Rechtfertigung im Gespräch: Das Rechtfertigungsverständnis in den Religionsgesprächen von Hagenau, Worms und Regensburg 1540/41 9783666551727, 352555172X, 9783525551721

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Rechtfertigung im Gespräch: Das Rechtfertigungsverständnis in den Religionsgesprächen von Hagenau, Worms und Regensburg 1540/41
 9783666551727, 352555172X, 9783525551721

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V&R

Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte

Herausgegeben von Adolf Martin Ritter

Band 64

Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1996

Rechtfertigung im Gespräch Das Rechtfertigungsverständnis in den Religionsgesprächen von Hagenau, Worms und Regensburg 1540/41

von

Athina Lexutt

Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1996

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnahme

Lexutt, Athina: Rechtfertigung im Gespräch: das Rechtfertigungsverständnis in den Religionsgesprächen von Hagenau, Worms und Regensburg 1540/41 / von Athina Lexutt. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1996 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte; Bd. 64) Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 1994/95 ISBN 3-525-55172-X NE: GT

© 1996 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen.

Disputatorem agam, non iudicem, inquisitorem, non dogmatisten. (Erasmus von Rotterdam)

MEINEN ELTERN INGRID UND ALFONS WECHMANN

Vorwort

„Dank fachlichem Wissen allein ist der Theologe nicht schon wirklich bei der Sache. Um so dankbarer wird er für Texte, die ihn dahin mitnehmen." (Gerhard Ebeling) Bei meiner Mitarbeit am DFG-Forschungsprojekt „Die Edition der Akten und Berichte der Religionsgespräche von Hagenau und Worms 1540/41" bin ich auf solche Texte gestoßen, in denen mitunter heftig und kompromißlos um diese ,Sache' gerungen wird; und in der vorliegenden Arbeit habe ich versucht, der .Sache' so nahe wie möglich zu kommen, so nahe, wie die Theologen ihr 1540/41 waren. „Bei ihr zu sein" ist wohl die Aufgabe eines ganzen Lebens, aber die Beschäftigung mit den Texten hat mich schon ein wenig auf den langen, spannenden und lohnenswerten Weg dahin mitgenommen. Dabei gab und gibt es Menschen, denen ich dafür danken möchte, daß sie als .Wegweiser', .Wegbereiter' und .Wegbegleiter' für mich da waren und da sind: der Ev.-Theol. Fakultät der Rheinischen-Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn unter ihrem Dekan Herrn Prof. Dr. Horst Seebass für die Annahme der Arbeit als Dissertation im Wintersemester 1994/95 (für den Druck wurde der Text um die seit Abgabe neu erschienene Literatur ergänzt); Herrn Prof. Dr. Karl-Heinz zur Mühlen für alle Mühe als mein .Doktorvater'; Herrn Prof. Dr. Karl Heinrich Faulenbach für die Erstellung des Zweitgutachtens; dem Rektor der Universität Bonn und der Evangelischen Kirche im Rheinland für erhebliche Druckkostenzuschüsse; Herrn Dr. Arndt Ruprecht als Verleger und Herrn Prof. Dr. Adolf Martin Ritter als Herausgeber der Reihe für die Aufnahme der Arbeit sowie für ihre wertvolle Unterstützung zum inhaltlichen und formalen Gelingen des Drucks; neben den genannten besonders den Herren Professoren J.F. Gerhard Goeters, Joachim Mehlhausen, Hermann Dembowski und Friedrich Wintzer dafür, daß sie mir für Lehre, Leben und Erleben von Theologie Anstöße, Beispiele und Vorbilder gegeben haben. „Die Dankbaren - eine Burleske." (Elias Canetti) Bevor also aus dem Danken ein Theater zu werden droht, ein letzter, der sich kaum in Worte fassen läßt. Er gebührt meinen Eltern. Sie haben nicht nur diese Arbeit mehrfach auf inhaltliche und äußere Fehler hin gelesen, sondern mir auch in all den Schwierigkeiten, die der Weg zur .Sache' mit sich bringt, stets mit Rat und Tat zur Seite gestanden, mir Mut und Kraft gegeben und dafür gesorgt, daß ich bei allem nötigen Emst meinen Humor nicht verliere und die erasmische Mahnung nicht vergesse. Siegburg, im September 1995

Athina Lexutt 7

Inhalt

1. Einleitung 1.1 Einführung in die Problemstellung und die Aufgabe 1.2 Ein Forschungsüberblick 1.3 Die Methode dieser Arbeit 2. Das Rechtfertigungsverständnis in den Religionsgesprächen von Hagenau, Worms und Regensburg 1540/41 2.1 Die Religionsgespräche 1540/41 in Hagenau, Worms und Regensburg. Eine historische Einführung 2.1.1 Die geschichtliche Entwicklung bis 1540 2.1.2 Der Verlauf der Gesprächstage in Hagenau, Worms und Regensburg 1540/41 2.1.2.1 Hagenau (12. Juni - 28. Juli 1540) 2.1.2.2 Worms (28. Oktober 1540 - 18. Januar 1541) 2.1.2.3 Regensburg (5. April - 29. Juli 1541) 2.1.3 Zusammenfassimg 2.1.4 Die Partei der sogenannten „Erasmianer" 2.2 Das Thema der Rechtfertigung in den Religionsgesprächen von Hagenau, Worms und Regensburg 1540/41 2.2.1 Das Vorfeld der Religionsgespräche 2.2.1.1 Die Confessio Augustana Invariata von 1530 2.2.1.2 Die Confutatio von 1530 2.2.1.3 Die Apologie der Confessio Augustana von 1530/31 2.2.1.4 Die veränderte Ausgabe der deutschen Confessio Augustana von 1533 2.2.1.5 Die Loci Melanchthons von 1533 und 1535 2.2.1.6 Die Schmalkaldischen Artikel Martin Luthers von 1537 2.2.1.7 Die Leipziger Einigungsformel von 1539 2.2.1.8 Zusammenfassung Einleitende Bemerkung zu den folgenden Texten 2.2.2 Hagenau 2.2.2.1 Das Wittenberger Gutachten vom 18. Januar 1540

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23 23 25 32 32 38 43 46 46 50 50 50 56 60 66 69 73 75 79 80 81 81 9

2.2.2.2 Die Zusammenstellung der wichtigsten Streitpunkte zwischen Katholiken und Protestanten durch Johannes Fabri im März 1540 2.2.2.3 Das Gutachten Nauseas über die Confessio Augustana zum Hagenauer Konvent 1540 2.2.3 Worms 2.2.3.1 Die Confessio Augustana Variata von 1540 2.2.3.2 Die Vorgespräche der Protestanten vom 9. bis 18. November 1540 2.2.3.3 Die Gutachten der Altgläubigen zur Confessio Augustana vom 15. Dezember 1540 2.2.3.3.1 Das Mehrheitsgutachten 2.2.3.3.2 Das Gutachten der Pfälzer 2.2.3.3.3 Das Gutachten Brandenburgs 2.2.3.3.4 Das Jülicher Gutachten 2.2.3.4 Die Stellungnahmen Melanchthons zu Erbsünde und Rechtfertigung von 1540 2.2.3.5 Das Wormser Buch vom Dezember 1540/ Januar 1541 2.2.3.6 Das Gespräch zwischen Melanchthon und Eck über die Erbsünde vom 14. bis 17. Januar 1541 . . . . 2.2.3.7 Der Vergleichstext zum Erbsündenartikel vom 18. Januar 1541 2.2.4 Regensburg 2.2.4.1 Die zweite Fassung des Rechtfertigungsartikels des Wormser / Regensburger Buches von 1541 . . . . 2.2.4.2 Das Regensburger Buch in seiner Endgestalt von 1541 2.2.4.3 Die Reaktionen auf das Regensburger Buch

94 104 112 112 127 149 151 158 163 166 173 177 215 232 236 236 243 260

3. Schluß

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Literaturverzeichnis

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Namen- und Ortsregister

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Sachregister

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1. Einleitung

1.1 Einführung in die Problemstellung und die Aufgabe

Der Titel dieser Arbeit setzt voraus, daß die Rechtfertigung ein .Thema' auf den Religionsgesprächen von Hagenau, Worms und Regensburg war, und er impliziert, Rechtfertigung sei auch heute noch ein .Thema'. Dieses könnte von zwei Perspektiven aus hinterfragt werden: - Offiziell sind die Religionsgespräche der 40er Jahre des 16. Jahrhunderts an dem nicht lösbaren Dissens in der Sakramenten- und Ämterfrage gescheitert. Ist es also legitim, das Augenmerk der Untersuchung auf einen Topos zu richten, der gar nicht den Stellenwert genoß, den man ihm aufgrund einer erst in der Folgezeit entstehenden Tradition beigelegt hat? Zugespitzt formuliert: War das Thema der Rechtfertigung in Hagenau, Worms und Regensburg überhaupt ein .Thema', jedenfalls eines mit einer solchen Bedeutung, die es wert ist, daß ihm eine Arbeit dazu gewidmet wird? - Die zweite Anfrage hat ihren Grund in den Ergebnissen der ökumenischen Diskussion der letzten Jahre1. Wenn man diesen Glauben schenken darf, dann ist die Frage der Rechtfertigung im interkonfessionellen Gespräch erledigt. Abgesehen davon, daß die hierüber auf beiden Seiten ausgesprochenen Lehrverurteilungen als Kinder ihrer Zeit heute längst überholt sind2, scheinen

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Einen Überblick über die ökumenische Debatte seit 1974 gewährt etwa Gauly, Peter: Katholisches Ja zum Augsburger Bekenntnis? Ein Bericht über die neue Anerkennungsdiskussion, Freiburg i.Br./Basel/Wien 1980 (zahlreiche Literatur dort S. 120-126); vgl. auch Meyer, Harding/Gaßmann, Günther: Rechtfertigung im ökumenischen Dialog, (ökPer 12) Frankfurt a.M. 1987. 2 Das ist zweifellos u.a. ein Verdienst der Studie „Lehrverurteilungen - kirchentrennend?": Bd. I. Rechtfertigung, Sakramente und Amt im Zeitalter der Reformation und heute. Eine Studie des ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen, hg. von Karl Lehmann und Wolfhart Pannenberg, Freiburg i.Br. 1986; nicht zu Unrecht hat diese Studie eine breite Diskussion nach sich gezogen, vgl. etwa die starke Kritik von Baur, Jörg: Einig in Sachen Rechtfertigung? Zur Prüfung des Rechtfertigungskapitels der Studie des ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen: „Lehrverurteilungen - kirchentrennend?", Tübingen 1989; eine 11

auch die dahinter verborgenen Sachprobleme keine mehr zu sein. Bisweilen gewinnt man gar den Eindruck, als sei schon die Auseinandersetzung in der Reformationszeit ein im Grunde nichtiger Streit gewesen, der nicht zu einer Trennung der Kirche in zwei Konfessionen hätte führen müssen. Entschärft von der Polemik und dem Grobianismus der Zeit enthielten die Aussagen um die Frage, wie das Verhältnis von Gott und Mensch zu bestimmen sei, ein völlig verändertes Aussehen. Man müsse erkennen, daß der „articulus stantis et cadentis ecclesiae" in der Tradition einen Nimbus erhalten habe, der ihm bereits im 16. Jahrhundert nicht zukam und im 20. erst recht nicht mehr zusteht. Zwar scheint Luther selbst den Weg gewiesen zu haben, daß die Rechtfertigungslehre diejenige ist, mit der die Kirche steht und fallt3, aber dies muß ja nicht allgemeingültiges Richtscheit sein. Wenn diese Sicht richtig ist, stünde die folgende Arbeit in der Gefahr, eine Frage wiederum zu einem .Thema' und damit zu einem .Problem' zu stilisieren, das nie eines war und damit auch keines mehr ist; und das heißt in der Konsequenz: Man würde die Fortschritte in der ökumenischen Diskussion ignorieren und mit einem gewissen konservativen Anspruch Fragen aufwerfen, die ihre Bedeutung eingebüßt zu haben scheinen. Es ist deutlich, daß beide Anfragen eng miteinander verflochten sind. Die Beantwortung der historischen Frage betrifft immer zugleich auch die hermeneutische Fragestellung, ob das Maß der „Wittenberger Elle" in der Frage der Rechtfertigung ein damals wie heute geeignetes Maß ist, um die .Grenzlinie' zwischen den Konfessionen zu beschreiben. Wenn die historische Analyse zeigen sollte, daß bei den Religionsgesprächen 1540/41 die Justifikationslehre in der lutherischen Ausprägung einen zentralen Stellenwert genoß, dann sollte dieser Stellenwert auch heute noch Geltung in der interkonfessionellen Auseinandersetzung haben; und Entsprechendes gilt auch für den umgekehrten Fall. Die Betrachtimg richtet sich ja auf eine Zeit, in der zum einen die Reformation ihre .Sturm- und Drang-Phase' bereits hinter sich hatte, in der sich also die Lehre bereits herausgebildet und gefestigt hatte; zum anderen aber ist diese Zeit eine solche, die wohl mehr als jede andere von dem Wunsch gekennzeichnet war, noch einmal eine Verständigung zwischen Tradition und Reformation herbeizuführen, bevor das Trienter Konzil den endgültigen Schnitt vorgenommen hat. Die Texte beider Parteien zur Rechtfertigungslehre sind also vor allem vor diesem Hintergrund zu lesen. Man muß sie demnach als Aussagen interpretieren, die zum

Übersicht zu dieser Diskussion bei Kühn, Ulrich: Rechtfertigung und Kircheneinheit, in: Luther 63 (1992), S. 111-122. 3 Nämlich in den Schmalkaldischen Artikeln, wo es heißt: „Von diesem Artikel kann man nichts weichen oder nachgeben." (Zit. nach: Meyer, Harding/Schütte, Heinz (Hg.): Confessio Augustana. Bekenntnis des einen Glaubens. Gemeinsame Untersuchung lutherischer und katholischer Theologen, Frankfurt a.M. 1980). 12

einen die theologischen Differenzen in der Frage um die iustificatio hominis sehr genau kennen; zum anderen aber kann man an ihnen mehr als bei allen anderen kontroverstheologischen Dokumenten der Reformationszeit ablesen, welches Gewicht diesen Differenzen in der konkreten Situation beigemessen wurde. Wird angesichts der angestrebten und gewünschten Religionsvergleichung an der je eigenen Position um jeden Preis festgehalten oder ist man an manchen Stellen zu einem Kompromiß, gar zu einem Nachgeben, bereit? Die vorliegende Arbeit sieht sich folglich vor zwei Aufgaben gestellt: - Bisher wurden noch nicht alle relevanten Texte der Religionsgespräche 1540/41 zum Thema der Rechtfertigung in einer Zusammenschau untersucht; dies wurde nur selektiv für einzelne Dokumente und Autoren unter je sehr spezifischen Gesichtspunkten unternommen. Darüber hinaus ist zu bemängeln, daß die Texte oftmals nur recht oberflächlich, weil unter anderer übergeordneter Fragestellung, interpretiert oder - zumeist in älteren Arbeiten - tendenziös aus der Perspektive einer konfessionellen Polemik heraus behandelt wurden." - Das Ergebnis der historischen Analyse muß hinsichtlich seiner Bedeutung für die heutige ökumenische Diskussion fruchtbar gemacht werden. Wenn dies freilich auch nicht der Ausgangspunkt der historischen Betrachtung ist, so muß doch klar sein, daß gerade in diesem Fall die geschichtliche Komponente unerläßliche Voraussetzung für die systematisch-dogmatische Konsequenz und die hermeneutische Methode im interkonfessionellen Dialog ist. Nur im Bewußtsein des historischen Ist kann verantwortungsvoll nach dem ökumenischen Soll gefragt werden; nur in der Klarheit des eigenen Woher kann die Sicht auf das gemeinsame Wohin ermöglicht werden. Dabei kann es in dieser Arbeit nicht darum gehen, die Auseinandersetzung mit der ökumenischen Debatte unserer Jahre zu führen; dies wäre ein Thema für sich. Ihr Anliegen kann es nur sein, für eben diese Debatte gegebenenfalls einige Akzente zu setzen. Bevor die sich daraus ergebende Methode dieser Arbeit vorgestellt wird, muß nun erst ihr Status quo innerhalb der Forschungsgeschichte sichtbar gemacht werden.

