwands wirtschaftlich nicht zuzumuten ist. 12 Im Falle nicht ausreichender Schadensvorsorge kann gegebenenfalls gern. § 19 Abs. 3 AtomG eine vorübergehende Stillegung der Anlage angeordnet werden, bis die aus Sicherheitsgründen gebotenen Nachbesserungen umgesetzt sind. 13

Vgl. BVeIWG, DVBI. 1992, 52 [53] - Obrigheirn. ScluJllke, atw 1988,416; Schneider, Verantwortung, S. 175, 182. 13 Vgl. etwa OVG Münster, et 1990, 508 [510] - Würgassen; VGH Kassel, NVwZ 1989, 1183 [1184] - Biblis; ferner Kloepjer, Umweltrecht, § 8 Rn. 60; Roßnagel, Nachträgliche Administrativrnaßnahrnen, S. 81. 11

12

§ 6 Widerruf von Genehmigungen nach § 17 Abs. 5 AtomG

Kein behördliches Ermessen, sondern eine Pflicht zum Widerruf von Genehmigungen besteht nach § 17 Abs. 5 AtomG dann, wenn dies wegen einer erheblichen Gefahrdung der Beschäftigten, Dritter oder der Allgemeinheit erforderlich ist und nicht durch nachträgliche Auflagen in angemessener Zeit Abhilfe geschaffen werden kann. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so muß also die Behörde die Genehmigung widerrufen. I § 17 Abs. 5 AtomG differenziert nicht zwischen den einzelnen Rechtsgütern, die einer erheblichen Gefahrdung ausgesetzt sind. In Anlehnung an den Schutzzweck des § 1 Nr. 2 AtomG greift § 17 Abs. 5 AtomG daher nicht nur bei erheblicher Gefahrdung von Leben und Gesundheit, sondern auch von Sachgütern ein. 2

Teilweise wird die Vorschrift des § 17 Abs. 5 AtomG dahingehend interpretiert, daß sie nur auf solche Sicherheiten abziele, die über den genehmigten Zustand noch hinausgehen, nicht aber auf die fortdauernde Erhaltung des genehmigten Sicherheitszustands. Für die letzte Fallgruppe, also etwa bei Sicherheitsdefiziten infolge von Materialermüdungen, komme nur der fakultative Widerruf nach § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG in Betracht. 3 Nach dieser Auffassung stünde der Widerruf der Genehmigung wegen alterungsbedingter Sicherheitseinbußen auch bei erheblicher Gefahrdung der Beschäftigten, Dritter oder der Allgemeinheit im Ermessen der zuständigen Behörde und wäre gem. § 18 Abs. 1 AtomG nur gegen Entschädigung möglich. Eine solche einengende Auslegung des § 17 Abs. 5 AtomG findet jedoch im Gesetz keine Stütze. In § 17 Abs. 5 AtomG ist schlicht von einer "erheblichen Gefahrdung" die Rede, ohne daß es darauf ankommt, ob der in der Genehmigung vorausgesetzte Sicherheitszustand wiederhergestellt oder ob zusätzliche Sicherheitsanforderungen erfüllt werden sollen. Die beiden WiderrufstatbeOVG Lüneburg, UPR 1987, 153 [154 f.) - Krümmel; VGH Kassel, NVwZ 1989, 1183 (1183) - Biblis; Lange, NIW 1986, 2463; ders., Bund-Länder-Konsens, S. 58 f.; Roßnagel, Nachträgliche Administrativmaßnahmen, S. 69, 75; Schanke, atw 1988, 412; Schoch, DVBI. 1990,551; Seltner, Auflagen und Widerruf, S. 347. 2 A.A. Schneider, Verantwortung, S. 173, nach dessen Auffassung der Widerruf nach § 17 Abs. 5 AtomG eine erhebliche Gefahrdung "von Menschen und nicht nur von Sachen" voraussetze (Hervorhebung im Original). Da eine reine Sachgütergefahrdung beim Austritt von Radioaktivität jedoch nur schwer vorstellbar ist, hat diese Streitfrage kaum praktische Bedeutung. Schanke, atw 1988,413.

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Teil 2: Der administrative Ausstieg

stände des § 17 Abs. 3 Nr. 2 und Abs. 5 AtomG unterscheiden sich lediglich insofern, als bei erheblicher, nicht anders abwendbarer Gefährdung nach § 17 Abs. 5 AtomG widerrufen werden muß, während in den übrigen Fällen des nachträglichen Wegfalls der Genehmigungsvoraussetzungen der Widerruf in das Ermessen der Behörde gestellt ist. Ein obligatorischer Widerruf nach § 17 Abs. 5 AtomG kommt demnach auch dann in Betracht, wenn die genehmigte Anlage etwa infolge von Alterungsprozessen hinter den Genehmigungsanforderungen zurückbleibt. Insofern verdrängt § 17 Abs. 5 AtomG als Spezialregelung bei erheblicher Gefährdung der Beschäftigten, Dritter oder der Allgemeinheit die allgemeine Widerrufsregelung für den nachträglichen Wegfall der Genehmigungsvoraussetzungen in § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG. Allein diese Sichtweise steht auch mit dem in § 1 Nr. 2 AtomG verankerten Schutzzweck und der Pflicht des Staates zum Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in Einklang. A. Erhebliche Gef8hrdung

Fraglich ist, wann eine erhebliche Gefährdung der Beschäftigten, Dritter oder der Allgemeinheit im Sinne des § 17 Abs. 5 AtomG vorliegt. Klärungsbedürftig in diesem Zusammenhang ist insbesondere, welches Ausmaß die Gefährdung erreichen muß, damit die Widerrufspflicht ausgelöst wird (I.), weiterhin, welche Gefahrenursachen einen obligatorischen Widerruf auslösen können (11.), ferner, ob nur bei nachträglich auftretenden Gefahren oder auch bei solchen Gefahren zu widerrufen ist, die bereits zum Zeitpunkt der Genehmigungserteilung vorlagen (III.) und schließlich, ob auch eine Änderung der Sicherheitsphilosophie zum Widerruf berechtigt (IV.). I. Das Ausmaß der Gefährdung

Über die Frage, welches Ausmaß an Gefährdung für die Beschäftigten, Dritte oder die Allgemeinheit erreicht werden muß, damit von einer "erheblichen Gefährdung" i.S.d. § 17 Abs. 5 AtomG gesprochen werden kann, besteht in Literatur und Rechtsprechung keine Einigkeit. Während die wohl herrschende Meinung die Schwelle für einen Pflichtwiderruf höher ansetzt als für die zwingende Genehmigungsversagung nach § 7 AtomG4, ist OVG Lüneburg, UPR 1987, 153 [155] - Krümmel; VGH Kassel, NVwZ 1989, 1183 [1184 f.] - Biblis; VGH München, NVwZ 1991, 903 [904] - Grafenrheinfeld; Bender, OÖV 1988, 815, 817; Bender/Sparwasser, UmweItrecht, Rn. 570, 581; Fischerhoj, § 17 Rn. 16; Haedrich, § 17 Rn. 14b); Lange, NIW 1986, 2464; Schanke, atw 1988, 416; Sellner, Auflagen und Widerruf, S. 347 f.; jeweils mit unterschiedlichen Nuancen (VGH Kassel: "Wenn eine Sachlage bei objektiv zu erwartendem, ungehindertem Geschehensablauf mit Wahrscheinlichkeit

§ 6 Widerruf nach § 17 Abs. 5 AtomG

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nach der Gegenansicht die Genehmigung immer schon dann zu widerrufen, wenn die unkontrollierte Freisetzung ionisierender Strahlen durch die Anlage in Anlehnung an § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG nicht mehr hinreichend sicher auszuschließen ist. 5 Dieser Auffassung scheint auch das Bundesverwaltungsgericht zuzuneigen, nach dessen Rechtsprechung es für eine Verletzung eigener Rechte und damit für einen Anspruch Dritter auf Widerruf einer atomrechtlichen Genehmigung nach § 17 Abs. 5 AtomG erforderlich, aber auch ausreichend ist, daß der Kläger konkret vorträgt, bei dem Kernkraftwerk "sei nicht der erforderliche Schutz vor der Gefahr einer Kernschmelze gewährleistet und könne auch nachträglich nicht gewährleistet werden, und zwar in einem

Maße, das eine solche Gefahr nach den Regeln praktischer Vernunft ausschließt. "6

Die Entstehungsgeschichte des § 17 Abs. 5 AtomG läßt sich weder für die eine noch für die andere Auffassung fruchtbar machen. Lautete die Regelung des Pflichtwiderrufs in der Fassung des Regierungsentwurfs (§ 17 Abs. 3 AtomG-E) noch: "Genehmigungen oder allgemeine Zulassungen sind zu widerrufen, wenn dies der Schutz der Allgemeinheit erfordert und nicht durch nachträgliche Auflagen in angemessener Zeit Abhilfe geschaffen werden kann", so geht die heutige Fassung auf den Einwand des Bundesrates zurück, daß die Fälle, in denen die Genehmigung oder Zulassung widerrufen werden muß, in Anlehnung an die Entschädigungsregelung des § 18 Abs.2 Nr. 3 AtomG definiert werden sollten. 7 Ob hierdurch lediglich eine Formulierungsangleichung oder auch eine sachliche Änderung gegenüber dem ursprünglichen Regierungsentwurf erreicht werden sollte, läßt sich den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen. Für die herrschende Meinung scheint jedoch der Wortlaut des § 17 Abs. 5 AtomG zu sprechen. In der Tat legt das Attribut "erheblich" einen gesteigerten Gefahrdungsgrad und damit ein höheres Maß an Eintrittswahrscheinlichkeit als Widerrufsvoraussetzung nahe. Allerdings muß die Widerrufsvorschrift des § 17 Abs. 5 AtomG im Lichte der Verfassung, insbesondere des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gesehen und verfassungskonform ausgelegt werden. § 17 Abs. 5 AtomG dient in erster Linie dem Schutz von Leben und körperlizu einem Schaden fuhrt."; Bender: "besonders gravierendes Risiko, ... Eintrittswahrscheinlichkeit relativ hoch"; Haedrich: "Jede Gefahrdung, die das bei der Genehmigung angenommene, nach dem Maßstab praktischer Vernunft zu tolerierende Risiko erheblich übersteigt. Ein urunittelbar drohender Schaden ist jedoch nicht Voraussetzung."; Lange: "gewisse Evidenz"; Sellner: "nur bestimmte gravierende Fallkonstellationen, ... lediglich der Bereich der herkömmlichen (polizei-rechtlichen) Gefahr, ... hinreichende Eintrittswahrscheinlichkeit. "). 5 Roßnagel, JZ 1986, 716; ders., Nachträgliche Administrativmaßnahmen, S. 75 f.; Schneider, Verantwortung, S. 173 - 175; ebenso auch Roller, DVBI. 1993, 22 f., der diese Ansicht allerdings zu Unrecht als "ganz überwiegende Auffassung" bezeichnet. 6

BVerwG, NVwZ 1989, 1170 f. - Würgassen (Hervorhebung vom Verfasser). Vgl. BT-Drs. 31759, S. 8 f., 30 f., 52, 60.

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Teil 2: Der administrative Ausstieg

cher Unversehrtheit, aber auch dem Schutz von Sachgütern vor den Gefahren der Kernenergie. Angesichts des hohen potentiellen Schadensausmaßes ist der Staat hier in besonderer Weise zum Schutz der bedrohten Rechtsgüter verpflichtet. 8 § 17 Abs. 5 AtomG ist damit Ausdruck der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Zwar verlangt das Grundgesetz nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes keine Regelung, die Schutzgutsverletzungen mit absoluter Sicherheit ausschließt. Wohl aber ist der Staat gerade im Hinblick auf die Schutzgüter Leben und körperliche Unversehrtheit als Höchstwerte der Verfassung verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, daß auch nach der Genehmigungserteilung die Möglichkeit eines Schadenseintritts "praktisch ausgeschlossen" bleibt. Somit muß die Genehmigung dann widerrufen werden, wenn die Bedrohung für die betroffenen Schutzgüter ein Ausmaß erreicht, das nicht mehr im Wege einer Güterabwägung mit anderen kollidierenden Verfassungsdirektiven (z.B. Pflicht des Staates zur Sicherstellung einer ausreichenden Energieversorgung, Bestandsschutz der Anlagenbetreiber) überwunden werden kann. Bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie ist dies im Hinblick auf den möglichen Schadensumfang dann der Fall, wenn Schäden an den Schutzgütern Leben und körperliche Unversehrtheit nach dem Stand von Wissenschaft und Technik nicht mehr praktisch ausgeschlossen werden können, wenn also m.a.W. nach der Produktformel eine Gefahr für die genannten Schutzgüter vorliegt. 9 Hier muß das wirtschaftliche Interesse der Betreiber am Weiterbetrieb der Anlage aus verfassungsrechtlichen Gründen immer zurückstehen. Stellen sich also im nachhinein Schutzdefizite mit Gefahrenqualität heraus, muß der Staat als Garant eines "dynamischen Grundrechtsschutzes"1O nachfassen. Denn die Nachbesserungspflicht trifft nicht nur die Legislative, sondern auch die Exekutive. lI Gefährdungen von Leben und körperlicher Unversehrtheit sind damit immer "erheblich" i.S.d. § 17 Abs. 5 AtomGY Dem entspricht auch die im Referentenentwurf zur Änderung des BVertGE 49, 89 [142] - Kalkar; 53, 30 [57] - Mülheim-Kärlich. S. bereits oben, § 4 B. 10 BVertGE 49, 89 [137] - Kalkar. 11 Roßnagel, Nachträgliche Administrativmaßnahmen, S. 69; Schenk, Atom- und Strahlenschutzrecht, S. 333; Schneider, Verantwortung, S. 141 f.; vgl. auch BVertGE 49, 89 [132]: "... die staatlichen Organe, mithin auch der Gesetzgeber, ... " (Hervorhebung vom Verfasser). 12 Vgl. insoweit auch die Parallele zu lmmissionsschutzrecht: Nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG sind genehmigungsbedürftige Anlagen so zu errichten und zu betreiben, daß "schädliche Umwelteinwirkungen und sonstige Gefahren, erhebliche Nachteile und erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit und die Nachbarschaft nicht hervorgerufen werden können." Vorläufer dieser Bestimmung war die Vorschrift des § 16 GewO, wonach "zur Errichtung von Anlagen, welche durch die örtliche Lage oder die Beschaffenheit der Betriebsstätte für die Besitzer oder Bewohner der benachbarten Grundstücke oder für das Publikum überhaupt erhebliche Nachteile, Gefahren oder Belästigungen herbeiführen können," eine Genehmigung erforderlich war. Trotz des sprachlichen Unterschieds geht die h.M. davon aus, daß das BImSchG den Begriff der erheblichen Gefahr i.S.d. § 16 GewO übernehmen wollte, ohne an der bisherigen Rechtslage etwas zu ändern (Feldhaus, § 3 BImSchG Arun. 7; LandmannlRohmer-Kut-

§ 6 Widerruf nach § 17 Abs. 5 AtomG

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AtomG v. 21. 12. 1992 vorgesehene Ersetzung der "erheblichen Gefährdung" als Widerrufsvoraussetzung des § 17 Abs. 5 AtomG durch das Wort "Gefahr". Nur im darüber hinausgehenden Risikobereich scheidet ein Pflichtwiderruf nach § 17 Abs. 5 AtomG aus. Ist also bei Ausfall einer reinen Vorsorgeeinrichtung gleichwohl gewährleistet, daß Schäden an den Schutzgütern des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG "praktisch ausgeschlossen" sind, kommt ein Widerruf nach § 17 Abs. 5 AtomG nicht in Betracht. In diesem Fall besteht lediglich die Möglichkeit eines fakultativen Widerrufs gem. § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG, hier allerdings unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit. 13

II. Die Gejahrenursache Fraglich ist des weiteren, ob § 17 Abs. 5 AtomG nur solche Gefahren erfaßt, die allein von der betroffenen Anlage oder Tätigkeit ausgehen oder ob auch andere Ereignisse den Widerruf auslösen können. Letzteres wird teilweise bezweifelt, weil sich § 17 Abs. 5 und § 18 Abs. 2 Nr. 3 AtomG in ihren tatbestandlichen Voraussetzungen decken sollen, § 18 Abs. 2 Nr. 3 AtomG aber ausdrücklich von einer "in der genehmigten Anlage oder Tätigkeit begründeten erheblichen Gefährdung" spreche. 14 Das OVG Lüneburg folgert daraus, daß ein Widerruf nach § 17 Abs. 5 AtomG dann ausscheiden müsse, wenn zwar eine aus mehreren Quellen herrührende Gesamtbelastung eine erhebliche Gefährdung herbeiführe, der Beitrag der einzelnen Anlage zu dieser Belastung jedoch nicht sonderlich ins Gewicht falle. Nur wenn der Beitrag der einzelnen Anlage zur Gesamtbelastung ein "erheblicher" sei, komme ein Widerruf in Betracht. Deshalb könne beispielsweise ein in unmittelbarer Nähe eines Kernkraftwerks wohnender Kläger nicht wegen der infolge des Reaktorunfalls von Tschernobyl erhöhten Strahlenbelastung die Stillegung jenes Kernkraftwerks verlangen, weil dessen Beitrag zur Gesamtbelastung nicht erheblich sei und somit dessen Stillegung kein geeignetes Mittel zur Beseitigung der Gefahr darstelle. 15

scheidt, § 3 BImSchG Rn. 10). Gesundheitsschäden, so die einschlägigen Kommentierungen weiter, seien jedoch stets erheblich; eine Differenzierung komme lediglich bei Sachschäden in Betracht. 13 I.e. s.u., § 7. 14 OVG Lüneburg, UPR 1987, 153 [155] - Krümmel; Wagner, DÖV 1987, 530; ähnlich Lukes, BB 1986, 1309.

15 OVG Lüneburg, UPR 1987, 153 [155]. Im konkreten Fall wurde eine Pflicht zum Widerruf auch unter der Annahme verneint, daß die jährliche Schilddrüsenbelastung eines Kleinkindes durch die zugelassenen radioaktiven Abgaben jenes Kernkraftwerks unter den ungünstigsten Voraussetzungen etwa ein Zehntel der Belastung durch den Unfall von Tschernobyl betrage.

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Teil 2: Der administrative Ausstieg

Hieran ist zutreffend, daß zwischen der Gefahrenquelle und der genehmigten Anlage oder Tätigkeit ein Zusammenhang bestehen muß, denn andernfalls wäre der Widerruf nicht geeignet und damit "erforderlich" i.S.d. § 17 Abs. 5 AtomG, die bestehende Gefahr zu vermindern. Die Annahme, daß die Vorschrift des § 17 Abs. 5 AtomG mit der des § 18 Abs. 2 Nr. 3 AtomG tatbestandlich übereinstimme, ist jedoch nicht haltbar. Hiergegen spricht zum einen der eindeutig divergierende Wortlaut beider Bestimmungen. Zum anderen leuchtet nicht ein, die ersichtlich vom Schutzzweck des § 1 Nr. 2 AtomG geprägte, verfassungsgebotene Widerrufspflicht nach § 17 Abs. 5 AtomG durch eine Verknüpfung mit dem Entschädigungsausschluß nach § 18 Abs. 2 Nr. 3 AtomG in ihrem Anwendungsbereich zu reduzieren. Auch dann, wenn zwar noch nicht die Strahlenbelastung durch den Betrieb einer einzelnen Anlage, wohl aber die Summe mehrerer Strahlenquellen eine Gesundheits- oder Lebensgefahr bedeuten, muß zum Schutze von Leben und körperlicher Unversehrtheit ein Widerruf möglich sein. Auch ohne die ausdrückliche Hervorhebung der "in der genehmigten Anlage oder Tätigkeit begründeten" erheblichen Gefährdung setzt der Widerruf nach § 17 Abs. 5 AtomG voraus, daß die genehmigte Anlage oder Tätigkeit für die Gefährdung zumindest mitursächlich sein muß. 16 Daß beispielsweise konstruktionsbedingte Sicherheitsdefizite der Reaktorbaureihe des Tschernobyl-Typs dann keinen Widerruf der Genehmigungen für bundesdeutsche Kernkraftwerke rechtfertigen können, wenn ein solcher Unfall wegen der Konstruktionsunterschiede für deutsche Anlagen auszuschließen ist, dürfte kaum bezweifelt werden. Gibt es jedoch Parallelen und läßt ein Unfall auch auf Sicherheitsdefizite in anderen Anlagen schließen, dann kommt ein Widerruf durchaus in Betracht. Dem OVG LÜDeburg ist ferner entgegenzuhalten, daß ein Widerruf nicht erst dann "erforderlich" i.S.d. § 17 Abs. 5 AtomG ist, wenn er die Gefahr beseitigt. Vielmehr muß es für den Widerruf genügen, wenn dadurch die Gefahr meßbar reduziert werden kann. Nur dann, wenn die Hauptgefahrenquelle nicht beseitigt werden kann, der Beitrag der durch den Widerruf betroffenen Anlage die Gesamtbelastung aber praktisch nicht erhöht, wäre ein Widerruf zum Schutze von Leben und körperlicher Unversehrtheit ungeeignet. Somit bleibt festzuhalten, daß grundsätzlich auch anlagenexterne Ereignisse wie z.B. Flugzeugabstürze, Naturkatastrophen, kriegerische Einwirkungen, aber auch eine Erhöhung der Strahlenbelastung infolge eines Stör- oder Unfalls in Anlagen im In- und Ausland einen Widerruf nach § 17 Abs. 5 AtomG auslösen können. 17

16 S.U., 17

Zur Bedeutung dieses Tatbestandsmerkmals für den Wegfall der Entschädigungspflicht § 8 C. I. Desgl. Schneider, Verantwortung, S. 175.

§ 6 Widerruf nach § 17 Abs. 5 AtomG

155

III. Widerruf bei anfänglichen Gefährdungen?

Teilweise wird die Auffassung vertreten, ein Widerruf nach § 17 Abs. 5 AtomG setze voraus, daß die erhebliche Gefabrdung nachträglich eingetreten sei. 18 Dies ergebe sich aus dem Zusammenhang mit der Entschädigungsregelung des § 18 Abs. 2 Nr. 3 AtomG, die ausdrücklich nur von einer nachträglich eingetretenen Gefabrdung spreche. Trotz ihres unterschiedlichen Wortlauts würden sich beide Bestimmungen in ihren Tatbestandsvoraussetzungen decken. 19 Nach der Gegenmeinung fallen sowohl nachträglich eingetretene als auch zur Zeit der Genehmigungserteilung bereits vorhandene Gefabrdungen unter § 17 Abs. 5 AtomG.2O Gerade weil § 18 Abs. 2 Nr. 3 AtomG im Unterschied zu § 17 Abs. 5 AtomG das Erfordernis des nachträglichen Eintritts der Gefabrdung für den Wegfall der Entschädigungspflicht ausdrücklich erwähne, komme es für den Widerruf selbst nicht darauf an, ob die Gefabrdung erst nach der Genehmigungserteilung eingetreten ist oder schon vorher gegeben war. 21 Richtigerweise wird man differenzieren müssen: § 17 Abs. 5 AtomG ermächtigt ausdrücklich nur zum Widerruf, nicht aber zur Rücknahme der Genehmigung. Hierfür gilt der bereits erörterte Rücknahmetatbestand des § 17 Abs. 2 AtomG. In Anlehnung an die Terminologie der §§ 48, 49 VwVfG kommt jedoch der Widerruf nur bei rechtmäßigen Verwaltungsakten in Betracht, während bei rechtswidrigen Verwaltungsakten die Rücknahmeregelungen eingreifen. Rechtswidrig ist eine atomrechtliche Genehmigung aber nur dann, wenn sie erteilt wurde, obwohl zu diesem Zeitpunkt die Gefahr bereits bekannt oder zumindest erkennbar war. War jedoch die Gefahr zwar anfanglich gegeben, aber objektiv nicht erkennbar, dann ist die erteilte Genehmigung rechtmäßig und eine Rücknahme scheidet aus. 22 Die Widerrufsvorschriften und somit auch § 17 Abs. 5 AtomG erfassen daher anfangliche Gefabrdungen nur dann, wenn sie für die Behörde nicht erkennbar waren. Bei erkennbaren bzw. erkannten Gefahrdungen greift hingegen die Rücknahmevorschrift des § 17 Abs. 2 AtomG ein.

18

19

Wagner, DÖV 1987, 529 f. Wagner, DÖV 1987, 529.

20 Bender, DÖV 1988, 817; Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 580; Lange, NJW 1986,2463 f.; Schneider, Verantwortung, S. 175. 21 Daß der Anwendungsbereich des § 17 Abs. 5 AtornG angesichts des divergierenden Wortlauts über den des § 18 Abs. 2 Nr. 3 AtornG hinausgeht, wurde bereits dargelegt. 22 S.o., § 5 A.

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Teil 2: Der administrative Ausstieg

Somit bleibt festzuhalten, daß bei einer Gefahr für Beschäftigte, Dritte oder die Allgemeinheit die Genehmigung -

gern. § 17 Abs. 5 AtomG zu widerrufen ist, wenn sie anfänglich unerkennbar vorlag oder erst nachträglich eingetreten ist,

-

gern. § 17 Abs. 2 AtomG zurückgenommen werden kann, wenn sie bei Erteilung der Genehmigung behördlicherseits bekannt war oder hätte erkannt werden können. Allerdings wird man in diesen Fällen davon auszugehen haben, daß das Rücknahmeermessen der Behörde wegen der staatlichen Schutzpflicht für Leben und körperliche Unversehrtheit gern. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auf Null reduziert und die Rücknahme daher obligatorisch ist.

N. Änderung der Sicherheitsphilosophie als Widerrufsgrund ? Umstritten ist schließlich die Frage, ob auch eine Änderung der Sicherheitsphilosophie den Widerruf einer Genehmigung rechtfertigen kann. Im Gegensatz zu einer Änderung des Standes von Wissenschaft und Technik ändert hierbei die Behörde lediglich ihre Auffassung vom Umfang des akzeptablen Risikos und der erforderlichen Vorsorge trotz gleichbleibender naturwissenschaftlicher Erkenntnisgrundlage und ohne daß sich der Aufwand zur weiteren Risikominimierung im Zuge technischer Fortentwicklung reduziert hat. 23 Wurde früher beispielsweise die Möglichkeit eines Flugzeugabsturzes auf ein Kernkraftwerk wegen seiner geringen Eintrittswahrscheinlichkeit toleriert, so verlangen mittlerweile die RSK-Leitlinien für Druckwasserreaktoren24 Vorkehrungen gegen dieses Ereignis für die Genehmigung von Neuanlagen, obwohl sich weder die Zahl der Überflüge noch die technischen Möglichkeiten zum Schutz vor Flugzeugabstürzen wesentlich geändert haben. 25 Werden hierbei die Grenzen des Willkürverbots nicht überschritten, dann kann eine solche Änderung der Sicherheitsphilosophie der Entscheidung über die Erteilung einer Genehmigung durchaus zugrundegelegt werden. Das Vertrauen darauf, daß die Administrative eine einmal vertretene Rechtsauffassung ihren Entscheidungen auch in Zukunft stets zugrundelegen werde, wird nicht geschützt. Fraglich ist aber, ob in solchen Fällen ein Widerruf der Genehmigung von Altanlagen nach § 17 Abs. 5 AtomG möglich ist, sofern nicht gern.

23 Roßnagel, Nachträgliche Administrativmaßnahmen, S. 77. Zum Begriffsverständnis vgl. auch ders., UPR 1993,129 ff. 24 3. Ausg. v. 14. 10. 1981, Tz. 19.1. (Bundesanzeiger Nr. 69 v. 14. 4. 1982; Beilage Nr. 19/82). 25 Schneider, Verantwortung, S. 157.

§ 6 Widerruf nach § 17 Abs. 5 AtomG

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§ 17 Abs. 1 S. 3 AtomG durch nachträgliche Auflagen in angemessener Zeit Abhilfe geschaffen werden kann.

Während Veränderungen im sicherheitsrelevanten Bereich kerntechnischer Anlagen26 oder neue wissenschaftliche Erkenntnisse27 als Widerrufsgründe i.S.d. § 17 Abs. 5 AtomG allgemein anerkannt sind, steht die herrschende Meinung einer geänderten behördlichen Sicherheitsphilosophie als Grundlage für einen Widerruf ablehnend gegenüber. 28 Nach dieser Auffassung kann also, um beim eingangs gewählten Beispiel zu bleiben, das Risiko eines Flugzeugabsturzes auf ein Kernkraftwerk den Widerruf von Genehmigungen gem. § 17 Abs. 5 AtomG auch bei solchen Anlagen, die hiergegen keine Vorkehrungen treffen, nicht rechtfertigen, solange keine Veränderungen der tatsächlichen Umstände festzustellen sind. 29 Für nachträgliche Auflagen gem. § 17 Abs. 1 S. 3 AtomG läßt die überwiegende Auffassung im Schrifttum eine Änderung der Sicherheitsphilosophie bei unverändertem Erkenntnisstand allerdings genügen. 30 Aus rechtsstaatlichen Gründen wird man aber wohl eine Neubewertung des zumutbaren Risikos durch die Behörde ohne gleichzeitige Änderung des Erkenntnisstandes weder als Widerrufsgrund noch als Grund für eine nachträgliche Auflage3 ! anerkennen können, sofern sich nicht ausnahmsweise die ursprünglich vertretene Sicherheitsphilosophie im nachhinein als rechtlich un26

Etwa durch Alterungsprozesse.

Etwa hinsichtlich der Belastbarkeit vetwendeter Baumaterialien, der Häufigkeit bestimmter Störflille oder auch hinsichtlich der Gesundheitsgefahren, die von geringen Strahlenbelastungen ausgehen. 27

28 Bender, OÖV 1988, 817; BenderlSparwasser, Umweltrecht, Rn. 581; Fischerhoj, § 17 Rn. 16; Haedrich, § 17 Rn. 14b); Kloepjer, Umweltrecht, § 8 Rn. 58; Schattke, atw 1988,415; Seltner, Auflagen und Widerruf, S. 348; VGH Kassel, NVwZ 1989, 1183 [1185J; a.A. Lange, Bund-Länder-Konsens, S. 59 Fn. 19; Roßnagel JZ 1986, 717 ff.; ders., Nachträgliche Administrativrnaßnahmen, S. 77 ff.; ders., UPR 1993, 135; widerspIilchlich Schneider, Verantwortung, S. 156 bei Anm. 67 einerseits und S. 172 ff. (insbes. S. 175) andererseits. 29 Solche Veränderungen ließen sich angesichts der Abstürze von Militärflugzeugen in der Nähe von Kernkraftwerken unter teilweiser Mißachtung militärischer Sicherheitsvorschriften (s.o., § 2 B. U. 3. b» durchaus annehmen; a.A. allerdings VGH Kassel, NVwZ 1989, 1183 [1187J und VGH München, NVwZ 1991, 903 [904J. Richtigetweise wird man aber wohl nicht den Betreiber des Kernkraftwerks, sondern die Streitkräfte, in deren Verantwortungsbereich die Durchfiihrung der Übungsflüge fallen, als primären Störer und damit als Adressaten etwaiger Maßnahmen anzusehen haben. 30 Backherms, 6. Ot.AtRS, S. 177 f.; Fischerhoj, § 17 Rn. 9; Haedrich, § 17 Rn. 7d)bb); Lange, Bund-Länder-Konsens, S. 61; Papier, Genehmigung, Aufsicht, NachIilstung, S. 189 f.; Ronellenjilsch, Genehmigungsverfahren, S. 383; Schneider, Verantwortung, S. 156 f. und 181 bei Fn. 116; a.A. hingegen Richler, NachIilstung, S. 80 f.; Schattke, atw 1988, 416; Sendler, OÖV 1992, 184. 3! Auch die nachträgliche Auflage bedeutet in der Sache einen Teilwiderruf des urspIilngliehen Vetwaltungsaktes (vgl. auch Haedrich, § 17 Rn. 7d); Ronellenjilsch, Genehmigungsverfahren, S. 384; Schattke, atw 1988, 416).

158

Teil 2: Der administrative Ausstieg

haltbar erweist. Die Betreiber der Anlagen haben im Vertrauen auf den Fortbestand der ihnen erteilten Genehmigunen hohe Investitionen getätigt. Dieses Vertrauen ist bei gleichbleibender Gesetzeslage jedenfalls solange schutzwürdig , als keine neuen Erkenntnisse vorliegen, die eine andere nachträgliche Beurteilung rechtfertigen. Somit genießen die erteilten Genehmigungen Bestandsschutz vor einer nachträglichen rechtlichen Neubewertung durch die Administrative ohne Änderung der Bewertungsgrundlagen. Dies ist Ausdruck des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzips. 32 Ein wesentliches Element des Rechtsstaatsprinzips ist der Gedanke des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit. 33 Danach muß staatliches Handeln für den Betroffenen grundsätzlich vorhersehbar und berechenbar sein; er muß darauf vertrauen können, daß sein dem geltenden Recht entsprechendes Handeln von der Rechtsordnung mit allen ursprünglich damit verbundenen Rechtsfolgen anerkannt bleibt. Geschützt wird dadurch das berechtigte Interesse, daß im Vertrauen auf den Fortbestand der Rechtslage getätigte Dispositionen nicht durch nachträgliche Neubewertungen ohne Änderung des Erkenntnisstandes entwertet werden. Das Gebot der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes kommt nicht nur gegenüber dem Gesetzgeber, sondern auch gegenüber der Administrative zum Tragen. 34 Der durch einen Verwaltungsakt Begünstigte muß zwar damit rechnen, daß bei neu bekanntgewordenen Tatsachen sein Vertrauen nicht mehr uneingeschränkten Schutz verdient. Wohl aber darf er sich darauf verlassen, daß eine einmal erteilte Genehmigung bei gleichbleibender Tatsachenlage nicht nachträglich durch eine nicht zwingend gebotene geänderte Auslegung von Rechtsbegriffen modifiziert oder gar aufgehoben wird. Dies kommt auch in § 49 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwVfG als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips3s deutlich zum Ausdruck, wonach ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt nur widerrufen werden darf, "wenn die Behörde auf Grund nachträglich eingetretener Tatsachen berechtigt wäre, den Verwaltungsakt nicht zu erlassen. "36 Wegen der verfassungsrechtlichen Notwendigkeit dieser Einschränkung der Möglichkeit des Widerrufs rechtmäßiger Verwaltungsakte kann im Atornrecht nichts anderes gelten.

32 Richter, Nachrüstung, S. 58; vgl. auch unten, § 19 A. I. Ferner wird der Bestandsschutz in diesem Zusammenhang häufig mit dem Eigentumsschutz der Betreiber gern. Art. 14 Abs. 1 GG beglÜndet. Dies ist allerdings nur insoweit zutreffend, als die Anlagenbetreiber überhaupt grundrechtsfahig sind. Das ist jedoch für die meisten Kernkraftwerksbetreiber zu verneinen (i.e. siehe § 18 B. 11.). 33 BVerfGE 13, 261 [271]; 59, 128 [164]; 63, 343 [356 f.]; 67, 1 [14 f.]. 34 BVerfGE 49, 168 [185 f.]; 50, 244 [250); 59, 128 [164 ff.); 63, 215 [223 f.]; MaunzlDürig-Herzog, Art. 20 VII. Rn. 64; vgl. auch Maurer, HdBStR III, § 60 Rn. 65 ff. Zum Schutz des Vertrauens auf den Fortbestand der Gesetzes/age s.u., § 19. 3S Vgl. BVerfGE 59, 128 [166 f.). 36

Hervorhebung vom Verfasser.

§ 6 Widerruf nach § 17 Abs. 5 AtomG

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Hiergegen läßt sich nicht einwenden, daß das Vertrauen des Genehmigungsempfangers bei einer Änderung der Sicherheitsphilosophie durch die Entschädigungspflicht bei Widerruf und nachträglichen Auflagen gern. § 18 Abs. 1 und 3 AtomG hinreichend berücksichtigt werde. 37 Denn das nach dem Rechtsstaatsprinzip schutzwürdige Vertrauen bezieht sich in erster Linie auf den rechtlichen und erst nachrangig auf den wirtschaftlichen Bestand. Eine Änderung der Sicherheitsphilosophie kann daher einen Widerruf gern. § 17 Abs. 5 AtomG oder eine Teilaufllebung durch nachträgliche Auflagen gern. § 17 Abs. 1 S. 3 AtomG nicht rechtfertigen. Gestützt wird die hier vertretene Auffassung durch einen Blick auf die Entstehungsgeschichte des § 17 Abs. 1 S. 3 AtomG. In der Begründung des Regierungsentwurfs heißt es dazu: 38 "Angesichts der Tatsache, daß bei den Einrichtungen zur Kernspaltung und bei den ihr dienenden Begleitmaßnahmen noch keine abschließenden wissenschaftlichen Erkenntnisse und technischen Erfahrungen vorliegen, müssen die Genehmigungsbehörden die Möglichkeit haben, auch nachträgliche - durch die fortschreitende Entwicklung der Wissenschaft und Technik gebotene - Auflagen festzusetzen." Dies läßt erkennen, daß der Gesetzgeber eine schlichte Änderung der Rechtsmeinung der Behörde weder als Grund für eine nachträgliche Auflage noch als Widerrufsgrund zulassen wollte. Eine Änderung der Sicherheitsphilosophie kann nach alledem einen Pflichtwiderruf nach § 17 Abs. 5 AtomG nicht auslösen. B. Abhilfe durch nachträgliche Auflagen

Nach § 17 Abs. 5 AtomG darf die Genehmigung nicht widerrufen werden, wenn durch nachträgliche Auflagen gern. § 17 Abs. 1 S. 3 AtomG in angemessener Zeit Abhilfe geschaffen werden kann. Dies ist Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsprinzips, wonach dem Betroffenen bei mehreren gleich geeigneten Maßnahmen nur diejenige auferlegt werden darf, die ihn am wenigsten belastet. 39 Kann der angestrebte Schutz also in angemessener Zeit ebensogut durch nachträgliche Auflagen erreicht werden, dann kommt ein Widerruf der Genehmigung nach § 17 Abs. 5 AtomG als einschneidendere Maßnahme wegen des Übermaß verbots nicht in Betracht. 4O Bei isolierter Betrachtung des § 17 Abs. 5 AtomG scheint danach dann ein Schutzdefizit zu bestehen, wenn die Gefährdung der Beschäftigten, Dritter 37

So aber Roßnagel, JZ 1986, 720.

BT-Drs. 31759, S. 30 (Hervorhebungen vom Verfasser). Roßnagel, DVBI. 1991, 846; Schattke, atw 1988, 416; Schneider, Verantwortung, S. 175; Sellner, Auflagen und Widerruf, S. 35 \. 40 S. bereits oben (§ 5 B.) die Parallele zu § 17 Abs. 2 AtomG. 38

39

160

Teil 2: Der administrative Ausstieg

oder der Allgemeinheit innerhalb eines "angemessenen" Zeitraums durch nachträgliche Auflagen beseitigt werden kann. Da nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift in diesem Fall ein Widerruf ausscheidet, scheinen die Betroffenen hier vorübergehend - nämlich bis zum Erlaß und zur Erfüllung der Auflage - eine (erhebliche) Gefabrdung hinnehmen zu müssen. Eine solche Schutzlücke wäre aber mit der Pflicht des Staates zum Schutze des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs.2 S. 1 GG nicht zu vereinbaren. Eine Gefabrdung der Bevölkerung durch sicherheitstechnisch unzureichende kemtechnische Anlagen ist nämlich auch für einen kurzen Zeitraum nicht "angemessen" im verfassungsrechtlichen Sinne. Deshalb ist in diesen Fällen sofort und zwingend von der Möglichkeit der einstweiligen Betriebseinstellung gem. § 19 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 AtomG Gebrauch zu machen. Das Ermessen der Behörde ist hier aus verfassungsrechtlichen Gründen auf Null reduziert. 41 Eine Anwendungspraxis, die bei Behebbarkeit des Sicherheitsdefizits durch nachträgliche Auflagen "in angemessener Zeit" die Betroffenen auch nur vorübergehend einer (erheblichen) Gefabrdung durch den Weiterbetrieb der Anlage aussetzen würde, nur weil in diesem Fall ein Widerruf gem. § 17 Abs. 5 AtomG unzulässig ist, verstieße gegen Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Somit muß hier der Betrieb bis zur Erfüllung der Auflage durch den Betreiber gem. § 19 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 AtomG vorübergehend eingestellt werden. Kann der Betreiber die Auflage nicht in angemessener Zeit erfüllen, ist die Genehmigung ohnehin zu widerrufen. Wie dieser Zeitraum zu bemessen ist, ist eine Frage des Einzelfalls. Rierbe sind vor allem die laufenden Unterhaltskosten zu berücksichtigen, die für den Betreiber auch während der vorübergehenden Betriebseinstellung anfallen. Steht fest, daß der Zeitraum bis zur Nachrüstung der Anlage so lang ist, daß ein späterer Weiterbetrieb für den Betreiber angesichts der auflaufenden Kosten unwirtschaftlich wäre, dann ist davon auszugehen, daß keine Abhilfemöglichkeit innerhalb eines angemessenen Zeitraums LS.d. § 17 Abs. 5 AtomG besteht. Im übrigen gilt für die nachträgliche Auflage, wie bereits ausgefübrt42 , daß sie ihrerseits verhältnismäßig sein muß. Ist beispielsweise die Nachrüstung der Anlage technisch so aufwendig, daß sie dem Betreiber aus Kostengründen nicht zugemutet werden kann, bleibt allein der Widerruf nach § 17 Abs. 5 AtomG.

41 Eine Ennessensschrumpfung bejaht auch Schneider, Verantwortung, S. 187; ferner OVG Lüneburg, UPR 1987,153 [154]- Krümmel; VGH Kassel, NVwZ 1989,1183 [1183]- Biblis. 42 S.o., § 5 B.

§ 7 Widerruf von Genehmigungen nach § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG

Nach § 17 Abs. 3 Nr.2 AtomG kann eine atomrechtliche Genehmigung widerrufen werden, wenn eine ihrer Voraussetzungen später weggefallen ist und nicht in angemessener Zeit Abhilfe geschaffen wird. Bei Vorliegen dieser Tatbestandsvoraussetzungen hat die Behörde also grundsätzlich ein Ermessen, weshalb die Frage des Einschreitens stets unter dem Gesichtspunkt des Übermaßverbots zu betrachten ist. Von der Rücknahmemöglichkeit nach § 17 Abs.2 AtomG unterscheidet sich der Widerruf gem. § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG dadurch, daß beim Widerruf die erteilte Genehmigung ursprünglich rechtmäßig war und der Authebungsgrund erst nachträglich eingetreten ist. Hierzu zählen auch nachträglich erkannte Mängel wie z. B. Materialfehler, die zwar ex post betrachtet von Anfang an vorlagen, die aber im Zeitpunkt der Genehmigungserteilung mangels entsprechender Erkenntnismöglichkeiten nicht feststellbar waren. Hat die Behörde hingegen ihre Erkenntnismöglichkeiten nicht hinreichend ausgeschöpft, so war die erteilte Genehmigung anfanglich rechtswidrig und fällt damit unter die Rücknahmevorschrift des § 17 Abs. 2 AtomG. 1 Gegenüber dem Pflichtwiderruf gem. § 17 Abs. 5 AtomG ist der fakultative Widerruf nach § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG subsidiär. 2 In den Fällen, in denen eine Gefahr für die Beschäftigten, Dritte oder die Allgemeinheit auftritt, sind zwar gleichzeitig auch die Genehmigungsvoraussetzungen nachträglich weggefallen. Für ein Ermessen der Behörde ist jedoch hier wegen der staatlichen Pflicht zum Schutze von Leben und körperlicher Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG kein Raum mehr; vielmehr muß die Behörde hier einschreiten und die Gefahr durch Widerruf der Genehmigung gem. § 17 Abs. 5 AtomG beseitigen, sofern nicht durch nachträgliche Auflagen nach § 17 Abs. 1 S. 3 AtomG Abhilfe geschaffen werden kann. § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG bleibt hingegen anwendbar im Bereich der Risikominimierung und bei Wegfall sonstiger Genehmigungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 2 AtomG.

2

S.o., § 5 A. und § 6 A. ill. S.o., § 6 vor A.

11 Borgmann

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Teil 2: Der administrative Ausstieg

A. WegfaU der Genehmigungsvoraussetzungen

Wie bei der Genehmigungsrücknahme gem. § 17 Abs. 2 AtomG ist auch beim Widerruf nach § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG umstritten, ob nur die tatbestandlichen Genehmigungsvoraussetzungen des § 7 Abs.2 AtomG zum Widerruf berechtigen oder ob der Widerruf auch auf den Wegfall von Umständen gestützt werden kann, die die Behörde im Rahmen ihres Ermessens berücksichtigt hat. 3 Den Vetretem der erstgenannten Ansicht zufolge dürften Entsorgungsengpässe von der Widerrufsmöglichkeit des § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG nicht erfaßt werden, weil nach herrschender Meinung die Entsorgungsfrage bei § 7 Abs. 2 AtomG nur im Rahmen des Versagungsermessens zu berücksichtigen ist. 4 Eine behördliche Reaktion auf etwaige Entsorgungsengpässe bei einzelnen Kernkraftwerken ist daher nach dieser Auffassung ausgeschlossen. Dies kann jedoch angesichts der staatlichen Pflicht zum Schutze von Leben und körperlicher Unversebrtbeit gem. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht richtig sein. Hat die Behörde bei der Genehmigungserteilung dem Antragsteller ermessensfehlerfrei die Erfüllung bestimmter Entsorgungspflichten auferlegt und stellt sich später heraus, daß diese Pflichten nicht erfüllt werden bzw. nicht erfüllbar sind, dann muß die Behörde einschreiten können - notfalls im Wege des Widerrufs gem. § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG. Auch ein Vergleich mit § 49 Abs.2 Nr. 3 VwVfG als Grundnorm für den Widerruf rechtmäßiger Verwaltungsakte zeigt, daß ein Verwaltungsakt widerrufen werden kann, wenn die Behörde auf Grund nachträglich eingetretener Tatsachen berechtigt wäre, den Verwaltungsakt nicht zu erlassen. Hierbei kommt es nach herrschender Meinung nicht darauf an, ob es sich um tatbestands- oder ermessensrelevante Tatsachen handelt. 5 Eine bloße Änderung der Sicherheitspbilosopbie stellt allerdings keinen Grund zum Genehmigungswiderruf nach § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG dar. 6 Wie bn letzteren Sinne lAnge, NJW 1986, 2463; ders., Bund-Länder-Konsens, S. 55; Roßnagel, DVBI. 1991, 846; ders., Nachträgliche Administrativmaßnahmen, S. 73; a.A. Bender, DÖV 1988,816; Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rnrn. 568, 578; Sellner, Auflagen und Widerruf, S. 346; s. bereits oben, § 5 A. 4 Außerdem ist nach der Auffassung Sellners (Auflagen und Widerruf, S. 346) und Benders (DÖV 1988, 816) die Minimierung des Restrisikos aus dem Anwendungsbereich des § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG ausgeklammert. Dies ist jedoch schon deshalb abzulehnen, weil es sich bei dem Restrisiko nicht um einen eigenständigen, dem Versagungsermessen des § 7 Abs. 2 AtomG zuzurechnenden Bereich der Schadensvorsorge handelt (so aber Bender und Sellner, a.a.O.), sondern die Risikovorsorge insgesamt auf der Tarbesrandsseile des § 7 Abs. 2 AtomG zu berucksichtigen ist (BVerwGE 72, 300 [Ls. 4 und S. 315 f.]; s.o., § 4 B.).

Darauf weist auch Lange hin (NJW 1986, 2463 und Bund-Länder-Konsens, S. 55 f.). Desgl. SendJer, DÖV 1992, 184; Wagner, NVwZ 1993, 515; im Ergebnis ebenso Lange, Bund-Länder-Konsens, S. 56 f.

§ 7 Widerruf nach § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG

163

bereits ausgeführt?, scheidet eine Neubewertung des zumutbaren Restrisikos durch die Behörde ohne Veränderung der tatsächlichen Umstände aus Gründen des rechtsstaatlich gebotenen Bestandsschutzes als Widerrufsgrund aus. Zusammenfassend ist daher festzuhalten, daß es für den fakultativen Widerruf nach § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG bei späterem Wegfall der Genehmigungsvoraussetzungen keine Rolle spielt, ob die neu bekanntgewordenen Tatsachen bei der Genehmigungserteilung als Tatbestandsmerkmal oder bei der Ermessensausübung zu prüfen waren. B. Keine Abhilfe in angemessener Zeit

Der Widerruf muß allerdings unterbleiben, wenn in angemessener Zeit Abhilfe geschaffen und die Genehmigungsvoraussetzung damit erfüllt wird. Es widerspräche dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, die Genehmigung gleichwohl zu widerrufen. Die Behörde muß also zunächst versuchen, die Erfüllung der Genehmigungsvoraussetzungen auf dem Wege einer Verpflichtungserklärung durch den Betreiber, durch nachträgliche Auflagen gem. § 17 Abs. 1 S. 3 AtomG oder durch aufsichtliche Maßnahmen gem. § 19 AtomG zu erreichen. Erst wenn dies binnen angemessener Zeit nicht möglich ist oder von vornherein feststeht, daß die Genehmigungsvoraussetzungen nicht mehr erfüllt werden können, ist der Widerruf gem. § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG zulässig. Falls eine nachträgliche Auflage vom Anlagenbetreiber nicht eingehalten wird, kann die Genehmigung gem. § 17 Abs. 3 Nr. 3 AtomG widerrufen werden. C. EinzelfäUe

Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit Engpässe bei der Entsorgung radioaktiver Abfälle oder die fehlende energiewirtschaftliche Notwendigkeit des Weiterbetriebs einzelner Kernkraftwerke als Widerrufsgründe i.S.d. § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG in Betracht kommen.

I. Entsorgungsengpässe als Widerrujsgrund?

Nach ganz herrschender Meinung ist die Frage der Gewährleistung einer sicheren Entsorgung der Kernkraftwerke bei der Genehmigungserteilung nach

7

S.o., § 6 A. IV.

164

Teil 2: Der administrative Ausstieg

§ 7 Abs. 2 AtomG zu berücksichtigen. 8 Streitig ist lediglich, ob der Entsorgungsvorsorgenachweis ein Ermessensgesichtspunkt9 oder aber tatbestandliehe Genehmigungsvoraussetzung lO ist. Da jedoch - wie soeben dargelegt - in beiden Fällen ein Widerruf der Genehmigung nach § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG in Betracht kommt, spielt der Streit für die folgende Erörterung keine Rolle. In der Praxis werden jedenfalls atomrechtliche Genehmigungen nach § 7 AtomG nur erteilt, wenn gewährleistet ist, daß der Genehmigungsempfanger die Entsorgungspflichten aus § 9a AtomG (schadlose Verwertung oder geordnete Beseitigung der radioaktiven Reststoffe) erfüllt. Dabei wird verlangt, daß bei Errichtung und Inbetriebnahme der Anlage sowie fortlaufend während des weiteren Betriebs hinreichend Aussicht dafür besteht, daß die notwendigen Einrichtungen für die Verwertung und die Beseitigung radioaktiver Reststoffe und Abfälle betriebsbereit sind. Die Erteilung einer Genehmigung nach § 7 AtomG unter Außerachtlassung der Entsorgungsfrage wäre ermessensfehlerhaft und daher gegebenenfalls im gerichtlichen Verfahren gem. § 114 VwGO aufzuheben. II

Konkretisiert werden die Entsorgungspflichten durch die vom Bund-LänderAusschuß für Atomkernenergie beschlossenen 'Grundsätze zur Entsorgungsvorsorge für Kernkraftwerke' Y Diese sollen "den bundeseinheitlichen Vollzug des § 9a Abs. 1 AtomG im Rahmen der Ermessensausübung nach § 7 Abs. 2 in Verbindung mit § 1 Nr. 2 AtomG sicherstellen und den Antragstellern und Genehmigungsinhabern verdeutlichen, welche verfahrensbegleitenden Konkretisierungen notwendig sind. "13 Unter Entsorgung im Sinne der Entsorgungsvorsorgegrundsätze ist "die sachgerechte und sichere Verbringung der während der gesamten Betriebszeit der Anlage anfallenden bestrahlten A.A. soweit ersichtlich nur Roneltenjirsch, Genehmigungsverfahren, S. 262 f. So zu Recht die überwiegende Literatunneinung und Staatspraxis; vgl. dazu Abschn. I. 3.1. der Grundsätze zur Entsorgungsvorsorge für Kernkraftwerke v. 19. 3. 1980, Bundesanzeiger Nr. 58 v. 22. 3. 1980 (abgedruckt auch in BT-Drs. 11/1632, S. 23 ff.); ferner BenderiSparwasser, Umweltrecht, Rn. 522; Fischerhof, § 7 Rn. 17, 25; Greipl, DVBI. 1992, 600 Fn. 32; Haedrich, § 9a Rn. 52 ff.; Kloepfer, Umweltrecht, § 8 Rn. 26, 37 u. 64; Ossenbühl, et 1983, 674; Papier, Genehmigung, Aufsicht, Nachrüstung, S. l31; Seltner, Atom- und Strahlenschutzrecht, S. 396; Thiel, Entsorgung, S. 80 ff.; Wolf, ZUR 1993, 13; differenzierend Degenhan, Kernenergierecht, S. 39 ff. [44 f.] und ders., et 1989, 758. 10 Hofmann, Entsorgung, S. 195; Lange, Bund-Länder-Konsens, S. 55; Roßnagel, Grundrechte, S. 98 ff.; Sreinberg, Schadensvorsorge, S.65. Auch § 7 Abs.2 Nr.3a des Referentenentwurfs v. 21. 12. 1992 erhebt den Entsorgungsvorsorgenachweis unter Streichung des Versagungsennessens zur tatbestandlichen Genehmigungsvoraussetzung (in diesem Sinne bereits Papier, Genehmigung, Aufsicht, Nachrüstung, S. 132; Rengeling, Entsorgung, S. 337 ff.; Töpfer, 9. Dt.AtRS, S. 21). II Thiel, Entsorgung, S. 86. 12 In der Bekanntmachung vom 19. 3. 1980, Bundesanzeiger Nr. 58 v. 22. 3. 1980 (vgl. auch BT-Drs. 11/1632, S. 21 ff.). Hierdurch wurden die Entsorgungsvorsorgegrundsätze vom 6. 5. 1977 (vgl. BT-Drs. 8/1281, S. 9 ff.) abgelöst. I3 Abschn. I. 3.1 und 3.2 der Entsorgungsvorsorgegrundsätze v. 19. 3. 1980.

§ 7 Widerruf nach § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG

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Brennelemente in ein für diesen Zweck geeignetes Lager mit dem Ziel ihrer

Verwertung durch Wiederaufarbeitung oder ihrer Behandlung zur Endlagerung ohne Wiederaufarbeitung und die Behandlung und Beseitigung der hierbei erhaltenen radioaktiven Abfälle"14 zu verstehen. "Für die Entsorgung eines Kernkraftwerkes ist vom Antragsteller und Betreiber rechtzeitig ausreichende Vorsorge zu treffen und nachzuweisen. "15

Der Bundesminister des Innern hat die Länder gebeten, die Entsorgungsvorsorgegrundsätze als Mindestvoraussetzungen hinsichtlich der Entsorgung in Genehmigungsverfahren anzuwenden. 16 Die Entsorgungsvorsorgegrundsätze gehen damit vom Prinzip der Verknüpfung der Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb von Kernkraftwerken mit dem Nachweis einer gesicherten Entsorgung aus. Dementsprechend beziehen sich die Genehmigungsbehörden in den seit dem 6. 5. 1977 erteilten Genehmigungen auf die Entsorgungsvorsorgegrundsätze. 17 Danach kann die Genehmigungsbehörde den Fortbestand der Genehmigung von Fortschritten in der Entsorgung abhängig machen und in ihre Entscheidung von vornherein entsprechende Vorbehalte aufnehmen. 18 In der Praxis kann diese Verknüpfung zwar nicht durch Erteilung der Genehmigung unter der Bedingung erreicht werden, daß die Entsorgungsvorsorge kontinuierlich fortentwickelt werde I9, da die Nebenbestimmungen einer atomrechtlichen Genehmigung nach § 7 AtomG in § 17 Abs. 1 S.2 bsi 4 AtomG abschließend aufgezählt sind die Genehmigung somit nach herrschender Meinung bedingungs feindlich ist. 20 Wohl aber kann die Entsorgungsvorsorge Gegenstand von Auflagen i.S.d. § 17 Abs. 1 S. 2 AtomG sein21 , wonach der Genehmigungsadressat fortlaufend den Nachweis zu erbringen hat, daß die Entsorgung der beim Betrieb der genehmigten Anlage anfallenden radioaktiven Reststoffe den Entsorgungsvorsorgegrundsätzen entsprechend gesichert sei. Dies ist in der Tat gängige Staatspraxis im Rahmen der Genehmigungsverfahren seit 1977. 14 Abschn. U. 1.1 der Entsorgungsvorsorgegrundsätze v. 19. 3. 1980 (Hervorhebungen vom Verfasser). 15 Abschn. I. 1.2 S. 1 der Entsorgungsvorsorgegrundsätze v. 19. 3. 1980. 16 Vgl. BT-Drs. 811281, S. 4 und 9 für die Entsorgungsvorsorgegrundsätze v. 6. 5. 1977; Schreiben des Bundesinnenministers v. 2. 4. 1980 für die Entsorgungsvorsorgegrundsätze v. 19. 3. 1980 (Nachweis bei Lange, Entsorgungsvorsorgegrundsätze, S. 27). 17 Vgl. Roßnagel/GündJing, Wiederaufarbeitung, S. 151 sowie Roßnagel, DVBl. 1991, 846. 18 Degenhan, et 1989, 758.

19

So aber Roßnagel, DVBl. 1991, 846.

Haedrich, § 17 Rn. 5; Papier, Genehmigung, Aufsicht, Nachrustung, S. 146; vgl. auch die amtl. Begrundung in BT-Drs. 3/759, S. 30. 21 So auch Birkle, Entsorgung, S. 99; Ossenbühl, Novellierung, S. 66; Papier, Genehmigung, Aufsicht, Nach1iistung, S. 131. 20

Teil 2: Der administrative Ausstieg

166

Im eiozlMnen unterscheiden die Entsorgungsvorsorgegrundsätze zwischen Vorhaben, für die am 19. 3. 1980 noch keine atomrechtliche Genehmigung erteilt war, am 19. 3. 1980 in der Errichtung befindlichen Kernkraftwerken und am 19. 3. 1980 in Betrieb befindlichen Kernkraftwerken. Unter anderem treffen die Entsorgungsvorsorgegrundsätze folgende Festlegungen:

Vorhaben, für die am 19. 3. 1980 noch keine atomrechtliche Genehmigung erteilt war (Abschn. 11. 2.): 2.2.

Im Laufe der Errichtung des Kernkraftwerks ist der Nachweis der Entsorgungsvorsorge zu detaillieren und insbesondere durch Abschluß entsprechender Verträge zunehmend zu konkretisieren. Die Genehmigungsbehörde bestimmt das Nähere im Zusammenhang mit weiteren Teilgenehmigungen.

2.2.1

Der Nachweis der Entsorgungsvorsorge ist zu konkretisieren a) durch Anpassung der Vorsorge an die Fortschritte bei der Verwirklichung des integrierten Entsorgungskonzepts nach Maßgabe des Beschlusses der Regierungschefs von Bund und Ländern vom 28. September 1979 (Anhang II), [Auszug aus Anhang U: 7. Die oberirdischen Fabrikationsanlagen rur die eine oder andere Entsorgungstechnik sowie die Anlagen des Bundes zur Sicherstellung und Endlagerung der radioaktiven Abfälle werden spätestens zum Ende der 90er I ahre betriebsbereit gemacht. 8. Es besteht Einvernehmen, daß rur eine Übergangszeit die Zwischenlagerungsmöglichkeiten ausgebaut werden müssen. Die Regierungschefs von Bund und Ländern ... stimmen überein, daß die Errichtung weiterer externer Zwischenlager im Laufe der 90er lahre notwendig werden kann; sie werden dann alles tun, um die Errichtung weiterer Zwischenlager zu gewährleisten. Ende des Auszugs aus Anhang

m

oder b) durch Vorlage von Verträgen mit ausreichend ausgerüsteten Vertragspartnern mit der Verpflichtung zur endgültigen Übernahme der bestrahlten Brennelemente oder zur Wiederaufarbeitung im Ausland mit der Verpflichtung, die erzeugten radioaktiven Abfälle, sofern sie in die Bundesrepublik Deutschland zurückgeliefert werden sollen, erst zu einem Zeitpunkt zurückzuliefern, zu dem ihre sichere Behandlung und Beseitigung gesichert ist, oder c) durch eine vergleichbare andere Lösung. 2.2.2

Spätestens vor der 1. Teilbetriebsgenehmigung ist der Nachweis zu erbringen, daß ab Inbetriebnahme des Kernkraftwerks rur einen Betriebszeitraum von sechs lahren im voraus der sichere Verbleib der bestrahlten Brennelemente durch zugelassene

§ 7 Widerruf nach § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG

167

Einrichtungen des Betreibers oder durch bindende Verträge sichergestellt ist. Dieser Nachweis ist während der Betriebsdauer der Anlage fortzuschreiben. Die Fortschreibung dieses Nachweises muß alle drei Jahre geschehen. 22

Vorhaben, die am 19. 3. 1980 bereits in der Errichtung befindlich waren (Abschn. 11. 3.): Für Kernkraftwerke, rur die eine I. Teilerrichtungsgenehmigung vorliegt, jedoch noch keine I. Teilbetriebsgenehmigung erteilt ist, ist der Nachweis ausreichender Entsorgungsvorsorge in sinngemäßer Anwendung von Nummern 2.1 und 2.223 zu erbringen.

Nachweis der Entsorgungsvorsorge für am 19. 3. 1980 bereits in Betrieb befindliche Kernkraftwerke (Abschn. 11. 4.): Für Kernkraftwerke, rur die eine Betriebsgenehmigung bereits erteilt ist, ist der Nachweis ausreichender Entsorgungsvorsorge in sinngemäßer Anwendung von Nummer 2.2.224 zu erbringen.

Aber auch Altanlagen werden von den Entsorgungsvorsorgegrundsätzen in vollem Umfang erfaßt. Dies ergibt sich aus Abschn. 11. 4. der Entsorgungsvorsorgegrundsätze vom 6. Mai 1977: 25 4.

Nachweis der Entsorgungsvorsorge rur in Betrieb befindliche Kernkraftwerke. Für Kernkraftwerke, die bereits eine Betriebsgenehmigung mit Bestandsschutz in den Grenzen der §§ 17, 18 AtomG besitzen, ergeht sofort gemäß § 17 Abs. I Satz 3 AtomG die nachträgliche Auflage, den Nachweis ausreichender Entsorgungsvorsorge in sinngemäßer Anwendung von 2.2. bis zu einem festzulegenden Zeitpunkt, spätestens jedoch, wenn die Kapazität der zugelassenen Lagerbecken im Reaktorgebäude unter Berücksichtigung der Reserve nach 2.1. erschöpft ist, zu erbringen. Dabei ist auf die Rechtsfolgen des § 17 Abs.426 Nr.2 und Absatz 5 AtomG hinzuweisen. 2.2.

2.2.1

Laufe der Errichtung des Kernkraftwerks ist der Nachweis der Entsorgungsvorsorge zu detaillieren und insbesondere durch Abschluß entsprechender Verträge zunehmend zu konkretisieren. Die Genehmigungsbehörde bestimmt das Nähere im Zusammenhang mit weiteren Teilgenehmigungen. Im

Der Nachweis der Entsorgungsvorsorge ist zu konkretisieren a) durch Anpassung der Vorsorge an die Fortschritte bei der Verwirklichung des Entsorgungszentrums in der Bundesrepublik Deutschland, b) oder durch Vorlage von Verträgen mit ausreichend ausgerüsteten Vertragspartnern mit der Verpflichtung

22 Übereinkunft des Bund-Länder-Ausschusses rur Atomkernenergie über die Durchfiihrung von Abschn. 11. 2.2.2, mitgeteilt in der Bekanntmachung der Entsorgungsvorsorgegrundsätze v. 19. 3. 1980 (vgl. BT-Drs. ll/1632, S. 23). 23 S.o. 24 S.o. 25

26

BT-Drs. 8/1281, S. 9 ff. Richtigerweise wohl Abs. 3.

Teil 2: Der administrative Ausstieg

168

zur endgültigen Übernahme der abgebrannten Brennelemente oder zur Wiederaufarbeitung im Ausland mit der Verpflichtung, die erzeugten radioaktiven Abfälle, sofern sie in die BundesrepubIik Deutschland zulÜckgeliefert werden sollen, erst zu einem Zeitpunkt zulÜckzuliefern, zu dem ihre sichere Behandlung und Beseitigung gesichert ist, c) oder durch eine vergleichbare andere Lösung. 2.2.2

Spätestens vor der I. Teilbetriebsgenehmigung ist der Nachweis zu erbringen, daß ab Inbetriebnahme des Kernkraftwerks für einen Betriebszeitraum von sechs Jahren im voraus der sichere Verbleib der bestrahlten Brennelemente durch zugelassene Einrichtungen des Betreibers oder durch bindende Verträge sichergestellt ist. Dieser Nachweis ist während der Betriebsdauer der Anlage fortzuschreiben.

Inländische Entsorgungseinrichtungen stehen zur Zeit nur in begrenztem Umfang zur Verfügung. Das Projekt der Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersorf wurde aufgegeben, die MOX-Fertigungsanlagen in Ranau liegen still und die Inbetriebnahme der Endlager Gorleben und Konrad ist in weite Ferne gerückt. 27 Auch die direkte Endlagerung von Brennelementen ist derzeit noch nicht durchführbar. Immerhin steht seit der Wiedervereinigung mit dem Endlager Morsleben eine Lagerstätte für schwach- bis mittelaktive Abfalle zur Verfügung, allerdings vorerst befristet bis zum 30. 6. 2000. Außerdem hat es wegen der in den Endlagerungsbedingungen festgelegten Begrenzungen für Alpha-Strahler nur eine vernachlässigbare Bedeutung für die Endlagerung der aus dem Ausland zurückzunehmenden Wiederaufarbeitungsabfalle. 28 Zunehmend knapp werden auch die Aufnahmekapazitäten der inländischen Zwischenlager, und zwar insbesondere für hochaktive, wärmeentwickelnde Abfalle. 29 Der Nachweis der gesicherten Entsorgung kann daher bislang nicht durch inländische Entsorgungseinrichtungen erbracht werden und wird dementsprechend für sämtliche Atomkraftwerke in den alten Ländern der Bundesrepublik zur Zeit ausschließlich über die Wiederaufarbeitungsverträge mit COGEMA und BNFL geführt. 3O Allerdings ist durch diese Verträge nur die Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente langfristig gesichert. Die hierbei anfallenden radioaktiven Abfälle hingegen müssen von den Energieversorgungsunternehmen ab 1994 bzw. 1997 zurückgenommen werden. 31 Einem Aufschub dieses Rücknahmetermins steht das französische Gesetz zur Erforschung der 27 Der von den Regierungschefs von Bund und Ländern im Beschluß vom 28. 9. 1979 avisierte Zeitpunkt ("spätestens zum Ende der 90er Jahre", s.o.) läßt sich keinesfalls mehr einhalten. 28 Wamecke, Endlagerung, S. 115. 29

S.o., § 2 C. ß. 2. b).

Wamecke, et 1993, 90; Bundesregierung, Entsorgungssituation abgebrannter Brennelemente aus deutschen Atomkraftwerken, BT-Drs. 121719, S. 1 (Frage 1) und S. 6 (dort aufgeschlüsselt nach den einzelnen Kernkraftwerken mit Leichtwasserreaktoren, Stand 31. 12. 1990). 31 S.o., § 2 C. ß. I. b). 30

§ 7 Widerruf nach § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG

169

Entsorgung radioaktiver Abfalle vom 30. 12. 1991 entgegen: Nach Art. 3 dieses Gesetzes dürfen radioaktive Abfalle ausländischen Ursprungs - auch wenn sie aus der Wiederaufarbeitung in Frankreich stammen - nicht länger in Frankreich gelagert werden, als dies aus technischen Gründen der Wiederaufarbeitung zwingend erforderlich ist. 32 Die Entsorgung radioaktiver Abfalle könnte daher in naher Zukunft an die Grenzen der inländischen Zwischen- und Endlagerkapazitäten stoßen: "Fortschritte bei der Verwirklichung des integrierten Entsorgungskonzepts nach Maßgabe des Beschlusses der Regierungschefs von Bund und Ländern vom 28. September 1979"33 sind nicht ersichtlich. Vielmehr ist mit der Inbetriebnahme eines Endlagers für hochradioaktive Abfalle nicht bis "spätestens zum Ende der 90er Jahre"34, sondern frühestens im Jahre 2010 zu rechnen. Mittlerweile wird sogar darüber nachgedacht, ob von Gorleben als Endlagerstandort nicht Abstand genommen werden soll.35 Auch die bisher genehmigten Zwischenlagerkapazitäten für hochradioaktive Abfalle reichen zur Aufnahme der bis zum Jahre 2000 anfallenden Abfallmenge nicht aus. Auch konnten die Kernkraftwerksbetreiber bislang weder "Verträge mit ausreichend ausgerüsteten Vertragspartnern mit der Verpflichtung zur endgültigen Übernahme der bestrahlten Brennelemente"36 vorlegen noch "zur Wiederaufarbeitung im Ausland mit der Verpflichtung, die erzeugten radioaktiven Abfalle, sofern sie in die Bundesrepublik zurückgeliefert werden sollen, erst zu einem Zeitpunkt zurückzuliejem, in

dem ihre sichere Behandlung und Beseitigung gesichert ist. "37

Schließlich ist auch keine "vergleichbare andere Lösung"38 in Sicht. Vergleichbar in diesem Sinne wäre nämlich nur eine Lösung, die eine Per32 Loi n° 91-1381 du 30 decembre 1991, Art. 3: Le stockage en France de dechets radioactifs importes, meme si leur retraitement a ete effectue sur le territoire national, est interdit au-dela des delais techniques imposes par le retraitement. (RecueiI Dalloz Sirey 1992, se Cahier - Ugislation, p. 70); dazu auch Dibben/Passig, Entsorgung, S. 50; Janberg/Schlesinger/Weh, Wiederaufarbeitungsverträge, S. 103. 33 Abschn. ß. 2.2. La) der Entsorgungsvorsorgegrundsätzev. 19.3.1980. 34 Ziff. 7 des Beschlusses der Regierungschefs von Bund und Ländern v. 28. 9. 1979, s.o. 35 So der Vorstandsvorsitzende der RWE-AG, Friedhelm Gieske, und der mittleIWeile verstorbene Vorstandsvorsitzende der VEBA-AG, Klaus Piltz, in ihrem Schreiben an den Bundeskanzlerv. 23. 11. 1992 (vgl. SZ v. 5.16. 12. 1992, S. 2). 36 Abschn. ß. 2.2.l.b) 1. Spstr. der Entsorgungsvorsorgegrundsätze v. 19. 3. 1980 (Hervorhebung vom Verfasser). 37 Abschn. ß. 2.2.1.b) 2. Spstr. der Entsorgungsvorsorgegrundsätze v. 19. 3. 1980 (Hervorhebung vom Verfasser). 38 Abschn. ß. 2.2.1.c) der Entsorgungsvorsorgegrundsätze v. 19. 3. 1980.

170

Teil 2: Der administrative Ausstieg

spektive für einen endgültigen Weg aus dem Entsorgungsnotstand im Sinne einer schadlosen Beseitigung der radioaktiven Reststoffe erkennen ließe. Gerade für die Endlagerung hochradioaktiver Abfälle zeichnet sich jedoch weltweit keine Lösung ab: In keinem Staat, in dem die Atomenergie zur Stromerzeugung genutzt wird, wird noch in diesem Jahrtausend ein solches Endlager zur Verfügung stehen. Die teilweise erwogene Endlagerung in hochverschuldeten Ländern wie z.B. den Mitgliedsstaaten der GUS ist angesichts des dortigen sorglosen Umgangs mit radioaktiven Abfällen39 keine Lösung, die mit derjenigen vergleichbar ist, die dem Beschluß der Regierungschefs von Bund und Ländern vom 28. September 1979 zugrundeliegt. Ist jedoch die schadlose Entsorgung der radioaktiven Reststoffe infolge des Wegfalls erwarteter Entsorgungsmöglichkeiten nicht mehr hinreichend gewährleistet, so impliziert dies notwendig eine grundsätzliche Neubewertung der Kernenergienutzung. Neue Genehmigungen gern. § 7 AtomG dürften ·in diesem Falle nicht mehr erteilt werden, die Genehmigungen für bestehende Anlagen wären nach § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG bzw. bei Vorliegen einer Gefahr nach § 17 Abs. 5 AtomG zu widerrufen, sofern nicht durch nachträgliche Auflagen Abhilfe geschaffen werden kann. 4O Auch in den nachträglichen Auflagen zu den Genehmigungen für Altanlagen, in denen die Genehmigungsinhaber verpflichtet wurden, den Nachweis ausreichender Entsorgungsvorsorge entsprechend den Entsorgungsvorsorgegrundsätzen zu erbringen, wurde auf die Rechtsfolgen des § 17 Abs. 3 Nr. 2 und Abs. 5 AtomG hingewiesen. 41 Dabei spielt es keine Rolle, aus welchen Gründen die Entsorgungspflicht nicht erfüllt werden kann, so daß auch die ablehnende Haltung von Landesbehörden gegenüber einzelnen Entsorgungseinrichtungen einen Widerruf nicht grundsätzlich ausschließt. 42 Zwar könnte dem Widerruf das Verbot des venire contra factum proprium bei der Ermessensausübung nach dem auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben43 entgegenstehen. 44 Dies würde allerdings voraussetzen, daß die Herbeiführung eines Widerrufsgrundes für Anlagengenehmigungen LS.v. § 7 AtomG alleiniger Beweggrund für die Blockadehaltung gegenüber der Entsorgungsanlage wäre. 39

S.o., § 2 C. ill., Fn. 343.

Degenhart, et 1989, 758; Ladeur, UPR 1989, 242; Lange, NJW 1986, 2462 f.; ders., Bund-Länder-Konsens, S. 55; Roßnagel, DVBl. 1991, 846; ders., Nachträgliche Administrativmaßnahmen, S. 73; SendJer, DÖV 1992, 187 f.; Thiel, Entsorgung, S. 89; VGH Kassel, NVwZ 1989, 1183 [1188 f.]. 40

41 Abschn. D. ZitT.4 der Entsorgungsvorsorgegrundsätze v. 6. 5. 1977 (BT-Drs. 8/1281, S. 10; s.o.). 42 In diesem Sinne auch SendJer, DÖV 1992, 187 f. 43 Vgl. nur WolfflBachoj, Verwaltungsrecht I, § 41 I c) 2. 44 Diesen Gedanken läßt auch Sreinberg, JZ 1991, 434, anklingen.

§ 7 Widerruf nach § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG

171

Es läßt sich jedoch "nicht ausschließen und nicht einfach widerlegen, daß echte Sorge um die Geeignetheit und Sicherheit einer Entsorgungsanlage bei dem Widerstand die Feder führt. "45 Im Ergebnis ist daher festzuhalten, daß der Widerruf atomrechtlicher Genehmigungen gern. § 17 Abs. 3 Nr.2 AtomG durchaus naheliegt, wenn die sichere Entsorgung der radioaktiven Reststoffe, die beim Betrieb der jeweiligen Anlage anfallen, nicht mehr hinreichend gewährleistet ist.

II. Die Ersetzbarkeit einzelner Kernkraftwerke als Widerrujsgrund? Fraglich ist, ob eine atomrechtliche Genehmigung nach § 7 AtomG gern. § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG allein deshalb widerrufen werden kann, weil die Stromversorgung im Versorgungsgebiet eines Kernkraftwerks auch ohne dessen Betrieb sichergestellt ist. Unstreitig ist die Notwendigkeit der Errichtung eines Kernkraftwerks zur Deckung des Energiebedarfs keine tatbestandliehe Genehmigungsvoraussetzung i.S.d. § 7 Abs.2 AtomG.46 Sie könnte aber dennoch ein zu berücksichtigender Gesichtspunkt bei der Ermessensausübung sein. Für die Widerrufsmöglichkeit nach § 17 Abs. 3 Nr.2 AtomG kommt es somit darauf an, ob die Genehmigungsbehörde aufgrund des Versagungsermessens des § 7 Abs. 2 AtomG zu einer Bedürfnisprüfung befugt ist und die Genehmigung deshalb etwa unter dem Vorbehalt erteilen darf, daß der Strombedarf im Versorgungsgebiet der Anlage nicht auch durch den Einsatz anderer Energieträger gedeckt oder durch rationellere Energieverwendung reduziert werden kann. Die von der Genehmigungsbehörde bei der Ermessensausübung zu berücksichtigenden Gesichtspunkte sind in § 7 AtomG nicht näher eingegrenzt. Die hieraus resultierende Rechstunsicherheit hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Kalkar-Entscheidung47 angesichts des unzureichenden Erkenntnis- und Erfahrungsstandes beim Erlaß des AtomG für verfassungsrechtlich unbedenklich erachtet, zumal der Gesetzgeber den Rahmen des der Genehmigungsbehörde zustehenden Ermessens durch § 1 AtomG, insbesondere durch die normierten Schutzzwecke, hinreichend genau abgesteckt habe. Durch das Versagungsermessen solle der Exekutive die Möglichkeit gegeben werden, eine an sich zu erteilende Genehmigung abzulehnen, falls besondere und unvorhergesehene Umstände es einmal notwendig machen. Das Ermessen der Genehmi-

45

SendJer, DÖV 1992, 187.

46 BVerwG, DVBI. 1982, 960 [961] und BVerwGE 70, 365 [378] - Kriinunel; Ossenbühl,

et 1983, 669. 47 BVertGE 49, 89 [146 f.].

172

Teil 2: Der administrative Ausstieg

gungsbehörde wird dadurch auf nuklearspezifische Erwägungen reduzieft48 und ist durch die gesetzliche Zweckbestimmung des § 1 AtomG hinreichend vorgezeichnet. Diese Auffassung wird gestützt durch die Entststehungsgeschichte des § 7 AtomG. Sah noch der Regierungsentwurf bei Vorliegen sämtlicher Tatbestandsvoraussetzungen des § 7 Abs. 2 AtomG eine Pflicht zur Genehmigungserteilung vor49 , so geht die heute gültige Fassung des § 7 Abs. 2 AtomG (" ... darf nur erteilt werden, wenn ... ") auf den Einwand des Bundesrats zurück, daß ein Ermessensspielraum notwendig sei, weil mit der Kodifizierung des Kemenergierechts Neuland betreten werde. 50 Die Bundesregierung erklärte daraufhin ihre Zustimmung "mit Rücksicht auf die besondere Natur und die Neuartigkeit der Anlagen im Sinne des § 7." Es erscheine "in diesem besonderen Falle vertretbar, der Behörde die Möglichkeit zu geben, die Genehmigung zu versagen, wenn dies besondere, nach dem heutigen Stand der Erkenntnisse noch nicht vorhersehbare und deshalb in den Genehmigungsvoraussetzungen gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 nicht erfaßte Umstände gebieten. "51 Zu solchen unvorhergesehenen Umständen gehört jedoch nicht die energiewirtschaftliche Notwendigkeit eines einzelnen Kernkraftwerks. Diese ist zwar ein legitimer Gesichtspunkt bei der Investitionskontrolle nach § 4 Abs. 2 EnWG5253, nicht aber im Rahmen des Versagungsermessens gern. § 7 Abs. 2 AtomG. Die Frage der energiewirtschaftlichen Notwendigkeit des jeweiligen Kernkraftwerks ist nicht nuklearspezifischer Natur und wird auch von der Zweckbestimmung des § 1 AtomG nicht erfaßt. Sie darf deshalb bei 48 Vgl. auch BVeIWG, DVBI. 1992,51 [55] - Obrigheim: "Das Betreiben einer kerntechnischen Anlage unterliegt der Genehmigung nach § 7 AtomG im Hinblick auf die von der Anlage und ihrem Betrieb ausgehenden nuklearspezifischen Gefahren, nicht im Hinblick auf den Zweck der Anlage und ihres Betriebs. " 49 BT-Drs. 31759, S. 5: " ... ist zu erteilen ... " 50 BT-Drs. 31759, S. 50. 51 BT-Drs. 31759, S. 59.

52 So wurde beispielsweise durch Bescheid des Hessischen Ministers rur Wirtschaft und Technik vom 18. 12. 1986 gern. § 4 Abs. 2 EnWG die Errichtung eines 1.330 MW-Kernkraftwerks in Borken mit der Begründung untersagt, das geplante Kraftwerk sei bei zutreffender Einschätzung des künftigen Energiebedarfs entbehrlich; das Energieversorgungsunternehmen sei insofern von einer unvertretbaren Energiebedarfsprognose ausgegangen (vgl. hierzu Hamke, Energierecht, S. 164 ff.; Ossenbühl, lnvestitionskontrolle, S. 1 f., 73 ff. Nach Ossenbühl soll allerdings das Energieversorgungsunternehmen einen Prognosespielraum haben, über den sich die staatliche Energieaufsichtsbehörde nur dann und insoweit hinwegsetzen dürfe, als die Prognose des Energieversorgungsunternehmens auf fehlerhaftem Tatsachenmaterial, auf offenkundig unrealistischen Annahmen oder auf methodischen Fehlern beruhe und deshalb in ihrem Ergebnis offensichtlich fehlsam sei.) 53 Nuklearspezifische Sicherheitsüberlegungen wiederum bleiben der Prüfung im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren gern. § 7 AtomG vorbehalten und sind daher bei der lnvestitionskontrolle nach § 4 Abs. 2 EnWG nicht zu berücksichtigen (ebenso BenderlSpaTWasser, Umweltrecht, Rn. 566 Fn. 89; Kloepjer, Umweltrecht, § 8 Rn. 72; Lange, NIW 1986, 2462).

§ 7 Widerruf nach § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG

173

einer i.S.d. § 40 VwVfG ermessensfehlerfreien Entscheidung über Erteilung oder Versagung einer atomrechtlichen Genehmigung nach § 7 AtornG nicht berücksichtigt werden. 54 Da somit die Erteilung einer Genehmigung gern. § 7 AtornG nicht von der energiewirtschaftlichen Notwendigkeit der geplanten kemtechnischen Anlage abhängig gemacht werden darf, kann auch der Widerruf der Genehmigung gern. § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtornG nicht auf die Möglichkeit des Verzichts auf den Weiterbetrieb der Anlage gestützt werden.

54 Ebenso VGH Mannheim, et 1982, 849 [855); Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 522; Haedrich, § 3 Rn. 3d)ft); Kurz, StiIlegung, S. 62 Fn. 165; Ossenbühl, et 1983, 669 f.; Papier, Genehmigung, Aufsicht, NachIiistung, S. 132; Steinberg, JZ 1991, 435; Wagner, NJW 1987,415; a.A. Degenhan, et 1989, 754; Fischerhoj, § 1 Rn. 4 a.E.; offen Thiel, Entsorgung, S. 86 f.; BVerwGE 72, 300 [318) - Wyhl und DVBI. 1988, 148 [149) - Brokdorf (insoweit nicht wiedergegeben in BVerwGE 78, 177). Breuer, Der Staat 20 (1981), 410 und ihm folgend Kloepjer, Umweltrecht, § 8 Rn. 26, wollen eine Bedürfnispliifung dann zulassen, "wenn sie wegen spezifizierter Faktoren des betriebs bedingten Restrisikos von Kernkraftwerken erfolgt und die Risiken bevorzugter anderer Energieträger bei der saldierenden Gesamtbetrachtung das Restrisiko der Kernenergie nicht unverhältnismäßig überwiegen." Eine Ergänzung der tatbestandlichen Genehmigungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 2 AtomG, wonach die Genehmigung nur erteilt werden darf, wenn "die Anlage zur Deckung des inländischen allgemeinen Energiebedarfs erforderlich ist und der Fehlbedarf nicht aus anderen Energiequellen gedeckt werden kann", fordert Schiedermair, BayVBI. 1991, 142.

§ 8 Entschädigungsfragen

Wird die Genehmigung nach § 17 AtomG zurückgenommen oder widerrufen, kann dies für den Betreiber der Anlage erhebliche finanzielle Einbußen zur Folge haben. Durch die vorzeitige zwangsweise Betriebseinstellung werden ihm nicht nur zukünftige Gewinnmöglichkeiten genommen, es werden darüber hinaus auch die bisher getätigten Investitionen insoweit entwertet, als sie sich noch nicht amortisiert haben. Somit stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen er im Falle eines rechtmäßigen Widerrufs bzw. einer rechtmäßigen Rücknahme der Genehmigung eine Entschädigung verlangen kann. Nach § 18 Abs. 1 S. 1 AtomG muß dem Berechtigten im Falle der Rücknahme oder des Widerrufs einer Genehmigung eine angemessene Entschädigung in Geld geleistet werden. Gleiches gilt gern. § 18 Abs. 3 AtomG für nachträgliche Auflagen nach § 17 Abs. 1 S. 3 AtomG.1 Nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut steht die Gewährung einer Entschädigung dem Grunde nach nicht im Ermessen der Behörde. Ein Absehen von der Entschädigung kommt vielmehr nur in den Fällen in Betracht, die in § 18 Abs. 2 AtomG abschließend aufgezählt sind. Gleichwohl handelt es sich bei § 18 AtomG nach herrschender Meinung nicht um eine Enteignungsentschädigung i.S.d. Art. 14 Abs. 3 GG, sondern allenfalls um eine Ausgleichsregelung i.S.d. Art. 14 Abs. 1 S. 2 GJ im Erlaß des fachlichen Entwicklungsplans 'Kraftwerksstandorte' des Landes Baden-Württemberg als Rechtsverordnung unter nur "beratender Beteiligung" des Landtags bei der Aufstellung anstelle der Gesetzesform im Hinblick auf die Wesentlichkeitstheorie ein verfassungsrechtliches Defizit parlamentarischer Beteiligung und eine "unzulässige Delegierung von Leitentscheidungen an die Exekutive." Der Bayerische Verfassungsgerichtshofi 1 begründet die Zulässigkeit positiver Standortplanung atomarer Anlagen per Gesetz62 damit, daß sie "dem potentiellen Betreiber entsprechender Anlagen keinen Rechtsanspruch auf Erteilung einer Genehmigung an dem betreffenden Standort" gebe und die fachübergreifend planende Legislative somit das Genehmigungsverfahren der Exekutive nach dem jeweiligen Fachgesetz nicht ersetze. Bei alldem hat jedoch bereits Blümel63 zu Recht darauf hingewiesen, daß auch die vorausschauende, mittel- und langfristige Standortvorsorgeplanung für Kernkraftwerke und andere Groß vorhaben die Beteiligung der Betroffenen und entsprechende Rechtsschutzmöglichkeiten von Verfassungs wegen erfordem. 64 Auch das Bundesverfassungsgericht65 ist der Auffassung, es könne der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG zuwiderlaufen, wenn der Bürger gegenüber Planungsentscheidungen, die ein Planvorhaben in mehreren Stufen konkretisieren, auf die Anfechtbarkeit aus58 Älmlich Henle, UPR 1982, 255 Fn. 43, der jedoch noch die Lesitung der Anlage mit einbezieht. 59 Hofmann, Entsorgung, S. 96. 60 Löffler, Parlamentsvorbehalt, S. 127 ff. 61 BayVerfGHE 40, 94 [104 f.] 62 Im Gegensatz zu der von ihm für unzulässig gehaltenen abschließenden Standortentscheidung in Gesetzesform. 63 DVBI. 1977, 320; ähnlich ErbgUlh, DVBI. 1981, 562 f.; Kloepjer, Umweltrecht, § 4 Rn. 30; ablehnend Löffler, Parlamentsvorbehalt, S. 149 f. 64 DefIZite im Hinblick auf Verfahrensbeteiligung und Rechtsschutz Betroffener bei der Errichtung militärischer Flugplätze zeigt Hen/e, UPR 1982, 256 auf. Deswegen fordert er zum einen eine restriktive Auslegung des § 30 Abs. 1 S. 1 LuftVG und zum anderen, daß allgemein der Beschluß über die Errichtung von Großvorhaben nur dann in Gesetzesform ergehen dürfe, "wenn aus Gemeinwohlgründen ein besonders dringendes Bedürfnis für die Realisierung eines Großvorhabens besteht oder die Auswirkungen eines solchen Vorhabens von besonders gravierender Natur sind." Jedoch erscheint gerade im letzten Fall ein Errichtungsgesetz aus Rechtsschutzgründen äußerst fragwürdig. 65 DVBI. 1981, 374 f. Die Entscheidung betrim eine Genehmigung nach § 6 LuftVG.

§ 12 Der Grundsatz der Gewaltenteilung

241

schließlich der abschließenden Planfeststellung verwiesen wird. 66 Denn dabei sei die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, daß der Rechtsschutz nicht mehr rechtzeitig zur Wirkung komme und an vollendeten Tatsachen scheitere. 67 Dementsprechend bejaht auch das Bundesverwaltungsgericht68 bei einem für verbindlich erklärten Abfallentsorgungsplan nach § 6 AbfG einen Nachteil i.S.v. § 47 Abs. 2 S. 1 VwGO und damit die Antragsbefugnis eines betroffenen Grundstückseigentümers, wenn dieser Plan den Standort einer Abfallbeseitigungsanlage konkret festlegt und zu erwarten ist, daß von der Anlage schädliche Umwelteinwirkungen auf das benachbarte Grundstück ausgehen werden, obwohl durch den Abfallentsorgungsplan lediglich eine Standortvorentscheidung getroffen wird und die letztverbindliche Entscheidung über die Errichtung der Anlage dem Verfahren nach § 7 AbfG vorbehalten bleibt. Dabei muß die Standortentscheidung nach § 6 AbfG nicht notwendig parzellenscharf, aber dennoch räumlich so eingegrenzt festgelegt sein, daß von jedem innerhalb des festgelegten Bereichs in Betracht kommenden Standort konkretisierbare nachteilige Wirkungen auf das Grundstück ausgehen können. Das Bundesverwaltungsgericht betont in diesem Zusammenhang zu Recht, "daß die Vorgaben des Abfallbeseitigungsplans in der Regel ein erhebliches Gewicht bei der Abwägung der von der Anlagenplanung berührten öffentlichen und privaten Belange erlangen werden und dazu führen können, daß die Planungsbehörde dem Vorhaben entgegenstehende private Belange eher zurückstellt, als dies sonst der Fall wäre. "69 Deshalb brauche sich der potentiell Betroffene nicht auf die Möglichkeit der Inzidentkontrolle des Abfallbeseitigungsplans im Rahmen einer Anfechtungsklage gegen die spätere Zulassungsentscheidung verweisen zu lassen. 70 Auch wenn die Grundsätze der Raumordnung gern. § 3 Abs. 3 ROG und nach h.M.71 auch die Ziele der Raumordnung und Landesplanung wie beispielsweise die Standortvorsorge in einem Landesentwicklungsprogramm dem einzelnen gegenüber keine unmittelbare rechtliche Wirkung entfalten und in diesem Planungsstadium noch gar nicht endgültig feststeht, ob die bezeichnete Fläche bei überdimensionierter Vorrats- oder Angebotsplanung tatsächlich überhaupt in Anspruch genommen wird, so ergeben sich aus ihr doch weitrei-

A.A. offenbar LöfJler, Parlamentsvorbehalt, S. 125. Vgl. auch BVerfGE 53, 30 [65 f.) - Mülheim-Kärlich; BVerwG, DVBI. 1972, 678 [678 f.) - Würgassen. 68 BVerwGE 81, 128 [130); BVerwG, DVBI. 1991,399 [399); zust. Blümei, VerwArch 84 (1993), 135 ff. 69 BVerwGE 81, 128 [135). 66 67

BVerwGE 81, 128 [137); ebenso Blümei, VerwArch 84 (1993), 137. Vgl. etwa CholewalDyong/v.d.Heide/Arenz, § 5 ROG Rn. 72 f.; HoppelBeckmann, UmweItrecht, § 7 Rn. 33. 70 71

16 BorgmoDD

242

Teil 3: Der legislative Ausstieg

chende faktische präjudizierende Vorwirkungen. 72 Die Planungen sind für andere öffentliche Planungsträger gern. § 5 Abs. 4 i.V.m. § 4 Abs. 5 ROG beachtlich; die Gemeinden müssen gern. § 1 Abs. 4 BauGB ihre Bebauungspläne anpassen und müssen nach Maßgabe des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB die Planungen bei der Entscheidung über Vorhaben im Außenbereich in die Abwägung mit einbeziehen. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts73 kann beispielsweise ein Bauvorhaben im Außenbereich an Zielen der Raumordnung und Landesplanung scheitern, wenn diese sachlich und räumlich hinreichend konkret sind. Insbesondere kann danach die Ausweisung eines bestimmten Zwecks und eines dafür vorgesehenen räumlich abgegrenzten Bereichs (etwa ein Bereich für die Anlegung oder Erweiterung eines Flughafens oder eines Großkraftwerks) die Wirkung haben, daß dort Außenbereichsvorhaben nach § 35 Abs. 2 BBauG74 wegen Widerspruchs zu diesen Zielen nicht zugelassen werden können. 75 Gerade bei Kernkraftwerken erfolgt die Standortsicherung in der Praxis häufig parzellenscharf16 , so daß die eigentlichen Entscheidungen über die Standorte bereits mit der Verabschiedung des Landesentwicklungsplans fallen. TI Landesplanerische Standortvorsorgepläne entfalten damit nicht nur Behördenverbindlichkeit, sondern führen über § 7 Abs.2 Nr. 6 AtG dazu, daß einer Genehmigungserteilung "überwiegende öffentliche Interessen" entgegenstehen, wenn der Standort im jeweiligen Fach- oder Entwicklungsplan nicht ausgewiesen ist. 78 Die Standortvorsorge wird auf diese Weise zu einem "Nadelöhr" und "raumplanerischen Filter" für das atomrechtliche Genehmigungsverfahren79 , auch wenn hierbei nur planerisch "vorsortiert " und über die tatsächliche Errichtung und Inbetriebnahme erst im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren entschieden wird. All dies spricht letztendlich dafür, zumindest bei räumlich und sachlich konkreter Standortvorsorge mit Instrumentarien der Raumordnung und Landesplanung die Wahl einer Rechtsform zu verlangen, die nicht nur die Beteiligung von Gemeinden, Gemeindeverbänden und öffentlichen Planungsträ-

72 Blümei, DVBI. 1977,317; tiers., VelWArch 84 (1993), 135 ff.; Erbgulh, DVBI. 1981, 562; Hanlke, Energierecht, s. 65. 73 BVelWGE 68,311 [315]; 68, 319 [320 f.]. 74 Vgl. jetzt ausdrücklich § 35 Abs. 3 s. 3 BauGB. 75 BVelWGE 68,319 [323]. 76 Blümei, DVBI. 1977, 318 m. Nachw. fiir Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen in Fn. 383; Lö1fler, Parlamentsvorbehalt, S. 118. Ebenso die Praxis in Bayern; vgl. insoweit den 'Standortsicherungsplan fiir Wärmekraftwerke' vom 10. 1. 1986 mit Kartenmaterial (BayGVBI. Nr. 2/1986, S. 11). 77 Blümei, DVBI. 1977, 319. 78 Henseler, DVBI. 1982,395. 79

Lö1fler, Parlamentsvorbehalt, S. 114, 118.

§ 12 Der Grundsatz der Gewaltenteilung

243

gern8O , sondern auch der potentiell betroffenen Bevölkerung gewährleistet und wegen der beschriebenen Vorwirkungen hinreichende Rechtsschutzmöglichkeiten bietet. Dies ist bei der Planung in Form des Parlamentsgesetzes im Unterschied zur Rechtsverordnung nicht der Fall, so daß der Zugriff des formellen Gesetzgebers insoweit verfassungsrechtlich bedenklich ist. 81 Zu Recht wird betont, daß die Rahmenkompetenz des Bundes zum Erlaß von Vorschriften über die Raumordnung nach Art. 75 Nr. 4 GG nur Gesetzgebungsbefugnisse und keine Planungskompetenzen verleiht. 82 Handlungsraum für den parlamentarischen Gesetzgeber gibt es also nur bei der Vorgabe der Kriterien für die Standortvorsorge der Exekutive. 83 2. Standortsperrungen als raumplanerisches Instrument zur Verhinderung atomarer Anlagen Soll jedoch der Ausstieg aus der Atomenergie auf dem Wege landesplanerischer Entscheidungen erreicht werden84 , so kann es sich hierbei nur um negative Standortentscheidungen oder Flächensperrungen für die Errichtung atomarer Anlagen handeln. Hier liegen die Probleme hinsichtlich der Beteili80 Vgl. §§ 5 Abs. 2 S. 2, Abs. 3, 6 Abs. I ROG und z.B. Art. 6 Abs. 1, Abs. 5, 14 Abs. 2, 16 Abs. 2, 18 Abs. 3 S. 3 BayLPIG. Die Anhörung der individuell betroffenen Gemeinde hat das Bundesverfassungsgericht in der 'Wilhelmshaven-Entscheidung' (BVertUE 76, 107 [122]) ausdriicklich verlangt; ebenso Löffler, Parlamentsvorbehalt, S. 118. 81 Das Bundesverfassungsgericht hatte in der 'Wilhelmshaven-Entscheidung' (BVerfGE 76, 107) keinen Anlaß, auf diese Frage einzugehen, da Beschwerdefiihrerin in diesem Fall eine betroffene Gemeinde war und die Standortentscheidung nicht in Gesetzesform, sondern durch Beschluß des zuständigen Ministeriums getroffen wurde. 82 MaunzlDürig-Maunz, Art. 75 Rn. 137. 83 Ebenso Erbguth, DVBI. 1981,560 f.; Hantke, Energierecht, S. 72 f.; Holzhauser, Standortvorsorge, S. 112 bei Fn. 40. In der Praxis wird ein solcher Kriterienkatalog fiir Atomanlagen bundeseinheitlich von verschiedenen Bund-Länder-Koordinierungsgremien wie dem Länderausschuß fiir Atomenergie und der Ministerkonferenz fiir Raumordnung erarbeitet, vgl. Lö.ffler, Parlamentsvorbehalt, S. 119 Fn. 30 m.w.N. Hinsichtlich der Anforderungen des Gewaltenteilungsprinzips zeigt im übrigen das niedersächsische Landesplanungsrecht den richtigen Weg. Teil I des Raumordnungsprogramms ist gern. §§ 4, 5 NdsLPIG als Gesetz erlassen worden (GVBI. 1982, S. 123 - 130) und regelt in Abschn. B 1.5 allgemein, daß aufgrund raumstruktureller Erfordernisse Vorrangstandorte fiir großindustrielle Anlagen festgelegt werden können und da,ß an diesen Standorten alle raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen mit der vorrangigen Zweckbestimmung vereinbar sein müssen. Teil n des Raumordnungsprogramms ist durch Beschluß des Landesministeriums festgestellt worden (Bekanntmachung vom 16. Juni 1982, Nds.MBI. S. 717 - 724) und enthält konkrete Gebietsausweisungen (vgl. dazu auch BVertUE 76, 107 [113] und Janssen, Zugriffsrecht, S. 248 Fn. 45). Ähnlich auch Art. 2 Nr. 11 BayLPIG (Standortkriterien) und der 'Standortsicherungsplan fiir Wärmekraftwerke' vom 10. 1. 1986; BayGVBI. Nr. 2/1986, S. 11 (Konkrete offenzuhaltende Flächen). 84 Hierzu könnte insbesondere der Raumordnungsgrundsatz des § 2 Abs. 1 Nr. 8 ROG Schutz, Pflege und Entwicklung von Natur und Landschaft, Schutz des Bodens und des Wassers - Veranlassung geben.

244

Teil 3: Der legislative Ausstieg

gung und der Rechtsschutzmöglichkeiten Betroffener anders als im Falle positiver Standortvorsorge, bei der eine tatsächliche Inanspruchnahme der gesicherten Fläche ja nicht zwingend erfolgt. Einerseits wird bei der negativen Standortplanung eine einzige Nutzungsmöglichkeit endgültig ausgeschlossen, ohne daß der Eintritt dieser Anordnung noch von weiteren Zwischenschritten85 abhinge. 86 Dies scheint auf den ersten BlickjUr die Pflicht zur Wahl einer administrativen Handlungsform zu sprechen, die die Beteiligung und den Rechtsschutz potentiell Betroffener ermöglicht. Andererseits berührt die Sperrung von Flächen für atomare Anlagen nicht notwendig individuelle Interessen in einer Weise, die einer Entscheidung in Gesetzesform aus Gründen des rechtlichen Gehörs oder des Rechtsschutzes in jedem Fall entgegenstehen würde. Betroffene Anlieger scheiden mangels Interesse an der Anlagenerrichtung aus, mag die negative Standorterrichtung auch räumlich noch so konkret (parzellenschart) sein. Anders ist es unter Umständen für die in ihrer Planungshoheit berührten Gemeinde87 ; aber deren Beteiligung am Planaufstellungsverfahren ist gem. § 5 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 ROG unabhängig von der Rechtsform der Planung sichergestellt. 88 Blieben noch potentielle Anlagenerrichter und -betreiber, deren Interessen unter Umständen zu berücksichtigen wären. 89 Hier ist zu differenzieren: Ist die Entscheidung so gewählt, daß sie theoretisch eine Vielzahl von Vorhaben erfaßt und deren Errichtung nur abstrakt und grundsätzlich regelt, so bestehen gegen eine Flächensperrung aus gewaltenteilerischen Gründen keine Einwände. Unbedenklich wäre danach etwa die Sperrung der gesamten Fläche oder größerer Teile eines Landes per Gesetz, 85 Insbesondere der Entscheidung etwaiger AnIagenbetreiber wie etwa bei der positiven Standortvorsorge die Auswahl aus den landesplanerisch reservierten Standorten. 86 A.A. BayVerfGHE 40, 94 [lOS]; HoppelBeckmann, Umweltrecht, § 7 Rn. 33, wonach eine negative Standortplanung für ein bestimmtes Vorhaben in einem näher umschriebenen Bereich anders als ein normativer StandorUlusschluß nicht verhindern könne, daß die Exekutive im Enzelfall ein entsprechendes Vorhaben in dem betreffenden Bereich genelunige. 87 bn Gegensatz zur positiven Standortplanung (vgl. dazu etwa OVG Lüneburg, DÖV 1969, 642 [643]; BielenberglErbgulh/Söjker, Raumordnungs- und Landesplanungsrecht, M 332 Rn. 12; CholewalDyonglv.d.Heide/Arenz, Raumordnung, Vorbem. X Rn. 7; Grooterhorst, NuR 1986, 283; Schlichter/Stich-Gaentzsch, § 1 BauGB Rn. 31) dürfte jedoch bei Standortsperrungen für atomare Anlagen zur Wahrung überörtlicher Interessen (Schutz vor den Gefahren der Kernenergie), wodurch andere Nutzungen der fraglichen Fläche nicht berührt werden, die Planungshoheit der betroffenen Gemeinde in der Regel nicht verletzt sein. Der Ausschluß nur atomarer Anlagen läßt noch ausreichenden Raum für die konkretisierende Fach- und Bauleitplanung übrig (vgl. auch BVerfGE 76, 107 [123 f.] - 'Wilhelmshaven'). 88 Vgl. dazu etwa VerfGH NW, NWVBI. 1990, 51 [53]. Bei Nichtbeteiligung betroffener Gemeinden wird die Anpassungspflicht des § 1 Abs. 4 BauGB nicht ausgelöst (Schlichter/Stich-Gaentzsch, § 1 BauGB Rn. 30 a.E.). 89 Vgl. die obigen Erwägungen unter § 12 D. ill.

§ 12 Der Grundsatz der Gewaltenteilung

245

solange noch keine einzelnen Anlagen geplant sind. 90 Hier sind individuelle Interessen potentieller Betreiber noch nicht unmittelbar berührt, so daß direkte Mitwirkung oder Rechtsschutz auf dieser Stufe noch verzichtbar ist. Etwas anderes ist aber dann anzunehmen, wenn die Entscheidung räumlich so konkret ist, daß sie die Errichtung einzelner, bereits geplanter Anlagen ausschließt und damit individuelle Belange der Betreiber tangiert. Das gleiche muß auch dann gelten, wenn die Sperrung zwar ein größeres Gebiet erfaßt, aber dennoch im Hinblick auf konkrete Vorhaben ergeht und darauf abzielt, diese quasi als getarnte Einzelfallentscheidung zu verhindern. Letzteres ist insbesondere dann der Fall, wenn die gesetzliche Sperrung einer größeren Fläche zur Verhinderung eines bestimmten Vorhabens angeordnet wird, nachdem der Betreiber der in diesem Gebiet geplanten Anlage bereits Dispositionen zur Anlagenerrichtung (z.B. Grundstückserwerb) getroffen oder sich die Planung der Anlage etwa durch Erteilung eines positiven Standortvorbescheids nach § 7a AtG bereits rechtlich verfestigt hat. Hier schlägt der Charakter rechtssetzender Flächensperrung in rechtsanwendende Verhinderung einzelner Anlagen um. So lag der Fall bei dem in Bayern initiierten Volksbegehren. Zwar handelte es sich hier vordergründig um die Sperrung von fünf Landkreisen und damit einer größeren Fläche des Landes, die einer gesetzlichen Regelung somit grundsätzlich zugänglich ist. 91 Jedoch erfaßte die Anordnung erkennbar allein die damals bereits im Bau befindliche Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf und war auf deren Verhinderung gerichtet. Sie berührte damit individuelle Interessen der Bauherren und künftigen Anlagenbetreiber. Die initiierte gesetzliche Flächensperrung stellte daher in diesem Fall eine verdeckte Einzelfallentscheidung dar und war aus diesem Grunde mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz nicht zu vereinbaren. Sie hätte allenfalls in Form einer von den Betroffenen gern. § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO angreifbaren Rechtsverordnung ergehen können. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß eine gesetzliche Flächensperrung für atomare Anlagen nur dann nicht gegen das Gewaltenteilungsprinzip verstößt, wenn hierdurch Individualinteressen weder offen noch verdeckt berührt werden. Die Stillegung bereits betriebener Anlagen kann zwar auf dem Wege der Flächenfreihaltung ohnehin nicht erreicht werden. Bedenklich sind solche gesetzlichen Flächensperrungen aber auch dann, wenn dadurch konkrete, rechtlich bereits verfestigte Vorhaben verhindert werden sollen. Eine FlächenVgl. beispielsweise Art. 42 Abs. 8 des brandenburgischen Verfassungsentwurfs. A.A. BayVertGHE 40, 94 [104 . 106] mit der Begründung, die negative Standortentscheidung greife deshalb in den Kernbereich der Exekutive (Gesetzesvollzug) ein, weil sie "von vornherein, für jedennann verbindlich und unter Ausschluß jeder Prüfungs· und Entscheidungsbefugnis der zuständigen Verwaltungsbehörde den Vollzug des § 7 AtomG im Gebiet von fünf Landkreisen" verbieten würde; hiergegen wiederum das Sondervotum [So 106 f.]. 90 91

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Teil 3: Der legislative Ausstieg

freihaltung in Gesetzesform muß also insbesondere für den niedersächsischen Landtag zur Verhinderung der Endlager Gorleben und Schacht Konrad ausscheiden. Für die übrigen Flächenstaaten der Bundesrepublik bestehen aber zumindest aus gewaltenteilerischen Gründen gegen großräumige gesetzliche Flächensperrungen keine Bedenken.

§ 13 Die Verteilung der Handlungsmöglichkeiten zwischen Bund und Ländern

Im folgenden Abschnitt soll der Frage nachgegangen werden, wie sich der legislative Handlungsspielraum zum Ausstieg aus der Kernenergie unter föderalistischen Gesichtspunkten auf Bund und Länder verteilt. A. Die Gesetzgebungszuständigkeit

Ein ausstiegsorientierter Gesetzesentwurf, der den bisher beschriebenen Anforderungen standhält, wirft angesichts der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes die Frage der Gesetzgebungszuständigkeit auf. I. Zuständigkeit des Bundes

Aufgrund des nachträglich in das Grundgesetz eingefügten Art. 74 Nr. lla GG erstreckt sich die konkurrierende Gesetzgebung auf "die Erzeugung und Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken, die Errichtung und den Betrieb von Anlagen, die diesen Zwecken dienen, den Schutz gegen Gefahren, die bei Freiwerden von Kernenergie oder durch ionisierende Strahlen entstehen, und die Beseitigung radioaktiver Stoffe. " In Wahrnehmung dieser Ermächtigung hat der Bund am 23. Dezember 1959 das 'Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren' (Atomgesetz) erlassen. l In gleicher Weise besäße er gern. Art. 74 Nr. lla GG auch die Kompetenz, durch Änderung des AtomG etwa im Sinne des oben dargestellten 'Kernenergieabwicklungsgesetzes'2 das Ende der Atomenergienutzung herbeizuführen. Auch das 'Atomsperrgesetz'J begegnet jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Daß Art. 74 Nr. lla GG

BGB!. I, S. 814; zuletzt geändert durch Gesetz v. 26. 8. 1992, BGB!. I, S. 1564. S.o., § 10 B. S.o., § 10 A.

248

Teil 3: Der legislative Ausstieg

grundsätzlich auch zu einem Verbot der Kernenergienutzung ermächtigt, wurde bereits festgestellt. 4 Il. Zuständigkeit der Länder

Fraglich ist jedoch, ob die Länder derzeit aus Art. 74 Nr. lla GG oder auch aus anderen Kompetenzbestimmungen eine Zuständigkeit für den gesetzlichen Ausstieg auf Landesebene herleiten können. Dabei wird auch zu prüfen sein, ob der Bund durch den Erlaß des AtomG in seiner heutigen Fassung von seinem Gesetzgebungsrecht auf dem Gebiet des Atomrechts erschöpfend Gebrauch gemacht hat (Art. 72 Abs. 1 GG) oder ob und gegebenenfalls in welchem Umfang noch Raum für eventuelle gesetzliche Regelungen durch die Länder verblieben ist. Besonderes Augenmerk soll hier den eingangs dargestellten Volksbegehren mit dem Ziel des Ausstiegs aus der Kernenergie5 gelten. Zulässigkeitsvoraussetzung für ein Volksbegehren ist in allen Bundesländern, die ein solches Verfahren eröffnen6 , daß die Landesgesetzgebungszuständigkeit eingehalten wird.? Insoweit besteht kein Unterschied zu einem Parlamentsgesetz. Anders als der Bund brauchen die Länder für ein Gesetz gem. Art. 70 Abs. 1 GG keinen ausdrücklichen Kompetenztitel. Die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes sind im Grundgesetz abschließend aufgezählt. 8 Der Bund kann Kompetenzen insbesondere aus den Art. 73 bis 75 GG herleiten. Der gesamte übrige Bereich9 fällt in die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Länder. 10

4

§ 11 und die dortigen Nachweise in Fn. 10 und 15. S.o., § 10 C. I. und D.

Art. 59, 60 Verf.Ba.Wü.; Art. 71 ff. Bay.Verf.; Art. 75 ff. Bbg.Verf.; Art. 69 ff. Brem.Verf.; Art. 124 Hess.Verf.; Art. 55 Abs. 1 S. 1, 59, 60 Verf.MeckI.Vorp.; Art. 42 Abs. 1, 3, 47 ff. Nds.Verf.; Art. 68 Verf.NRW.; Art. 109 Verf.Rh.Pf.; Art. 99 f. SaarI.Verf.; Art. 70 ff. Sächs.Verf.; Art. 77, 80, 81 Verf.Sachs.Anh. BVerfGE 8, 104 [118 f.); StGH BaWü, OÖV 1986, 794 f.; BayVerfGHE 40, 94 [103); VerfGH NW, NWVBI. 1987, 13 [14) = OVGE 39, 299 [302); HessStGH, DÖV 1982, 320 [321) m. Best. durch BVerfGE 60, 175 [204 f.). BVerfGE 61, 149 [174, 203) - Staatshaftung; Hesse, Grundzüge, Rn. 235; Rengeling, HdBStR IV, § 100 Rn. 18. Von einigen Sonderzuweisungen an den Bund - z.B. Art. 4 Abs. 3 S. 2, 21 Abs. 3, 91a Abs. 2, 105 Abs. 1, 109 Abs. 3 GG - und den Bundeskompetenzen 'kraft Natur der Sache', 'kraft Sachzusammenhangs' und der 'Annexkompetenz' einmal abgesehen. 10 Grundsatz der Länderkompetenz, vgl. BVerfGE 12, 205 [228) - 'Erstes Fernsehurteil'; Hesse, Grundzüge, Rn. 244; MaunzlDürig-Maunz, Art. 71 Rn. 38.

§ 13 Föderalistische Ausstiegsgrenzen

249

1. Länderkompetenz aus Art. 74 Nr. lla GG? Sachlich naheliegendster Kompetenztitel für ausstiegsorientierte Landesgesetze ist ohne Zweifel Art. 74 Nr. lla GG im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung. Allerdings hat bereits der Bund durch Erlaß des AtomG von diesem Kompetenztitel Gebrauch gemacht. Nach Art. 72 Abs. 1 GG haben die Länder im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung die Befugnis zur Gesetzgebung nur, solange und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch macht, wobei jedoch Art. 72 Abs. 2 GG das Gesetzgebungsrecht des Bundes an das Vorliegen eines Bedürfnisses für eine bundesgesetzliche Regelung knüpft. Wenn danach der Bund in verfassungsrechtlich einwandfreier Weise, also insbesondere auch unter Beachtung des Art. 72 Abs.2 GG, seine Gesetzgebungsbefugnis erschöpfend wahrgenommen hat, dann tritt die Sperrwirkung ein mit der Folge, daß eine Regelung derselben Materie durch den Landesgesetzgeber nicht mehr möglich ist. Dies bedeutet allerdings nicht, daß der Bund in extensiver Ausübung der ihm zugewiesenen Bereiche Länderkompetenzen beschneiden darf, indem er in ein von ihm in kompetenzrechtlicher Hinsicht einwandfreies Gesetz "künstlich" andere Bereiche einbezieht, die sinnvollerweise isoliert von den Ländern ausgefüllt werden könnenY Nicht alle Vorschriften eines Gesetzes teilen daher notwendig das gleiche kompetenzrechtliche Schicksal. Nur dort, wo die verschiedenen Komplexe nicht sinnvoll getrennt werden können, kann ausnahmsweise ein Übergreifen des Bundes in andere Bereiche hingenommen werden. Art. 74 Nr. lla GG beließe damit für landesrechtliche Regelungen nur dann Raum, wenn entweder der Bund von seiner Kompetenz nicht erschöpfend Gebrauch gemacht hätte (a) oder wenn ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung nicht vorgelegen hätte (b).

a) Ausschöpfung der Kompetenz des Art. 74 Nr. 11a GG durch den Bund Teilweise wird die Auffassung vertreten, die Regelung des AtomG sei nicht erschöpfend. So lege das AtomG z.B. nur die Voraussetzungen für die Erteilung beantragter Genehmigungen zum Betrieb kerntechnischer Anlagen fest, nicht aber die Voraussetzungen von Amts wegen zu treffender Standortentscheidungen. Auch erfasse die Vorschrift des § 7 Abs. 2 Nr. 6 AtomG, wonach die Genehmigung nur erteilt werden darf, wenn überwiegende öffentliche Interessen der Wahl des Standorts der Anlage nicht entgegenstehen, nur nuklearspezijische Gesichtspunkte, so daß einer auf sonstigen Erwägungen basierenden positiven oder negativen Standortentschiedung des Landesgesetzge11

Vgl. z.B. MaunzlDürig-Maunz, Art. 74 Rn. 16.

250

Teil 3: Der legislative Ausstieg

bers gern. Art. 74 Nr. Ha GG nichts im Wege stehe. 12 Nach herrschender Meinung hat jedoch der Bund mit dem Erlaß des AtomG von seinem Gesetzgebungsrecht nicht nur teilweise Gebrauch gemacht, sondern sämtliche Fragen der Kernenergienutzung zu friedlichen Zwecken abschließend geregelt, so daß die Länder wegen der Sperrwirkung an eigenen Regelungen gehindert sind. 13 Allgemein wird eine Regelung dann als erschöpfend angesehen, wenn neben ihr kein Raum mehr für eine landesrechtliche Regelung übrig bleibt. 14 Dies bedeutet allerdings nicht, daß die Länder etwa für jede Frage, die der Bund inhaltlich nicht gesetzlich geregelt hat, einen Freiraum haben. 15 Eine abschließende Regelung durch den Bund liegt vielmehr auch dann vor, wenn ergänzende Vorschriften, die der Sache nach an sich möglich wären, ausgeschlossen sein sollen. 16 Der Landesgesetzgeber darf sich im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung nicht zu einem erkennbar gewordenen Willen des Bundesgesetzgebers in Widerspruch setzen, die in Betracht kommende Materie überhaupt nicht zu regeln und damit kundzutun, daß diese Frage auch einer Regelung durch die Länder nicht mehr zugänglich sein soll. Ein solcher Wille des Bundesgesetzgebers kann beispielsweise in der Aufhebung einer landesgesetzlichen Regelung zum Ausdruck kommen. 17 Dem AtomG ist weder ausdrücklich noch durch Auslegung zu entnehmen, daß es die mit der friedlichen Nutzung der Kernenergie zusammenhängenden Rechtsfragen nicht erschöpfend regeln wollte. Es enthält insbesondere keine Blankettnormen, Ermächtigungen oder stillschweigende Vorbehalte zugunsten der Landesgesetzgebung oder etwa dynamische Verweisungen auf Landesrecht. Vielmehr wurden durch § 55 AtomG vorher bestehende landesrechtliche Regelungen auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie ausdrücklich aufgehoben. 18 12 Sondervotum zu BayVerfGHE 40, 94 [106 f.). Nach anderer Auffassung erfaßt § 7 Abs. 2 Nr. 6 AtomG gerade die nichl-nuklearspezifischen Aspekte; vgl. etwa Degenhan, Kemenergierecht, S. 46 ff.; Haedrich, § 7 Rn. 119; Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 168 ff.; Ronellenjilsch, Genehmigungsverfahren, S. 285 f.; Sanle, Ausstieg, S. 146 ff. Ob die gesetzliche Regelung der "von Amts wegen zu treffenden Standortentscheidungen" , womit wohl nur die raumordnerische Standortvorsorgeplanung gemeint sein kann, überhaupt auf Art. 74 Nr. lla GG gestützt werden könnte oder ob hierfiir nicht der Kompetenzbereich des Art. 75 Nr. 4 GG (Raumordnung) einschlägig ist, welcher dem Bund allerdings nur die Befugnis zum Erlaß von Ralunenvorschriften eröffnet, bedarf noch näherer Untersuchung (s.u., § 13 A. D. 2. d) aa) (3». 13 AltK-Bothe, Art. 74 Rn. 26; Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 487; Lange, NJW 1986,2465; Sanle, Ausstieg, S. 124 Fn. 4; VerfGH NW, NWVBI. 1987, 13 [14). 14 MaunzlDürig-Maunz, Art. 72 Rn. 14. 15 BVerfGE 20,238 [249 f.). 16

BVerfGE 24, 367 [386); 32, 319 [327); März, Bundesrecht, S. 156.

17

MaunzlDürig-Maunz, Art. 74 Rn. 35. Vgl. dazu auch Haedrich, AtomG, Einf. Rn. 4.

18

§ 13 Föderalistische Ausstiegsgrenzen

251

Auch die damalige Begründung der Bundesregierung zu den vorgelegten Entwürfen zur Änderung des Grundgesetzes und zum Erlaß des AtomG bringt zum Ausdruck, daß der Bund seine Kompetenz abschließend wahrnehmen wollte: "Kein Zweifel dürfte bestehen, daß der Bund auf eine Gesetzgebungs- und Verwaltungszuständigkeit auf dem Gebiet der ErLeugung und Nutzung der Kernenergie nicht verLichten kann: Die Bundesrepublik hat bereits internationale Verpflichtungen übernommen (Verbot der Herstellung von Atomwaffen, Kontrolle über die Verwaltung der von den Vereinigten Staaten zu liefernden Kernbrennstoffe). Sie wird weitere Verpflichtungen übernehmen müssen, wenn sie den Anschluß an die ausländische Entwicklung gewinnen will. Die Erfüllung dieser Verpflichtungen und in gleicher Weise die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit erfordern eine Gesetzgebungs- und Verwaltungszuständigkeit des Bundes auf dem Gebiet der Kernenergie. Man wird dem Bund diese Zuständigkeiten um so weniger verwehren können, als gewichtige Stimmen des In- und Auslandes sogar eine zwischenstaatliche oder überstaatliche Regelung der mit der friedlichen Nutzung der Kernenergie zusammenhängenden Probleme für erforderlich halten. ,,19

Und zur Aufhebung der übergangsweise erlassenen Landesatomgesetze und -verordnungen mit Inkrafttreten des AtomG heißt es: "Die Ländergesetze können, so notwendig sie für eine Übergangszeit sind, keine ausreichende Rechtsgrundlage für den Aufbau einer deutschen Atomwirtschaft und für einen wirksamen Strahlenschutz geben. Die Wahrung der Rechts- und Wirtschafiseinheit in der Bundesrepublik fordert ein Bundesatomgesetz. Ohne ein Bundesatomgesetz ist insbesondere eine befriedigende Lösung der Hafiungs- und Versicherungsfragen ausgeschlossen. "20

Somit ist davon auszugehen, daß der Bund seine Gesetzgebungskompetenz im Bereich des Art. 74 Nr. lla GG erschöpfend wahrgenommen hat.

b) Bedürfnis für eine bundesgesetzliehe Regelung Die beiden Auszüge aus den Begründungen zum AtomG lenken bereits den Blick auf die weitere Frage, ob überhaupt ein Bedürfnis i.S.d. Art. 72 Abs. 2 GG für eine bundesgesetzliehe Regelung vorlag. Die Bundesregierung begründete dieses Bedürfnis insbesondere mit internationalen Verpflichtungen sowie mit Haftungs- und Versicherungsfragen21 , die gem. Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG zur Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit ein bundeseinheitliches Atomrecht erforderten.

19

20 21

BT-Drs. 2/3026, S. 18. BT-Drs. 31759, S. 17. BT-Drs. 2/3026, S. 18 und 31759, S. 17; s.o.

252

Teil 3: Der legislative Ausstieg

Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG besitzt der Bundesgesetzgeber eine Einschätzungsprärogative22, wodurch angesichts der ohnehin weit gefaßten Kriterien der Nm. 1 bis 3 des Art. 72 Abs. 2 GG die Wahrnehmung einer konkurrierenden Gesetzgebungsbefugnis durch den Bund nur selten am Fehlen eines Bedürfnisses nach bundesgesetzlicher Regelung scheitert. 23 Im Falle des Atomrechts hat jedenfalls die Regelung durch den Bund angesichts der überregionalen Bedeutung atomarer Anlagen und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit der Angleichung der Betriebsvoraussetzungen durchaus ihre Berechtigung. 24 Festzuhalten bleibt damit, daß derzeit alle Versuche der Landesgesetzgeber, den Ausstieg aus der Atomenergienutzung in Wahrnehmung der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Nr. lla GG zu erreichen, wegen der Ausschöpfung dieses Kompetenztitels durch den Bund und der hierauf beruhenden Sperrwirkung scheitern müssen. 2. Länderkompetenzen aus anderen Kompetenztiteln? Möglicherweise bieten jedoch andere Kompetenztitel des Grundgesetzes oder auch die verbleibenden ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen der Länder Ansatzpunkte, auf gesetzlichem Wege die weitere Nutzung der Kernenergie zu verhindern.

a) Die von den Initiatoren des nordrhein-westfälischen und des bayerischen Volksbegehrens vorgetragene Begründung Die in Nordrhein-Westfalen vorgelegte Initiative stützte sich nach dem Vorbringen der Antragsteller auf die Kompetenzregelung des Art. 74 Nr. 15 i.V.m. Art. 15 GG. Von der Möglichkeit der Sozialisierung habe der Bund bisher keinen Gebrauch gemacht, so daß das Land insoweit noch gem. Art. 30, 70 Abs. 1, 72 Abs. I GG zu einer Regelung befugt sei. Auf die Zuständigkeitsverteilung nach Art. 74 Nr. lla GG komme es daher nicht an. 25

BVertGE 2, 213 [224 f.]; 4, 115 [127]; 13, 230 [233 f.]; 26, 338 [382 f.]; 34, 9 [39]; 22 kritisch dazu Degenhan, Staatsrecht, Rn. 107; MaunzlDürig-Maunz, Art. 72 Rn. 17; Oeler, Gesetzgebungskompetenzen, S. 118, 122; Scholz, Gesetzgebungskompetenz, S. 258 ff.; Slern, StaatsR D, § 37 D. 3 e) ß) (S. 596 f.). 23 Hesse, Grundzüge, Rn. 240; Oeler, Gesetzgebungskompetenzen, S. 123. 24 Ebenso bereits BK-Jess, Art. 74 Nr. 11a, Anm. D. 1.; Hanlke, Energierecht, S. 56 f.; Kimminich, Atornrecht, S. 35; Pelzer, DÖV 1959, 52. 25 Vgl. NWVBI. 1987, 13 [14] (insoweit nicht wiedergegeben in OVGE 39, 299 ff.).

§ 13 Föderalistische Ausstiegsgrenzen

253

Ähnlich argumentierten die Initiatoren des Volksbegehrens in Bayern. 26 Es handele sich bei dem Gesetz um eine legislatorische Standortplanung. Für die Raumordnung habe der Bund gern. Art. 75 Nr. 4 GG nur eine Kompetenz zum Erlaß von Rahmenvorschriften. Hiervon habe er zwar durch Erlaß des Raumordnungsgesetzes vom 8. 4. 1965 Gebrauch gemacht, jedoch sei dieses Gesetz ausfüllungsbedürftig und -fähig. Auch das AtomG enthalte keine abschließende Bestimmung über positive und negative Standortplanungen. Der Gesetzesentwurf gerate daher mit Bundeskompetenzen nicht in Konflikt. Bereits früher wurde vertreten, daß sich die Kompetenz des Bundes nach Art. 74 Nr. 11a GG nur auf die Errichtung und den Betrieb von Anlagen, nicht jedoch auf deren räumliche Verteilung erstrecke, so daß die generelle positive oder negative Grundsatzentscheidung über die Errichtung von Kernkraftwerken in einem Bundesland wie auch die Standortplanung von den Landes gesetzgebern zu treffen sei. 27

b) Das Problem der Doppel- oder Mehrjachkompetenz Es läßt sich nicht bestreiten, daß die beabsichtigten Regelungen in der Tat Bezüge zu mehreren Sachgebieten aufweisen. Im Falle der Sozialisierung von Kernkraftwerken sind die Nm. 11a und 15 des Art. 74 GG berührt; bei Flächensperrungen für atomare Anlagen sind dies Art. 74 Nr. lla und Art. 75 Nr. 4 GG. Kompetenzkonflikte treten in solchen Fällen nicht auf, solange es dabei nicht zu Überschneidungen von Bundes- und Landeskompetenzen kommt, weil entweder nur einer von beiden legislativ tätig wird oder aber weil bei Tätigwerden beider kein Widerspruch zwischen den Regelungen festzustellen ist. 28 Fraglich ist aber, wie die Kollisionslösung auszusehen hat, wenn eine Materie Bezüge zu mehreren Bereichen aufweist und Bund und Länder von ihren Befugnissen in unterschiedlicher Weise Gebrauch machen wollen. aa) Die These der 'Mehrfachzuordnung' Verschiedentlich wird vertreten, daß in den Fällen, in denen eine eindeutige Zuordnung einer Regelung zu einem einzigen Kompetenzbereich nicht möglich sei, diese Regelung auf mehrere einschlägige Kompetenztitel gestützt Vgl. die Nachweise bei Hamke, Energierecht, S. 95. Lecheier, ZRP 1977,245 f.; liSll, DVBI. 1978, 15; Degenhan, Staatsrecht, Rn. 122; anders jedoch noch tiers., Kemenergierecht, S. 204. 28 Zur Frage der Anwendbarkeit des Art. 31 GG in diesem Fall vgl. März, Bundesrecht, S. 113 ff. . 26

27

Teil 3: Der legislative Ausstieg

254

werden könne. In diesen Fällen sei somit u. U. eine Mehrfachkompetenz von Bund und Ländern im Sinne einer Doppelzuständigkeit für ein und dieselbe Regelung eröffnet. Bei einander widersprechenden Regelungen greife Art. 31 GG als Korrektiv ein, so daß letztendlich die landesrechtIiche Regelung dem Bundesgesetz weichen müsse. 29 Art. 31 GG setze die Möglichkeit einer Normkonkurrenz voraus; diese wiederum die Möglichkeit mehrfacher Qualifikation einer Norm. 30 bb) Die Gegenansicht Dem kann jedoch so nicht zugestimmt werden. Zum einen zwingt Art. 31 GG keineswegs zur Bejahung von Doppel- oder Mehrfachzuordnungen. Es ist zwar richtig, daß die Anwendung des Art. 31 GG das verfassungsmäßige Zustandekommen der kollidierenden Vorschriften3! voraussetzt, denn schon begrifflich kann nur gültiges Landesrecht durch entgegenstehendes, ebenfalls gültiges Bundesrecht "gebrochen" werden. 32 Dieses Erfordernis beläßt jedoch für Art. 31 GG auch bei Ablehnung von Mehrfachkompetenzen einen breiten Anwendungsraum. 33 Zum anderen ist der These der 'Mehrfachzuordnung' entgegenzuhalten, daß sie Kompetenzkonflikte im Bereich der Gesetzgebung immer zugunsten des Bundes löst. 34 Der Verzicht auf eine eindeutige Zuordnung gesetzlicher Regelungen in kompetenzrechtIicher Hinsicht35 erweitert den Handlungsspielraum des Bundesgesetzgebers ganz erheblich. Denn Bezüge zu einem oder mehreren Kompetenztiteln der Art. 73 bis 75 GG lassen sich in der Tat bei vielen Normierungen herstellen, die bisher von den Ländern erlassen wurden. 29 So ausdrücklich Peslalozza, DÖV 1972, 189 f.; ihm folgend Lerche, JZ 1972, 471; Rengeling, HdBStR IV, § 100 Rnrn. 17 u. 49 - 54 (insbes. Rn. 54 a.E.); Scholz, Gesetzgebungsverfahren, S. 256; ebenso wohl AltK-Bothe, Art. 70 Rnrn. 21 - 24. 30 Pestalozza, DÖV 1972, 190. 3! Wie auch die Beachtung sonstigen Verfassungsrechts; vgl. März, Bundesrecht, S. 145; Stern, StaatsR ß, § 37 ß 4 c) a) (S. 608). 32 Degenhan, Staatsrecht, Rn. 118; Hesse, Grundzüge, Rn. 267; Jarass/Pierolh, Art. 31 Rn. 3; v.Mangoldl/Klein, Art. 31 Arun. m I, 2; MaunzlDürig-MaullZ, Art. 72 Rn. 7; v.MünchGubelt, Art. 31 Rn. 1 u. 17 f.; Stern, StaatsR I, § 19 m 7 e) ß); BVerfGE 26, 116 [135); 36, 342 [363 ff.). 33 Art. 31 GG greift beispielsweise ein, wenn der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht im konkurrierenden Bereich erst dann Gebrauch macht, nachdem bereits ein Land auf diesem Gebiet legislatorisch tätig geworden ist. Ein ausdrückliches Außerkraftsetzen des widersprechenden Landesrechts, wie es beispielsweise in § 55 AtomG bzgl. der Landesatomgesetze geschehen ist, ist in einem solchen Fall aufgrund der Regelung des Art. 31 GG entbehrlich und hätte allenfalls deklaratorische Wirkung. Zu weiteren Anwendungsfallen siehe sogleich im Text. 34 35

So auch Hantke, Energierecht, S. 59; Pielzcker, HdBStR IV, § 99 Rn. 29. Ausgehend von der Prämisse, eine solche eindeutige Zuordnung sei häufig nicht möglich.

§ 13 Föderalistische Ausstiegsgrenzen

255

Hierbei ist zu bedenken, daß es zu Überschneidungen nicht nur innerhalb des Kompetenzkatalogs des Art. 74 GG kommen kann, sondern insbesondere auch zwischen Bereichen des Art. 74 GG und ausschließlichen Landeskompetenzen. Ließe man in diesen Fällen Doppel- oder Mehrfachkompetenzen zu, so wäre dem Bund dadurch die Möglichkeit eröffnet, Regelungsmaterien an sich zu ziehen, die ihm andernfalls verschlossen wären. Somit könnte der Bund beispielsweise durch Erlaß strafrechtlicher Vorschriften unter Berufung auf "seinen" Teil der Doppelzuständigkeit36 zahlreiche landesrechtliche Regelungen mit der Wirkung des Art. 31 GG verdrängen. Der ohnehin bundesfreundlichen Auslegung und Anwendung des ursprünglich als Schranke für die Wahrnehmung der Gesetzgebungskompetenzen des Bundes im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung gedachten Art. 72 Abs. 2 GG, der ein "Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung" verlangt, würde auf diese Weise eine weitere Stütze zur Seite gestellt, die den Handlungsspielraum der Länder auf dem Gebiet der Gesetzgebung zusätzlich erheblich einengt. Daß es sich hierbei nur um eine "relativ dünne Zone" handele, die darüber hinaus noch durch "die Vorstellung der Bundestreue oder ähnliche Bremsfaktoren"37 reguliert werden könne, muß bezweifelt werden. Verlangt man hingegen eine eindeutige Zuordnung, dann bleibt dem Bund in diesen Fällen von vornherein die Möglichkeit versperrt, unter Berufung auf seine Kompetenz aus Art. 73 bis 75 GG in klassische Bereiche der Landesgesetzgebung einzugreifen und die Wirkung des Art. 31 GG auszulösen. Der Anwendungsbereich des Art. 31 GG reduziert sich damit auf die Fälle, in denen eine echte Kollision zwischen zuvor eindeutig zugeordneten Vorschriften des Bundes und der Länder vorliegt. Doppel- oder Mehrfachzuordnungen sind daher mit der herrschenden Meinung38 abzulehnen. Auch in den Fällen, in denen eine Regelung Bezüge zu mehreren Gesetzgebungsbereichen aufweist, muß somit eine eindeutige Zuordnung erfolgen. 39

36 Art. 74 Nr. 1 GG. 37 So Lerche, JZ 1972, 471 f.; ähnlich Pestalozz.a, DÖV 1972, 190, der in der Befürwor-

tung von Doppelkompetenzen sogar die Chance größerer gesetzgeberischer Entfaltung für die Gliedstaaten erblickt. 38 BVerfGE 36, 193 [202 f.]; 61, 149 [204 f.]; 67, 299 [320 f.]; Hantke, Energierecht, S. 58 f.; v.Mangoldt/Klein, Art. 31 Anm. m 4; März, Bundesrecht, S. 109, 122 f., 136; MaunzlDürig-Maunz, Art. 74 Rn. 9; v.Münch-Gubelt, Art. 30 Rn. ISa; v.Münch-v.Münch, Art. 70 Rn. 3; Pietzcker, HdBStR IV, § 99 Rn. 29; Petersen, NuR 1989, 208; Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 70 Rn. 4; Stern, StaatsR I, § 19 m 3 a) ß) (S. 508). 39 Nur ausnahmsweise - nämlich dann, wenn eine Regelungskompetenz des Bundes nicht zweifelhaft ist, hierfür jedoch mehrere Kompetenztitel in Betracht kommen - mag es hingenommen werden, die Frage des letztendlich einschlägigen Kompetenztitels offen zu lassen (vgl. BVerfGE 26,338 [377, 383]- Eisenbahnkreuzungen).

256

Teil 3: Der legislative Ausstieg

Dies darf allerdings nicht zu dem häufig vorschnell gezogenen Schluß führen, durch eine eindeutige Kompetenzzuordnung könnten Widersprüche zwischen Bundes- und Landesrecht in jedem Fall oder auch nur in der Regel vermieden werden. 4O Kollidiert etwa eine landesrechtliche Regelung aus einem Kompetenztitel des Art. 74 GG mit einer bundesrechtlichen Regelung aus einem anderen Kompetenztitel des Art. 74 GG, so läßt sich der Konflikt nicht über Art. 72 GG lösen, sondern nur über Art. 31 GG. Gleiches gilt im Falle der Kollision von Bundesrecht mit landesrechtlichen Regelungen im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz der Länder. 41 Dies läßt sich auch aus Art. 70 Abs. 2 GG ableiten, wonach sich "die Abgrenzung der Zuständigkeit zwischen Bund und Ländern ... nach den Vorschriften über die ausschließliche und die konkurrierende Gesetzgebung" bemißt. Diese Vorschrift enthält eben keine Regelung für den Fall, daß zuständigkeitsgerecht zustandegekommene Vorschriften des Bundes und der Länder miteinander kollidieren. Hierfür gilt nach wie vor Art. 31 GG. Art. 31 GG wird damit nicht zu einer Kompetenzverteilungsvorschrift, sondern setzt das kompetenzrechtlich einwandfreie Zustandekommen des Gesetzes gerade voraus. Es verbleibt daher ein nicht unbedeutendes Kollisionspotential bundes- und landesrechtlicher Regelungen, das sich auch bei Ablehnung der Mehrfachzuordnung nicht anband der Kompetenzverteilungsvorschriften der Art. 70 ff. GG lösen läßt, sondern nur über Art. 31 GG. Subsidiär kommt dem Grundsatz der Bundestreue42 eine zusätzliche Funktion als Kompetenzwahrnehmungsgrenze im Sinne einer Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme für Bund und Länder ZU. 43

c)

Zuordnung mehrdeutiger Gesetze

Es müssen daher Kriterien gefunden werden, mit deren Hilfe Vorschriften, die Bezüge zu mehreren Kompetenzbereichen aufweisen, dennoch zuverlässig 40 In diese Richtung etwa Seijenmömig, Art. 31 Rn. 2: "Die Kompetenzregelungen der Art. 71 ff. verhindern fiir das einfache Recht i.d.R., daß es zur Kollision kommt, schränken somit die praktische Bedeutung der Bestimmung (des Art. 31 GG; der Verfasser) ein. Sie besteht insbes. noch fiir das Verhältnis von Bundesverfassungsrecht zum Landesrecht, von Landesverfassungsrecht zum Bundesrecht, Bundesrechtsverordnungen zu Landesrecht." Ähnlich auch v.Münch-Gubelt, Art. 31 Rn. 2; Pietzcker, HdBStR IV, § 99 Rn. 26 u. 31.

41 Vgl. insoweit auch die ausdrückliche Heranziehung des Art. 31 GG bei Widerspruch zwischen der Regelung der Beamtenhaftung durch den Bund gern. Art. 74 Nr. 1 GG und der Staatshaftung als ausschließliche Länderkompetenz in BVertGE 61, 149 [204 a.E.] - Staatshaftung. 42 BVertGE 4, 115 [140] ("fiir Bund und Ländern); BVertGE 6, 309 [361]; 34, 9 [28 f.] (fiir die Länder); BVertGE 12,205 [239]; 21, 312 [326]; 61, 149 [205] (fiir den Bund); ferner MaunzlDürig-Maunz, Art. 74 Rn. 15 a.E.; Rengeling, HdBStR IV, § 100 Rn. 24. 43 Dazu später, § 13 C ..

§ 13 Föderalistische Ausstiegsgrenzen

257

einem einzigen Titel zugeordnet werden können. Die Zuordnung läßt sich in zwei Schritte unterteilen44 , wobei allerdings die Unterscheidung in der Praxis nicht immer in aller Deutlichkeit nachvollzogen wird. Zunächst ist der Inhalt des in Betracht kommenden Kompetenztitels des Grundgesetzes durch Auslegung zu ermitteln. Im Anschluß daran muß der Inhalt des zuzuordnenden Gesetzes bestimmt werden, woraus sich dann dessen Zuordnung ergibt. aa) Die Auslegung des Kompetenztitels Bei der Auslegung des Kompetenztitels greift das Bundesverfassungsgericht und ihm folgend die herrschende Meinung in der Literatur45 auf die allgemeinen Grundsätze der Verfassungsinterpretation zurück. Das Bundesverfassungsgericht legt die Kompetenzbestimmungen mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung nach ihrem Wortlaut"6, ihrem Bedeutungszusammenhang"1, nach traditionellen Gesichtspunkten einschließlich der Entstehungsgeschichte des Kompetenztitels"8 und nach ihrem Sinn und Zweck49 aus. Hierbei sind jedoch die einzelnen Gesetzgebungsmaterien nicht isoliert zu betrachten; ihre gegenseitige Abgrenzung ergibt sich vielmehr aus dem Gesamtgefüge der grundgesetzlichen Kompetenzvorschriften. 5O Dabei darf der in Art. 70 Abs. 1 GG enthaltene Grundsatz der Länderkompetenz nicht im Sinne einer grundsätzlichen Zuständigkeitsvermutung für die Länder mißverstanden werden, welcher von vornherein eine restriktive, im Interesse der Länder möglichst enge Interpretation von Kompetenzbestimmungen bei Inanspruchnahme durch den Bund gebieten würde. 51 Vielmehr 44

West'.

Rengeling, HdBStR IV, § 100 Rn. 27; HessStGH, DÖV 1982, 320 [321 f.] - 'Startbahn

45 Erbguth, DVBI. 1988, 319; MaunzlDürig-Maunz, Art. 73 Rn. 17; v.Münch-v.Münch, Art. 70 Rn. 16; Rengeling, HdBStR IV, § 100 Rn. 28 m.w.Nachw.; Stern, StaatsR ß, § 37 ß 4 c) (S. 607); Vogel, Bundesstaatliche Ordnung, S. 836. 46 BVerfGE 3,407 [413 f.]; 67, 299 [315]; 68,319 [331 f.]. 47 BVerfGE 3,407 [413 f.]; 67, 299 [315].