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Vgl. dazu den folgenden Forschungsüberblick; natürlich ist auch diese Arbeit nicht frei von konfessioneller Perspektive - und insofern hat auch sie eine .Tendenz'; sie bemüht sich jedoch, nicht .tendenziös' zu sein, womit eo ipso mindestens der Grundstein für eine Polemik gelegt wäre. 13

1.2 Ein Forschungsüberblick

Es ist in der Kirchengeschichte kein seltenes Phänomen, daß verschiedene Epochen, Ereignisse und Personen zugunsten anderer einigermaßen vernachlässigt werden, was die Sorgfalt der Betrachtimg, wenn sie denn geschieht, betrifft. Entsprechendes gilt auch für die Erforschung der Religionsgespräche von Hagenau, Worms und Regensburg 1540/41. Die Ursache dafür ist in diesem Fall vor allem in einer bisher unzureichenden Aufarbeitimg der Quellen zu suchen. Zwar ist vereinzelt Material anzutreffen', doch ist dieses jeweils unter ganz bestimmten Aspekten zusammengetragen worden2, die zwar auch wichtig und interessant sind, jedoch weniger zur Darstellung der Religionsgespräche insgesamt beitragen. Dies ist ein Umstand, der auch die hier vorliegende Arbeit vor schwierige Aufgaben stellte, wenn es etwa darum ging, die Entstehungsgeschichte eines Textes exakt zu beschreiben. Erst in unseren Jahren hat sich ein Forschungsprojekt die Aufgabe gestellt, die Akten und Berichte der Kolloquien zu edieren sowie text- und sachkritisch zu kommentieren.3 Aufgrund dieser Quellen wird dann wohl auch eine angemessene und umfassende historische und theologische Beurteilung der Gespräche stattfinden können, wobei mit einigen Überraschungen gerechnet werden darf, wie ein Einblick in bisher unveröffentlichtes Quellenmaterial verrät. Denn die Bearbeitung der Religionsgespräche der Reformationszeit, die Aufarbeitung der Quellen sowie deren Auswertung in reichs-, territorial- und schließlich auch theologiegeschichtlicher Hinsicht stecken auch 500 Jahre später noch immer in den Anfangen. Die Kompendien der Kirchengeschichte etwa neigen dazu, dieser Epoche höchstens wenige Zeilen zu widmen.4 Aber auch Einzeluntersuchungen sind mehr als spärlich und wegen der bisher nicht ausreichend erforschten Quellenlage zudem teilweise in ihren Ergebnissen unzureichend.5

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Etwa in ARC m oder CR m und IV. In ARC unter der Fragestellung der katholischen Kontroverstheologie, im CR als Aktenmaterial von und zu Melanchthon. 3 Vgl. dazu einen ersten Bericht von zur Mühlen, Karl-Heinz: Die Edition der Akten und Berichte der Religionsgespräche von Hagenau und Worms 1540/41, in: Standfester Glaube. Festschrift für J.F.G. Goeters zum 65. Geburtstag, hg. von Heiner Faulenbach, (SVRKG 100) Köln 1991, S. 47-62, hier S. 50-53. 4 Vgl. als ein Beispiel unter vielen: Heussi, Karl: Kompendium der Kirchengeschichte, 16. Aufl. Tübingen 1981, S. 301f. 5 Im Folgenden wird die Forschungsgeschichte nur in wesentlichen Punkten dargestellt und längst nicht alle Literatur genannt; eine Auseinandersetzung mit einzelnen 2

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Einen Überblick über die Forschungsgeschichte zu den Religionsgesprächen gibt Cornells Augustijn'. Er nennt zuerst die Auseinandersetzung von Ludwig Pastor7 mit Leopold von Ranke', der die Unselbständigkeit der katholischen Stände der Milde der evangelischen gegenübergestellt hatte; Pastor dagegen bezeichnete im Zuge der ultramontanistischen Kirchengeschichtsschreibung alle Vergleichshandlungen als einen Teil der Erhebung der Protestanten gegen Kaiser und Kirche. Pastor wiederum wurde in dieser Hinsicht von Reinhold Moses9 und Paul Vetter10 korrigiert. Durch die Herausgabe der Nuntiaturberichte von Ludwig Cardauns" wurde die Sicht Moses' unterstützt, denn durch diese Quellen wurde die Verstrickung der römischen Kirche und der katholischen Stände sichtbar. Einen neuen Aspekt brachte in den dreißiger Jahren Robert Stupperich ein12, der den Einfluß des Humanismus, insbesondere des Erasmus von Rotterdam, auf zahlreiche Vermittlungstheologen hervorhebt, die ihrerseits in nicht unerheblichem Maße die Religionsgespräche beeinflußt haben. Seiner Sicht sind vor allem Hubert Jedin" sowie Franz Lau und Ernst Bizer14 gefolgt; ebenfalls unterstützt wurde seine These durch Peter Fraenkel15 und Cornells Augustijn" selbst. Die Arbeiten dieser beiden Forscher sind vor allem auch deshalb herauszuheben, weil sie sich beide um eine objektive Darstellung der Religionsgespräche bemühen, dazu die Quellen - soweit bekannt - genau analysieren und besonders der Frage nachgehen, wie und unter welchen Bedingungen die theologischen Themen innerhalb dieser Gespräche behandelt wurden. Zuletzt hat Albrecht Pius

Positionen und deren Bewertung findet an späteren, geeigneten Stellen der Arbeit statt, ebenso die Nennung weiterer wichtiger Literatur. ' De godsdienstgesprekken tussen rooms-Katholieken en Protestanten van 1538 tot 1541, Haarlem 1967, S. 1-5; ders.: Die Religionsgespräche der vierziger Jahre in: Müller, Gerhard (Hrsg.): Die Religionsgespräche der Reformationszeit, Gütersloh 1980, S. 43-53, hier S.43f. 7 Die kirchlichen Reunionsbestrebungen während der Regierung Karls V. An den Quellen dargestellt, Jena 1879; später von ihm: Zur Geschichte der kirchlichen Unionsund Reformbestrebungen von 1538 bis 1542, (BPHIR V) Rom 1910. * Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation Bd. 4, Leipzig 1869. ' Die Religionsverhandlungen zu Hagenau und Worms 1540 und 1541, Jena 1889. 10 Die Religionsverhandlungen auf dem Reichstage zu Regensburg 1541, Jena 1889. 11 Nuntiaturberichte aus Deutschland, Gotha 1892ff. 12 Der Humanismus und die Wiedervereinigung der Konfessionen, (SVRG 160) Leipzig 1936. 13 Die Geschichte des Konzils von Trient I. Der Kampf um das Konzil, Freiburg 1951. 14 Reformationsgeschichte Deutschlands bis 1555, in: KiG 1964, S. 114-125. 13 Einigungsbestrebungen in der Reformationszeit, (VIEG 41) Wiesbaden 1965 als frühestes Werk. " Godsdienstgesprekken ..., a.a.O.

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Luttenberger den humanistischen Einfluß hinsichtlich verschiedener Territorien kritisch untersucht und den Aspekt der Konfessionsneutralität betont.17 Die Vorbereitungsgespräche der Protestanten in Worms sind von Wilhelm H. Neuser zunächst im Blick auf die Rolle Calvins und seine spätere positive Beurteilung des Regensburger Buches untersucht" und später auch dokumentiert worden". Generell mit dem Problem .Religionsgespräche' befaßt sich eine Studie von Marion Hollerbach20, die dankenswerterweise erst einmal eine Begriffsklärung vor dem historischen Hintergrund vornimmt und somit erlaubt, die Jahre 1540/41 in ihrer Eigenart zu charakterisieren. Schließlich sei noch auf eine Aufsatzsammlung hingewiesen, die aus einem Symposion zum Thema „Religionsgespräche der Reformationszeit"21 in Wolfenbüttel hervorgegangen ist. Zur hier zu verhandelnden Frage, unter welchen Bedingungen und mit welchen Ergebnissen im Kontext der Religionsgespräche 1540/41 über das Thema .Rechtfertigung' verhandelt worden ist, ist erstaunlich wenig und dazu ausschließlich selektiv gearbeitet worden. Namentlich das Wormser bzw. Regensburger Buch war es, das bisher im Mittelpunkt des Interesses stand. Spätestens seit der Feststellung von Josef Lortz22, daß in Regensburg „aus dem politischen wie aus dem theologischen Lager beider Parteien die Männer zusammen waren, die einer Union am meisten günstig gesinnt waren"23, ist deutlich, warum es gerade dieser Text war, der einer genaueren Untersuchung wert schien. Zwar waren die .ökumenischen' Verhandlungen in Regensburg gescheitert - immerhin schien eine Einigung auf der Basis dieses Regensburger Buches für kurze Zeit jedenfalls möglich. Könnte nicht vielleicht in Aufnahme der dort formulierten Vermittlungsposition ein Neuanfang des interkonfessionellen Dialogs gemacht werden? Befreit von den historisch bedingten religionspolitischen Zwängen und den verhärteten Fronten würden die Formeln eventuell heute dienlich sein, die zum damaligen Zeitpunkt nicht greifen konnten. Es ist also kein Wunder, daß dieser

17 Glaubenseinheit und Reichsfriede. Konzeptionen und Wege konfessionsneutraler Reichspolitik (1530-1552) (Kurpfalz, Jülich, Kurbrandenburg), (SHKBA 20) Göttingen 1982. " Calvins Urteil über den Rechtfertigungsartikel des Regensburger Buches, in: Reformation und Humanismus. FS für Robert Stapperich, hg. von Martin Greschat und Johann Friedrich Gerhard Goeters, Witten 1969, S. 176-194. 19 Die Vorbereitung der Religionsgespräche von Worms und Regensburg, Neukirchen-Vluyn 1974. 20 Das Religionsgespräch als Mittel der konfessionellen und politischen Auseinandersetzung im Deutschland des 16. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./Bem 1983. 21 Müller: Religionsgespräche ..., a.a.O. 22 Wert und Grenzen der katholischen Kontroverstheologie in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Um Reform und Reformation (KLK 27/28, 1968) Münster S. 932. 23 Ebd. S. 27f.

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Text von der Forschung stärker beachtet wurde und mit ihm all die Namen, die mit seiner Entstehung und dem anschließenden Urteil darüber in Verbindung gebracht werden. Jüngstes Zeichen dafür ist die sorgfältige Edition des deutschen und des lateinischen Textes des Wormser Buches in den Deutschen Schriften Martin Bucers24; es ist zu erwarten, daß diese Edition die Forschungen zu Entstehimg und Inhalt des Wormser/Regensburger Buches neu belebt; die historische Einführung jedoch25 und ein die neue Edition vorstellender und nutzender Aufsatz von Cornells Augustijn26 stellen noch keine neuen Ergebnisse vor. Im Mittelpunkt der älteren Forschung stand zunächst die Person des Kardinallegaten Gasparo Contarini, der als heimlicher Leiter der Regensburger Gespräche den Einigungstext des Regensburger Buches unterstützt und verteidigt hat und bei dem es von Interesse war, seine Aussagen zum Thema der Rechtfertigung ganz allgemein zu untersuchen und mit denen des Konsenspapiers zu vergleichen. Dies unternahmen nacheinander Friedrich Hünermann27, Franz Dittrich28, Hanns Rückert2' und Hubert Jedin30. Robert Stupperich war es dann, der im Zuge seiner Untersuchungen zum humanistischen Einfluß auf die Religionsgespräche das Augenmerk auf die Entstehung des Textes lenkte" und damit auch auf andere Theologen, insbesondere den Kölner Johannes Gropper, der zusammen mit Martin Bucer den Vorentwurf, das Wormser Buch, in Geheimverhandlungen erarbeitet hatte. Als erster bemühte sich Lipgens 1951 darum, die Rechtfertigungslehre Groppers darzulegen32; aber erst die umfassende Arbeit von Reinhard Braunisch aus dem Jahre 1974 zur Rechtfertigungslehre des Enchiridions Groppers33 erlaubte eine sorgfaltigere Beurteilung von Groppers Aussagen zur Rechtfertigung allgemein und dann auch im späteren Kontext der Wormser Geheimverhandlungen und des 24 In: BDS Bd. IX/1: Religionsgespräche (1539-1541), bearbeitet von Cornells Augustijn, S. 338-483. 25 Ebd. S. 323-336. 26 Das Wormser Buch. Der letzte ökumenische Konsensversuch Dezember 1540, in: BPfKG 62 (1995), S. 7-24; dem Aufsatz ist eine Übersetzung des Wormser Buches in Gegenwartsdeutsch angehängt (S. 25-46). 27 Die Rechtfertigungslehre des Gasparo Contarini, in: ThQ 102 (1921), S. 1-22. 28 Zu Artikel V des Regensburger Buches von 1541, in: HJ 13 (1892), S. 196f. 29 Die theologische Entwicklung Gasparo Contarinis, (AKG 6) Berlin 1926. 30 An welchen Gegensätzen sind die vortridentinischen Religionsgespräche zwischen Katholiken und Protestanten gescheitert?, in: ThGl 48 (1958), S. 50-55. und ders.: Kardinal Contarini als Kontroverstheologe, (KLK 9) Münster 1949. 31 Der Ursprung des „Regensburger Buches" von 1541 und seine Rechtfertigungslehre, in: ARG 36 (1939), S. 88-116. 32 Kardinal Johannes Gropper 1503-1559 und die Anfänge der katholischen Reform in Deutschland, (RGST 75) Münster 1951. 33 Die Theologie der Rechtfertigung im „Enchiridion" (1538) des Johannes Gropper. Sein kritischer Dialog mit Philipp Melanchthon, (RGST 109) Münster 1974.