48 BVerfGE 3,407 [414 f.]; 15, 1 [18 ff.]; 26, 338 [370 ff.]; 61, 149 [175]; 67, 299 [315]; 68, 319 [328, 331]; 77, 308 [331] unter besonderer Hervorhebung der Bedeutung der Staatspraxis. Vgl. auch März, Bundesrecht, S. 125 f.; Pelersen, NuR 1989, 209. 49 BVerfGE 15, 1 [17 f.]; 68, 319 [330]; Erbguth, DVBI. 1988, 320 f.; Pelersen, NuR 1989,210. 50 BVerfGE 68,319 [328]. 51 BVerfGE 15, 126 [129]; BielenberglErbgulh/Söjker, Raumordnungs- und Landesplanungsrecht, J 610 Rn. 15; Erbgulh, DVBI. 1988, 319, 326; Hanlke, Energierecht, S. 53 f.; Rengeling, HdBStR IV, § 100 Rn. 29 f.; Rinck, Gesetzgebungskompetenzen, S. 290 ff.; Scholz, Gesetzgebungskompetenz, S. 255; Stern, StaatsR ß, § 37 ß 4 a) (S. 607). MaunzlDürig-Maunz, Art. 70 Rn. 29 f. und Art. 74 Rn. 15, nimmt eine Zuständigkeitsvennutung zugunsten der Länder dann an, wenn "aus der Auslegung der schon bestehenden Zuständigkeiten kein tragfahiges 17 Borgnumn

258

Teil 3: Der legislative Ausstieg

geht die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes von der prinzipiellen Gleichwertigkeit von Bundes- und Landesgesetzgebungszuständigkeit aus, wobei das Grundgesetz auf eine Aufzählung auch der Landeskompetenzen verzichtet, um Lücken im Katalog der Gesetzgebungszuständigkeiten zu vermeiden. Zu fordern ist somit eine "strikte "52, "dem Sinne gerecht werdende"53, "sachgemäße und funktionsgerechte"~ Auslegung der Kompetenzvorschriften. Allenfalls in Fällen letzter verbleibender Zweifel, in denen mithilfe anderer Auslegungskriterien kein eindeutiges Ergebnis gewonnen werden kann, kommt das durch die Art. 30 und 70 Abs. 1 GG vorgezeichnete RegelAusnahme-Prinzip zugunsten der Länder zum Zuge. bb)Bestimmung des Inhalts der zuzuordnenden Regelung Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt festgestellt, daß es für die Zuordnung einer Regelung zu einem Kompetenztitel nicht auf den Anknüpfungspunkt, also den Regelungsort der Vorschrift, sondern auf ihren Gegenstand ankommt. 55 Ausschlaggebend ist dabei der Bedeutungszusammenhang, die historische Zugehörigkeit, der Sinn und Zweck der zuzuordnenden Vorschrift und deren Wirkung. 56 Die Formulierungen gehen dabei z.T. auseinander, ohne daß jedoch eine Divergenz in der Sache festzustellen ist. 51 Teilweise wird auf den unmittelbaren im Unterschied zum mittelbaren Regelungsgegenstand abgestellt58 , teil-

Ergebnis gewonnen werden" kann. März (Bundesrecht, S. 140 f.) erblickt in Art. 70 Abs. 1 GG zwar keine Vennutung zugunsten der Länderzuständigkeit, wohl aber eine Beweislastregelung, wonach der Bund nachweisen müsse, zur Regelung des fraglichen Lebenssachverhalts berechtigt zu sein. 52 BVerfGE 12, 205 [228 f.); 15, 1 (17); 61, 149 [174 m.w.Nachw.). 53 BVerfGE 15, 126 (139); Rengeling, HdBStR IV, § 100 Rn. 30; Scholz, Gesetzgebungskompetenz, S. 255. ~ Erbgulh, DVBI. 1988, 319; Rinck, Gesetzgebungskompetenzen, S. 300; ebenso März, Bundesrecht, S. 126. 55 BVerfGE 58, 137 [145]; 68, 319 [327 f.]; 77, 308 [329]; ebenso Mlirz, Bundesrecht, S. 126; Rengeling, HdBStR IV, § 100 Rn. 19. 56 BVerfGE 7, 29 [40]; 8, 143 [ISO]; 32, 319 [326 f.]; 61, 149 [175 ff.]; Degenhan, Staatsrecht, Rn. 108 f.; Erbgulh, DVBI. 1988, 320 f. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist allerdings nicht immer frei von Widersprüchen. In BVerfGE 36, 193 [205) hat es beispielsweise festgestellt, daß filr die kompetenzrechtliche Einordnung des Zeugnisverweigerungsrechts der Presse Ort, Mittel und Sachzusammenhang der Regelung und nicht deren Sinn und Zweck entscheidend sei. 51 HessStGH, DÖV 1982, 320 [322); Hanlke, Energierecht, S. 60. 58 BVerfGE 8, 104 [116 f.]; 8, 143 [ISO]; 13, 181 [196]; 28, 119 [149]; 36, 193 [203]; Degenhan, Staatsrecht, Rn. 113; Rengeling, HdBStR IV, § 100 Rn. 37.

§ 13 Föderalistische Ausstiegsgrenzen

259

weise auf den Hauptzweck der Norm. 59 Andere wiederum treffen die Zuordnung danach, welche Materie von der Norm "sonderrechtlich" bzw. "spezifisch" und nicht nur allgemein gestaltet wird60 bzw. welche Folgewirkungen eines Gesetzes mit seinem Hauptregelungsgegenstand normativ verbunden sind. 61 Zusammenfassend ist festzuhalten, daß für die kompetenzrechtliche Zuordnung in erster Linie nicht die äußere Form der Regelung, sondern ihr zentraler Gehalt den Ausschlag gibt. Eine Regelung ist danach derjenigen Kompetenzbestimmung zuzuordnen, die sie speziell und nicht nur allgemein betrifft. Es reicht also nicht jede beliebige Beziehung zu einem Kompetenzbereich aus. Trennbare Regelungen müssen jedenfalls getrennt (aber nicht notwendig verschieden) zugeordnet werden, so daß die Vorschriften einer umfangreicheren Kodifikation nicht zwangsläufig immer das gleiche kompetenzrechtliche Schicksal teilen müssen. 62 Bei verbleibender Mehrdeutigkeit ist auf das Schwergewicht der Regelung abzustellen. 63

d) Die Zuordnung der landesrechtlichen Ausstiegsgesetze Anband der soeben erarbeiteten Zuordnungskriterien ist nunmehr zu entscheiden, wie etwaige ausstiegsorientierte Landesgesetze - insbesondere also die in den Ländern Nordrhein-Westfalen und Bayern vorgelegten Entwürfe 64 einzuordnen sind. Falls sich dabei herausstellt, daß ein Gesetzesvorhaben in den Kompetenzbereich des Art. 74 Nr. lla GG fällt, steht damit gleichzeitig fest, daß den Ländern hierfür die Gesetzgebungskompetenz fehlt, da bereits der Bund erschöpfend von diesem Kompetenztitel Gebrauch gemacht hat und somit die Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 1 GG einer landesrechtlichen Rege-

59 BVerfGE 13,367 [371 f.]; 14,76 [99]; 14, 197 [220]; VerfGH NW, NWVBI. 1987, 13 [14 f.]. 60 Lerche, IZ 1972,471 f.; Peslalozza, DÖV 1972, 182 f.; Scholz, Gesetzgebungskompetenz, S. 268. 61 Grawen, NWVBI. 1987, 5 f.; Rengeling, HdBStR N, § 100 Rn. 40; Scholz, Gesetzgebungskompetenz, S. 268. 62 So werden beispielsweise die Einzelvorschriften des Gesetzes zur Umsetzung der EGRichtlinie 85/337/EWG v. 27. 6. 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPG) bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten auf unterschiedliche Kompetenztitel gestützt, da der Bund keine vollständige, umfassende Gesetzgebungszuständigkeit rur den Umweltschutz besitzt (vgl. insoweit die amtl. Begründung zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung in BT-Drs. 1113919, S. 18 f.). 63 BVerfGE 80, 124 [132]; BayVerfGH, BayVBI. 1990, 659 f.; Al1K-Bothe, Art. 70 Rn. 17; Degenhan, Staatsrecht, Rn. 113; März, Bundesrecht, S. 133. 64 S.o., § 10 C. I. und ll.

260

Teil 3: Der legislative Ausstieg

lung entgegensteht. 65 Falls jedoch für die Regelung andere Kompetenzbereiche einschlägig wären, die der Bund noch nicht wahrgenommen hat oder die er nicht wahrnehmen kann, so bestünden gegen eine landesrechtliche Regelung jedenfalls aus kompetenzrechtlicher Sicht keine Bedenken. 66 Die Initiatoren des nordrhein-westfälischen Volksbegehrens beriefen sich für die Landeskompetenz auf die vom Bund bisher nicht wahrgenommene Zuständigkeit nach Art. 74 Nr. 15 GG. Für den geplanten gesetzlichen Standortausschluß in Bayern wurde die Landeskompetenz für Standortplanungen auf dem Gebiet der Raumordnung reklamiert, auf dem der Bund gem. Art. 75 Nr. 4 GG nur Rahmenvorschriften erlassen könneY aa) Die Bestimmung des Inhalts der einschlägigen Kompetenztitel Zunächst müssen die einschlägigen Kompetenzbereiche inhaltlich bestimmt und gegeneinander abgegrenzt werden. War die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für den Erlaß des AtomG aufgrund des Art. 74 Nr. lla GG zweifelsohne gegeben68 , so stellt sich für die kompetenzrechtliche Einordnung der dargestellten landesrechtlichen Initiativen die Frage, ob Art. 74 Nr. lla GG auch zur Überführung atomarer Anlagen in Gemeineigentum und zu Standortplanungen unter raumordnerischen Gesichtspunkten ermächtigt. Nach herrschender Meinung eröffnet Art. 74 Nr. 11a GG die Befugnis zur umfassenden Regelung aller Fragen, die durch die Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken aufgeworfen werden. 69 Gerade die Häufung der in Art. 74 Nr. lla GG genannten Einzelbereiche bringe zum Ausdruck, daß die Ermächtigung möglichst den Gesamtbereich des Kernenergiewesens erfassen will. 10 Ob Art. 74 Nr. lla GG allerdings wirklich auch zur Regelung von Fragen ermächtigt, die nur mittelbar mit der friedlichen Nutzung der Kernenergie zu tun haben, bedarf noch näherer Untersuchung.

65

S.o., § 13 A. 11. I.

Zu prufen bliebe dann allerdings noch die Vereinbarkeit der landesrechtlichen Regelung mit Bundesrecht unter dem Gesichtspunkt des Art. 31 GG bzw. des Grundsatzes der Bundestreue (dazu später unter § 13 B. und C.). 61 S.o., § 13 A. 11. 2. a). 68 S.o., § 13 A. I. 66

69 AllK-Bothe, Art. 74 Rn. 26; BK-Jess, Art. 74 Nr. lla, Anm. 11. 2; SchmidJ-Bleiblreu/Klein, Art. 74 Rn. 30. 10

MaunzlDürig-Maunz, Art. 74 Rn. 157.

§ 13 Föderalistische Ausstiegsgrenzen

261

(1) Der Umfang der durch Art. 74 Nr. 11a GG erteilten Ermächtigung; dargestellt am Beispiel des § 7 Abs. 2 Nr. 6 AtomG

Ohne die Absicht des Verfassungsgebers zur Erteilung einer weitreichenden Gesetzgebungskompetenz grundsätzlich in Zweifel ziehen zu wollen, ist jedoch andererseits zu bedenken, daß Kompetenzbestimmungen nicht isoliert betrachtet werden dürfen, sondern vielmehr auch im Lichte anderer Kompetenztitel interpretiert werden müssen. 71 Daß die durch Art. 74 Nr. 11a GG erteilte Ermächtigung begrenzt ist, sei im folgenden am Beispiel des § 7 Abs. 2 Nr. 6 AtomG dargestellt. Nach dieser Vorschrift darf die Genehmigung für die Errichtung, den Betrieb oder die wesentliche Veränderung einer kerntechnischen Anlage "nur erteilt werden, wenn ... überwiegende öffentliche Interessen, insbesondere im Hinblick auf die Umweltauswirkungen, der Wahl des Standorts der Anlage nicht entgegenstehen. "12 Der Regelungsgehalt dieser Vorschrift ist stark umstritten; die Frage der Gesetzgebungskompetenz des Bundes, die sich insbesondere bei einer weiten Auslegung des § 7 Abs.2 Nr. 6 AtomG stellt, wird jedoch nur seIten berücksichtigt. 73 § 7 Abs. 2 Nr. 6 AtomG wird von einer Mindermeinung dahingehend verstanden, daß er eigenständige bundesrechtliche Anforderungen auch nicht-atomspezifischer Art an den Standort einer Atomanlage stelle, deren Tatbestandsmerkmale zwar in der Regel durch landesrechtliche Vorschriften wie z.B. Naturschutzrecht oder Wasserrecht konkretisiert würden, die jedoch unbeschadet einer solchen Konkretisierung selbst eingreifen und hiervon unabhängige Voraussetzungen für die Standortbeurteilung enthielten. 74 Konsequenterweise erblicken die Vertreter dieser Ansicht dann in § 7 Abs. 2 Nr. 6 AtomG eine Regelung auf den Gebieten des Immissionsschutzrechts, des Wasserrechts und des Natur- und Landschaftspflegerechts. Hierfür könne eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes zwar nicht unmittelhar aus Art. 74 Nr. 11a GG hergeleitet werden75 , wohl aber bestehe eine konkurrierende Kompetenz kraft Sachzusammenhmtgs zu Art. 74 Nr. 11a GG. Zur BVertGE 68,319 [328]; S.O., § 13 A. n. 2. c) aa). Oie im Zusammenhang mit dem Erlaß des UVP-Gesetzes erfolgte Änderung des § 7 Abs.2 Nr. 6 AtomG (zuvor lautete der Zwischensatz: "... , insbesondere im Hinblick auf die Reinhaltung des Wassers, der Luft und des Bodens, ... ") hatte nur klarstellende Funktion und verdeutlicht den umfassenden Charakter der Prüfung standortbezogener Umweltauswirkungen. Eine Erweiterung der Entscheidungskompetenz der Atombehörden ergibt sich daraus nicht. (Vgl. insoweit die amtl. Begründung in BT-Ors. 11/3919, S. 31; ferner Junker, Stillegung, S. 123; allgemein SchmidJ-Preuß, OVBl. 1991,240 ff.) 73 Soweit ersichtlich nur bei Junker, Stillegung, S. 119; Ronellenjitsch, Genehmigungsverfahren, S. 287 und ausfiihrlicher bei LukeslHanning, OB 1977, 1983 - 1985. 74 LukeslHanning, OB 1977, 1982. Eine Bindungs- oder Ersetzungswirkung fiir andere zu erteilende Genehmigungen wird allerdings verneint (a.a.O., 1985 f.). 75 LukeslHanning, OB 1977, 1983. 71

12

262

Teil 3: Der legislative Ausstieg

zweckentsprechenden Durchführung der Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus Art. 74 Nr. lla GG erscheine es "notwendig, daß dem Bund auch die Befugnis zur Spezialregelung im Bereich der sonst den Ländern teilweise zugewiesenen Rechte zur Regelung der Wasserwirtschaft sowie der Naturschutzund Landschaftspflege im Zusammenhang mit dem Bau von Atomanlagen" zustehe. 76 Dieser Ansicht ist jedoch entgegenzuhalten, daß sie die Kompetenz des Bundesgesetzgebers auf dem Gebiet des Kernenergiewesens aus Art. 74 Nr. lla GG in einer Weise überdehnt, die bei kosequenter Anwendung zu einer schleichenden Aushöhlung der Länderkompetenzen führen kann. 77 Hätte der verfassungsändernde Gesetzgeber den Bund zu eigenen wasserrechtlichen und naturschutzrechtlichen Regelungen im Zusammenhang mit der Errichtung von Kernenergieanlagen mit oder ohne Konzentrationswirkung für andere Verfahren ermächtigen wollen, dann hätte er dies in Art. 74 Nr. lla GG deutlich zum Ausdruck bringen müssen. Da jedoch Art. 74 Nr. lla GG trotz seiner Detailliertheit keinen Hinweis auf eine Einbeziehung sonstiger Rechtsgebiete enthält, ist zu folgern, daß dieser Kompetenztitel jedenfalls nicht zu eigenen Regelungen beispielsweise naturschutz- oder wasserrechtlicher Art ermächtigt. Dies belegt auch die amtliche Begründung zur Einführung des Art. 74 Nr. lla GG, in der es wörtlich heißt: 'Die hier vorgeschlagene Lösung sucht sich bei aller Erkenntnis der Notwendigkeit, verschiedene Fragen einheitlich zu regeln, von jeder unnötigen Zentralisierung freizuhalten. ,78

Die Auffassung von Lukes/Hanning, § 7 Abs. 2 Nr. 6 AtomG enthalte eigene wasser- und naturschutzrechtliche Voraussetzungen, muß sich ferner fragen

lassen, ob eine solche Auslegung dem Gebot der ausreichenden Bestimmtheit von Rechtsvorschriften79 gerecht wird, denn weder den Behörden noch den Gerichten wären damit die Grenzen ihres Entscheidungs- bzw. Überprüfungsspielraums auch nur ansatzweise vorgezeichnet.

Die hier vertretene engere Auslegung der durch Art. 74 Nr. lla GG erteilten Gesetzgebungskompetenz steht nicht im Widerspruch zu der numnehr als herrschend anzusehenden Auffassung, überwiegende öffentliche Interessen i.S.d. § 7 Abs. 2 Nr. 6 AtomG könnten sowohl solche nuklearspezifischer als

76

LukeslHanning, DB 1977,1985.

Mit der gleichen Begrundung ließe sich nämlich auch die extensive Auslegung anderer Kompetenztitel zugunsten des Bundes rechtfertigen. 78 BT-Drs. 2/3026, S. 18. 79 Vgl. BVerfUE 49, 168 [181]; 59, 104 [114]; 62, 169 [183]. 77

§ 13 Föderalistische Ausstiegsgrenzen

263

auch solche nicht-nuklearspezifischer Art sein. so Der Wortlaut dieser Vorschrift (" ... öffentliche Interessen ... ") und die Hervorhebung der Umweltauswirkungen (" ... insbesondere ... ") geben in der Tat keinen Anhaltspunkt dafür, daß hiermit nur nuklearspezifische Gesichtspunkte gemeint sein sollen. Bei verfassungskonformer Anwendung dieser Vorschrift bestehen auch aus kompetenzrechtlicher Sicht keine Bedenken gegen die Einbeziehung nicht-nuklearspezifischer Gesichtspunkte. Denn diese hat nicht in der Weise zu erfolgen, daß sie die nach anderen Rechtsvorschriften erforderlichen Genehmigungen ersetzt oder daß die Atombehörde zu einer eigenen Einschätzung nichtatomspezifischer Belange mit bindender Wirkung für andere Fachbehörden berechtigt wäre. 81 Die Annahme einer materiellen Konzentration ist schon aus einfachgesetzlichen Gründen nicht haltbar: § 8 AtomG sieht eine solche Wirkung ausdrücklich nur in bezug auf eine nach § 4 BImSchG erforderliche Genehmigung und in gewissem Umfang im Hinblick auf § 24 der GewO vor. Im Umkehrschluß dazu geht die ganz herrschende Meinung zu Recht davon aus, daß alle nach sonstigen Rechtsvorschriften!f2 erforderlichen Genehmigungen nicht ersetzt werden. 83 Damit übereinstimmend soll der Genehmigungsbescheid nach § 7 Abs. 4 S. 3 AtomG LV.m. § 16 Abs. 2 Nr. 1 AtVfV auch den Hinweis enthalten, ... "... daß der Genehmigungsbescheid unbeschadet der Entscheidungen anderer Behörden ergeht, die rur das Gesamtvorhaben aufgrund anderer öffentlich-rechtlicher Vorschriften erforderlich sind. "

Die Berücksichtigung der öffentlichen Interessen im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren wird gern. § 7 Abs. 4 AtomG dadurch gewährleistet, daß alle Behörden des Bundes, der Länder, der Gemeinden und der sonstigen Gebietskörperschaften zu beteiligen sind, deren Zuständigkeitsbereich berührt so Degenhan, Kernenergierecht, S. 46 ff.; Haedrich, § 7 Rn. 119; Heilsch, Kerntechnische Anlagen, S. 90 f. (dort auch unter Auflistung der in Betracht kommenden Abwägungsgesichtspunkte); Henseler, OVBI. 1982, 391; Junker, Stillegung, S. 119; Kloepfer, Umweltrecht, § 8 Rn. 39; Kröncke, Genehmigung, S. II f.; Luckow, Brennstoftkreisläufe, S. 168 - 177; LukeslHanning, OB 1977, 1982 f.; Ossenbühl, Novellierung, S. 102; Ronellenjilsch, Genehmigungsverfahren, S. 285 f.; vgl. auch BVerwGE 72, 300 [329 f.] - Wyhl und BVerwG, OVBI. 1988, 489 [489] - Biblis. 81 So aber Rauschning, 5. AtRS, S. 85 ff. (S. 91: "gewisse Konkretisierungswirkung"). !f2 lnsbes. Baurecht, Wasserrecht, Naturschutz- und Landschaftspflegerecht. 83 Haedrich, Vorbem. zu §§ 3 ff., Rn. 9 und § 7 Rn. 121; Henseler, OVBI. 1982, 392; HoppelBeckmann, Umweltrecht, § 29 Rn. 50; Kloepfer, Umweltrecht, § 8 Rn. 55; Kröncke, Genehmigung, S. 25 f.; LukeslHanning, OB 1977, 1985 f.; Ossenbühl, Novellierung, S. 102 f.; Ronellenjilsch, Genehmigungsverfahren, S. 287 f.; BVerwGE 82, 61 [67 f.] - Ahaus; vgl. auch BVerwG, OÖV 1980, 178 und OVBI. 1988,489 f. Für die Verankerung einer Konzentrationswirkung im Rahmen der anstehenden Reform des Atomrechts KUlScheidI, e! 1991, 685; zu den hiermit zusammenhängenden Fragen der Reichweite des Weisungsrechts des Bundes bereits oben, § 9 B. D. 2. e). Vgl. zur Problematik von Parallelgenehmigungen rur atomare Anlagen schließlich auch die rechtspolitischen Erwägungen in BVerwG, NVwZ 1989, 1163 [1166 f.], insoweit nicht wiedergegeben in BVerwGE 82, 61 [73] - Ahaus.

264

Teil 3: Der legislative Ausstieg

wird. Speziell für die Umweltverträglichkeitsprüfung, die nach § 3 Abs. 1 S. 1 UVPG LV.m. Ziff. 2 der Anlage zu § 3 UVPG auch für kemtechnische Anlagen durchzuführen ist, verlangt § 7 UVPG die Einholung von Stellungnahmen derjenigen Behörden, deren Aufgabenbereich durch das Vorhaben berührt wird. Die Umweltauswirkungen des Vorhabens sind danach zusammenfassend darzustellen, zu bewerten und bei der Entscheidung über die Zulässigkeit des Vorhabens nach Maßgabe der geltenden Gesetze zu berücksichtigen, §§ 11, 12 und 14 Abs. 2 UVPG.84 Dies alles bedeutet jedoch nicht, daß die atomrechtliche Genehmigungsbehörde bezüglich sämtlicher Umweltauswirkungen des Vorhabens ein eigenes Prüfungs- und Entscheidungsrecht mit oder ohne Bindungswirkung für die übrigen noch einzuholenden Genehmigungen, Erlaubnisse etc. hätte. Dazu würde ihr auch die Fachkompetenz und dem Bundesgesetzgeber die Gesetzgebungskompetenz fehlen. Vielmehr werden die nicht-atomspezifischen Belange von den jeweils zuständigen Fachbehörden in das atomrechtliche Genehmigungsverfahren eingebracht85 mit der Folge, daß die Atombehörde bei Entgegenstehen beispielsweise naturschutzrechtlicher Belange bereits die atomrechtliche Genehmigung zu versagen hat. 86 Es wäre auch aus verfahrensökonomischen Gründen nicht sinnvoll, ein aufwendiges atomrechtliches Genehmigungsverfahren durchzuführen und am Ende etwa eine Genehmigung nach § 7 AtomG zu erteilen, wenn bereits von vornherein feststeht, daß dem Vorhaben unüberwindliche Hindernisse beispielsweise naturschutzrechtlicher Art entgegenstehen. Bei diesem Verständnis ist § 7 Abs. 2 Nr. 6 AtomG keine Regelung auf den Gebieten Naturschutzrecht, Wasserrecht, Baurecht U.S.w., da nur eine Verfahrenskonzentration erreicht wird, ohne daß die atomrechtliche Genehmigungsbehörde fachfremde Fragen selbst beurteilt. Zu Recht wird betont, daß es beispielsweise nicht zu den Gesetzgebungskompetenzen für die jeweiligen Fachbereiche gehört, die bei den Planungen zu berücksichtigenden oder abzuwägenden allgemeinen Belange des Naturschutzes und der Landschaftspflege zu regeln. 87 Dies fällt vielmehr unter die Rahmenkompetenz des Art. 75 Nr. 3 GG (Naturschutz und Landschaftspflege) und die ausfüllende Landesgesetzgebung. Zur Gesetzgebungskompetenz für die einzelnen Sachbereiche gehört allerdings wiederum die Regelung der Frage, was Entscheidungsgrund84 Vgl. auch SchmidJ-Preuß, DVBI. 1991, 240 ff.; SoelllDimberger, NVwZ 1990, 708. 85

Vgl. § 7 Abs. 4 AtomG und § 7 UVPG.

Vgl. Haedrich, § 7 Rn. 120; Heilseh, Kerntechnische Anlagen, S. 92; Ronellenjilsch, Genehmigungsverfahren, S. 287; BVerwGE 72, 300 [330] - Wyhl. Gebunden werden auf diese Weise die Fachbehörden nur an ihre eigene eingebrachte Stellungnahme (Haedrich, § 7 Rn. 121) sowie an die alomspezijischen Erwägungen der Alombehörde (BVerwG, DÖV 1980, 178 und DVBI. 1988,489 f.). Siehe hierzu bereits § 9 B. D. 2. e). 87 MaunzlDürig-Maunz, Art. 75 Rn. 127. 86

§ 13 Föderalistische Ausstiegsgrenzen

265

lage für die Erteilung oder Versagung einer Genehmigung ist, d.h. welche verschiedenen Interessen bei den Genehmigungen oder Fachplanungen zu berücksichtigen sind und welches Gewicht ihnen zukommt. 88 Auch in den Fällen, in denen der Gesetzgeber ein Planfeststellungsverfahren vorschreibt89 , trifft er keine Regelung der hierdurch einbezogenen Rechtsgebiete, denn der materielle Prüfungsmaßstab für das Vorhaben wird ja hierdurch nicht verändert. 90 Aus diesem Grund sind nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die §§ 9b Abs. 2 und Abs. 4 S. 2 Nr. 2 AtomG i.V.m. § 2 Abs. 1 S. 1 UVPG, welche für Anlagen des Bundes zur Sicherstellung und zur Endlagerung radioaktiver Abflille im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens die Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung verlangen, durch die Ermächtigung des Art. 74 Nr. lla GG abgedeckt, da diese Gesetzgebungskompetenz die Befugnis umfasse, die Umweltverträglichkeitsprüfung als unselbständigen Teil des Planfeststellungsverfahrens auszugestalten. 91 Aus den gleichen Gründen darf auch in § 14 AtVfV, welcher besagt, daß "die Prüfung durch die Genehmigungsbehörde ... sich außer auf die Genehmigungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 2 des Atomgesetzes auch auf die Beachtung der übrigen das Vorhaben betreffenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften" erstreckt, eine Erweiterung der materiellrechtlichen Anforderungen an die Erteilung der Genehmigung oder auch eine Bindungs- oder Ersetzungsfunktion für andere Verfahren nicht gesehen werden.'l2 Hier wird lediglich das Ermessen der atomrechtlichen Genehmigungsbehörde in der Weise konkretisiert, daß sie die Genehmigung nach § 7 AtomG auch dann versagen kann, wenn das Vorhaben anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften, die ihrerseits kompetenzrechtlich unbedenklich sein müssen, widerspricht. Auch hierin kann somit keine eigene Regelung auf nicht-atomrechtlichen Gebieten erblickt werden. Dies belegt auch die amtliche Begründung zu § 14 AtVfV, in der es wörtlich heißt: "Die Sachpriifung und zugleich volle Entscheidungskompetenz der Genehmigungsbehörde erstreckt sich auf die nuldearspezifischen Genehmigungsvoraussetzungen, wie sie in § 7 Abs. 2 Nr. 1 - 4 des AtomG aufgefilhrt sind. Für die Sachpriifung und Feststellung, ob sonstige öffentliche Interessen (§ 7 Abs. 2 Nr. 5 des AtomG 93) der atomrechtlichen Genehmigung entgegenstehen, sind Stellungnahmen und gegebenenfalls Ent88 MaunzlDürig-Maunz, Art. 75 Rn. 127; vgl. auch BVerfGE 84, 25 [32] - 'Schacht Konrad'. 89 Vgl. z.B. § 9b AtomG filr Anlagen des Bundes zur Sicherstellung und zur Endlagerung radioaktiver Abfälle. 90 BVerwGE 70,242 [244]; 71, 163 [164]; hierzu bereits § 9 B. U. 2. e). 91 BVerfGE 84,25 [32] = JZ 1992, 307 [308] m. zust. Anrn. v. Gomig.

'l2 Ebenso Haedrich, § 7 Rn. 123; Henseler, DVBI. 1982, 395 ff.; HoppelBeckmann, Umweltrecht, § 29 Rn. 50; OVG Lüneburg, DVBI. 1978,67 [70]. 93 Jetzt § 7 Abs. 2 Nr. 6.

266

Teil 3: Der legislative Ausstieg scheidungen der Behörden, die fiir diese sonstigen öffentlichen Interessen entscheidungsverantwortlich sind, erforderlich. Die atornrechtliche Genehmigungsbehörde hat demnach die notwendigen Stellungnahmen dieser Behörden vor ihrer Entscheidung über den Antrag einzuholen. Ergänzend wird in § 14 klarstellend hervorgehoben, daß eine Sachprüfung und Beachtungspflicht auch fiir sonstige öffentlich-rechtlichen Vorschriften besteht94 • Dabei ist sinngemäß wie bei den Feststellungen zu § 7 Abs. 2 Nr. 5 des AtomG95 vorzugehen. ,96

Die Analyse des Regelungsinhalts des § 7 Abs.2 Nr.6 AtomG hat die Grenzen der durch Art. 74 Nr. 11a GG erteilten Ermächtigung verdeutlicht. Die Gesetzgebungskompetenz erstreckt sich eben nicht auf solche Bereiche, bei denen mit den in Art. 74 Nr. 11a GG angesprochenen Regelungsgegenständen nur ein mittelbarer Zusammenhang besteht. davon aus, daß es sich bei der Sicherstellung der Energieversorgung um eine staatliche Aufgabe handelt. Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im 'Mineralölbevorratungsbeschluß ' lassen hieran keinen Zweifel: "Die Sicherheit der Energieversorgung ... ist ein Gemeinschaftsinteresse höchsten Ranges (vgl. BVerfGE 25, 1 [16]). Die ständige Verfilgbarkeit ausreichender Energiemengen ist eine entscheidende Voraussetzung fiir die Funktionsfahigkeit der gesamten Wirtschaft. Es handelt sich hier um ein von der jeweiligen Politik des Gemeinwesens unabhängiges 'absolutes' Gemeinschaftsgut (BVerfGE 13, 97 [107]). "41

Und: "Die SichersteIlung einer ausreichenden Energieversorgung ist auch in einer grundsätzlich marktwirtschaftlich geordneten Wirtschaft eine legitime Aufgabe der staatlichen Wirtschaftspolitik, die von der Verantwortung des Staates für den ungestörten Ablauf des wirtschaftlichen Geschehens im Ganzen ausgeht. Sie umfaßt - als Strukturpolitik auch die Planung und Durchfiihrung von Maßnahmen, die den im Gefolge der technischen Entwicklung und der weltwirtschaftlichen Verflechtung ständig auftretenden

Atomaufsicht, S. 63 ff.) gibt zu bedenken, daß zwar möglicherweise die Energieversorgung als

solche eine öffentliche Aufgabe darstelle, nicht aber die Stromerzeugung durch Kernenergie. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß die Stromerzeugung durch Kernenergie nur eine Variante

der Aufgabenerfilllung ist, ohne daß sich hierdurch am Aufgabencharakter etwas ändert. Unerheblich ist auch, daß die Energieversorgungsunternehmen für die Frage, ob sie die ihnen übertragene öffentliche Aufgabe durch Kernenergie oder durch andere Energiequellen erfilllen, einen Entscheidungsspielraum haben. Unabhängig davon bleibt die Stromerzeugung und Energieversorgung eine öffentliche Aufgabe. 39 Vgl. z.B. BVerfGE 25, 1 [16] - Mühlengesetz. 40 BVerfGE 30,292 [311 f., 323 f.); 38, 258 [270 f.]; 66, 248 [257 f.). 41 BVerfGE 30, 292 [323 f.].

313

§ 17 Sicherstellung der Energieversorgung

Wandlungen bei den einzelnen Energieträgern und in ihrem Verhältnis zueinander Rechnung tragen. "42

In einer späteren Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit der Frage der Zulässigkeit von Enteignungen zugunsten privatrechtlich organisierter Energieversorgungsunternehmen für den Bau von Hochspannungsfreileitungen erneut festgestellt, daß es sich bei der Energieversorgung um eine "dem Gemeinwohl dienende Aufgabe und "dem Staat oder den Gemeinden obliegende Angelegenheit" handelt. 43 Sodann heißt es wörtlich: 11

"Die Sicherstellung der Energieversorgung durch geeignete Maßnahmen, wie zum Beispiel die Errichtung oder Erweiterung von Energieanlagen, ist eine öffentliche Aufgabe von größter Bedeutung. Die Energieversorgung gehört zum Bereich der Daseinsvorsorge; sie ist eine Leistung, deren der Bürger zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz unumgänglich bedarf. "44

Im Anschluß daran wird die Aufgabenerfüllung durch privatrechtlich organisierte Energieversorgungsunternehmen ausdrücklich gebilligt. 45

Die für Bund und Länder gleichermaßen bindende Pflicht zur Sicherstellung der Energieversorgung läßt sich somit bereits dem Grundgesetz selbst entnehmen. Diese Pflicht wird durch die o.g. einfachgesetzlichen Vorschriften lediglich konkretisiert, jedoch nicht erweitert. Auch die Landesverfassungen gehen selbst bei teilweise ausdrücklicher Benennung der Staatsaufgabe Energieversorgung46 nicht über die aus dem Grundgesetz abzuleitende Pflicht zur Sicherstellung der Energieversorgung hinaus. Die eingangs aufgeworfene Frage, ob der Handlungsspielraum der Landeslegislative gegenüber dem des Bundes durch die Staatsaufgabe Energieversorgung zusätzlich reduziert wird, ist folglich zu verneinen. Die Sicherstellung der Energieversorgung ist allerdings nur eine unter zahlreichen anderen staatlichen Aufgaben. Eine grundsätzliche Vorrangfunktion kann ihr nicht zuerkannt werden. Auch darf die Pflicht zur Energieversorgung nicht im Sinne einer allein wachstumsorientierten Pflicht zur Erweiterung der Energieerzeugungskapazitäten um jeden Preis mißverstanden werden. 47 Sie muß vielmehr mit weiteren staatlichen Verpflichtungen wie z.B. dem Schutz der Umwelt als Grundlage jeder menschlichen Existenz harmonisiert wer-

42

43 44 45 46 47

BVertGE 30,292 [311 f.]. BVertGE 66, 248 [257]. BVertGE 66, 248 [258]. BVertGE 66, 248 [258]; ebenso MaunzIDürig-Papier, Art. 14 Rn. 502. Z.B. Art. 152 S. 2 Bay.Verf.; s.o. So zu Recht Murswiek, Risiken, S. 270.

314

Teil 3: Der legislative Ausstieg

den. 48 Hierbei hat der Staat jedoch einen weiten Einschätzungs- und Handlungsspielraum, weshalb seine Entscheidungen mitunter nur politische, nicht aber rechtliche Relevanz haben. Dies gilt z.B. grundsätzlich auch für die Frage, welcher Energiequelle aus umweltpolitischen Gründen der Vorzug zu geben ist: der Kernenergie, die mangels COrAusstoßes die globalen Klimaveränderungen nicht zusätzlich forciert, oder anderen Energieträgern, die dafür nicht das Risiko radioaktiver Verseuchung in sich bergen. Nur selten wird diese Abwägung dazu führen, daß allein eine Entscheidung als die einzige verfassungsrechtlich einwandfreie angesehen werden kann. Grenzen des Einschätzungsspielraums lassen sich erst dort ausmachen, wo entweder die Energieversorgung überhaupt nicht mehr als gesichert angesehen werden kann oder wo die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Energiequelle nachweislich solche negativen Auswirkungen auf die Umwelt oder die menschliche Gesundheit mit sich bringt, die nicht im Wege der Abwägung überwunden werden können.

48

Siehe auch Degenhan, Kernenergierecht, S. 173 ff.; Scholz, et 1993, 343.

§ 18 Grundrechte der Kernkraftwerksbetreiber

Einem Ausstieg aus der Kernenergie könnten Grundrechte der Kernkraftwerksbetreiber, insbesondere die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1. S. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG als Gewerbe- bzw. Unternehmensfreiheit, entgegenstehen. Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG sind nebeneinander anwendbar. Zwar sind beide Grundrechte funktionell aufeinander bezogen, sie haben jedoch selbständige Bedeutung. I Außerdem muß sich das Verbot der Kernenergienutzung zur Stromerzeugung im Unterschied zu den anderen, weiterhin nutzbaren Energieträgern am Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG messen lassen. A. Der Schutzbereich der Grundrechte

I. Art. I2 Abs. I GG Art. 12 Abs. 1 GG schützt als einheitliches Grundrecht2 sowohl die Freiheit der Berufswahl als auch die Freiheit der Berufsausübung. Der Berufsbegriff ist weit auszulegen und umfaßt grundsätzlich jede Tätigkeit, die der Grundrechtsträger zur Grundlage seiner Lebensführung ergreift. 3 Dabei gilt der Grundrechtsschutz auch für juristische Personen und gewährleistet deren "Freiheit, eine Erwerbszwecken dienende Tätigkeit, insbesondere ein Gewerbe zu betreiben, sofern diese Tätigkeit ihrem Wesen und ihrer Art nach in gleicher Weise von einer juristischen wie von einer natürlichen Person ausgeübt werden kann. "4 Der gewerbliche Betrieb von Energieerzeugungs- und -versorgungsanlagen und somit auch von Kernkraftwerken kann grundsätzlich durch natürliche wie juristische Personen erfolgen und unterliegt damit der durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Berufsfreiheit. 5 Das Verbot dieser Tä-

BVertGE 50,290 [361 f.]- Mitbestimmung; Maurer, lZ 1991, 39. 2

St. Rspr. seit BVertGE 7,377 [400 ff.]- Apothekenurteil. BVertGE 7,377 [397]. 4 BVertGE 50, 290 [362 f.] - Mitbestimmung; vgl. ferner BVertGE 30, 292 [312] - Mineralölbevorratung; MaunzIDUrig-Scholz, Art. 12 Rn. 98; v.Manch/Kunig-Gubelt, Art. 12 Rn. 18. Zur Frage der Grundrechtsfahigkeit der Kemkraftwerksbetreiber siehe sogleich unter B. 5 Ebenso Hofmann, Entsorgung, S. 296.

316

Teil 3: Der legislative Ausstieg

tigkeit durch den gesetzlichen Ausstieg aus der Kernenergie berührt deshalb den Schutzbereich dieses Grundrechts.

II. Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG Ferner ist die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG insoweit tangiert, als durch den Ausstieg die "Innehabung und Verwendung vorhandener Vermögensgüter"6, nämlich die Nutzung der errichteten kerntechnischen Anlagen zur Energieerzeugung, eingeschränkt wird.? Denn das gesetzliche Verbot des weiteren Einsatzes der Kernkraftwerke betrifft die Privatnützigkeit des Eigentums, da hier eine für die Anlagenbetreiber wesentliche und bereits ausgeübte Nutzungsmöglichkeit untersagt wird. Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG schützt auch die Dispositionsbefugnis des Eigentümers, dem das Eigentum als Grundlage privater Initiative und im eigenverantwortlichen Interesse von Nutzen sein so11.8 Fraglich ist nur, ob die atomrechtlichen Genehmigungen als solche eigens durch Art. 14 GG geschützt werden. 9 Daß grundsätzlich auch behördliche Zulassungen, Genehmigungen oder Erlaubnisse den Schutz der Eigentumsgarantie genießen, wird in der Literatur überwiegend angenommen. 1O Zutreffend ist jedenfalls, daß eine rechtmäßig erteilte Genehmigung Legalisierungswirkung entfaltet und die eigentumsrechtlich geschützte Rechtsposition des Genehmigungsinhabers insoweit verfestigt. Dies läßt sich für die atomrechtliche Genehmigung auch nicht mit dem Einwand bestreiten, daß die Anlagenbetreiber nichtjUr die Genehmigungserteilung, sondern erst aufgrund der Genehmigung Leistungen erbracht oder Kapital eingesetzt haben. 11 Denn regelmäßig sind bereits die Vorbereitungen der Antragsstellung für die zu errichtende Anlage mit erheblichem Kapitalaufwand verbunden. Zweifel könnten allerdings insoweit anzumelden sein, als die atomrechtlichen Genehmigungen oft weniger auf privatwirtschaftlicher Eigenleistung als vielmehr auf staatlicher (insbesondere finanzieller) Förderung in Übereinstimmung mit § 1 Nr. 1 AtomG BVertGE 30,292 [335) - Mineralölbevorratung; 84, 133 [157) - Warteschleifenregelung. Zur Frage, ob es sich dabei um eine Inhalts- und Schrankenbestimmung i.S.d Art. 14 Abs. I S. 2 GG oder um eine Enteignung nach Art. 14 Abs. 3 GG handelt, siehe unter § 20 C. 11. 4. b). ?

BVertGE 50, 290 [339) - Mitbestimmung. Dafiir Lukes, BB 1986, 1310. BK-Kimminich, Art. 14 Rn. 87; Dolde, NVwZ 1986, 874 bei und in Fn. 15 (dort auch mit Nachweisen zur Gegenmeinung); Sellner, Industrieanlagen, Rnrn. 202 f., 456; a.A. Jarass/Pieroth, Art. 14 Rn. 10 unter Hinweis auf die fehlende Eigenleistung des Genehmigungsinhabers; offenlassend BVeIWGE 49, 365 [370 f.). 10

11

Zu diesem Abgrenzungskriterium auch Engel, AöR 118 (1993), 187 f.

§ 18 Grundrechte der Kernkraftwerksbetreiber

317

beruhen. Allerdings werden diese Fälle bereits vorab durch das Filter der Grundrechtsfahigkeit der Anlagenbetreiber l2 ausgesondert, so daß im Ergebnis ohnehin nur solche Anlagengenehmigungen von Art. 14 GG erfaßt werden, die überwiegend das Resultat privatwirtschaftlicher Eigenleistung des Genehmigungsinhabers sind. Der Streit um die Frage, ob Anlagengenehmigungen als solche durch Art. 14 GG geschützt werden, hat allerdings im Ergebnis für die Reichweite der Eingriffsmöglichkeiten des Staates gegenüber dem Eigentümer keine wesentliche Bedeutung. Denn der Schutz der Nutzungsbejugnis durch Art. 14 GG läßt sich ja kaum bestreiten. Daß aber die Genehmigungen Eigentümerpositionen enthalten, die über den Schutz der Nutzungsbefugnis hinausgehen und somit nachträgliche Maßnahmen staatlichen Umweltschutzes dauerhaft verhindern können, ist nicht anzunehmen. 13 Die vom Grundstückseigentümer rechtmäßig ausgeübte Nutzungsbefugnis steht somit jedenfalls grundsätzlich unter dem Schutz des Eigentums. 14 Insofern bedarf es keines Rückgriffs auf die in diesem Zusammenhang von Sante l5 , aber auch vom Bundesgerichtshof1 6 häufig bemühte Rechtsfigur des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs. Sofern dieser überhaupt durch Art. 14 Abs. 1 GG erfaßt wird, reicht sein Schutz jedenfalls nicht über den Schutz seiner Einzelgüter hinaus. 17 Bloße Gewinnchancen als solche genießen keinesfalls den Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG.18 Abzulehnen ist allerdings die Auffassung, die den Schutzbereich der Grundrechte der Anlagenbetreiber immanent durch die Grundrechte der potentiell gefährdeten Bevölkerung begrenzt sieht und deshalb das Vorliegen einer Grundrechtskollision verneint. 19 Es trifft zwar zu, daß das Eigentum wie auch die Freiheitsrechte grundsätzlich nicht zur Verletzung der körperlichen Unversehrtheit oder zur Gefährdung oder gar Vernichtung menschlichen Lebens berechtigen. Allerdings engen die kollidierenden Rechtsgüter nicht schon den Schutzbereich der Grundrechte ein, sondern sind als Grundrechtsschranken im Rahmen der Güterabwägung zu berücksichtigen.

Dazu eingehend unter § 18 B. D. So auch Kloepfer, Umweltrecht, § 2 Rn. 38; v.Münch/Kunig-Bryde, Art. 14 Rn. 30. 14 BVerfGE 58, 300 [349] - Naßauskiesung; ebenso BVerwG, BayVBI. 1993, 693 [696]. 15 Sante, Ausstieg, S. 100 tI. 16 Zuletzt BGHZ 111, 349 [355 tI.]. 17 BVerfGE 51, 193 [221 f.]; 58, 300 [353]; 74, 129 [148]; Dolde, NVwZ 1986, 874 f. Fn. 15 a.E.; a.A. Engel, AöR 118 (1993), 188 tI. 18 So auch BK-Kimminich, Art. 14 Rnrn. 47, 84 und 86; Roßnagel, Grundrechte, S. 6l. 19 So aber Roßnagel, Grundrechte, S. 41 f. Ablehnend hielW BK-Kimminich, Art. 14 Rn. 41; Hermes, Schutzpflicht, S. 247 f.; Steinberg, Schadensvorsorge, S. 100. 12 13

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Teil 3: Der legislative Ausstieg

//1. Art. 3 Abs. 1 GG

Neben der Kernenergie werden in der Bundesrepublik zur Stromerzeugung vor allem fossile Brennstoffe eingesetzt, von denen ebenfalls Gefahren für die Umwelt und für Leben und körperliche Unversehrtheit ausgehen. Sollte der Gesetzgeber sich entscheiden, nur die Kernenergienutzung aufzugeben, wird sich dieser Schritt auch am Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG messen lassen müssen. B. Die Grundrechtsrahigkeit der Kernkrartwerksbetreiber

Der Betrieb von Kernkraftwerken wird somit grundsätzlich durch Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG geschützt. 20 Fraglich ist allerdings, ob sich die Betreiber der kerntechnischen Anlagen in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt auf diese Grundrechte berufen können. Für Art. 3 Abs. 1 GG stellt sich die Frage der Grundrechtsfahigkeit jedoch nicht in dieser Schärfe, da das Willkürverbot zumindest in seinem objektivrechtlichen Gehalt auch zugunsten juristischer Personen des öffentlichen Rechts wirkt. 21 Da es sich bei den Betreibern der Kernkraftwerke um juristische Personen des Privatrechts, und zwar mit Ausnahme der Anlagen Würgassen und Unterweser, die sich zu 100 % in privater Hand befinden22 , um gemischtwirtschaftliche Unternehmen23 handelt, richtet sich ihre Grundrechtsfähigkeit nach Art. 19 Abs. 3 GG. Danach gelten die Grundrechte "auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind". Die Grundrechtsfahigkeit der Kernkraftwerksbetreiber wird von Teilen der Literatur - oft ohne nähere Begründung - uneingeschränkt bejaht bzw. stillschweigend unterstellt. 24 Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit dieser Frage bisher noch nicht näher auseinandergesetzt. Zwar heißt es insoweit in der Kalkar-Entscheidung, daß Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG der 20 So auch Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 79; Papier, Kemenergienutzung, S. 46 f.; Wagner, NJW 1987, 414 f. 21 Vgl. BVerfGE 23, 12 [24]; 35, 263 [271 f.]; BVerfG, NVwZ 1988, 345 [345]; BVerwG, NJW 1987, 793 [794]; Jarass/Pierorh, Art.3 Rn.8 und Art. 19 Rn. 16; v.MangoldJ/Klein/Srarck, Art. 3 Rn. 151; v.Münch/Kunig-Gubelt, Art. 3 Rn. 6. 22 Vgl. Anhang B, Nm. 6 und 8. 23 S.o., § 1 A. N. und Anhang B. 24 Löffler, Parlamentsvorbehalt, S. 47, 114, und 148; Veirh, Energieversorgungsuntemehmen, S. 141 Pn. 1; Wagner, NJW 1987, 414 f.; tiers., NVwZ 1989,1112; tiers., DVBI. 1992, 1508; tiers., NVwZ 1993, 519; Wieland, DVBI. 1991, 619; ausführlicher hingegen Hanung, Atomaufsicht, S. 45 ff.; tiers., DÖV 1992, 393 ff.; Richrer, Nachrüstung, S. 58 ff. und Same, Ausstieg, S. 96 ff. Auch der SPD-Entwurf zum Kemenergieabwicklungsgesetz geht offenbar von der Grundrechtsfähigkeit der Betreiber aus, vgl. BT-Drs. 11/13, S. 22 f. u. 44 ff.

§ 18 Grundrechte der Kernkraftwerksbetreiber

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Einräumung eines Versagungsermessens in § 7 Abs. 2 AtomG nicht entgegenstehen, weil die Sonderstellung des Atomrechts und ihre Gründe es rechtfertigen würden, unter bestimmten Voraussetzungen von Grundsätzen abzuweichen, die auf anderen Rechtsgebieten anerkannt sind. 25 Ferner spricht das Bundesverfassungsgericht im Mülheim-Kärlich-Beschluß von der Aufgabe des Staates, "unter Berücksichtigung der Allgemeinwohlbelange einen Ausgleich zwischen Grundrechtspositionen geflihrdeter Bürger einerseits und der Betreiber andererseits herbeizuführen. "26 In beiden Fällen vermißt man allerdings eine nähere Untersuchung der Grundrechtsfähigkeit der einzelnen Kemkraftwerksbetreiber. 27 Die Frage der Grundrechtsfähigkeit hat jedoch zentrale Bedeutung für die verfassungsrechtlichen Grenzen eines Ausstiegs kraft Gesetzes und bedarf daher eingehender Prüfung. Dazu sind zunächst die Kriterien zu ermitteln, anband derer die Grundrechtsfähigkeit gemischtwirtschaftlicher Unternehmen nach Art. 19 Abs. 3 GG zu beurteilen ist (1.), bevor in einem zweiten Schritt anband des erarbeiteten Lösungsmodells die Frage der Grundrechtsfähigkeit der Kemkraftwerksbetreiber geklärt werden kann (11.).

I. Die Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG 1. Grammatikalische Auslegung Der Wortlaut des Art. 19 Abs. 3 GG ist denkbar offen und gibt somit auf die Frage der Grundrechtsfähigkeit gemischtwirtschaftlicher juristischer Personen keine klare Antwort. 28 Art. 19 Abs. 3 GG nimmt lediglich ausländische juristische Personen vom Grundrechtsschutz aus und differenziert im übrigen nicht weiter zwischen juristischen Personen des öffentlichen und solchen des Privatrechts. Dies deutet eher darauf hin, daß die Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts zumindest nicht generell ausgeschlossen sein soll. 2. Historische Betrachtung Auch der Entstehungsgeschichte läßt sich keine eindeutige Aussage für das aufgeworfene Problem entnehmen. Art. 19 Abs. 3 GG hat in der deutschen 25 26 27

28

BVerfGE 49, 89 [144, 146]. BVerfGE 53, 30 [57 f.]. Dies räumt auch Hartung, Atomaufsicht, S. 47 f. und ders., DÖV 1992, 394, ein. MaunzlDürig-Dürig, Art. 19 m Rn. 35.

320

Teil 3: Der legislative Ausstieg

Verfassungsgeschichte keine Vorbilder. Die Anwendbarkeit der Grundrechte auf juristische Personen wurde erstmals in den Ausschußsitzungen des Parlamentarischen Rates erörtert. 29 Soweit ersichtlich hat aber die Frage, ob auch juristische Personen des öffentlichen Rechts oder diesen nahestehende juristische Personen Grundrechtsträger sein können, bei der Diskussion nur am Rande eine Rolle gespielt. Die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch den Staat in privatrechtlichen Formen ist in der Staatsrechtslehre bis 1945 kaum behandelt worden und hat diese Überlegungen somit nicht beeinflußt. In erster Linie war wohl an typische juristische Personen des Privatrechts, die sich aus natürlichen Einzelpersonen zusammensetzen, sowie an Glaubensgemeinschaften im Hinblick auf die Religionsfreiheit gedacht. In einer Amnerkung zu einem Formulierungsvorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses, der mit der Endfassung des Art. 19 Abs. 3 GG übereinstimmt, heißt es allerdings, der ursprünglich vorgesehenen Bezeichnung "Körperschaften und Anstalten" sei der Begriff "juristische Person" vorzuziehen, weil die zuerst gewählte Formulierung nicht alle juristische Personen des öffentlichen und privaten Rechts umfasse. 30 Mehr, als daß dadurch die Verfassungsschöpfer die Anwendbarkeit der Grundrechte auch auf juristische Personen des öffentlichen Rechts nicht von vornherein ausschließen wollten, läßt sich dieser eher beiläufigen Amnerkung aber wohl nicht entnehmen. 31 Immerhin erklärte bereits das Ratsmitglied von Mangoldt, auf dessen Initiative die Regelung des Art. 19 Abs. 3 GG zurückzuführen ist, die Besonderheiten, die juristische Personen gegenüber Einzelpersonen aufwiesen, seien entsprechend zu berücksichtigen. 32 Die offene Formulierung in Art. 19 Abs. 3 GG, die darauf abstellt, ob die Grundrechte "ihrem Wesen nach" auf die juristische Person anwendbar sind, beruht darauf, daß eine Enumeration der in Betracht kommenden Grundrechte, wie sie von Mangoldt als Initiator der Regelung ursprünglich vorgesehen hatte, nach Auffassung des Parlamentarischen Rates nicht möglich war. 33 Mit dieser Wortwahl wollte man das Grundgesetz für die Anwendung grundsätzlich aller Grundrechte auf juristische Personen freihalten und damit allen Eventualitäten Rechnung tragen.

29 30 31 32 33

Matz, JöR 1 (1951), S. 180 ff. Matz, JöR 1 (1951), S. 182 f. (Hervorhebung vom Verfasser). MaunzlDürig-Dürig, Art. 19 m Rn. 35. Stenoprot. S. 1 - 3, zit. nach Matz, JöR 1 (1951), S. 181. Matz, JöR 1 (951), S. 182.

§ 18 Grundrechte der Kernkraftwerksbetreiber

321

3. Teleologische Auslegung Somit ist die Vorschrift nach ihrem Sinn und Zweck unter Heranziehung auch anderer Verfassungsprinzipien auszulegen. Grundrechtsfähigkeit ist, wie Pieroth/Schlink34 es plastisch formulieren, dann anzunehmen, wenn n das jeweils in Betracht kommende Grundrecht von seiner Funktion her für die jeweils in Rede stehende inländische juristische Person paßt." Das Bundesverfassungsgericht betont, daß die Grundrechte von der Würde und Freiheit des einzelnen Menschen als natürliche Person ausgehen und in erster Linie die Freiheitssphäre des Einzelnen gegen Eingriffe der staatlichen Gewalt schützen sollen. Von dieser zentralen Vorstellung her sei auch Art. 19 Abs. 3 GG auszulegen und anzuwenden. 3s Eine juristische Person könne daher nur dann Träger von Grundrechten sein, wenn sie sich in einer grundrechtstypischen Gefahrdungslage befinde, m.a.W. wenn die Bildung und Betätigung der juristischen Person Ausdruck der freien Entfaltung natürlicher Personen sei. Dies sei dann der Fall, wenn ein personales Substrat erkennbar und somit ein Durchgriff auf die hinter der juristischen Person stehenden Menschen möglich sei. 36

a) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Grundrechtsjähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts37 Für juristische Personen des öffentlichen Rechts hat das Bundesverfassungsgericht in einer konsequenten Folge von Entscheidungen und ihm folgend die herrschende Meinung in der Literatur klargestellt, daß diese sich in aller Regel nicht auf Grundrechte berufen können. 38 Sie seien Adressaten und nicht Träger der Grundrechte und nähmen Kompetenzen und nicht Freiheiten wahr. Auch für juristische Personen des öffentlichen Rechts untereinander gelte, daß

34

3S

Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 169. BVerfGE 21,362 [369].

36 BVerfGE 21,362 [369]; 39, 302 [312]; 61, 82 [100 f.]; 68,193 [205 f.]; 75,192 [196]. Das Postulat des 'personalen Substrats' wird im Schrifttum teilweise abgelehnt, vgl. BKv.Mutius, Art. 19 m Rn. 29 ff.; v.Münch-Hendrichs (3. Aufl.), Art. 19 Rn. 36; v.Mutius, Jura 1983,34; Pieroth, NWVBI. 1992,86 f.; PierothlSchlink, Grundrechte, Rn. 183, 191 ff.; a.A. ausdIilcklich Dicken, Naturwissenschaften, S. 314 ff. 37 Dazu eingehend Kimminich, Kommunale Unternehmen, insbes. zur Grundrechtsfahigkeit von Gemeinden und Gemeindeverbänden. 38 BVerfGE 21, 362 [369 ff.]; 23, 353 [372]; 25, 198 [205]; 39, 302 [312 f.]; 61, 82 [100 f.]; 68, 193 [206]; 75, 192 [195 ff.]; Badura, DÖV 1990, 354; Emmerich, Wirtschaftsrecht, S. 89 ff.; JarasslPieroth, Art. 19 Rn. 15; Schachtschneider, Staatsunternehmen, S. 275 ff.; a.A. AltK-Ladeur Art. 19 Rn. 60; BK-v.Mutius Art. 19 Rn. 87 ff.; v.Mutius, Jura 1983,40 f.; differenzierend Pieroth, NWVBI. 1992,87.

21 BorgDl8Dll

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sie sich nicht in einer grundrechtstypischen Gefahrdungslage befänden und somit Grundrechte nicht geltend machen könnten. 39 Eine Ausnahme von diesem ansonsten strikt durchgehaltenen Grundsatz erkennt das Bundesverfassungsgericht nur für solche öffentlich-rechtlichen Einrichtungen an, die unmittelbar einem grundrechtlich geschützten Lebensbereich zugeordnet und dem Staat gegenüber somit weitgehend verselbständigt sind, und auch dort nur für einzelne Grundrechte. 40 Die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts verdienen Zustimmung, da die Grundrechte traditionell in erster Linie als Abwehrrechte gegen den Staat gerichtet sind und daher ihrem Wesen nach nicht gleichzeitig durch den Staat in Anspruch genommen werden können. Grundrechtsberechtigung und Grundrechtsbindung schließen sich aus. 41 Hinzu kommt, daß bei juristischen Personen des öffentlichen Rechts in der Regel ein personales Substrat nicht erkennbar ist, so daß auch kein Durchgriff auf hinter dieser Person stehende Menschen möglich ist. Die Grundrechte dienen aber vor allem dem Schutz der Freiheitssphäte des Einzelnen42 , so daß eine Einbeziehung juristischer Personen in den Schutzbereich der Grundrechte nur dann gerechtfertigt ist, wenn ihre Bildung und Betätigung Ausdruck der freien Entfaltung natürlicher Personen ist. 43 Dies ist eben bei juristischen Personen des öffentlichen Rechts - von den wenigen genannten Ausnahmefällen abgesehen - nicht der Fall. 39 So BVerfGE 61, 82 [105 f.] - Sasbach - für das Eigentum einer Gemeinde, obwohl sich diese außerhalb des Bereichs der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben bewegte. In der Hand einer Gemeinde, so das Bundesverfassungsgericht, diene das Eigentum "nicht der Funktion, derentwegen es durch das Grundrecht geschützt ist, nämlich dem Eigentümer 'als Grundlage privater Initiative und in eigenverantwortlichem privaten Interesse von Nutzen' zu sein." [108]. Auch könne die Gemeinde nicht als grundrechtsgeschützter "Sachwalter" des Einzelnen bei der Wahrnehmung seiner Grundrechte angesehen werden [103 f.], weder innerhalb noch außerhalb des Bereichs öffentlicher Aufgaben. Abgesehen davon sei eine wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand ohne Bezug zu ihren öffentlichen Aufgaben ohnehin weitgehend unzulässig [107]. Von privaten Vermögensträgern hebe sich der Staat als Eigentümer durch verschiedene "Fiskusprivilegien" ab [106]. Art. 14 GG schütze "nicht das Privateigentum, sondern das Eigentum Privater" [109]; a.A. allerdings ausdlÜcldich BayVerfGH, BayVBI. 1984, 655 ff. für die Möglichkeit bayerischer Gemeinden, sich auf das Grundrecht des Art. 103 Bay.Verf. - Eigentum - gegenüber Eingriffen des Staates berufen zu können. 40 Universitäten und Fakultäten im Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 GG; öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten im Hinblick auf Art. 5 Abs. I S. 2 GG; Orthopädietechnikerinnungen, soweit diese nicht in öffentlichen Funktionen betroffen sind, im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 GG (Vertragsfreiheit); und schließlich öffentlich-rechtlich organisierte Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften insbesondere im Hinblick auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, zum Teil aber auch im Hinblick auf andere Grundrechte; vgl. etwa BVerfGE 15, 256 [262]; 19, 129 [132]; 21, 271 [273]; 30, 112 [119 f.]; 31, 314 [322]; 42, 312 [321]; 68, 193 [207]; 70, 1 [15 ff.]; 70, 138 [161]; 75, 192 [196 f.]. 41 BVerfGE 21,362 [370]. 42

BVerfGE 50, 290 [337].

43

BVerfGE 21,362 [369]; BVerfG, NJW 1987, 2501 [2501 f.].

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Diese sind gleichwohl nicht schutzlos, denn für Streitigkeiten zwischen Hoheitsträgern bestehen besondere Rechtsschutzverfahren.

b) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen des Privatrechts Für juristische Personen des Privatrechts gelten prinzipiell die gleichen Erwägungen. 44 Sie führen allerdings häufig zu einem anderen Ergebnis, nämlich der Bejahung der Grundrechtsfähigkeit, weil hier das personale Substrat oft deutlich zu erkennen ist und damit die grundrechtstypische Gefährdungslage - zumindest für bestimmte Grundrechte - vorliegt. Die Grundrechte sind eben auf juristische Personen des Privatrechts eher zugeschnitten als auf solche des öffentlichen Rechts. 45 Bei der Prüfung, ob ein Grundrecht auf eine juristische Person des Privatrechts wesensmäßig anwendbar ist, stellt das Bundesverfassungsgericht jedoch in erster Linie auf die Art der wahrzunehmenden Aufgabe und auf die Funktion ab, in der diese juristische Person durch den beanstandeten Hoheitsakt betroffen ist. Wenn es sich hierbei um gesetzlich zugewiesene und geregelte öffentliche Aufgaben handelt und die juristische Person insoweit als Teil der öffentlichen Verwaltung im materiellen Sinne anzusehen ist, dann verneint das Bundesverfassungsgericht - ungeachtet der Rechtsform der juristischen Person - deren Grundrechtsfähigkeit. 46 Die Rechtsform der juristischen Person ist also nicht entscheidend und hat allenfalls indizielle Bedeutung. 44 Schon deshalb ist eine rein fonnale Sichtweise, die nur auf die Rechtsfonn abstellt und somit bei juristischen Personen des Privatrechts deren Grundrechtsfähigkeit in jedem Fall bejaht (so z.B. BK-v. Mutius, Art. 19 m, Rn. 60 ff., 146 f.), als zu undifferenziert abzulehnen. Andernfalls hätte der Staat die Möglichkeit, allein durch die Wahl der Organisationsfonn Grundrechtsbindung in Grundrechtstrdgerschaft zu verkehren. Wie hier Badura, DÖV 1990, 359; Bethge, AöR 104 (1979), 269 ff.; ders. Grundrechtsberechtigung, S. 101 f.; BettenrumnlNipperdeylScheuner, Grundrechte, S. 180 f.; Bleckmann, Grundrechte, S. 100; Brenner, BB 1962, 728; Christi Degenhart, Durchgriff, S. 18; Dimberger, Naturgenuß S. 219 f.; Koppensteiner, NIW 1990, 3108; Maser, Juristische Personen, S. 163; Stern, Staatsrecht m 1, S. 1167. Vgl. auch Schmidt-Aßmann, BB-Beil. Nr. 34, 1990,9. 45 Vgl. BVerfGE 39,302 [312 f.); 75,192 [196). 46 BVerfGE 68, 193 [208, 212 ff.); BVerfG, NIW 1987, 2501 [2502 m.w.N.), ebenso Krebs, HdBStR m, § 69 Rn. 65; Murswiek, Risiken, S. 234. Auch der Bundesgerichtshof stellt bei der Frage der Grundrechtsbindung der öffentlichen Hand nicht auf die Rechtsfonn ab, sondern darauf, ob der Staat in "Erfilllung einer öffentlichen Verwaltungsaufgabe" tätig wird (dann Grundrechtsbindung) oder ob "rein fiskalisches Handeln" ohne Bezug zu einer öffentlichen Aufgabe vorliegt (dann keine Grundrechtsbindung); vgl. BGHZ 36, 91 [95 f.). "Nimmt die Verwaltung in den Fonnen des Privatrechts Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahr, so werden die Nonnen des Privatrechts durch Bestimmungen des öffentlichen Rechts ergänzt, überlagert und modifiziert. ... Die typischen öffentlich-rechtlichen Bindungen sind ... auch dann anwendbar, wenn die Verwaltung nicht selbst oder durch einen Eigenbetrieb in privatrechtlicher Fonn handelt, sondern in Gestalt eines von der Verwaltung beherrschten, privatrechtlich verfaßten

324

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In einer wenig beachteten Entscheidung vom 15. 11. 197347 wies das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerden zweier Energieversorgungsunternehmen gegen die 'Bundestarifordnung Elektrizität' zurück. Dabei ließ es noch "dahingestellt ... , ob die in der Verfassungsbeschwerde in Anspruch genommenen Grundrechte 'ihrem Wesen nach' in Anbetracht der Rechtsform und öffentlichen Aufgabe der Beschwerdeführerin für diese gemäß Art. 19 Abs. 3 GG überhaupt gelten, " weil nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts selbst dann, wenn man von der Geltung der Grundrechte ausginge, im konkreten Fall ein Verfassungsverstoß nicht zu erkennen war. Wenige Zeit später jedoch stellte das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 7. 6. 197748 klar, daß Gebietskörperschaften im Bereich der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben49 auch dann keinen Grundrechtsschutz genießen, wenn sie diese Aufgabe in privatrechtlicher Organisationsform erfüllen. Alleiniger Aktionär der beschwerdeführenden Aktiengesellschaft war eine Gemeinde und somit eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, deren Grundrechtsfähigkeit das Bundesverfassungsgericht verneint hat. Diese juristische Person des öffentlichen Rechts könne sich aber, so das Bundesverfassungsgericht, die Grundrechtsfähigkeit auch nicht auf dem Umweg verschaffen, indem sie die öffentliche Aufgabe in privatrechtlicher Rechtsform wahrnehme. In einem solchen Fall stelle die juristische Person des Privatrechts nur eine besondere Erscheinungsform öffentlicher Verwaltung dar und könne hinsichtlich der Grundrechtsfähigkeit nicht anders behandelt werden als der hinter ihr stehende Verwaltungsträger. Denn andernfalls hätte dieser allein durch die Wahl der Rechtsform die Möglichkeit, Grundrechtsschutz zu erlangen, der ihm ansonsten nicht zukomme. 50 Gleichfalls verneint wurde durch Beschluß vom 20. 12. 1979s1 die Grundrechtsfähigkeit der 'Technischen Werke der Stadt Stuttgart AG's2, da die Stromversorgung als Unternehmensgegenstand ausschließlich Aufgaben der Rechtssubjekts - etwa einer Gesellschaft des Handelsrechts - dem Bürger gegenübertritt. Ein Betrieb, der einer öffentlichen Aufgabe gewidmet ist, übt Verwaltung im funktionellen Sinne aus. Ein solches Unternehmen stellt nur eine besondere Erscheinungsfonn dar, in der öffentliche Verwaltung ausgeübt wird; es ist daher nicht nur in der Frage der Grundrechtsfahigkeit, sondern auch in den Fragen der Grundrechtsbindung und der weiteren Folgen der Anwendbarkeit des Verwaltungsprivatrechts wie der Verwaltungsträger selbst zu behandeln"; BGH, DVBI. 1984, 1118 [1119]. 47 BVerfG, et 1974, 61. 48 BVerfGE 45, 63 - Stadtwerke Hameln. 49 Hier: Wasserversorgung als "daseinsfiirsorgende Leistung" (BVerfGE 45, 63 [78]). 50 BVerfGE 45, 63 [78 f.]; zustimmend Bock, Umweltschutz, S. 176. SI BVerfG, NJW 1980, 1093. S2 Übrigens eine mittelbar an allen baden-württembergischen Kernkraftwerken beteiligte Aktiengesellschaft, vgl. Anhang B, Nm. 1,3,4 und 7.

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öffentlichen Daseinsvorsorges3 umfasse und ihre Unternehmensteile zumindest mittelbar ausnahmslos in der Hand eines Hoheitsträgers lägen. In der Folgezeit hat das Bundesverfassungsgericht die Linie dieser Rechtsprechung bekräftigt und wiederholt festgestellt, daß dann, wenn eine juristische Person gesetzlich zugewiesene und geregelte öffentliche Aufgaben wahrnimmt, diese insoweit nicht grundrechtsfahig ist, und zwar unabhängig von ihrer Organisationsform. Aus diesen Erwägungen heraus hat es beispielsweise die Grundrechtsfahigkeit privatrechtlicher Innungsverbände verneint, weil diese ebenso wie die in ihnen zusammengeschlossenen Innungen auf Grund gesetzlicher Zuweisung gern. § 368g Abs. 5a S. 2 RVO öffentliche Aufgaben im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung wahrnehmen. 54 Ein Zusammenschluß grundrechtsunfähiger juristischer Personen könne nicht eine grundrechtsfahige juristische Person sein. Auch den Technischen-Überwachungs-Vereinen hat das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit, sich auf Grundrechte zu berufen, versagt. 55 Ungeachtet ihrer privatrechtlichen Organisationsform nähmen die TechnischenÜberwachungs-Vereine hoheitliche Aufgaben wahr, die ihnen durch Gesetz oder auf Grund von Gesetzen zur Wahrnehmung übertragen worden seien. Insoweit seien sie also Teil der öffentlichen Verwaltung im materiellen Sinn. Von ihrer privatrechtlichen Selbständigkeit bleibe angesichts der detaillierten Regelungen ihrer Tätigkeit durch Gesetze, Verordnungen oder Erlasse nahezu nichts übrig. Inhalt und Zweck der Grundrechte würden in ihr Gegenteil verkehrt, wenn man den Technischen-Überwachungs-Vereinen gleichwohl den Schutz der Eigentumsgarantie zukommen ließe. Ihren vorläufigen Abschluß findet diese Rechtsprechung in dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 16. 5. 1989. 56 Dort nimmt das Bundesverfassungsgericht erstmals zur Grundrechtsfahigkeit gemischtwirtschaftlicher Unternehmen des Privatrechts57 Stellung. Nachdem das Gericht die Prämisse wiederholt, daß auch bei juristischen Personen des Privatrechts weniger ihre Rechtsform als vielmehr ihre Funktion für die Grundrechtsfahigkeit ausschlaggebend sei, verneint es die Grundrechtsfahigkeit des betroffenen Unter53 Zu diesem Begriff zunächst ForsthoJJ, Leistungsträger, S. 6; ders., Verwaltungsrecht, Vorbem. vor § 20. 54 BVerfGE 68, 193 [211 ff.]. 55 BVerfG, NIW 1987, 2501 [2501 f.]. 56 BVerfG, NIW 1990, 1783 = JZ 1990, 335. Ausgangsentscheidung war ein Beschluß des OLG Hamburg v. 12. 4. 1988 (et 1988, 560), in welchem eine Pflicht der HEW-AG zur Gleichbehandlung ihrer Stromlrunden wegen der staatlichen Aufgabe, die die HEW-AG erfüllt, urunittelbar aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes hergeleitet wurde (hierzu bereits oben, § 17 Fn. 37; ferner unten, Fn. 79 und Fn. 190). 57 Hier: HEW-AG, übrigens an allen sChieswig-holsteinischen Kernkraftwerken sowie am Kernkraftwerk Stade maßgeblich beteiligt, vgl. Anhang B, Nm. 9, 15, 18 und 19.

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nehmens. Dies wird zum einen darauf gestützt, daß das Unternehmen mit der Durchführung der Wasser- und Energieversorgung typische öffentliche Aufgaben der Daseinsvorsorge wahrnehme. Zum anderen unterliege das Unternehmen aufgrund des EnWG und der hierauf beruhenden Verordnungen so starken Bindungen, daß von einer privatrechtlichen Selbständigkeit nahezu nichts übrig bleibe. $8 Der Umstand, daß sich das Unternehmen nicht vollständig, sondern nur zu etwa 72 % in öffentlicher Hand befinde, ändere nichts daran, denn "bei diesem Beteiligungsverhältnis" sei "davon auszugehen, daß die Freie und Hansestadt Hamburg die Möglichkeit hat, auf die Geschäftsführung entscheidenden Einfluß zu nehmen. "$9 c)

Stellungnahmen aus der Literatur

An dem HEW-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts ist bereits mehrfach Kritik geübt worden. 60 Indem das Gericht nun für die Frage der Grundrechtsfahigkeit primär auf die Erfüllung öffentlicher Aufgaben abstellt, verlasse es den Boden seiner gefestigten Rechtsprechung. 61 Das Bundesverfassungsgericht habe nicht berücksichtigt, daß es für die Einflußmöglichkeiten der öffentlichen Hand auf die Unternehmensführung weniger auf die Beteiligungsverhältnisse, sondern mehr auf den Handlungsspielraum ankomme, den das Aktienrecht vorgebe. Und dieser biete auch bei öffentlicher Mehrheitsbeteiligung nur Möglichkeiten für Entscheidungen, die sich mit dem Unternehmensinteresse decken. 62 Des weiteren sei das Urteil nicht praktikabel, weil nicht gesagt werde, ab welchem Beteiligungsgrad die öffentliche Hand entscheidenden Einfluß auf die Geschäftsführung nehmen könne. Durch Erwerb und Veräußerung von Anteilen wäre die Grundrechtsfahigkeit auch ständigen Schwankungen unter-

Vgl. insoweit die Parallele zu BVertU, NJW 1987, 2501 [2501 f.]- TÜV. BVertU, JZ 1990, 335 [335]. 60 Hartung, Atomaufsicht, S. 54 ff.; tiers., DÖV 1992, 396 ff.; Jarass/Pieroth, Art. 19 Rn. Ba; Koppensteiner, NJW 1990, 3105 ff.; KiJhne, JZ 1990, 335 f.; Kurz, Stillegung, S. 67 ff.; Pieroth, NWVBI. 1992,85 ff.; SchmidJ-Aßmmm, Beilage Nr. 34 zu BB Heft 27/1990, 1 ff.; Tettinger, Grundrechtsberechtigung, S. 626, 630; Wagner, NVwZ 1991, 836; Zimmermann, JuS 1991, 294 ff; zustimmend allerdings Heitsch, Kerntechnische Anlagen, S.23; v.Münch/Kunig-Krebs, Art. 19 Rn. 45; Ossenbühl, Bundesauftragsverwaltung, S.97; Papier, Kernenergienutzung, S. 46; tiers., Genehmigung, Aufsicht, Nachrüstung, S. 129 f.; SäckerlBusche, VerwArch 83 (1992),4 Pn. 5; Schoch, DVBI. 1990,550. 61 Koppensteiner, NJW 1990, 3108 f. 62 Kühne, JZ 1990, 336; Pieroth, NWVBI. 1992, 87; Zimmermann, JuS 1991, 298; ausfiihrlich insbesondere zum gesellschaftsrechtlichen Minderheitenschutz Koppensteiner, NJW 1990,3109 ff. $8

$9

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worfen. 63 Außerdem werde die Abgrenzung zusätzlich erschwert, wenn, wie das häufig der Fall ist, nicht nur eine, sondern mehrere juristische Personen des öffentlichen Rechts an dem Unternehmen beteiligt sind. Die Verfassungsbeschwerde eines gemischtwirtschaftlichen Unternehmens dürfe jedoch nicht von aufwendigen mathematischen Rechnungen abhängen. 64 Die Differenzierung werde obendrein noch dadurch aufgeweicht, daß das Bundesverfassungsgericht für einzelne Geschäftsbereiche, die nicht einer engen gesetzlichen Bindung unterliegen, eine partielle Grundrechtsfähigkeit für möglich halte. 65 Die Grundrechtsfähigkeit eines Unternehmens könne aber nicht etwa mit dem Hinweis auf die 'starken Bindungen nach dem Energiewirtschaftsgesetz' verneint werden, denn aus Gründen der Normenhierarchie könnten aus einfachen Gesetzen keine Rückschlüsse auf die Grundrechtssubjektivität gezogen werden. Andernfalls stünde die Fähigkeit, Träger von Grundrechten zu sein, zur Disposition des einfachen Gesetzgebers. 66 Deshalb könne auch der Aufgabenbereich eines Unternehmens für dessen Grundrechtsfähigkeit nicht ausschlaggebend sein. Viele Aufgaben der Daseinsvorsorge - ein ohnehin für die Abgrenzung der Grundrechtsfähigkeit zu unscharfer Begritfi7 - würden originär von privaten Wirtschaftssubjekten wahrgenommen. Dazu zähle auch die Energieversorgung. 68 Juristische Personen des Privatrechts seien selbst Elemente einer freiheitlichen Berufs- und Eigentumsordnung und bilden daher auch einen kollektiven Wert; ihnen sei der Grundrechtsschutz nicht nur im Hinblick auf die in ihnen vereinigten Individuen gewährt, sondern auch wegen ihrer institutionellen Bedeutung. 69 Deshalb treffe auch für gemischtwirtschaftliche Unternehmen die Aussage zu, daß diese regelmäßig Grundrechtsträger seien. 70 Schließlich lasse die Entscheidung die Rechte der privaten Anteilseigner völlig außer Acht. Diese würden dadurch gegenüber Anteilseignern von rein privaten Unternehmen bzw. solchen, die keine öffentlichen Aufgaben erfüllen, zu Aktionären zweiter Klasse degradiert. 71 Allein das Anteilseigentum der 63 Hanung, Atomaufsicht, S.58; ders., DÖV 1992, 397; SchmidJ-Aßmmm, BB-Beil. Nr. 34, 1990, 10; Zimmermann, JuS 1991, 300. Ebenso bereits Klein, Teilnalune, S.234 Fn. 30; v.Mutius, Jura 1983, 42. 64 Hanung, Atomaufsicht, S. 57 f.; ders., DÖV 1992, 397; Pierorh, NWVBI. 1992, 88; SchmidJ-Aßmnnn, BB-Beil. Nr. 34, 1990, 11. 65 Kühne, JZ 1990, 336. 66 Zimmermann, JuS 1991,299; ähnlich Koppensreiner, NJW 1990, 3109. 67 So Jarass/Pierorh, Art. 19 Rn. l3a; Kurz, Stillegung, S. 69. 68 SchmidJ-Aßmmm, BB-Beil. Nr. 34, 1990, 14. 69 SchmidJ-Aßmnnn, BB-Beil. Nr. 34, 1990, 8. 70 SchmidJ-Aßmmm, BB-Beil. Nr. 34, 1990, 10; ebenso Jarass/Pierorh, Art. 19 Rn. 13a. 71 Koppensreiner, NJW 1990, 3109; Kühne, lZ 1990, 336; Kurz, Stillegung, S. 68 f.; ebenso bereits Mallhiesen, Einwirkung, S. 28.

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privaten Kapitaleigner biete keinen hinreichenden Schutz vor staatlichen Repressionen gegen das Unternehmen als solches. n Art. 19 Abs. 3 GG sei anthropozentrisch orientiert und verlange daher die Unterscheidung zwischen solchen juristischen Personen, die auf der Grundlage einer Verfassungsgarantie privatautonom zu beliebigen Zwecken gebildet werden können und solchen juristischen Personen, bei denen dies nicht der Fall ist. 73 Daher seien juristische Personen des Privatrechts, an denen auch Private beteiligt sind, wegen der fehlenden Identität mit öffentlichen Interessen in aller Regel grundrechtsfähig. 74 Es müsse verhindert werden, daß der Staat in diesem Bereich ohne verfassungsgerichtliche Kontrolle handeln könne. Außerdem wären verläßliche und vorhersehbare Unterscheidungskriterien notwendig. All dies belege die Notwendigkeit der Anerkennung des Grundrecbtsschutzes auch für gemischtwirtschaftliche Unternehmen.

d) Eigener Lösungsansatz

Die Kritik an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gibt Anlaß zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit der Frage der Grundrechtsfähigkeit gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Prämisse, daß staatliches Handeln nicht grundrechtlich geschützt ist. Wo aber liegt die Grenze zwischen noch staatlicher und schon privater Tätigkeit? War diese Grenze zu Zeiten, als das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern vorwiegend von klassischen Über-Unterordnungsmerkmalen geprägt war, noch relativ leicht zu bestimmen, so fällt die Unterscheidung mit fortschreitender Verflechtung von Staat und Wirtschaft und mit dem Anwachsen der Aufgaben, deren Erfüllung vom Staat erwartet wird, zunehmend schwerer. Heute bedient sich der Staat zur Erfüllung seiner Aufgaben nicht mehr nur typischer hoheitlicher Handlungsformen, sondern auch anderer Arten der Indienstnahme von Personen, die dem ersten Anschein nach dem grundrechtsfähigen Lager zuzuordnen sind. Zu nennen sind hier insbesondere die öffentlichen Unternehmen. Mit der teilweisen oder vollständigen Beteiligung an Wirtschaftsunternehmen des Privatrechts verfolgt der Staat in erster Linie öffentliche Interessen.

n Koppensteiner, NIW 1990, 3109; Pieroth, NWVBI. 1992, 87; SchmidJ-Aßmmm, BBBeil. Nr. 34, 1990, 13. 73 Koppensteiner, NIW 1990, 3106. 74 Koppensteiner, NIW 1990, 3107, 3109.

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Es läßt sich somit feststellen, daß der materielle Bereich öffentlicher Aufgabenerfüllung nicht mehr notwendig mit öffentlichrechtlicher Organisation übereinstimmt. Hierdurch entsteht eine Grauzone, in der "die Ausgliederung aus der staatsunmittelbaren Verwaltung übergeht in eine staatliche Nutzung der Verwaltungskraft privater Vereine und Gesellschaften oder - anders gewendet - in denen die Verfolgung öffentlicher Zwecke durch private Assoziationen einen quasi-gouvernementalen Charakter annimmt. "75 Dadurch wird aber nicht die Richtigkeit der obigen Prämisse angezweifelt, daß staatliches Handeln keinen Grundrechtsschutz genießt. Vielmehr stellt sich die Aufgabe, die für die Grundrechtsfahigkeit maßgebliche Grenzziehung zwischen 'NochStaat' und 'Schon-Privatem' durch möglichst konkrete und praktikable Kriterien nachzuziehen und ihr dadurch schärfere Konturen zu verleihen. Dies soll im folgenden versucht werden. aa) Rechtfertigungsbedürftigkeit staatlicher Beteiligung an privatrechtlichen Unternehmen und Einwirkungspflicht des Staates Das Grundgesetz ist mit wirtschaftsrechtlichen und -politischen Vorgaben äußerst zurückhaltend und kann, da es sich nicht ausdrücklich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem entschieden hat, als wirtschaftspolitisch neutral bezeichnet werden. 76 Grundrechtlich ist die Tätigkeit privater Unternehmer durch Art. 14 GG (Eigentum), Art. 12 GG (Gewerbefreiheit) und Art. 2 Abs. 1 GG (wirtschaftliche Handlungsfreiheit) gewährleistet. Von staatlichen Eingriffen und Lenkungsmaßnahmen, die die Eigendynamik des Marktgeschehens beeinflussen können, soll nur ausnahmsweise Gebrauch gemacht werden. Daher bedürfen auch öffentliche Unternehmen (einschließlich gemischtwirtschaftlicher) als staatliche Intervention in das Marktgeschehen stets einer besonderen Rechtfertigung, die beispielsweise in dem Bestreben der Sicherung von Lebensgrundlagen gesehen werden kann. 77 Sie sind verfassungsrechtlich nur zulässig, soweit sie in irgendeiner Weise als Instrument zur Erreichung staatlicher Ziele eingesetzt werden sollen und somit dem Gemeinwohl dienen. 78 Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben kann auch eine UnSchuppen, VelWaltungseinheiten, S. I f.; äluJlich Spannowsky, DVB!. 1992, 1072 f. BVerfGE 4, 7 [17 f.] - Investitionshilfe; 50, 290 [336 ff.] - Mitbestimmung; vg!. auch Emmerich, Wirtschaftsrecht, S. 103; Jarass, WirtschaftsvelWaltungsrecht, § 4 Rom. 5 - 9; Scholz, ZfA 1991, 690. 77 Püttner, DÖV 1983, 698; Ronellenjilsch, HdBStR m, § 84 Rom. 32, 33 und 42; ebenso Schuppen, Öffentliche Unternehmen, S. 9. 78 Badura, Wirtschaftliche Betätigung der Öffentlichen Hand, S. 6 und 19 f.; PÜlmer, DÖV 1983, 699; ferner Ronellenjilsch, HdBStR m, § 84 Rom. 32 ff. unter besonderer Hervorhebung der objektiven Schutzrichtung der Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 und 2 Abs. I GG sowie des Rechtsstaatsprinzips. 75

76

330

Teil 3: Der legislative Ausstieg

gleichbehandlung gegenüber rein privaten Unternehmen etwa durch Gewährung besonderer Vorrechte einerseits oder durch Auferlegung besonderer Pflichten andererseits rechtfertigen. 79 Die öffentliche Hand ist bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben in privatrechtlichen Formen nicht aus der Verantwortung für die Handlungsweise ihrer Tochter- und Enkelgesellschaften entlassen. Sie ist daher verpflichtet, die von ihr geschaffenen und unterhaltenen sowie in die Erfüllung ihrer Aufgaben eingeschalteten Gesellschaften des privaten Rechts durch geeignete Einwirkungen zur Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Pflichten anzuhalten. 80 Diese Einwirkungspflicht ist zwar im Grundgesetz nicht ausdrücklich verankert, ergibt sich jedoch aus der parlamentarischen Kontrolle aller Staatsgewalt und Staatstätigkeit sowie aus dem Rechtsstaatsprinzip .81 Die Verwaltung muß als Einheit verstanden werden, gleich in welchen Formen der Staat handelt. Er muß sich daher für jede Stelle und Aktivität, die in irgendeiner Form zur öffentlichen Hand gehört oder dieser zuzurechnen ist, hinreichende Eingriffsmittel vorbehalten, um die Einhaltung der rechtlichen Schranken jederzeit garantieren zu können. 82 Die Steuerung kann insbesondere erfolgen durch Normsetzung, organisatorische Maßnahmen und Personalpolitik. 83 Häufig bietet bereits das Gesellschaftsrecht hinreichende Einwirkungsmöglichkeiten, worauf noch zurückzukommen sein wird. Wenn allerdings die Einwirkung über die Hauptversammlung oder den Aufsichtsrat aufgrund der Beteiligungsverhältnisse nicht sichergestellt ist, muß sich der Staat andere Einflußmöglichkeiten vorbehalten. 84 Teilweise ist die Einwirkungspflicht zur Erreichung öffentlicher Ziele sogar ausdrücklich gesetzlich verankert. Nach § 4 Abs. 2 ROG hat die Bundesregierung ... " ... darauf hinzuwirken, daß die juristischen Personen des Privatrechts, an denen der Bund beteiligt ist, im Rahmen der ihnen obliegenden Aufgaben die §§ I und 28~ beachten .• 86 79 Parmer, OÖV 1983, 700. Ein Beispiel fiir eine solche besondere Pflichtbindung findet sich etwa in OLG Hamburg, et 1988, 560 [560 f.] (Pflicht der HEW-AG gern. Art. 3 GG zur Gleichbehandlung ihrer Stromkunden). 80 Parmer, OVBI. 1975, 354; Ronellenfitsch, HdBStR m, § 84 Rn. 29; ebenso BrnggemeierIDamm, Kommunale Einwirkung, S. 49 ff.; Grabosch, Investitionskontrolle, S. 84; Schuppen, Öffentliche Unternehmen, S. 9, ll, 45; Spannawsky, OVBI. 1992,1073 f. 81 Parmer, OVBI. 1975, 354 f.; Spannowsky, OVBI. 1992, 1073 - 1075. 82 Parmer,OVBI. 1975,355; Spannowsky, OVBI. 1992, 1073. 83 Schuppen, Öffentliche Unternehmen, S. 10 f.

84

8~

Parmer,OVBI. 1975,356; Spannowsky, OVBI. 1992, 1076. Erfordernisse der Raumordnung (Der Verfasser).

86 Ebenso die meisten Landesplanungsgesetze für das jeweilige Land, vgl. z.B. Art. 25 BayLPIG.

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Wenn aber Sollvorschriften auch nur einigermaßen ernst genommen werden, dann dürften die juristischen Personen des Privatrechts, an denen sich die öffentliche Hand beteiligt, unter Zugrundelegung der Abgrenzungskriterien des Bundesverfassungsgerichts im Regelfall ohnehin nicht grundrechtsfahig sein. Denn nach § 65 Abs. 1 Nr. 3 BHO soll sich der Bund ... •... an der Grllndung eines Unternehmens in einer Rechtsfonn des privaten Rechts oder an einern bestehendem Unternehmen in einer solchen Rechtsfonn nur beteiligen, wenn ... der Bund einen angemessenen Einfluß, insbesondere im Aufsichtsrat oder in einern entsprechenden ÜbelWachungsorgan erhält. .87

Anders ausgedrückt besagt diese Vorschrift, daß die Beteiligung des Bundes an einem privatrechtlichen Unternehmen ohne die Möglichkeit, angemessenen Einfluß ausüben zu können, grundSätzlich rechtswidrig ist. Ein Verstoß gegen dieses Verbot kann jedenfalls die Grundrechtsfähigkeit des Unternehmens nicht begründen. Gleiches gilt für eine Beteiligung der Länder an solchen Unternehmen. 88 Auch sollen die auf Veranlassung des Bundes bzw. des Landes gewählten oder entsandten Mitglieder der Aufsichtsorgane der Unternehmen bei ihrer Tätigkeit die besonderen Interessen des Bundes bzw. des Landes berücksichtigen. 89 Mit diesen haushaltsrechtlichen Bestimmungen wäre eine Beteiligung der öffentlichen Hand an einer Kommanditgesellschaft oder an einer stillen Gesellschaft wegen der geringen Einflußmöglichkeiten kaum zu vereinbaren und ist daher in der Praxis auch nicht anzutreffen. bb) Einwirkungsmöglichkeiten des Staates auf gemischtwirtschaftliche Unternehmen Die Einwirkungsmöglichkeiten der öffentlichen Hand auf ihre Beteiligungsunternehmen sind vor allem gesellschaftsrechtlicher Art. Grundsätzlich hängen die gesellschaftsrechtlichen Einflußmöglichkeiten der öffentlichen Hand auf das Unternehmen sowohl von dessen Organisationsform als auch vom Grad der Beteiligung des Hoheitsträgers ab.

87 Hervorhebung vorn Verfasser. Vgl. auch H.P.lpsen, Der Staat als Unternehmer, S. 271 f.; Ronellenjilsch, HdBStR m, § 84 Rn. 28 f. 88 Vgl. z.B. Art. 65 Abs. 1 Nr. 3 BayHO. 89 § 65 Abs. 6 BHO bzw. die entsprechenden Bestimmungen der Landeshaushaltsordnungen (vgl. z.B. Art. 65 Abs. 6 BayHO).

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Teil 3: Der legislative Ausstieg

(1) Abgrenzung nach dem Beteiligungsgrad In der Tat enthält allerdings der HEW-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts90 keine präzise Angabe darüber, ab welchem Beteiligungsgrad der öffentlichen Hand entscheidender Einfluß 91 auf die Geschäftsführung anzunehmen ist. Teilweise wird eine abnehmende Intensität des Grundrechtsschutzes bei steigender Staatsbeteiligung befürwortet. 92 Eine mehr oder weniger intensive Grundrechtsfahigkeit ist allerdings abzulehnen; es handelt sich vielmehr um eine feste Größe. Als Anhaltspunkt könnte jedoch etwa die in Art. 2 der EG-Richtlinie über die Transparenz der finanziellen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den öffentlichen Unternehmen93 dienen. Danach ... •... wird vermutet, daß ein beherrschender Einfluß ausgeübt wird, wenn die öffentliche Hand unmittelbar oder mittelbar die Mehrheit des gezeichneten Kapitals des Unternehmens besitzt oder über die Mehrheit der mit den Anteilen des Unternehmens verbundenen Stimmrechte verfUgt oder mehr als die Hälfte der Mitglieder des Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgans des Unternehmens bestellen kann .• 94

Da die genannten Kriterien aber lediglich eine Vermutung für den beherrschenden Einfluß der öffentlichen Hand begründen, handelt es sich insoweit nicht um Mindestanforderungen. Der beherrschende Einfluß der öffentlichen Hand kann sich daher bei Unterschreiten der Vermutungsgrenze auch aus anderen Umständen ergeben, etwa aus besonderen gesetzlichen Aufsichtsoder Eingriffsbefugnissen oder aus Stimmbindungsverträgen zwischen mehreren Großaktionären eines Unternehmens. 95 Eine ähnliche Regelung wie Art. 2 der eben behandelten EG-Richtlinie enthält § 17 Abs. 1 AktG. Danach sind abhängige Unternehmen ...

BVerfG, NJW 1990,1783 = JZ 1990, 335. Hierauf stellt bereits Maser, Juristische Personen, S. 157, ab. 92 So beispielsweise Bull, Staatsaufgaben, S. 98 Fn. 49. 93 Vom 25. 6. 1980, 801723/EWG, Amtsblatt der EG v. 29. 7. 1980, Nr. L 195/35 ff. Diese Richtlinie findet zwar nach Art. 4 keine Anwendung auf die finanziellen Beziehungen zwischen der öffentlichen Hand und öffentlichen Unternehmen, welche auf den Gebieten Energie einschließlich Kernenergie, Uraniumproduktion und -anreicherung, Wiederaufarbeitung bestrahlter Brennstoffe sowie Verarbeitung von plutoniumhaItigen Stoffen tätig sind. Es geht hier jedoch ohnehin nicht um eine direkte Anwendung der Richtlinie; es soll vielmehr lediglich eine mögliche Grenzziehung aufgezeigt werden, und dafiir kann die Differenzierung in Art. 2 der Richtlinie unabhängig von den Gründen des Ausschlusses des Energiesektors durchaus fruchtbar gemacht werden. 90

91

94

95

Hervorhebungen vom Verfasser. Vgl. Emmerich, Wirtschaftsrecht, S. 59.

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•... rechtlich selbständige Unternehmen, auf die ein anderes Unternehmen (herrschendes Unternehmen) unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluß ausüben kalUl .•96

Dies hat die Anwendung konzernrechtlicher Vorschriften zur Folge. Weiter heißt es in § 17 Abs. 2 AktG: "Von einem in Mehrheitsbesitz stehenden Unternehmen wird vermutet, daß es von dem an ihm mit Mehrheit beteiligten Unternehmen abhängig ist. "

Nach § 311 Abs. 1 S. 2 HGB, der die Ausweisungspflicht der Beteiligung an sog. assoziierten Unternehmen in der Konzernbilanz regelt, wird ein "maßgeblicher Einfluß auf die Geschäfts- und Finanzpolitik eines nicht einbezogenen Unternehmens" bereits dann ... "... vermutet, welUl ein Unternehmen bei einem anderen Unternehmen mindestens den filnften Teil der Stimmrechte der Gesellschafter ilUlehat. •

Maßgeblicher Einfluß in diesem Sinne bedeutet, daß die Obergesellschaft die Entscheidungen des assoziierten Unternehmens richtungsweisend beeinflußt. 97 Die Anknüpfung besonderer öffentlich-rechtlicher Bindungen juristischer Personen des Privatrechts an eine Mindestbeteiligung der öffentlichen Hand ist im übrigen in unserer Rechtsordnung nicht ungewöhnlich. 98 So unterliegt z.B. nach § 53 Abs. 1 HGrG die Unternehmensführung eines Unternehmens in einer Rechtsform des privaten Rechts dann besonderen Kontrollmöglichkeiten, wenn einer Gebietskörperschaft die Mehrheit der Anteile gehört oder wenn ihr mindestens der vierte Teil der Anteile gehört und ihr zusammen mit anderen Gebietskörperschaften die Mehrheit der Anteile zusteht. 99 Dabei spielt es gern. § 53 Abs. 2 S. 2 HGrG keine Rolle, ob es sich um unmittelbare oder nur um mittelbare Beteiligungen handelt. Nach § 1 Abs.2 S. 3 LBGIOO gehört zum "Grundbesitz der öffentlichen Hand", der u. U. für militärische Vorhaben zur Verfügung zu stellen ist, bevor durch Enteignung auf Privatgrund zurückgegriffen wird, ...

Hervorhebung vom Verfasser. Bandasch-Marsch-Barner, § 311 HGB Rn. 5. 98 Dies räumt auch SchmidJ-Aßmann, BB-Beil. Nr. 34, 1990, 10 f., ein. 99 Siehe auch §§ 394, 395 AktG (Sondervorschriften bei Beteiligung von Gebietskörperschaften). Nach einigen landesrechtlichen Bestimmungen soll die Gemeinde, soweit ihr Interesse das erfordert, sogar dalUl darauf hinwirken, daß in der Satzung oder dem Gesellschaftsvertrag diese Kontrollbefugnisse verankert werden, welUl die Beteiligung der Gemeinde an dem Unternehmen keine Mehrheitsbeteiligung im SilUle des § 53 HGrG ist; vgl. z.B. Art. 94a Abs. 2 S. 1 BayGO. Hierzu auch SchmidJ-Aßmann, BB-Beil. Nr. 34,1990,11, insbes. Fn. 94 m.w.N. 100 Gesetz über die Landbeschaffung für Aufgaben der Verteidigung v. 23. 2. 1957, BGBI. I, S. 134. 96 97

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Teil 3: Der legislative Ausstieg " ... auch der Grundbesitz juristischer Personen des privaten Rechts, an deren Kapital die öffentliche Hand übelWiegend beteiligt ist. "

Ebenso sind nach § 11 Abs. 4 Nr. Ib) BDatSchG101 bestimmte datenschutzrechtliche Vorschriften durch nicht-öffentliche Stellen zu beachten, ... " ... bei denen der öffentlichen Hand die Mehrheit der Anteile gehört oder die Mehrheit der Stilrunen zusteht und der Auftraggeber eine öffentliche Stelle ist".

Diese Auflistung ließe sich fortsetzen. 102 Die Verneinung der Grundrechtsfähigkeit gemischtwirtschaftlicher Unternehmen ab einer bestimmten staatlichen Beteiligung ist bereits früh vertreten worden. Nach Maser kann sich ein solches Unternehmen dann nicht auf Grundrechte berufen, wenn die öffentliche Hand mehr als ein Viertel des GeseIlschaftskapitals besitzt. 103 Auf die Beteiligungsverhältnisse kommt es aber nach dem Bundesverfassungsgericht gar nicht entscheidend an lO4 ; hieraus kann allenfalls ein zusätzliches Argument gewonnen werden. Auch durch die Mitgliederstruktur des TÜV, der sich sowohl aus juristischen als auch aus natürlichen Personen zusammensetztlO~, hat sich das Bundesverfassungsgericht nicht gehindert gefühlt, diesem die Grundrechtsfähigkeit abzuerkennen. 106 Entscheidend für die Verneinung der Grundrechtsfähigkeit ist vor allem, daß die juristische Person unter staatlicher Regie öffentliche Aufgaben erfüllt. Ob dies, wie im Falle des TÜV, teilweise durch "klassische" Verwaltungsakte geschieht, oder ob, wie im Falle der HEW-AG durch Daseinsvorsorge, ist nebensächlich. 107 Die Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit elementaren Leistungen ist eine der wichtigsten staatlichen Aufgaben. Eine gesicherte staatliche Daseinsvorsorge setzt voraus, daß der Staat die hierzu erforderlichen Einrichtungen zumindest teilweise kontrollieren kann. Hierzu bieten sich zwei Möglichkeiten, die auch miteinander kombiniert werden können: "Staatliche Beaufsichti101 Bundesdatenschutzgesetz v. 20. 12. 1990, BGB!. I, S. 2954. 102 Vg!. z.B. § 2 Abs. I HessNatSchG, wonach die Pflicht zur Unterrichtung der Natur-

schutzbehörden bei der Vorbereitung von öffentlichen Planungen und Maßnalunen, die die Belange des Naturschutzes und der Landschaftspflege berühren können, auch rur juristische Personen des privaten Rechts besteht, "deren Kapital sich ganz oder übelWiegend in öffentlicher Hand befindet. " 103 Maser, Juristische Personen, S. 159. 104 Ebenso Christi Degenhan, Durchgriff, S. 111 f.; Emmerich, Wirtschaftsrecht, S. 92. 1O~ Vg!. Lukes, Technischer ÜbelWachungs-Verein, S. 65. 106 BVerfG, NJW 1987, 2501 [2501 f.]. 107 Auch in BVerfGE 75, 192 [197 ff.] wird die Grundrechtsfähigkeit der öffentlich-rechtlichen Sparkassen trotz der weitgehend gleichen Tätigkeit privatwirtschaftlicher Banken deshalb verneint, weil die Sparkassen Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge wahmelunen. Ablehnend zur Daseinsvorsorge als Differenzierungskriterium allerdings v.Mutius, Jura 1983, 35.

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gung der Versorgungsleistungen privater Unternehmungen und ... Schaffung verwaltungseigener oder unter Kontrolle der Verwaltung stehender (gemischtwirtschaftlicher) Betriebe. "108 "Die Erfüllung von Funktionen im Bereich der Daseinsvorsorge ist daher dem Bereich der Wahrnehmung originär staatlicher Aufgaben auch dann zuzuordnen, wenn sie in privatrechtlicher Organisationsform erfolgt. "109 Neue Formen des Verwaltungshandelns und neue öffentliche Aufgaben drängen die klassische Eingriffsverwaltung ohnehin immer mehr in den Hintergrund. Der Wandel der Handlungsformen hat dazu geführt, daß heute eine Vielzahl von Staatsfunktionen in privatrechtlicher Form bzw. von Privatrechtssubjekten wahrgenommen werden. Solche juristischen Personen sind aber, wenn sie vom Staat beherrscht werden, nicht Ausdruck grundrechtlicher Freiheiten, sondern beruhen auf staatlichen Gestaltungsmöglichkeiten. (2) Gesellschaftsrechtliche Einflußmöglichkeiten des Staates Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben wird häufig durch Beteiligung des Staates an privatrechtlich verfaßten Wirtschaftsunternehmen realisiert. Die Möglichkeit der öffentlichen Hand, als Mitgesellschafterin solcher gemischtwirtschaftlichen Unternehmen Einfluß auf die Unternehmensführung zu nehmen, wird jedoch teilweise in Frage gestellt. 110 Auf die Vermutung beherrschenden Einflusses bei Mehrheitsbeteiligung nach § 17 Abs. 2 AktG wurde bereits hingewiesen. Aber auch ein Großaktionär, der weniger als die Hälfte der Anteile innehat, kann nach § 17 Abs. 1 AktG beherrschenden Einfluß auf das Unternehmen ausüben. Hierzu hat der Bundesgerichtshof festgestellt l11 , daß zum einen die öffentliche Hand 112 als 1nhaberin gesellschaftlicher Beteiligung selbst "Unternehmen" im Sinne dieser Vorschrift sein kann und daß zum anderen auch ein unter 50 % liegender Aktienbesitz in Verbindung mit weiteren verläßlichen Umständen rechtlicher oder tatsächlicher Art einen beherrschenden Einfluß begründen kann. Zu den108

Forsrhoff, Verwaltungsrecht, § 25 II 5 b 1.

109

Chrisrl Degenhan, Durchgriff, S. 28; ähnlich auch OLG Hamburg, et 1988, 560.

Jarass, Wirtschaftsverwaltungsrecht, § 16 Rn. 12 u. § 20 Rn. 12; Koppensreiner, NIW 1990, 3109 ff.; Veirh, Energieversorgungsunternehmen, S. 29 - 100; Zimmermann, JuS 1991, 298 f.; widersprüchlich Ronellenjirsch, HdBStR m, § 84 Rn. 25 einerseits und Rn. 28 andererseits. Siehe aber auch die positive Bewertung gesellschaftsrechtlicher Einwirkungsmöglichkeiten bei Schuppen, Öffentliche Unternehmen, S. 26 ff. 110

111 BGHZ 69, 334 [Ls. b) und S. 347] - VEBA-Gelsenberg, unter Bestätigung der vorinstanzlichen Entscheidung des LG Essen, NIW 1976, 1897 m.zust.Anm. v.MuriuslNesseITnÜller, NIW 1976, 1848 ff. Ebenso bereits Brenner, BB 1962, 729; Monopolkommission, Hauptgutachten II, S. 159. Zum Gelsenberg-Urteil des Bundesgerichtshofs auch H.P. Ipsen, Der Staat als Unternehmer, S. 267 f. m.w.N. 112 Hier die Bundesrepublik Deutschland als damalige Anteilseignerin der VEBAcAG.

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ken ist hier etwa an Unternehmensverträge, an wirtschaftliche Abhängigkeit als Folge von Beziehungen der Gesellschaft zu Lieferanten, Abnehmern oder Kreditgebern, und an personelle Verflechtungen. l13 Der Schutz der Minderheitsaktionäre und auch der Gläubiger vor der Gefahr der Beherrschung von außen her, so der Bundesgerichtshof, verlange die Anwendung konzernrechtlicher Vorschriften auch dann, wenn zu befürchten ist, daß ein Großaktionär neben dem Wohl der Gesellschaft auch andere Interessen verfolgt. 114 Diese Gefahr sei insbesondere bei öffentlich-rechtlichen Körperschaften mit Aktienbesitz gegeben, da ... "... die spezifische AufgabensteIlung einer solchen juristischen Person durchaus mit dem wirtschaftlichen Interesse der Privataktionäre am Gedeihen der Gesellschaft typischerweise kollidieren kann. "115

Die öffentliche Hand spanne durch eigene wirtschaftliche Initiative Beteiligungsgesellschaften für fremde oder übergeordnete Unternehmensziele, z.B. energiewirtschaftlicher Art, ein. Der Staat habe dadurch die Möglichkeit, beherrschenden Einfluß auf die Gesellschaft zu nehmen, indem er als Anteilseigner etwa mit Hilfe seines Stimmrechts die Zusammensetzung der Gesellschaftsorgane mitbestimmt ... "... und dafür sorgt, daß in ihnen Personen vertreten sind, die nicht nur sein Vertrauen haben, sondern ihm auch, soweit sie Aufsichtsbefugnisse haben, zur Berichterstattung verpflichtet sind (§ 69 S. I Nr. 2 BHO, § 394 AktG). DalÜber hinaus pflegt er sich als Inhaber eines großen Bestandes privatwirtschaftlicher Beteiligungen auch sonst, wenn er es für nötig hält, bei unternehmerischen Entscheidungen von unter Umständen großer Tragweite aufgrund eigener wirtschaftlicher Zielvorstellungen und unter Einsatz wirtschaftlicher Mittel einzuschalten. "116

Eine solche Intervention werde durch haushaltsrechtliche Mittel zumindest ermöglicht, wenn nicht sogar zur Pflicht gemacht. 117 Gleichwohl sind dem Einfluß des Staates als Aktionär auf die U nternehmensführung durch das Recht der Aktiengesellschaften auch bei Mehrheitsbeteiligungen einfachgesetzliche Grenzen gesetzt. Die öffentliche Hand kann ihre besonderen Interessen nur im Rahmen des gesetzlichen oder durch die Satzung zugelassenen Maßes wahrnehmen. Daß jedoch die verfassungsrechtlich begründeten "aktienrechtlichen Vorkehrungen zum Schutz der Interessen von Minderheiten oder auch einzelner Aktionäre" gegenüber der Gesellschaft Rückschlüsse auf die Grundrechtsfähigkeit des Unternehmens selbst er113 114

l1S 116

117

Vgl. dazu eingehend Geßler, § 17 AktG, Rn. 35 - 63. BGHZ 69, 334 [336 f.]. BHGZ 69,334 [337 f.]; ebenso bereits LG Essen, NJW 1976,1897 [1898]. BGHZ 69, 334 [345]. BGHZ 69, 334 [346].

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laube ll8 , ist nicht einsichtig. Dem Minderheitenschutz im Gesellschaftsrecht, mag er auch verfassungsrechtlich gefordert sein, läßt sich keine Aussage für das ganz anders gelagerte Verhältnis Unternehmen - Staat entnehmen. Vorstand und Aufsichtsrat sind bei der Geschäftsführung (§ 76 Abs. 1 AktG) bzw. deren Überwachung (§ 111 Abs. 1 AktG) in erster Linie den Gesellschaftsinteressen verpflichtet, §§ 93, 116 AktG\I9, jedoch sollen die auf Veranlassung des Staates gewählten und entsandten Aufsichtsratsmitglieder auch die besonderen Interessen des Staates berücksichtigen. 120 Somit ist die Berücksichtigung öffentlicher Belange nicht grundsätzlich ausgeschlossen und jedenfalls der beherrschende Einfluß auf längere Sicht nicht in Frage gestellt. 121 Direkte Einflußnahme der Aktionäre auf die Geschäftsführung ist zwar nicht ohne weiteres möglich, jedoch sind die Vorstandsmitglieder im Verhältnis zur Gesellschaft verpflichtet, die Beschränkungen einzuhalten, die im Rahmen der Vorschriften über die Aktiengesellschaft die Satzung, der Aufsichtsrat, die Hauptversammlung und die Geschäftsordnungen des Vorstands und des Aufsichtsrats für die Geschäftsführungsbefugnis getroffen haben, § 82 Abs. 2 AktG. Auch kann der Vorstand selbst verlangen, daß die Hauptversammlung eine Entscheidung über Fragen der Geschäftsführung trifft, § 119 Abs. 2 AktG. Für '" "... grundlegende Entscheidungen, die ... so tief in die Mitgliedsrechte der Aktionäre und deren im Anteilseigentum verkörpertes Vermögensinteresse eingreifen, daß der Vorstand vernünftigeIWeise nicht annehmen kann, er dürfe sie in ausschließlich eigener Verantwortung treffen, ohne die Hauptversammlung zu beteiligen ... ",

... nimmt der Bundesgerichtshof sogar eine Pflicht des Vorstands an, von der Möglichkeit des § 119 Abs. 2 AktG Gebrauch zu machen. 122 Ansonsten ist aber die Wahrung öffentlicher Interessen nur dann gewährleistet, wenn diese in der Satzung der Aktiengesellschaft zum Gesellschaftszweck bestimmt werden, wenn dem Aufsichtsrat gemäß § 111 Abs. 4 AktG per Satzung die Zustimmung für bestimmte Arten von Geschäften vorbehalten wird, möglichst flankiert durch eine Erweiterung der Berichterstattungspflicht des Vorstands gegenüber dem Aufsichtsrat nach § 90 AktGI23 oder wenn sich die öffentli-

So Koppensteiner, NJW 1990, 3109 ff. Jarass, WirtschaftsvelWaltungsrecht, § 16 Rn. 12; Veith, Energieversorgungsunternehmen, S. 30, 36. 120 Vgl. § 65 Abs. 6 BHO und die entsprechenden Bestimmungen des Landeshaushaltsrechts (hierzu bereits oben bei Anm. 89). 121 BGHZ 69, 334 [339, 346]; ebenso v.MutiuslNesselmüller, NJW 1976, 880 und bereits Brenner, BB 1962, 729. 122 BGHZ 83, 122 [131] - Holzmüller; kritisch dazu Veith, Energieversorgungsunternehmen, S. 65 ff. 123 Dazu näher Schuppen, Öffentliche Unternehmen, S. 26 ff. 118 119

22

BorgJDllDll

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chen Anteilseigner durch Konzessionsverträge oder Beherrschungsverträge (§§ 291 ff. AktG) entsprechend absichern. Noch großzügiger im Hinblick auf den Einfluß der öffentlichen Hand ist demgegenüber das GmbH-Recht. 124 Der Umfang der Geschäftsführungsbefugnis kann durch den Gesellschaftsvertrag oder durch Einzelbeschluß der Gesellschafter beschränkt werden, § 37 Abs. 1 GmbHG. Nach herrschender Meinung können dadurch die Befugnisse der Geschäftsführer erheblich verkürzt werden. l25 Beispielsweise können der Gesellschafterversammlung Weisungsrechte gegenüber der Geschäftsführung zugestanden werden, vgl. § 45 Abs. 1 GmbHG; als Anteilseignerin kann die öffentliche Hand den Geschäftsführer bestellen und abberufen, § 46 Nr. 5 GmbHGI26, und zwar je nach Satzungsgestaltung auch ohne Mehrheitsbeteiligung. Auch das Mitbestimmungsgesetz hat nichts daran geändert, daß die Anteilseignerversammlung als oberstes Unternehmensorgan die Befugnis hat, "erheblichen Einfluß auf die Geschäftsführung auszuüben (vgl. §§ 37, 46 Nr. 6 GmbHG, § 27 GenG). "127 cc) Öffentliche Unternehmen als Instrument staatlicher Politik Eine Sichtweise, die bei der Beurteilung der Grundrechtsfähigkeit einer juristischen Person des Privatrechts allein darauf abstellt, ob sich deren Anteile ausschließlich in öffentlicher Hand befindenl28 , berücksichtigt daher nicht hinreichend, daß sich der Staat heute bei der Erfüllung seiner Aufgaben Privater auch in ganz anderer und trotzdem dominanter Weise bedienen kann als

124 Vgl. etwa Emmerich, Wirtschaftsrecht, S. 162 f. 12j Schuppen, Öffentliche Unternehmen, S. 28; Hachenburg-Mertens, § 37 GmbHG, Rn. 19 ff. m.w.N. 126 Vgl. auch RoneUe'!fitsch, HdBStR m, § 84 Rn. 25. Hieraus ergeben sich weitgehende Einwirkungsmöglichkeiten. Vgl. insoweit die beispielhafte Darstellung der Einflußnahme der Gemeindeorgane der Städte Regensburg und Nürnberg auf die Geschäftspolitik ihrer kommunalen Eigengesellschaften bei ChristI Degenhan, Durchgriff, S. 33 - 36 u. S. 74 Fn. 38. Allerdings sind diese Möglichkeiten der Einflußnahme bei gemischtwirtschaftlich organisierten Energieversorgungsunternehmen weniger ausgeprägt (ChristI Degenhan, Durchgriff, S. 40 f.). 127 BVerfGE 50, 290 (346) - Mitbestimmung. 128 So z.B. Bleckmann, Grundrechte, S. 101; Knüppel, DÖV 1981, 19 f.; Sante, Ausstieg, S. 97; ähnlich SchmidJ-Aßmann, BB-Beil. Nr. 34, 1990, 10 f., der aber eine Ausnahme filr die Fälle zulassen will, in denen die private Beteiligung bei "eindeutiger Beherrschung durch die öffentliche Hand" bloße" Alibifunktion" habe; ebenso Knöchel, Preisaufsicht, S. 47. Die Grenze so SchmidJ-Aßmann - liege unterhalb von 10 % privaten Kapitalanteils. Ablehnend gegenüber der vollständigen Beherrschung des Unternehmens durch die öffentliche Hand als alleiniges Abgrenzungskriterium Emmerich, Wirtschaftsrecht, S. 92; J. Ipsen, VVDStRL 48 (1990), S. 183 f.; MaunzlDürig-Dürig, Art. 19 m, Rn. 45.

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daß er auf deren Alleininhaberschaft angewiesen wäre. 129 Davon geht offenbar auch der Gesetzgeber aus, wenn er Bund und Länder verpflichtet, auf die Beachtung der Erfordernisse der Raumordnung auch durch die juristischen Personen des Privatrechts, an denen sie beteiligt sind, hinzuwirken. 130 Daß der Staat sich hierbei im Rahmen des geltenden Rechts bewegen und insbesondere auch die verfassungsrechtlichen Vorgaben beachten muß 131 , versteht sich von selbst. Selbst reine Privatunternehmen können u. U. in ein staatliches Abhängigkeitsverhältnis geraten, das sich von der Abhängigkeit öffentlicher Unternehmen nicht unterscheidet. 132 Einer juristischen Person des Privatrechts ist die Möglichkeit, sich auf Grundrechte zu berufen, jedenfalls nicht nur dann zu versagen, wenn der Staat als alleiniger Anteilseigner (in durchaus legitimer Weise) die Daseinsvorsorge sicherstellen will. Der Staat ist nicht selbst Träger der Grundrechte, insbesondere dürfen die Grundrechte von ihm nicht als Legitimation zur Ausweitung wirtschaftlicher Tätigkeit in Anspruch genommen werden. Dies gilt nicht nur dann, wenn er unmittelbar in Erscheinung tritt, sondern auch dann, wenn der Staat sich zur Erfüllung seiner Aufgaben eines selbständigen Rechtsgebildes bedient. 133 Öffentliche Unternehmen sind zwar als Gesamtheit keiner einheitlichen Leitung unterworfen; ihnen fehlt der organisatorische Zusammenhang. Sie sind aufgrund ihrer Zersplitterung und Einzelautonomie kein homogen lenkbares Steuerungsmittel staatlicher Politik. l34 Wohl aber kann das einzelne Unternehmen durch die öffentliche Hand bei Wahrnehmung entsprechender Einwirkungsmöglichkeiten zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben eingesetzt werden. Aber auch dies ist nicht immer gewährleistet; nämlich dann nicht, wenn das Unternehmen sich zwar mehrheitlich in öffentlicher Hand befindet, aber nicht von einem, sondern von mehreren staatlichen Trägem gehalten wird. Diese ziehen nicht notwendig an einem Strang, sondern verfolgen mitunter verschiedene Interessen. Dies tut der staatlichen Zuordnung solcher Unternehmen und damit der fehlenden Grundrechtsträgerschaft jedoch keinen Abbruch. Gemeinsam ist den öffentlichen Anteilseignern doch die Pflicht, durch ihre Beteiligung ausschließlich öffentliche Interessen zu verfolgen, mögen diese auch unterschiedlich bewertet werden. Dies hat jedenfalls für das 129 Vgl. Manhiesen, Einwirkung, s. 16 ff. und Monopolkommission, Hauptgutachten I, S. 400 (allgemein rur die Energieversorgung); Papier, Einwirkungen, S. 534 (speziell rur die Atomwirtschaft). 130 131 132

§ 4 Abs. 2 ROG; Art. 25 BayLPlG (siehe bereits oben bei Anm. 85/86). Ipsen, Der Staat als Unternehmer, S. 270 f. Emmerich, Wirtschaftsrecht, S. 225.

133 BVerfGE 21, 362 [370]. In die gleiche Richtung Dicken, Naturwissenschaften, S. 310; Emmerich, Wirtschaftsrecht, S. 93; J. Ipsen, VVDStRL 48 (1990), S. 183 f. und 300 f.; Krebs, HdBStR m, § 69 Rn. 65 i.V.m. 38. 134 Püttner, DÖV 1983, 701 ff.

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Unternehmen zur Folge, daß private Interessen nicht mehr im Vordergrund stehen und damit allenfalls eine sekundäre Rolle spielen. Ohnehin liegt auch bei Beteiligung mehrerer juristischer Personen des öffentlichen Rechts an einem Unternehmen häufig eine gemeinsame Beherrschung vor, die durch Stimmbindungsverträge oder besondere Organe sichergestellt ist. l3S Schuppert konstatiert eine teilweise mangelhafte Beachtung der öffentlichen Zweckbindung durch öffentliche Unternehmen, die vor allem durch die fehlende oder unklare Vorgabe der öffentlichen Zwecke durch den staatlichen Träger zu erklären sei. 136 Die Steuerungskraft werde insbesondere eingeschränkt durch inhaltsleere, nicht hinreichend konkrete Beschreibung der zu verfolgenden Ziele, durch Zielverwässerung aufgrund mittelbarer Beteiligungen auch unterschiedlicher Hoheitsträger, durch die Eigendynamik der Unternehmen, die im Laufe der Zeit Zielveränderungen nach sich ziehen kann, sowie durch ZielverdÜDDung durch ein häufig privatwirtschaftliches Selbstverständnis der der Unternehmensleitung angehörenden Personen. 137 Dies kann zu einem Auseinanderklaffen der 'offiziellen' und der tatsächlich verfolgten Unternehmensziele führen. Zur Behebung dieser Mißstände schlägt Schuppert vor, den öffentlichen Auftrag solcher Unternehmen präziser zu formulieren und gesellschaftsrechtlich verbindlicher auszugestalten; verbunden mit einer gleichzeitigen personellen Entflechtung der Unternehmensleitung und der diese kontrollierenden behördlichen Beteiligungsverwaltung. Die dargestellten Defizite können jedoch die Grundrechtsfähigkeit des Unternehmens nicht begründen, solange gesetzlich und verfassungsrechtlich eine Einwirkungspjlicht der öffentlichen Hand besteht. Schuppert hat vor allem unter verwaltungswissenschaftlichen und organisationsrechtlichen Gesichtspunkten die Frage untersucht, ... "... wann eine privatrechtliche Organisation - sei es durch die Art der Aufgabe, der Finanzierung, der Mitgliedschaft etc. - so stark mit dem Bereich staatlicher Verwaltung verknüpft ist, daß sie als Trabant oder Satellit des Systems der öffentlichen Verwaltung erscheint und damit neben Bundesoberbehörden, Körperschaften und Anstalten zu den verselbständigten Verwaltungseinheiten zu rechnen wäre .• 138

Ausgehend von der Erkenntnis, daß sich die Zuordnung als Skalierungsproblem darstellt, deren Maßstab der Grad des Entferntseins der Organisation vom Staatskörper ist, unterscheidet Schuppert vier Gruppen von Organisationseinheiten: 139 l3S 136

137 138 139

Emmerich, Schuppen, Schuppen, Schuppen, Schuppen,

Wirtschaftsrecht, S. 223. Öffentliche Unternehmen, S. 9 f. Öffentliche Unternehmen, S. 13 ff. Verwaltungseinheiten, S. 76. Verwaltungseinheiten, S. 166.

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1. Staatliche Organisationseinheiten, 2. quasi-staatliche Organisationseinheiten, "die zwar nicht so 'aussehen', aber funktional der Verwaltung/Regierung zuzurechnen sind", 3. fast-staatliche Organisationseinheiten, "die nicht der staatlichen Verwaltung zuzuschlagen sind, aber gesteigerter öffentlicher Verantwortung unterliegen (sollten)", und schließlich 4. nichtstaatliche Organisationen. Zwischen den Organisationen, die unter Ziffer 2 einzuordnen sind und solchen, die Ziffer 3 zugerechnet werden müssen, verläuft die Grenze zwischen 'Noch-Staat' und 'Schon-Privatem'. In seiner Untersuchung stellt Schuppert aus verwaltungswissenschaftlicher Sicht Abgrenzungskriterien auf, die auch für die Prüfung der Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen fruchtbar gemacht werden können. Zentrales Zuordnungskriterium ist die Möglichkeit der Steuerung und maßgeblichen Beeinflussung und damit der Abhängigkeit der Organisation. Dabei ist ohne Bedeutung, ob die Einflußnahme auf rechtlichen oder tatsächlichen Umständen beruht. Liegt die Beherrschungsmöglichkeit beim Staat, dann handelt es sich um eine "quasi-staatliche Organisationseinheit" im Sinne der Ziffer 2; ist dies nicht der Fall, dann liegt eine "fast-staatliche", aber dennoch private Organisationseinheit im Sinne der Ziffer 3 vor. Die Beantwortung folgender Fragen kann die Zuordnung erleichtern: 140 a) Um welche Art öffentlicher Aufgaben, die von der Organisation wahrgenommen werden, handelt es sich? b) Welche Rechtsform (öffentlich-rechtlich) oder privatrechtlich) hat die Organisation? c) Ist die Organisation Bestandteil eines größeren Systems von Organisationen, die quasi arbeitsteilig einzelne Aspekte einer umfassenderen öffentlichen Aufgabe wahrnehmen und dabei vom Staat "diskret" gelenkt werden? d) Ist die Organisation von staatlichen Zuwendungen finanziell abhängig? Werden die Zuwendungen zur Stärkung der Autonomie oder zur Einflußnahme des Staates auf die Mittelverwendung gewährt? e) Inwieweit sind Staat und Organisation miteinander personell verflochten? Anschließend sind die Antworten zu den Fragen a) bis e) im Wege einer Gesamtbetrachtung zu würdigen. Den gefundenen Antworten kommt dabei indizielle Wirkung zu, wobei ergänzend anzumerken ist, daß auch der Grad 140

Schuppen, VelWaltungseinheiten, S. 187 ff.

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der staatlichen Beteiligung an der Organisation etwa über Stimmen- oder Kapitalanteile in die Beurteilung mit einzubeziehen ist. Ziel der Gesamtbetrachtung muß die Antwort auf die Frage sein, ob die Organisation staatlich oder privat beherrscht und somit eher im staatlichen141 oder im nicht-staatlichenl42 Bereich anzusiedeln ist. Hierdurch werden nicht etwa die Grundrechte der privaten Anteilseigner des betroffenen Unternehmens vernachlässigt. 143 Selbstverständlich können sich die privaten Aktionäre etc. hinsichtlich ihrer Anteile - unabhängig vom Grundrechtsschutz des Unternehmens selbst - auf das Eigentum am Unternehmen (' Anteilseigentum ') berufen. l44 Allerdings schützt das Anteilseigentum nicht vor staatlichen Maßnahmen, die gegen das Unternehmen gerichtet sind und dadurch den Wert der Aktie sinken lassen. Hier ist nur das Vermögen, nicht aber der Bestand des Rechts betroffen. 145 Insoweit besteht jedoch kein Unterschied zwischen gemischtwirtschaftlichen und rein privaten Unternehmen. Das Anteilseigentum genießt verfassungsrechtlichen Schutz nur hinsichtlich seiner individuellen Funktion als gesellschaftsrechtlich vermitteltes Eigentum. 146 Daher überzeugt auch nicht der Einwand von Bleckmann l47 , allein die Erweiterung des Eingriffsbegriffs in der Weise, "daß auch die Rückwirkung des Eingriffs in Rechte der juristischen Person auf die Individualrechte des Mitglieds als Eingriff in die individuellen Grundrechte gewertet werden kann", sei für einen Grundrechtsschutz nicht ausreichend, weil dadurch "wahrscheinlich nicht alle mittelbaren Grundrechtsverletzungen des Mitglieds erfaßt" werden. Auch das Bundesverfassungsgericht hat betont, daß sich der gegenüber dem Sacheigentum geringere personale Bezug des Anteilseigentums im Auseinanderfallen von Gebrauch des Eigentums und Verantwortung für diesen Gebrauch zeige: "Anders als der Unternehmer-Eigentümer vermag der Anteilseigner mit seinem Eigentum nur mittelbar zu wirken; die vermögensrechtliche Haftung filr die wirtschaftlichen Folgen von Fehlentscheidungen ergreift ihn nicht als Person, sondern sie bezieht sich auf einen eingegrenzten Teil seiner Vermögenssphäre.... Für die Vielzahl der Anteilseigner bedeutet das Anteilseigentum typischerweise mehr Kapitalanlage als Grund-

141 142

Ziffer 1 und 2. Ziffer 3 und 4.

143 So aber Kloepjer, Umweltrecht, § 2 Rn. 7; Knöchel, Preisaufsicht, S. 47; Kühne, JZ 1990, 336; v.Murius, Jura 1983, 41; Pierorh, NWVBI. 1992, 87; Schmidr-Aßmmm, BB-Beil. Nr. 34, 1990, 13; Srern, Staatsrecht m 1, S. 1170.

144 BVerfGE 50, 290 [342 ff.] - Mitbestimmung; AlrK-Bull, Art. 87c Rn. 8; Bleckmilnn, Grundrechte, S. 101; Chrisrl Degen/um, Durchgriff, S. 41, 111, 119; Maser, Juristische Personen, S. 160; Wesener, Energieversorgungskonzepte, S. 156 f. 145 Ebenso Chrisrl Degen/um, Durchgriff, S. 114. 146 BVerfGE 50, 290 [345] - Mitbestimmung. 147 Bleckmilnn, Grundrechte, S. 101.

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lage unternehmerischer Betätigung, die sie mit ihrer Person verbinden; dies wird auch an der Liquidität des Anteilseigentums und der Anonymität des Inhabers deutlich." 148

Gerade der vor allem im Aktienrecht stark ausgeprägte Minderheitenschutz gegenüber den Mehrheitsaktionären149 zeigt deutlich, daß die Interessen der Minderheit auch dann noch hinreichend gewahrt und erlittene Nachteile kompensiert werden, wenn man dem Unternehmen selbst den Grundrechtsschutz versagt. Auf gemischtwirtschaftliche Unternehmen übertragen bedeutet dies, daß die öffentliche Hand als Mehrheitsaktionär oder beherrschendes Unternehmen Schäden der privaten Kapitaleigner ausgleichen muß, wenn sie aufgrund ihres beherrschenden Einflusses Interessen des Gemeinwohls durchsetzt, die mit den in erster Linie auf Gewinn angelegten Interessen der privaten Aktionäre nicht in Übereinstimmung zu bringen sind. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Haftung gemäß §§ 117, 309 Abs. 2 und 4, 311 Abs. 1 a.E., 317 Abs. I, 320 Abs. 5 AktG.I50 Die Art der Einflußnahme ist für die Haftung ohne Bedeutung. Daher verfängt auch nicht der gewiß zutreffende Hinweis von Koppensteiner auf die Erwägungen des Bundesgerichtshofs, "Außenseiter bräuchten sich eine Beeinträchtigung ihrer Interessen nicht bloß deshalb gefallen zu lassen, weil der Hauptaktionär öffentliche Interessen repräsentiere." 151 Im übrigen ist die Einwirkungspflicht des Staates auf gemischtwirtschaftliche Unternehmen nach dem Haushaltsrecht kein Geheimnis. Wer sich als Kapitalanleger leichtfertig dieser Erkenntnis verschließt, kann jedoch keine erhöhte Schutzbedürftigkeit in Anspruch nehmen. 152 Teilweise wird sogar die noch weitergehende Frage aufgeworfen, ob Großunternehmen und Konzerne wegen der erheblichen Unterschiede dieser Unternehmen gegenüber natürlichen Personen im Rahmen der Wirtschafts-

148 149

BVerfGE 50,290 [348] - Mitbestimmung. Dazu ausführlich Koppensreiner, NJW 1990, 3109 ff.

150 Vgl. dazu das Beispiel bei Emmerich, Wirtschaftsrecht, S. 225 Fn. 132 (Hamburger Senat verweigert die Zustimmung zur Erhöhung der Tarife durch die privatrechtlich organisierten Verkehrsbetriebe). Die Haftung der öffentlichen Hand rur Einwirkungen auf gemischtwirtschaftliche Energieversorgungsunternehmen mit dem Ziel des Ausstiegs aus der Kernenergie wird rur die RWE-AG allerdings verneint von BrilggemeierlDamm, Kommunale Einwirkung, S. 63 ff. (insbes. S. 80 - 87). Die Einflußnahme sei nicht rechtswidrig, sondern erfolge im Interesse des Gemeinwohls, welches ebenfalls vom Unternehmenszweck gedeckt sei und welchem sich das unternehmerische Rentabilitätsinteresse hier unterzuordnen habe. 151 Koppensreiner, NJW 1990, 3112. Zu Recht betont allerdings AlrK-Bull, Art. 87c Rn. 9, daß Minderheitsaktionäre in einem staatlich beherrschten Unternehmen keinen Anspruch darauf haben, daß das Unternehmen um ihres künftigen Gewinns willen zu Lasten der Allgemeinheit weiter expandiere. 152 Ebenso H.P. lpsen, Der Staat als Unternehmer, S. 272.

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ordnung überhaupt Grundrechtsschutz genießen. IS3 Auch das Bundesverfassungsgericht hat zur Frage, ob sich juristische Personen ihrem Wesen nach auf die durch Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistete Unternehmensfreiheit berufen können, betont, daß sich bei Gründung und Führung eines Klein- und Mittelbetriebs der personale Grundzug des Grundrechts auch im wirtschaftlichen Bereich verwirkliche, während dieser bei Großunternehmen nahezu gänzlich verloren gehe. Jedoch führe dies, so das Bundesverfassungsgericht weiter, nicht dazu, die grundrechtlich gewährleistete Unternehmensfreiheit grundsätzlich auf kleine und mittlere Unternehmen zu beschränken. Immerhin lasse der Unterschied aber Rückschlüsse auf die Regelungsbefugnis des Gesetzgebers zu. 154 Zusammenfassend ist festzuhalten, daß gemischtwirtschaftlichen Unternehmen die Grundrechtsfähigkeit nicht generell aberkannt werden kann. Allein ausreichend zur Verneinung der Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen ist weder die Wahrnehmung von Staatsaufgaben noch eine erhebliche staatliche Einflußnahme. Wenn aber beides zusammenkommt, dann kann von privatautonomer Tätigkeit und somit von der Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheiten durch die juristische Person keine Rede mehr sein. Ein solches Unternehmen ist vielmehr im Außenverhältnis mit dem Staat selbst zu identifizieren. lss Diese Abgrenzung mag zwar im Einzelfall schwierig sein ls6 , sie ist aber allein sachgerecht, wenn Grundrechtsschutz auf staatliche Tätigkeit nicht ausgedehnt werden soll. Daß die Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen des Privatrechts häufiger zu bejahen ist als die Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts, liegt in der Natur der Sache. ls7

IS3 Stober, Grundrechtsschutz, S. 13 f.; v.Zezschwirz, JA 1979,250 f.; für Großunternehmen im Bereich der Energieversorgung jedoch ausdrücklich ablehnend Manhiesen, Einwirkung, S. 30 ff. 154 BVerfGE 50, 290 [364 f.] - Mitbestimmung. ISS Christi Degenhan, Durchgriff, S. 114. Nach Hermes, Schutzpflicht, S. 92, wäre "im Einzelfall nachzuweisen, daß die staatliche Beteiligung eine Intensität erreicht hat, die die privaten Teilhaber lediglich als passive Partizipanten erscheinen läßt, während der Staat uneingeschränkte Verfilgungsmacht über sämtliche Aktivitäten und Auswirkungen des Unternehmens hat. " IS6 Brenner, BB 1962, 729; Richter, Nachriistung, S. 61. IS7 SO auch BVerfGE 39, 302 [312 f.]; 75, 192 [196]. Eine abschließende Klärung sämtlicher Grenzfälle ist jedoch nicht Gegenstand dieser Untersuchung.

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II. Überprüfung der Grundrechtsjähigkeit der Kernkrajtwerksbetreiber anhand des gefundenen Lösungsmodells Im folgenden Abschnitt soll nun die Grundrechtsfähigkeit der Kernkraftwerksbetreiber unter besonderer Berücksichtigung ihrer gesellschaftsrechtlichen Strukturierung untersucht werden. 1. Die Beteiligungsverhältnisse Die Strukturierung der Kernkraftwerksbetreiber ist insbesondere geprägt durch weitreichende Verflechtungen unter mehr oder weniger starker Beteiligung der öffentlichen Hand. Einzelheiten können der Aufstellung im Anhang entnommen werden. Insgesamt zeigt sich folgendes Bild: Die Mehrzahl der Betreiber ist privatrechtlich als GmbH organisiert. Die Beteiligungskette endet in vielen Fällen bei juristischen Personen des öffentlichen Rechts, wobei häufig entweder regionale oder überregionale Energieversorgungsuntemehmen zwischengeschaltet sind. Nur seIten jedoch dominiert ein einziger öffentlicher Träger, vielmehr ist Zersplitterung die Regel. Bezüglich des Anteils, der sich schließlich in privater Hand befindet, läßt sich keine allgemeingültige Aussage treffen. Durch die Privatisierung der VIAG und der VEBA Ende der achtziger Jahre zeigt sich eine Tendenz zum Rückzug der öffentlichen Hand, der jedoch - zumindest was die VEBA angeht - mit einer bedeutenden Beteiligung ausländischer Investoren einhergeht. Mit Ausnahme derjenigen Anlagen, an denen sich die VEBA-AG über die Preussen-Elektra-AG mehrheitlich beteiligt, ist aber nach wie vor eine Dominanz der öffentlichen Hand zu verzeichnen. ls8 Zu den Anlagen mit mindestens hälftiger VEBA-Beteiligung 1S9 läßt sich jedoch sagen, daß auch diese nur eingeschränkt als juristische Personen mit grundrechtsfähigem personalen Substrat anzusehen sind, da der Anteil ausländischer Investoren an der VEBA-AG in Form juristischer Personen, die ihrerseits wiederum nach Art. 19 Abs. 3 GG nicht Träger von Grundrechten sind, mit 38 % deutlich zu Buche schlägt. 158 Würde man hier allein auf die Vermutungsgrenze des Art. 2 der EG-Richtlinie 801723/EWG abstellen, so ergäbe sich bereits hieraus die fehlende Grundrechtsfahigkeit der Be-

treiber folgender Kernkraftwerke: Biblis A und B, Brunsbüttel, Emsland, Grafenrheinfeld, Gundremmingen, Isar 1 und 2, Mülheim-Kärlich, Neckar 1 und 2, Obrigheim, Philippsburg 1 und 2. IS9 Würgassen (100 %), UntelWeser (100 %), Brokdorf (80 %), Stade (66,67 %), Grohnde (50 %) und Krümmel (50 %).

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2. Die Aufgabenstellung 'Energieversorgung' und die sich daraus ergebenden Einflußmöglichkeiten des Staates Die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates zur Sicherstellung einer hinreichenden Versorgung mit elektrischer Energie wurde bereits behandelt. l60 Schon Forsthoff61 hat die Leistungen der Versorgungsbetriebe als "klassischen Fall der Daseinsvorsorge " bezeichnet. Gerade die Sicherstellung der Energieversorgung wird daher ungeachtet ihrer Erfüllung durch juristische Personen des Privatrechts dem Bereich der Leistungsverwaltung zugeordnet. 162 Hieraus ergeben sich weitreichende staatliche Einwirkungsmöglichkeiten. Deutlich betont hat dies das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit der Zulässigkeit der staatlich angeordneten Mineraiölbevorratung durch private Unternehmen: "Die überragende Bedeutung der Energiewirtschaft rechtfertigt an sich schon weitergehende staatliche Interventionen, als sie auf anderen Wirtschaftsgebieten üblich und zulässig sind. "163

In der Tat hat sich der Staat wegen der Bedeutung einer gesicherten Energieversorgung eine weitgehende Lenkung der Energiewirtschaft vorbehalten. l64 Die Entwicklung der Elektrizitätswirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland ist gekennzeichnet durch einen deutlichen Rückgang der Anzahl elektrizitätsversorgender Unternehmen, vor allem im Bereich der industriellen Kraftwirtschaft; einhergehend mit Kapitalverflechtungen und Konzentration der Stromerzeugung bei Großunternehmen der öffentlichen Elektrizitätswirtschaft. 165 Hieran ist die öffentliche Hand als Kapitaleigner maßgeblich beteiligt. Zumindest in Bayern ist diese Praxis sogar verfassungsrechtlich ausdrücklich abgesichert. 166 Erwähnt sei ferner die bereits genannte Einwirkungspflicht von Bund und Ländern auf juristische Personen des Privatrechts, an denen sie beteiligt sind, zur Verwirklichung der Erfordernisse der Raumord160

S.o., § 17.

161 Forsthoff, Rechtsfragen, S. 12. 162 H.P. Ipsen, Der Staat als Unternehmer, S. 269 m.w.N. 163

BVerfGE 30, 292 [324].