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Regensburger Gesprächs. Ein besonderes Verdienst der Untersuchung Braunischs lag darin, die bisher undifferenzierte Sicht von duplex iustitia und duplex iustificatio ans Licht gebracht, von dort aus manche Fragen neu beantwortet und die Differenzen zwischen Groppers „Enchiridion" und den Aussagen des Wormser Buches genauer herauskristallisiert zu haben. Daraus ergab sich u.a. die Beobachtung, daß die Formel von der duplex iustitia in Groppers „Enchiridion" nur ansatzweise vorgebildet war.34 Von daher ist auch die Studie Walther von Loewenichs35 aus dem Jahre 1972 zur duplex iustitia und der Stellung Luthers zu dieser Formel etwas in den Schatten getreten. Erst ein Aufsatz von Karl-Heinz zur Mühlen3® von 1979 nahm die neuen Erkenntnisse Braunischs auf und gelangte so zu einer wenn auch knappen, so doch klaren und angemessenen Beurteilung der Position Luthers. Zu Bucer und seinem Einfluß auf das Wormser/Regensburger Buch fehlt eine gleichwertige Arbeit. Wiederum dem Rechtfertigungsartikel des Regensburger Buches widmete sich neuerdings auch Gottfried Martens in einem Kapitel seiner Arbeit über den Begriff der „Rechtfertigung des Sünders"37. Joachim Mehlhausen3' dagegen untersuchte als bisher einziger den Abendmahlsartikel genauer. Eine weitere, jüngst erschienene Studie ist hervorgegangen aus einer gemeinsamen Tagung der Katholischen Akademie in Bayern und der Evangelischen Akademie Tutzing zum 450. Jahrestag des Regensburger Religionsgesprächs; sie beschäftigt sich in fünf kleineren Beiträgen auf eher populärwissenschaftlichem Niveau u.a. auch mit den ökumenischen Perspektiven des Gesprächs3'. Eine Studie von Cornells

Vgl. Braunisch: Enchiridion ..., a.a.O. S. 428. Duplex iustitia. Luthers Stellung zu einer Unionsformel des 16. Jahrhunderts, (VIEG 68) Wiesbaden 1972. 34 Die Einigung über den Rechtfertigungsartikel auf dem Regensburger Religionsgespräch von 1541 - eine verpaßte Chance?, in: ZThK 76 (1979), S. 331-359; zwischenzeitlich faßte Johannes Meier (Das „Enchiridion christianae institutionis" von Johannes Gropper. Geschichte seiner Entstehung, Verbreitung und Nachwirkung, in: ZKG 86 (1975), S. 289-328) die historischen Ergebnisse in kritischer Auseinandersetzung mit der Forschung zusammen; jüngst nahm Edward Yamold (Duplex iustitia. The Sixteenth Century and the Twentieth, in: Christian Authority. Essays in Honor of Henry Chadwick, ed. by Gillian R. Evans, Oxford 1988, S. 204223, hier besonders S. 205-213) die Formel der duplex iustitia erneut auf, um über ihren Stellenwert im 16. Jahrhundert und heute nachzudenken. 37 Die Rechtfertigung des Sünders - Rettungshandeln Gottes oder historisches Interpretament? Grundentscheidungen lutherischer Theologie und Kirche bei der Behandlung des Themas „Rechtfertigung" im ökumenischen Kontext, (FSÖTh 64), Göttingen 1992. 31 Die Abendmahlslehre des Regensburger Buches, in: Studien zu Geschichte und Theologie der Reformation. FS für Emst Bizer, Neukirchen 1969, S. 189-211. 39 Barth, Hans-Martin/Bienert, Wolfgang u.a.: Das Regensburger Religionsgespräch im Jahr 1541. Rückblick und aktuelle ökumenische Perspektiven, Regensburg 1992. 34

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Augustijn40 nennt den Reichstag von Regensburg einen „turning-point" und hebt die Bedeutung dieses Reichstages für die Frage der Konfessionalisierung hervor: „The Diet of Regensburg was a turning-point in the quest of reformatio because of the drastic change the idea of reformatio went through during the Diet. ... From now on the way was open for a purely catholic council and the construction of separate Protestant churches. Reformatio was dead, as dead as a doornail."41 Neben den Untersuchungen zum Regensburger Buch ist den Texten, die sich ebenfalls in diesem historischen Kontext mit dem Themenkreis Erbsünde und Rechtfertigung beschäftigen, wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden. Von Wilhelm Maurer existiert eine Studie über die auf dem Wormser Kolloquium vorgelegte Confessio Augustana Variata42. Die Behandlung der Rechtfertigungslehre geschieht in diesem Aufsatz jedoch nur neben der von vielen anderen Gesichtspunkten, und es liegt auf der Hand, daß auf so begrenztem Raum keine angemessene Beurteilung stattfinden kann. Erstaunlicherweise regte auch die gesamte Anerkennungsdebatte der Confessio Augustana43 nicht dazu an, sich mit der Variata eingehender zu beschäftigen. Ausnahme ist hier Peter Fraenkel mit einem Aufsatz, dessen Titel44 in dem Zusammenhang allerdings mehr verspricht, 40

The Quest of Reformatio: The Diet of Regensburg 1541 as a Turning-Point, in: Guggisberg, Hans R./Krodel, Gottfried G. (Hg.): Die Reformation in Deutschland und Europa: Interpretationen und Debatten. Beiträge zur gemeinsamen Konferenz der Society for Reformation Research und des Vereins für Reformationsgeschichte, 25.-30. September 1990, im Deutschen Historischen Institut, Washington, D.C., (ARG-Sonderband) Gütersloh 1993, S. 64-80. 41 Ebd. S. 79f; Augustijn versteht dabei für die Jahre um 1540/41 den Begriff .reformatio' „as the reviving and rebuilding of the one church ... This description makes it sufficiently clear that in my opinion in using the term reformatio the emphasis is laid on rites and church polity and not on doctrines, and that distinguishing between church and state would be senseless for this period, as senseless as an effort to draw definite borderlines between protestantism and catholicism as distinctive organisations." (ebd. S. 64f) 42 Confessio Augustana Variata, in: ARG 53 (1962), S. 97-151. 43 Sie ist seit dem Besuch Johannes Pauls Π. in Deutschland (vgl. dazu Predigten und Ansprachen von Papst Johannes Paul Π. bei seinem Pastoralbesuch in Deutschland sowie Begrüßungsworte und Reden, die an den Heiligen Vater gerichtet wurden. 15. bis 19. November 1980. Offizielle Ausgabe hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 25 A) 3. veränderte Aufl. Bonn o.J.) im Jubiläumsjahr der Confessio Augustana 1980 verstärkt aufgelebt; vgl. weiterhin: Hoffmann, Fritz/Kühn, Ulrich (Hg.): Die Confessio Augustana im ökumenischen Gespräch, Berlin 1980. 44 Die Augustana im Gespräch mit Rom, 1540-41, in: Brecht, Martin/Schwarz, Reinhard: Bekenntnis und Einheit der Kirche. Studien zum Konkordienbuch, Stuttgart 1980, S. 84-103. 19

als dann der Inhalt leistet. Wiederum von Karl-Heinz zur Mühlen stammt der erste Versuch einer Würdigung der katholischen Gutachten zur Confessio Augustana43. Alle Untersuchungen zu den Religionsgesprächen betrachteten also das Thema .Rechtfertigung' stets unter ganz bestimmten biographischen, territorialen oder, was die Dokumente betrifft, punktuellen Gesichtspunkten. Bis heute fehlt eine Arbeit, die der Frage nachgeht, wie dieses zentrale Thema des konfessionellen Konflikts insgesamt im Kontext dieser Kolloquien behandelt wurde, welchen Stellenwert es genoß, ob und wo Ansätze zu Konsensformeln gegeben waren. Dabei ist es für die Beurteilung der vortridentinischen Kontroverstheologie von immenser Bedeutung, welche Chancen und welche Grenzen es 1540/41 hinsichtlich einer Einigung der Religionsparteien gab.

1.3 Die Methode dieser Arbeit

Aus den Aufgaben, die sich diese Untersuchung gestellt hat, und aus dem Überblick, wie bisher dazu gearbeitet worden ist, ergibt sich nunmehr zwangsläufig das methodische Vorgehen dieser Arbeit. Sie wird nach einem knappen Einblick in den allgemeinen historischen Kontext die Texte analysieren, die im unmittelbaren Umfeld oder auf den Religionsgesprächen selbst entstanden sind und sich zentral mit der Rechtfertigungslehre befassen. In dieser Analyse wird der jeweilige Text selbst im Vordergrund stehen, d.h. auf seine Struktur, seine Wortwahl, seine grammatischen, syntaktischen und semantischen Besonderheiten wird Gewicht gelegt werden. Das Wie der Aussagen ist angesichts der historischen Situation und vor dem Hintergrund des Anlasses und des Ziels der Religionsgespräche von großer Bedeutung, was bei der Interpretation verstärkt mitbedacht werden soll. Die Auseinandersetzung mit der Tradition, die ebenso wichtig ist, soll dagegen nicht in der gleichen Ausführlichkeit geführt, jedoch stets mitbedacht werden, wo es für die Interpretation erhellend ist.'

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Die Edition ..., a.a.O. Für den Traditionshintergrund „Thomas von Aquin" verweise ich auf die - in ihren Stärken und ihren Problemen bemerkenswerte - umfangreiche Arbeit von Pesch, Otto Hermann: Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin. Versuch eines systematisch-theologischen Dialogs, (WSAMA.T 4) Mainz 1967; für den Traditionshintergrund „Martin Luther" und die zahlreiche Literatur zu seiner Theologie - und als Korrektiv zu Pesch - sei hingewiesen auf zur Mühlen, Karl-Heinz: Artikel „Luther Π - Theologie", in: TRE 21, S. 530-567 (dort auch umfangreiche Literatur). 1

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Was die Zahl der Dokumente betrifft, wird sich die Arbeit allerdings beschränken und auswählen müssen. Schon aus Platzgründen wird sie nicht alle Texte behandeln können, die das Thema der Rechtfertigung aufgenommen haben; insbesondere solche Schriftstücke müssen hinsichtlich einer detaillierten Analyse ausgeblendet bleiben, die diesen Topos nur am Rande erwähnen; manche dieser Texte sollen allerdings, wenn möglich, an geeigneter Stelle mitbedacht werden. In der Analyse wird sich die Arbeit auf die systematische Fragestellung der iustificatio hominis konzentrieren, so daß viele andere Fragen - wenn überhaupt - dabei nur am Rande und, insofern sie Bedeutung dafür haben, gestreift werden können. Dies wird neben anderen Topoi wie der Abendmahlslehre insbesondere bei kirchenpolitischen, territorialgeschichtlichen und biographischen Kontextproblemen und solchen der Entstehungsgeschichte der behandelten Texte der Fall sein, wo sie zu weit führen würden. So interessant und wichtig sie auch sind, so sehr würden sie doch den Rahmen sprengen. Manch einer mag die zeitliche Begrenzung auf die Jahre 1540/41 für problematisch erachten, zumal die in Hagenau, Worms und Regensburg geführten Kolloquien nicht die einzigen .Religionsgespräche' waren; doch in dieser Beschränkung kann eine Berechtigung gesehen werden aus folgenden Gründen: - Die Gespräche 1540/41 bilden in sich eine gewisse historische Einheit, was ihren Anlaß, ihren Verlauf, ihre Rahmenbedingungen betrifft; die historische Analyse wird diese Feststellung unterstützen und zeigen, wie die drei Kolloquien von einem gemeinsamen Interesse geleitet wurden, wie ähnliche Strukturen ihren Gang bestimmten und wie sie in vielfältiger Hinsicht abhängig von ihrem gemeinsamen historischen Kontext waren. - Die Gespräche sind insofern ein Novum, als sie .Reichs'-Religionsgespräche und nicht mehr nur Gelehrtendisputationen zwischen zwei oder wenig mehr Kollokutoren ohne oder mit Publikum sind. Von daher ist die Zeit davor auszublenden. - Ebenso stehen die Gespräche in der Folgezeit bereits unter dem Eindruck der gescheiterten Verhandlungen und den Vorbereitungen zum 1545 beginnenden Trienter Konzil; sie finden also unter völlig anderen, nämlich verhärteteren und unfreieren Konditionen statt. Deshalb ist auch nach vorn eine bestimmte Grenzlinie gezogen. - Ganz davon abgesehen hat allein die Behandlung dieses Zeitraumes mit so umfangreichem Material zu rechnen, daß jede weitere Ausdehnung den Rahmen dieser Arbeit ins Uferlose sprengen würde. Schließlich muß noch vorausgeschickt werden, daß Bezeichnungen wie .Katholiken' oder auch in der gleichen Schärfe .Protestanten' vor allem eine Art Arbeitstitel darstellen. Wenn mitunter diese Begriffe Verwendung finden und nicht ausschließlich die den Sachverhalt treffenderen oder der Zeit gebräuchlichen wie .Altgläubige' oder .Reformatoren' u.ä., dann nicht, um eine erst später 21

in dieser Form auftretende Konfessionalisierung früher anzusiedeln, als historisch legitim ist, sondern deshalb, um eine gewisse Monotonie zu vermeiden. Es wird deutlich, daß die folgende Untersuchung nur einen Ausschnitt zur Erhellung der Religionsgespräche darstellen kann. Dennoch kann sie gerade durch die selbstgewählte Beschränkung den Lichtstrahl konzentriert auf ein Zentrum der vortridentinischen Kontroverstheologie richten und damit ihrem zweiten, obengenannten Anliegen Rechnung tragen. Möglicherweise gelingt es ihr so, die spezifische Differenz zwischen dem jeweiligen Proprium katholischen und protestantischen Denkens hinsichtlich der Rechtfertigungslehre historisch neu zu bestimmen und kategorial zu fassen, losgelöst von vorgeformten Rastern konfessioneller Engstirnigkeit oder umgekehrt von unscharfer Beliebigkeit. In diesem Sinne kann und will die folgende Arbeit in einem letzten Schritt helfen auf dem Weg zu einer kritischen Herausarbeitung eines protestantischen .Profils'. Sie ist notwendig geworden in einer Zeit, in der es auch auf dem Gebiet des ökumenischen Dialogs nur zwei Wege zu geben scheint: entweder konservativ hinter fragwürdig gewordenen Mauern zu verharren oder aber euphorisch eben diese Mauern niederzureißen, ohne die Folgen zu bedenken. Das Bemühen um ein protestantisches Profil dagegen soll den Mittelweg beschreiten; es will im Erkennen und Bekennen des je Anderen Möglichkeiten eröffnen für das Gemeinsame, das über allem Trennenden verbindet. Nur wenn der Blick geschärft wird zunächst für das, was unterscheidet, kann man daraufhin sensibel werden für das Verbindende. Diese Schärfung aber ist wiederum nur zu erreichen, wenn der Historie Raum gegeben wird, wenn geschaut wird auf das, was gesagt und geschrieben wurde in einer Zeit, in der es wirklich noch um die Frage nach Heil und Unheil des Menschen ging, um die Gottesfrage und die Menschenfrage schlechthin. In dieser Arbeit soll es genau darum gehen, der Historie diesen Raum zu geben. In der Betrachtung dessen, was 1540/41 in Hagenau, Worms und Regensburg die evangelischen und katholischen Theologen zu einem wesentlichen Punkt der Theologie gedacht und gesagt haben, und dessen, was sie auf dem Weg zur Einheit der Kirche erreicht und was sie nicht erreicht haben - in dieser Betrachtung mögen die Wege unserer heutigen ökumenischen Diskussion bedacht und vielleicht neue gefunden werden. Dieses .Bedenken' und vor allem dieses .Finden' kann hier - außer vielleicht in Nebensätzen - nicht geleistet werden. Wohl aber kann, so ist zu hoffen, ein Akzent gesetzt werden, der hilfreich ist für ein .Bedenken' und ein .Finden' eines protestantischen Profils.