Soell, Staatslexikon, Energierecht, I.a). 165 Monopolkommission, Hauptgutachten I, S. 383 ff. 166 Vgl. Art. 152 S. 2 Bay.Verf.: Dem Staat "obliegt die Sicherstellung der Versorgung des Landes mit elektrischer Kraft." Und Art. 160 Abs. 1 Bay.Verf.: "Eigentum an ... Unternehmen der Energieversorgung steht in der Regel Körperschaften oder Genossenschaften des öffentlichen Rechts zu." Vgl. auch Art. 41 S. 1 Nr. 1 Hess.Verf.: "Mit Inkrafttreten dieser Verfassung werden in Gemeineigentum überfilhrt: ... die Betriebe der Energiewirtschaft ... " sowie Art. 52 Abs. I SaarI.Verf.: "Schlüsselunternehmen der Wirtschaft (... Energiewirtschaft ... ) dürfen wegen ihrer überragenden Bedeutung filr die Wirtschaft des Landes oder ihres Monopolcharakters nicht Gegenstand privaten Eigentums sein und müssen im Interesse der Volksgemeinschaft gefilhrt werden. " 164

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nung. 167 Zu diesen Erfordernissen gehören nach bayerischem Landesrecht beispielsweise die "Versorgung der Bevölkerung und der Wirtschaft mit preiswürdiger und möglichst umweltfreundlicher Energie"l68 und die Vermeidung von Gefahren, Nachteilen und Belästigungen bei der Wahl des Standorts kemtechnischer Anlagen. 169 Auch die vom Bundestag am 29. 3. 1979 eingesetzte Enquete-Kommission 'Zukünftige Kernenergiepolitik' wurde allgemein als wirksames Instrument energiepolitischer Planungsbeteiligung des Bundestags angesehen. 170 Zur Sicherung des notwendigen öffentlichen Einflusses in allen Angelegenheiten der Energieversorgung ist der Staat bereits aufgrund der Präambel zum EnWG verpflichtet. 171 Mit den verfassungsrechtlichen Grenzen legislativer Regelungen im Bereich der Energiewirtschaft hat sich das Bundesverfassungsgericht bereits im Jahre 1973 anläßlich der Verfassungsbeschwerden zweier Energieversorgungsunternehmen gegen die 'Bundestarifordnung Elektrizität' auseinandergesetzt. 172 Dazu hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt: "Der Gesetzgeber hat bei der Festlegung wirtschaftspolitischer Zielsetzungen und der zu ihrer Verfolgung geeigneten Maßnahmen einen Beurteilungs- und Handlungsspielraum; er darf auch durch wirtschaftspolitische Lenkungsrnaßnahmen das freie Spiel der Kräfte korrigieren. Besonders weitgehend kann dabei ein Bereich geregelt werden, in dem Unternehmen mit monopolartiger Stellung eine öffentliche Aufgabe wahrnehmen, wie die Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichtiger Energie. n

Daran anknüpfend stellt das Bundesverfassungsgericht aus Anlaß einer Verfassungsbeschwerde gegen die Enteignung von Grundeigentum zugunsten eines privatrechtlich organisierten Energieversorgungsunternehmens zum Zwecke des Baus von Hochspannungsmasten fest: 173

167 168 169 170

§ 4 Abs. 2 ROG und Art. 25 BayLPIG, hierzu bereits oben bei Anm. 86. Art. 2 Ziff. 9a) BayLPIG. Art. 2 Ziff. 11 BayLPIG. Löffler, Parlamentsvorbehalt, S. 105.

171 Das übersieht Koppensleiner, NJW 1990, 3108, wenn er einwendet, bei der Wasser- und Energieversorgung handele es sich nicht um eine gesetzlich zugewiesene öffentliche Aufgabe. Zum Fortgelten der Präambel vgl. nur Löwer, Energieversorgung, S. 181 m.w.N. Auf die Präambel des EnWG beruft sich auch die Rechtsprechung, vgl. zuletzt BGH, et 1992, 262 [263], wonach sich die Bestimmung des Strompreises durch ein Energieversorgungsunternehmen (hier die RWE-Energie-AG) am Grundsatz der Sicherheit und Preiswürdigkeit der Energieversorgung, der seinen Niederschlag u.a. in der Präambel zum EnWG gefunden habe, orientieren müsse. Deshalb komme hier abweichend von anderen Wirtschatlszweigen dem Gesichtspunkt der Gewinnmaximierung nur eingeschränkte Bedeutung zu. 172 BVertG, et 1974, 61; siehe bereits oben, bei Fn. 47. 173 BVertGE 66,248 [258] m.w.N.

348

Teil 3: Der legislative Ausstieg "Die Sicherstellung der Energieversorgung durch geeignete Maßnahmen wie z.B. die Errichtung oder Erweiterung von Energieanlagen l74 ist eine öffentliche Aufgabe von größter Bedeutung. Die Energieversorgung gehört zum Bereich der Daseinsvorsorge; sie ist eine Leistung, deren der Bürger zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz unumgänglich bedarf. Die Erfüllung dieser öffentlichen Aufgabe ist auch den privatrechtlich organisierten Energieversorgungsunternehmen durch das EnWG zugewiesen (vg!. § 2 Abs. 2 EnWG)175. Die Führung dieser Unternehmen zum Nutzen der Allgemeinheit ist - zum einen - durch die in § 6 Abs. I EnWG statuierte allgemeine Anschluß- und Versorgungspflicht und - zum anderen - durch die Instrumente der in § I EnWG angeordneten staatlichen Energieaufsicht gewährleistet. "

§ 4 EnWG i. V.m. § 2 Abs. 1 der Dritten Durchführungsverordnung vom 8. 1938 176 verpflichtet die Energieversorgungsunternehmen und Betreiber von Energieanlagen, den Bau, die Erneuerung, die Erweiterung oder die Stillegung von Energieanlagen anzuzeigen ('Investitionskontrolle'). § 5 EnWG stellt die erstmalige Aufnahme der öffentlichen Energieversorgung unter einen Genehmigungsvorbehalt (' Angebotskontrolle'). Beides zusammen schützt die Energieversorgungsunternehmen in ihren jeweiligen Versorgungsgebieten und macht damit das "Eindringen von Newcomern in das Versorgungsgebiet nahezu unmöglich. "In

i!.

Auch nach § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 des Energiesicherungsgesetzes l78 ist die Bundesregierung ermächtigt, durch Rechtsverordnung Regelungen beispielsweise über Produktion, Verteilung, Verwendung und über die Höchstpreise elektrischer Energie zu treffen, um in Notzeiten eine hinreichende Versorgung der Bevölkerung mit Elektrizität zu gewährleisten. 179 Eine sehr weitgehende Einwirkungsmöglichkeit stellt auch die staatliche Preisaufsicht auf der Grundlage des § 7 EnWG dar. l80 Ferner kann der Betrieb untersagt ('abge-

174 Energieanlagen sind nach § 2 Abs. I S. I EnWG "Anlagen, die der Erzeugung, Fortleitung oder Abgabe von Elektrizität oder Gas dienen." Hierzu zählen somit auch die Kernkraftwerke (vg!. Grabosch, Investitionskontrolle, S. 98).

175 Auch die Betreiber von Kernkraftwerken sind Energieversorgungsunternehmen in diesem Sinne. Nach § 2 Abs. 2 EnWG sind Energieversorgungsunternehmen "ohne Rücksicht auf Rechtsformen und Eigentumsverhältnisse alle Unternehmen und Betriebe, die andere mit elektrischer Energie oder Gas versorgen oder Betriebe dieser Art verwalten (öffentliche Energieversorgung). Unternehmen und Betriebe, welche nur teilweise oder im Nebenbetrieb öffentliche Energieversorgung betreiben, gelten insoweit als Energieversorgungsunternehmen. n Vg!. auch BVerfGE 66, 248 [249] und ObemollelDanner, § 2 EnWG, Anm. 4 b, c. 176 RGB!. I, S. 1370. 177

Monopolkomrnission, Hauptgutachten I, S. 408.

178

BGB!. 1 1974, S. 3681, geändert durch Gesetz vom 19. 12. 1979, BGB!. I, S. 2305.

Siehe dazu die Verordnung zur Sicherung der Elektrizitätsversorgung in einer Versorgungskrise (Elektrizitätssicherungsverordnung - EltSV) vom 26. 4. 1982, BGB!. I, S. 514. Vg!. auch Papier, Einwirkungen, S. 533. 179

180

Dazu eingehend Knöchel, Preisaufsicht, insbes. S. 80 ff.

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meiert') werden, wenn das Energieversorgungsunternehmen nicht in der Lage ist, seine Versorgungsaufgabe zu erfüllen, §8 Abs. 1 EnWG. Die technisch-ökonomischen und die rechtlichen Besonderheiten der Energieerzeugung und -verteilung haben für die Elektrizitätswirtschaft zu einer weitgehenden Ausschaltung des Wettbewerbs und zur Bildung regionaler und überregionaler Monopole geführt. 181 In diesem Zusammenhang ist auch das in § 103 GWB legalisierte Versorgungsmonopol durch Zulassung von Konzessions- und Demarkationsverträgen zu nennen. 182 Der Energiemarkt kann somit nicht mehr als freier, in erster Linie der Steuerung durch Angebot und Nachfrage unterworfener Markt angesehen werden, sondern wird maßgeblich durch planende staatliche Energiepolitik gestaltet. Es handelt sich mithin bei den Energieversorgungsunternehmen nicht um primär gewinnorientierte Wirtschaftssubjekte des Privatrechts, sondern um solche Unternehmen, denen durch Gesetz die Erfüllung einer dem Gemeinwohl dienenden Aufgabe zugewiesen ist und bei denen sichergestellt ist, daß sie zum Nutzen der Allgemeinheit geführt werden. 183 Bei ihnen steht das Leistungsziel im Vordergrund. Ihre Gewinne und die Verzinsung von Aktionärseinlagen dürfen sich nicht an Spannen in anderen Wirtschaftszweigen orientieren; dem Gesichtspunkt der Gewinnmaximierung kommt bei der Energieversorgung nur eingeschränkte Bedeutung ZU. I84 "Die besondere Zielrichtung des Unternehmens überlagert dessen privatrechtliche Struktur sowie den auf die Erzielung von Gewinnen gerichteten Zweck." 185 Diese exponierte Stellung rechtfertigt es sogar, eine Enteignung zugunsten eines privatrechtlichen Energieversorgungsunternehmens in § 11 Abs. 1 EnWG ausnahmsweise auch ohne genaue gesetzliche Umschreibung des Enteignungszwecks, der grundlegenden Enteignungsvoraussetzungen und des Verfahrens zu ihrer Ermittlung zuzulassen, da sich der nach Art. 14 Abs. 3 S. 1 GG erforderliche Nutzen für das allgemeine Wohl bereits aus dem Untemehmensgegenstand selbst ergibt. 186 181 Monopolkommission, Hauptgutachten I, s. 383, 405; Badura, Preisaufsicht, s. 14 f.; siehe auch die Präambel des EnWG: Verhinderung der "volkswirtschaftlich schiidJiche(n) Auswirkungen des Wettbewerbs".

182

s.

Vgl. dazu i.e. Matthiesen, Einwirkung, S. 61 ff.

Ebenso MaunzlDürig-Papier, Art. 14 Rn. 502; Veith, Energieversorgungsunternehmen, 121 ff. 184 BGH, et 1992, 262 [263]. 183

185 BVerfGE 66, 248 [257]. Kimminich (Konununale Unternehmen, s. 75 f.) bezweifelt jedoch, ob sich hieraus zufriedensteIlende Abgrenzungskriterien fiir die Grundrechtsfähigkeit der Energieversorgungsunternehmen ableiten lassen. 186 BVerfGE 66, 248 [257]; ebenso bereits MaunzlDürig-Papier, Art. 14 Rn. 502. Zu Recht betont in diesem Zusanunenhang Hermes die Widerspriichlichkeit der Position der Energieversorgungsunternehmen, einerseits die unausweichliche staatliche Mitwirkung bei Enteignungen in Anspruch nehmen und andererseits hoheitliche Maßnahmen gleichzeitig unter Berufung auf die

350

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Dem steht nicht entgegen, daß der Staat über seine Beteiligung an den Energieversorgungsunternehmen unter anderem auch Gewinne erwirtschaftet. l87 Zwischen diesen Erträgen und sonstigen Einnahmen des Staates (insbesondere Abgaben) besteht hinsichtlich ihrer Verwendung kein Unterschied: ihr Einsatz muß stets Gemeinwohlinteressen zugutekommen. Somit genügt es hier, "wenn hinreichende Vorkehrungen dafür getroffen sind, daß die selbstgestellte 'öffentliche' Aufgabe ordnungsgemäß erfüllt wird". 188 Die Energieversorgungsunternehmen nehmen daher in der Rechtsordnung im Vergleich zu anderen privatwirtschaftlichen Unternehmen eine durch die überragende Bedeutung ihres Unternehmensgegenstandes für die Allgemeinheit geprägte Sonderstellung ein. Sie sind öffentlichen Zwecken (Daseinsvorsorge) gewidmet und unterliegen damit einer öffentlich-rechtlichen Zweckbindung. 189 Zu Recht hat daher das OLG Hamburg eine unmittelbare Bindung der HEW-AG an den Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes aufgrund des staatlichen Aufgabencharakters der Energieversorgung angenommen, obwohl sich die HEW-AG "nur" zu ca. 71 % in öffentlicher Hand befindet. l90 Der staatliche Einfluß auf die Unternehmensführung der Energieversorgungsunternehmen geht weit über die gesellschaftsrechtlichen Formen hinaus und kann bei der Frage der Grundrechtsfahigkeit der Energieversorgungsunternehmen nicht ohne Bedeutung bleiben. Dadurch besteht nicht etwa "die Gefahr, daß der Staat durch die Deklaration einer wirtschaftlichen Betätigung als 'staatliche Aufgabe' die Dispositionsbefugnis über die Reichweite des Grundrechtsschutzes erlangt. "191 Was öffentliche Aufgaben sind, ergibt sich bereits aus der Verfassung selbst l92 und wird durch den Gesetzgeber somit nicht konstitutiv definiert, sondern nur deklaratorisch ausgestaltet. Zwar liegt der verfassungsgebotene Katalog öffentlicher Aufgaben nicht ein für allemal fest, sondern ist durch Änderung der tatsächlichen Umstände dem Wandel unterworfen. Dennoch hat die Legislative kein Erfindungsrecht staatlicher Aufga-

grundrechtlich geschützte Privatinitiative abwehren zu wollen (Hermes, Der Staat 31 (1992), 295). 187 Vgl. auch Badura, Wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand, S. 5; Pütmer, DÖV 1983,700. 188 BVerfGE 74, 264 [286) - Boxberg, unter Verweisung auf BVerfGE 66, 248 [258). 189 Vogel, Wirtschaftseinheiten, S. 211 ff. Nach Ansicht des Bundeskartellamtes hat beispielsweise die "RWE als größter deutscher Stromeneuger, belehnt mit Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge und ausgestattet mit einem öffentlich-rechtlichen Versorgungsgebiet, ... als marktbeherrschendes Unternehmen erhöhte Sorgfaltspflichten in dem ansonsten auch einem solchen Unternehmen zugestandenen Handlungsermessen. " (fätigkeitsbericht, BT-Drs. 8/1925, S. 86 re. Sp.). 190 OLG Hamburg, et 1988, 560 [560). 191 192

So aber Sante, Ausstieg, S. 99; ähnlich Zimmermann, JuS 1991,299. S.o., § 17 A.

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ben. Sie kann lediglich entscheiden, durch welche Stellen eine bestimmte öffentliche Aufgabe erfüllt werden soll. 193 Ins Leere geht daher der Einwand von Schmidt-Aßmo,nnl94, aus den Sonderbindungen des Energierechts ergäben sich keine Anhaltspunkte für die Grundrechtsfähigkeit eines Energieversorgungsunternehmens, da in diesen Vorschriften nicht zwischen öffentlichen und privaten Unternehmen unterschieden werde. Es spielt eben für die Grundrechtsfähigkeit keine Rolle, ob es sich um ein privates oder öffentliches Unternehmen handelt, wenn der Gesetzgeber aus verfassungsrechtlichen Gründen derartige Sonderbindungen vorsieht. Auch dem beliehenen Unternehmer wird man hinsichtlich der ihm übertragenen hoheitlichen Tätigkeiten wohl kaum Grundrechtsfähigkeit zubilligen können. 195 Entscheidend sind also letztendlich weniger die Beteiligungsverhältnisse als vielmehr der staatliche Einfluß insgesamt und die Natur der wahrgenommenen Aufgaben. 196

3. Gesellschaftsrechtliche Einwirkungsmöglichkeiten Auch das Gesellschaftsrecht bietet der öffentlichen Hand als Anteilseignerin weitreichende Möglichkeiten, auf die Unternehmensführung Einfluß zu nehmen. Häufig werden die Energieversorgungsunternehmen als Aktiengesellschaften betrieben, an denen öffentliche Anteilseigner mehrheitlich beteiligt sind. 197 Bei Mehi"heitsbeteiligung greift die Abhängigkeitsvermutung des § 17 Abs. 2 AktG ein. Im Falle der RWE-AG haben sich die kommunalen Aktionäre im 'Verband kommunaler Aktionäre' (VkA), einer GmbH, zusammengeschlossen, deren Zweck unter anderem auf "die Vertiefung und Verbreiterung des kommunalen Einflusses beim RWE und sonstigen energie-wirtschaftlichen

193

BVertG, NIW 1987, 2501 [2502].

194

Schmidl-Aßmann, BB-Beil. Nr. 34, 1990, 13 f.

195 Vgl. insoweit nur den TÜV-Beschluß des BVertG, NIW 1987, 2501; ebenso bereits Maser, Juristische Personen, S. 160 ff. 196 Auch in anderen Rechtsgebieten kommt der Natur der wahrgenommenen Aufgaben maßgebliche Bedeutung rur die Bindung an öffentlich-rechtliche Vorschriften zu. So sind z.B. nach § 2 Abs. 4 S. 2 BDatSchG juristische Personen, Gesellschaften und andere Personenvereinigungen des privaten Rechts 'öffentliche Stellen' im Sinne des BDatSchG und damit dessen Bindungen unterworfen, soweit sie "hoheitliche Aufgaben der öffentlichen Verwaltung" wahrnehmen. Auch Schmidl-Aßmann (BB-Beil. Nr. 34, 1990, 7) verneint grundsätzlich einen Grundrechtsschutz rur Staatsaufgaben, lehnt aber dennoch rur juristische Personen des Privatrechts eine Anknüpfung ihrer Grundrechtsfähigkeit an die von ihnen wahrgenommenen Aufgaben ausdrücklich ab (a.a.O., 10 ff.). 197 Vgl. Anhang B.

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Teil 3: Der legislative Ausstieg

Unternehmen im Interessengebiet des Verbandes" gerichtet ist. 198 So berichten beispielsweise die kommunalen Aktionäre der RWE-AG, aufgrund ihrer Stimmenmehrheit 199 immer wieder Manager ihrer Wahl in Vorstand und Aufsichtsrat gebracht und Einfluß auf die Geschäftspolitik genommen zu haben. 200 Die Bestellung der Aufsichtsrats- und Vorstandsmitglieder unterliegt allerdings Beschränkungen, §§ 76 Abs. 3 S. 1, 84 Abs. 1, 101 Abs.2 AktG. Grundsätzlich setzt sich der Aufsichtsrat nur aus den von der Hauptversammlung beziehungsweise den Arbeitnehmern gewählten Mitgliedern zusammen, § 101 Abs. 1 AktG. Die Möglichkeit der öffentlichen Hand, sich Weisungsrechte gegenüber den Aufsichtsrats- und Vorstandsmitgliedern vorzubehalten, ist umstritten. 201 Gemäß § 101 Abs. 2 AktG kann allerdings die Satzung für bestimmte Aktionäre ein Entsendungsrecht eigener Aufsichtsratsmitglieder enthalten. Die Satzungen einiger Energieversorgungsunternehmen202 sehen solche Entsendungsrechte vor, um der öffentlichen Hand als Anteilseignerin einen von Änderungen der Mehrheitsverhältnisse unabhängigen Einfluß auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats zu ermöglichen. 203 Auch die Rechtsprechung leitet aus dem Entsendungsrecht in den Fällen, in denen die öffentliche Hand an einem gemischtwirtschaftlichen Unternehmen zu weniger als 50 % beteiligt ist, die Möglichkeit ab, beherrschenden Einfluß auf das Unternehmen ausüben zu können. 204

198 § 2 Ziff. 2 der VkA-Satzung, abgedruckt bei BrüggemeierlDamm, Kommunale Einwirkung, S. 93 f., dort auch S. 27 ff. zur Frage, ob diese Zwecksetzung auch die Verfolgung energiepolitischer Ziele umfaßt. 199 Die sich im übrigen bei nur 30,4 % Kapitalanteil allein durch Mehrstimmenaktien ergibt; vgl. Anhang B, Nr. 22. 200 Vgl. SZ v. 26. 11. 1991, S. 29. Die kommunalen Aktionäre haben sich bisher allen Versuchen der RWE-AG, ihre Einflußmöglichkeiten zurückzudrängen, mit Erfolg widersetzt (vgl. SZ v. 21. 7. 1992, S. 21). 201 Verneinend Veith, Energieversorgungsunternehmen, S. 36 ff. m.w.N.; bejahend Jarass, Wirtschaftsverwaltungsrecht, § 16 Rom. 4, 12, § 20 Rn. 12; zurückhaltend Schuppen, Öffentliche Unternehmen, S. 24 ff.; offen Ronellenfitsch, HdBStR m, § 84 Rn. 25. 202 So z.B. § 10 Abs. 2 der Satzung der HEW-AG i.d.F. vom 28. 1. 1980 filr die In.'laber von Vorzugsaktien; vgl. Veith, Energieversorgungsunternehmen, S. 36 Fn. 1. 203 Veith, Energieversorgungsunternehmen, S. 37. So wurde der Aufsichtsrat der HEW-AG ist durch Einflußnahme des Hamburger Senats umgebildet mit dem Ziel, den Ausstieg der HEW-AG aus der Kernenergie zu verwirklichen (H.P.lpsen, Der Staat als Unternehmer, S. 266). An dieser Stelle soll jedoch nicht verschwiegen werden, daß das OLG Hamburg die Abberufung des damaligen Energieministers des Landes Schleswig-Holstein, Jansen, gemäß § 103 Abs. 3 AktG aus dem Aufsichtsrat der HEW-AG wegen seiner Versuche, auf den Ausstieg aus der Kernenergie hinzuwirken, gebilligt hat, weil er dadurch "an verantwortlicher Stelle auf die Beseitigung der Voraussetzungen hinwirkt, auf die die Unternehmenstätigkeit der HEW angelegt ist und auf die sie nicht ohne hohe Verluste verzichten können." (OLG Hamburg, DB 1990,415 [415], dazu auch Sendler, DÖV 1992, 185 f.). 204 BGHZ 69,334 [347]- VEBA-Gelsenberg und LG Essen, NIW 1976,1897 [1898].

§ 18 Grundrechte der Kernkraftwerksbetreiber

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Ipsen stellt die Zulässigkeit des Abschlusses von Beherrschungsverträgen oder ähnlichen Vereinbarungen zwischen dem Staat und einem privatrechtlich organisierten Energieversorgungsunternehmen unter staatlicher Beteiligung mit dem Ziel, den Ausstieg aus der Kernenergie durch entsprechende Weisungen zu erwirken, in Frage. 205 Da die Bindung aller staatlichen Gewalt an die geltende Rechtsordnung auch dann gelte, wenn sich der Staat zivilrechtlicher Einwirkungsmittel bediene, dürfe er mit seiner Beteiligung nur gesetzlich legitimierte Interessen verfolgen. Diese erschöpften sich aber - so Ipsen weiter in der Sicherheit und Preisgünstigkeit der Energieversorgung.206 Diese Belange würden den Ausstieg nicht tragen, so daß jede Form zivilrechtlicher Einwirkung des Staates zur Durchsetzung des Ausstiegs als verfassungswidriger, weil hoheitliche Bindungen unterlaufender Formenmißbrauch anzusehehen sei. Zutreffend an dieser Auffassung ist, daß sich der Staat auch bei zivilrechtlichen Einwirkungen nur in dem durch Verfassung und Gesetz vorgezeichneten Rahmen bewegen darf. 207 Nicht zu folgen ist Ipsen jedoch darin, daß das gesetzlich legitimierte Beteiligungsinteresse des Staates ausschließlich im öffentlichen Interesse an der Sicherheit und Preisgünstigkeit der Energieversorgung bestehe. Mag dies auch ein zulässiges Kriterium für wirtschaftliches Engagement der öffentlichen Hand sein, so verkennt eine solche enge Sichtweise doch, daß der Staat zum Schutze von Leben und körperlicher Unversehrtheit, insbesondere aber auch zum Schutze vor den Gefahren und Risiken, die bei Freiwerden von Kernenergie oder durch ionisierende Strahlen entstehen, verpflichtet ist. Diese Schutzpflicht wird auch in § 1 Nr. 2 AtomG auf einfachgesetzlicher Ebene noch einmal an exponierter Stelle betont und genießt nach herrschender Meinung in Literatur und Rechtsprechung Vorrang vor der Förderpflicht des § 1 Nr. 1 AtomG.208 Nichts anderes als dieser Schutz ist jedoch das Motiv für den teilweise zu beobachtenden Versuch der öffentlichen Hand, mit zivilrechtlichen Mitteln auf öffentliche Unternehmen im Bereich der Energiewirtschaft mit dem Ziel des Ausstiegs einzuwirken. Hierbei handelt es sich um eine politische Entscheidung, die sich, wie gezeigt, innerhalb des verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Rahmens bewegt209 und die daher keineswegs mit Ipsen als "unzu_ lässiger Formenmißbrauch zu qualifizieren ist. It

205

H.P. Ipsen, Der Staat als Untemeluner, S. 274 ff.

206 Präambel i.V.m. §§ 4,5 EnWG. 207 Ebenso BrügemeierlDamm, Kommunale Einwirkung, S. 52. 208 BVerfGE 53,33 [58) - Mülheim-Kärlich; BVerwG, DVBI. 1972,678 [680] - Würgassen;

Haedrich, § I Rn. 8 m.w.N.; siehe bereits oben, § I A. ID. Fn. 34. 209 So auch BrüggemeierlDamm, Kommunale Einwirkung, S. 51. 23 BoJ1l1lllDD

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Teil 3: Der legislative Ausstieg

Veith versucht nachzuweisen, die Vorgabe unternehmenspolitischer Leitsätze oder die Festlegung der Gesellschaft auf den Einsatz oder den Verzicht bestimmter Mittel zur Erreichung des GeseUschaftszwecks liege außerhalb der Satzungsgewalt einer Aktiengesellschaft nach § 23 Abs. 3 und 5 AktG, weil dies gegen das grundlegende Prinzip der eigenverantwortlichen Leitungsmacht des Vorstands verstoßen würde. 210 Er folgert daraus, die Satzung eines Energieversorgungsunternehmens dürfe beispielsweise keinen Verzicht auf Stromerzeugung durch Atomkraft vorsehen. Dieser Auffassung, die Gültigkeit nicht nur für öffentliche Unternehmen, sondern auch für rein private Aktiengesellschaften beansprucht, kann jedoch in dieser Allgemeinheit nicht gefolgt werden. Sie verkennt das über Art. 9 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich begründete und einfachgesetzlich näher ausgestaltete Selbstbestimmungsrecht der privaten Aktionäre, das sich auch in der Satzungsautonomie verwirklicht. 211 Da das Aktienrecht hier nicht zwischen Unternehmen mit öffentlicher Beteiligung und solchen, die sich ausschließlich in privater Hand befinden, unterscheidet, ist die These Veiths auch für gemischtwirtschaftliche Energieversorgungsunternehmen nicht haltbar. Nicht nur der Unternehmensgegenstand als solcher, sondern auch die nähere Beschreibung der hierbei einzusetzenden Mittel und zu verfolgenden Ziele muß durch Satzung geregelt werden können. Der Vorstand existiert schließlich nicht um seiner selbst Willen, sondern nur als Exekutivorgan, um den Willen der Aktionäre umsetzen zu können. 212 Welche anderen Vorgaben als gesetzliche Vorschriften und der in der Satzung festgehaltene Aktionärswille sollen für den Vorstand maßgebend sein? Nur in diesem vorgezeichneten Rahmen kann sich die Eigenverantwortlichkeit des Vorstands entfalten; es kann jedoch nicht umgekehrt die Satzungsautonomie durch das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit des Vorstands begrenzt werden. Somit kann die Satzung eines Energieversorgungsunternehmens den Verzicht auf die Kernenergie verbindlich vorschreiben. Eine Satzungsänderung bedarf allerdings der Annahme in der Hauptversammlung durch eine qualifizierte Mehrheit, § 179 Abs. 2 AktG.213 Der Staat kann sich jedoch auch bei geringer KaVeith, Energieversorgungsunternehmen, S. 43 - 57. BVerfGE 50, 290 [354] - Mitbestimmung. 212 Vgl. auch § 83 Abs. 2 AktG. 213 Der Beschluß des damaligen SPD-Senats des Landes Hamburg vom 2. 7. 1987, über die Hamburger Gesellschaft rur BeteiligungsvelWaltung mbH die Unternehmensziele in der Satzung der HEW-AG um das Ziel des Ausstiegs aus der Kernenergie zu elWeitern, scheiterte an der alsbaldigen Regierungsumbildung unter Beteiligung der FDP infolge der Bürgerschaftsneuwahlen im Sommer 1987 (vgl. dazu Kloepfer, Umweltrecht, § 4 Rn. 270; Veith, Energieversorgungsunternehmt:n, S. 26 ff.). Die in der folgenden Legislaturperiode allein regierende SPD hatte allerdings beschlossen, über die Hamburger Gesellschaft filr BeteiligungsvelWaltung, die mit ca. 71 % an der HEW-AG beteiligt ist (vgl. Anhang B, Nr. 9), erneut den mittelfristigen Ausstieg aus der Kernenergie in der HEW-Satzung zu verankern (vgl. SZ v. 31. 1. 1992, S. 6 und v. 16. 4. 1992, S. 6 sowie et 1992, 412). Inzwischen wurde die Satzungsänderung von der Hauptversammlung der HEW-AG mit über 94 % Ja-Stimmen verabsclüedet (SZ v. 22. 6. 1992, S. 25). 210 211

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pitalbeteiligung durch Mehrstimmenaktien nach § 12 Abs. 2 S. 2 AktG die Stimmenmehrheit sichern. 214 Die Restriktionen des Einflusses der öffentlichen Hand im Aktienrecht treffen die Mehrzahl der Kernkraftwerksbetreiber ohnehin nicht direkt, da diese zumeist als GmbH organisiert sind. 215 Daraus ergeben sich noch weiterreichende Möglichkeiten der öffentlichen Hand, als unmittelbare oder mittelbare Mitgesellschafterin die Geschäftsführung entscheidend mitzugestalten. 216 4. Finanzielle Förderung der Kernenergie durch den Staat Darüber hinaus ist jedoch dem Umstand Rechnung zu tragen, daß der Staat gerade bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie nicht allein über die Innehabung von Gesellschaftsanteilen Einfluß auf diese Form der Energienutzung nimmt, sondern daß er diesen Wirtschaftszweig unter Berufung auf den Förderungszweck des § 1 Nr. 1 AtomG auch noch auf andere Weise unterstützt. 21 ?

a) Subventionen

So fördert er die Atomindustrie beispielsweise durch umfangreiche Subventionen, durch die eine wirtschaftliche Betätigung auf diesem Gebiet erst möglich wurde. Seit Beginn der Kernenergienutzung in der Bundesrepublik Deutschland unterstützt der Bund die Fortentwicklung der Technologie und des Brennstoffkreislaufs mit außerordentlich hohen Beträgen218 , und zwar im 214 So halten zum Beispiel die öffentlich-rechtlichen Gebietskörperschaften am Grundkapital der RWE-AG einen Anteil von ca. 30,5 %. Dennoch verfugen sie mit ca. 60,5 % aller Stimmen über eine deutliche Stimmenmehrheit, da ein Teil der Stammaktien mit einem 20-fachen Stimmrecht ausgestattet sind (vgl. Anhang B, Nr. 22). 215 Vgl. Anhang B.

hn einzelnen s.o., § 18 B. I. 3. d) bb) (2). Monopolkommission, Hauptgutachten I, S. 376. LöjJler, Parlamentsvorbehalt, S. 22, spricht insoweit von einer "Mischverwaltung zwischen staatlichen und privaten Entscheidungsträgern bei der atomaren Forschung und Entwicklung." Die Frage, ob deswegen Beeinträchtigungen, die von staatlich geförderten und genehmigten öffentlich interessierenden Unternehmungen ausgehen, dem Staat als Grundrechtseingriff zuzurechnen sind, untersucht und verneint Hermes, Schutzpflicht, S. 90 f. Allgemein zu weiteren staatlichen Lenkungsinstrumenten und deren Effizienz: Emmerich, Wirtschaftsrecht, S. 42 - 44 und 59. 218 Hamke, Energierecht, S. 82; HoJmmm, Privatwirtschaft, S. 16, 36 ff.; Jarass, Der Staat 17 (1978), 514 ff.; LöjJler, Parlamentsvorbehalt, S. 22 f.; Manhiesen, Einwirkung, S. 36 ff.; Monopolkommission, Hauptgutachten I, S. 376, 460; Papier, Einwirkungen, S. 534; Winter, NJW 1979, 399 f. Vgl. insoweit auch die detaillierte Aufschlüsselung filr den Zeitraum von 1956 bis 1986 in BT-Drs. 11/13, Anhang A. I. (S. 52 f.). 216 217

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Teil 3: Der legislative Ausstieg

Unterschied zur Steinkohlesubvention nicht auf einer speziellen gesetzlichen Grundlage beruhend, sondern allein aufgrund des jeweiligen Haushaltsplans. 219 Allein zwischen 1956 und 1974 betrug die staatliche Förderung der Kernenergie (Finanzhilfen und Steuervergünstigungen) ca. 14,4 Mrd. DM.220 Die Summe sämtlicher unmittelbarer und mittelbarer Aufwendungen des Bundes für die Kernenergie bis einschließlich 1986 betrug etwa 33,46 Mrd. DM. Hinzu kommen weitere Förderungen durch die öffentlichen Haushalte der Länder. 22 I 1990 wurden für die Förderung der nuklearen Energieforschung und -technologie vom Bundesminister für Forschung und Technik 837,1 Mio. DM ausgegeben. 222 Durch die Beteiligung der öffentlichen Hand an den Kernkraftwerksbetreibern und Energieversorgungsunternehmen und die daraus resultierende Innehabung leitender Positionen in den Organen dieser Unternehmen223 sind Subventionsgeber und Subventionsempfanger stark miteinander verflochten. 224 Die Kosten der friedlichen Nutzung der Kernenergie fallen aufgrund der staatlichen Beteiligung letztendlich ohnehin in nicht unerheblichem Ausmaß auf den Steuerzahler zurück.

b) Die Freistellungsregelung der §§ 34 ff. AtomG In bemerkenswerter Weise beteiligt sich der Staat auch an der Haftung für Schäden, die auf einem von einer Kemanlage ausgehenden nuklearen Ereignis beruhen. Primär haftet zwar nach den §§ 25 ff. AtomG225 der Inhaber der Anlage (§ 25 Abs. 1 AtomG) beziehungsweise der Besitzer des von der Kernspaltung betroffenen Stoffes, des radioaktiven Stoffes oder des Beschleunigers (§ 26 Abs. 1 S. 1 AtomG). Aufgrund der Beteiligungsverhältnisse der öffentlichen Hand an den Betreibergesellschaften kann sich bereits hieraus eine bedeutsame Mithaftung des Staates ergeben.

219 Vgl. z.B. Kapitel 3005 des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1990, abgedruckt bei ZydeklHeller, Energiemarktrecht, Bd. 2, Kernenergie, 3.11.

220 221

Monopolkommission, Hauptgutachten I, S. 460. BT-Drs. 11113, Anhang A. I. (S. 52 f.).

Müller/Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. B 51. de Win, DVBI. 1980, 1008; Hofmann, Privatwirtschaft, S. 35 unter beispielhafter Nennung der Badenwerk-AG. Vgl. auch sogleich unter § 18 B. ß. 5. 224 Jarass, Der Staat 17 (1978), 515, 520; ders., Wirtschaftsverwaltungsrecht, § 20 Rn. 9; Kloepjer, Umweltrecht, § 2 Rn. 7; Manhiesen, Einwirkung, S. 37 f, 40 f. 225 Gegebenenfalls i.V.m. dem Pariser Übereinkommen vom 29. 7. 1960 über die Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie, i.d.P. der Bekanntmachung v. 15.7. 1985; BGBI. ß, S. 963. 222 223

§ 18 Grundrechte der Kernkraftwerksbetreiber

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Für solche Schadensersatzverpflichtungen aber, die von der nach § 13 AtomG erforderlichen Deckungsvorsorge des Anlagenbetreibers "nicht gedeckt sind oder aus ihr nicht erfüllt werden können", hat der Inhaber der Kernanlage gern. § 34 Abs. 1 S. 1 AtomG einen Freistellungsanspruch gegen den Staat. Der Höchstbetrag der staatlichen Freistellungsverpflichtung beträgt nach § 34 Abs. 1 S.2 LV.m. § 13 Abs.3 S. 2 AtomG das Zweifache der Höchstgrenze der Deckungsvorsorge, derzeit also 1 Mrd. DM.226 Die Freistellung trägt nach § 36 AtomG zu 75 % der Bund, im übrigen das Land, in dem sich die Anlage befindet. Das Freistellungsverhältnis ist aufgrund der Verweisung in § 34 Abs. 3 AtomG auf die §§ 62, 67, 149 - 151, 153 - 158k VVG wie eine Haftpflichtversicherung zwischen Staat und Betreiber ausgestaltet; allerdings mit der Besonderheit, daß wegen des Ausschlusses der Anwendbarkeit des § 152 VVG der Freistellungsanspruch auch dann besteht, wenn der Haftpflichtige den Schaden vorsätzlich herbeigeführt hat. 227 Dabei erfaßt die staatliche Freistellungsverpflichtung nicht nur Schäden, die die vom Anlagenbetreiber zu erbringende Solldeckung summenmäßig überschreiten, sondern auch Schadensersatzansprüche, die durch die Deckungsvorsorge aus anderen Gründen, z.B. wegen eines Haftungsausschlusses oder eines Vertragsmangels nicht ausgeglichen werden können. 228 Diese Regelung wurde zwar nicht zum Schutze des Anlagenbetreibers, sondern im Interesse eines möglichst umfassenden Opferschutzes getroffen. Der Geschädigte selbst hat damit gern. § 34 Abs. 3 AtomG i. V.m. § 158c Abs. 6 VVG keinen unmittelbaren Anspruch gegen den Staat, kann jedoch den Freistellungsanspruch des Anlagenbetreibers pfanden und sich überweisen lassen. 229 Allerdings ist der Rückgriff des Staates gegenüber dem haftpflichtigen Inhaber der Anlage nur in wenigen Fällen möglich, die in § 37 AtomG abschließend aufgeführt sind. 230 Hierbei handelt es sich um Verletzungen von Obliegenheiten (§ 37 Nr. 1 AtomG), vorsätzliche oder grob fahrlässige Schadenszufügung (§ 37 Nr. 2 AtomG) und schließlich um Unterschreitung der behördlich festgesetzten Deckungsvorsorge durch den Anlagenbetreiber (§ 37 Nr. 3 AtomG). Selbst bei Vorliegen der Rückgriffsvoraussetzungen liegt die Geltendmachung im Ermessen der öffentlichen Hand, da es sich bei § 37 AtomG um eine Kannvorschrift handelt. 231 Gegenüber dem Geschädigten kann sich der Staat gemäß § 34 Abs. 3 AtomG LV.m. § 158c Abs. 1 VVG ohnehin nicht auf seine Rückgriffsrechte gegen den Anlagenbetreiber berufen. Be-

230

Vgl. auch Haedrich, § 34 Rn. 2. Haedrich, § 34 Rn. 10. Haedrich, § 34 Rn. 2. Vgl. auch Haedrich, § 34 Rn. 11. Haedrich, § 37 Rn. 2.

231

Haedrich, § 37 Rn. 1.

226

227 228

229

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Teil 3: Der legislative Ausstieg

zeichnend ist wohl auch, daß die staatliche Freistellung dem Anlagenbetreiber gebührenfrei gewährt wird. 232 Die Freistellungsverpflichtung, die nach § 36 Abs. 1 S. 1 AtomG Ld.F. vom 23. 12. 1959233 ursprünglich zeitlich begrenzt und nur Anlagen der Erprobungsphase bis 31. 12. 1970 zugute kommen sollte234, ist entgegen dieser Konzeption auch heute noch in Kraft, da die Höchstgrenze der Deckungsvorsorge nach wie vor weder auf dem deutschen noch auf dem internationalen Versicherungsmarkt erhältlich ist. Insgesamt genießt der Inhaber einer Kernanlage aufgrund der Freistellung Vorteile, die keinem anderen Privatuntemehmer eingeräumt werden. Das Haftungsrisiko wird ihm in bedeutendem Umfang vom Staat abgenommen. Den Grund für diese Sonderbehandlung erhellt ein Blick in die amtliche Begründung der Freistellungsregelung: ·Zum mindesten filr die nächsten Jahre erscheint ein ausreichender Schutz der Atomwirtschaft und der Allgemeinheit gegen die mit dem Betrieb von Atomanlagen verbundenen Risiken ohne Mithilfe des Staates auo::h in der Bundesrepublik urunöglich. Diese rechtfertigt sich aus der gesetzlichen Zulassung und Förderung einer privatwirtschaftlich nicht völlig abdeckbaren Gefahrenquelle, die aber im Interesse der Wettbewerbsfahigkeit der Bundesrepublik in der Welt und damit im Interesse der Sicherung von Arbeitsplätzen in Kauf genommen werden muß .•235

Und: ·Zwar ist der Inhaber einer Kemanlage einem ungewöhnlich strengen System des Haftungsrechts unterworfen. Aber dem entsprechen in Anbetracht des Risikos, das er setzt, auch besondere Privilegien: Summenmäßige Haftungsbegrenzung und staatliche Freistellungsverpflichtung sind Vergünstigungen, die anderen gefährlichen Tätigkeiten nicht gewährt werden. Diese Vergünstigungen sind Teil der durch den Gesetzeszweck in § 1 Nr. 1 gebotenen Förderung der Atomwirtschaft durch den Staat. .236

232 Haedrich, § 37 Rn. 1. Im Zuge der Atomrechtsreform war ursprünglich beabsichtigt, diese Gebührenfreiheit zu streichen (vgl. Töpfer, 9. Dt.AtRS, S. 22). Der Referentenentwurf zum Atomrechtsänderungsgesetz v. 21. 12. 1992 enthält insoweit allerdings keine Änderungen mehr gegenüber der bisherigen Rechtslage. Es ist lediglich die Einfilhrung einer entgeltpflichtigen sog. Bundesdeckung in § 13 Abs. 3a AtomG vorgesehen filr den Fall, daß die von der Verwaltungsbehörde festgesetzte Deckungsvorsorge auf dem Versicherungsmarkt oder in anderer Weise nicht erreicht werden kann. 233 BGBl. I, S. 814 ff.

Vgl. auch die Begründung in BT-Drs. ß11759, S. 40, Ii. Sp. BT-Drs. ß11759, S. 39. 236 BT-Drs. VW2183, S. 29. Die frühere summenmäßige Haftungsbegrenzung wurde allerdings durch das Gesetz zur Änderung haftungsrechtlicher Vorschriften des AtomG v. 22. 5. 1985 (BGBl. I, S. 781) aufgehoben. 234

235

§ 18 Grundrechte der Kernkraftwerksbetreiber

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5. Kooperation und personelle Verflechtungen Auch das atomrechtliche Genehmigungsverfahren zeichnet sich in der Realität nicht, wie es eigentlich dem Leitbild des AtomG und der AtVtV entspräche, durch ein waffengleiches Gegenüberstehen der Betreiber einerseits und den betroffenen Bürgern andererseits aus, über deren Argumente die Genehmigungsbehörde aus distanzierter, neutraler und unabhängiger Sicht am Ende eine Entscheidung trifft. Vielmehr findet eine informelle Abstimmung der Antragsunterlagen und Genehmigungsvoraussetzungen zwischen Betreiber und Genehmigungsbehörde in der Praxis oft bereits vor Beginn des eigentlichen Verfahrens in Vorverhandlungen unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. 237 Schon die landesplanerische Standortauswahl und -vorsorge im Vorfeld des eigentlichen Genehmigungsverfahrens beruht in der Regel auf Vorschlägen der Energieversorgungsunternehmen. 238 Daß diese Art von Kooperation durch personelle Verflechtungen begünstigt wird, sei am Beispiel der Bayernwerk-AG dargestellt: Im Aufsichtsrat dieses an zahlreichen Kernkraftwerken beteiligten Energieversorgungsunternehmens239 sitzt neben dem Bayerischen Ministerpräsidenten und dem Bayerischen Finanzminister unter anderem auch der Bayerische Staatsminister für Wirtschaft und Verkehr. 24O Und für die Entscheidung über atomrechtliche Genehmigungen und Vorbescheide nach den §§ 7 und 7a AtomG bedarf in Bay237 Degenhan, Kernenergierecht, S. 150 Fn.28; de Win, DVBI. 1980, 1008; Hofmann, BayVBI. 1983, 33 f.; ders., Privatwirtschaft, S. 34 ff. (insbes. S. 39 ff.); GerhardJ/Jacob, DÖV 1986, 258 ff.; Winter, NJW 1979, 399 unter Darstellung des Genelunigungsverfahrens des Kernkraftwerks Unterweser; ferner Hanung, Atomaufsicht, S. 66 und ders., DÖV 1992, 400 (ohne allerdings hieraus Konsequenzen filr die Frage der Grundrechtsfahigkeit der Kernkraftwerksbetreiber zu ziehen). 238 Löffler, ParlamentsvorbehaIt, S. 127, mit Baden-Württemberg als Beispiel. 239 Siehe Anhang B, Nr. 21. Das Bayernwerk befindet sich mehrheitlich im Besitz des Freistaats Bayern. Diese Anteile sollen allerdings an die VIAG veräußert werden, wofür der Freistaat u.a. eine 25,1 %-ige Beteiligung an der VIAG erhalten soll (vgl. SZ v. 24.125. 7. 1993, S. 1,33 und 34 sowie Anhang B, Nr. 21, Fn. 17). 240 Bayerische Hypotheken- und Wechsel-Bank AG, Wegweiser durch deutsche Unternehmen, S. 89. Die Grenzen dieser personellen Verflechtung sind landesrechtlich eindeutig vorgegeben. Nach Art. 57 Bay.Verf. dürfen der "Ministerpräsident, die Staatsminister und die Staatssekretäre ... nicht Mitglieder des Aufsichtsrats oder Vorstands einer privaten Erwerbsgesellschaft sein. Eine Ausnahme besteht filr Gesellschaften, bei denen der überwiegende Einfluß des Staates sichergestellt ist." Die Ausfilhrungsbestimmung in Art. 3a Abs. I des Gesetzes über die RechtsverhäItnisse der Mitglieder der Staatsregierung trifft folgende Regelung: "Mitglieder der Staatsregierung dürfen während ihrer Amtsdauer nicht dem Aufsichtsrat, dem Vorstand oder einem ähnlichen Organ einer privaten Erwerbsgesellschaft angehören. Eine Ausnahme besteht für die Gesellschaften, bei denen der überwiegende Einfluß des Staates insbesondere durch seine Mehrheit am Grundkapital oder durch sein Stimmrecht oder durch die rechtlichen oder organisatorischen Verhältnisse sichergestellt ist. Unter Staat sind der Freistaat Bayern, allein oder zusammen mit dem Bund, den Ländern oder anderen Gebietskörperschaften oder Einrichtungen der mittelbaren Staatsverwaltung zu verstehen." (Hervorhebungen vom Verfasser.)

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Teil 3: Der legislative Ausstieg

ern das gemäß § 24 Abs. 2 AtomG LV.m. § 1 S. 1 BayAtZustV zuständige Staatsministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen des Einvernehmens des Staatsministeriums für Wirtschaft und Verkehr, § 1 S. 2 BayAtZustV. Des weiteren stellt das Staatsministerium für Wirtschaft und Verkehr im Einvernehmen mit dem Ministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen das "Energieprogramm für Bayern - Teil: Standortsicherungsplan für Wärmekraftwerke" als fachlichen Plan LS.d. Art. 15 BayLPIG auf. 241 Der langjährige Vorstandsvorsitzende der Bayernwerk-AG, J. Heitzer, leitete vor dieser Tätigkeit zunächst das Energiereferat im Bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft und Verkehr, anschließend die Abteilung "Energie, Forschung, Bergbau", und war schließlich Amtschef des Ministeriums. 242 Ähnliche Verflechtungen lassen sich auch für andere Energieversorgungsunternehmen belegen. Aufsichtsratsvorsitzender der Badenwerk-AG beispielsweise ist der Finanzminister des Landes Baden-Württemberg. Daß die genannten Regierungsmitglieder in ihren Funktionen als Amtsträger und als Aufsichtsräte unterschiedliche Ziele verfolgen, ist schwer vorstellbar. 243 Im Erörterungstermin wird daher nicht immer kontradiktorisch mit gleichen Waffen zwischen Betreibern und Gegnern vor einer neutralen Behörde gestritten. 244 Angesichts der teilweisen Interessenidentität von Staat und Betreibern verwundert es nicht, daß im Falle eines positiven Bescheids die Entscheidung ungeachtet aller Einwendungen im Erörterungstermin häufig mit dem Ergebnis der informellen Vorverhandlungen übereinstimmt245 , wodurch die Klassifizierung der formellen Mitwirkungsrechte der Beteiligten im Atomverfahren als Verfahrensteilhaberechte zur Vorverlagerung des Rechtsschutzes246 zu einer leeren Hülse zu verblassen droht. Die dargestellten wirtschaftlichen und personellen Verbindungen zwischen Staat und Atomwirtschaft bewirken nicht nur eine staatliche Einflußnahme auf die Unternehmenspolitik247 , sondern auch umgekehrt eine Anpassung der Atompolitik an die Interessen der Unternehmen im Sinne einer weitgehenden 241 Vgl. LEP Bayern, B. XI. 8. Das Energieprogramm vom 28. 7. 1978 mit den entsprechenden Standortvorentscheidungen (Flächenfreihaltungen) ist abgedruckt in BayGVBI. 1978, S. 557 (Fortschreibung: Fassung vom 10. 1. 1986, BayGVBI. 1986, S. 11). 242 Müller/Liebholz (Hrsg.), Jahrbuch der Atomwirtschaft 1991, S. 139. 243 Vgl. bereits oben, bei Anm. 119 f. 244 Winter, NJW 1979, 399. Das BVerwG (NuR 1987, 254) erachtet in einem ähnlich gelagerten Fall die Trennung des Vorhabensträgers und der zur Planfeststellung ermächtigten Behörde zwar für rechtspolitisch wünschenswert, verneint allerdings gleichwohl bei Identität (hier: § 36 Abs. 34 2. Hs. BBahnG a.F.) einen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip (Grundsatz des fairen Verwaltungsverfahrens in seiner grundrechtsschützenden Funktion). 245 Hofmann, Privatwirtschaft, S. 40. 246 BVerfGE 53,30 [insbes. 59 ff., 65 f.] - Mülheim-Kärlich. 247 Monopolkommission, Hauptgutachten I, S. 376.

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Koordination und Kooperation. Über bevorstehende finanz- und wirtschaftspolitische Entscheidungen, die die friedliche Nutzung der Kernenergie betreffen, wird die Atomwirtschaft frühzeitig informiert, wenn nicht gar an der Entscheidungsbildung beteiligt. Kurzfristige, einschneidende und überraschende staatliche Maßnahmen sind daher für die Betreibergesellschaften nicht zu befürchten. Teilweise wird der Vollzug des AtomG in Anbetracht der Verflechtung von Staat und Energiewirtschaft gar als "Insichgeschäft der öffentlichen Hand" bezeichnet. 248 Der Grund für dieses erhebliche staatliche Engagement im Kernenergiesektor liegt auf der Hand: Für rein private Unternehmen ohne staatliche Förderung ist hier eine Tätigkeit mit einem zu hohen Risiko verbunden, da zum einen die Investitionen einen immensen Kapitalaufwand verlangen und da zum anderen ein Tätigwerden allenfalls langfristig gewinnbringend ist. 249 Die Beteiligung der öffentlichen Hand an privatrechtlichen Unternehmen setzt immer ein "wichtiges Interesse" oder das Bestehen eines "öffentlichen Zwecks" voraus. 2.50 Dabei darf das Streben nach Ertrag gegenüber der Erfüllung öffentlicher Aufgaben wie z.B. Daseinsvorsorge oder Energiepolitik allenfalls Sekundärzweck für die Beteiligung sein. 251 6. Originär staatliche Prägung der Atomwirtschaft Hinzu kommt, daß es sich bei der Nutzung der Kernenergie nicht um einen Wirtschaftszweig handelt, der traditionell von Privatinitiative und Privatautonomie gekennzeichnet ist. Vielmehr war ein Tätigwerden anfänglich kraft Be248 Hennecke, DÖV 1988, 773. Degenhan, Kernenergie, S. 186 und DVBI. 1983, 928, spricht von "faktischer Kooperation"; ähnlich Papier, Einwirkungen, S. 534: "kooperatives Planungssystem"; Winter, NJW 1979, 399: "verflochtene staatlich-private Einheit"; de Witt, DVBI. 1980, 1008: "einpoliges Rechtsverhältnis"; Jarass, Der Staat 17 (1978), 522: "industriell-administrativer Komplex"; BrüggemeierlDamm, Kommunale Einwirkung, S. 55 f.: "rechtlich schwer einzuordnende, weitgehend nur beschränkt offengelegte Formen der Kooperation"; Janssen, Zugriffsrecht, S. 222: "vielfältige faktische und finanzielle Verzahnungen, die zwischen den HerstellemlBetreibern der Kernkraftwerke und der öffentlichen Hand bestehen. "

249 Monopolkommission, Hauptgutachten I, S. 382; Kolbe, Öffentliche Unternehmen, S. 33; Winter, NJW 1979, 399. Auch in anderen Bereichen werden daher umweltrelevante Großvorhaben zunehmend durch privatrechtlich organisierte Träger in öffentlicher Hand durchgefuhrt; vgl. z.B. den Bau des Rhein-Main-Donau-Kanals (Rhein-Main-Donau AG: 66,16 % Bund, 33,82 % Freistaat Bayern, 0,02 % andere Gebietskörperschaften) oder des Flughafens München n (Flughafen-München-GmbH: 51 % Freistaat Bayern, 26 % Bund, 23 % Stadt München). 2.50 Vgl. § 65 Abs. 1 Nr. I BHO bzw. die entsprechenden Vorschriften der Landeshaushaltsordnungen sowie die kommunalrechtlichen Vorschriften (z.B. Art. 89 Abs. 1 Nr. 1, 91 Abs. 1 Nr. 1 BayGO); hierzu auch BVerfGE 61, 82 [107 f.] - Sasbach und bereits oben, § 18 B. I. 3. d) aa). 251 BVerfGE 61, 82 [106 f.]; v.MutiuslNestmüller, NJW 1976, 1879; Püttner, DÖV 1983, 699; Ronellenjitsch, HdBStR m, § 84 Rn. 28 Fn. 94.

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satzungsrechts252 generell ausgeschlossen und ging nach Aufhebung dieser Hürden durch die Beendigung des Besatzungsregimes am 5. 5. 1955253 von vornherein mit umfangreichen staatlichen Einflußnahmen einher, so daß man auch von einer "Privatwirtschaft unter Vorbehalt" sprechen kann. 254 So sind beispielsweise Kernbrennstoffe nach § 5 Abs. 1 S. 1 AtomG grundsätzlich staatlich zu verwahren. Die gesamte Atomwirtschaft unterliegt gern. § 19 AtomG einer umfassenden staatlichen Aufsicht. Die Zwischen- und Endlagerung radioaktiver Abfälle hat gern. § 9a Abs. 3 AtomG ohnehin durch den Staat zu erfolgen. Auch gibt es nach Art. 86, 87 LV.m. Art. 197 Nr. 1 des EURATOM-Vertrags an natürlichem und angereichertem Uran sowie an Plutonium-239 kein Privateigentum. Diese Spaltstoffe sind vielmehr Eigentum der EURATOM-Gemeinschaft255 , eine im deutschen Recht einmalige Besonderheit. Damit sind aber zugleich dem Handel mit diesen Stoffen - anders als in den meisten anderen Wirtschaftszweigen - enge Grenzen gesetzt. 256 So hat nach Art. 52 ff. des EURATOM-Vertrags die EURATOM-Versorgungsagentur im Interesse des gleichen Zugangs zu den Versorgungsquellen das Monopol für die Versorgung mit den erforderlichen Rohstoffen. 257 Dementsprechend hält auch das Bundesverfassungsgericht in bezug auf diese Stoffe aufgrund des öffentlichen Eigentums grundsätzlich weiterreichende Eingriffe und Beschränkungen für die hoheitliche Gewalt für zulässig, als dies gegenüber Privateigentum der Fall wäre. 258 Ipsen spricht gar von einer Überführung von Stoffen in Gemeineigentum LS.d. Art. 15 GG an eine nicht-deutsche Organisation, die durch Art. 24 Abs. 1 GG ermöglicht werde. 259 Schließlich räumt § 7 Abs. 2 AtomG den Antragstellern selbst bei Vorliegen sämtlicher Genehmigungsvoraussetzungen keinen Anspruch auf Erteilung der Genehmigung ein, sondern stellt diese in das Ermessen der Verwaltung, um der Exekutive die Möglichkeit zu geben, besondere und unvorhersehbare Umstände berücksichtigen zu können. 260 Insgesamt jedenfalls befindet sich die Atom252 Gesetz Nr. 22 der Alliierten Hohen Kommission v. 2. 3. 1950 i.d.F. der Gesetze Nr. 53 v. 26. 4. 1951 und Nr. 68 v. 14. 12. 1951; ABl.AHK S. 122, 882, 1361. 253 Vgl. Gesetz v. 24. 3. 1955, BGBl. U, S. 213. 254 Hofmann, Privatwirtschaft, S. 28; vgl. auch Degenhan, Kernenergierecht, S. 184, Dimberger, Naturgenuß, S. 228 ff.; Lawrence, Restrisiko, S. 121; Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 81; Stettner, BayVBl. 1991, 554; tie Wirt, 8. Dt.AtRS, S. 164 f. Daß es sich hierbei um eine konstitutive Gestattung durch den Bundesgesetzgeber handelt, wird jedoch von Murswiek, Risiken, S. 234 Fn. 2, ausdrucklich verneint. 255 Dazu eingehend Kimmimnich, Atomrecht, S. 194 ff. 256 Degenhan, Kernenergierecht, S. 184 Fn. 146; Hofmann, Privatwirtschaft, S. 15 f. 257 Hofmann, Privatwirtschaft, S. 26. 258 BVerfGE 49, 89 [146] - Kalkar. 259 B.P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 726 f. 260 Vgl. BT-Drs. 1ß/759, S. 59; ebenso BVerfGE 49, 89 [147] - Kalkar; kritisch hierzu aus rechtspolitischer Sicht Wagner, NVwZ 1989, 1111 f.; tiers., NVwZ 1993, 519.

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wirtschaft damit in einer Lage, die sich von anderen Wirtschaftszweigen erheblich unterscheidet. Daß die Aufnahme der Betätigung auf einem Wirtschaftssektor, der traditionell von erheblichen staatlichen Interventionen geprägt ist, den Grundrechtsschutz der Unternehmen beschränken kann, hat das Bundesverfassungsgericht bereits im Zusammenhang mit der entschädigungslos hinzunehmenden Indienstnahme privater Unternehmen zur Mineralölbevorratung nach dem Gesetz über Mindestvorräte an Erdölerzeugnissen vom 9. 9. 1965261 festgestellt: "Eine allgemeine Pflicht des Gesetzgebers, die Adressaten öffentlicher Lasten durch positive Maßnahmen vor Rentabilitätsminderungen zu schützen, läßt sich dem Verfassungsrecht nicht entnehmen. Jedenfalls ist sie dort nicht anzuerkennen, wo - wie im vorliegenden Fall - die betroffenen Unrernehmen ihre privatwirtschaftliche Tätigkeit von Anfang an auf ein Gebiet erstreckt haben, dem Gefahrensi1Ualionen, wie sie das Gesetz bewältigen will, von Natur aus nicht fremd sind. Wer sich aus freiem Entschluß auf dem Gebiet der Mineralöleinfuhr betätigt, muß angesichts der Importabhängigkeit und Krisenanfälligkeit der deutschen Mineralölwirtschaft mit staatlichen Maßnahmen rechnen, die ihn im Interesse der Allgemeinheit belasten. "262

Dies, obwohl der Mineralölimporthandel der betroffenen Unternehmen eine primär private Domäne und damit eine grundrechtlich geschützte Tätigkeit ist. 263 Um wieviel mehr müssen diese Erwägungen daher für die staatlich geförderte Nutzung der Kernenergie gelten. 7. Gesamtbetrachtung Für die gemischtwirtschaftlich verfaßten Betreiber kerntechnischer Energieerzeugungs- und -versorgungsanlagen bleibt somit festzustellen, daß sie staatlich beherrscht sind und daß ihnen die Berufung auf Grundrechte wegen ihrer Aufgaben und wegen der erheblichen staatlichen Einflußnahme zu versagen ist. 264 Es kommt auch nicht darauf an, ob der Staat seinen Einfluß in einem kernenergiefreundlichen oder -feindlichen Sinne ausübt. Ferner ist nicht entscheidend, daß eine abgestimmte Einflußnahme der verschiedenen staatlichen Stellen auf die Energieversorgungsunternehmen häufig gar nicht 261

BGBI. I, S. 1217.

262

BVerfGE 30, 292 [325 f.] (Hervorhebung vom Verfasser). BVerfGE 30,292 [312].

263

264 Ebenso Baumann, JZ 1982, 754; Gleim/Winrer, NIW 1980, 1089; Heitsch, Kerntechnische Anlagen, S. 23; Hofmann, BayVBI. 1983, 35, ders., Privatwirtschaft, S. 32 f., (anders noch ders., Entsorgung, S. 295); Janssen, Zugriffsrecht, S. 213 f.; Schoch, DVBI. 1990, 550; de Win, 8. Dt.AtRS, S. 165; zurückhaltender BrüggemeierlDamm, Kommunale Einwirkung, S. 54; Steinberg, Schadensvorsorge, S. 100 f.; a.A. Hartung, Atomaufsicht, S. 67; ders., DÖV 1992,400; Kloepfer, Umweltrecht, § 2 Rn. 7; Manhiesen, Einwirkung, S. 29 ff.; 1hiel, Entsorgung, S. 92 f.

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vorliegt. 265 Ihnen ist doch immerhin gemeinsam, daß ihre Einwirkung der Verfolgung öffentlicher Interessen dient. Somit sind die Unternehmen nicht Ausdruck der freien Entfaltung privater, natürlicher Personen266 , sondern einem öffentlichen Zweck gewidmet und durch diesen geprägt. Nach der Schuppert'schen Skala267 sind sie als 'quasi-staatliche Organisationseinheiten' einzustufen. Von einer grundrechtstypischen Gefährdungslage sind sie weit entfernt. Damit ist nicht etwa gesagt, der Staat dürfe sich nicht unmittelbar oder mittelbar auf dem Gebiet der Kernenergienutzung betätigen. 268 Im Gegenteil für die Sicherung eines beherrschenden staatlichen Einflusses bestehen aufgrund des hohen Gefährdungspotentials gute Gründe, denn die Schutz- und Kontrollmöglichkeiten sind auf diese Weise eher gewährleistet, als wenn die Kernenergieerzeugung ganz der freien Privatwirtschaft überlassen wäre. 269 Jedoch kann sich der Staat dann, wenn er sich hier intensiv engagiert, eben nicht auf Grundrechte berufen und auf diese Weise einen ebenfalls staatlich angeordneten Ausstieg aus der Kernenergie zu Fall bringen. Anders muß allerdings das Urteil für diejenigen Anlagen ausfallen, die zu 100 % der Preussen-Elektra-AG und damit indirekt der VEBA-AG gehören. 270 Infolge der vollständigen Privatisierung handelt es sich hierbei nicht 265

Monopolkommission, Hauptgutachten I, S. 398 f.; Jarass, Wirtschaftsverwaltungsrecht,

§ 16 Rn. 12 und § 20 Rn. 12.

266 So aber Richter, Nachrüstung, S. 62 f; ähnlich fiir gemischtwirtschaftliche Energieversorgungsunternehmen insgesamt auch Koppensteiner, NJW 1990, 3109; Matthiesen, Einwirkung, S. 29; Stern, Staatsrecht m 1, S. 1170 Fn. 425; Theuerkaufer, Anlagegenehmigungen, S. 105 f. ("staatsentlastendes Privathandein unter staatlicher Aufsicht"). 267 S.o., § 18 B. I. 3. d) ce). 268 VgI. auch Degenhan, DVBI. 1983, 928 Fn. 33; Wesener, Energieversorgungskonzepte, S. 128. Allgemein fiir den Bereich der Energieversorgung ChristI Degenhan, Durchgriff, S. 37, sowie Bethge, AöR 104 (1979), 270 f., rur die "Erreichung öffentlicher Zwecke". Anders würde sich die Rechtslage jedoch u.U. darstellen, wenn man den gemischtwirtschaftlichen Kemkraftwerksbetreibern trotz des erheblichen staatlichen Einflusses Grundrechtsfähigkeit zubilligen würde. Dann könnte in der Tat ein Mißbrauch von Organisationsformen durch den Staat mit dem Ziel einer Herabsetzung rechtsstaatlicher Standards und damit ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip vorliegen, vgI. etwa Krebs, HdBStR m, § 69 Rn. 79. 269 Insofern begegnet der Rückzug des Staates aus den Kemkraftwerksunternehmen verfassungsrechtlichen Bedenken. Denn wegen des hohen potentiellen Schadensausmaßes muß sich der Staat grundsätzlich alle Optionen offenhalten, um gegebenenfalls kurzfristig aus der Atomenergie aussteigen zu können. Daher ist die Einbuße an Steuerungsmöglichkeiten gegenüber privaten, grundrechtsfahigen Kemkraftwerksbetreibern durchaus problematisch (wie hier BraggemeierIDamm, Kommunale Einwirkung, S. SO; vgI. auch die Entschließung des Europäischen Parlaments v. 7. 7. 1987 zu den Gefahren der Privatisierung der Kernenergie [Dok. A2-165/87, ABI. Nr. C 246/27]; ferner die Bedenken von Lange, ZRP 1992, 309 f. und Wagner, et 1992, 474 ff.; ders., DVBI. 1992, 1510 ff. gegen die Privatisierung der Endlagerung; sowie allgemein fiir öffentliche Aufgaben Spannowsky, DVBI. 1992, 1073 ff. [insbes. 1075]; a.A. hingegen BVerwG, DVBI. 1982, 960 [961] - Krümmei). 270 Würgassen und Unterweser, vgI. Anhang B, Nm. 6 und 8.

§ 18 Grundrechte der Kernkraftwerksbetreiber

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mehr um ein gemischtwirtschaftliches, sondern um ein rein privates Unternehmen. Hier fehlen aufgrund des Abbaus der personellen Verflechtungen und der gesellschaftsrechtlichen Einflußmöglichkeiten zwei wesentliche Gesichtspunkte, die die übrigen Kernkraftwerksbetreiber als staatlich beherrscht erscheinen lassen. Allein die Subventionierung der Atomwirtschaft durch den Staat, die Einwirkungsmöglichkeiten nach dem EnWG und die informellen Absprachen zwischen Staat und Betreibern reichen nicht aus, der VEBA-AG und ihren Tochterunternehmen das Prädikat 'quasi-staatliche Organisationseinheiten' zu verleihen. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um 'fast-staatliche Organisationseinheiten' im Sinne der Schuppert'schen Skalierung und damit um Wirtschaftssubjekte, deren Tätigkeit gemäß Art. 19 Abs. 3 GG grundsätzlich durch Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 GG geschützt ist.

§ 19 Der Grundsatz des Vertrauensschutzes

Das AtomG wurde zum 1. 1. 1960 in Kraft gesetzt, um die friedliche Kernenergienutzung nicht nur zu ermöglichen, sondern darüber hinaus auch zu fördem. 1 Seither sind in Deutschland zahlreiche Kernkraftwerke mit unbefristeter2 Genehmigung errichtet worden, von denen sich ein Großteil auch heute noch in Betrieb befindet. Will der Gesetzgeber diesen Betrieb vorzeitig, d.h. vor Ablauf der technisch möglichen und aus Betreibersicht wirtschaftlich sinnvollen Nutzungsdauer beenden, so stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls in welcher Weise er hierbei einem eventuellen Vertrauen der Anlagenbetreiber auf den Fortbestand des geltenden Rechts Rechnung tragen muß. Als Ordnungsfaktor muß das normative Recht einerseits auf Beständigkeit und Dauerhaftigkeit angelegt sein, andererseits aber auch aus Gründen des Allgemeinwohls an neue Entwicklungen angepaßt werden können. "Die Verläßlichkeit der Rechtsordnung ist eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen"3, sie ist "wesentliche Voraussetzung für Freiheit. d.h. die Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und seinen Vollzug. "4 Der Schutz des Vertrauens auf die Kontinuität des geltenden Rechts und das Verbot der Entwertung von Dispositionen durch willkürliche, d.h. sachlich nicht gerechtfertigte Gesetzesänderungen sind daher unerläßliche Merkmale einer rechtsstaatlichen Ordnung. Das Thema hat Literatur und Rechtsprechung bereits intensiv beschäftigt. ~ Im Rahmen dieser Untersuchung soll der Frage nachgegangen werden, ob der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Wahl des Zeitpunktes für den Ausstieg aus der Kernenergie durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes eingeschränkt wird, insbesondere ob der ausstiegsVgl. § 1 Nr. 1 AtomG. Vgl. § 17 Abs. 1 S. 4 AtomG. BVerfGE 72, 200 [257]. BVerfGE 76, 256 [347]. Aus der jüngeren Rechtsprechung: BVerfGE 72,200 [241 ff.]; 76, 256 [345 ff.]; 81, 228 [239]; 83, 89 [110 f.]; 84,212 [227]; 87, 48 [62 ff.]; BVerwGE 81,49 [59]; 81 175 [180 f.]; 82,235 [237]; 83, 195 [197 ff.]; 83, 262 [264]; 85, 79 [81 ff.]; 87, 1 [11]; 88, 312 [325 f.]; BayVerfGH, BayVBI. 1993, 177 [180]. Aus dem Schrifttum in jüngerer Zeit: Aschke, Übergangsregelungen (Frankfurt 1987); Fiedler, NIW 1988, 1624 ff.; Maurer, HdBStR m, § 60; Muckei, Vertrauensschutz (Berlin 1989); Pieroth, Rückwirlcung (Berlin 1981); tiers., JZ 1984, 971 ff.; tiers., JZ 1990, 279 ff.; ferner die beiden Referate von Kisker und Püttner auf der Mannheimer Staatsrechtslehrertagung 1973, VVDStRL 32 (1974), S. 149 ff. und 200 ff. 2

§ 19 Der Grundsatz des Vertrauens schutzes

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orientierte Gesetzgeber eventuelle Härten für die Betreiber kerntechnischer Anlagen durch Übergangsregelungen abfedern muß. Hierzu soll zunächst ermittelt werden, wo der Vertrauensschutz verfassungsrechtlich zu verorten ist (A.), bevor die sich daraus ergebenden Direktiven für den Gesetzgeber untersucht werden (B.). A. Verfassungsrechtnche Verortung des Vertrauensschutzes

I. Grundrechte Als Ansatzpunkt für den Schutz des Vertrauens auf die Kontinuität staatlichen HandeIns werden von der Rechtsprechung6 und der Literatur7 immer wieder die Grundrechte herangezogen. Der (Bundes-)Gesetzgeber kann jedenfalls beim Erlaß formeller Gesetze nur durch das Grundgesetz selbst beschränkt sein. 8 Im Bereich des Strafrechts ist das Rückwirkungsverbot in Art. 103 Abs. 2 GG ausdrücklich verankert und kann im Wege der Verfassungsbeschwerde gern. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG individuell geltend gemacht werden. Weitere explizite Verbote des Erlasses rückwirkender Normen finden sich allerdings im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes nicht. Daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, daß rückwirkende Gesetze außerhalb des Anwendungsbereichs des Art. 103 Abs. 2 GG grundrechtlich unbedenklich wären. 9 Art. 103 Abs. 2 GG hebt lediglich das im Bereich des Strafrechts besonders bedeutsame Rückwirkungsverbot eigens hervor, ohne aber damit die Frage der Verfassungsmäßigkeit rückwirkender Gesetze vollständig und abschließend zu regeln. Das Bundesverfassungsgericht prüft rückwirkende und tatbestandlich rückanknüpfende lO Gesetze am Maßstab derjenigen Grundrechte, "deren Schutzbereich von der nachträglich geänderten Rechtsfolge in belastender Weise betroffen ist" bzw. "die mit der Verwirklichung des jeweiligen Tatbestandsmerkmals vor Verkündung der Norm 'ins Werk gesetzt' worden sind. "11 Der BVerfGE 72, 200 [242, 257); 76, 256 [347); 87, 48 [62); BayVerfGH, BayVBI. 1993, 177 [180). 7 Aschke, Übergangsregelungen, S. 321 ff.; Maurer, HdBStR m, § 60 Rn. 23 ff.; 48 ff.; Muckel, Vertrauensschutz, S. 35 ff.; Pierolh, Rückwirkung, S. 131 ff.; ders., JZ 1984, 974 ff.; ders., JZ 1990, 281 ff. Vgl. auch Art. 20 Abs. 3 GG.