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2. Das Rechtfertigungsverständnis in den Religionsgesprächen von Hagenau, Worms und Regensburg 1540/41

2.1 Die Religionsgespräche 1540/41 in Hagenau, Worms und Regensburg. Eine historische Einführung

Eine historisch und theologisch adäquate Analyse und Beurteilung der Religionsgespräche von Hagenau, Worms und Regensburg der Jahre 1540/41 litt - wie bereits in der Einleitung festgehalten wurde - vornehmlich darunter, daß das entsprechende Quellenmaterial nur wenig bekannt oder aber schwer zugänglich war. Bis heute fehlt eine umfassende Zusammenstellung aller Akten und Berichte, die zur Erhellung der Genese, des Verlaufs und der Wirkung dieser drei Kolloquien dienlich sein könnte. Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützte Forschungsprojekt zu den Religionsgesprächen des 16. Jahrhunderts unternimmt es seit 1991, die relevanten Dokumente (zu denen u.a. offizielle Akten, Berichte, Protokolle und Korrespondenzen zählen), zunächst Hagenau und Worms betreffend, zusammenzustellen und in einer Edition zugänglich zu machen. Es ist erlaubt, aus den bisherigen Ergebnissen dieser Forschungsarbeit bereits einige Schlüsse zu ziehen: 1. Das Quellenmaterial zu den Gesprächstagen ist umfangreicher, als sich aus den eher vereinzelten Forschungsbeiträgen zu diesem historischen Komplex vermuten ließ. Abgesehen von den offiziellen Akten begegnen zahlreiche private Aufzeichnungen der Gesandten und Räte im Kontext einer lebhaften Korrespondenz mit ihren nicht persönlich erschienenen Herren (etwa Kursachsen und Hessen). 2. Allein die Fülle des Materials läßt darauf schließen, daß die Bedeutung der Religionsgespräche im unmittelbaren historischen Kontext sehr hoch bewertet wurde. Diese quantitative Beobachtung wird weiter durch die inhaltliche gestützt, die vornehmlich aus dem Sondergut der einzelnen Kodizes rekurriert. Bei diesen Dokumenten handelt es sich in erster Linie um die bereits oben genannten Berichte und Korrespondenzen, in denen sich um vieles deutlicher als in den offiziellen Akten die Atmosphäre dieser Tage spiegelt und in denen die nicht öffentlichen Handlungen und Gespräche wiedergege-

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ben werden. Zudem gewähren sie einen unvergleichlichen Einblick in die Besonderheiten von Personen, Ständen und Territorien angesichts der Frage, ob und mit welchen Mitteln der Religionskonflikt beigelegt werden sollte. 3. In direktem Zusammenhang damit steht eine weitere Beobachtung. Die Religionsgespräche stellen sich dem Betrachter als eigentümliches Konglomerat aus persönlichen, politischen und - oftmals erst an letzter Stelle theologischen Interessen dar. Anders als etwa die Gelehrtendisputationen verdanken die Kolloquien 1540/41 ihr Zustandekommen einer politischen Notsituation, so daß die Fragen bzgl. der Möglichkeiten und Grenzen einer etwaigen Religionsvergleichung unter diesem Druck zur Verhandlung kamen und theologische Interessen mitunter in den Schatten machtpolitischer traten'. Es ist insgesamt wohl nicht übertrieben, die Stimmung der Jahre 1540/41 als .explosiv' zu charakterisieren. Die Reformation stellte nicht mehr nur theologische Anfragen, sondern hatte sich darüber hinaus zu einem politischen und nicht zuletzt wirtschaftlichen Faktor für Kaiser und Reich entwickelt. Bereits der Augsburger Reichstag 1530 hatte ans Tageslicht gebracht, daß die Protestanten ein ernstzunehmendes Problem darstellten, dem durch Schriften, Disputationen oder negative Propaganda nicht wirkungsvoll beizukommen war. Nach dem Reichstag und dem dort fehlgeschlagenen Versuch, eine Religionsvergleichung durchzuführen, arbeitete die Zeit für die Evangelischen. In den zehn Jahren von Augsburg bis zum Hagenauer Kolloquium entwickelte sich die reformatorische Bewegung zu einer nach innen und außen starken und gefestigten Macht, die als Gegner überaus gefahrlich, als Verbündeter jedoch eine wertvolle Hilfe in militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht sein konnte. Als in den späten 30er Jahren des 16. Jahrhunderts mehrere Umstände dazu führten, die Frage der Beilegung des religiösen Konflikts erneut und nun hoffentlich endgültig zu entscheiden, zeitigte es Folgen, daß die Religionssache 1530 nicht entschieden worden war und zwischenzeitlich keine nennenswerten Akzente gesetzt wurden, die eine Konfessionalisierung hätten verhindern können. Für eine Behandlung der Frage, wie das Thema der Rechtfertigung im Kontext dieser Religionsgespräche verhandelt wurde, ergibt sich nunmehr die Aufgabe, die historischen Rahmenbedingungen zu erläutern. Dazu ist es sinnvoll, zunächst die Entwicklung der Jahre bis 1540 in ihren für die Jahre 1540/41 entscheidenden Momenten nachzuzeichnen und anschließend die Gesprächstage von Hagenau, Worms und Regensburg unter besonderer Berücksichtigimg des neu erschlossenen Quellenmaterials in ihrem Verlauf zu skizzieren.

' Vgl. auch: Augustijn: Religionsgespräche..., a.a.O. S. 44f, der die Verbindung von Politik und Religion in allen Bereichen hervorhebt; dazu u.a. Stupperich: Humanismus ..., a.a.O. S. 57-62. 24

2.1.1. Die geschichtliche Entwicklung bis 1540 Das Zustandekommen der Reichsreligionsgespräche von 1540/41 war kein Zufall, sondern ergab sich mehr oder weniger zwangsläufig aus verschiedensten Komponenten. Kaiser Karl V. befand sich um 1540 in einer schwierigen Situation. Der drohenden Umklammerung seines Reiches durch die Türken' und durch Frankreich konnte er nur mit Hilfe der protestantischen Kräfte in Deutschland wirkungsvoll begegnen, von denen darüber hinaus ein Bündnis mit Franz I. von Frankreich zu befürchten war. Er bedurfte der militärischen und wirtschaftlichen Unterstützung der evangelischen Fürsten und mußte den Religionsstreitigkeiten, die der Eskalation zustrebten, entgegenwirken. Der Realisierung eines dauernden Religionsfriedens standen jedoch zwei Tatsachen gegenüber. Zum einen hatten sich die Protestanten in den zehn Jahren seit dem Augsburger Reichstag sowohl nach innen als auch nach außen zu einer Partei im Reich entwickelt, die in ihrer Bedeutung und Kraft nicht zu unterschätzen war. Ihre Wünsche und Forderungen mußten daher weitgehend respektiert werden, um nicht ein frühzeitiges Scheitern der angestrebten Religionsvergleichung zu provozieren. Zum anderen begegnete auf katholischer Seite eine große Skepsis gegenüber jeder friedlichen Lösung der Angelegenheit. Diese wurde im Bereich der weltlichen Fürsten genährt von der Befürchtung, Karl V. könnte bei erfolgreichem Ausgang so gestärkt aus den Verhandlungen hervorgehen, daß den Souveränitätsbestrebungen ein Ende gesetzt wäre.2 Die Vertreter der Geistlichkeit dagegen spürten die Unsicherheit in den eigenen Reihen. Da die .Reform' der Kirche, d.h. vor allem eine geistige Erneuerung noch nicht stattgefunden hatte, konnte eine theologische Debatte nur der Gegenseite Vorteile bringen. Beide Seiten, Altgläubige wie Protestanten, forderten zur Beilegung des Konflikts ein Konzil. Nur ein Konzil sei in der Lage, die strittigen Punkte zu entscheiden, darin war man sich einig. So schrieb Johannes Eck am 13. Februar 1540 an Contarini: „Sed quomodo tantis malis contraibimus? Solo inquam concilio, unico et saluberrimo afflictae ecclesiae remedio ..."3. ' Vgl. Augustijn: Religionsgespräche ..., a.a.O. S. 24f. Jedin: Geschichte ..., a.a.O. S. 287f, bemerkt dazu, daß dies die .Libertät' aller, auch der katholischen Reichsstände" geschwächt hätte; vgl. dazu: Kohler, Alfred: Die innerdeutsche und die außerdeutsche Opposition gegen das politische System Karls V., in: Lutz, Heinrich (Hrsg.): Das römisch-deutsche Reich im politischen System Karls V., (Schriften des Hist. Kollegs 1) München /Wien 1982, S. 107-127, hier S. 120-122. 3 Zit. nach Friedensburg, Walter: Beiträge zum Briefwechsel der katholischen Gelehrten Deutschlands im Reformationszeitalter, in: ZKG 19 (1899), S. 211-264, hier S. 256. 1

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Die Protestanten aber machten deutlich, daß sie nur ein freies Konzil beschicken würden; das bedeutete, dieses Konzil durfte nicht vom Papst einberufen sein, dessen Primat sie nicht anerkannten. Als Papst Paul III. am 2. Juni 1536 ein Konzil nach Mantua einberief, war zu erwarten, daß die Protestanten sich weigern würden, es zu besuchen. Und tatsächlich setzte sich die Mehrheit gegen die Theologen des Schmalkaldischen Bundes auf der Bundesversammlung im Februar 1537 durch, welche gemeint hatten, die Gelegenheit zur Rechenschaftsablegung in Glaubensfragen ergreifen zu müssen. Für diese Versammlung hatte Luther die Schmalkaldischen Artikel verfaßt, an denen der Bruch mit Rom besonders kraß hervortrat. Über vier Artikel, so Luther, könne man mit Rom nicht sprechen, nämlich über die Rechtfertigung sola fide, den Artikel von der Messe, den von Stiften und Klöstern und über das göttliche Recht des Papsttums - die Punkte also, auf die das Wittenberger Gutachten eingeht und die das Zentrum der Vorgespräche der Protestanten in Worms bilden werden." Auf den Einfluß Melanchthons ist es zurückzuführen, daß die Artikel nicht angenommen wurden; denn sie hätten jeden Versuch auf eine eventuell doch noch zu erreichende Einigung mit der Papstkirche schon frühzeitig im Keime erstickt. Statt dessen schloß er die .dogmatische Lücke' der CA, die ansonsten bekräftigt wurde, mit seinem „Tractatus de potestate et primatu papae"5. Nichtsdestotrotz war es dadurch vorläufig unmöglich geworden, den Religionskonflikt mit Hilfe eines Konzils beizulegen. Da Karl V. angesichts der schwierigen innen- und außenpolitischen Lage jedoch nicht auf einen Ausgleich der Parteien verzichten konnte, suchte er nach alternativen Wegen. Der einzig gangbare schien sich dabei an einem Vorschlag des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg vom Mai 1538 orientieren zu müssen. Ein Gespräch auf nationaler Ebene zu führen, an dem der Papst nicht beteiligt war, konnte dabei ein sinnvolles Mittel sein. Dazu bestand die Möglichkeit, bei Beteiligung aller Reichsstände gegen eine reine Theologendiskussion die politischen Notwendigkeiten eines Konsenses so weit herauszustreichen, daß sich diese aus Vernunftgründen gegen eine zu hartnäckige Theologie würden durchsetzen können.' Karl V. griff diesen Vorschlag auf, und er fand dabei die Unterstützung durch „eine ansehnliche Gruppe von Fürsten, darunter vier von den sieben Kurfürsten".7 Die Idee eines solchen Theologengesprächs war nicht neu. Bereits im Zusammenhang des Augsburger Reichstages hatte es den Versuch gegeben, im

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Vgl. dazu hier unter 2.2.2.1 (Wittenberger Gutachten) und 2.2.3.2 (Vorgespräche). Text in BSLK 47M96. 6 Vgl. dazu und ebenfalls zum folgenden Luttenberger: Glaubenseinheit..., a.a.O. S. 185-199. 7 Jedin: Geschichte..., a.a.O. S. 287. 5

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Rahmen von Gesprächen die Lehrstreitigkeiten zu beseitigen.8 Nach der Ablehnung der CA und nach der katholischen Entgegnung durch die Confutatio sollte auf diesem Wege doch noch eine Einigung erzielt werden.' Der Vergleich war gescheitelt, die Idee jedoch blieb. 1534 fand auf Initiative Julius Pflugs in Leipzig ein Gespräch zwischen Vertretern des Erzbischofs von Mainz und reformatorischen Theologen statt.10 Während man sich wohl in der Rechtfertigungslehre erstaunlicherweise näherkam, trat dies für die Probleme bzgl. der Messe nicht ein. Ein zweiter Versuch wurde fünf Jahre später unternommen, wieder in Leipzig", wo die Gesprächsbasis die Lehre der Alten Kirche sein sollte. Teilnehmer des Kolloquiums waren u.a. Martin Bucer, Johannes Feige, Philipp Melanchthon und Georg Witzel. Jedoch fanden die Debatten über bestimmte Kontroverspunkte früher statt (nämlich bereits bei der Diskussion, wie ,Alte Kirche' zeitlich festzulegen sei), als dies der Initiator, der herzogliche Rat Georg von Carlowitz (ein Schwager Pflugs), gedacht hatte; damit war auch dieses Kolloquium von vornherein zum Scheitern verurteilt. So gab es zum Schluß Einigungsvorschläge für wenige Kontroverspunkte, entworfen wahrscheinlich in erster Linie von Georg Witzel und Martin Bucer12, in den Punkten Sündenfall und Erlösung des Menschen, freier Wille, Sakramente, Kirchenbräuche und Ämter.13 Der Entwurf wurde jedoch von den Wittenbergern als Flickwerk und Sophisterei scharf abgelehnt.14 Wieder also war ein Vergleich gescheitelt, aber wieder blieb die Idee. So begannen am 25. Februar 1539 in Frankfurt am Main die Verhandlungen über die Vermittler Joachim II. von Brandenburg und Ludwig V. von der Pfalz. Ergebnis des dort geschlossenen Anstandes vom 19. April waren folgende wesentliche Punkte: - die Anberaumung eines Religionsgespräches zum 1. August 1539 nach Nürnberg; - die Einräumung eines Anstandes (eine Aussetzung des Wormser Ediktes) für sechs Monate und

* Zur Deutung dieser Gespräche vgl. Immenkötter, Herbert: Reichstag und Konzil. Zur Deutung der Religionsgespräche des Augsburger Reichstags 1530, in: Müller: Religionsgespräche ..., a.a.O. S. 7-33. ' Vgl. Hollerbach: Religionsgespräch..., a.a.O. S. 109-112. 10 Vgl. ebd. S. 119f; dazu Stupperich: Humanismus ..., a.a.O. S. 39f. 11 Vgl. ebd. S. 120-123; dazu besonders Cardauns: Unions- und Reformbestrebungen ..., a.a.O. S. 1-24, Stupperich: Humanismus ..., a.a.O. S. 43-47, und Augustijn: Godsdienstgesprekken ..., a.a.O. S. 16-24. 12 Vgl. dazu Cardauns: Unions- und Reformbestrebungen ..., a.a.O. S. 10, und Stupperich: Humanismus ..., a.a.O. S. 46. 13 Vgl. die Besprechung des Textes hier unter 2.2.1.7. 14 Vgl. WA.B 9, S. 8ff; vorher hatte Luther sich durchaus positiv geäußert (vgl. WA.Β 8, S. 647ff); zur scheinbaren Inkonsequenz vgl. Augustijn: Godsdienstgesprekken ..., a.a.O. S. 27f.

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- für die Dauer dieses Anstandes die Aussetzung der Prozesse am Reichskammergericht. Jedoch wehrten sich sowohl die Kurie als auch König Ferdinand und die Mitglieder des Nürnberger Bundes heftig gegen diese Abmachungen, und somit kam die Ratifizierung des Anstandes nicht zustande. Wesentlicher Anteil daran ist unter anderem dem päpstlichen Kardinallegaten Aleander zuzuschreiben, der an den Wiener Hof entsandt wurde, weil der Papst in diesem Abschied die Gefahr eines Abfalls ganz Deutschlands von Rom sah, da er selbst von dem angesetzten Gespräch ausdrücklich ausgeschlossen war. Aleanders Vorwürfe richteten sich insbesondere gegen den von Karl geschickten Bischof von Lund, Johann von Weeze". Ahnlich ablehnend äußerte sich weiterhin der Nuntius Morone, der auch von dem Alternativvorhaben des Reichsvizekanzlers Matthias Held" - ein reines Gelehrtenkolloquium ohne Beteiligung der Stände, unter päpstlichem Vorsitz und mit Vertretern des Kaisers und des französischen Königs - abriet, da solche Gespräche nur die Gegner stärken würden. Auf dem Fürstentag in Gelnhausen hatte wiederum Carlowitz die Frage eines Religionsgesprächs ins Spiel gebracht, war jedoch - mit Ausnahme des Kurfürsten von Brandenburg - auf wenig Gegenliebe gestoßen.'7 Die Idee, mittels eines Reichsreligionsgesprächs der religiösen Mißstände im Reich Herr zu werden, konnte jedoch nicht hintertrieben werden. Als im April 1540 Karls Verhandlungen mit Franz I. gescheitert und türkische Rüstungen verstärkt beobachtet werden konnten, griff der Habsburger Kaiser sein Vorhaben blitzschnell wieder auf. Schon am 18. April erging das Ausschreiben, dessen Stil die Bedrängnis überdeutlich macht: Von „schleuniger frydtlicher hinlegung und vergleychung"18 ist da die Rede und von der „schwär last, so von solicher zweyspalt, der teutscher nation gefarlich vorstehet,... mögen on lengeren verzug hingelegt werden."1' Auf eine möglichst rasche Entscheidung kommt es ihm im Lichte der außenpolitischen Schwierigkeiten also an, während die Protestanten in ihrem Antwortschreiben vom 9. Mai deutlich machen, daß sie

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Vgl. dazu Müller, Gerhard: Die drei Nuntiaturen Aleanders in Deutschland 1520/21,1531/32,1538/39, in: ders.: Causa Reformationis. Beiträge zur Reformationsgeschichte und zur Theologie Martin Luthers. Zum 60. Geburtstag des Autors hg. von Gottfried Maron und Gottfried Seebaß, Gütersloh 1989, S. 249-303, hier S. 295-300. 16 Er hatte dieses Amt seit 1531 inne und hatte mit den Protestanten im Februar 1537 über die Teilnahme am Konzil konferiert. 17 Vgl. Stupperich: Humanismus ..., a.a.O. S. 49; Carlowitz hatte noch einmal am 07.01.1540 an Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen für eine Zusammenkunft folgender Fürsten plädiert: Sachsen, Pfalz, Brandenburg, Trier, Mainz, Köln, Hessen, Franken, Braunschweig und Mecklenburg (vgl. Weimar la, fol. ll-16v). " Zit. nach Neuser: Vorbereitung ..., a.a.O. S. 86. " Ebd. S. 87.