Ebenso BVerfGE 63, 343 [357]; 72, 200 [257); Fiedler, NJW 1988, 1627; Maurer, HdBStR m, § 60 Rn. 41; Pierolh, Rückwirkung, S. 131 f. (dort auch zur früher vereinzelt vertretenen Gegenauffassung). 10 Zu dieser Differenzierung S.U., § 19 B. 11 BVerfGE 72, 200 [242).

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Teil 3: Der legislative Ausstieg

Vertrauensschutzgedanke spielt in der Praxis besonders häufig im Zusammenhang mit Art. 12 Abs. 1, Art. 14 und Art. 33 Abs. 5 GG eine Rolle. 12 Das liegt in der Natur der Regelungsmaterie rückwirkender Gesetze. Werden hierdurch eigentumsrechtlich geschützte Positionen betroffen, kommt Art. 14 GG zur Anwendung; sind bereits ausgeübte berufliche Betätigungen tangiert, ist Art. 12 Abs. 1 GG heranzuziehen; wird ein Verstoß gegen hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums geltend gemacht, ist die Regelung an Art. 33 Abs. 5 GG zu messen. Damit ist aber der Katalog der möglicherweise einschlägigen Grundrechte nicht erschöpft. Rückwirkende bzw. tatbestandlich rückanknüpfende Gesetze können auch andere Grundrechte tangieren. 13 Subsidiär, insbesondere im Zusammenhang mit Verfahrensregelungen, kommt das Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG zur Anwendung. 14 Gleichwohl bieten die Grundrechte keinen umfassenden, tatbestandlich lückenlosen Vertrauensschutz. Grundrechtlicher Vetrauensschutz kann vielmehr nur soweit gehen, wie der Schutzbereich des jeweiligen Grundrechts reicht. 15 Außerdem kann diesen Schutz nur in Anspruch nehmen, wer grundsätzlich fähig ist, Träger von Grundrechten zu sein. Somit bleibt den meisten Betreibem kerntechnischer Anlagen angesichts ihrer fehlenden Grundrechtsfähigkeit l6 die Berufung auf grundrechtlichen Vertrauensschutz versagt.

1I. Das Rechtsstaatsprinzip Vertrauensschutz und Rechtssicherheit sind anerkannte, fundamentale rechtsstaatliche Grundsätze. 17

12 Vgl. fiir Art. 12 Abs. 1 GG: BVerfGE 21, 173 [182 f.); 22, 275 [276); 25, 236 [248); 32, 1 [22 f.); 50, 265 [274 ff.); 64, 72 [83 f.); 68, 272 [284); 75, 246 [279); 78, 179 [193); ferner Maurer, HdBStR m, § 60 Rn. 44; Muckel, Vertrauensschutz, S. 43 ff.; Pierolh, Rückwirkung, S. 138 f.; tiers., IZ 1984, 975; tiers., IZ 1990,282 f.; fiir Art. 14 GG: BVerfGE 31, 275 [293); 36, 281 [293); 45, 142 (168); 53, 257 [309); 58, 81 [120 f.); 64, 87 (104); 70, 101 [114); 71, 1 [11 f.); 72, 9 [18 ff.); 76, 220 [244 f.); ferner Aschke, Übergangsregelungen, S. 423 ff.; Maurer, HdBStR m, § 60 Rn. 45 f.; Muckel, Vertrauensschutz, S. 40 ff.; Pierolh, Rückwirkung, S. 132 ff., 280 ff.; tiers., IZ 1984, 974 f.; tiers., IZ 1990, 281 f.; fiir Art. 33 Abs. 5 GG: BVerfGE 52,303 [345); 55, 372 [396); 64, 158 [174); 67, I [14); 70, 69 [84); 71, 255 [272); 76, 256 [347); ferner Maurer, HdBStR m, § 60 Rn. 47; Muckel, Vertrauensschutz, S. 49 ff.; Pierolh, Rückwirkung, S. 360 ff.; tiers., IZ 1984, 975 f.; tiers., IZ 1990, 283. 13 Maurer, HdBStR m, § 60 Rn. 48; Pierolh, Rückwirkung, S. 367 ff.; zurückhaltend Muckel, Vertrauensschutz, S. 46 - 49, 55 - 58. 14 BVerfGE 87, 48 [62); Maurer, HdBStR m, § 60 Rom. 23 und 48; Muckel, Vertrauensschutz, S. 52 ff.; Pierolh, IZ 1990, 283. 15 So zutreffend Muckel, Vertrauensschutz, S. 58 f. 16 S.o., § 18 B. U. 17 Vgl. nur BVerfGE 72, 200 [242 f.); 76, 256 [347); MaunzIDürig-Herzog, Art. 20 VU Rn. 57 ff.; Maurer, HdBStR m, § 60 Rn. 19 ff.; SchmidJ-Aßmann, HdBStR I, § 24 Rn. 81.

§ 19 Der Grundsatz des Vertrauens schutzes

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·Zu den wesentlichen Elementen des Rechtsstaatsprinzips gehört die Rechtssicherheit. ... Der Staatsbürger soll die ihm gegenüber möglichen staatlichen Eingriffe voraussehen und sich dementsprechend einrichten können; er muß darauf vertrauen können, daß sein dem geltenden Recht entsprechendes Handeln von der Rechtsordnung mit allen ursprünglich damit verbundenen Rechtsfolgen anerkannt bleibt. In diesem Vertrauen wird der Bürger aber verletzt, wenn der Gesetzgeber an abgeschlossene Tatbestände ungünstigere Folgen knüpft als an diejenigen, von denen der Bürger bei seinen Dispositionen ausgehen durfte. Für den Bürger bedeutet Rechtssicherheit in erster Linie Vertrauensschutz.• 18 Er darf "dem ordnungsgemäß gesetzten Recht Vertrauen entgegenbringen; er muß in der Lage sein, auf längere Zeit zu planen und zu disponieren. n 19

Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung das Rechtsstaatsprinzip als Schranke für den Gesetzgeber beim Erlaß ruckwirkender bzw. tatbestandlich ruckanknüpfender Gesetze herangezogen. 20 Die Ableitungskette des Bundesverfassungsgerichts 'RechtsstaatsprinzipRechtssicherheit-Vertrauensschutz' hat in der Literatur breite Zustimmung gefunden. 21 In der Tat muß staatliches Handeln und somit auch die Gesetzgebung ein Mindestmaß an Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit aufweisen; insbesondere dann, wenn die Gesetze geeignet oder sogar darauf angelegt sind, Entscheidungen und Dispositionen des Bürgers herbeizuführen oder zu beeinflussen. Ein Staat, der nicht dieses Minimum an Verläßlichkeit seines Handeins gewährleistet, dessen Normgebung also nicht an den Geboten der Bestimmtheit, Klarheit, Beständigkeit, Vorhersehbarkeit und Widerspruchsfreiheit ausgerichtet ist, kann nicht für sich in Anspruch nehmen, als materieller Rechtsstaat, in dem nicht Willkür, sondern Recht und Gerechtigkeit herrschen, angesehen zu werden. 22 Rechtsstaatlichkeit besagt nicht nur, daß der Staat eine Rechtsordnung aufstellt und garantiert, sondern verlangt darüber hinaus die Gewährleistung bestimmter tradierter, nicht notwendigerweise ausdrücklich in die Verfassung aufgenommener rechtsstaatlicher Grundsätze. Hierzu gehört auch der Grundsatz der Rechtssicherheit23 , die Verläßlichkeit der Rechtsordnung24 und die Respektierung staatlich veranlaßten Vertrauens auf den Fortbestand geltender Normen. Gerade wegen des formell legalen Abbaus des materiellen Rechtsstaats im Dritten Reich sind die Schöpfer des Grundgesetzes vom rein formellen Rechtsstaat abgeruckt und haben der von

18 19

BVerfUE 13, 261 [271). BVerfUE 76, 256 [350).

Vgl. die umfangreichen Nachweise bei Pieroth, Rückwirkung, S. 50 Fn. 55. Vgl. die Nachweise bei Muckel, Vertrauensschutz, S. 59 Fn. 203; ferner Maun7./DürigHerzog, Art. 20 VII Rn. 65; Maurer, HdBStR ID, § 60 Rn. 19. 22 Vgl. auch SchmidJ-Aßmann, HdBStR I, § 24 Rnm. 19, 41 und 80 - 86; Stern, Staatsrecht I, § 20 ID., IV. 4. f). 23 So bereits ausdrücklich BVerfUE 2, 380 [403). 24 BVerfUE 72, 200 [257). 20

21

24 Borgnwm

370

Teil 3: Der legislative Ausstieg

ihnen kreierten Verfassung ein materielles Rechtssaatsverständnis zugrundegelegt. 25 Ohne Zweifel ist vor allem auch der ausgeprägte Schutz der Grundrechte nach dem Grundgesetz Ausdruck dieses materiellen Rechtsstaatsverständnisses. Jedoch reicht die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Rechtssicherheit und der Schutz des Vertrauens über die Grundrechte hinaus und kommt insbesondere dann zum Tragen, wenn zwar ein schutzwürdiges Vertrauen vorliegt, der Schutz aber nicht durch die Grundrechte erreicht werden kann. 26 Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn derjenige, dessen Dispositionen durch eine gesetzliche Neuregelung entwertet werden, nicht grundrechtsfähig ist. Auch in diesem Fall wäre es mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbaren, grundrechtsunfähigen Rechtssubjekten wie etwa ausländischen juristischen Personen jedweden Schutz getätigter Dispositionen zu verweigern. Gleiches gilt auch für staatlich beherrschte gemischtwirtschaftliche Unternehmen, denen die Grundrechtsfähigkeit wegen ihrer Aufgaben zu versagen ist. Zwar gilt auch hier der Grundsatz, daß der Staat nicht vor sich selbst zu schützen ist, weshalb beispielsweise in der Rechtsprechung zu Recht ein Vertrauensschutz zugunsten von Behörden abgelehnt wird. 27 Umgekehrt ist aber der Schutz berechtigten Vertrauens von Gemeinden oder Gemeindeverbänden auf den Fortbestand geltenden Rechts bereits mehrfach angenommen worden. 28 Man wird einen rechtsstaatlich begründeten Schutz berechtigten Vertrauens auf die Kontinuität staatlichen Handeins daher in den Fällen zu bejahen haben, in denen sich staatliche oder staatlich beherrschte Rechtssubjekte weitgehend selbständig gegenüberstehen und in denen derjenige Rechtsträger, der Vertrauensschutz begehrt, an der Entscheidungsfindung der angegriffenen hoheitlichen Maßnahme in keiner Weise mitwirken kann. Dies kann je nach Lage des Falles etwa für Gemeinden, aber auch für staatlich beherrschte juristische Personen des Privatrechts in Betracht kommen. Die mitunter vertretene Auffassung, Vertrauensschutz werde nur im Staat-Bürger-Verhältnis gewährleistet29 , bedarf daher der Relativierung. Zur Abwehr einseitigen staatlichen Handeins in mehrpoligen Rechtsverhältnissen können sich auch staatliche und staatsnahe Rechtsträger auf den Grundsatz des rechtsstaatlich geschützten Vertrauens berufen, wobei allerdings schutzmindernd zu berückSchmidJ-Aß1TIilnn, HdBStR I, § 24 Rn. 16; Slem, Staatsrecht I, § 20 I 3 a). So auch Maurer, HdBStR m, § 60 Rnrn. 44 und 116; Muckel, Vertrauensschutz, S. 60, 64; Pierolh, JZ 1990, 283; ferner BVertGE 45, 142 [168] ausdrücklich fiir Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG. 27 BVerwGE 23,25 [30 f.]; 27, 215 [217 f.]; 60, 208 [211]. 28 OVG Münster, DVBI. 1984, 1081 [1083]; OVG Koblenz, DVBI. 1986, 249 [253]; BayVertGH, BayVBI. 1993, 177 [180]; offenlassend BVertGE 21, 117 [132]. 29 Maurer, HdBStR m, § 60 Rn. 7 und Fn. 18; Muckel, Vertrauensschutz, S. 65; Pierolh, Rückwirkung, S. 280. 25

26

§ 19 Der Grundsatz des Vertrauensschutzes

371

sichtigen ist, daß von den genannten Rechtsträgern eine weitergehende Rücksichtnahme auf öffentliche Interessen verlangt werden kann. 30 Fraglich ist allerdings, in welchem Verhältnis der grundrechtliche und der rechtsstaatliche Vertrauensschutz zueinander stehen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist hier nicht immer eindeutig. Für die Eigentumsgarantie wird die Spezialität des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG gegenüber dem rechtsstaatlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes teilweise ausdrücklich betont. 31 Gleiches gilt für das Verhältnis zwischen den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums und dem allgemeinen rechtsstaatlichen Vertrauensschutz, weil letzterer durch Art. 33 Abs. 5 GG seine besondere Ausprägung erfahren habe. 32 In anderen Entscheidungen wird allerdings insofern inkonsequent der rechtsstaatliche Grundsatz der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes selbständig geprüft, obwohl zuvor die Vereinbarkeit der angegriffenen Regelungen mit der Eigentumsgarantie bzw. den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums ausdrücklich bejaht wurde. 33 Andere Grundrechte wie z.B. Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG oder Art. 2 Abs. 1 GG werden ohnehin von vornherein in Verbindung mit dem rechtsstaatlichen Gebot des Vertrauensschutzes geprüft. 34 Die Literatur geht teilweise von der Subsidiarität des allgemeinen rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgrundsatzes gegenüber dem grundrechtlichen Vertrauensschutz aus, die genauso funktioniere wie die Subsidiarität des Art. 2 Abs. 1 GG gegenüber den speziellen Freiheitsrechten. 35 Danach sei der Rekurs auf das rechtsstaatliche Vertrauensschutzprinzip erst dann zulässig, wenn keines der vorab untersuchten Grundrechte thematisch einschlägig ist. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß der rechtsstaatliche Vertrauensschutz nicht dadurch seinen eigenständigen Charakter verliert, daß im konkreten Fall zugleich auch Grundrechte einschlägig sind. Es ist zwar richtig, daß derjenige, der sich auf grundrechtlichen Vertrauensschutz berufen kann, hierdurch bereits hinreichend abgesichert ist, weil schutzwürdiges Vertrauen des Grundrechtsträgers im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigt werden muß. Weiterreichenden Schutz als bereits grundrechtlich geboten kann somit durch den allgemeinen rechtsstaatlichen Vertrauensschutz nicht erreicht Wie hier Kisker, VVDStRL 32 (1974), S. 168 ff. BVerfGE 76, 220 [244 f.] unter Hinweis auf BVerfGE 45, 142 [168]; 53, 257 [309]; 58, 81 [120]. 32 BVerfGE 67, 1 [14]; 76, 256 [347]. 30 31

33 BVerfGE 70, 69 [83 ff.]; 70, 101 [114]; 71, 230 [251]; 71, 255 [272 ff.]; hierzu auch Maurer, HdBStR m, § 60 Rn. 44 ff.; Pierorh, JZ 1990, 282. 34 BVerfGE 68,272 [284]; 75,246 [279]; 78, 179 [193]; 87, 48 [62]; umgekehrt BVerfGE 72, 200 [257]: "Verfassungsrechtlicher Maßstab ... ist ... vorrangig das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG i. V.m. den von der Rechtsfolgenanordnung belÜhrten Grundrechten."

35

MuckeI, Vertrauensschutz,

s.

64 f.; Pierorh, JZ 1990, 283 f.

372

Teil 3: Der legislative Ausstieg

werden. Dadurch wird aber eine zusätzliche Prüfung des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzprinzips nicht schon unzulässig, sondern allenfalls überflüssig, weil im Ergebnis kein über den grundrechtlich gebotenen Schutz hinausgehender Vertrauensschutz beansprucht werden kann. Es sind aber durchaus Fälle denkbar, in welchen der Staat beiden Ausprägungen Rechnung tragen muß, etwa weil nur ein Teil der durch die Maßnahme Betroffenen grundrechtsfahig ist. Die Subsidiaritätsthese ist daher abzulehnen.

III. Weitere Ansatzpunkte Mitunter wird versucht, den Grundsatz des Vertrauensschutzes auch aus anderen Rechtsprinzipien wie etwa dem Grundsatz von Treu und Glauben, dem Verbot des venire contra factum proprium oder dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG herzuleiten. All diesen Ansätzen einer weiteren eigenständigen Verankerung des Vertrauensschutzgedankens ist jedoch eine Absage zu erteilen. 36 Die Begründungen, die für eine Übertragung des zivilrechtlichen Rechtsgedankens von Treu und Glauben bzw. des hierauf beruhenden Verbots des venire contra factum proprium gegeben werden, zeigen, daß hier keine anderen Erwägungen in Betracht kommen als beim rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgrundsatz. Das Sozialstaatsprinzip schließlich verpflichtet zwar den Staat, sozial schwächer Gestellte durch Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins an den Gemeinschaftsleistungen im weitesten Sinne teilhaben zu lassen. Daraus ergibt sich aber keine Bestandsgarantie für den einmal erreichten Standard sozialstaatlicher Leistungen. Vielmehr ist das Sozialstaatsprinzip insofern offen und zeitgeprägt, als sozialstaatliche Zuwendungen in Anpassung an die jeweilige wirtschaftlich-soziale Lage u. U. auch rücknehmbar sein müssen. Allenfalls der Kernbereich, also der Grundbestand sozialstaatlicher Einrichtungen kann insofern als verfassungsfest angesehen werden, als sein ersatzloser Wegfall gegen die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG verstoßen würde. 37 B. Die Schranken des Vertrauensschutzes für den Gesetzgeber

Der Gesetzgeber muß schutzwürdiges Vertrauen bei der Normsetzung berücksichtigen und ist dadurch in seiner Gestaltungsfreiheit beschränkt. Zwar ist nicht zu verkennen, daß der Gesetzgeber aus Gründen des Allgemeinwohls

36 Ebenso Aschke, Übergangsregelungen, S. 31.8 ff.; Muckel, Vertrauensschutz, S. 29 ff.; Pieroth, Rückwirkung, S. 112 ff.

37

Ebenso Degenhart, Staatsrecht, Rn. 354 ff.

§ 19 Der Grundsatz des Vertrauens schutzes

373

auch belastende Neuregelungen treffen können muß, um notwendige Anpassungen an wirtschaftliche oder soziale Entwicklungen vorzunehmen: "Ein vol1er Schutz zugunsten des Fortbestands der bisherigen Gesetzeslage würde den dem Gesamtwohl verpflichteten demokratischen Gesetzgeber in wichtigen Bereichen gegenüber den EillZelinteressen lähmen, das Gesamtwohl schwerwiegend gefährden und die Versteinerung der Gesetzgebung bedeuten, was den eines Ausgleichs bedürftigen Widerstreit zwischen der Verläßlichkeit der Rechtsordnung und der Notwendigkeit ihrer Änderung im Blick auf den Wandel der Lebensverhältnisse in nicht mehr vertretbarer Weise zu Lasten der Anpassungsfähigkeit der Rechtsordnung lösen würde. Es muß dem Gesetzgeber daher grundsätzlich möglich sein, Nonnen, die in erheblichem Umfang an in der Vergangenheit liegende Tatbestände anknüpfen, zu erlassen und unter Änderung der künftigen Rechtsfolgen dieser Tatbestände auf veränderte Gegebenheiten mit einer Änderung seines Nonnwerks zu reagieren oder durch eine solche Änderung erst bestimmte soziale Gegebenheiten in einem gewissen Sinn zu beeinflussen. "38

Für die Frage, unter welchen Voraussetzungen sich der Gesetzgeber über schutzwürdiges Vertrauen auf den Fortbestand geltenden Rechts hinwegsetzen darf, unterschied das Bundesverfassungsgericht lange Zeit in ständiger Rechtsprechung zwischen sog. 'echter' und 'unechter' Rückwirkung. 39 Unter echter (retroaktiver) Rückwirkung wurden solche Gesetze verstanden, die nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreifen. Unechte (retrospektive) Rückwirkung wurde hingegen angenommen, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffenen Rechtspositionen nachträglich entwertet. An diese Unterscheidung knüpften sich auch jeweils unterschiedliche Rechtsfolgen. Gesetze mit 'echter' Rückwirkung wurden von der Rechtsprechung grundsätzlich für verfassungswidrig gehalten. Ausnahmen sollten nur dann gelten, wenn mit der getroffenen Regelung zu rechnen war, insbesondere wenn eine vorläufige durch eine endgültige Regelung ersetzt wurde oder wenn eine aus formellen Gründen nichtige Norm später durch eine gleichlautende Vorschrift ersetzt wurde, ferner wenn die bisherige Rechtslage unklar und verworren war und schließlich wenn zwingende Gründe des öffentlichen

38 BVerfGE 76, 256 (348) unter Hinweis auf BVerfGE 63, 312 (331); 63, 343 (357); 70, 69 [84]; 71, 255 [272); 72, 200 [254). 39 BVerfGE 11, 139 [145 f.); 13,261 (272); 14,288 [297 f.); 36, 73 [82); 45, 142 [173]; 51,356 [362]; 57, 361 [391]; 59, 1 [25,28); 59, 128 [164 ff.); 63, 152 [174 f.); 64, 87 [104); 68, 287 (306); 72, 175 (196); vgl. auch BayVerfGH, BayVBI. 1993, 177 [180); Degenhan, Staatsrecht, Rn. 314 ff.; Fiedler, NIW 1988, 1624 f.; Jarass/Pieroth, Art. 20 Rn. 48 f.; MaunzlDürig-Herzog, Art. 20 VU Rn. 68; Maurer, HdBStR m, § 60 Rn. 12; v.Münch/KunigSchnapp, Art. 20 Rn. 27; Pieroth, IZ 1984, 972 f.; ders., IZ 1990, 280.

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Teil 3: Der legislative Ausstieg

Wohls vorlagen. 4O Ob die letzte Fallgruppe aber einen eigenen Ausnahmetatbestand darstellt oder nur den Oberbegriff für die vorgenannten Fallgruppen bildet, ist allerdings streitig. 41 Außerdem soll eine Rückwirkung dann zulässig sein, wenn der dadurch verursachte Nachteil für den Betroffenen ganz unerheblich ist. 42 Unbedenklich sind letztlich auch lediglich begünstigende rückwirkende Gesetze. 43 Eine 'unechte' Rückwirkung wurde hingegen von der Rechtsprechung für grundsätzlich zulässig gehalten. Sie ist danach nur dann verfassungswidrig, wenn die Regelung in einen Vertrauenstatbestand eingreift und die Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für die Allgemeinheit das Interesse am Fortbestand des bisherigen Zustands nicht überwiegt. 44 Hier kommt es also im Einzelfall zu einer Güterabwägung zwischen der Notwendigkeit der Weiterentwicklung und Anpassung der Rechtsordnung an neue Problemlagen einerseits Imd dem Ausmaß des durch die Gesetzesänderung verursachten Vertrauensschadens andererseits. In der Regel wird hier das Vertrauensinteresse der Betroffenen auf den Fortbestand der Rechtslage als nachrangig gegenüber dem Gemeinwohlinteresse an der Gesetzesänderung bewertet. Zur Vermeidung unbilliger Härten sind aber aus Gründen des Übermaßverbots häufig Übergangsregelungen, Härteklauseln oder Vorschriften, die eine finanzielle Kompensation vorsehen, erforderlich, um die gegenläufigen Interessen zum Ausgleich zu bringen. Die Unterscheidung zwischen echter und unechter Rückwirkung wurde im Schrifttum vielfach kritisiert, weil die Abgrenzung zwischen abgewickelten und noch nicht abgewickelten Tatbeständen häufig zweifelhaft und schwer 40 BVerfGE 13, 261 [272]; 37, 363 [397 f.]; 45, 142 [173 f.]; hierzu auch Aschke, Übergangsregelungen, S. 249 ff.; Degenhan, Staatsrecht, Rn. 316; Fiedler, NJW 1988, 1629 f.; Maurer, HdBStR m, § 60 Rnrn. 17 f., 27 ff.; Pieroth, Rückwirkung, S. 55 ff.; tkrs., JZ 1984, 976; ders., JZ 1990, 284. Unzutreffend daher MaunzlDürig-Herzog, Art. 20 VII Rn. 69, wonach in der Judikatur "völlige Klarheit" herrsche, daß das Vertrauen des Bürgers in den Fortbestand von Regelungen, die einmal fiir schon abgewickelte Tatbestände gefunden worden sind, "in jedem Fall" vorgehe.

Degenhan, Staatsrecht, Rn. 316; Fiedler, NJW 1988, 1630. BVerfGE 30, 367 [389]; 72, 200 [258 f.], sog. Bagatellvorbehalt. 43 Vgl. auch BVerfGE 23, 85 [89, 93]; 24, 220 [229]; 68, 193 [222]; Degenhan, Staatsrecht, Rn. 316; MaunzlDürig-Herzog, Art. 20 VII Rn. 66; zurückhaltend Maurer, HdBStR m, § 60 Rnrn. 20, 40. Ein Beispiel rur einen Fall zulässiger 'echter' Rückwirkung dürfte die vom Bundestag am 23.6. 1993 beschlossene Neuregelung sein, wonach rückwirkend zum 1. 7. 1990 alle Ausländer, die sich seit mindestens 3 Jahren rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhalten, Anspruch auf staatliche Entschädigung haben sollen, wenn sie Opfer von Gewalttaten werden. Anlaß dieser Erweiterung waren die Brandanschläge von Hünxe, Mölln und Solingen, deren Opfer nach dem im Zeitpunkt der Taten geltenden Recht keinen Anspruch auf Entschädigung hatten. 41

42

44 BVerfGE 14, 288 [299 f.]; 25, 142 [154]; BayVerfGH, BayVBI. 1993, 177 [180]; vgl. auch Degenhan, Staatsrecht, Rn. 316; MaunzlDürig-Herzog, Art. 20 VII Rn. 70; Maurer, HdBStR m, § 60 Rn. 43; Pieroth, JZ 1984, 976 f.; ders., JZ 1990, 284 f.

§ 19 Der Grundsatz des Vertrauensschutzes

375

nachvollziehbar sei. Dies könne angesichts der diametral verschiedenen Rechtsfolgen der Zuordnung kaum akzeptiert werden. 45 Als Alternative werden Modelle angeboten, in denen keine starre Differenzierung zwischen grundsätzlich unzulässiger, echter Rückwirkung und prinzipiell zulässiger unechter Rückwirkung vorgenommen wird, sondern unter Anerkennung eines verfassungsrechtlichen Dispositionsschutzes flexible Maßstäbe für die Güterabwägung zwischen dem Vertrauensschaden und den Gründen für eine Rechtsänderung entwickelt werden. 46 Hierdurch soll eine "weichere", den jeweiligen Umständen des Einzelfalles eher gerecht werdende Abstufung ermöglicht werden. Ein abwägungserheblicher Vertrauens tatbestand liegt danach vor, wenn der Bürger auf das Gesetz vertraut hat und dieses Vertrauen durch Dispositionen zum Ausdruck bringt. Grundlegende Leitlinie der Abwägung der widerstreitenden Interessen ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wobei zum Interessenausgleich in erster Linie Übergangsvorschriften in Betracht kommen. Die Wahl der richtigen Übergangsregelung richtet sich im Einzelfall nach dem Gewicht der gegenläufigen Interessen. Allerdings dürfte dieser Ansatz in der Regel auch die Ergebnisse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts tragen; gravierende Abweichungen sind nicht ersichtlich. Auch der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat seit der Entscheidung vom 22. 3. 1983 zum deutsch-österreichischen Rechtshilfevertrag47 sowie ausdrücklich noch einmal durch die Entscheidung vom 14. 5. 1986 zum Außensteuergesetz48 die bisherige Unterscheidung zwischen echter und unechter Rückwirkung aufgegeben. Es sei nicht sinnvoll, so das Bundesverfassungsgericht, beide Bereiche unter einen einheitlichen Oberbegriff der "Rückwirkung im weitesten Sinne" bringen zu wollen, weil ein solcher Oberbegriff keinerlei verfassungsrechtliche Maßstäbe aufzuzeigen vermöge. 49 Seither differenziert der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts zwischen 'rückwirkender normativer Herbeiführung von Rechtsfolgen' und 'tatbestandlicher Rückanknüpfung von Rechtsnormen'. Danach entfaltet eine Rechtsnorm dann Rückwirkung, wenn der Beginn ihres zeitlichen Anwendungsbereichs normativ auf einen Zeitpunkt festgelegt ist, der vor dem Zeitpunkt der Verkündung der Norm liegt. Dabei betrifft der zeitliche Anwendungsbereich einer Norm allein die zeitliche Zuordnung der normativ angeordneten Rechtsfolgen im Hinblick auf den Zeitpunkt der Verkündung der 45 Aschke, Übergangsregelungen, S. 266 ff.; Muckel, Vertrauensschutz, S. 70 ff.; Pieroth, Rückwirkung, S. 79 ff.; weitere Nachweise bei Maurer, HdBStR m, § 60 Rn. 13 Fn. 33.

46 Aschke, Übergangsregelungen, S. 287 ff.; Muckel, Vertrauensschutz, S. 80 ff., 104 ff.; Pieroth, Rückwirkung, S. 161 ff., 230 ff. 47 BVerfGE 63, 343 [353 ff.]. 48 BVerfGE 72, 200 [241 ff.]. 49 BVerfGE 72,200 [243].

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Teil 3: Der legislative Ausstieg

Norm. Gefragt wird danach, ob diese Rechtsfolgen für einen bestimmten, vor dem Zeitpunkt der Verkündung der Norm liegenden Zeitpunkt eintreten sollen oder ob dies für einen nach oder mit der Verkündung beginnenden Zeitraum geschehen soll. Eine Rückwirkung von Rechtsfolgen müsse sich danach vorrangig an den allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen insbesondere des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit messen lassen. In Verbindung mit diesen Grundsätzen seien allerdings auch diejenigen Grundrechte zu berücksichtigen, deren Schutzbereich von der nachträglich geänderten Rechtsfolge in belastender Weise betroffen ist. XI An den bisher von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Rechtfertigungsgründen für die ausnahmsweise Zulässigkeit einer (echten) Rückwirkung wird allerdings ausdrücklich festgehalten, wobei aber diese Falltypen als nicht erschöpfend bezeichnet werden. 51 Eine tatbestandliche Rückanknüpjung wird vom Zweiten Senat hingegen dann angenommen, wenn zwar die Rechtsfolgen der Norm erst nach dem Zeitpunkt der Verkündung der Norm eintreten sollen, der Eintritt dieser Rechtsfolgen aber an Gegebenheiten aus der Zeit vor der Verkündung der Norm geknüpft wird. Dies betrifft aber nicht den zeitlichen, sondern den sachlichen Anwendungsbereich der Norm, also ihre Tatbestandsmerkmale. Eine solche normative Rückanknüpfung müsse sich vorrangig an den Grundrechten messen lassen, die mit der Verwirklichung des jeweiligen Tatbestandsmerkmals vor Verkündung der Norm "ins Werk gesetzt" worden sind. In diese Bewertung fließen jedoch die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes. der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit ein. Hiernach müsse die Vorschrift von sachlichen Gründen getragen sein und es müsse das öffentliche Interesse an der Änderung des bis dahin geltenden Rechts das auf die Bewahrung der früheren Rechtslage gerichteten Vertrauens der Betroffenen überwiegen. 52 Die Rechtsprechung des Zweiten Senats kommt der vormals geäußerten Kritik insoweit entgegen, als die frühere Unterscheidung zwischen echter und unechter Rückwirkung nunmehr aufgegeben wird. Sie hat daher weitgehend Zustimmung erfahren, wobei allerdings unterschiedliche Ergebnisse im Vergleich zur früher vertretenen Linie zumeist negiert werden. 53 In der Tat lassen sich trotz der begrifflichen Neuorientierung keine Abweichungen gegenüber BVerfGE 72,200 [242 f.]; 76, 256 [345 f.]. BVerfGE 72, 200 [257 f.]. 52 BVerfGE 72,200 [242 f.]; 76, 256 [346 f., 349, 356]. 53 BayVerfGH, BayVBI. 1993, 177 [180]; Degen1um, Staatsrecht, Rn. 314; Fiedler, NIW 1988, 1625 ff.; Jarass/Pieroth, Art. 20 Rn. 47 ff.; Maurer, HdBStR m, § 60 Rn. 14 f.; Pieroth, JZ 1984, 973; ders., JZ 1990, 280 f.; ablehnend allerdings Mucket, Vertrauensschutz, S. 73 ff. XI

51

§ 19 Der Grundsatz des Vertrauensschutzes

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der bisherigen Rechtsprechung feststellen, so daß sich die Änderung im wesentlichen auf eine Umetikettierung reduziert. 54 Nicht einsichtig ist allerdings, warum das Bundesverfassungsgericht bei der Prüfung der Rückwirkung von Rechtsfolgen nunmehr "vorrangig an den allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen insbesondere des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit" ansetzt und dann "in Verbindung mit diesen Grundsätzen" die betroffenen Grundrechte berücksichtigt, während umgekehrt bei der tatbestandlichen Rückanknüpfung primär von den betroffenen Grundrechten ausgegangen wird, in deren Bewertung dann die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit einfließen. ~~ Richtigerweise muß in beiden Fällen der gleiche Prüfungsmaßstab zur Anwendung kommen, weshalb sowohl bei gesetzlicher Rückwirkung von Rechtsfolgen als auch bei tatbestandlicher Rückanknüpfung zunächst nach dem grundrechtlichen, alsdann nach dem allgemeinen rechtsstaatlichen Vertrauensschutz zu fragen ist. Ein Vertrauen auf den Fortbestand des geltenden Atomrechts kann dem ausstiegsorientierten Gesetzgeber nur partiell entgegengehalten werden, und zwar nur insoweit, als bereits Dispositionen im Hinblick auf das geltende Recht getroffen wurden und dieses Vertrauen schutzwürdiger erscheint als die Belange, die der Gesetzgeber mit dem Ausstieg verfolgt. Potentielle Betreiber, die die Errichtung kerntechnischer Anlagen erst für die Zukunft in Erwägung ziehen, können von vornherein keinen Vertrauensschutz in Anspruch nehmen. Denn das noch nicht durch Dispositionen verfestigte Vertrauen darauf, eine bestimmte Rechtslage bleibe auch in Zukunft bestehen, ist bloße Hoffnung und wird rechtlich nicht geschützt. 56 Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn der Gesetzgeber durch Selbstbindung einen Vertrauenstatbestand schafft, indem er etwa den Fortbestand einer gesetzlichen Regelung von vornherein für einen bestimmten Zeitraum festlegt, um dadurch beispielsweise Anreize für Investitionen zu geben. ~7 Eine solche Situation ist allerdings im Atomrecht nicht vorzufinden. Der Gesetzgeber hat hier in der Vergangenheit keinerlei Anhaltspunkte dafür gegeben, daß er sich die Option für einen Ausstieg aus der Kernenergie nicht jederzeit offenhalten wollte. Vertrauensschutz kommt damit nur für die bereits errichteten und in Betrieb befindlichen Anlagen in Betracht. Eine tatbestandliche Rückanknüpfung im

Sinne der neueren Rechtsprechung des Zweiten Senats des Bundesverfas-

So auch Pieroth, JZ 1990, 281. So aber ausdrücklich BVerfGE 72, 200 [242 f.]; kritisch hierzu auch Maurer, HdBStR m, § 60 Rn. 24. 56 BVerfGE 15, 313 [324 ff.]; 27, 375 [386]; 28, 66 [88]; 38, 61 [83]; 68, 193 [222]; Maurer, HdBStR m, § 60 Rn. 55 f. ~7 Vgl. etwa BVerfGE 30,392 [404] - Berlinhilfe; Maurer, HdBStR m, § 60 Rn. 57 ff. 54

~~

Teil 3: Der legislative Ausstieg

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sungsgerichts wäre hier insoweit anzunehmen, als der ausstiegsorientierte Gesetzgeber zwar nicht den zeitlichen Anwendungsbereich des Ausstiegsgesetzes auf einen Zeitpunkt vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes erstreckt, wohl aber den Eintritt der Rechtsfolgen des Gesetzes, nämlich das Verbot des Weiterbetriebs kerntechnischer Anlagen, an Gegebenheiten aus der Zeit vor der Verkündung des Gesetzes, nämlich an die nach § 17 Abs. 1 S. 4 AtomG unbefristete Erteilung der Anlagengenehmigungen knüpft. Hierdurch werden die Rechtspositionen der Anlagenbetreiber zwar erst für die Zukunft, aber im Vergleich zur bisherigen Rechtslage dennoch vorzeitig entwertet. Insoweit ist ein grundsätzlich schutzwürdiger Vertrauenstatbestand zugunsten der Anlagenbetreiber anzunehmen. Allerdings scheidet hier die grundrechtliehe Ausrichtung des Vertrauensschutzes als Schranke für den Gesetzgeber insoweit aus, als die meisten Kernkraftwerksbetreiber aufgrund des Charakters der von ihnen wahrgenommenen Aufgabe und ihrer staatlichen Beherrschung nicht grundrechtsfähig sind. ~8 Jedoch ist daneben noch der aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete allgemeine Vertrauensschutz zu berücksichtigen, wobei allerdings schutzmindernd ins Gewicht fällt, daß von den staatlich beherrschten Betreibern eine weitergehende Rücksichtnahme auf die Gemeinwohlbelange als bei rein privaten Betreibern verlangt werden kann. ~9 Insoweit muß der ausstiegsorientierte Gesetzgeber abwägen zwischen dem Vertrauen der Betreiber auf den Fortbestand des geltenden Atomrechts und der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das allgemeine Wohl, dem die auf die Geltungsdauer der atomrechtlichen Genehmigungen nachteilig einwirkende Regelung dienen soll. Soweit der Gesetzgeber bestehende Rechtslagen, Berechtigungen und Rechtsverhältnisse autbebt oder modifiziert, kann er insbesondere gehalten sein, den Vertrauensschaden durch angemessene Übergangsregelungen abzumildern oder auszugleichen. 60 Auch Härteklauseln in Form von Ausnahme- und Befreiungstatbeständen oder Vorschriften, die einen finanziellen Ausgleich vorsehen, kommen zur Herstellung praktischer Konkordanz in Betracht.

58

S.o., § 18 B. 11.

59

S.o., § 19 A. 11.

BVerfGE 76, 256 [359 f.); 83, 89 [109); 87, 48 [66); Aschke, Übergangsregelungen, S. 20 ff., 361 ff.; Fiedler, NIW 1988, 1631; Jarass/Pieroth, Art. 20 Rn. 54; MaunzlDürigHerzog, Art. 20 VII Rn. 70 a.E.; Maurer, HdBStR m, § 60 Rn. 51 ff.; Mucket, Vertrauensschutz, S. 119 ff.; Pieroth, Rückwirkung, S. 71 ff. 60

§ 20 Der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, daß der ausstiegsorientierte Gesetzgeber verschiedene kollidierende Verfassungsdirektiven berücksichtigen und zum Ausgleich bringen muß. Mit dem Schutz der Bevölkerung und Umwelt vor den Gefahren und Risiken der Kernenergienutzung verfolgt der Gesetzgeber einen von der Verfassung nicht nur gebilligten, sondern sogar geforderten Zweck. 1 Allerdings darf diese Zielsetzung nicht um jeden Preis, sondern nur unter Beachtung des Übermaßverbots verfolgt werden. Das vom Gesetzgeber gewählte Ausstiegsmodell muß danach zum Schutz vor den Gefahren und Risiken der Kernenergie geeignet (A.), erforderlich (B.) und angemessen (C.) sein. Das Bundesverfassungsgericht billigt jedoch der Legislative vor allem bei Prognoseentscheidungen für die ersten beiden Teilgebote des Übermaßverbots eine Einschätzungsprärogative zu, die nur bei offensichtlicher Ungeeignetheit oder eindeutigem Vorliegen weniger belastender, aber gleichermaßen geeigneter Maßnahmen die Grenzen der Verfassungswidrigkeit überschreitet. 2 Insbesondere dann, wenn die Entscheidung die Beurteilung vielschichtiger Faktoren und komplexer Zusammenhänge verlangt, darf sich der Gesetzgeber unter mehreren Handlungsmöglichkeiten für diejenige entscheiden, die nicht von vornherein schlechthin ungeeignet ist. Sollte sich allerdings nach dem Inkrafttreten der Norm die Einschätzung des Gesetzgebers als unzutreffend herausstellen, so ist er zur Nachbesserung verpflichtet. 3 Unterläßt er dies, so liegt hierin eine Verletzung der betroffenen Grundrechte. Aber auch die eigentliche Güterabwägung auf der dritten Stufe zwingt in hohem Maße zu einer subjektiven Bewertung der konfligierenden Verfassungsgüter, die nur bei Außerachtlassung oder evidenter Fehlbewertung verfassungsrechtlicher Mindestpositionen einer verfassungsgerichtlichen Nachprüfung nicht standhält. Nur dann, wenn "die dem Eingriff entgegenstehenden Interessen im konkreten Fall ersichtlich schwerer wiegen als diejenigen

S.o., § 14 A. und § 16. BVerfUE 16, 147 [181]; 19, 119 [127]; 21, 150 [157]; 47,109 [117]; 49,89 [131]; 50, 290 [332 f.]; 53, 135 [145]; 57, 139 [159]; 62, 1 [50]; 65, 116 [126]. 2

BVerfUE 25, 1 [13]; 49,89 [130]; 50, 290 [335]; 57, 139 [162]; siehe bereits oben, § 14 bei Fn. 1.

380

Teil 3: Der legislative Ausstieg

Belange, deren Wahrung die staatliche Maßnahme dienen soll, ... verletzt der gleichwohl erfolgte Eingriff den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. "4 A. Geeignetheit des Ausstiegs zum Schutz vor den Gefahren und Risiken der Kernenergienutzung

Das Gebot der Geeignetheit verlangt nicht die Wahl des bestmöglichen oder geeignetsten Mittels. Eine Maßnahme ist vielmehr auch dann geeignet, den gewünschten Zweck herbeizuführen, wenn sie die Zielerreichung fördern kann. Für die Frage, ob der Ausstieg aus der Kernenergie zum Schutz von Leben, körperlicher Unversehrtheit und Umwelt überhaupt geeignet ist, muß davon ausgegangen werden, daß grundsätzlich jede Strahlendosis zu gesundheitlichen Schäden führen kann. 5 Eine Untergrenze radioaktiver Strahlung ohne Gesundheitsrisiko konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Auch wenn sich die Kausalität einer Strahlenexposition für eine Beeinträchtigung der Gesundheit im Einzelfall bei geringer Strahlendosis nur selten belegen läßt, zumal die Schäden oft erst mit erheblicher Verzögerung auftreten, so führt doch jede Erhöhung der Strahlenexposition zumindest statistisch zu einer Zunahme von Strahlenschäden. Kernkraftwerke emittieren bereits im Normalbetrieb meßbare, wenn auch geringe Mengen an radioaktiver Strahlung. Zwar liegt die Dosis weit unterhalb der Schwankungsbreite der natürlichen und der übrigen zivilisatorisch bedingten Radioaktivität in der Bundesrepublik6, doch ist nicht auszuschliessen, daß bereits diese geringe Erhöhung in einzelnen Fällen Strahlenschäden verursacht. Diese Erhöhung muß nicht signifikant sein, um verfassungsrechtliche Relevanz zu erlangen. Die prinzipielle Eignung des Ausstiegs zum Schutz vor Strahlenschäden läßt sich somit nicht schon deshalb verneinen, weil bislang in der Umgebung kerntechnischer Anlagen in Deutschland keine Zunahme strahlenbedingter Erkrankungen nachgewiesen werden konnte. Unbeachtlich sind auch sämtliche Vorbelastungen am Einwirkungsort, die ihrerseits zu Strahlenschäden führen können. Für die Geeignetheit des Ausstiegs ist allein entscheidend, daß statistisch jede zusätzliche Strahlenbelastung die Wahrscheinlichkeit von Strahlenschäden steigert. 7 Sie kann daher auch nicht 4 BVerfGE 44, 353 [373] (Hervorhebung vom Verfasser); vgl. auch Hermes, Schutzpflicht, S. 257. S.o., § 2, Fn. 4 und 89 m.w.N. S.o., § 2 B. I. 1. und Tabelle 4. Problematisch angesichts der noch wenig gesicherten Kenntnisse über die Wirkungen langfristiger geringer Strahlenexposition insoweit Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 306 f., nach

§ 20 Der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers

381

mit der Begründung in Zweifel gezogen werden, daß ein deutscher Alleingang wegen der auch zukünftig im Bundesgebiet meßbaren Emissionen aus ausländischen Kernkraftwerken nur eine geringe Reduzierung der Strahlenbelastung bewirke. Zu bedenken ist allerdings, daß Steinkohlekraftwerke im Vergleich zu Kernkraftwerken im Normalbetrieb durch Verbrennungsvorgänge sogar mehr Radionuklide emittieren. 8 Die Geeignetheit des Ausstiegs zum Schutz vor radioaktiver Strahlung wäre aber aus diesem Grunde nur dann zu verneinen, wenn die Energieerzeugungskapazitäten der Kernkraftwerke zwangsläufig durch Kohlekraftwerke mit gleicher Leistung kompensiert werden müßten. Dies ist jedoch, wie im 1. Teil gezeigt wurde9 , nicht der Fall. Vielmehr kann der Ausfall der Kemkraftwerksleistung zu einem großen Teil durch Energieeinsparung, durch rationellere Energieerzeugung und -verwendung sowie durch Einsatz umweltverträglicherer Energiequellen ausgeglichen werden. Im übrigen darf für die Beurteilung der Eignung des Ausstiegs zum Schutz vor Strahlenschäden auch das Stör- und Unfallrisiko nicht außer Betracht bleiben. Selbst nach Ansicht der Betreiber kerntechnischer Anlagen läßt sich trotz des mittlerweile erreichten hohen Sicherheitsstandards keine absolute Sicherheit verwirklichen. Zwar ist die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls in kerntechnischen Anlagen nach heutigem Erkenntnisstand gering, das potentielle Schadensausmaß jedoch nicht zuletzt angesichts der Bevölkerungsdichte in der Bundesrepublik immens. Dieses Risiko wird durch die Stillegung der Kernkraftwerke zweifelsohne vermindert, so daß schon deshalb der Ausstieg aus der Kernenergie zum Schutz vor Strahlenschäden geeignet ist. Hinzu kommt, daß der Ausstieg das weitere Anwachsen des radioaktiven Abfallbergs bremst, für den nach wie vor keine Entsorgungseinrichtungen in Form von Endlagern zur Verfügung stehen. Zwar entbindet selbst ein sofortiger Ausstieg nicht von der Notwendigkeit, für die bereits angefallenen Abfälle Entsorgungsmöglichkeiten zu schaffen. 1O Vermieden werden jedoch allein in der Bundesrepublik pro Jahr mehr als 500 tabgebrannter Brenneledessen Ansicht erst "das nationale arithmetische Mittel der natürlichen Strahlenbelastung den Voraustatbestand bei der Schaffung der Grundrechtsordnung" bilde mit der Folge, daß das Grundgesetz jede natürliche und zivilisatorische Strahlenbelastung bis zu dieser Größenordnung akzeptiere. Danach wäre die Errichtung von Kernkraftwerken in überdurchschnittlich belasteten Gebieten der Bundesrepublik im Hinblick auf die damit zwangsläufig verbundene, wenn auch geringe zusätzliche Strahlenbelastung rechtfertigungsbedürftig, in unterdurchschnittlich belasteten Regionen hingegen nicht. Richtiger dürfte es demgegenüber sein, grundsätzlich jede zivilisatorisch bedingte Erhöhung der Strahlenbelastung an jedem beliebigen Einwirkungsort rur verfassungsrechtlich relevant und rechtfertigungsbedürftig zu halten (ebenso Steinberg , Schadensvorsorge, S. 96 f.).

10

S.o., § 2 B. I. 1. Fn. 88 m.w.N. S.o., § 3 A. So auch Wagner, DVBI. 1991, 24.

Teil 3: Der legislative Ausstieg

382

mente sowie ca. 350 t hochaktiver, 3.500 t mittelaktiver und 35.000 t schwachaktiver Atommüll. Dadurch entfällt auch das Risiko der Gefahrguttransporte im nuklearen Brennstoffkreislauf. Somit kann die Geeignetheit des Ausstiegs zum Schutz vor den Gefahren und Risiken der Kernenergienutzung kaum bestritten werden. Ausschlaggebend ist hierbei der Zeitpunkt des Ausstiegs: Je früher und konsequenter die Kernenergienutzung beendet wird, umso eher ist diese Maßnahme geeignet, Bevölkerung und Umwelt vor den Gefahren der Kernenergie zu schützen. B. ErforderHchkeit des Ausstiegs zum Schutz vor den Gefahren und Risiken der Kernenergienutzung

Das Gebot der Erforderlichkeit (Notwendigkeit) verlangt vom Gesetzgeber die Wahl des am wenigsten belastenden Mittels. Erforderlich in diesem Sinne ist eine Maßnahme nur dann, wenn das Ziel nicht auch auf andere, weniger belastende, aber gleichermaßen geeignete Weise verwirklicht werden kann. Der Ausstieg aus der Kernenergie hat möglicherweise negative Auswirkungen auf die Sicherheit der Energieversorgung, auf das Ziel zur Verminderung des CO2-Ausstoßes und anderer Schadstoffemissionen und auf die unternehmerischen Interessen der Kemkraftwerksbetreiber. Diese Folgen sind umso gravierender, je früher die Kernenergienutzung bendet werden soll. Somit ist zu fragen, ob das Ziel des Schutzes vor den Gefahren der Kernenergie nicht ebensogut auf andere Weise erfüllt werden kann. Nach dem heutigen Stand von Wissenschaft und Technik ist der Betrieb eines Kernkraftwerks ohne das Risiko der Freisetzung von Radioaktivität nicht erreichbar. Selbst bei den in der Entwicklung befindlichen fortschrittlichen Reaktortypen, die zweifelsohne einen deutlichen Sicherheitsgewinn gegenüber der heutigen Reaktortechnik bedeuten würden, bleibt ein Restrisiko bestehen. Außerdem läßt sich allein durch Verbesserungen im Kemkraftwerksbetrieb noch nicht die mindestens ebenso dringende Entsorgungsfrage lösen. Strengere Sicherheitsanforderungen sind daher nicht in gleicher Weise geeignet, das definierte Ziel des Schutzes vor Strahlenschäden zu erfüllen. Um einen optimalen Schutz vor den Risiken der Kernenergie zu erreichen, wäre ein sofortiger Ausstieg erforderlich. Dieser hätte allerdings möglicherweise Belastungen für kollidierende Verfassungsgüter zur Folge, die nicht im Wege der Güterabwägungll überwunden werden können. Verzichtet der Gesetzgeber aus diesem Grunde auf einen optimalen Schutz und entscheidet sich für einen mittel- oder langfristigen Ausstieg, dann bedeutet dies zwar eine 11

Dazu sogleich unter C.

§ 20 Der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers

383

Einbuße, jedoch kein Ausbleiben des Schutzes. Auch für den nicht-sofortigen Ausstieg bleibt damit festzuhalten, daß das damit verbundene Ziel des Schutzes vor radioaktiver Strahlung nicht auf andere, weniger belastende, aber gleichermaßen geeignete Weise verwirklicht werden kann.

c. Angemessenheit Angemessen oder verhältnismäßig im engeren Sinne ist eine Beeinträchtigung dann, wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere der Beeinträchtigung und dem Gewicht und der Dringlichkeit der sie rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibtl2 ; wenn also m.a.W. die Beeinträchtigung und der mit ihr verfolgte Zweck in recht gewichtetem und wohl abgewogenen Verhältnis zueinander stehen. 13 Für die Güterabwägung gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das "Prinzip des schonendsten Ausgleichs konkurrierender grundgesetzlieh geschützter Positionen".J4 Danach muß jedes Verfassungsgut seine größtmögliche Wirksamkeit behalten, indem eine nach allen Seiten möglichst schonende Lösung gesucht wird. Gleichwohl führt, wie bereits erwähnt l5 , nur eine offensichtliche Fehlgewichtung zur Verfassungswidrigkeit der Abwägungsentscheidung des Gesetzgebers.

I. Die Abwägungskriterien Fraglich ist, nach welchen Abwägungskriterien die staatliche Gewalt darüber zu entscheiden hat, welche der gegenläufigen Positionen im konkreten Fall zurückstehen muß. Hierzu wird mitunter vertreten, dem Grundgesetz ließen sich keine Anhaltspunkte für abstrakte Rangunterschiede zwischen Grundrechten untereinander und sonstigen Verfassungsnormen entnehmen. 16 Diese Feststellung ist jedoch nur teilweise zutreffend. Aus Art. 79 Abs. 3 GG ergibt sich jedenfalls, daß im Unterschied zu allen anderen Verfassungsnormen "die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze" auch vor dem verfassungsändemden Gesetzgeber Bestand haben sollen. 17 Läßt sich daraus 12 13 14

15 16

17

BVerfGE 30,292 [316]; 67, 157 [178]; 68,193 [219]. Pierolh/Schlink, Grundrechte, Rn. 328. BVerfGE 39, I [43].

S.o., S. 344.

Hermes, Schutzptlicht, S. 252 f. m.w.N. Dazu zuletzt BVerfGE 84, 90 [120 f.]. Gleiches gilt filr die in diesem Zusammenhang

nicht relevante Gliederung des Bundes in Länder und die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung.

384

Teil 3: Der legislative Ausstieg

auch nicht unbedingt ein absoluter Vorrang der genannten Grundsätze herleiten, so kommt darin doch eine gewisse Wertigkeit zum Ausdruck, die bei der Abwägung nicht übergangen werden kann. 18 Das Bundesverfassungsgericht bezieht sich insoweit auf den Menschenwürdegehalt der einschlägigen Grundrechte und orientiert OOan seine Güterabwägung.19 Insofern stellt das menschliche Leben nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts als vitale Basis der Menschenwürde und als Voraussetzung aller anderen Grundrechte den Höchstwert innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung 00. 20 Außerdem leitet es aus Art. 1 Abs. 1 GG einen unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung ab, der der Einwirkung der öffentlichen Gewalt schlechthin entzogen ist. "Selbst schwerwiegende Interessen der Allgemeinheit können Eingriffe in diesen Bereich nicht rechtfertigen; eine Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes findet nicht statt. "21 Der Bezug zur Menschenwürde ist nicht bei allen Grundrechten in gleicher Weise gegeben. Besonders ausgeprägt ist er beim Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht, weniger hingegen beim Schutz des Eigentums. Dies führt allerdings nicht dazu, daß das Eigentum stets hinter dem Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit zurückzustehen hat. So kann beispielsweise im Bereich der Risikominimierung eine technisch grundsätzlich mögliche Maßnahme aus Gründen des Übermaßverbots dann nicht verlangt werden, wenn der Aufwand außer Verhältnis zu dem zu erwartenden Sicherheitsgewinn steht. 22 Ein weiteres Abwägungskriterium ist der soziale Bezug des Schutzguts. Für das Eigentum geht dies unmittelbar aus Art. 14 Abs. 2 GG hervor. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder festgestellt, daß das Maß der vom Eigentümer hinzunehmenden Bindung wesentlich davon abhängt, ob und in welchem Ausmaß das Eigentumsobjekt in einem sozialen Bezug und in einer sozialen Funktion steht. 23 Je mehr das Eigentumsobjekt sozialgebunden ist, umso weiter reichen die Beschränkungsmöglichkeiten des Gesetzgebers. Aber auch bei anderen verfassungsrechtlich geschützten Positionen kommt es darauf an, ob und wieweit diese dem Wohl des Einzelnen oder dem Wohl der Allgemeinheit dienen. 24 Insoweit kommt dem Sozialstaatsgebot des Art. 20

18 Dies räumt auch Hermes, Schutzpflicht, S. 256, ein. 19 BVerfGE 35, 202 [225], 39, I (43). 20

BVerfGE 39, 1 (42); 46, 160 (164); 49, 24 [53).

21 BVerfGE 80, 367 (373) - Tagebuchentscheidung. 22

Siehe bereits oben, § 4 B.

23 BVerfGE 37, 132 [140 f.); 50, 290 [340 f.); 52, 1 [32]; 58, 137 [147 f.); 68, 361 [368];

desgl. BVeIWG, BayVBI. 1993,693 [693 f.]. 24

Vgl. z.B. BVerfGE 50, 290 (365) für Art. 12 Abs. I GG.

§ 20 Der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers

385

Abs. 1 GG besondere eingriffslegitimierende Bedeutung ZU. 25 Zwar verbietet die prinzipielle Entscheidung des Grundgesetzes für den grundrechtlich geschützten Freiheitsraum des Einzelnen ein sozialstaatliches Konzept, in dem von selbstverantwortlicher Freiheit nichts mehr übrig bleibt. 26 Gleichwohl setzt das Sozialstaatsprinzip den Grundrechten als kollidierendes Verfassungsrecht Grenzen und wirkt somit eingriffslegitimierend im Rahmen der Güterabwägung.27 Abwägungserheblich ist auch die Intensität der Beeinträchtigung des Schutzguts, also das potentielle Schadensausmaß. Insbesondere kommt es darauf an, ob das Schutzgut dauerhaft oder nur vorübergehend tangiert wird und ob behebbare oder irreparable Schäden einzutreten drohen. Auch die Frage der Eintrittswahrscheinlichkeit spielt eine Rolle. Bedeutsam ist ferner, wie viele Grundrechtsträger durch die Maßnahme potentiell betroffen sind. Bei schutzWÜfdigem Vertrauen auf den Fortbestand rechtlicher Regelungen (insbesondere bei staatlich veranlaßten Investitionen) kann der Gesetzgeber bei Erlaß von Änderungsvorschriften aus Gründen des Verhältnismäßigkeitsprinzips verpflichtet sein, unzumutbare Härten durch angemessene Übergangsregelungen abzufedern. 28 Dieser Gesichtspunkt spielt besonders im Zusammenhang mit der tatbestandlichen Rückanknüpfung eines vorzeitigen gesetzlichen Ausstiegs aus der Kernenergie eine Rolle. 29 Die Bemessung der Übergangsregelung richtet sich im Einzelfall nach dem Gewicht der gegenläufigen Interessen3O , wobei allerdings auch die nachlassende Verbürgungswirkung älteren Rechts zu berücksichtigen ist, so daß das Gewicht des Vertrauensschutzes fortlaufend abnimmt. Für die Ausgestaltung solcher Übergangsregelungen billigt das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber ausdrücklich einen weiten Gestaltungsspielraum zu, weshalb das Bundesverfassungsgericht nur nachprüft, ob der Gesetzgeber bei der Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs einerseits und dem Gewicht und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe andererseits unter Berücksichtigung aller Umstände die Grenze der Zumutbarkeit überschritten hat. 31 Eine letzte Grenze absoluter Zugriffsfreiheit ist schließlich die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG. Führt eine Grundrechtsbeeinträchtigung dazu, daß das betroffene Grundrecht in der Rechtsgemeinschaft keine Wirksamkeit mehr entfalten kann, so ist diese Begrenzung nicht nur in besonderem 25 26

27 28

29 30 31

Degenhan, Staatsrecht, Rn. 363; BorgmannnIermann, JA 1992, 343. Jarass/Pieroth, Art. 20 Rn. 73; MaunzlDürig-Herzog, Art. 20 vm Rn. 46 f. Vgl. Z.B. BVerfGE 68,193 [220]; BVelWGE 62,55 [61 f.]. BVerfGE 43,242 [288]; 58, 300 [351]; 67, 1 [15]; Muckei, Vertrauensschutz, S. 119 ff. Siehe bereits oben, § 19 B. Muckei, Vertrauensschutz, S. 127 ff. BVertGE 76, 256 [359 f.].

386

Teil 3: Der legislative Ausstieg

Maße unverhältnismäßig, sondern tastet zugleich auch den Wesensgehalt des Grundrechts an. 32 Der Kernbereich des Grundrechts als verfassungsfeste Mindestposition muß danach gewahrt bleiben. ll. Ansätze einer Kollisionslösung für den legislativen Ausstieg

aus der Kernenergie

1. Schutz vor den Gefahren der Kernenergie Durch den Ausstieg aus der Kernenergie sollen in erster Linie Leben und körperliche Unversehrtheit vor den Gefahren und Risiken der Kernenergie geschützt werden. Daß diese Schutzgüter prinzipiell eine höhere Wertigkeit genießen als Sachgüter und wirtschaftliche Interessen, wurde bereits dargelegt. 33 Selbst bei einem sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie kann jedoch die Gefahr von Strahlenschäden nicht auf Null reduziert werden. Auch nach langer Abklingzeit enthalten stillgelegte Reaktoren noch ein erhebliches radioaktives Inventar und bilden damit ein Gefährdungspotential. Die Entsorgung der radioaktiven Abfälle läßt sich nicht ohne Risiko für Bevölkerung und Umwelt verwirklichen. Dennoch kann mit einem Ausstieg aus der Kernenergienutzung insoweit ein erheblicher Gewinn für die Verfassungsgüter Leben, körperliche Unversehrtheit und Umwelt als natürliche Lebensgrundlage des Menschen erreicht werden, als dadurch das Stör- und Unfallrisiko beim Betrieb kerntechnischer Anlagen entfällt und auch ein weiteres Anwachsen der zu entsorgenden Abfallmenge weitgehend vermieden wird. Dieser Schutz ist zwangsläufig umso höher, je eher und konsequenter die Kernenergienutzung beendet wird. Die Qualität des Risikos der Kernenergienutzung rechtfertigt grundsätzlich die Suche nach alternativen, umweltverträglicheren Wegen der Energieerzeugung. Sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht übersteigt die Zahl der durch die Kernenergienutzung gefahrdeten Personen den Kreis derjenigen, die von dieser Energiequelle profitieren. So wird die Last der Entsorgung der radioaktiven Abfälle, die eine Generation produziert hat, angesichts der langen Zerfallsdauer einiger Spaltprodukte den künftigen Generationen für einen Zeitraum aufgebürdet, der sogar über das bisherige Alter der Menschheit hinausgeht. Zu Recht weist Luckow in diesem Zusammenhang darauf hin, daß noch keine Generation zuvor ein auch nur annähernd vergleichbares Gefahrdungspotential an nachfolgende Generationen weitergegeben hat. 34 Be-

33

Hesse, Grundzüge, Rn. 332. S.o., § 20 C. I.

34

Luckow, Brennstoffkreisläufe, S. 295.

32

§ 20 Der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers

387

denklich ist insbesondere die Zulassung der Kernenergienutzung in großem Umfang für einen ungewissen Zeitraum, ohne daß die gefahrlose Entsorgung der Abfallprodukte sichergestellt ist. Nach wie vor existiert kein tragfähiges, nicht nur auf vage Hoffnungen gegründetes Konzept für die sichere Endlagerung nuklearer Abfälle. Angesichts dieser Entsorgungssituation wird der Betrieb von Kernkraftwerken treffend verglichen mit einem bereits gestarteten Flugzeug, für das am Boden mit wachsender Nervosität nach einem geeigneten Ort zum Bau einer Landebahn gesucht wird. 35 Dem Gesetzgeber des Jahres 1958 mag man insoweit noch zugute halten, daß er wohl davon ausgegangen ist, daß hierfür innerhalb absehbarer Zeit eine Lösung gefunden werde. Der Gesetzentwurf zum AtomG vom 17. 12. 1958 enthielt dazu in § 12 Abs. 1 Nr. 5 lediglich die Ermächtigung zum Erlaß einer Rechtsverordnung, in der bestimmt werden konnte, "daß und auf welche Weise nicht mehr verwendete radioaktive Stoffe aufzubewahren, abzuliefern, zu beseitigen oder behördlich sicherzustellen sind." In der Begründung heißt es insoweit schlicht: "Da die Beseitigung radioaktiver Stoffe ein besonders schwieriges Problem ist und die ordnungsmäßige Beseitigung den einzelnen Besitzern radioaktiver Stoffe voraussichtlich gar nicht möglich sein wird, wird durch die Rechtsverordnung vor allen Dingen ein einheitliches Beseitigungsverfahren vorzuschreiben sein, von dem alle Genehmigungsinhaber Gebrauch machen müssen. "36 Davon, wie dieses Verfahren aussehen sollte, hatte man offenkundig nicht einmal eine vage Vorstellung. Angesichts des heutigen Bestands radioaktiver Abfälle37 und der noch immer ungelösten Entsorgungsproblematik ist jedoch zu fragen, ob insofern nicht die Geschäftsgrundlage für die Zulassung der Kernenergienutzung entfallen ist, so daß schon der Entsorgungsnotstand zur Umkehr in der Energiepolitik zwingt. 38 Aber auch die Zwischenfälle in kerntechnischen Anlagen im In- und Ausland haben vor Augen geführt, daß das Hauptrisiko der immer wieder als sicher und umweltverträglich angepriesenen Kernenergienutzung das Risiko der Fehleinschätzung ist. Kaum jemand würde noch ernsthaft die Verfassungsmäßigkeit eines Ausstiegs aus der Kernenergie' in Frage stellen können, sollte sich in der Bundesrepublik ein atomarer Unfall in der Größenordnung der Tschernobyl-Katastrophe ereignen. Daß jedenfalls das Stör- und Unfallrisiko zumindest einen Teilausstieg aus der Kernenergienutzung rechtfertigt, hat die sofortige Abschaltung sämtlicher Kernkraftwerke in der ehemaligen DDR 35 36 37

Rosenkranz/Meichsner/Kriener, Atomwirtschaft, S. 254. BT-Drs. 31759, S. 27. S.o., § 2 C. n.

Vgl. auch Degen/um, et 1989, 758: "Sollte sich - entgegen der Annahme des Gesetzgebers -" die gesicherte, gefahrlose Entsorgung als Voraussetzung für die Kernenergie "als nicht realisierbar erweisen, so impliziert dies notwendig eine grundsätzliche Neubewertung der Kernenergienutzung. " 38

388

Teil 3: Der legislative Ausstieg

nach der Wiedervereinigung trotz des prinzipiellen Fortgeltens der Genehmigungen und Erlaubnisse nach der Überleitungsregelung des § 57a Abs. 1 Nr. 1 AtomG gezeigt. Soweit ersichtlich, wurde von keiner Seite geltend gemacht, daß dieser Schritt verfassungsrechtlich bedenklich oder gar verfassungswidrig gewesen sei. 2. Erhöhung der Schadstoffemissionen durch vermehrten Einsatz fossiler Brennstoffe Zu berücksichtigen sind aber auf der anderen Seite auch mögliche negative Folgewirkungen eines Ausstiegs aus der Kernenergie für die Schutzgüter Leben, körperliche Unversehrtheit und Umwelt. In einigen Teilen der Bundesrepublik trägt die Kernenergie zu zwei Dritteln und mehr zur Stromerzeugung bei. 39 Zumindest bei einem sofortigen Totalausstieg entstünden in diesen Gebieten Versorgungslücken, die vorübergehend durch den Einsatz fossiler Brennstoffe ausgeglichen werden müßten, wobei z.T. auch auf ältere Kraftwerke zurückgegriffen werden müßte. Dies hätte zwangsläufig einen Anstieg der Emissionen von Spurengasen und anderen Schadstoffen zur Folge, der ebenfalls Risiken und Gefahren für die Umwelt und für die körperliche Unversehrtheit birgt. 4O Abgesehen von den negativen Folgen eines erhöhten CO 2-Ausstoßes für den Treibhauseffekt kann die Zunahme von Schwefeldioxid-, Stickoxid- und Staubemissionen insbesondere bei austauscharmen Wetterlagen u.U. Gesundheitsgefahren verursachen. Auch hierbei handelt es sich analog zu Kernenergienutzung um Auswirkungen, die die Betroffenen "nicht beeinflussen und denen sie kaum ausweichen können. "41 Insbesondere der durch den COz-Ausstoß bedingte zusätzliche Treibhauseffekt kann ähnlich wie das atomare Risiko die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen existentiell gefährden. Zwar werden ohnehin Kraftwerke mit fossilen Brennstoffen betrieben und überdies tragen auch der Straßenverkehr, die Industrie und die Haushalte erheblich zu den Schadstoffemissionen bei. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine zusätzliche Erhöhung der Emissionen als Folge eines Ausstiegs aus der Kernenergie der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedarf. 42 Allerdings ist zu bedenken, daß diese negativen Auswirkungen durch eine Neuorientierung in der Energiepolitik kompensiert werden können. Die En39

S.o., § 2 B.

S.o., § 3 A. 1., B. Dieser Aspekt wird in der Begründung zum Entwurf des 'Atomsperrgesetzes' (BT-Drs. 10/1913) nicht behandelt. 41 Vgl. BVerfGE 53, 30 [58]. 40

42

S.o., § 14 B.

§ 20 Der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers

389

quete-Kommission des Bundestags 'Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphare' hat nachgewiesen, daß zum einen ein hohes Energieeinsparungspotential besteht und daß zum anderen das Ziel der Minderung der CO2-Emissionen bis zum Jahre 2005 um 30 % auch bei einem schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie erreichbar ist. 43 Gerade auf dem Gebiet der regenerativen Energiequellen (nachwachsende Rohstoffe) wurden in jüngster Zeit vielversprechende Erkenntnisse gewonnen. 44 Ein Anstieg der Schadstoffemissionen bei einem Verzicht auf die Kernenergienutzung ist somit nicht zwingend gegeben. Vielmehr ist umgekehrt zu fragen, ob angesichts dieses Befundes die weitere Nutzung der Kernenergie zur Sicherstellung einer möglichst umweltverträglichen Energieversorgung ihrerseits überhaupt noch geeignet und erforderlich ist. Bei Abwägung aller positiven und negativen Folgen des Ausstiegs für die Schutzgüter Leben, körperliche Unversehrtheit und Umwelt scheint danach ein solches Ausstiegsmodell angemessen, das die negativen Auswirkungen weitgehend vermeidet. Verhältnismäßig im engeren Sinne ist somit zumindest ein mittelfristiger45 Ausstieg, bei dem die Kernkraftwerke sukzessive unter Berücksichtigung ihres Alters, ihres Sicherheitsstandards und ihrer Ersetzbarkeit im Versorgungsgebiet vom Netz genommen werden, sofern dies mit gesetzlichen Maßgaben zur Erforschung, Förderung und Ausschöpfung des Potentials umweltverträglicher Energiequellen, der COrRückhaltung und der Energieeinsparungsmöglichkeiten einhergeht. 46

43

S.o., § 3 B.