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„begyrich seindt, die Sachen in fryde, ruhe und christlicher enigkeyt vergleychen zu helfen, allein das soliche vergleychung noch heyliger schrift und bestendiger christlicher, apostolischer lere, alß wier auch zu gott hoffen, das es euer Keyserlichen Majestet und aller guthertzigen gemuth und meinung anders nicht sie, geschehen mogte."20 Diese Antwort der Protestanten ist charakteristisch. Sie ist ein Zeichen dafür, welche Wandlung sich seit 1530 vollzogen hat. Jeder Druck auf Rechtfertigung war von den Evangelischen genommen, die Beweislast lag nunmehr unwiderruflich auf der Seite der Altgläubigen.21 Auf dem Weg dahin hatte es mehrere wichtige Stationen gegeben: Gleich nach dem Augsburger Reichstag schlossen sich die Protestanten, der Not gehorchend, zu einem politischen Bündnis zusammen, dem Schmalkaldischen Bund. Da auf eine reichsrechtliche Anerkennung ihres Glaubens nicht zu hoffen war, suchten sie sich wenigstens untereinander zu schützen. Es ist bezeichnend, daß sich diesem Bund auch die Oberdeutschen angeschlossen hatten, die sich ja gerade noch in Glaubenssachen separiert hatten. Man verpflichtete sich zur gegenseitigen Waffenhilfe im Verteidigungsfall, zur Aufstellung eines Bundesheeres und zum geschlossenen Vorgehen gegen die Urteile des kaiserlichen Kammergerichts, welche die Reformation aufhielten. Darin ist - im Unterschied zum Torgauer Bund von 1528 - eine deutliche Spitze gegen Kaiser und Reich abzulesen, was dann auch das Unbehagen Luthers hervorrief, dessen Obrigkeitsverständnis damit zu kollidieren schien; nur widerstrebend gab er seine Zustimmung zu diesem Bündnis, als ihm die Juristen klarmachten, daß die eigentliche Obrigkeit die Territorialherren seien, wie es die Wahlkapitulation besage. Sicherlich verdankt sich der Nürnberger Anstand auch dieser Tatsache, daß die Evangelischen sich nun in einem militärischen Bündnis konsolidiert hatten; er wurde durch die außenpolitische Lage - Papst Clemens VII. hatte sich erneut dem französischen König angenähert - 1532 vom Kaiser erlassen und beinhaltete im wesentlichen folgende Punkte: die Anerkennung der Religion, wie sie in CA und Apologie bekannt wird, für die Mitglieder des Schmalkaldischen Bundes (was freilich immer noch nicht die erstrebte reichsrechtliche Anerkennung war, da der Anstand nicht auf Beschluß des Reichstages zustandegekommen war); die Sistierung aller Prozesse beim Reichskammergericht, sofern sie die Religionssache betreffen; die Festlegung, daß kein Reichsstand den anderen wegen der Religion angreifen durfte. Nachdem der Bund „seine erste Bewährungsprobe als ernst zu nehmender Faktor auf der politischen Bühne bestanden"22 hatte, war er auch innen- und außen20

Ebd. S. 90. Vgl. dazu die Einschätzung bei Augustijn: Wormser Buch ..., a.a.O. S. 9f. 22 Kirchner, Hubert: Reformationsgeschichte von 1532-1555/1566. Festigung der Reformation - Calvin - Katholische Reform und Konzil von Trient, (KGE 2) Berlin 1987, S. 21. 21

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politisch interessant geworden. England und Frankreich suchten seine Nähe wie auch Dänemark, das 1538 Vollmitglied wurde; selbst Bayern, sonst so katholisch-konservativ und antireformatorisch eingestellt wie kaum ein anderes Territorium, stand aus antihabsburgischen Interessen heraus in formaler Allianz mit den Schmalkaldenern.23 Jedoch gelang es in der Folgezeit nicht, den Nürnberger Anstand auf die neu aufgenommenen Mitglieder auszudehnen. Der Bundestag von Schmalkalden 1535 bestätigte jedoch jetzt die zusätzliche Mitgliedschaft von Württemberg (hier hatte sich Philipp von Hessen gegen seinen Mit-Bundeshauptmann Johann Friedrich, den sächsischen Kurfürsten, durchgesetzt), wo Erhard Schnepf, Ambrosius Blarer und Johannes Brenz die Reformation durchsetzten, von Pommern, das der Reformator Norddeutschlands, Johannes Bugenhagen, gewinnen konnte, von Anhalt-Dessau und von den Städten Hamburg, Kempten, Frankfurt am Main und Augsburg. Dazu verlängerte er den Bund bis Februar 1547 und - für unseren Zusammenhang besonders bedeutsam - setzte die Confessio Augustana definitiv als Bundesurkunde fest. Um die vor allem wegen des Abendmahlsartikels bleibende Spannung zwischen den Oberdeutschen und den Lutherischen wenigstens einzudämmen, bemühte sich der Straßburger Reformator Martin Bucer - nach dem Tod Zwingiis 1531 weiter in den Vordergrund getreten - um eine Annäherung, die sich dann positiv in der Wittenberger Konkordie 1536 widerspiegelt, auf Kosten der Schweizer freilich, die ihr Abendmahlsverständnis unter dem Zwingli-Nachfolger Heinrich Bullinger in der zeitgleichen Confessio Helvetica prior zum Ausdruck brachten. Während sich die reformatorische Seite so in den zehn Jahren seit 1530 stetig aufwärts entwickelt hat, ist auf katholischer Seite eine deutliche Depression, ja, eine gewisse Hilflosigkeit zu verzeichnen. 1538 hatte Kardinallegat Aleander dem Papst aus Linz berichtet, „die religiösen Verhältnisse Deutschlands seien fast völligem Ruin nahe, der Gottesdienst und die Sakramentenspendung hätten größtenteils aufgehört, die weltlichen Fürsten, mit Ausnahme Ferdinands I., seien entweder völlig lutherisch gesinnt oder voll Priesterhaß und Gier nach Kirchengütern, die Prälaten lebten nach wie vor ausschweifend und stellten die Kirche bloß, Ordensleute seien fast keine mehr vorhanden, Weltpriester nur in sehr geringer Zahl, und diese seien so unsittlich und so unwissend, daß die wenigen Katholiken sie verabscheuten. Mehr als 1500 Pfarreien seien verwaist; mit Tränen in den Augen müsse er sagen, der Religionszustand gleiche einem großen Chaos."24

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Vgl. dazu Müller, Gerhard: Bündnis und Bekenntnis. Zum Verhältnis von Glaube und Politik im deutschen Luthertum des 16. Jahrhunderts, in: ders.: Causa ..., a.a.O. S. 25-45, hier S. 36f. 24 Pastor: Geschichte ..., a.a.O. S. 255; dazu: Augustijn: Godsdienstgesprekken ..., a.a.O. S. 7. 30

Diesem äußeren desolaten Zustand korrespondierte eine große Unsicherheit im Blick auf die Lehre. Im Gegensatz zur protestantischen Seite gelang es den Katholiken nicht, auf die Anfragen der Reformation zu antworten und durch Abstellung der (auch auf der eigenen Seite als solche bewußten) Mißbräuche, durch verbesserte Priesterausbildung u.ä. Reformbereitschaft erkennen zu lassen. Daraus erklärt sich dann auch die bereits erwähnte Skepsis gegenüber einem wie auch immer gearteten Religionsgespräch. Echter Frieden mit den Protestanten sei nur dann möglich, wenn diese zur kirchlichen Tradition zurückkehrten und ihren häretischen Lehren abschwörten. Diese Meinung bestimmt das gesamte katholische Lager, besonders natürlich den konservativen Teil, der sich ohnehin von jeher der Reformation verschlossen hatte. So erwähnt Ludwig Pastor eine Schrift des Mainzer Kanzlers Konrad Braun vom Herbst 1540, in der - nach Pastor „sehr zutreffend" - bemerkt wird, „nur solche Religionsgespräche seien zulässig, die zur Bekehrung der Irrenden dienen sollen; Gespräche, die zum Zweck hätten, mit den Häretikern in Glaubenssachen einen Vergleich einzugehen, seien nicht erlaubt; denn der katholische Glaube dürfe nicht in Zweifel gezogen werden; doch könne man sich vergleichen in Betreff der kirchlichen Mißbräuche Aus den Instruktionen etwa der Bayern für ihre Gesandten zum Hagenauer und Wormser Tag26, aus denen des Salzburger und des Straßburger Erzbischofs für Worms27 ist dann eine große Skepsis, um nicht zu sagen: Ablehnung gegenüber einem Religionsgespräch herauszuspüren und der Wunsch, daß besser ein Konzil sich dieser unliebsamen Angelegenheit annehmen soll. Auch der Nuntius Morone bemühte sich nach Kräften, die Sache zu hintertreiben.2' Die Skepsis gegen die Wirksamkeit eines Kolloquiums findet sich allerdings auch auf evangelischer Seite. So antwortet etwa Ulm auf das Ausschreiben zum Hagenauer Tag: „Das wir Rom. Kay. Mjt. befholen schreiben ... nit dermassen versteen, das Ir Mjt. gemut. mainung. und vorhalten, dahin gericht sei. uff diesem ußgeschribnen tag die streitigen Religions und glaubenssachen, endlich und gründlich Inn allen puncten, zu vergleichen und zu vertragenn. Dann wann es die meinung imm grand solte haben, So achtenn wir darfür, das Ir Mjt. ain solichs Inn Irem schreiben ... etwas baß erclert, sich annderst daran geschickt, ainen geraumpteren Tag fürgenommen, auch andere taugenliche, 25

Pastor: Geschichte ..., a.a.O. S. 263 Anm. 4. Vgl. ARC ΠΙ, Nr. 66, S. 104-107, und Nr. 95, S. 187-189. " Vgl. ARC ΠΙ, Nr. 97, S. 190-194, und Nr. 98, S. 195f. 21 Vgl. Maurer: Confessio ..., a.a.O. S. 98; zu den Vertretern der unerschütterlich harten Positionen - Fabri sowie Luther für die Protestanten - vgl. Pfhür, Vinzenz: Die Einigung bei den Religionsgesprächen von Worms und Regensburg 1540/41 eine Täuschung? Herrn Prof. Dr. Erwin Iserloh zum 65. Geburtstag, in: Müller: Religionsgespräche ..., a.a.O. S. 55-88. 26

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verstendige und geleite Leüt beidertail Religion dartzu erfordert [und sich an den Frankfurter Richtlinien orientiert hätte] ... Dann Ir Mjt. haben on allen Zweifel vor der ververtigung solichs Ires gethanen schreibens. uß hochbegabten verstand selbst wol erachten und bedencken können. Das onmöglich solich statlich und hoch werckh durch ain solchen weg. und in so kurzer Zeit und eilendtlich abzuhandeln und zu verrichten."2' Diese Diskrepanz zwischen Stärke und Selbstbewußtsein der reformatorischen Seite hier und der Skepsis und inneren Spannung der Altgläubigen dort sollte den Verlauf der Religionsgespräche wesentlich beeinflussen.

2.1.2 Der Verlauf der Gesprächstage in Hagenau, Worms und Regensburg 1540/41 2.1.2.1 Hagenau (12. Juni - 28. Juli

1540f

Bevor der Verlauf des Hagenauer Gesprächstages skizziert wird, soll kurz etwas zur Quellenlage gesagt werden. Der Eigenart des in Hagenau praktizierten Verhandlungsmodus' zufolge sind zur quellenmäßigen Erfassung dieses Gesprächstages zwei Kodizes von Bedeutung, die beide im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München zu finden sind: die Aufzeichnungen des pfälzischen Kanzlers Dr. Heinrich Hase2 geben neben offiziellen Dokumenten die Beratungen innerhalb der Kurfürstenkurie wieder, dazu die diese Sitzungen vorbereitenden Unterredungen innerhalb der pfälzischen Gesandtschaft. Da der Pfälzer zu den von König Ferdinand ernannten Unterhändlern des Gesprächs zählte, beinhaltet dieser Kodex zusätzlich die Aufzeichnungen der Debatten mit den protestantischen Räten. Das Protokoll des Freisinger Kanzlers Dr. Georg Spieß3 notiert dagegen die Beratungen der Fürstenkurie. Beide Quellensammlungen zusammen ermöglichen einen detaillierten Einblick in den Verhandlungsmodus sowie in die Bedingungen, unter denen in Hagenau verhandelt wurde; dabei werden die vielschichtigen Differenzen (nämlich der katholischen Stände dem Kaiser und den Protestanten gegenüber sowie schließ-

2

' Neudecker S. 413; die Reaktionen der Bundesverwandten auf die Einladung zum Religionsgespräch sind vor allem zu finden in Weimar 2a. 1 Eine gute geschichtliche Darstellung findet sich u.a. bei Luttenberger: Glaubenseinheit ..., a.a.O. S. 206-218. 2 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Kasten blau 105/1/Π, im folgenden bezeichnet mit „München 1"; der mitunter sehr schwer lesbare Kodex hat einen Umfang von ca. 310 fol.-Seiten; er liegt zu einem geringen Teil gedruckt vor in ARC ΠΙ, Nr. 77B, S. 147-159. 3 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Hochstift Freising Kasten blau 200/12, im folgenden bezeichnet mit „Freising"; das 90 fol.-Seiten umfassende Protokoll selbst ist vollständig abgedruckt in ARC ΠΙ, Nr. 77A, S. 131-147. 32

lieh der Stände untereinander) sichtbar, die den Gesprächsgang und auch die nachfolgende Wormser Handlung wesentlich beeinflussen sollten. Das Diarium des Würzburger Sekretärs Ewald Kreuznacher4 enthält zwar nur sehr knappe, dafür jedoch vollständige Angaben im Stil eines Tagebuchs, so daß es eine wertvolle Hilfe für einen ersten chronologischen Überblick und für die Datierung einzelner Schriftstücke in anderen Kodizes darstellt. Auf protestantischer Seite ragen die Aufzeichnungen der Gesandten der Schmalkaldischen Bundeshauptleute, Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen5 und Landgraf Philipp von Hessen6, an Bedeutung heraus. Beide waren persönlich in Hagenau nicht anwesend, ließen sich jedoch durch ihre Räte vertreten; diese pflegten mit ihren Herren eine umfangreiche Korrespondenz, in der sie farbenreich über die Ereignisse informieren und offizielle Dokumente beilegen. Als letzte wichtige Quellensammlung ist die des Markgrafen Ernst von Baden7 zu nennen, die eine Korrespondenz bzgl. der sogenannten Vehusakten beinhaltet. Diese Aufzeichnungen des Dr. Hieronymus Vehus stellen ein inoffizielles Protokoll der Augsburger Ausschußhandlungen 1530 dar und waren angesichts des Vorschlages, in Hagenau auf der Basis der in Augsburg erzielten Ergebnisse in der Religionsfrage zu verhandeln, von immenser Wichtigkeit, wie in der nun folgenden Darstellung der Geschichte des Hagenauer Tages deutlich werden wird. Das oben zitierte Einladungsschreiben Karls V. vom 18. April schrieb einen Gesprächstag für den 6. Juni nach Speyer aus. Da dort jedoch die Pest ausgebrochen war, wurde der Tagungsort in das elsässische Hagenau verlegt. Dort fanden vom 11. Juni bis zum 28. Juli die Verhandlungen unter der Leitung König Ferdinands statt, dem Bruder des Kaisers; er war im Ausschreiben Karls als dessen Vertreter für die Einigungshandlung bestellt.8