44

S.o., § 3 A. 11.

45 Vgl. etwa § 1 Nr. 1 und 5, § 7 Abs. 1 Nr. 1 - 4 und Abs. 9 des 'Kernenergieabwicklungsgesetzes '. Problematisch insoweit jedoch § 2 Abs. I des 'Atomsperrgesetzes ' . 46 In die richtige Richtung weist insoweit das 'Kernenergieabwickiungsgesetz' (BT-Drs. 11/13), das in § 18 Abs. I S. 9 dem entschädigungsberechtigten Kernkraftwerksbetreiber das Recht zubilligt, die vorzeitige Auszahlung der Entschädigungssumme zu verlangen, "sofern sichergestellt ist, daß die Entschädigungssumme binnen drei Jahren rur die in Anlage 4 zu diesem Gesetz bezeichneten Maßnahmen zur sparsamen, umwelt- und ressourcenschonenden Energieverwendung eingesetzt wird." Nach Anlage 4 sind dies Maßnahmen "in Form von I. spezifischer Wärmeeinsparung durch WärmelÜckgewinnung oder Wärmedämmung, 2. spezifische Einsparung von elektrischem Strom durch Verwendung von Stromeinspartechniken oder Ersatz von elektrischem Strom im Bereich der Wärmebereitstellung durch Techniken mit geringerem Primärenergiebedarf, 3. Anlagen zur Kraft-Wärme-Kopplung, 4. Techniken zur Nutzung von erneuerbaren En~rgieträgern oder Energiequellen, 5. umweltfreundliche Kohletechnologien oder 6. Stromerzeugung auf der Basis regenerativer Energiequellen. "

Teil 3: Der legislative Ausstieg

390

3. Energieversorgung und gesamtwirtschaftliche Folgen Gestützt wird dieses Ergebnis auch durch eine Betrachtung der Ausstiegsfolgen für die Sicherheit der Energieversorgung. Wie im 1. Teil ausführlich dargelegt wurde, ist diese nur im Falle eines sofortigen Ausstiegs gefährdet, nicht jedoch bei einem mittel- bis langfristigen Verzicht,41 Hier bestünde genügend Zeit, durch eine Neuorientierung in der Energiepolitik den sukzessiven Ausfall der Kernkraftwerke durch Energieeinsparungen und Erschließung anderer Energiequellen zu kompensieren. Auch die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen (insbesondere Kostensteigerungen und Arbeitsplatzverluste in stromintensiven Wirtschaftszweigen) können durch staatliche Förderung und Erschließung umweltverträglicher Energiequellen aufgefangen oder zumindest abgefedert werden. Im übrigen müssen hier auch die volkswirtschaftlichen Nachteile der Kernenergienutzung - insbesondere die hohen Entsorgungskosten und die möglichen Schäden aufgrund eines ReaktorunfallS"8 - in Rechnung gestellt werden. Bisher hat sich noch jede Kostenprognose im Zusammenhang mit der Kernenergienutzung später als haltlos erwiesen. Zwar kann der volkswirtschaftliche Nutzen einer bestimmten Technologie durchaus die Zulassung begrenzter Gefährdungen rechtfertigen. Jedoch ist eine Korrektur erforderlich, wenn sich angenommene wirtschaftliche Vorteile als hinfällig oder irrig erweisen. 49 Tendenziell ist hierzu festzustellen, daß die Folgen des Ausstiegs umso eher bewältigt werden können, je mehr Zeit der Energiewirtschaft belassen wird, sich an eine Neuorientierung in der Energiepolitik anzupassen. 50 4. Betreibergrundrechte Schließlich muß der Ausstieg aber noch an den Grundrechten der Kemkraftwerksbetreiber gemessen werden, sofern diese überhaupt grundrechtsfähig sind. Dies ist, wie bereits gezeigt wurde, nur für eine Minderheit der AnIagenbetreiber der FalPI

47 48

S.o., § 3 A. S.o., § 3 C.

Sleinberg, Schadensvorsorge, S. 104. Vgl. auch den Beschluß der Hauptversammlung der HEW-AG vom Juni 1992, auf die Kernenergie so zügig zu venichten, "wie dies rechtlich möglich und rur die Gesellschaft wirtschaftlich vertretbar ist." (SZ v. 22. 6. 1992, S. 25). 51 S.o., § 18 B. D. 49

50

§ 20 Der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers

391

a) Art. 12 Abs. 1 GG Soweit die Grundrechtsfähigkeit der Betreiber gegeben ist, berührt der Ausstieg den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG.S2 Fraglich ist allerdings, ob das Verbot der Kernenergienutzung als Regelung der Berufswahl oder nur der Berufsausübung anzusehen ist. Während nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts objektive Berufswahlregelungen nur zum Schutze eines überragend wichtigen Gemeinschaftsgutes vor nachweisbaren oder höchstwahrscheinlichen Gefahren verfassungsrechtlich gerechtfertigt sind, werden Berufsausübungsregelungen bereits durch vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls legitimiert. S3 Allerdings unterliegen auch Berufsausübungsregelungen strengeren Anforderungen und erfordern die Rechtfertigung des Eingriffs durch besonders wichtige Interessen der Allgemeinheit, wenn sie objektiven Zulassungsvoraussetzungen nahe kommen. S4 Die Abgrenzung zwischen Berufswahl- und Berufsausübungsregelungen wirft jedoch Schwierigkeiten auf. Sie hängt in erster Linie vom Verständnis des Berufsbegriffs ab. Je genauer hier zwischen einzelnen Tätigkeiten differenziert wird, umso höher sind nach der Dreistufenlehre die Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Hoheitsakten mit berufsregelnder Tendenz. Zu warnen ist daher vor der Neigung, jede Spielart beruflicher Tätigkeit sogleich als eigenständigen Beruf zu qualifizieren. Dies würde in vielen Fällen zu einem Regelungsverbot für den Gesetzgeber führen, weil er die hohe Hürde für Berufswahlregelungen nicht überwinden kann, obwohl der Eingriff in der Realität keine gravierenden Belastungen zur Folge hat. Das weite Schutzbereichsverständnis, wonach Art. 12 Abs. 1 GG nicht nur Tätigkeiten im Rahmen der allgemein anerkannten Berufsbilder, sondern auch untypische berufliche Tätigkeiten schützt, wird auf diese Weise durch die Stufentheorie als "Ergebnis strikter Anwendung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit bei den vom Gemeinwohl her gebotenen Eingriffen in die Berufsfreiheit"SS kompensiert. Bei der Abgrenzung von Regelungen der Berufswahl und solchen der Berufsausübung kann daher auf einen gewissen Typisierungsgrad, der sich bei natürlicher Betrachtungsweise an der allgemeinen Verkehrsauffassung orientiert, nicht verzichtet werden. S6 Eine BerufsausübungsS2

S.o., § 18 A. I.

St. Rspr. seit BVerfUE 7, 377 [408 f.] - Apothekenurteil; vgl. ferner BVertUE 13, 97 [104]; 25, 1 [12]; 59, 302 [315 f.]; 63, 266 [286]. Eine subjektive Berufswahlregelung kommt für den Ausstieg aus der Kernenergie nicht in Betracht, da der Betrieb von Kernkraftwerken hierbei nicht von persönlichen Eigenschaften, Fähigkeiten oder Leistungen des AnIagenbetreibers abhängig gemacht, sondern vollkommen untersagt werden soll. S4 BVertUE 11, 30 [43 f.] - Kassenarzt. ss BVertUE 13, 97 [104]. S3

S6

BVertUE 16, 147 [163 f.]; v.Münch/Kunig-Gubelt, Art. 12 Rn. 12.

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Teil 3: Der legislative Ausstieg

regelung liegt danach dann vor, wenn der Eingriff nicht einen selbständigen Beruf, sondern lediglich Tätigkeiten betrifft, die nur als Bestandteil einer umfassenderen oder als Erweiterung eines anderen Berufes ausgeübt werden und deren Regelung die eigentliche Berufstätigkeit als Grundlage der Lebensführung unberührt läßt. 57 Für die Qualifizierung des Betriebs von Kernkraftwerken zu Stromerzeugung als eigenen Beruf ließe sich anführen, daß es sich bei den Betreibern in der Regel um rechtlich selbständige juristische Personen des Privatrechts handelt, die keine anderen Energieerzeugungsanlagen betreiben. Auch können die Kernkraftwerke nicht beliebig auf andere Energieträger umgerüstet werden, sondern sind zumindest nach der nuklearen Inbetriebnahme nur noch als Kernkraftwerke nutzbar. Auf der anderen Seite würde aber eine solche isolierte Betrachtungsweise der Tätigkeit der Kernkraftwerksbetreiber weder der allgemeinen Verkehrsauffassung noch der Realität gerecht. Sämtliche Betreibergesellschaften werden von Energieversorgungsunternehmen beherrscht58 ; es bestehen zudem enge personelle Verflechtungen. Ihre rechtliche Selbständigkeit hat in erster Linie betriebs wirtschaftliche sowie gesellschafts- und steuerrechtliche Gründe. Allein darauf kann wmit nicht abgestellt werden. Auch bei den Bemühungen um die Herstellung eines Energiekonsenses sind Ansprechpartner und Wortführer nicht die einzelnen Betreibergesellschaften, sondern die hinter ihnen stehenden Energieversorgungsunternehmen. 59 Zu Recht werden die Kernkraftwerksbetreiber daher mit den Energieversorgungsunternehmen identifiziert.

Der Betrieb von Kernkraftwerken ist damit kein eigenständiger Beruf, sondern ebenso wie beispielsweise der Betrieb von Steinkohle- oder Braunkohlekraftwerken zur Stromerzeugung nur eine Modalität, ein spezialisierter Zweig der beruflichen Tätigkeit des Kraftwerksbetreibers bzw. Stromerzeugers. (jQ Damit stellt das gesetzliche Verbot des Betriebs von Kernkraftwerken auch keine Regelung der Berufswahl, sondern nur der Berufsausübung dar. Der Ausstieg kann also durch vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden. Für das Gewicht der Berufsfreiheit juristischer Personen im Rahmen der Güterabwägung kommt es nach dem Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts entscheidend auf die Unternehmensstruktur an. Zwar ist die 57 58

BVerfGE 75,246 [274]; 68, 272 [281 m.w.N.]. Vgl. § 18 B. D. und Anhang B.

Vgl. zuletzt den Vorstoß der RWE-AG und der VEBA-AG im Dezember 1992. Desgl. Gubel1, Elektrizitätswirtschaft, S. 41 f., und v.MUnch/Kunig-Gubelt, Art. 12 Rn. 12, für den Betrieb von Heizölkraftwerken. 59 (jQ

§ 20 Der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers

393

Unternehmensfreiheit nicht auf kleinere oder mittlere Unternehmen beschränkt, sondern schützt grundsätzlich auch Großunternehmen und Konzerne. Bei diesen geht jedoch der personale Grundzug des Grundrechts nahezu gänzlich verloren. Dies ist für den Umfang der Regelungsbefugnis des Gesetzgebers von erheblicher Bedeutung. 61 Außerdem müssen die über das Unternehmen hinausreichenden Auswirkungen der Freiheit in die Überlegungen einbezogen werden, so daß danach zu fragen ist, wie weit die Freiheit in einem sozialen Bezug und in einer sozialen Funktion steht. 62 Auch bei den rein privaten und damit grundrechtsfahigen63 Kernkraftwerksbetreibern (Preussen-Elektra als 100 %-ige Tochtergesellschaft der VEBA-AG) tritt der personale Bezug stark in den Hintergrund. Die seit 1987 privatisierte, zuvor vom Bund beherrschte VEBA-AG befindet sich in der Hand von ca. 543.000 Aktionären. 64 Hinzu kommt, daß die Tätigkeit der Kernkraftwerksbetreiber von vornherein unter dem Vorbehalt neuer Risikobewertungen stand, weil sich die hiermit verbundenen Gefahren für Grundrechte Dritter und sonstige Schutzgüter gesicherter Beurteilung entziehen. Hieraus ist die immanente Pflichtigkeit der Betreiber abzuleiten, sich neuen Erkenntnissen im Zusammenhang mit den Gefahren und Risiken der Kernenergienutzung fortlaufend anzupassen und unterzuordnen. 65 "Bewegt sich der Betreiber in Bereichen, deren Risikorelevanz letztlich nicht gesichert beurteilt werden kann, so begründet dies immanente gesteigerte Verantwortlichkeit. "66 Mit dem Schutz von Umwelt und Bevölkerung vor den Gefahren und Risiken der Kernenergie verfolgt der Gesetzgeber ohne Zweifel gewichtige Belange des Gemeinwohls. Am Schutz der Volksgesundheit und an der Erhaltung einer menschenwürdigen Umwelt hat die Allgemeinheit ein elementares vitales Interesse. Die Bewahrung dieser Gemeinschafisgüter rechtfertigt daher grundsätzlich Eingriffe in die Berufsfreiheit. 67 Zwar könnte das Übermaßverbot zur Vermeidung unzumutbarer Härten den Erlaß von Übergangsvorschriften gebieten, die die Nutzung neuerer Kernkraftwerke für eine befristete Restlaufzeit ermöglichen. Jedoch befinden sich sämtliche erst in den achtziger Jahren ans Netz gegangenen Kernkraftwerke in der Hand nicht-grundrechtsfahiger Betreiber. Die einzigen beiden rein privaten Anlagen Würgassen und

61 62

63

64 65 66

67

BVerfGE 50, 290 [363 f.). BVerfGE 50, 290 [365). S.o., § 18 B. ß. 7. VgI. Anhang B, Nr. 23. Degenhan, Kernenergierecht, S. 185. Degenhan, Kernenergierecht, S. 187. BVerwGE 62, 224 [230).

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Teil 3: Der legislative Ausstieg

Unterweser haben ihren Betrieb bereits 1971 bzw. 1978 aufgenommen68 und haben sich längst amortisiert. 69 Somit stehen Grundrechte der Betreiber aus Art. 12 Abs. 1 GG einem gesetzlichen Ausstieg aus der Kernenergie nicht entgegen. b) Art. 14 Abs. 1 GG Fraglich ist ferner, ob der Ausstieg aus der Kernenergie mit der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG zu vereinbaren ist. Dazu bedarf es zunächst der Klärung, ob der gesetzlich angeordnete Verzicht auf die Kernenergienutzung eigentumsbindenden (Art. 14 Abs. 1 S.2 GG) oder enteignenden (Art. 14 Abs. 3 GG) Charakter hat. Denn beide in Betracht kommenden eigentumsrechtlichen Regelungen sind nach der Verfassung unterschiedlichen Rechtfertigungsanforderungen unterworfen. Spätestens seit der Kleingarten-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist klargestellt, daß die Enteignung keine Steigerung der Eigentumsbindung, sondern ein aliud ist. 70 Während Inhalts- und Schrankenbestimmungen i.S.d. Art. 14 Abs. 1 S.2 GG in genereller und abstrakter Weise die Rechte und Pflichten des Eigentümers festlegen, ist die Enteignung dadurch gekennzeichnet, daß eine durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte konkrete subjektive Rechtsposition durch staatlichen Zugriff zum Zwecke der Indienstnahme der entzogenen Position für die Erfüllung von Gemeinwohlaufgaben ganz oder teilweise entzogen wird. 71 Eine Enteignung setzt damit vor allem den Entzug einer eigentumsrechtlich verfestigten Position voraus. n Darüber hinaus ist entgegen einer verbreiteten Auffassung73 für die Annahme einer Enteignung zu fordern, daß das Recht oder Rechtssubstrat nicht schlichtweg aufgehoben, sondern im Wege der Güterbeschaffung auf einen anderen Rechtsträger übertragen wird. 74 Die Enteignung im Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG ist von ihrer 68

S. Anhang A und B.

69

Zum allgemeinen rechtsstaatlichen Vertrauensschutz s.u., § 20 C.

n.

5.

BVerfGE 52, 1 [27 f.]; vgl. ferner BVerfGE 58, 137 [145] - Pflichtexemplar; 58, 300 [320, 331] - Naßauskiesung; BVerwGE 84, 361 [367]. 70

71 BVerfGE 52, 1 [27]; 58, 300 [330 f.]; 66, 248 [257]; 70, 191 [199 f.]; 72, 66 [76]; 74, 264 [280]; BVerwGE 84, 361 [366 f.]; Ehlers, VVDStRL 51 (1992),236. 72 So bereits ausdrucklich BVerfGE 24, 367 [394] - Hamburger Deichordnung; ebenso Maurer, Eigentumsgarantie, S. 303 f. 73 BVerfGE 83, 201 [211]; Ehlers, VVDStRL 51 (1992), 236 bei und in Fn. 133; Schoch, Jura 1989, 119. 74 Wie hier AllK-Rittstieg, Art. 14/15 Rn. 185 - 189; OSlerloh, DVBl. 1991,911; Rinslieg, NJW 1982, 724; Soell, Flächensicherung, S. 979; ders., Schutzgebiete, S. 146 bei Anm. 53; ders., NuR 1993, 303; offen v.Münch/Kunig-Bryde, Art. 14 Rn. 58.

§ 20 Der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers

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Funktion her nur dazu bestimmt, die entzogene Rechtsposition einer gemeinwohlorientierten Nutzung durch den Staat oder ausnahmsweise durch einen Dritten zuzuführen. Präventivpolizeiliche oder strafrechtliche Einziehungen von Sachen sind daher beispielsweise keine nach Art. 14 Abs. 3 S. 2 und 3 GG entschädigungspflichtigen Enteignungen. Auch die generelle gesetzliche Umgestaltung oder Aufhebung subjektiver Rechtspositionen, die aufgrund früher geltenden Rechts erworben worden sind, erweist sich damit als Inhaltsund Schrankenbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG, die freilich ihrerseits verhältnismäßig sein muß und somit insbesondere Übergangsregelungen oder Anpassungshilfen erfordern kann. 15 Hiervon ausgehend, stellt sich der legislative Ausstieg aus der Kernenergie nicht als vollständige oder teilweise Entziehung konkreter subjektiver Eigentumspositionen i.S.d. Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG dar, sondern erlegt den Anlagenbetreibern im Zuge der Neugestaltung des Atomrechts in genereller und abstrakter Weise bestimmte Pflichten auf. Für eine Enteignung fehlt es an der Übertragung eines durch Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG geschützten Rechtssubstrats im Sinne einer Güterbeschaffung zur Indienstnahme der entzogenen Position für die Erfüllung von Gemeinwohlaufgaben. 16 Der Ausstieg ist damit als Eigentumsbindung für die grundrechtsfähigen Kemkraftwerksbetreiber an Art. 14 Abs. 1 und 2 GG zu messen. 11 Als Inhalts- und Schrankenbestimmung i.S.d. Art. 14 Abs. 1 S.2 GG berührt der Ausstieg insofern den Schutzbereich des Eigentums, als den Betreibern hierdurch eine wesentliche und bereits ausgeübte Nutzungsmöglichkeit ihres Eigentums untersagt wird. 18 15 Ebenso AltK-Rittstieg, Art. 14/15 Rn. 185; Maurer, Eigentumsgarantie, S. 307 f. Auch das Bundesverfassungsgericht hält in einem solchen Fall trotz ausdrilcklicher Verneinung der Güterbeschaffung als notwendiges Enteignungsmerkmal Art. 14 Abs. 3 GG nicht fiir "unmittelbar anwendbar, wenn der Gesetzgeber im Zuge der generellen Neugestaltung eines Rechtsgebiets bestehende Rechte abschaffi, fiir die es im neuen Recht keine Entsprechung gibt" (BVertGE 83, 201 [211 f.]). Jedoch müsse, so das Bundesverfassungsgericht weiter, selbst wenn Art. 14 Abs. 3 GG nicht unmittelbar eingreife, "das darin zum Ausdruck kommende Gewicht des Eigentumsschutzes bei der vorzunehmenden Abwägung" beachtet werden, "da sich der Eingriff fiir den Betroffenen wie eine (feil- oder Voll-)Enteignung auswirkt. Der Gesetzgeber muß danach die Umgestaltung oder Beseitigung eines Rechts zwar nicht durchweg mit einer Entschädigungs- oder Ubergangsregelung abmildern. Die völlige, übergangs- und ersatzlose Beseitigung einer Rechtsposition kann jedoch nur unter besonderen Voraussetzungen in Betracht kommen" (BVertGE 83, 201 [212 f.]). 16 Unzutreffend insoweit daher der Entwurf des 'Kernenergieabwicklungsgesetzes' , der den vom Ausstieg betroffenen Kernkraftwerksbetreibern nach § 18 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 7 Abs. 1 Nr. 1 - 3 einen Anspruch auf Entschädigung zubilligt, weil es sich hierbei "grundsätzlich um einen entschädigungsptlichtigen enteignungsgleichen Eingriff", um eine "Gruppenenteignung" handele, die nach Art. 14 Abs. 3 S. 2 und 3 GG zu entschädigen sei. (vgl. BT-Drs. 11113, S. 22 f.). 11 Ebenso Papier, Kernenergienutzung, S. 48 f.; Sante, Ausstieg, S. 107 f.; vgl. ferner die Begrilndung zu § 7 des Entwurfs des' Atomsperrgesetzes' , BT-Drs. 10/1913, S. 20 f. 18 S.o., § 18 A. 11.

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Tei13: Der legislative Ausstieg "Bei Regelungen i.S.d. Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG muß der Gesetzgeber sowohl der grundgesetzlichen Anerkennung des Privateigentums durch Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG als auch dem Sozialgebot des Art. 14 Abs. 2 GG in gleicher Weise Rechnung tragen. Er hat dabei die schutzwürdigen Interessen der Beteiligten in einen gerechten Ausgleich und in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. "19

Auch Eigentumsbindungen unterliegen damit den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips.80 Grundsätzlich ist die Regelungsbefugnis wegen der Sozialbindung des Eigentums nach Art. 14 Abs. 2 GG umso weiter, je mehr das Eigentumsobjekt in einem sozialen Bezug und in einer sozialen Funktion steht. 81 Je weniger ein Eigentümer zu seiner persönlichen Entfaltung des Eigentumsobjekts bedarf und je gefahrlicher dessen Nutzung für die Allgemeinheit ist, desto weitreichender sind die Beschränkungsmöglichkeiten des Gesetzgebers zu Lasten des Eigentümers. Dem Gedanken des Vertrauensschutzes entspricht es, unzumutbare Härten durch schonende Übergangsregelungen aufzufangen. Ob und in welchem Umfang diese erforderlich sind, hängt einerseits von dem Ausmaß des Vertrauensschadens und andererseits von der Bedeutung des gesetzlichen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit ab. 82 Wurden beispielsweise im Vertrauen auf den Fortbestand staatlicher Genehmigungen Investitionen vorgenommen, so schützt Art. 14 Abs. 1 GG vor einer nachträglichen Entwertung der Investitionen durch vorzeitige Untersagung der genehmigten Tätigkeit. Dazu heißt es in der Naßauskiesungs-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts83 : "Es wäre mit dem Gehalt des Grundrechts nicht vereinbar, wenn dem Staat die Befugnis zugebilligt würde, die Fortsetzung von Grundstücksnutzungen, zu deren Aufnahme umfangreiche Investitionen erforderlich waren, abrupt und ohne Überleitung zu unterbinden. Eine solche Regelung würde die geleistete Arbeit und den Einsatz von Kapital von heute auf morgen überflüssig machen. Sie würde das Vertrauen in die Beständigkeit der Rechtsordnung, ohne das eine eigenverantwortliche Lebensgestaltung im vermögensrechtlichen Bereich nicht möglich ist, erschüttern. "

Dies bedeutet allerdings nicht, daß eine ausgeübte Eigentümemutzung nach ihrem Beginn für alle Zukunft uneingeschränkt erhalten bleiben muß. Vielmehr kann der Gesetzgeber ... "... im Rahmen des Art. 14 Abs. I S. 2 GG durch eine angemessene und zumutbare Überleitungsregelung individuelle Rechtspositionen umgestalten, wenn Grunde des Gemeinwohls vorliegen, die den Vorrang vor dem berechtigten - durch die Bestandsga19

BVerfG, NIW 1990, 241 [242].

80 BVerfGE 21,150 [155]; 50, 290 [340 f.]; 58,137 [148]; 70,101 [111]; 75, 78 [97 f.]. 81 BVerfGE 50, 290 [340 f.]; 53, 257 [292]; 58, 137 [147 f.] 70, 191 [201]; 71, 230 [246 f.]; BVerfG, NIW 1990, 241 [242]; BVerwG, BayVBI. 1993,693 [693 f.]; s. bereits oben, § 20 C. I. 82 BVerfGE 70, 101 [114]. 83 BVerfGE 58, 300 [349 m.w.N.].

§ 20 Der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers

397

rantie gesicherten - Vertrauen auf den Fortbestand eines wohlelWorbenen Rechts verdienen .• 84

Im äußersten Fall kann der Gesetzgeber dann, wenn er eine besonders belastende Regelung gleichwohl für unverzichtbar hält, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit durch Zubilligung eines finanziellen Ausgleichs wahren (sog. ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmung). 85 Hierdurch kann die Belastung für die Betroffenen auf ein erträgliches Maß reduziert werden. Allerdings kommt der finanzielle Ausgleich nur als ultima ratio in Betracht; nämlich dann, wenn Befreiungs- und Überleitungsvorschriften für die besonders betroffenen Eigentümer nicht in gleicher Weise den Gemeinwohlerfordernissen genügen. 86 Keineswegs kann der Gesetzgeber auf diesem Wege die Verhältnismäßigkeit von Eigentumseinschränkungen in jedem Fall quasi erkaufen. Im Grundsatz bleibt es dabei, daß Einschränkungen im Rahmen der Sozialbindung von den Eigentümern entschädigungslos hinzunehmen sind. Hieran gemessen, erscheint der Ausstieg aus der Kernenergie ohne Zubilligung eines finanziellen Ausgleichs als Ausdruck der Sozialbindung angemessen und damit verhältnismäßig im engeren Sinne. 1f7 Der Schutz der Bevölkerung und der Umwelt vor den Gefahren der Kernenergienutzung ist ein besonders dringliches Gemeinwohlinteresse. Bei der Reform eines Rechtsgebiets kann der Gesetzgeber auch in bestehende Rechte eingreifen, soweit dies dem Wohl der Allgemeinheit dient und das Übermaßverbot beachtet wird. 88 Die Gemeinwohlbindung des Eigentums durch Art. 14 Abs. 2 GG verpflichtet den Gesetzgeber auch zur Schaffung einer ökologisch angemessenen Eigentumsordnung. Dies stellen die neuen Verfassungen der Länder Sachsen und Sachsen-Anhalt ausdrücklich klar, indem sie die Sozialpflichtigkeit des Eigentums dahingehend konkretisieren, daß sein Gebrauch "insbesondere die natürlichen Lebensgrundlagen schonen"89 bzw. "dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen dienen"90 soll. Eine Eigentumsnutzung, die diese Grundlagen ge84

BVerfGE 58,300 [351 m.w.N.].

85 BVerfGE 58, 137 [149 ff.]; 79, 174 [192]; BVelWGE 84, 361 [367 f.]; BVelWG,

BayVBJ. 1993, 693 [694]; BGH, NIW 1990, 898 [899]; BGHZ 110, 12 [16]; BK-Kimminich, Art. 14 Rn. 200 ff.; Ehlers, VVDStRL 51 (1992),232; Heinz/Schmin, NVwZ 1992, 513 ff. (insbes. 516 - 518); Maurer, Eigentumsgarantie, S. 310 ff.; tIers., Allgemeines VelWaltungsrecht, § 26 Rn. 67 f.; Soell, Schutzgebiete, S. 150; tIers., NuR 1993, 304. 86 Ehlers, VVDStRL 51 (1992),233; Maurer, Eigentumsgarantie, S. 311 ff. lf7 Ebenso die Begründung zum Entwurf des 'Atomsperrgesetzes' (BT-Drs. 10/1913, S. 20 f.); a.A. Sante, Ausstieg, S. 112 - 115, unter Vemeinung einer den Ausstieg rechtfertigenden Gefahrenlage.

88 BVerfGE 31,275 [285]; 36, 281 [293]; 42, 263 [294]. 89 Art. 31 Abs. 2 S. 2 Sächs.Verf. 90 Art: 18 Abs. 2 S. 2 Verf.Sachs.Anh.

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Teil 3: Der legislative Ausstieg

fährdet und somit die soziale und ökologische Funktion des Eigentumsobjekts mißachtet, kann sich gegenüber den damit kollidierenden Verfassungsgütern im Ergebnis nicht durchsetzen. Das grundgesetzliche Gebot einer am Gemeinwohl orientierten Nutzung umfaßt auch das Gebot der Rücksichtnahme auf den Nichteigentümer. 91 Wie schon zu Art. 12 Abs. 1 GG ausgeführt, können die Kernkraftwerksbetreiber wegen der Entwicldungsoffenheit der Erkenntnisse auf dem Gebiet des Kernenergiewesens nur einen begrenzten Vertrauensschutz in Anspruch nehmen. 92 Angesichts des besonderen Gefahrenpotentials bei der Kernenergienutzung für die jetzige und für zukünftige Generationen erweist sich der gesetzliche Ausstieg als Konkretisierung der Sozialbindung des Eigentums, die von den Kernkraftwerksbetreibern grundsätzlich hinzunehmen ist. Hinzu kommt, daß die Atomwirtschaft nicht zuletzt wegen des Förderungsprinzips des § 1 Nr. 1 AtomG in erheblichem Umfang staatlich unterstützt wurde. 93 Die Sozialpflichtigkeit des Eigentümers ist aber umso höher, je stärker der Eigentümer vom Staat subventioniert wird. 94 Schließlich befinden sich ohnehin nur solche Kernkraftwerke in der Hand grundrechtsfähiger Betreiber, die bereits in den siebziger Jahren ans Netz gegangen sind. 95 Deren Nutzung gegebenenfalls auch kurzfristig ohne Zubilligung eines finanziellen Ausgleichs zu untersagen, ist angesichts ihrer langen Nutzungsdauer nicht unverhältnismäßig. Denn je länger die Ausnutzung einer Genehmigung reicht, umso schwächer wirkt ihr Schutz gegen staatlichen, insbesondere gesetzgeberischen Zugriff. 96 Aus Gründen des grundrechtlichen Eigentumsschutzes sind daher Überleitungsund Entschädigungsvorschriften beim gesetzlichen Ausstieg aus der Kernenergie nicht geboten. 97 c) Art. 3 Abs. 1 GG

Zu prüfen bleibt schließlich, ob der Ausstieg aus der Kernenergie mit dem Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG zu vereinbaren ist. Immerhin gehen auch von anderen Arten der Energieerzeugung - insbesondere beim Einsatz fossiler Brennstoffe - Gefahren für die Schutzgüter Umwelt, Leben und körperliche BVerfGE 50,290 [341]; 70, 191 [201]. S.o., § 20 C. ß. 4. a). Ebenso Schneider, Verantwortung, S. 161 f.; Steinberg, Schadensvorsorge, S. 100 C.; Stettner, BayVBI. 1991,554. 93 S.o., § 18 B. ß. 4. 94 BVerfGE 21,150 [158 C.]; Ehlers, VVDStRL 51 (1992),232. 95 Würgassen und Untetweser, s. Anhang A und B. 96 Stettner, BayVBI. 1991, 557. 97 Insofern begegnen die Regelungen in den §§ 1, 2 Abs. 1 und 7 des 'Atomsperrgesetzes' keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. 91

92

§ 20 Der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers

399

Unversehrtheit aus, so daß sich die Frage stellt, ob der Verzicht allein auf die Kernenergie sachlich gerechtfertigt ist. Die Gefahren der Kernenergienutzung und der Stromgewinnung mittels fossiler Brennstoffe sind allerdings nur begrenzt miteinander vergleichbar. Unfalle mit Auswirkungen in der Größenordnung etwa der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl sind bei herkömmlichen Kraftwerken nicht möglich. Auch fallen hier keine mit radioaktiven Abfallen vergleichbaren Rückstände an, die für Tausende von Jahren von der Biosphäre ferngehalten werden müssen. Sieht sich der Gesetzgeber aus diesen Gründen primär zu einem Verzicht auf die Kernenergie veranlaßt, erscheint dies deshalb im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative nicht willkürlich. Gleichwohl ist auch die Nutzung fossiler Brennstoffe zur Stromerzeugung in erheblichem Maße umweltgefährdend. Verknüpft jedoch der Gesetzgeber den Ausstieg aus der Kernenergie mit zusätzlichen erfolgversprechenden Bemühungen zur Minimierung des Schadstoffaustoßes beim Einsatz fossiler Energieträger, so kann dem einseitigen Verzicht auf die Kernenergienutzung nicht der Einwand der Willkür entgegengehalten werden. Somit hat der Ausstieg auch vor Art. 3 Abs. 1 GG Bestand, wenn er etwa durch staatliche Förderung umweltverträglicherer Energiequellen (insbesondere nachwachsende Rohstoffe) und durch Ausschöpfung des Energieeinsparungspotentials begleitet wird. 5. Rechtsstaatlicher Vertrauensschutz Grundsätzlich können die Betreiber von Kernkraftwerken aber rechtsstaatlichen Vertrauensschutz in Anspruch nehmen, soweit sie im Vertrauen auf den Fortbestand des AtomG Dispositionen getroffen haben und dieses Vertrauen schutzwürdig erscheint. Vertrauensschutz kommt für die bereits errichteten und in Betrieb befindlichen Anlagen insoweit in Betracht, als die Anlagengenehmigungen nach § 17 Abs. 1 S.4 i.V.m. § 7 AtomG unbefristet erteilt wurden. und diese daher durch einen gesetzlichen Ausstieg vorzeitig entwertet werden. Allerdings kann sich der Gesetzgeber über diesen Vertrauenstatbestand im Wege der Güterabwägung hinwegsetzen, wenn er das Gemeinwohlinteresse am Schutz vor den Gefahren und Risiken der Kernenergienutzung höher bewertet als das Interesse der Kemkraftwerksbetreiber am Fortbestand des geltenden Rechts oder wenn er praktische Konkordanz durch Übergangsregelungen, Härteklauseln oder finanzielle Ausgleichsmaßnahmen in Form von Anpassungs- oder Umstellungshilfen herstellt. Auf Vertrauensschutz kann sich allerdings nur berufen, wer bereits Dispositionen getätigt hat. Im Hinblick auf künftige, erst noch zu errichtende Anla-

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Teil 3: Der legislative Ausstieg

gen ist daher auch ein sofortiger Ausstieg aus der Kernenergienutzung unter dem Aspekt des Vertrauensschutzes verfassungsrechtlich unbedenklich, da insoweit keine schutzwürdige Rechtsposition der Betreiber besteht. Aber auch für die bereits in Betrieb befindlichen Anlagen kann keine volle Kompensation der Einbuße durch den vorzeitigen Ausstieg verlangt werden. Schutzmindernd fallt zum einen die erhebliche Förderung der Kernenergiewirtschaft durch den Staat ins Gewicht, so daß die Vermögensposition der Betreiber nur teilweise auf eigener wirtschaftlicher Leistung beruht. Außerdem handelt es sich bei der Mehrzahl der Kernkraftwerksbetreiber um gemischtwirtschaftliche, staatlich beherrschte Unternehmen, von denen im Vergleich zu rein privaten Unternehmen eine gesteigerte Rücksichtnahme auf öffentliche Interessen erwartet werden darf. Zudem ist das Alter der betroffenen Anlagen zu berücksichtigen. Soweit sich diese infolge ihres Betriebs bereits amortisiert haben, was jedenfalls für die meisten der in den siebziger Jahren oder früher ans Netz gegangenen Anlagen der Fall sein dürfte, scheidet ein Vertrauensschutz von vornherein aus, da der Staat nicht verpflichtet ist, für die Hoffnung auf zukünftigen Gewinn einen Ausgleich zu gewähren. Insoweit läßt auch die Verbürgungswirkung des mittlerweile seit über dreißig Jahren geltenden AtomG immer mehr nach. Soweit danach für neuere Anlagen, die sich noch nicht amortisiert haben, Vertrauensschutz in Rechnung zu stellen ist, verbleibt dem Gesetzgeber ein breiter Gestaltungsspielraum zur Herstellung praktischer Konkordanz. Zu denken ist in erster Linie an Übergangsvorschriften, wonach die betroffenen Anlagen etwa noch so lange betrieben werden können, bis sie sich amortisiert haben. Ferner kommt u. U. ein finanzieller Ausgleich in Betracht, wenn der Gesetzgeber aus Sicherheitsgründen gleichwohl eine vorzeitige Beendigung der Nutzung für erforderlich hält. Dieser Ausgleich kann auch in Form zweckgebundener Anpassungs- und Überleitungshilfen etwa zur Umstellung auf umweltfreundlichere Energieerzeugung98 gewährt werden. Hierdurch würde dem Schutz von Mensch und Umwelt als gesetzgeberischem Ziel des Ausstiegs in besonderer Weise Rechnung getragen. D. Zusammenfassung

Nach alldem kann zusammenfassend festgehalten werden, daß der gesetzlich angeordnete Ausstieg aus der Kernenergie dann verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist, wenn die Kernkraftwerke sukzessive unter Berücksichtigung ihres Alters, ihres Sicherheitsstandards und ihrer Ersetzbarkeit im Versorgungsge98 Vgl. etwa die Regelung in § 18 Abs. I S. 9 und Anlage 4 des Kemenergieabwicldungsgesetzes (s.o., Fn. 46).

§ 20 Der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers

401

biet vom Netz genommen werden und wenn dieser Schritt mit gesetzlichen Maßgaben zur Erforschung, Förderung und Ausschöpfung des Potentials Ußlweltverträglicher Energieträger, der CO2-Rückhaltung und der Einsparungsmöglichkeiten einhergeht.

26 Borgmann

§ 21 Internationale Verpflichtungen

Abschließend soll untersucht werden, ob und gegebenenfalls inwieweit völkervertragsrechtliche Regelungen, denen sich die Bundesrepublik unterworfen hat, einem nationalen Ausstieg aus der Kernenergie entgegenstehen können. Dabei sind zwei Fragenkreise auseinanderzuhalten: Zum einen könnte ein Ausstieg der Bundesrepublik aus der Kernenergienutzung mit dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) kollidieren (A.). Zum zweiten ist zu prüfen, ob durch einen nationalen Ausstieg auch der Import von Atomstrom aus anderen EG-Mitgliedsstaaten verhindert werden kann (B.). A. Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft

Die Bundesrepublik Deutschland ist Gründungsmitglied und Vertragspartei der EURATOM nach dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft vom 25. 3. 1957. 1 Ziele und Aufgaben der EURATOM sind in der Präambel des Vertrags und in seinem Art. 1 und 2 umrissen. Die Vertragsbestimmungen binden teilweise nur die Mitgliedsstaaten, teilweise gelten sie unmittelbar für die natürlichen und juristischen Personen in den Mitgliedsstaaten. Rat und Kommission können gern. Art. 161 EURATOM-Vertrag Verordnungen erlassen, die unmittelbar in den Mitgliedsstaaten gelten; sie können an die Mitgliedsstaaten verbindliche Richtlinien richten, verbindliche Entscheidungen treffen sowie schließlich unverbindliche Empfehlungen und Stellungnahmen abgeben. Der Vertrag bezieht sich allerdings nur auf die primäre Kernenergie, nicht auf die elektrische Energie, die mit ihrer Hilfe sekundär erzeugt wird. 2 In der Literatur wird ein nationaler Verzicht eines Mitgliedsstaates auf die Kernenergie vereinzelt für "kaum vereinbar"3 bzw. unvereinbar' mit dem EURATOM-Vertrag gehalten. Sante nimmt zwar keinen Verstoß gegen ausSiehe hielZU das Gesetz zu den Verträgen zur Grundung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft (BGBI. 1957 n, S. 753, 1014, 1678). 2

4

H.P. lpsen, Gemeinschaftsrecht, S. 904. Michaelis, Ausstieg, S. 247. Sante, Ausstieg, S. 116 ff.

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drückliche Vertragsbestimmungen, insbesondere Art. 1 Abs.2 EURATOMVertrag, an, hält aber gleichwohl einen Verstoß gegen den Sinn und Zweck des Vertrags für gegeben. Der Vertrag enthalte implizit eine Verpflichtung der Mitgliedsstaaten zur wirtschaftlichen Betätigung auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Dies lasse sich auch aus seiner Entstehungsgeschichte ableiten. Der Auf- und Ausbau einer europäischen Kernenergiewirtschaft sei angesichts der Folgewirkungen des Krieges zur Sicherung eines stabilen wirtschaftlichen Wachstums und damit einer sozial abgesicherten gesellschaftlichen Entwicklung als politisch und wirtschaftlich zwingende Notwendigkeit angesehen worden. Ein Ausstieg der Bundesrepublik würde nicht nur einen Grundpfeiler des europäischen Einigungswerkes in Frage stellen, sondern in seiner Partikularität gleichzeitig einen schwerwiegenden Glaubwürdigkeitsverlust der Bundesrepublik innerhalb des auf Dauer angelegten Einigungsprozesses zur Folge haben. 5 Ohne Zweifel ist das Ziel der Atomgemeinschaft eine koordinierte Industriepolitik im Bereich der Kernenergienutzung. 6 Hierzu mag die Stromerzeugung in Kernkraftwerken in den einzelnen Vertragsstaaten auch durchaus erwünscht sein. Ob die Vertragsparteien allerdings zum Betrieb von Kernkraftwerken auch verpflichtet sind, erscheint jedoch zweifelhaft. Wäre dies der Fall, würden gegenwärtig sechs Mitgliedsstaaten den EURATOM-Vertrag verletzen, da auf ihrem Staatsgebiet keine Kernkraftwerke betrieben werden. Es handelt sich dabei um Dänemark, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg und Portugal. Da dem EURATOM-Vertrag jedenfalls keine ausdrückliche Verpflichtung zur Kernenergienutzung zu entnehmen ist, ist zu prüfen, ob sich eine solche Pflicht aus den Zielen des Vertrags ableiten läßt. Denn nach dem in Art. 192 EURATOM-Vertrag verankerten Prinzip der Gemeinschaftstreue sind die Mitgliedsstaaten verpflichtet, -

alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen zu treffen, die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben,

-

der Gemeinschaft die Erfüllung ihrer Aufgabe zu erleichtern,

-

alle Maßnahmen zu unterlassen, welche die Verwirklichung der Ziele dieses Vertrags gefährden könnten.

Auf die Präambel des EURATOM-Vertrages kann die Annahme zur Pflicht der Mitgliedsstaaten, auf ihrem Territorium Kernkraftwerke zu betreiben, nicht gestützt werden. Zwar ist hier einerseits die Rede von dem "Bewußtsein, daß die Kernenergie eine unentbehrliche Hilfsquelle für die Entwicklung Sante, Ausstieg, S. 119 f. So auch H.P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 907.

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Teil 3: Der legislative Ausstieg

und Belebung der Wirtschaft und für den friedlichen Fortschritt darstellt", von der "Überzeugung, daß nur ein gemeinsames Vorgehen, ohne Verzug unternommen, Aussicht bietet, die Leistungen zu verwirklichen, die der schöpferischen Kraft ihrer Länder entsprechen" und von der Entschlossenheit, "die Voraussetzungen für die Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie zu schaffen, welche die Energieerzeugung erweitert, die Technik modernisiert und auf zahlreichen anderen Gebieten zum Wohlstand ihrer Völker beiträgt." Andererseits betont die Präambel aber auch das "Bestreben, die Sicherheiten zu schaffen, die erforderlich sind, um alle Gefahren für das Leben und die Gesundheit ihrer Völker auszuschließen. "7 Die Aufgaben der Atomgemeinschaft sind im Ersten und Zweiten Titel des Vertrages näher geregelt. Nach Art. 1 Abs.2 ist es Aufgabe der Atomgemeinschaft, "durch die Schaffung der für die schnelle Bildung und Entwicklung von Kernindustrien erforderlichen Voraussetzungen zur Hebung der Lebenshaltung in den Mitgliedsstaaten und zur Entwicklung der Beziehungen mit den anderen Ländern beizutragen. " Hierzu hat die Gemeinschaft -

die Forschung zu entwickeln und die Verbreitung der technischen Kenntnisse sicherzustellen (Art. 2 a), 4 - 19),

-

einheitliche Sicherheitsnormen für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung und der Arbeitskräfte aufzustellen und für ihre Anwendung zu sorgen (Art. 2 b), 30 - 39),

-

die Investitionen zu erleichtern und, insbesonders durch Förderung der Initiative der Unternehmen, die Schaffung der wesentlichen Anlagen sicherzustellen, die für die Entwicklung der Kernenergie in der Gemeinschaft notwendig sind (Art. 2 c), 40 - 51),

-

für regelmäßige und gerechte Versorgung aller Benutzer der Gemeinschaft mit Erzen und Kernbrennstoffen Sorge zu tragen (Art. 2 d), 52 - 76),

-

durch geeignete Überwachung zu gewährleisten, daß die Kernbrennstoffe nicht anderen als den vorgesehenen Zwecken zugeführt werden (Art. 2 e), 77 - 85),

-

das ihr zuerkannte Eigentumsrecht an besonderen spaltbaren Stoffen auszuüben (Art. 2 f), 86 - 91),

-

ausgedehnte Absatzmärkte und den Zugang zu den besten technischen Mitteln sicherzustellen, und zwar durch die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes für die besonderen auf dem Kerngebiet verwendeten Stoffe und Ausrüstungen, durch den freien Kapitalverkehr für Investitionen auf dem 7

Hervorhebungen vom Verfasser.

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Kerngebiet und durch die Freiheit der Beschäftigung für die Fachkräfte innerhalb der Gemeinschaft (Art. 2 g), 92 - 110), zu den anderen Ländern und den zwischenstaatlichen Einrichtungen alle Verbindungen herzustellen, die geeignet sind, den Fortschritt bei der friedlichen Verwendung der Kernenergie zu fördern (Art. 2 h), 101 106). Um die Initiative der Personen und Unternehmen anzuregen und eine abgestimmte Entwicklung ihrer Investitionen auf dem Kerngebiet zu erleichtern, veröffentlicht die Kommission nach Art. 40 EURATOM-Vertrag in regelmäßigen Abständen hinweisende Programme, insbesonders hinsichtlich der Ziele für die Erzeugung von Kernenergie und der im Hinblick hierauf erforderlichen Investitionen aller Art. 8 Sinn und Zweck des Vertrages ist damit die Erleichterung der Kernenergienutzung in den einzelnen Mitgliedsstaaten unter dem Dach der Europäischen Atomgemeinschaft. Eine länderübergreifende gemeinschaftliche Stromerzeugung war nicht beabsichtigt. Die Mitgliedsstaaten waren zur Zeit der Gründung der Atomgemeinschaft hinsichtlich der Energieversorgung weitgehend unabhängig und sind dies auch heute noch. Stromimporte finden nur in geringem Umfang statt. Die Interessengemeinschaft bezieht sich damit nicht auf eine gemeinschaftliche Energieversorgung, sondern vor allem auf gemeinschaftliche Forschung und gegenseitigen Kenntnisaustausch, gemeinschaftliche Versorgung mit Kernbrennstoffen, Ausrüstungen etc. und Gründung eines Gemeinsamen Marktes hierfür sowie einen länderübergreifenden Schutz vor den Gefahren der Kernenergie. Die Atomgemeinschaft verfügt weder über eine allumfassende materielle Zuständigkeit in dem Sinne, daß sämtliche Fragen mit Bezug zur Kernenergienutzung zu ihrem Tätigkeitsbereich zählen würden, noch in dem Sinne, daß alle Zuständigkeiten der Mitgliedsstaaten auf diesem Sachgebiet auf die Gemeinschaft übergegangen wären. 9 Außerdem beschränkt sich die Nutzungsmöglichkeit der Kernenergie nicht allein auf die Elektrizitätserzeugung durch Kernspaltung oder Kernverschmelzung. Bedeutung hat die Kernenergienutzung darüber hinaus auch in anderen Bereichen, insbesondere der Medizin. Bei der Auslegung des EURATOM-Vertrages ist die allgemeine völkerrechtliche Regel für internationale Oganisationen zugrundezulegen, daß Eingriffe in die staatliche Zuständigkeit und Souveränität restriktiv zu handhaben sind. 10 Zwar wird diese Auslegungsregel in gewissem Nachweise zu den bisher veröffentlichten drei Programmen der Kommission bei Grunwald, EuZW 1990, 213. Haedrich in: v.d.Groeben!IhiesinglEhlennann, Handbuch des Europäischen Rechts, Bd. 18, EURATOM, m A 41, S. 12,24 f. 10 Haedrich in: v.d.Groeben!IhiesinglEhlermann, Handbuch des Europäischen Rechts, Bd. 18, EURATOM, m A 41, S. 25.

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Teil 3: Der legislative Ausstieg

Umfang eingeschränkt durch den Grundsatz des "effet utile" , wonach die Vertragsauslegung nicht so restriktiv erfolgen darf, daß sie von den Vertragsparteien gewollte Pflichten oder Beschränkungen der Mitgliedsstaaten aufhebt. So nehmen beispielsweise auch diejenigen Vertragsstaaten am Gemeinsamen Markt teil, in denen selbst keine Kernkraftwerke betrieben werden. Auch muß sich jeder Mitgliedsstaat zweifelsohne den gemeinsamen Schutz- und Überwachungsvorschriften sowie dem Diskriminierungsverbot unterwerfen, wenn er die Kernenergie zur Stromerzeugung nutzt. 11 Eine Pflicht hierzu enthält der Vertrag jedoch nicht. Die Gegenauffassung muß sich auch fragen lassen, wonach das vertraglich geforderte Mindestmaß an Kernenergienutzung zu bestimmen ist, zu der jeder Mitgliedsstaat verpflichtet sein soll. Konsequenterweise müßte danach notfalls der Mitgliedsstaat selbst Kernkraftwerke betreiben, falls sich kein privater Investor findet, der zum Betrieb von Kernkraftwerken bereit wäre, und zwar auch dann, wenn die Energieversorgung anderweitig gesichert ist. Dies kann jedoch kaum Sinn und Zweck des EURATOM-Vertrages sein. Daß dieser Vertrag lediglich Optionscharakter besitzt, läßt sich beispielhaft belegen an der Gemeinschaftsaufgabe, für eine regelmäßige und gerechte Versorgung aller Benutzer der Gemeinschaft mit Erzen und Kernbrennstoffen Sorge zu tragen. 12 Hierzu ermächtigt Art. 70 U.Abs.2 EURATOM-Vertrag die Kommission, Empfehlungen für die Entwicklung der Schürfung und der Erzgewinnung an die Mitgliedsstaaten zu richten. Stellt der Rat, nachdem die Kommission ihn angerufen hat, mit qualifizierter Mehrheit fest, daß die Schürfungsmaßnahmen und die Steigerung der Erzgewinnung in einem Mitgliedsstaat in erheblichem Maße unzureichend bleiben, obwohl Erzeugungsmöglichkeiten wirtschaftlich auf lange Sicht gerechtfertigt erscheinen, so wird nach Art. 70 U.Abs. 4 EURATOM-Vertrag unterstellt, daß der betreffende Mitgliedsstaat, solange er diese Lage nicht behebt, für sich und für seine Staatsangehörigen auf das Recht des gleichen Zugangs zu dem sonstigen Aufkommen innerhalb der Gemeinschaft verzichtet. Die Mitgliedsstaaten sind somit nach dem EURATOM-Vertrag nicht zur Stromerzeugung durch Kernenergienutzung verpflichtet. Die Entscheidung über die Verantwortbarkeit der Kernenergienutzung als solche bleibt vielmehr den Einzelstaaten überlassen. Dies wird auch durch Art. 130s U.Abs.2 3. Spstr. EG-Vertrag in der Fassung des Vertrages über die Europäische Union v. 7. 2. 1992 untermauert, wonach der Rat Umweltmaßnahmen nach Art. 130s U.Abs. 1 LV.m. Art. BOr EG-Vertrag n.F. ausnahmsweise einstimmig zu beschließen hat, wenn diese "die Wahl eines Mitgliedsstaates zwi11 Vgl. beispielsweise Art. 97 EURATOM-Vertrag: Natürliche oder juristische Personen des öffentlichen oder privaten Rechts, die der Gerichtsbarkeit eines Mitgliedsstaates unterstehen, unterliegen keiner Beschränkung auf Grund ihrer Staatsangehörigkeit, wenn sie sich am Bau von Atomanlagen wissenschaftlicher oder gewerblicher Art in der Gemeinschaft beteiligen wollen. 12 Art. 2 d) EURATOM-Vertrag.

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schen verschiedenen Energiequellen und die allgemeine Struktur seiner Energieversorgung erheblich berühren." 13 Daher würde die Bundesrepublik im Falle eines nationalen Ausstiegs auch nicht gegen den EURATOM-Vertrag verstoßen. B. Verhinderung des Imports von Atomstrom?

Ein nationaler Ausstieg aus der Kernenergie bedeutet zunächst einmal die Stillegung sämtlicher inländischer Atomanlagen. Fraglich ist aber, ob der Gesetzgeber darüber hinaus auch verhindern kann, daß Atomstrom aus Drittländern in das inländische Netz eingespeist wird. So ist beispielsweise die Energieversorgung in den kemkraftwerksfreien Ländern Italien und Österreich in bedeutendem Ausmaß von Atomstromimporten aus Frankreich bzw. der Ukraine abhängig. 14 In Frankreich beträgt der Anteil der Kernenergie an der Gesamtstromerzeugung z. Zt. mehr als 70 %. Nicht zuletzt aufgrund erheblicher Subventionierung der staatlichen französischen Elektrizitätswirtschaft beispielsweise durch fehlende Ertragsbesteuerung liegen die Strompreise in Frankreich niedriger als in einigen seiner Nachbarstaaten. Dabei strebt Frankreich eine Erhöhung seiner Stromexporte an, um Überkapazitäten nutzen zu können, um die Beschäftigung in seiner Reaktorbau- und Brennstoffkreislaufindustrie zu sichern, um seinen Stromkostenvorteil aufzuwerten und um seine Devisenbilanz zu verbessern.l~ So könnte die französische Elektrizitätswirtschaft im Falle eines deutschen Ausstiegs aus der Kernenergie auf den deutschen Markt drängen und hier Atomstrom zu günstigeren Preisen anbieten, als diese beim Einsatz umweltverträglicherer Energiequellen erzielt werden können. Ob der nationale Gesetzgeber dem entgegensteuern kann, ist in erster Linie nach Gemeinschaftsrecht zu beurteilen. Für die Energieversorgung selbst ist der EURATOM-Vertrag jedoch nicht sedes materiae. Der Vertrag befaßt sich vielmehr nur mit der primären Kernenergie und nicht mit der elektrischen Energie, die mit ihrer Hilfe gewonnen wird. Hierfür ist damit allein der EG-Vertrag maßgebend. Auch wenn der EG-Vertrag keine spezielle Energiekompetenz der Gemeinschaft enthältl6 , kommt dennoch für die Elektrizität als Wirtschaftsgut und für 13 Auch SreinberglBrilz, OÖV 1993, 314, betonen, daß dieser Vorbehalt als Ausdruck des Respekts davor zu verstehen ist, daß Energiefragen eigentlich der Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten unterliegen. 14 Vgl. liebholz, Iahrbuch der Atomwirtschaft 1993, S. 317 und 330. I~ Haeusler, Binnenmarkt, S. 165; Michaelis, Ausstieg, S. 240. 16 Auch der ursprunglich im Entwurf zum neuen Vertrag über die Europäische Union vorgesehene eigene Titel über den Energiesektor wurde später ersatzlos gestrichen (vgl. SleinberglBrilZ, OÖV 1993, 314 m.w.N.).

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Teil 3: Der legislative Ausstieg

die Elektrizitätswirtschaft als Wirtschaftssektor primäres und sekundäres Wirtschaftsrecht der Gemeinschaft zur Anwendung. 17 So gelten beispielsweise für die Stromwirtschaft im Rahmen des Art. 90 Abs. 2 EG-Vertrag die Wettbewerbsvorschriften der Art. 85 ff. EG-Vertrag sowie die allgemeinen Vorschriften des EG-Vertrages über den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr und die Niederlassungsfreiheit. 18 Auch wenn nach wie vor streitig ist, ob Strom als Ware LS.d. Art. 30 EG-Vertrag oder als Dienstleistung LS.d. Art. 59 EG-Vertrag anzusehen ist l9 , besteht jedoch Einigkeit darüber, daß der freie Handelsverkehr auch in der Elektrizitätswirtschaft weder durch einzelstaatliche Maßnahmen noch durch wettbewerbshindernde Vereinbarungen der Unternehmen vollkommen unterbunden werden kann. 20 Bereits jetzt stehen die Energieversorger der Mitgliedsstaaten sowie weiterer Staaten über die 'Union für die Koordinierung der Erzeugung und des Transportes elektrischer Energie' (UCPTE) miteinander im Verbund. Allerdings hat der Stromaustausch unter den Verbundpartnern bisher Ausnahmecharakter. Vielmehr besteht Einvernehmen darüber, daß jeder Verbundpartner bemüht sein soll, genügend Energie aus eigenen Kraftwerken zur Versorgung seines Gebietes bereitzustellen. 21 Die Schaffung eines Binnenmarktes für Energie ist jedoch erklärtes Ziel der Gemeinschaft und damit Teil der angestrebten Vollendung des Binnenmarktes LS.d. Art. 8a EG-Vertrag. 22 Die Definition des Binnenmarktes in Art. 8a Abs. 2 EG-Vertrag als "Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages gewährleistet ist", schließt den Energiesektor ein. 23 Der neue, bisher allerdings noch nicht von allen Mitgliedsstaaten ratifizierte EGVertrag verpflichtet die Gemeinschaft in Art. 129b sogar ausdrücklich zum Auf- und Ausbau transeuropäischer Netze im Bereich der Energieinfrastruktur und zur Förderung des Verbunds und der Interoperabilität der einzelstaatli17 Bleckmann, Europarecht, § 30 Rn. 2009; H.P.lpsen, Gemeinschaftsrecht, S. 907 ff.; Lukes, DB 1989,2058; Oppemumn, Europarecht, § 19 Rn. 1197. 18 Art. 30 ff., 52 ff. und 59 ff. EG-Vertrag. 19 Dazu Oppemumn, Europarecht, § 19 Rn. 1195 f.; vgl. ferner SleinberglBrilZ, DÖV 1993, 314 bei Anm. 16 m.w.N. Nach Auffassung der EG-Kommission gelten rur den Energiebereich grundsätzlich die Art. 30 - 36 EG-Vertrag (KOM (88) 238 endg., S. 17 Ziff. SO). 20 Vgl. auch Art. 90 Abs. 2 S. 2 EG-Vertrag. 21 Michaelis, Ausstieg, S. 239.

22 So auch Haeusler, Binnenmarkt, S. 165. Zu der mitunter vertretenen Auffassung, daß der Binnenmarkt den Energiesektor gerade nicht erfasse, vgl. SleinberglBrilZ, DÖV 1993, 314 Pn. 17 m.w.N. 23 So ausdrücklich die EG-Kommission in ihrer Begründung des Richtlinienvorschlags betr. gemeinsamer Vorschriften fiir deri Elektrizitäts- und Erdgasbinnenmarkt (KOM (91) 548 endg., S.2).

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chen Netze sowie des Zugangs zu diesen Netzen im Rahmen eines Systems offener und wettbewerbsorientierter Märkte. 24 Bereits 1986 hat der Rat in seiner 'Entschließung über neue energiepolitische Ziele der Gemeinschaft für 1995 und die Konvergenz der Politik der Mitgliedsstaaten' als eines der von der Gemeinschaft und den Mitgliedsstaaten bei der Energiepolitik zu verfolgenden Ziele gefordert: "Bessere Integration des von Handelshemmnissen befreiten Energiebinnenmarktes mit dem Ziel, die Versorgungssicherheit zu erhöhen, die Kosten zu verringern und die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit zu verstärken. "25 Die Kommission legte hierzu im Mai 1988 einen Bericht mit dem Titel 'Der Binnenmarkt für Energie' vor, in dem ein Plan für die Beseitigung der Hindernisse für den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr im Energiesektor entwickelt wird. 26 Danach sollen vor allem technische und fiskalische Hindernisse beseitigt, das Gemeinschaftsrecht auf dem Energiesektor strikter angewendet sowie ein harmonisches Gleichgewicht zwischen den Bereichen Energie und Umwelt hergestellt werden. Ziel der gemeinschaftlichen Aktivitäten im Energiebereich ist es, den grenzüberschreitenden Stromhandel auszuweiten, die Integration des Stromnetzes der Gemeinschaft zu verstärken, um die Wettbewerbsbedingungen in diesem Bereich zu verbessern, und eine schrittweise Investitionsoptimierung auf Gemeinschaftsebene herbeizuführen. 27 Hieran anknüpfend hat die Kommission im Jahre 1989 Vorschläge für eine Stromtransitrichtlinie28, eine Gastransitrichtlinie29 , eine Preistransparenzrichtlinie 30 und eine Investitionsmeldeverordnung31 vorgelegt. Die Vorschläge werden von der Kommission als erster Schritt zur Verwirklichung eines Energiebinnenmarktes verstanden. 32 Die Richtlinien wurden in den Jahren 1990 und 1991 verabschiedet33, ihre Umsetzung steht allerdings zum Teil noch aus. Die HielZll auch linkohr, et 1993, 448. ABI.EG Nr. C 241 v. 25. 9. 1986, Ziff. 5. d). 26 Dok. KOM (88) 238 endg. v. 2. 5. 1988. 27 Mitteilung der Kommission 'Die Ausweitung der innergemeinschaftlichen Stromlieferungen: Ein grundlegender Beitrag zur Vollendung des Binnenmarktes fiir Energie', KOM (89) 336 endg., Ein!. S. 2 Ziff. 4. 28 KOM (89) 336 endg. 29 KOM (89) 334 endg. 30 KOM (89) 332 endg. 31 KOM (89) 335 endg. 32 ElWägungsgrund 4 des Richtlinienvorschlags der Kommission betr. gemeinsame Vorschriften fiir den Elektrizitätsbinnenmarkt, KOM (91) 548 endg., S. 31; vgl. auch Lukes, DB 1989,2057,2059. 33 Richtlinie des Rates v. 29. 6. 1990 zur Einfiihrung eines gemeinschaftlichen Verfahrens zur Gewährleistung der Transparenz der vom industriellen Endverbraucher zu zahlenden Gasund Strompreise (90/377/EWG, ABI. L 185, 17.7. 1990, S. 16); Richtlinie des Rates v. 29. 10. 24

25

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Teil 3: Der legislative Ausstieg

an die Mitgliedsstaaten gerichtete Stromtransitrichtlinie strebt die Steigerung des Elektrizitätsaustauschs zwischen den großen Netzen und den Abbau der insoweit bestehenden Hindernisse an. 34 Die Richtlinie sieht vor, daß jede für die Hochspannungsleitungsnetze zuständige Gesellschaft den Energieaustausch zwischen anderen dafür zuständigen Gesellschaften über ihr Netz erleichtern muß, vorausgesetzt, die Zuverlässigkeit des Übertragungssystems wird nicht beeinträchtigt. Die am Verbund der europäischen Hochspannungsnetze beteiligten Unternehmen sollen hierzu nach Art. 3 der Richtlinie Verträge über den Elektrizitätstransit zwischen großen Netzen zu nichtdiskriminierenden und angemessenen Bedingungen aushandeln. Sie dürfen keine mißbräuchlichen Vorschriften oder ungerechtfertigten Beschränkungen enthalten und dürfen die Versorgungssicherheit und die Dienstleistungsqualität nicht gefiihrden, wobei insbesondere auf die Nutzung der Reserverkapazitäten der Erzeugung sowie eine möglichst effiziente Auslastung der bestehenden Systeme zu achten ist. In einem weiteren Schritt soll durch Einführung eines Common-Carrier-Systerns die Direktbelieferung von Endabnehmern unter Benutzung fremder Netze ermöglicht werden. Auch hierzu liegen inzwischen zwei Richtlinienvorschläge der Kommission vom 22. 1. 1992 zu gemeinsamen Vorschriften für den Elektrizitäts- und Erdgasbinnenmarkt vor, die auf Art. 57 Abs. 2, 66 und l00a EG-Vertrag gestützt werden. Der Vorschlag der Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie35 enthält drei Schwerpunkte zur Verwirklichung des Binnenmarktes: Die Art. 3 bis 6 des Richtlinienvorschlags sehen die Abschaffung sämtlicher nationaler Ausschließlichkeitsrechte im Hinblick auf den Bau und Betrieb von Energieerzeugungsanlagen und Leitungen durch die Aufstellung fester, diskriminierungsfreier Kriterien sowie die Ermöglichung des Baus von Direktleitungen vor. Diese Bestimmungen sind primär gegen die staatliche Erzeugungs- und Verteilungsmonopole anderer Mitgliedsstaaten gerichtet. In der Bundesrepublik hätte dies die Aufhebung der kartellrechtlichen Freistellung für Demarkations- und Konzessionsverträge zur ausschließlichen Versorgung abgegrenzter Gebiete zur Folge. 36 Den Mit1990 über den Transit von Elektrizitätslieferungen über große Netze (90/547/EWG, ABI. L 313, 13. 11. 1990, S. 30); Richtlinie des Rates v. 31. 5. 1991 über den Transit von Erdgas über große Netze (911296/EWG, ABI. L 147,12.6.1991, S. 37). 34 Siehe die Erwägungsgründe Nr. 8 und 9 der Richtlinie. 35 KOM (91) 548 endg. - SYN 384. Kritisch dazu Baur/Gläser, et 1992, 146 f.; Beeker, et 1992, 446 ff.; Sehüne, et 1992, 258 ff.; SleinberglBrilZ, DÖV 1993, 313 ff. Zu Recht weist linkohr, et 1993, 448, darauf hin, daß der Wettbewerb auf dem Energiesektor mangels einheitlicher EG-weiter Umwelt- und Sicherheitsstandards die Gefahr der Suche nach wirtschaftlichen Vorteilen durch Vernachlässigung der Umwelt berge. Er fordert daher eine Verknüpfung der Liberalisierung des Energiemarktes mit einer Harmonisierung der Umweltgesetzgebung auf hohem Niveau. 36 Beeker, et 1992, 449.

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gliedsstaaten bleibt jedoch nach Art. 4 Abs. 2 des Richtlinienvorschlags ausdrücklich vorbehalten, das Recht zur Errichtung und zum Betrieb von Stromerzeugungsanlagen durch die in der Gemeinschaft niedergelassenen Unternehmen auf ihrem Hoheitsgebiet aus Gründen der Umweltpolitik und der Versorgungssicherheit auf bestimmte Primärenergiequellen zu be-

schränken. -

Art. 7 des Vorschlags regelt die Einführung des Zugangs Dritter zum Netz gegen angemessenes Entgelt. 37 Dieses Zugangsrecht soll durch die Mitgliedsstaaten bis zum 31. 12. 1995 auf Verbraucher mit einem jährlichen Gesamtverbrauch von über 100 GWh und auf Verteilerunternehmen, die einzeln oder gemeinsam mindestens 3 % des Gesamtabgaben in dem betreffenden Mitgliedsstaat verkaufen, beschränkt werden können. Danach soll der Kreis der Berechtigten weiter ausgedehnt werden.

-

Art. 8 bis 24 des Vorschlags treffen Regelungen zur organisatorischen Trennung und weitgehenden Verselbständigung38 der Unternehmensbereiche Erzeugung, Übertragung und Verteilung; ergänzt um Rechnungslegungsvorschriften zur Erhöhung der Transparenz.

Auch wenn bislang kein Ratsbeschluß über die endgültige Fassung der Richtlinien vorliegt, so zeichnet sich doch durch die Maßnahmen der Gemeinschaft in den letzten Jahren eine unumkehrbare Entwicklung in Richtung auf einen EG-Binnenmarkt auch im Energiebereich und speziell für die Elektrizitätswirtschaft ab. Damit unvereinbar wären nationale Maßnahmen jeder Art zur Verhinderung oder Beeinträchtigung von Stromexporten eines Mitgliedsstaates in einen anderen. Die Bestimmungen des EG-Vertrages untersagenjegliche Maßnahmen der Mitgliedsstaaten, die direkt oder indirekt ein innergemeinschaftliches Handelshemmnis darstellen. Jedes in einem Mitgliedsstaat rechtmäßig hergestellte und vermarktete Produkt muß frei in der Gemeinschaft zirkulieren können. 39 Die Schaffung eines Einheitsmarktes ohne Binnengrenzen setzt insbesondere voraus, daß sichergestellt ist, daß Elektrizität und Erdgas innerhalb der Mitgliedsstaaten und zwischen den Mitgliedsstaaten nach Bedarf gehandelt werden können. 4O Solange sich die EG zu keinem gemeinschaftlichen Ausstieg aus der Atornenergienutzung entschließt, sind daher sämtliche einzelstaatlichen Maßnahmen zur Verhinderung von Atornstromimporten gern. Art. 5 EG-Vertrag gerneinschaftswidrig. Durch einen gesetzlichen Ausstieg der Bundesrepublik aus der Kernenergienutzung kann 37 38

Third-Party-Access (TPA). Unbundling.

39 Arbeitsdokument der Kommission über den Binnenmarkt fiir Energie, KOM (88) 238 endg., S. 17 Ziff. 51. 40 Entwurf der Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie, KOM (91) 548 endg., S. 4 Ziff. 2.1.1.

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Teil 3: Der legislative Ausstieg

somit ein Stromtransfer aus Frankreich oder aus anderen Mitgliedsstaaten nicht verhindert werden.