Staatsarchiv Würzburg, Historischer Verein Ms.f. 176® und Mainzer Urkunden Geistl. Schrank 18/6, im folgenden bezeichnet mit „Würzburg"; ARC ΠΙ, Nr. 77 gibt Auszüge dieses Tagebuches im textkritischen Apparat wieder. 5 Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Reg Η 295ff Nr. 121 Vol. 3, Reg Η pag. 304 Nr. 125 Bdd. 1-5, im folgenden bezeichnet als „Weimar la" und „Weimar 2a-e"; von den ca. 1000 fol.-Seiten dieser Sammlungen ist die Korrespondenz zu einem geringen Teil u.a. in CR ΠΙ erfaßt. 6 Hessisches Staatsarchiv Marburg, Pol. Arch. Bestände 543-546. 7 Sie findet sich im Generallandesarchiv Karlsruhe, 50/47-50, im folgenden bezeichnet als „Karlsruhe 1". 4

Vgl. Ausschreiben Karls V. in Freising, fol. lv: „... daselbst hin gedachter, unnser lieber bruder, der Rhömisch Khunig, in unnser baider namen on ainiche verhynnderung oder aufschub, allain gottes gwallt ausgenommen, sich persönndlich, auch gewislich verfugen wurdt und ... auch unnser gnedigs gemueth und mainung hierinn eröffnen unnd darüber statlich Ratschlagen und beschlissen, wie den geverlichen obligen in Religionsachen enntlich abgeschlossen unnd ... ain bestenndiger, gueter fride unnd ainigkheit gepflanntzt ... mugen werden." Teilnehmerverzeichnisse finden sich in 8

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Bereits am 12. Juni traf sich Ferdinand mit den Katholiken zu Vorverhandlungen. In der Eröffnungsrede machte er deutlich, daß die Protestanten erst vierzehn Tage später kommen sollten, damit man genug Zeit habe, in internen Verhandlungen die Dinge ausführlich vorzubereiten. „Ir Kay.Mt. hätt auch darumb disen versamlungtag den Stenden der allten Religion auf Sontag Trinitatis verkundt und die Protestirenden erst über vierzehn tag hinach beschreiben lassen, damit zu gewinnung der Zeit diser hochwichtig handl vor der Protestirenden ankunft umb sovil mer fruchtberlich in den sachen furgangen werden möcht."9 Was mit dem „hochwichtig[en] handl" gemeint ist, auch daran läßt Ferdinand keinen Zweifel: [Die Zusammenkunft finde statt,] „damit diser langwirig, beswerlich irrthumb nochmal auf leidlich, Christlich und annemlich weg und mitl fruntlich und gutlich verglichen, die Protestirenden widerumb zu Christlicher ainigkait und schuldiger gehorsam gebracht und also andere unfruntlich oder tätlich handlung verhut und furkommen und alsdann zu erörterung und Verrichtung anderer des Ro. Reichs hohen obligen und notdurft durch halltung ains gemain Reichstags oder in anderweg dest fuglicher furgeschriten werden mög."10 Hauptanliegen Ferdinands in diesem Zusammenhang war, die katholischen Gesandten zu bewegen, einem Verteidigungsbündnis beizutreten, denn notfalls sollte die Religionssache gewaltsam erledigt werden: „Und dieweil auch diser irrthumb und zwispalt laider so vast und weit eingewurtzelt, das ain mal die höh und unvermeidenlich notdurft erfordert, solhen irrthumb entweders, wie obsteet, durch ain cristliche vergleichung, fridstand und ordenlich Concilium zu ainigkait zebringen oder aber mit tätlicher handlich abzestelln auszereitten, das dann [d.h. im Fall, die Protestanten würden sich einer friedlichen Einigung widersetzen] bemellte Chur und Fürsten ... auf solhe weg bedacht sein wollen, wie die notwendig Defension und gegen wer ... fur handen genomen werden, auf das man des teglichen zwangs und ubertrangs von den Protestirenden ... entladen bleiben, die allt glaubigen irnthalben befridigter und menigclichen bey gleich und recht bleiben mögen ..."".

Karlsruhe 1: fol. 1-lv, Weimar 2b: fol. 82-84v, Weimar 2c: fol. 99-101, Würzburg: fol. 85-89 (dort auch eine detaillierte Übersicht über die Ankunftszeiten einzelner Teilnehmer fol. 131v-132v). ' Freising, fol. 12v; die Protestanten (unter ihnen Martin Bucer, Jakob Sturm und Johannes Brenz) hatten sich unterdessen in Darmstadt getroffen, vgl. Personenverzeichnis in Weimar 2b, fol. 96-97. 10 Freising, fol. 12-12v. " Freising, fol. 14-14v. 34

Die Diskussion um diese von König Ferdinand geforderte Defension bestimmte die weiteren Verhandlungen. Sowohl in der Kurfürsten- als auch in der Fürstenkurie wurde heftig darüber debattiert, ob es zum gegenwärtigen Zeitpunkt sinnvoll sei, ein solches Verteidigungsbündnis zu schließen. Unter den Kurfürsten herrschte die Tendenz vor, ein solches Bündnis nicht voreilig zu schließen und damit die gesamte Einigungshandlung von vornherein zu gefährden. Man wollte erst die Verhandlungen abwarten; sollte sich dabei erweisen, daß die Protestanten sich einer gütlichen Einigung widersetzten, sei noch Zeit genug, erneut darüber zu beraten.12 Die Fürsten dagegen standen dem Vorschlag Ferdinands positiv gegenüber. Sie vertraten den Standpunkt, daß ein Verteidigungsbündnis in keinem Falle schaden könne; sollte man sich frühzeitig dazu entschließen, hätte das überdies den Vorteil, daß man nötigenfalls bereits entsprechend vorbereitet wäre.13 Ferdinand beharrte auf seiner Forderung und wiederholte sie zweimal, nämlich am 18. und am 30. Juni.M Nach der letzten, wiederum abschlägigen Antwort der Kurfürsten noch gleich am 30. Juni15 wurde jedoch über die Defension Stillschweigen bewahrt." Ein anderes bedeutendes Problem des Hagenauer Gesprächstages war die Frage nach Modus und Inhalt der Beratungen. Zweifellos hatte Ferdinand im Sinn gehabt, an die Ergebnisse der Augsburger Verhandlungen anzuknüpfen, denn schon am 5. Mai schrieb er in einem Brief an den Markgrafen Ernst von Baden: „Und dieweil dann deiner lieb oder derselben jungen vettern Cantzler doctor Jheronimus Veus in angezeigter strittigen Religion hievor zu Augspurg gebraucht und der handlung guten bericht und wissenhait haben mag, So ersuchen wir, dein lieb gnedigklich und fruntlich begerend, dein lieb wolle gemelten doctor Veum auf angesetzten tag mit sich bringen oder sonst Verordnung thuen, das Er auf bestimbten tag gewißlich erscheinen und in angereckter handlung hinfuro gleichennassen gebraucht werden muge."17

12

Vgl. die Aufzeichnungen ARC ΠΙ, Nr. 77B, S. 148. Vgl. ARC ΠΙ, Nr. 77A, S. 137f; dazu München 1, fol. 199v und 203v. 14 Vgl. Freising, fol. 21-25v und fol. 30v-31v. 15 Vgl. Freising, fol. 31v-32v. " Vgl. dazu ARC ΠΙ, Nr. 77A, S. 137f, Anm. 194; Ferdinand forderte die Defension noch ein letztes Mal gegen Ende Juli (vgl. Freising, fol. 53-54 und München 1, fol. 120-120v), woraufhin die Stände diese erneut und nachdrücklich mit Hinweis auf den Augsburger Abschied ablehnten (vgl. Freising, fol. 55-57). 17 Karlsruhe 1, fol. 60; zu den Vehus-Akten allgemein und ihrem geplanten Einsatz in Hagenau vgl. die umfassende Untersuchung von Honee, Eugene: Der Libell des Hieronymus Vehus zum Augsburger Reichstag 1530. Untersuchungen und Texte zur katholischen Concordia-Politik, (RGST 125) Münster 1988, hier bes. S. 25-48; zu Vehus vgl. Immenkötter, Herbert: Hieronymus Vehus. Jurist und Humanist der Reformationszeit, (KLK 42) Münster 1982. 13

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Auch die Kurfürsten und Fürsten gingen offenbar davon aus, daß die in Augsburg verglichenen Artikel nicht mehr diskutiert werden mußten und nur noch über die strittigen zu debattieren sei." Die darüber erfolgte Unterredung jedoch mit den Protestanten zeigte, daß diese dem nicht zustimmen konnten. Sie hätten Befehl, nach den Richtlinien des Frankfurter Abschieds und des kaiserlichen Ausschreibens zu handeln, und beide sähen nicht vor, die Ergebnisse der Augsburger Ausschußverhandlungen, die zudem nie in eine offizielle Form gebracht, d.h. beschlossen wurden, zur Grundlage des Gesprächs zu nehmen." Die vier von König Ferdinand am 25. Juni ernannten Unterhändler (der Pfälzer Ludwig und Erzbischof Johann von Trier als Kurfürsten sowie der Bischof von Straßburg und Herzog Ludwig von Bayern20) faßten daraufhin den Beschluß, „die confession und confutation, auch die handlung des usschuss zu Augspurg [neben einander zu lesen,] daruff ein uszug machen, was verglichen sy oder nit und woran es hafft. Syn die rett geordendt zu dem handel: Tryer, Pfalz, Strassburg cantzler und Weissenfelder."21 Das Ergebnis dieser Untersuchung lautete22: In den Lehrartikeln (Artikel 1-21) sei man grundsätzlich laut der Augsburger Handlung von 1530 einig; lediglich in einigen Punkten gebe es Zusätze bzw. weiteren Klärungsbedarf, und zwar im Erbsünden- und Rechtfertigungsartikel („das wort sola herauszulassen, dwyll es in Paulo nit stett") sowie im Artikel von den guten Werken („ist verglichen bis uff die mass, ob die guten werck verdinstlich syen oder nit"); drei Punkte seien allerdings auch hier im Kontext des Artikels XV (Kirchenordnung) noch strittig: der „underschayd der speys", die Klostergelübde und die bischöfliche Gewalt. Dagegen sei in den anderen sieben Artikeln, die die Protestanten „missbreuch genandt", keine Einigung erzielt worden.

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Vgl. München 1, fol. 34 und Bamberg fol. 30-30v. Vgl. Freising, fol. 34: „Das nit on, es möcht uff dem negst gehalten Reichstag zu Augspurg in obgemelten strittigen Religion sachen gutlich unnderred beschehen sein, sy wissen sich aber nit zuerinndern, das darinn ainicher beschluß ervolgt, unnd ob gleich von baiden thailen von solchen Artickeln, wie oblaut, disputirt unnd gehanndelt, so wären sy doch in khain wurckhung khomen, derhalben sy sich yetzt darauf in khain hanndlung begeben noch mit anndwort vernemen lassen khönndten." und fol. 35v: „Aber zu Franckhfort wer von dem Articl, wie die ding zu abhelffung diser stritigen Religion gehanndlt werden solt, statlich und wolbedachtlich geredt."; eine Aufzeichnung des Gesprächs findet sich ebenfalls in Weimar 2c, fol. 164-174v. 20 Vgl. dazu München 1, fol. 39-40; Ferdinand hatte die Kurfürsten am 23.06. aufgefordert, geeignete Personen als Unterhändler vorzuschlagen, nachdem er bereits den Pfalzgrafen Ludwig ernannt hat (vgl. Freising, 28v-29v). 21 ARC ΠΙ, Nr. 77A, S. 153. 22 Vgl. im folgenden ARC ΠΙ, Nr. 77B, S. 153-155. 19

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Da die Protestanten sich jedoch hartnäckig weigerten, sich auf die Augsburger Verhandlungen einzulassen23, machte Ferdinand am 12. Juli, also genau einen Monat nach Eröffnung des Kolloquiums, den Vorschlag, die Verhandlung auf einem weiteren Gesprächstag, etwa in zwei Monaten, fortzusetzen. Dieser Tag sollte wiederum unter dem Vorsitz der vier Unterhändler abgehalten werden, aber auch dem Kaiser und dem Papst sollte es anheimgestellt werden, Verordnete zu entsenden. Das Gespräch sollte unverbindlich sein und als Vorbereitung auf einen Reichstag dienen. Die Kirchengüter sollten restituiert werden. Schließlich sollte ein Anstand geschlossen werden, jedoch mit der Auflage, daß der konfessionelle Status quo nicht verändert wird." Die Reaktion der Stände war im wesentlichen zustimmend; was die für den folgenden Gesprächstag zu verordnenden Personen betraf, so war ihre Empfehlung, „das ... ain yeder Chur und fürst uffs wenigist 2 oder uffs maist 3 geschickht, gelert unnd verstenndigt Person, welche doch nit mer dan ain stim haben solten"25, schicken sollte. Den Termin für ein Gespräch erachteten sie allerdings als zu früh, ein Zwischenraum von drei bis vier Monaten sei angemessen." In einer sehr umfangreichen Antwort nahmen die Protestanten am 24. Juli zu den Vorschlägen Ferdinands und der Stände Stellung.27 Darin bekräftigen sie ihre unbedingte Bereitschaft zu einem Religionsgespräch, allerdings mit den Konditionen der Frankfurter Beschlüsse und keineswegs auf der Basis des zehn Jahre zurückliegenden Augsburger Reichstages. Unter den einzelnen Veränderungsvorschlägen sind die wichtigsten: Die Apologie soll als unverzichtbarer Zusatz zur Confessio Augustana mit als Gesprächsgrundlage bestimmt werden; Schreiber und Notare sollen die Handlungen und Gespräche protokollieren; auch von protestantischer Seite sollen Unterhändler hinzugezogen werden; der Papst kann zwar einen Legaten entsenden, damit soll aber nicht sein ,,Angemast[...] primat[...] unnd superioritet"28 anerkannt werden. Längere Ausführungen finden sich erwartungsgemäß zu den Fragen Kirchengüter, Prozesse am Reichskammergericht29 und Zuwachs der Anhängerschaft.

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Vgl. ARC ΠΙ, Nr. 77B, S. 157 Anm. 220; in Freising, fol. 36v-38 vollständiger Text. 24 Vgl. Freising, fol. 43^8v. 25 Freising, fol. 40v. 26 Vgl. Freising, fol. 50v. 27 Vgl. Freising, fol. 60v-79v. 28 Freising, fol. 66v. 29 Nach dem Frankfurter Tag hatte 1539 Martin Bucer unter dem Pseudonym Chunrad Trewe von Fridesleben einen Bericht über die Verhandlungen sowie über Möglichkeiten und Grenzen eines Religionsgesprächs in Form eines Dialogs geschrieben, in dem diese Frage bereits sehr breiten Raum einnahm (Text in: BDS Vü, S. 402-502); zu der diesbezüglichen schriftlichen Kontroverse mit Konrad Braun (bis zum Frühjahr 1540 Beisitzer am Kammergericht und in Worms Vertreter des Mainzer Erzbischofs) vgl. Rößner, Maria Barbara: Konrad Braun (ca. 1495-1563) - ein katholischer Jurist, 37

Nach einer kurzen Debatte über diese Fragen erging schließlich am 28. Juli der Hagenauer Abschied30, der folgende Punkte enthielt: - die Ankündigung eines weiteren Gesprächstages für den 28. Oktober nach Worms; - die Übernahme der bisherigen Unterhändler mit Ausnahme des inzwischen verstorbenen Erzbischofs von Trier; - die namentliche Nennung der Kurfürsten und Fürsten, die ein bis drei Räte entsenden sollen, „doch eins iden Chur und fursten geschickten nit mehr dan ein stimb haben, das bringt in der anzal nach den stimben zu raiten XI stimb."31; - die Bestimmung der Confessio Augustana und der Apologie als Verhandlungsgrundlage; - den Einsatz von Notaren und Schreibern, wo es notwendig erscheine; - die Möglichkeit für Kaiser und Papst, ebenfalls Gesandte zu schicken; - die Ankündigung eines gemeinen Reichstages; - die Bestätigung sowohl des Augsburger Abschiedes als auch des Nürnberger Friedstandes in allen ihren Teilen. In diesem Sinne erfolgte bereits drei Wochen später, am 15. August, die Ausschreibung eines Gesprächstages nach Worms. 2.7.2.2 Worms (28. Oktober 1540 - 18. Januar 1541)1 Auch hier soll zuvor knapp die Quellenlage skizziert werden. Maßgebliche Quelle ist das Protokoll des Mainzer Kanzlers Dr. Konrad Braun2; die Vorgespräche der Protestanten sind im Berner Codex des protestantischen Notars Wolfgang Musculus verzeichnet3; einen wichtigen Einblick in die Politiker, Kontroverstheologe und Kirchenreformer im konfessionellen Zeitalter, (RGST 130) Münster 1991, hier bes. S. 63-83. 30 Text bei Neuser: Vorbereitung ..., a.a.O. S. 96-107; der eigentliche Abschied macht dabei nur die letzten beiden Seiten aus; vorher wird der Gang der Verhandlungen skizziert, was vornehmlich dazu dient, den Protestanten die Schuld daran zu geben, daß wegen ihrer Hartnäckigkeit das geplante Gespräch über theologische Fragen nicht stattfinden konnte. 31 München 1, fol. 183v (gedruckt bei Neuser: Vorbereitung ..., a.a.O. S. 106); es werden genannt: die Kurfürsten Mainz, Köln, Trier, Pfalz, Brandenburg, von den Fürsten die Erzbischöfe von Magdeburg und Salzburg, der Bischof von Straßburg, die Herzöge Wilhelm und Ludwig von Bayern sowie der Herzog von Jülich. 1 Vgl. auch die Darstellung u.a. bei Luttenberger: Glaubenseinheit..., a.a.O. S. 218228. 2 Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, MEA/RTA 7 Konvolut I; es ist fast vollständig gedruckt in ARC m , Nr. 99, S. 196-291, im folgenden zit. als „Wien", hier finden sich fast alle offiziellen Dokumente sowie vor allem die Aufzeichnung des Gesprächs Melanchthon/Eck; zur Person des Konrad Braun vgl. Rößner: Braun ..., a.a.O. 3 Burger Bibliothek Bern, Manuscript Α, Codex 39, im folgenden zitiert als „Bern"; teilweise sind die Akten dokumentiert bei Neuser: Vorgespräche ..., a.a.O. 38

Vorbereitungssitzungen geben die Aufzeichnungen des pfälzischen Kanzlers Dr. Heinrich Hase4, die leider sehr schwer lesbar sind; die Aktensammlung der jülich-klevischen Gesandten' dokumentieren u.a. auch die Gutachten der Altgläubigen zur Confessio Augustana, die badische Sammlung6 enthält zusätzlich die deutschen Fassungen; wiederum sehr umfangreich vor allem hinsichtlich der berichtenden Korrespondenz sind die Akten des sächsischen Kurfürsten7 und des hessischen Landgrafen'. Das Wormser Kolloquium ist auf dem Weg zum Regensburger Reichstag nicht mehr als ein Intermezzo. Da bereits mit dem Hagenauer Abschied die Aussicht auf einen Reichstag gegeben war, ging es den Teilnehmern' - und dies gilt insbesondere für die katholischen Gesandten - in Worms ganz offensichtlich nur darum, das Schlimmste zu verhüten. Ausgeschrieben war der Wormser Tag für den 28. Oktober, begonnen haben die offiziellen Verhandlungen jedoch erst am 25. November; der Leiter des Kolloquiums, der kaiserliche Orator Nikolaus Granvella, war wegen anderer wichtiger Verpflichtungen erst so spät eingetroffen; er hielt die Eröffnungsrede10. Auch der päpstliche Nuntius Thomas Campeggio hielt eine Rede (am 8. Dezember 1540), in der er im Namen des Papstes betonte: „Hortor ut fratres atque etiam commonefacio, Quin etiam precor per illam eternam salutem, quam propiciatore D. N. Jesu Christo post hanc fragilem vitam expectamus, ne quid pretermitatis, quod ad animorum conciliationem, Ecclesiae sanctam unionem et eiusdem D. N. Jesu Christi gloriam pertinere existimabitis."1' Zur Einschätzung der Person Granvellas ist der Bericht von Andreas Frank erhellend und aufschlußreich: „Den Sechsten tag novembris ist zu abent hieher komen her Johan de Naves, Keyserlicher Rath und des hern Granvelis ... mit commissari, ein Liebhaber 4

Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Kasten blau 105/1/1, im folgenden zitiert als „München 2". 5 Staatsarchiv Düsseldorf, Jülich-Berg Π, 2271, im folgenden zit. als „Düsseldorf. 4 Generallandesarchiv Karlsruhe, 50/46, im folgenden zit. als „Karlsruhe 2". 7 Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Reg Η pag. 329 Nr. 133 Bdd. 1-2 und Reg Ν 230, im folgenden zit. als „Weimar 3a-b" und „Weimar 4". ' Hessisches Staatsarchiv Marburg, Pol. Arch. Bestände 543-546. 9 Teilnehmerverzeichnisse finden sich in Wien: fol. 64-70, Weimar 3a: fol. 198202v, Weimar 3b: fol. 121-121v, Weimar 4: fol. 33-36v. 10 Text in CR ΙΠ, 1163-1168. " Wien, fol. 102v (der Gesamttext gedruckt in CR ΠΙ, 1192-1195); zum Anliegen des Nuntius', eine Rede zu halten, bemerken die pfälzischen Gesandten während einer Diskussion: „Das er begert, ein oration zuthun, mocht man ime horn; aber ,Veni creator Sancte spiritus' zu singen, mocht ein verlachen gebem." (München 2, fol. 89v).

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des Evangelii und der Erbarkeit... [Gespräch mit de Navia] Erstlich Granvellis personn halbenn, das er ware reformation der kirchen süche und fridenn der teutschen und nicht anders ..."'2. Auch jetzt fanden noch keine Beratungen über die theologischen Themen statt, sondern debattiert wurde ausschließlich über Fragen zum Verhandlungsmodus.'3 Die Formulierung des Hagenauer Abschiedes, daß jede Seite elf Gesandtschaften haben sollte mit je einer Stimme, löste Verwirrung aus. Bedeutete dies, daß im Falle einer eine theologische Diskussion abschließenden Abstimmung jeweils elf Stimmen, insgesamt also 22, abgegeben werden sollten und dann ein Mehrheitsbeschluß zustandekäme mit mindestens 12 Stimmen? Oder konnte der Abschied in die Richtung interpretiert werden, daß zunächst jede Seite sich untereinander auf eine Stimme einigen sollte und nachher nur die insgesamt zwei Voten verglichen werden sollten? Für ersteres Verständnis plädierten die Präsidenten in einer Stellungnahme bereits am 24. November.14 So jedenfalls war ihre Meinung vorerst - denn die erste Situation, in der sich dieses Verfahren bewähren mußte, zeigte auch die ihm innewohnende Gefahr. Am 26. November forderten die Präsidenten (es waren bis auf den durch die Mainzer Räte ersetzten Erzbischof von Trier dieselben wie in Hagenau) die Protestanten auf, eine Stellungnahme zu schicken, auf welchen Artikeln sie verharren wollten: „Denn, so viel die Hauptsache und die Artikel, davon das Gespräch gehalten werden soll, belangt, ist der Herren Präsidenten Gutbedünken, daß die Überflüssigkeit in alle Wege abgeschnitten, und daß derhalben der protestirenden Stände Räthe die Artikel, darauf sie zu verharren vermeinen, in Schrift stellen und den Herren Präsidenten übergeben ,.."15. Die Protestanten reichten mit ihrer Antwort darauf zugleich ein Teilnehmerverzeichnis ein (mit dem Wunsch, daß weitere Teilnehmer als Zuhörer zugelassen werden) und als Verhandlungsgrundlage die Confessio Augustana Variata sowie die Apologie. Die katholischen Teilnehmer beschwerten sich zunächst über den veränderten Bekenntnistext: „Aber die ubergeben confession belangent, were im Hagenauischen abschiedt versehen, das diess gesprech uff die confession zu Augspurg ubergeben gescheen solt. Nu were aber die confession in dieser handlung ubergeben an viel orten und nahend uff den halben theil gemert und auch an etlichen ortten in den wesenlichen puncten geendert. Daby ir unbestendigkeit zu mercken 12

Dresden, fol. 25. Zur genaueren Beschreibung und zur nicht unwesentlichen Rolle Konrad Brauns in diesem Zusammenhang, der sich zusammen mit dem bayerischen Propst Wolfgang von Seyboltsdorf eifrig darum bemühte, jede Einigungstendenz frühzeitig im Keime zu ersticken, vgl. Rößner: Braun ..., a.a.O. S. 74-81. 14 Vgl. ARC ΠΙ, Nr. 99, S. 200f. 15 Vgl. ARC ΙΠ, Nr. 99, S. 200f. 13

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und were also ein andere Confession, dan der Hagenauisch abschiedt vermocht, ubergeben."16 Schließlich aber versuchten sich die Altgläubigen an einer Entgegnung, und dabei trat die Uneinigkeit innerhalb der eigenen Partei offen zutage: Es gelang trotz eifriger Bemühungen nicht, eine gemeinsame Antwort zu formulieren. Die Gesandten der Pfalz, Brandenburgs und Jülich-Kleves übergaben je ein eigenes Gutachten und waren auch nach mehrmaligen entsprechenden Aufforderungen und Gesprächen nicht bereit, sich mit dem Mehrheitsvotum der konservativeren Kräfte auf katholischer Seite zu vereinigen." Von daher ergab sich die Notwendigkeit, die Frage der Stimmenzahl erneut zu bedenken, denn es zeichnete sich ab, daß im Falle von insgesamt 22 Stimmen die katholische Partei unterlegen gewesen wäre. Obwohl die Gespräche mit den drei Gesandtschaften ergebnislos geblieben waren", insistierten die Präsidenten im Gespräch mit Granvella darauf, daß die Parteien sich untereinander auf eine Stimme einigen müßten; nur dies sei die rechte Auslegung des Hagenauer Abschiedes. Auch Granvellas Vorschlag, man sollte wohl alle elf Stimmen hören, dann aber nach Mehrheitsbeschluß sich auf ein Votum als das maßgebliche einigen, konnte die Präsidenten nicht überzeugen." Es galt offenbar als vordringlichstes Gebot, die Uneinigkeit im eigenen Lager in keiner Weise nach außen dringen zu lassen. Klar erkennt dies Andreas Frank in seinem Bericht vom 19. Dezember 1540: „[Daß die Protestanten keine Kopien erhalten] wirt aus der ursach vorgenommen, daß daß kegentail, die der Keyser die gehorsame stende nennet, under eyn ander gantzs zwispaltig fast uff alle artickel der Confession, dan Pfhaltzs, Brandeburg und Gulich, die uff irer seyten stymmen haben, die fallen uns mit der lhar fast tzu, darumb wolten die Papisten das gesprech und den Hagenauischen abschid gerne tzu ruck dringen ,.."20. In Hinsicht auf den weiteren Gang der Verhandlungen unterbreitete der Orator wiederum einen Vorschlag, nämlich daß jeweils drei Kolloquenten miteinander disputieren sollten21, am 31. Dezember schlug er ein Gespräch mit je einem Partner vor22. Die Präsidenten hatten gegen diese Vorgehensweise erhebliche Bedenken, da sie dem Hagenauer Abschied nicht gemäß war, und wollten ihr

" ARC m, Nr. 99, S. 218. 17 Vgl. die Besprechung der Texte sowie die Quellen bzgl. der Bemühungen seitens der Präsidenten hier unter 2.2.3.3. 18 Vgl. dazu ARC ΠΙ, Nr. 99, S. 243-251 sowie Karlsruhe 2, fol. 100-100v. " Vgl. ARC ΠΙ, Nr. 99, S. 252f. 20 Dresden, fol. 73. 21 Vgl. ARC ΠΙ, Nr. 99, S. 253f. 22 Vgl. ARC ffl, Nr. 99, S. 269. 41

nur dann zustimmen, wenn sie dafür nicht die Verantwortung übernehmen müßten; der Orator sollte deutlich machen, daß er alleine dafür einstand. Nachdem die Protestanten dem Vorschlag am 5. Januar zugestimmt hatten23, allerdings mit der Maßgabe, daß dennoch alle 22 Stimmen wenigstens gehört werden sollten, entbrannten daraufhin neuerliche Diskussionen, die offenbar die Geduld des Orators strapazierten, so daß er ungeduldig auf Nachricht wartete, wann Karl V. den Tag für geschlossen erklärte und die Verhandlungen auf den Reichstag verlagerte. Es war ganz offensichtlich, daß besonders Mainz und Bayern alles versuchten, um ein Kolloquium zu verhindern. Den Grund dafür benennt Andreas Frank am 8. Januar 1541 anschaulich in einem Bericht an seinen Herrn: „Aus dem Colloquio und gesprech ist nichsten bishere geworden, Wir disputirn noch von der Form des gesprechs. In Summa, es ist nicht der Papisten ernst tzu disputirn, dan sie fynden wol, mher man disputirt offenlich, mher leut uns tzufallen, wie dan Worms, weil wir hie gelegen, mher dan halb Lutterischs worden, Und haben in Summa das gesucht, das sie mher part und anhang machen wolten, das widderspil aber begibet sich, Got schickt es wunderlich, Pfhaltzs, Brandeburg, Gulich, Wirtenberg, Pommern, beyde Fürsten, Graff Wilhelm v. Nassau etc. haben hie öffentlich unser Religion bekant und angenommen und andere mher. ... Die Papisten und Legaten seynt ubel tzu Pass, dan fast alle weltliche Fürsten ausserhalb den tzu Beyern und Hertzog Henrich tzu Braunswig etc. seynt dem Evangelio anhengig und genayget, darunder ich etlich geringe Fürsten nicht tzele."24

Um so überraschender war es, daß Granvella die theologische Diskussion dennoch eröffnete und so vom 14. bis 17. Januar 1541 das Gespräch zwischen Melanchthon und Eck über die Erbsünde stattfand. Man wird dabei bedenken müssen, daß Granvella inzwischen das Wormser Buch kannte. Dieses hatten vornehmlich der Straßburger Martin Bucer und der Kölner Johannes Gropper im Beisein von Wolfgang Capito und Gerhard Veltwyck in Geheimgesprächen auf die Initiative des kaiserlichen Orators hin in den letzten Dezembertagen 1540 erarbeitet. Die genauen Umstände der Entstehung des Textes sowie die Frage nach dem jeweiligen inhaltlichen Anteil der beiden Theologen Bucer und Gropper daran sind bis heute von der Forschung unzureichend dargelegt (auf Näheres wird hier später eingegangen werden25). Dieser Vergleichstext sollte jedenfalls auf dem Reichstag in Regensburg als Verhandlungsgrundlage dienen. Somit erhoffte sich Granvella vermutlich, eine entspanntere Atmosphäre vorzubereiten, wenn der ansonsten für alle Beteiligten eher unerfreuliche Wormser Tag mit 23

Vgl. ARC ΠΙ, Nr. 99, S. 274-277. Dresden, fol. 153-153v. 25 Vgl. hier unter 2.2.3.5. 24

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einer friedlichen Disputation endete. Immerhin war so angedeutet, daß auch der nachfolgende Reichstag in erster Linie zur Klärung der Religionsfrage dienen sollte und grundsätzlich eine Diskussionsbereitschaft vorhanden war. Konnte noch in Worms eine Einigung oder wenigstens eine Annäherung im Erbsündenartikel erzielt werden, so waren die Aussichten recht gut für weitere Annäherungen in anderen Fragen auf der Basis des Wormser Buches. 2.1.2.3 Regensburg

(5. April - 29. Juli 1541)'