Zusammenfassung der rechtlichen Ergebnisse 1. Bei den entwickelten Modellen für einen staatlich verordneten Ausstieg aus der Kernenergienutzung lassen sich in rechtlicher Hinsicht zwei Ansätze unterscheiden: auf der einen Seite der administrative Ausstieg de lege lata, also durch ausstiegsorientierte Ausschöpfung der Handlungsspielräume des geltenden Rechts, und zum anderen der legislative Ausstieg de lege ferenda. In zeitlicher Hinsicht kann dabei differenziert werden zwischen dem sofortigen, dem mittelfristigen und dem langfristigen Ausstieg. Ein sofortiger Ausstieg aus der Kernenergienutzung hätte für die Energieversorgung, das Ziel der CO2-Reduzierung und die wirtschaftliche Situation in der Bundesrepublik gravierendere Folgen als ein mittel- oder langfristiger Verzicht, da dieser an die Bereitstellung ausreichender und umweltverträglicher Ersatzkapazitäten zur Stromerzeugung gekoppelt werden kann. Daher unterliegt der sofortige Ausstieg höheren verfassungsrechtlichen Hürden als der mittel- und langfristige Ausstieg. 2. Sowohl für den administrativen als auch für den legislativen Ausstieg spielt das in Art. 2 Abs.2 S. 1 GG verankerte Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit eine zentrale Rolle. Als vitale Basis der Menschenwürde stellt das Leben den Höchstwert innerhalb der Verfassungsordnung dar; es ist Voraussetzung für die Wahrnehmung aller anderen Grundrechte. Der Staat hat Eingriffe in das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht nur zu unterlassen, sondern sich auch schützend und fördernd vor die Schutzgüter des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zu stellen und sie insbesondere vor Gefährdungen durch Dritte zu bewahren. Abwehr-und Schutzfunktion stehen in einem gleichrangigen Verhältnis zueinander, weshalb bei einer Beeinträchtigung in beiden Fällen gleich hohe Rechtfertigungsanforderungen zum Tragen kommen. Es gibt grundsätzlich keinen Bereich entfernt möglicher Schäden, vor denen das Grundrecht nicht schützen will. Abzulehnen ist insbesondere die These, daß der Schutzbereich des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit von vornherein durch bestimmte Risiken, die mit der technisch-zivilisatorischen Entwicklung notwendig verbunden sind, immanent begrenzt sei, weshalb solche Risiken dem nicht rechtfertigungsbedürftigen Bereich grundrechtlicher Situationsprägung zuzuordnen seien. Vielmehr ist grundsätzlich jede Schutzgutsgefährdung als rechtfertigungsbedürftige Grundrechtsbeein-

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Zusammenfassung der rechtlichen Ergebnisse

trächtigung anzusehen, da die Schutzgüter des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht sozialpflichtig sind und damit keinen situationsbedingten immanenten Schutzbereichsbegrenzungen unterliegen. Läßt der Staat also eine Risikoerhöhung für die Schutzgüter zu oder unterläßt er die Minimierung eines Risikos, dann ist dies verfassungsrechtIich nur dann hinzunehmen, wenn dies im Interesse anderer überwiegender Belange erfolgt. Für die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Verletzung oder Gefährdung der Schutzgüter des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist, kommt es neben der Bedeutung des Kollisionsgutes vor allem darauf an, welche eigenen Abwehrmöglichkeiten dem Betroffenen gegenüber der Gefahrenquelle zur Verfügung stehen. Je weniger Einfluß der Betroffene auf die Ursachen der Schutzgutsgefährdung hat, desto höher sind die verfassungsrechtIichen Hürden, wenn eine Gefährdung gleichwohl zugelassen wird. Hat der Betroffene von vornherein keine Möglichkeit, sich selbst vor der Bedrohung zu schützen bzw. sich der Gefahrenquelle zu entziehen, dann gelten für die verfassungsrechtIiche Rechtfertigung gleichwohl zugelassener Schutzgutsgefährdungen strengste Anforderungen. In diesem Fall sind nicht nur sicher eintretende Verletzungen, sondern auch Gefahren für Leben oder körperliche U nversehrtheit grundsätzlich unverhältnismäßig und können daher nicht im Wege der Güterabwägung überwunden werden. Risiken unterhalb der aus dem Produkt von potentiellem Schadensausmaß und Eintrittswahrscheinlichkeit zu bemessenden Gefahrenschwelle müssen nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zwar grundsätzlich ebenfalls möglichst weitgehend minimiert werden. Diese Minimierungspflicht steht allerdings unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit, weshalb die Zulassung eines Risikos für die Schutzgüter des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auch dann, wenn der Betroffene sich nicht selbst zu schützen oder der Gefahrenquelle zu entziehen vermag, verfassungsrechtIich gerechtfertigt sein kann, wenn dies zum Zwecke überwiegender anderer verfassungsrechtlich geschützter Interessen zwingend erforderlich ist. 3. Angesichts der Art und Schwere der Gefahren und Risiken im Zusammenhang mit der friedlichen Nutzung der Kernenergie genügt bereits eine entfernte Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts, um die staatliche Pflicht zum Schutze von Leben und körperlicher Unversehrtheit konkret auszulösen. Da der einzelne keine Möglichkeit hat, sich der Gefahrenquelle zu entziehen oder sich anderweitig selbst zu schützen, sind solche Gefahren aus verfassungsrechtlichen Gründen zwingend zu unterbinden. Deshalb ist die friedliche Nutzung der Kernenergie nur dann mit dem Grundgesetz zu vereinbaren, wenn die Möglichkeit eines Schadenseintritts praktisch ausgeschlossen ist. Aber auch das unterhalb der Gefahrenschwelle liegende Risiko einer Schutzgutsverletzung bei der Kernenergienutzung ist nach dem Grundsatz der bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge möglichst weitgehend zu minimieren. Allerdings steht diese Risikominimierungspflicht unter dem Vor-

Zusammenfassung der rechtlichen Ergebnisse

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behalt der Verhältnismäßigkeit. Somit ist im Bereich der Risikominimierung Raum für Kosten-Nutzen-Analysen (Wirtschaftlichkeitsüberlegungen). Diejenigen Risiken, deren weitere Minimierung unverhältnismäßig wäre, muß der einzelne hinnehmen. Man kann sie auch als Restrisiken bezeichnen. 4. Die Möglichkeiten und Voraussetzungen für Rücknahme und Widerruf atomrechtlicher Genehmigungen sind in § 17 Abs. 2 bis 5 AtomG speziell und abschließend geregelt. Nach § 17 Abs. 2 AtomG kann eine Genehmigung zurückgenommen werden, wenn eine ihrer Voraussetzungen bei der Erteilung nicht vorgelegen hat. Hierfür genügt das objektive Vorliegen eines erkennbaren anfanglichen Mangels, das zur Rechtswidrigkeit der Genehmigung führt. Genehmigungsvoraussetzungen im Sinne des § 17 Abs. 2 AtomG sind alle diejenigen, die Bedingung für die rechtmäßige Erteilung der atomrechtlichen Genehmigung sind, unabhängig davon, ob sie auf der Tatbestands- oder auf der Ermessensseite berücksichtigt werden müssen. Die Rücknahme nach § 17 Abs. 2 AtomG ist allerdings in das Ermessen der zuständigen Behörde gestellt und wird daher durch die Pflicht zur Beachtung des Übermaßverbots begrenzt. Eine Rücknahme wäre dann nicht erforderlich und daher ermessensfehlerhaft, wenn der mit der Rücknahme bezweckte Schutz vor den Gefahren der Kernenergie ebensogut durch andere, weniger einschneidende Maßnahmen wie z.B. nachträgliche Auflagen nach § 17 Abs. 1 S. 3 AtomG erreicht werden kann. 5. Kein behördliches Ermessen, sondern eine Pflicht zum Widerruf von Genehmigungen besteht nach § 17 Abs. 5 AtomG dann, wenn dies wegen einer erheblichen Gefährdung der Beschäftigten, Dritter oder der Allgemeinheit erforderlich ist und nicht durch nachträgliche Auflagen in angemessener Zeit Abhilfe geschaffen werden kann. Eine teilweise vertretene einengende Auslegung des § 17 Abs. 5 AtomG dahingehend, daß die Vorschrift nur auf solche Sicherheiten abziele, die über den genehmigten Zustand der Anlage hinausgehen, nicht aber auf die fortlaufende Erhaltung des genehmigten Sicherheitszustands, findet im Gesetz keine Stütze und steht auch mit der staatlichen Pflicht zum Schutze von Leben und körperlicher Unversehrtheit nicht in Einklang. Stellen sich im nachhinein Schutzdefizite mit Gefahrenqualität heraus, muß der Staat als Garant eines dynamischen Grundrechtsschutzes nachfassen. Gefährdungen von Leben und körperlicher Unversehrtheit sind immer "erheblich" im Sinne des § 17 Abs. 5 AtomG, so daß entgegen einer verbreiteten Auffassung für den Pflichtwiderruf im Vergleich zur zwingenden Genehmigungsversagung nach § 7 AtomG kein gesteigerter Gefährdungsgrad zu verlangen ist. Allerdings ermächtigt § 17 Abs. 5 AtomG ausdrücklich nur zum Widerruf, nicht aber zur Rücknahme einer Genehmigung. Da ein Widerruf jedoch nur bei rechtmäßigen Verwaltungsakten in Betracht kommt, während bei rechtswidrigen Verwaltungsakten die Rücknahmeregelungen anzuwenden

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Zusammenfassung der rechtlichen Ergebnisse

sind, greift § 17 Abs. 5 AtomG nur dann ein, wenn die Gefahr anfanglich unerkennbar vorlag oder erst nachträglich eingetreten ist. Zum Zeitpunkt der Genehmigungserteilung bekannte oder erkennbare Gefahren führen zur Rechtswidrigkeit der Genehmigung und werden von § 17 Abs. 2 AtomG erfaßt. Allerdings wird man auch hier davon auszugehen haben, daß das Rücknahmeermessen der Behörde wegen der staatlichen Schutzpflicht für Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auf Null reduziert und die Rücknahme daher obligatorisch ist. Auf eine reine Änderung der Sicherheitsphilosophie durch die Behörde in Form einer Neubewertung des zumutbaren Risikos ohne gleichzeitige Änderung des Erkenntnisstandes kann jedoch ein Genehmigungswiderruf nach § 17 Abs. 5 AtomG nicht gestützt werden, sofern sich nicht ausnahmsweise die ursprünglich vertretene Sicherheitsphilosophie im nachhinein als rechtlich unhaltbar erweist. Insofern genießen die erteilten Genehmigungen Bestandsschutz vor einer nachträglichen Neubewertung durch die Administrative ohne Änderung der Bewertungsgrundlagen. Nach § 17 Abs. 5 AtomG darf die Genehmigung trotz Vorliegens einer Gefahr nicht widerrufen werden, wenn durch nachträgliche Auflagen in angemessener Zeit Abhilfe geschaffen werden kann. In diesem Fall ist allerdings sofort und zwingend von der Möglichkeit der einstweiligen Betriebseinstellung nach § 19 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 AtomG bis zur Erfüllung der Auflage Gebrauch zu machen, da auch eine vorübergehende Gefährdung der Betroffenen durch den Weiterbetrieb der Anlage gegen Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verstoßen würde. 6. Nach § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG kann eine atomrechtliche Genehmigung widerrufen werden, wenn eine ihrer Voraussetzungen später weggefallen ist und nicht in angemessener Zeit Abhilfe geschaffen wird. Hierunter fallen auch nachträglich erkannte Mängel, die zwar ex post betrachtet von Anfang an vorlagen, die aber im Zeitpunkt der Genehmigungserteilung mangels entsprechender Erkenntnismöglichkeiten nicht feststellbar waren. Für den Widerruf nach § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG spielt es keine Rolle, ob die neu bekanntgewordenen Tatsachen bei der Genehmigungserteilung als Tatbestandsmerkmal oder bei der Ermessensausübung zu prüfen waren. In der Praxis werden seit 1977 die Genehmigungen zur Errichtung und zum Betrieb kerntechnischer Anlagen gemäß § 17 Abs. 1 S. 2 AtomG unter der Auflage erteilt, daß der Genehmigungsinhaber fortlaufend den Nachweis zu erbringen hat, daß die Entsorgung der beim Betrieb der genehmigten Anlage anfallenden radioaktiven Reststoffe gesichert ist. Die Entsorgungspflichten werden durch die vom Bund-Länder-Ausschuß für Atomkernenergie beschlossenen Grundsätze zur Entsorgungsvorsorge für Kernkraftwerke konkretisiert. Die Entsorgung radioaktiver Abfalle könnte allerdings insbesondere ange-

Zusammenfassung der rechtlichen Ergebnisse

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sichts des Verbots der länger als technisch zwingend erforderlichen Lagerung radioaktiver Abfälle ausländischen Ursprungs in Frankreich nach Art. 3 des französischen Gesetzes zur Erforschung der Entsorgung radioaktiver Abfälle vom 30. Dezember 1991 einschließlich solcher Abfälle, die aus der Wiederaufarbeitung ausländischer Brennelemente in Frankreich stammen, in naher Zukunft an die Grenzen der Zwischen- und Endlagerkapazitäten in Deutschland stoßen. Ist jedoch die sichere Entsorgung der radioaktiven Reststoffe, die beim Betrieb der jeweiligen Anlage anfallen, nicht mehr hinreichend gewährleistet, kommt ein Genehmigungswiderruf nach § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG in Betracht. Allein auf die Möglichkeit des Verzichts auf den Weiterbetrieb der Anlage kann allerdings der Widerruf einer Genehmigung nach § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG nicht gestützt werden, da eine energiewirtschaftliche Bedürfnisprüfung durch die Genehmigungsbehörde für ein zu errichtendes Kernkraftwerk nicht vom Normzweck des § 7 Abs. 2 AtomG gedeckt ist. 7. Nach § 18 Abs. 1 S. 1 AtomG muß dem Berechtigten im Falle einer Rücknahme bzw. eines Widerrufs einer Genehmigung eine angemessene Entschädigung in Geld geleistet werden, sofern nicht einer der in § 18 Abs. 2 abschließend aufgezählten Ausnahmefälle vorliegt. Nach § 18 Abs. 2 Nr. 3 AtomG ist die Entschädigung dann ausgeschlossen, wenn die Gefahr nachträglich eingetreten und in der genehmigten Anlage oder Tätigkeit begründet ist. Bei anlagenexternen Widerrufsgründen wie z.B. Naturkatastrophen oder Umgebungsänderungen, auf die der Anlagenbetreiber keinen Einfluß hat, ist ihm danach grundSätzlich eine Entschädigung zu gewähren. Bei nachträglichen Änderungen des Stands von Wissenschaft und Technik ist danach zu differenzieren, ob es sich um eine anlagenspezifische Gefahr handelt oder nicht. Im letzteren Fall ist dem Betreiber eine Entschädigung zuzubilligen. Lag die Gefahrenursache bereits anfanglich vor und war dies für die Genehmigungsbehörde erkennbar, kann der Betreiber grundsätzlich eine Entschädigung verlangen, wobei jedoch nach § 18 Abs. 1 S. 3 AtomG anspruchsmindernd zu berücksichtigen ist, wenn der Mangel auch für den Antragsteller erkennbar war. War aber die Gefahrenquelle zum Zeitpunkt der Antragsprüfung für die Behörde auch bei Ausschöpfung sämtlicher Erkenntnismöglichkeiten nicht zu erkennen, trägt der Antragsteller und Betreiber das volle Risiko dafür, daß sich die von ihm errichtete Anlage im nachhinein als gefährlich herausstellt. Dem Betroffenen gegenüber entschädigungspflichtig ist nach § 18 Abs. 1 S.2 AtomG der Bund, wenn eine Bundesbehörde die Rücknahme oder den Widerruf ausgesprochen hat, ansonsten das Land, dessen Behörde zuständig war. Dies gilt auch dann, wenn die Rücknahme oder der Widerruf durch eine Landesbehörde auf eine Weisung des Bundes zurückgeht. Setzt allerdings der Bund die Weisung im Wege des Bundeszwanges per Ersatzvornahme durch, 27 lIorgowm

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Zusammenfassung der rechtlichen Ergebnisse

dann geht hiermit auch die Außenhaftung auf ihn über. Hiervon unberührt bleibt allerdings die Innenhaftung des Landes gegenüber dem Bund nach Art. 104a Abs. 5 S. 1 2. Halbsatz GG bei rechtswidrig verweigerter Weisungsausführung. Im übrigen richtet sich der interne Ausgleich zwischen Bund und Ländern nach § 18 Abs. 4 AtomG. Ein Ausgleich findet dabei nicht nur zwischen dem Bund und demjenigen Land statt, iri dem sich die Anlage befindet. Vielmehr sind bei entsprechender Interessenlage auch andere Bundesländer mit einzubeziehen. Der Ausgleich muß sich an der überörtlichen Bedeutung der Rücknahme- bzw. Widerrufsgründe und damit in erster Linie am Interesse an der Schadensvermeidung orientieren, der die Maßnahme dient. 8. Die Umsetzung politischer Zielvorgaben zum administrativen Ausstieg aus der Kernenergienutzung etwa durch ausstiegsorientierte Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe oder durch ausstiegsorientierte Ermessensausübung läßt sich mit dem Sinn und Zweck des AtomG nicht vereinbaren und verstößt daher gegen den in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Durch das AtomG wurde die gesetzliche Grundsatzentscheidung zugunsten der Kernenergienutzung getroffen. Eine Vollzugspraxis in Form des Totalausstiegs würde gegen diese Grundentscheidung des Gesetzgebers verstoßen und wäre damit rechtswidrig. Die Verfolgung einer gesetzeswidrigen politischen Zielvorgabe muß sich allerdings im konkreten Fall eindeutig belegen lassen. 9. Nach Art. 85, 87c GG i.V.m. § 24 Abs. 1 AtomG werden die Verwaltungsaufgaben nach dem Zweiten Abschnitt des AtomG und den hierzu ergangenen Rechtsverorduungen - von den in den §§ 22 und 23 Abs. 1 S. 1 AtomG genannten Fällen abgesehen - durch die Länder im Auftrag des Bundes ausgeführt. Allerdings ist die Eigenständigkeit der Länder bei der Auftragsverwaltung nach Maßgabe des Art. 85 GG deutlich begrenzt. Insbesondere kann der Bund den Landesbehörden gemäß Art. 85 Abs. 3 GG Weisungen erteilen, ohne daß es hierzu einer ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung bedarf. Allgemeine Weisungen präventiver Art, die Geltung über den konkreten Einzelfall hinaus beanspruchen, werden hierdurch jedoch nicht ermöglicht. Andernfalls ließe sich der Zustimmungsvorbehalt zugunsten des Bundesrates bei allgemeinen Verwaltungsvorschriften nach Art. 85 Abs. 2 S. 1 GG allzu leicht unterlaufen. Außerdem ist der Bund in seinem Weisungsrecht durch das Recht des angewiesenen Landes auf Eigenstaatlichkeit begrenzt und aufgrund der Pflicht zu bundes- bzw. länderfreundlichem Verhalten zur Rücksichtnahme auf die Belange der Länder verpflichtet. Danach kommt eine Weisung nur als ultima ratio in Betracht. Die Wahrnehmungskompetenz nach außen kann den Ländern gemäß Art. 85 Abs. 3 GG nicht entzogen werden. Die Weisung darf sich nur auf Fragen der Sachbeurteilung und Sachentscheidung im Rahmen der zur Auftragsverwaltung gehörenden Mate-

Zusammenfassung der rechtlichen Ergebnisse

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rie beziehen. Dabei können die Länder gegenüber dem Bund nicht geltend machen, der Bund übe sein Weisungsrecht inhaltlich rechtswidrig aus, und zwar auch dann nicht, wenn die Länder die rechtswidrige Maßnahme nach außen hin selbst ausführen müssen. Eine Grenze besteht nur in den Fällen, in denen der Bund unter grober Mißachtung der ihm obliegenden Obhutspflicht zu einem Tun oder Unterlassen anweist, welches schlechterdings nicht verantwortet werden kann. Dies ist dann der Fall, wenn erstens im Falle einer Befolgung der Weisung durch das Land ein bedeutendes Rechtsgut betroffen ist, zweitens eine Gefährdung der Allgemeinheit zu befürchten ist und drittens der Schadenseintritt nicht nur entfernt möglich, sondern hinreichend wahrscheinlich ist. Die grundsätzliche Ausklammerung der materiellen Rechtmäßigkeit des angewiesenen Gesetzesvollzugs aus der Rechtssphäre der Länder bedeutet allerdings keinen Freibrief zugunsten des Bundes für Weisungen zu rechtswidrigem Gesetzesvollzug und damit auch keine Verkürzung der Rechte betroffener Dritter. Diesen bleibt es unbenommen, den Vollzugsakt wegen der Verletzung eigener Rechte anzufechten. Weisungen des Bundes dürfen nicht in den Bereich landeseigener Verwaltung übergreifen. Das Weisungsrecht des Bundes zum Vollzug des AtomG endet dort, wo auch die Bundesauftragsverwaltung endet und die Kompetenz des Landes zu landeseigenem Vollzug von Bundes- oder Landesgesetzen nach Art. 30, 83, 84 GG beginnt. Gleichwohl erteilte Weisungen verletzen das Land in seinem Recht auf Eigenstaatlichkeit. Daraus ergibt sich - entgegen einer weit verbreiteten Literaturmeinung - eine Begrenzung der Weisungsbefugnis auf nuklearspezifische Belange im atomrechtlichen Planfeststellungsverfahren nach § 9b AtomG ebenso wie für die beabsichtigte Erweiterung der Konzentrationswirkung verschiedener anderer atomrechtlicher Genehmigungen. Der Ausnahmecharakter der Bundesauftragsverwaltung läßt eine Ausdehnung der Weisungsbefugnis des Bundes durch die Hintertür der einfachgesetzlich angeordneten Konzentrationswirkung atomrechtlicher Entscheidungen nicht zu. Leistet ein Land einer Weisung des Bundes nicht Folge, so kann die Bundesregierung gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr.3 GG LV.m. §§ 68 ff. BVerfGG beim Bundesverfassungsgericht die Feststellung beantragen, daß das Land gegen Art. 85 Abs. 3 GG verstößt, indem es sich weigert, die Weisung zu befolgen. Maßnahmen des Bundeszwanges nach Art. 37 GG wie z.B. Ersatzvornahme durch den Bund mit Zustimmun des Bundesrates kommen nach dem Grundsatz länderfreundlichen Verhaltens nur als letzter Schritt in Betracht. 10. Für Schadensersatzansprüche der Betreiber oder sonstiger geschädigter Dritter bleibt immer das ausführende Land passivlegitimiert, auch wenn die Ausführungshandlung auf einer Weisung des Bundes beruht. Allerdings haftet

420

Zusammenfassung der rechtlichen Ergebnisse

der Bund im Falle einer Weisung zu rechtswidrigem Gesetzesvollzug nach Art. 104a Abs. 5 S. 1 2. Halbsatz GG verschuldensunabhängig für die dem Land entstehenden Kosten. Umgekehrt haftet das Land jedoch auch dem Bund für etwaige Mehrausgaben, die diesem als Folge einer rechtswidrig ausstiegsorientierten Blockadehaltung beispielsweise durch provozierte Weisungen, Verzögerungen der Weisungsausführung oder bei der Durchsetzung nichtbefolgter Weisungen entstehen. 11. Die Zulässigkeit normativer Änderungen mit dem Ziel des Ausstiegs aus der Kernenergie kann nicht von vorherein verneint werden. Insbesondere läßt sich der Kompetenzverteilungsnorm des Art. 74 Nr. lla GG keine Pflicht zur Kernenergienutzung entnehmen. Art. 74 Nr. lla GG ist vielmehr ausdrücklich neutral formuliert und würde auch ein gesetzgeberisches Verbot der Kernenergienutzung decken. Zur Grundsatzentscheidung für oder gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie ist damit allein der Gesetzgeber berufen. 12. Verfassungsrechtliche Grenzen für den Ausstieg in Gesetzesform ergeben sich aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung. Zwar ist auch nach dem Modell des Grundgesetzes das Gewaltenteilungsprinzip nicht in Reinkultur verwirklicht. Jedoch darf trotz der zahlreichen Überschneidungen keine der drei Gewalten ein im Grundgesetz nicht vorgesehenes Übergewicht erhalten. Allein aus der Gesetzesbindung der Verwaltung und der direkten demokratischen Legitimation des Parlaments kann kein unbegrenztes Zugriffsrecht des Gesetzgebers auf die Vollzugsaufgabe der Exekutive hergeleitet werden. Vielmehr ist die Verwaltung ein gegenüber den anderen beiden Gewalten gleichberechtigter, im Kern von ihnen unabhängiger Träger staatlicher Macht. Der vom Gesetzgeber zu respektierende administrative Freiraum ist dann berührt, wenn die Legislative den Bereich rechtssetzender Tätigkeit verläßt und rechtsanwendende Funktionen wahrnimmt. Dies gilt nicht nur im Bereich des Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG, sondern auch dann, wenn durch die Regelung keine Grundrechte eingeschränkt werden. Ausscheiden muß daher die Rücknahme oder der Widerruf einzelner Anlagengenehmigungen sowie die Stillegung solcher Anlagen durch Gesetz. Aber auch eine gesetzliche Standort- oder Flächensperrung für atomare Anlagen verstößt nur dann nicht gegen das Gewaltenteilungsprinzip, wenn hierdurch Individualinteressen weder offen noch verdeckt berührt werden. Bedenklich sind daher gesetzliche Flächensperrungen dann, wenn dadurch konkrete. rechtlich bereits verfestigte Vorhaben verhindert werden sollen, für die der Vorhabensträger schon Dispositionen getroffen hat. 13. In kompetenzrechtlicher Hinsicht liegt der Schwerpunkt der gesetzlichen Ausstiegsmöglichkeiten nicht bei den Ländern, sondern beim Bund. Art. 74 Nr. lla GG eröffnet die Befugnis zur umfassenden Regelung aller Fragen, die durch die Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken auf-

Zusammenfassung der rechtlichen Ergebnisse

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geworfen werden. Er ermächtigt allerdings nicht zu eigenständigen Regelungen materiellrechtlicher Art in Bereichen wie z.B. dem Baurecht, dem Naturschutzrecht etc., bei denen mit der in Art. 74 Nr. 11a GG angesprochenen Materie nur ein mittelbarer Zusammenhang besteht. Der Bund hat die Gesetzgebungskompetenz des Art. 74 Nr. 11a GG durch den Erlaß des AtomG in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise erschöpfend wahrgenommen. Die den Ländern verbleibenden wenigen Kompetenzbereiche außerhalb des Art. 74 Nr. 11a GG, die grundsätzlich eine ausstiegsorientierte Gesetzgebung tragen könnten, werden nach Art. 31 GG aufgrund der prinzipiellen Billigung der Kernenergienutzung durch das AtomG des Bundes zusätzlich eingeschränkt. Für landesrechtliche Regelungen, die die Atomenergienutzung auf Landesebene vollkommen unterbinden sollen, bleibt damit kein Raum mehr. Nur der Bund besäße die Kompetenz, die Entscheidung zugunsten der Kernenergienutzung im AtomG zu revidieren. Energiepolitisch motivierte Landesgesetze mit dem Ziel der Eindämmung der Kernenergie sind allerdings auch unter dem Gesichtspunkt der Bundestreue verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, solange die Atomenergienutzung in dem jeweiligen Land grundsätzlich möglich bleibt. 14. Die Frage, welche materiellen verfassungsrechtlichen Vorgaben der ausstiegsorientierte Gesetzgeber zu beachten hat, stellt sich nicht nur für den Ausstieg aus der Kernenergie, sondern auch für deren weitere Nutzung. Denn der Gesetzgeber ist dann, wenn seine frühere Entscheidung durch neue, im Zeitpunkt des Gesetzeserlasses noch nicht abzusehende Entwicklungen entschieden in Frage gestellt wird, verfassungsrechtlich zur Prüfung verpflichtet, ob die ursprüngliche Entscheidung auch unter den veränderten Umständen aufrechterhalten werden kann. Besondere Anforderungen ergeben sich aus der staatlichen Pflicht zum Schutze von Leben und körperlicher Unversehrtheit. Der hohe Rang dieser Rechtsgüter und die Art der Gefährdung verpflichten den Gesetzgeber zur Beobachtung, wie sich sein Schutzkonzept in der Praxis auswirkt. Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist durch die Entscheidung für oder gegen die weitere Kernenergienutzung in nehrfacher Weise betroffen. Radioaktive Strahlung kann bereits in geringen Dosen zu Gesundheitsschäden führen. Die Gefahr des Versagens von Schutzmaßnahmen und somit die Freisetzung erheblicher Mengen radioaktiver Stoffe läßt sich nicht völlig ausschließen. Ein erhebliches Gefährdungspotential birgt des weiteren die bislang nicht befriedigend geklärte Frage der Entsorgung, insbesondere der Endlagerung hochradioaktiver Abfälle. Andererseits ist aber auch zu berücksichtigen, welche Auswirkungen ein mit dem Kernenergieverzicht eventuell verbundener Rückgriff auf fossile Brennstoffe zur Energiegewinnung und eine damit einhergehende Erhöhung der Schadstoffemissionen für die Gesundheit der Bevölkerung zur Folge hat.

422

Zusammenfassung der rechtlichen Ergebnisse

15. Die mitunter vertretene Auffassung, Art. 74 Nr. lla GG könne neben seiner Hauptfunktion als Kompetenzverteilungsnorm auch zur Legitimation von Grundrechtseingriffen herangezogen werden, die mit der Kernenergienutzung notwendigerweise verbunden seien, ist abzulehnen. Die ausdrückliche Benennung bestimmter Gesetzgebungsmaterien in den Art. 73 ff. GG hat lediglich regelungstechnische GlÜDde. Es war nicht die Absicht des Verfassungsgebers, dem Bund im Vergleich zu den Ländern allein dadurch weitreichendere Eingriffsmöglichkeiten an die Hand zu geben, indem nur die Gesetzgebungsbefugnisse des Bundes enumerativ aufgeführt werden. Im übrigen handelt es sich bei Art. 74 Nr. lla GG nicht um eine Kompetenzbestimmung, bei deren Ausschöpfung es zwangsläufig zu Grundrechtsbeeinträchtigungen kommt. Vielmehr würde Art. 74 Nr. lla GG auch ein Verbot der Kernenergienutzung decken. 16. Die Entscheidung für oder gegen die weitere Kernenergienutzung kann weitreichende Folgen für die Umwelt haben. Diese Auswirkungen hat der ausstiegsorientierte Gesetzgeber schon wegen ihrer Folgen für die Schutzgüter des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zu beachten. Obwohl im Grundgesetz eine Pflicht des Staates zum Schutze der Umwelt bzw. der natürlichen Lebensgrundlagen nicht ausdrücklich enthalten ist, läßt sich jedoch eine solche Direktive sowohl den Grundrechten als auch dem Sozialstaatsprinzip entnehmen. Zwar bieten die Grundrechte als Abwehrrechte nur punktuellen Schutz vor individuell einwirkenden Umweltbeeinträchtigungen und enthalten keine umfassende subjektivrechtliche Verbürgung des Umweltschutzes. Als objektive Wertentscheidungen der Verfassung verpflichten die Grundrechte den Staat allerdings über die Abwehrfunktion hinaus zum Schutz vor Individual- und Kollektivgefährdungen der grundrechtlichen Schutzgüter . Insbesondere die Pflicht des Staates zur Achtung und zum Schutze der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG zwingt zum Einschreiten gegen Gefährdungen des ökologischen Existenzminimums und zur Erhaltung der Umweltmedien in einem Zustand, der auch kommenden Generationen ein Leben ohne existenzbedrohende Umweltgefahren ermöglicht. Ferner gehört der Umweltschutz zum pflichtenkreis der Aufgaben, die dem Staat durch das Sozialstaatsprinzip auferlegt sind. Denn wenn das Sozialstaatsprinzip den Staat zur Sicherung der existenziellen Voraussetzungen für die Entfaltung der Freiheitsrechte im Sinne einer Wohlstandsvorsorge verpflichtet, dann umfaßt diese Aufgabe notwendigerweise auch die Bewahrung von Umweltbedingungen, unter denen diese Freiheitsrechte sinnvoll wahrgenommen werden können. 17. Der Staat ist ferner aufgrund des Sozialstaatsprinzips sowie aufgrund der Pflicht zur Herstellung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und aufgrund der Grundrechte verpflichtet, für eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung und der Industrie mit elektrischer Energie zu sorgen, weil diese zu den heutigen Grundbedürfnissen eines menschenwürdigen Lebens gehört,

Zusammenfassung der rechtlichen Ergebnisse

423

der einzelne sich aber nicht selbst versorgen kann. Die Sicherstellung der Energieversorgung ist allerdings nur eine unter zahlreichen anderen staatlichen Aufgaben und muß mit diesen harmonisiert werden. Verfassungsrechtliche Grenzen des staatlichen Einschätzungsspielraums lassen sich erst dort ausmachen, wo entweder die Energieversorgung überhaupt nicht mehr als gesichert angesehen werden kann oder wo die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Energiequelle nachweislich solche negativen Auswirkungen auf die Umwelt oder auf die menschliche Gesundheit mit sich bringt, die nicht im Wege der Abwägung überwunden werden können. 18. Ein gesetzlicher Ausstieg aus der Kernenergienutzung berührt die Grundrechte der Kemkraftwerksbetreiber aus Art. 12 Abs. 1 S. 1 und 14 Abs. 1 S. 1 GG. Für die gemischtwirtschaftlich verfaßten und damit für die Mehrzahl der Betreiber von Kernkraftwerken ist jedoch festzustellen, daß sie staatlich beherrscht und daß damit die Grundrechte nach Art. 19 Abs. 3 GG wegen des Aufgabencharakters der Energieversorgung und wegen der erheblichen staatlichen Einflußnahme auf die Unternehmensführung ihrem Wesen nach nicht auf sie anwendbar sind. Für die Frage der Grundrechtsfahigkeit juristischer Personen darf nicht allein auf die Rechtsform oder auf die ausschließliche Innehabung sämtlicher Gesellschaftsanteile durch die öffentliche Hand abgestellt werden. Zentrales Zuordnungskriterium ist vielmehr die Möglichkeit der staatlichen Steuerung und maßgeblichen Beeinflussung des Unternehmens sowie die Art der wahrgenommenen Aufgabe. Bei den gemischtwirtschaftlichen Kernkraftwerksbetreibern ist der staatliche Einfluß durch gesellschaftsrechtliche Beteiligung, personelle Verflechtung sowie durch staatliche Förderung und Subventionierung hinreichend sichergestellt. Sie nehmen außerdem öffentliche Aufgaben war. Damit sind sie nicht Ausdruck der freien Entfaltung privater, natürlicher Personen, sondern einem öffentlichen Zweck gewidmet und durch diesen geprägt. 19. Auch für die nicht grundrechtsfahigen Kemkraftwerksbetreiber muß der ausstiegsorientierte Gesetzgeber allerdings bei seiner Entscheidung den rechtsstaatlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes in Rechnung stellen. Die Gesetzgebung hat ein Mindestmaß an Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit aufzuweisen, insbesondere dann, wenn die Gesetze geeignet oder sogar darauf angelegt sind, Entscheidungen und Dispositionen herbeizuführen oder zu beeinflussen. Zur Abwehr einseitigen staatlichen Handelns in mehrpoligen Rechtsverhältnissen können sich auch staatliche und staatsnahe Rechtsträger auf den Grundsatz des rechtsstaatlich geschützten Vertrauens berufen, wobei allerdings schutzmindernd zu berücksichtigen ist, daß von den genannten Rechtsträgern eine weitergehende Rücksichtnahme auf öffentliche Interessen verlangt werden kann.

424

Zusammenfassung der rechtlichen Ergebnisse

Ein Vertrauen auf den Fortbestand des geltenden Atomrechts kann dem ausstiegsorientierten Gesetzgeber jedoch nur partiell entgegengehalten werden, und zwar nur insoweit, als bereits Dispositionen im Hinblick auf das geltende Recht getroffen wurden und dieses Vertrauen schutzWÜfdiger erscheint als die Belange, die der Gesetzgeber mit dem Ausstieg verfolgt. Potentielle Betreiber, die die Errichtung kerntechnischer Anlagen erst für die Zukunft in Erwägung ziehen, können keinen Vertrauensschutz in Anspruch nehmen. Denn der Gesetzgeber hat in der Vergangenheit keinerlei Anhaltspunkte dafür gegeben, daß er sich die Option für einen Ausstieg aus der Kernenergie nicht jederzeit offenhalten wollte. Vertrauensschutz kommt damit nur für die bereits errichteten und in Betrieb befindlichen Anlagen in Betracht. Hier kann der Gesetzgeber gehalten sein, den durch die vorzeitige Beendigung der Kernenergienutzung entstehenden Vertrauensschaden durch angemessene Übergangsregelungen, Härteklauseln in Form von Ausnahme- und Befreiungstatbeständen oder Vorschriften, die einen finanziellen Ausgleich vorsehen, abzumildern. 20. Der ausstiegsorientierte Gesetzgeber muß somit verschiedene miteinander kollidierende Verfassungsdirektiven berücksichtigen und zum Ausgleich bringen. Mit dem Schutz der Bevölkerung und Umwelt vor den Gefahren und Risiken der Kernenergienutzung verfolgt der Gesetzgeber zwar einen von der Verfassung nicht nur gebilligten, sondern sogar geforderten Zweck. Allerdings darf diese Zielsetzung nicht um jeden Preis, sondern nur unter Beachtung des Übermaßverbots verfolgt werden. Das vom Gesetzgeber gewählte Ausstiegsmodell muß danach zum Schutz vor den Gefahren und Risiken der Kernenergie geeignet, erforderlich und angemessen sein. Allerdings hat die Legislative vor allem bei Prognoseentscheidungen für die ersten beiden Teilgebote des Übermaßverbots eine Einschätzungsprärogative, die nur bei offensichtlicher Ungeeignetheit oder eindeutigem Vorliegen weniger belastender, aber gleichermaßen geeigneter Maßnahmen die Grenze der Verfassungswidrigkeit überschreitet. Aber auch die eigentliche Güterabwägung zwingt in hohem Maße zu einer subjektiven Bewertung der konfligierenden Verfassungsgüter, die nur bei Außerachtlassung oder evidenter Fehlbewertung verfassungsrechtlicher Mindestpositionen einer verfassungsgerichtlichen Nachprüfung nicht standhält. Um einen optimalen Schutz vor den Risiken der Kernenergienutzung zu erreichen, wäre ein sofortiger Ausstieg erforderlich. Dies hätte allerdings möglicherweise Belastungen für kollidierende Verfassungsgüter zur Folge, die nicht im Wege der Güterabwägung überwunden werden können. Angemessen erscheint danach der gesetzlich angeordnete Ausstieg dann, wenn die Kernkraftwerke sukzessive unter Berücksichtigung ihres Alters, ihres Sicherheitsstandards und ihrer Ersetzbarkeit im Versorgungsgebiet vom Netz genommen werden und wenn dieser Schritt mit gesetzlichen Maßgaben zur Erforschung,

Zusammenfassung der rechtlichen Ergebnisse

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Förderung und Ausschöpfung des Potentials umweltverträglicher Energieträger, der COz-Rückhaltung und der Energieeinsparungsmöglichkeiten einhergeht. 21. Ein Verstoß des nationalen Ausstiegs aus der Kernenergienutzung gegen den Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) ist nicht anzunehmen. Sinn und Zweck des Vertrags ist lediglich die Erleichterung der Kernenergienutzung in den einzelnen Mitgliedsstaaten unter dem Dach der Europäischen Atomgemeinschaft. Die Mitgliedsstaaten sind jedoch nicht zur Stromerzeugung durch Kernenergie vt;rpflichtet. Vielmehr bleibt die Entscheidung über die Verantwortbarkeit der Kernenergienutzung den Einzelstaaten überlassen. Der Import von Atomstrom aus anderen EG-Mitgliedsstaaten läßt sich jedoch durch einen nationalen Ausstieg aus der Kernenergienutzung nicht verhindern. Denn auch wenn der EG-Vertrag keine spezielle Energiekompetenz der Gemeinschaft enthält, kommt dennoch für die Elektrizität als Wirtschaftsgut und für die Elektrizitätswirtschaft als Wirtschaftssektor primäres und sekundäres Gemeinschaftsrecht zur Anwendung. Durch die Maßnahmen der Gemeinschaft in den letzten Jahren zeichnet sich eine unumkehrbare Entwicklung in Richtung auf einen EG-Binnenmarkt auch im Energiebereich und speziell für die Elektrizitätswirtschaft ab. Damit unvereinbar wären aber nationale Maßnahmen jeder Art zur Verhinderung oder Beeinträchtigung von Stromexporten eines Mitgliedsstaates in einen anderen. Solange sich die EG zu keinem gemeinschaftlichen Ausstieg aus der Atomenergienutzung entschließt, sind sämtliche einzel staatlichen Maßnahmen zur Verhinderung von Atomstromimporten gemäß Art. 5 EG-Vertrag gemeinschaftswidrig.

Anhang A. Kernkraftwerke in der Bundesrepublik Deutschland

Kernkraftwerk (Standort)

Typ

I..dstuntI MWe

NuId.lDbetrleboahme

Betreiber

S. ADh. B. Nr.16 S. ADh. B. Nr.16

BibIis A

DWR I

1204

1974

BibIis B

DWR

1300

1976

Brokdorf

DWR

1380

1986

S. ADh. B. Nr.15

Brunsbüucl

SWR2

806

1976

S. ADh. B. Nr.18

FmsIand

DWR

1314

1988

S. ADh. B. Nr.5

Grafenrbeinfeld

DWR

1300

1981

S. ADh. B. Nr.20

Greifswald 1 Greifswald 2 Greifswald 3 Greifswald 4 Greifswald 5-8

DWR DWR DWR DWR DWR

408 408 408 408 jew.408

1974 1975 1978 1979

------

KGR3 KGR KGR KGR KGR

Grobnde

DWR

1365

1984

S. ADh. B. Nr.14

GroßweIzheim

HDR4

25

1969

KfK5

2

AnmerkuDgen

Betrieb seit 1992 unterbrocben

1990 stiUgelegt. 1990 sti1lgelegt. 1990 sti1lgelegt. 1990 stiUgelegt. Bau eingestellt.

1974 sti1lgelegt.

Druckwasserreaktor Siedewasserreaktor Kernkraftwerk Greifswald GmbH (Tochtergesellschaft der Energiewerke Nord AG).

4

Heißdampfreaktor

427

Anhang

Nukl.Inbe-

Betrdber

Amnerkungaa

250

1966

S. AM. B, Nr.2

SWR

1310

1988

Gundremmingen C

SWR

1310

1988

S. AM. B, Nr.2 S. AM. B, Nr.2

1980 stillgelegt, Abrißgenehmi8ung 1992 erteilt.

Hamm-Uentrop

H1R6

308

1983

S. AM. B, Nr.17

bar 1

SWR

907

1977

bar 2

DWR

1405

1988

S. AM. B, Nr.l0 S. AM. B, Nr.11

Jülich

HTR

15

1966

AVR7

1988 stil1gelegt.

Kahl

SWR

16

1960

VAK8

1985 stillgelegt, Abbruch erfolgt seit 1988, seit 1992 wegen eines Unfalls unterbrochen.

KaIkar

SBR9

327

------

S. AM. B, Nr. 12

Bau eingesteUt.

Karlsruhe KarlsruheIl

DWR SBR

58 21

1965 1977

KBG IO KBG

1984 stillgelegt.

Krümmel

SWR

1316

1983

S. AM. B, Nr.19

Lingen

SWR

268

1968

KWL 11

Kernkraftwerk (Standort)

Typ

LeIstung

Gundrcmmingen A

SWR

GundrcmmingenB

MWe

triebnahme

1988 stillgelegt.

1979 stil1gelegt.

Kernforschungszentrum Karlsruhe GmbH (Gesellschafter: Bund 90 %, Land BadenWürttemberg 10 %). Hochtemperaturreaktor 7 Arbeitsgemeinschaft Versuchsreaktor GmbH (Gesellschafter: verschiedene Stadtwerke und kommunale Energieversorgungsunternehmen). Versuchsatomkraftwerk Kahl GmbH (Gesellschafter: RWE 80 %, Bayernwerk 20 %). Schneller Brutreaktor \0 Kernkraftwerks-Betriebsgesellschaft mbH (Gesellschafter: Badenwerk 100 %). 11

Kernkraftwerk Lingen GmbH (Gesellschafter: VEW 100 %).

428

Anhang

Kernkraftwerk (Standort)

Typ

Leistung MWe

Nukl. Inbetriebnabme

Betreiber

Amnerkungen

Mülheim-Kärücb

DWR

1308

1986

S. Anh. B, Nr.13

Betrieb seit 1988 unterbrochen (Verfahren anhängig).

Neckar 1

DWR

855

1976

Neckar 2

DWR

1300

1988

S. Anh. B, Nr.l S. Anh. B, Nr.l

Niederaichbach

DRR 12

106

1972

KfK

Obrigheim

DWR

357

1968

S. Anh. B, Nr.3

Philippsburg 1

SWR

900

1979

Philippsburg 2

DWR

1349

1984

S. Anh. B, Nr.4 S. Anh. B, NT. 4

Rheinsberg

DWR

70

1966

KKWR 13

Stade

DWR

662

1972

S. Anh. B, Nr.9

Stendal A Stendal B

DWR DWR

1000 1000

-----------

KKS 14 KKS

Unterwcser

DWR

1300

1978

S. Anh. B, Nr.8

WÜTgassen

SWR

670

1971

S. Anh. B, Nr.6

Wyhl

DWR

ca. 1300

----.-

S. Anh. B, Nr.7

12

13 14

1974 stillgelegt. Abriß erfolgt seit 1990.

1990 stillgelegt.

Bau eingesteUt. Bau eingesteUt.

Bauarbeiten seit 1975 unterbrochen. Plan zur Errichtung inzwischen aufgegeben.

Druckröhrenreaktor Kernkraftwerk Rheinsberg GmbH (= Tochtergesellschaft der Energiewerke Nord AG). Kernkraftwerk Stendal GmbH (= Tochtergesellschaft der Energiewerke Nord AG).

Anhang

429

B. Beteiligungsstruktur der Kernkraftwerksbetreiber l5 1.

Neckarwerke Kernkraft GmbH (NKK) - Neclcar 1 u. 2 93,39 %: Neckarwerke ElektrizitätsversorgllD8s-AG

L L

ca. 60 %: Neckar-Elektrizitätsverband (einseh!. Verbandsgemeinden) 32 %: Energie-VersorgllD8 Scbwaben AG 43,3 %: Zweckverband Oberschwäbische Elektrizitätswerke 18,8 %: Landeselektrizitätsverband Wilrttcmberg

13,7 %: Gemeindeelektrizitätsverband Schwarzwald-Donau 13,4 %: Technische Werke der Stadt Stult8art AG

L L

10 %: Landeshauptstadt Stult8art 90 %: Stult8arter Versorgungs- und VerkehrsgeseUschaft mbH

L

100 %: Landeshauptstadt Sult8art

10,4 %: Landesbeteiligungen Baden-Wilrttemberg GmbH

L

100 %: Land Baden-Württemberg

0,4 %: sonstige Gemeinden

6,61 %: ZEAG Zementwerk Lauffen-Elektrizitätswerk HeiJbronn AG

Über 50 %: Stadt HeiJbronn [

2.

t

über 25 %: Heidelberger Zement AlctiengeseUschaft

L

über 25 %: FGB Frankfurter GeseUschaft für Bauwerke mbIL B. Metzler seel. Sohn & Co. KGaA, Koenigs-Familie, Schwenk-ramilie, Merkle-Spohn-Familie, Wlesböck-Familie

Rest: Streubesitz

Kernkraftwerk RWE-Bayernwerk GmbH (KRB I u. II) - Gundremmingen B und C 75 %: RWE Energie AG

L

100 %: RWE AlctiengeseUschaft

L

s. Nr. 22

25 %: Bayemwerk AlctiengeseUschaft Bayerische Landeseiektrizitätsversor811D8

L

s. Nr. 21

15 Die Zusammenstellung basiert im wesentlichen auf den Angaben in 'Wer gehört zu wem' (hrsg. von der Commerzbank), 'Wegweiser durch deutsche Unternehmen' (hrsg. von der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank), 'Kernkraftwerke in der Bundesrepublik Deutschland' (hrsg. vom Deutschen Atomforum e.V.), 'Jahrbuch der Atomwirtschaft 1993' (hrsg. von Wolf-Mo Liebholz), S. 126 ff., 'The Price Waterhouse European Companies Handbook 1990' und der Aufstellung in der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung' vom 17. 2. 1988, S. 12. Vgl. ferner Hanung, Atomaufsicht, S. 49 ff. und ders., DÖV 1992, 395 f. Aus GIilnden der Übersichtlichkeit werden einzelne mehrfach auftretende Beteiligungsgesellschaften gesammelt am Ende dargestellt.

Anhang

430 3.

Kernkraftwerk Obrlgbelm GmbH (KKO o. KWO) 35 %: Energie-Vel1lOl'g\1118 Scbwaben AG 43.3 %: Zweckverband Obencbwäbiscbe E1ektrizitätswedce 18,8 %: Landeselektrizitätsverband WilrUcmberg 13,7 %: Gemeindeeleklrizititsverband Scbwarzwald-Donau 13,4 %: Techniscbe Wedce der Stadt Stuttgart AG

L L

10 %: Landesbauptstadt Stutl8art 90 %: Stuttgarter Vel1lOl'g\III8s- und Vedcebrsgesellschaft mbH

L

100 %: LandesbauplStadt Sutl8art

.

10,4 %: Landesbeteiligungen Baden-WilrUcmberg GmbH

L

100 %: Land Baden-WilrUcmberg

0,4 %: sonstige Gemeinden 28 %: Badenwedc AG 50 % + 1 Aktie: Landesbeteiligungen BadenlWilrUcmberg GmbH

L

100 %: Land BadenlWilrUcmberg

15 %: Badiscber E1ektrizitilSverband (Großkommunen und Verbinde des öffentI. Recbts) 10 %: OEW-Beteiligungsgesellschaft mbH

L

100 %: Landkreise WilrUcmbergs

Rest: Streubesitz 14 %: Techniscbe Wedce der Stadt Stutl8art AG

L L

10 %: Landesbauptstadt Stutl8art 90 %: Stutl8arter Vel1lOrgungs- und Vedcebrsgesellschaft mbH

L

100 %: Landesbauptstadt Stutl8art

10 %: Neckuwedce E1ektrizilälSversorgungs-AG

L L

ca. 60 %: Neckar-E1ektrizitätsverband (einscbl. Verbandsgemeinden) 32 %: Energie-Versorgung Schwaben AG

L

s.o.

5 %: Stadt Karlsruhe 2,2 %: Stadtwedce Ulm Neu-Ulm GmbH 1,7 %: ZEAG Zementwedc lAuffen-E1ektrizilälSwek Heilbronn AG Über 50 %: Stadt Heilbronn [

über 25 %: Heidelberger Zement Aktiengesellschaft

L

über 25 %: FGB Frankfurter Gesellschaft für Bauwedce mbl!, B. Metzler seel. Sohn & Co. KGaA, Koenigs-Familie, Scbwenk-ramilie, Merlde-SpohnFamilie, Wiesböck-Familie

Rest: Streubesitz 0,4 %: Stadt HeidenheimlBrenz Rest: Kraftiibertragungswedce Rheinfeiden AG und 4 weitere kleinere E1ektrizititswedce

Anhang 4.

431

Kernkraftwerk PblHppsburg GmbH (KKP) - Pbilippsburg 1 u. 2 50 %: Badenwerlc AG 50 % + 1 Aktie: Landesbeteiligungcn BadcnlWilrttcmbcrg AG

L

100 %: Land BadenIWilrttcmbcrg

15 %: Badischer E1ektrizititsverband (Großkommuncn und Verbinde des öffend. Rechts)

10 %: OEW-BcteiligungsgcscUschaft mbH

L

100 %: Landkreise WOrUembergs

Rest: Streubesilz 50 %: Energie-Versorgung Schwaben AG

43,3 %: Zweckverband Obcrschwibische E1ektrizititswerlce 18,8 %: Landeselektrizititsverband WOrUemberg 13,7 %: Gemeindeelektrizititsverband Schwarzwald-Donau 13,4 %: Technische Werlce der Stadt Stuttgart AG

L L

10 %: Landcshauptstadt Stuttgart 90 %: Stuttgartcr Versorgungs- und Verlcehrsgcscllschaft mbH

L

100 %: Landeshauptstadt Suttgart

10,4 %: Landesbeteiligungen Baden-Wilrttcmberg GmbH

L

s.

t

100 %: Land Baden-WOrUembcrg

0,4 %: sonstige Gemeinden

Kernkraftwerke Lippe-Fms GmbH (KKE) - Kernkraftwerlc EInstand 75 %: VEWAG

L

t

s. Nr. 25

25 %: ELEKTROMARK Kommunales E1ektrlzititswerlc Marle AG 16

t

90 %:

S~dt Hagen, andere Städte, Gemeinden und Kreise, Landschaftsverban4 WestfalenLippe

10 %: CONTIGAS Deutsche Energie-AG

L81 %: Bayemwerlc Aktiengesellschaft

s. Nr. 21

Rest: Streubesitz (ca. 8000 Aktionäre)

6

Kernkraftwerk Wiirgassen (KWW)

L

100 %: Prcussen Elektra AG

L

100 %: VEBA-AG

L

s. Nr. 23

16 Die Ele1ctromark AG beabsichtigt, ihren Anteil an der KKE je zur Hälfte an die RWEEnergie AG und die Preussen-Ele1ctra AG zu verkaufen (SZ v. 18. 12. 1992, S. 34 u. v. 29. 11. 1993, S. 26). Außerdem sollen kommunale Beteiligungen an der ELEKlROMARK AG in der Größenordnung von ca. 20 % des Grundkapitals an die VEW AG und an die RWE-Energie AG verkauft werden.

Anhang

432 7.

Kernkraftwerk Süd GmbH· plante Bau und Betrieb eines Kernkraftwerks auf Gemarkung Wyhl 50 %: Badenwerlc AG 50 % + 1 Aktie: Landesbetei1igungen BadenJWiirUemberg AG

L

100 %: Land BadenIWiirUemberg

15 %: Badischer Elektrizititsverband (Großkommunen und Verbände des öffentI. Rechts) 10 %: OEW-Betei1igungsgesellschaft mbH

L

100 %: Landkreise WiirUembergs

Rest: Streubesitz 50 %: Energie-Versorgung Schwaben AG 43,3 %: Zweckverband Oberschwäbische Elektrizitätswerlce 18,8 %: Landeselektrizititsverband WiirUemberg 13,7 %: Gemeindeelektrizitätsverband Schwarzwald-Donau 13,4 %: Technische Werke der Stadt Stuttgart AG

L L

10 %: Landeshauptstadt Stuttgart 90 %: Stuttgarter Versorgungs- und Verlcehrsgesellschaft mbH

L

100 %: Landeshauptstadt Suttgart

10,4 %: Landesbetei1igungen Baden-Württcmberg GmbH

L

100 %: Land Baden-WiirUemberg

0,4 %: sonstige Gemeinden

8.

9.

Kernkraftwerk Unterweser GmbH (KKU)

L

100 %: Preussen Elektra AG

L

t

100 %: VEBA-AG

L

s. Nr. 23

Kernkraftwerk Stade GmbH (KKS) 66,67 %: Preussen Elektra AG

L

t

100 %: VEBA-AG

L

s. Nr. 23

33,33 %: Hamburgische Electricitätswerlce AG ca. 71 %: Hamburger Gesellschaft für Betei1igungsverwaltung mbH (HGV)

L

100 %: Freie und Hansestadt Hamburg

Rest: Streubesitz (ca. 1700 Aktionäre)

tr

Anhang

433

10. Kernkraftwerk Isar 1 GmbH (KKI-l)

%: Bayemwert AktiCD8cscllschaft Bayerische LandcselektrizititsverordnllD8 s. Nr. 21

50 %: lsar-Ampcrwerte AG

L

s. Nr. 24

11. Gemdn8dulllskernkraftwerk Isar 2 GmbH (KKI 2 GmbH) 40 %: Bayemwert AktiCD8esellschaft Bayerische LandcsclektrizititsverordnllD8

L

s. Nr. 21

25 %: lsar-Amperwerte AG

L

s. Nr. 24

25 %: Stadtwerke MQnchen

L

100 %: StadtMQnchen

10 %: Energieversorguog Oslbayem AG (OBAG) über 50 %: Bayemwert AG Bayer. Landcscleklrizitilsversorguog

tt

L

s. Nr. 21

28,33 %: Energiebetcilisuo8sgesellschaft mbH 75 %: CONTIGAS Deutsche Energie-AG L81 %: Bayemwerk AG Bayer. LandeselekUizititsversorguog

s. Nr. 21

Rest: Streubesitz (ca. 8000 Aktion.lre)

25 %: Bayemwert AG Bayer. Landeselektrizitltsversorguog

1,72 %: Freistaat Bayem Rest: Streubesitz (c.a. 1900 Aktion.lre)

12. Sdmdl-BrOter-Kernkraftwerksgesellscbaft mbB (SBK) - Bauherrin des nicht in Betrieb genommenen •SchneUen Brutreaktors' , KaIkAr 68,85 %: RWE Aktiengesellschaft

~L

s .Nr.22

14,75 %: N.V.

samenwert~de

E1eIctricitcits Produktibedrijven, Amheim, NL

14,75 %: S.A. E1ectmnucleauc N.V., Brüsscl, B

1,65 %: Nuclear E1ectric pie., London, GB

13. Mülheim Kärlich

L

100 %: RWE Aktiengesellschaft

L

28 lIorgmaDn

s. Nr. 22

434

t

Anhang

14. Kernkraftwerk Grobnde GmbH (KWG) 50 %: Preusscn E1elctra AG

L

100 %: VEBA-AG

L

s. Nr. 23

50 %: GemeiDscbaftskraftwerk Wcscr GmbH 33,33 %: Stadtwerke Bielefeld GmbH

L

100 %: Stadt Bielefeld

33,33 %: E1ektrizititswerk Minden-Ravensbcrg GmbH 16,7 %: Kreis Herford 16,6 %: Herforder VersoTg1lD8s- und Verkehrs- BctciliguDgsgesellscbaft mbH 15,8 %: Kreis MindenlLObbccke 14,9 %: Mindener Hafen GmbH 9,9 %: Landkreis Scbsumburg 4,5 %: WCSItI1isch-Uppische Vermögcnsverwaltull8sgesellscbaft mbH 21,6 %: Weitere Stidtc und Gemeinden im Versorgungsgebict 33,33 %: E1ektrizititswerk Wesertal GmbH

~:

:: :='Ol7minden

17 %: Landkreis Scbsumburg

t

17 %: Landkreis Hameln-Pyrmont

15. Kernkraftwerk Brokdorf GmbH 80 %: Preussen Elektra AG

L

t

100 %: VEBA-AG

L

s. Nr. 23

. 20 %: Hamburgische E1ectricititswerke AG ca. 71 %: Hamburger Gesellscbaft fIlr BetciliguDgsverwaltull8 mbH (HGV)

L

100 %: Freie und Hansestadt Hamburg

Rest: Strcubesitz (ca. 1700 AktioDirc)

16. Blblls A und B

L

100 %: RWE-Energie AG

L

100 %: RWE Aktiengesellscbaft

L

s. Nr. 22

Anhang 17. Hochtemperatur-Kernkraltwerk GmbH (HKG)

31 %: VINI AG

L

- errichtete und betrieb den stillgelegten ThoriumHochtemperaturreaktor Hamm-Uentrop

s. Nr. 23

26 %: Gemeinschaftslcraftwerlc Weser GmbH 33,33 %: Stadtwerlce Bielefeld GmbH

L

100 %: Stadt Bielefeld

33,33 %: EIektrizititswerlc Minden-RAvensberg GmbH 16,7 %: Kreis Herford 16,6 %: Herforder Versorgungs- und Verlcebrs- Beteiligungsgesellschsft mbH

15,8 %: Kreis MindenlLübbecke 14,9 %: Mindener Hafen GmbH 9,9 %: Landkreis Schaumburg

4,5 %: Westfilisch-Lippische Vermögensverwaltungsgesellschsft mbH

t

21,6 %: Weitere Stidte und Gemeinden im Versorgungsgebiet

33,33 %: EIektrizititswerlc Wesertal GmbH 46 %: Kreis Lippe 20 %: Landkreis Holzminden 17 %: Landkreis Schaumburg

t

17 %: Landkreis Hameln-Pyrmont

26 %: ELEKlROMARK Kommunales EIektrizitätawerlc Marle AG

t t

90 %: Stadt Hagen, andere Stidte, Gemeinden und Kreise, Landschaftsverband Westfalen-LIppe 10 %: CONTIGAS Deutsche Energie-AG

L81 %: Bayemwerlc Aktiengesellschaft

s. Nr. 21

Rest: Streubesitz (ca. 8000 Aktionäre)

12 %: Gemeinschafiskraftwerlc Hattingen GmbH 52 %: VINI AG

L

s. Nr. 23

48 %: Wuppertaler Stadtwerlce AG

L99,524 %: StadtWuppertal

L

0,476 %: Stadt Schwelm

5 %: Stadtwerlce Aachen AG

L

100 %: Energieversorgungs- und Verlcebrsgesellschaft mbH Aachen

L

99,99 %: Stadt Aachen

435

436

tt

Anhang

18. Kernkraftwerk Brunsbüttd GmbH 66,67 %: Hamburgische Electricitätswerlce AG ca. 71 %: Hamburger Gesellschaft filr BetciliguDgsverwaltung mbH (HGV)

L

100 %: Freie und HlDSestadt Hamburg

Rest: Streubesitz (ca. 1700 Aktionäre)

33,33 %: Preussen Elektra AG

L

t

100 %: VEBA-AG

L

s. Nr.23

19. Kernkraftwerk Krümmd GmbH 50 %: Preussen Elektra AG

L

t

100 %: VEBA-AG

L

s. Nr. 23

50 %: Hamburgische Electricititswerlce AG ca. 71 %: Hamburger Gesellschaft filr BeteiliguDgsverwaltung mbH (HGV)

L

100 %: Freie und HlDSestadt Hamburg

Rest: Streubesitz (ca. 1700 Aktionäre)

20. Kernkraftwerk Grafenrheinfdd (KGG)

L

100 %: Bayemwerlc Aktiengesellschaft Bayerische Landeselektrizititsversorgung

L

s. Nr. 21

Einzelne Gesellschaften, die an mehreren Anlagen unmittelbar oder mittelbar beteiligt sind: 21. Bayemwerk Aldiengesdlschaft Bayerische Landesdektrlzltätsversorgung (beteiligt an N r. 2, 5, 10, ll, 17,20) 17 58,26 %: Freistaat Bayern

t

38,84 %: VIAG Aktiengesellschaft

L,

24 9 %: Bayemwerlc Aktiengesellschaft Bayerische Landeselektrizitätsversorgung s.o.

10 %: Isar-Amperwerlce Aktiengesellschaft

L

s. Nr. 24

Rest: Streubesitz

2,9 %: Bezirlte Niederbayern, Oberbayern, Unterfranlcen; KreisQberlandwerlc Oberpfalz GmbH; Oberfrankenstiftung

17 Am 23. 7. 1993 haben der Freistaat Bayern, das Bayernwerk und die VIAG eine Grundsatzvereinbarung über den Verkauf der Anteile des Freistallls Bayern an der Bayernwerk AG an die VIAG getroffen. Der Freistaat soll dafilr eine Beteiligung von 25,1 % an der VIAG sowie einen Barausgleich in der Größenordnung von mindestens I Milliarde DM bekommen. Die UntelZeichnung des endgültigen Vertragswerks soll noch vor dem Ende der Legislaturperiode in Bayern, also vor dem Herbst 1994, erfolgen. Die Transaktion soll dann Ende 1994/Anfang 1995 vollzogen werden (vgl. SZ v. 24.125. 7. 1993, S. 1,33 und 34.).

Anhang

437

22. RWE Aktimgesdlschaft (beteiligt an Nr. 2, 5, 10, 11, 12, 13, 16, 17,20)

L Stimmenmehrheit (60,S %): Juristische Personen des öffentlichen Rechts 18 L ~ehrheit (69,6 %): private Investoren (über 190.000 Aktionäre)19

23. Vereinigte FJektrizltäts- und Bergwerks AG (VEBA-AG)20 (beteiligt an Nr. 6, 8, 9, 14, 15, 18, 19) 29,53 %: ausländische Inveslmenl8esellschaften 26,82 %: inländische Privatpersonen 11,64 %: inländische Versicherungen und Banken 9,94 %: inländische Inveslmenl8esellschaften 3,71 %: inländische Öffentliche Haushalte 3,68 %: ausländische Privatpersonen 2,38 %: inländische Industrieunternehmen 2,19 %: ausländische Unternehmen aus Industrie, Handel und Verkehr 2,11 %: inländische VermögensveIWaItunsen 1,61 %: ausländische Versicherungen und Banken 5,59 %: sonstige ausländische Anleger 0,41 %: inländische Handels- und Verkehrsunternehmen 0,39 %: inländische Wohlfahrtsverbände und Stiftungen

18 21 Städte, 32 Kreise und 11 sonstige Körperschaften; teilweise zusammengeschlossen im 'Verband kommunaler Aktionäre' (VkA). Diese besitzen Aktien mit 20-fachem Stimmrecht (vgl. § 3 der Satzung der RWE-AG i.d.F. v. 27. 2. 1986) und damit 60,5 % Stimmenanteil bei nur 30,4 % Kapitalanteil. 19 Davon befinden sich (bezogen auf das Gesamtkapital) 20,7 % in der Hand von Banken und Versicherungen, 9,5 % in der Hand von Industrie und Handel und 6,3 % in der Hand von Investment-Gesellschaften. 20 Ursprünglich zu 43,75 % im Besitz des Bundes, seit Män 1987 privatisiert (ca. 543.000 Aktionäre). Seit 1992 befinden sich 10 % der VEBA-AG in der Hand einer Zwischenholding, an der insgesamt neun institutionelle Anleger - darunter die Allianz-Holding AG und die Dresdner-Bank AG - beteiligt sind (SZ v. 24. 12. 1992, S. 35).

438

Anhang

t tt

24. Isar-Amperwerke AttIeagesdlsdudt (beteiligt an Nr. 2, 5, 10, 11, 17,20) 75,1 %: Isarwerke GmbH

46 %: Bankhaus Merd:, Fink & Co. 25 %: RWE Aktiengesellschaft

L

s. Nr. 22

ca. 19 %: Erben der GrOnderfamilien 10 %: Allianz-Aktiengesellschaft Holding über 25 %: Milncbener Rückversicbenmgsgesellschaft 25 %: Allianz-Aktiengesellschaft Holding

L

s.o.

5 %: Commercial Union Assurance Comp. LId., London

Rest: Streubesitz

ca. 10 %: Lccb-E1elctrizitltswerlce AG 49,9 %: Lahmeyer Akteingcsellschaft für Energiewirtschaft

tt

64,13 %: RWE AktiengeseUschaft

L

s. Nr. 22

24 %: Allianz Aktiengesellschaft Holding

über 25 %: Milncbener Rückversicbenmgsgesellschaft 25 %: Allianz-Aktiengesellschaft Holding

L

s.o.

5 %: Commercial Union Assurance Comp. LId., London

Rest: Streubesitz

Rest: Streubcsitz 25,36 %: RWE Aktiengesellschaft

L

s. Nr. 22

8,43 %: Kommunal- und Bczirlcskörperschaftcn; Freistaat Bayern

C:.8:r.%~IBayemwerk

4,8 %: Großkraftwerlc Franken AG

Rest: Streubesitz Rest: Streubesitz

AG

Anhang 25. VereinJKte E'Jektrizitlitswerke Westfalen (VEW) AG (beteiligt an Nr. 5, 17)

37,6 %21: Kommunale Energie·Beteiligungsgesellschaft mbH 48,2 %: Dorttnunder Stadtwerke AG

L

100 %: Stadt Dorttnund

23,5 %: Wcsttlli.sche Versorgungs· und Verkehrs· Beteiligungsgesellschaft mbH

L L

46,2 %: LandschaftsveJband Westfalen1l.ippe 53,8 %: Hochsauerlandkreis

28,3 %: Westdeutsche Landesbank GirozeniraIe

~

43'2 %: Land NordrheinlWcstfaien

16,7 %: Rheinischer Sparbsscn. und Giroverband 16,7 %: WestfiIisc:h·Lippischer Sparkassen· und Giroverband 11,7 %: Landschaftsverband Rheinland 11,7 %: Landschaftsverband Westfalen·Lippe

t

25,3 %22: Energie-Verwaltungs-Gesellschaft mbH 30 %: CONTIGAS Deutsche Energie-AG L81 %: Bayemwerk Aktiengesellschaft

s. Nr. 21 Rest: Streubesitz (c.a. 8000 Aktionäre)

30 %: RWE-AG

L

s. Nr. 22

25 %: Deutsche Bank AG

L

Streubesitz (c.a. 310.000 Aktionäre)

t

15 %: Allianz Lebensversicherungs-AG 25 %: Allianz Aktiengesellschaft Holding Qber 25 %: Milnchener Rßckversicherungs-Gesellschaft

L L

25 %: Allianz Aktiengesellschaft Holding 5 %: Commercial Union Assurance Comp. LId. London

Rest Streubcsitz (c .•. 50.000 Aktionirc)

25 %: Milnchener RQckversicherungs-Gesellschaft 18 %23: sonstige kommunale Aktionäre 19,1 %24: Streubesitz

21

22 23 1A

= Stimmenanteil von 43,8 % (vinkulierte Namensaktien mit dreifachem Stimmrecht).

= Stimmenanteil von 15,5 %. = Stimmenanteil von 28,9 % (vinkulierte Namensaktien mit dreifachem Stimmrecht). = Stimmenanteil von 11,8 %.

439

Literaturverzeichnis Achterberg, Norbert: Die interkörperschaftliche Haftung im Bundesstaat am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, DVBI. 1970, S. 125 ff. Arbeitskreis jiJr Umweltrecht: Standortplanung ftlr technische GroßanIagen - Vorsorge und Sicherung - , Anhörung des Arbeitskreises ftlr Umweltrecht (AKUR), - Beiträge zur Umweltgestaltung, Band A 70, Berlin 1980 (zit.: Standortplanung).

Amim, Hans-Herbert v.: Finanzzuständigkeit, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band IV - Finanzverfassung - Bundesstaatliche Ordnung, (hrsg. v. Josef Isensee und Paul Kirchhof), Heidelberg 1990, §103. AschIce, Manfred: Übergangsregelungen als verfassungsrechtliches Problem, Frankfurt 1987, zugl. Diss. Gießen 1987 (zit.: Übergangsregelungen). Backherms, J.: Bestandsschutz und wesentliche Änderungen, in: 6. Deutsches Atomrechts-Symposium, Referate und Diskussionsb.:richte (hrsg. v. Rudolf Lukes), Köln u.a. 1980, S. 173 ff. Badura, Peter: Die Erftlllung öffentlicher Aufgaben und die Unternehmenszwecke bei der wirtschaftlichen Betätigung der öffentlichen Hand, in: Staatsrecht - Völkerrecht - Europarecht, Festschrift ftlr Hans-Jürgen Schlochauer (hrsg. v. Ingo von Münch), BerlinlNew York 1981, S. 3 ff. (zit.: Wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand).

- - : Rechtsfragen der Preisaufsicht, in: Probleme des § 12a B1'O EIt (Veröffentlichungen des Instituts ftlr Energierecht an der Universität zu Köln, Bd. 51, hrsg. v. Bodo Börner), Baden-Baden 1983, S. 9 ff. (zit.: Preisaufsicht). - - : Die Unternehmensfreiheit der Handelsgesellschaften - Ein Problem des Grundrechtsschutzes juristischer Personen des Privatrechts, DÖV 1990, S. 353 ff. Balles, Joachim: Immissionsgrenzwerte und Art. 2 Abs. 2 GG, BB 1978, S. 130 ff. Bandilsch, Georg (Begr.): Gemeinschaftskommentar zum Handelsgesetzbuch 4. Auflage, Neuwied 1989 (zit.: Bandasch-Bearbeiter).

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durch

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