Schon am 14. September 1540 hatte Karl V. dem Hagenauer Gespräch gemäß einen Reichstag nach Regensburg2 ausgeschrieben, der nach dem Wormser Intermezzo am 5. April 1541 begann. Die kurfürstlich-sächsischen und hessischen Gesandten hatten diesen Reichstag als „Meussefalle" bezeichnet3. In seiner Instruktion warnte der sächsische Kurfürst Johann Friedrich seine Gesandten eindringlich vor jedweder Partikularhandlung: „Darum bedenken wir, dieweil wir von der Wahrheit Gottes nicht weichen können, und durch die Particularhandlung, deren wir wohl können übrig seyn, nur Unglimpf ... erlaufen, oder da wir in der rechten Bahn ... bleiben, Gottes und seines Worts Ehre und unsern selbst Glimpf erhalten, daß solche Particularhandlungen ... gemieden werden."4 Offensichtlich ging Johann Friedrich davon aus, es würde auf der Basis der Confessio Augustana und der Apologie verhandelt werden5; ebenso rechnete er damit, die schon in Worms schwankenden Territorien Jülich-Kleve, Kurbrandenburg und Kurpfalz würden an ihrer reformationsfreundlichen Linie festhalten.6 Nach der Eröffnungsrede des Kaisers vom 5. April7 berichtete Melanchthon: „Imperator ostendit, se delecturum certos Principes ac fortasse doctores, qui π ε ρ ι τ α ν δ ι α λ λ α γ Ο ν deliberent. Res est, ut vides, plena periculi. Itaque nostri biduum iam rixantur inter sese. Duriores volunt pertexi Wormaciensem disputationem. Alii malunt permitti Imperatori, ut nova ratio ineatur,

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Die Darstellung ist hier auf das Wesentliche gekürzt, da über dieses Gespräch die Informationen in anderen Untersuchungen bereits recht ausführlich gegeben sind und die Edition der Reichstagsakten erhellendes Quellenmaterial erst noch liefern muß; vgl. zur genaueren Darstellung u.a. Luttenberger: Glaubenseinheit ..., a.a.O. S. 228-241. 2 Wobei Regensburg als Verhandlungsort nicht angenehm war, so daß die Kurfürsten für einen rheinischen Ort plädierten; vgl. München 2, fol. 117v. 3 Vgl. Dresden, fol. 152v. 4 CR IV, 127f. 5 Vgl. CR IV, 127. 4 Vgl. ebd. 7 Text in CR IV, 151-154. 43

qui fortassis bene secum agi putant, si quoque modo ex periculis se evol vant."8 Diese von Melanchthon als „durior" bezeichnete Gruppe hat sich offenbar durchgesetzt; davon zeugt das Antwortschreiben der Protestanten auf die Eröffnungsrede vom 9. April'; die katholischen Stände äußerten sich weniger deutlich am 12. April, sie wollten den Weg, den der Kaiser vorschlüge, ohne Vorbehalt gehen, er selbst solle geeignete Personen auswählen. Dieser Auswahl jedoch standen sie offenbar skeptisch gegenüber, wie aus einer weiteren Schrift vom 13. April erhellt: „Aber deß alles unangesehen wollten Churfürsten, Fürsten und gemeine Stände und der Abwesenden Botschaften ... Ihrer Κ. M. unterthäniglich heimstellen, die Personen zu Vergleichung der streitigen Religion und nach Ihrer Maj. Gefallen zu erwählen, mit unterthänigster Bitte, ihnen solche Personen zu benennen und anzuzeigen, vielleicht dieselben der Sache nicht fürderlich oder dienlich möchten erfunden werden, solchs I. M. Berichtsweise und zu unterthänigster Erinnerung zu eröffnen, allein zu Förderung der Sachen, und zu Erledigung dieses beschwerlichen Lasts deutscher Nation. Doch daß diese geordnete Personen in diesen hochwichtigen Sachen nichts Endliches handeln noch bewilligen ..."l0. Der Vorschlag Granvellas vom Dezember 1540 zu einem Sechser-Gespräch wurde dann aber aufgenommen, und der Kaiser selbst ernannte die Gesprächsteilnehmer am 21. April: für die katholische Seite Johannes Gropper, Julius Pflug und Johannes Eck, für die protestantische Philipp Melanchthon, Martin Bucer und Johann Pistorius aus Hessen." Als Unterhändler des Gesprächs fungierten der pfälzische Kurfürst, der auch schon in Hagenau und Worms durch seine Räte das Präsidentenamt wahrgenommen hatte, und Nikolaus Granvella. Diese Namensliste ist ein deutliches Zeichen dafür, daß ausschließlich unionsfreudige Männer für die Handlung ausgesucht wurden. Außer Johannes Eck hatten alle von ihrer theologischen Herkunft aus betrachtet ein humanistisch geprägtes Interesse an einer Einigung; Bucer als enger Vertrauter des Landgrafen persönlich und Pistorius als Gesandter von Hessen garantierten zusätzlich eine milde, konsensgeneigte Linie, da der Landgraf Philipp von Hessen wegen seiner Doppelehe auf das Wohl des Kaisers angewiesen und daher einem Einigungsbemühen gegenüber besonders aufgeschlossen war.12 Überraschenderweise zeigte sich jedoch Melanchthon während der Verhandlungen als zäher Partner; gerade von ihm erwartete man anderes, nachdem der sächsische Kurfürst seine 8

CR IV, 155f. Text in CR IV, 163f. 10 CR IV, 166. 11 Vgl. CR IV, 178f. 12 Zu Bucers Stellung zur Doppelehe des Landgrafen vgl. Müller, Johannes: Martin Bucers Hermeneutik, (QFRG XXXII) Gütersloh 1965, S. 252-255. 9

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Räte instruiert hatte, auf ihn besonders zu achten und zu verhüten, daß er sich auf Sonderverhandlungen einließe.13 Jeden Morgen versammelten sich die katholischen Gesprächspartner zusätzlich bei dem päpstlichen Legaten Contarini, der ebenfalls als reformfreudig galt. Auch dies darf als Zeichen dafür gewertet werden, daß nunmehr ein Ausgleich unter allen Umständen erreicht werden sollte. Bis zum 22. Mai wurden die Verhandlungen geführt, in denen sich Melanchthon als harter und unnachgiebiger Gegner erwies.14 Als Grundlage diente das Regensburger Buch, der nunmehr überarbeitete Text des von Gropper und Bucer erarbeiteten Wormser Buches." Nach der überraschenden Einigung in der Rechtfertigungslehre entbrannte die Auseinandersetzung insbesondere über das Sakrament des Abendmahls. Die Protestanten führten diesbezüglich interne Debatten." Als endlich ein Ergebnis der Einigungsverhandlungen vorgelegt werden sollte, reichten die Evangelischen am 31. Mai eine kurze Liste mit verglichenen und eine lange mit unverglichenen Artikeln ein.17 Schließlich wurden auch die zunächst verglichenen Artikel über die Erbsünde, den freien Willen und die Rechtfertigung auf allen Seiten und in einer offiziellen Stellungnahme das Regensburger Buch insgesamt abgelehnt." Die Vermittlungsversuche endeten ergebnislos. Dennoch wurde im Reichstagsabschied" vom 29. Juli festgehalten, daß die verglichenen Artikel bis zu einem Konzil ihre Gültigkeit behalten sollten. Darüber setzte der Abschied fest, daß der Nürnberger Friedstand weiterhin aufrechterhalten werde und alle schwebenden Prozesse am Kammergericht bis zum Konzil suspendiert werden sollten. Ebenso wichtig ist die Aufforderung, daß die Fürsten und Städte sich um eine umfassende Reform der Kirche in ihren Territorien sorgen sollten. Darauf hatte vor allem Contarini in einer aufrüttelnden Rede vom 12. Juli insistiert.20 13

Vgl. CR IV, 129. Vgl. etwa CR IV, 289, 317 und 324. 15 Zu den diesbezüglichen historischen Details vgl. später hier. 16 Vgl. Texte in CR IV, 262-264 und Neuser: Vorbereitung ..., a.a.O. S. 210-232; dazu CR IV, 309-316; dazu: Fraenkel, Pierre: Les protestants et le probleme de la transsubstantiation au Colloque de Ratisbonne. Documents et arguments, du 5 au 10 mai 1541, in: Oec. 1968, S. 70-116. 17 Vgl. CR IV, 348-376. 18 Vgl. CR IV, 476-505. " Text in Auszügen in CR IV, 625-630. 20 Vgl. CR IV, 506-509; hierin ist die tatsächliche Wirkung des Regensburger Reichstages zu sehen: Die Territorien Mainz und Köln etwa sind dafür herausragende Beispiele (für Mainz vgl. Cardauns: Unions- und Reformbestrebungen ..., a.a.O. S. 210-276; für Köln u.a. Köhn, Mechthild: Martin Bucers Entwurf einer Reformation des Erzstiftes Köln. Untersuchungen der Entstehungsgeschichte und der Theologie des „Einfältigen Bedenkens" von 1543, Witten 1966; Text des „Einfältigen Bedenkens" in: Wied, Hermann von: Einfältiges Bedenken. Reformationsentwurf für das Erzstift Köln 14

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2.1.3 Zusammenfassung Will man abschließend die historischen Beobachtungen werten, so wird man zunächst die singuläre Situation 1540/41 festhalten müssen. Weder zuvor noch danach hat es entsprechende Gespräche in dieser Form und unter diesen Bedingungen gegeben. Ist der Versuch einer kaiserlichen Vermittlungspolitik auch letzten Endes gescheitert, so ist doch am Gang der Gespräche gerade dort, wo sie nicht theologisch waren, zu sehen, in welchem Kontext die inhaltlichen Debatten und Texte entstanden sind. Ebenso unbestreitbar wie die Singularität ist auch die Verstrickung von politischen und theologischen Fragestellungen. Ob das die Frage nach den Prozessen am Reichskammergericht betrifft oder die Rolle Martin Bucers als Vertrautem des Landgrafen von Hessen - immer wird man bei Betrachtung der theologisch relevanten Dokumente diese Verknüpfungen im Hintergrund mitbedenken müssen. Und schließlich: Gerade die langwierigen Debatten um den Verhandlungsmodus, aber nicht nur sie, sondern die gesamten Verhandlungen sind ein eindrücklicher Spiegel für die gegenüber früheren Zusammenkünften von Katholiken und Protestanten veränderte Atmosphäre. Während die Protestanten als innerlich und äußerlich, politisch und theologisch gefestigte Partei erschienen, ist für die Altgläubigen eine ungeheure innere Spannung festzustellen. Und diese gegensätzlichen Bedingungen werden auch bei der Analyse der Texte immer wieder zutage treten.

2.1.4 Die Partei der sogenannten „Erasmianer" Als eine für die Religionsgespräche entscheidende Gruppe wird von der Forschung spätestens seit der Arbeit Robert Stupperichs zum Einfluß des Humanismus gerne die der sogenannten „Erasmianer" ins Feld geführt; unter diesem Begriff wird eine eine Vermittlungspartei verstanden, zu der Hubert Jedin in seiner Geschichte des Trienter Konzils1 Simon Pistoris, Julius Pflug, Konrad von Heresbach (Mitverfasser des klevischen Gutachtens zur CA), Bernhard Hagen, Cornelius Schepper, Johann von Weeze und sogar Granvella2 zählt; auch Johann

von 1543. Übersetzt von Helmut Gerhards und Wilfried Borth, Düsseldorf 1972); etwas zu pauschal klingt m.E. deshalb auch Augustijns Urteil: „Contarini's exhortation was nothing more than a funeral speech ..." (The Quest..., a.a.O. S. 79). 1 Geschichte..., a.a.O. S. 294. 2 Vgl. die kritische Stellung von Lipgens: Kardinal Johannes Gropper ..., a.a.O. S. 111-114; in diese Richtung könnte auch eine Äußerung der kurfürstlich-sächsischen Gesandten weisen, die, selbst befreit von Polemik, nicht uninteressant ist: „Die botschafft, mit deren Kay .Mat. den tag zu Wormbs beschicken soll, isst noch nit abgevertigt. Unnd ist der Vonn Grandvella der meinung gewesen, die Sachen selb antzunemen,

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Fabri und Friedrich Nausea, von denen hier noch zu sprechen sein wird3, werden zu den Irenikern gerechnet4. Grundsätzlich muß man jedoch fragen, ob tatsächlich und in welcher Weise im Gefolge von Jedin und insbesondere von Robert Stupperich5 von einem Einfluß des Erasmus auf diese Männer gesprochen werden kann. Auch diese Frage ist m.E. bisher nicht erschöpfend behandelt worden, und die bisher versuchten Antworten kranken zudem an einer auffallenden Einseitigkeit, die immer wieder dann zu beobachten ist, wenn es um den Rotterdamer Humanisten geht; bis auf wenige Ausnahmen scheint kaum eine Darstellung, sei es eine Biographie oder eine Monographie, in der Lage zu sein, Erasmus wissenschaftlich objektiv näherzukommen. Stets ist der Blick getrübt, und zwar entweder durch eine offensichtliche Abneigung gegen dessen unentschiedene Mittelposition in der konfessionellen Auseinandersetzung des 16. Jahrhunderts; oder aber die Objektivität leidet unter einer eher latent spürbaren Verehrung für Erasmus, die seltsamerweise ebenfalls sich auf dessen Verhalten gründet. Von beiden Extremen wird er daher auch jedesmal dann gern ins Feld geführt, wenn im religiösen Konflikt ein Ausgleich gesucht wird; dann ist er bzw. sein geistiges Erbe positiv oder negativ - dafür mindestens mitverantwortlich. Somit ist es kein Wunder, daß er auch mit den Religionsgesprächen der 40er Jahre in Verbindung gebracht wird. Dazu sind an dieser Stelle einige wenige, gleichwohl, wie ich denke, unerläßliche Erwägungen notwendig.4 Für den Einfluß des Erasmus auf die Religionsgespräche wird stets seine Schrift „Liber de sarcienda ecclesiae concordia" aus dem Jahre 15347 herangezogen. Dieser Text ist in erster Linie ein umfangreicher Kommentar zu Psalm 84® (in den Jahren 1515 bis 1533 verfaßte der Rotterdamer insgesamt elf Psalmenkommentare); freilich macht Erasmus schon in den ersten Zeilen deutlich, daß es ihm mit der Exegese dieses Psalmes primär nicht bloß um eine Aus-

Dan im der Babst zugesagt, seine söne, deren acht oder neun, seint alle reich zu machen. Ist aber durch seine Kay.Mat. gantz abgestellt wordenn." (Weimar 5, fol. 191). 3 Vgl. unter 2.2.2.2 und 2.2.2.3. 4 Zu Fabris Verbindung mit Erasmus vgl. Helbling, Leo: Dr. Johann Fabri. Generalvikar von Konstanz und Bischof von Wien 1478-1541. Beiträge zu seiner Lebensgeschichte, (RGST 67/68) Münster 1941, S. 5-8; zur Bezeichnung dieser Mittelpartei vgl. Augustijn: Godsdienstgesprekken ..., a.a.O. S. 9. 5 Stupperich: Humanismus ..., a.a.O. S. 11-26. 6 Vgl. dazu auch die kritischen Anfragen von Augustijn: Godsdienstgesprekken ..., a.a.O. S. 3; an dieser Stelle soll nicht weiter auf die Theologie des Erasmus eingegangen werden. 7 LB V, 469-506. ' In der Vulgata-Zählung Psalm 83. 47

legung geht; vielmehr sieht er in diesem alttestamentlichen Text eine anschauliche Mahnung, die Einheit der Kirche zu wahren: „Den 83. Psalm haben wir deshalb zur Besprechung ausgewählt, weil in ihm der Heilige Geist mit vielen Beweisen, bald mit großer Anschaulichkeit, bald mit Gewalt, uns jene großartige und beglückende Eintracht der Kirche anempfiehlt; wenn dieses Schriftwerk schon zu jeder Zeit heilsam und nützlich ist, dann scheint es besonders in diesem so außerordentlich fruchtbaren Zeitalter der Sektierer so nützlich zu sein wie sonst nie. Wer immer also jenen Frieden hochschätzt,... der möge Herz und Ohren auf das Anhören gerichtet halten."» Nach einer ausführlichen Behandlung des Textes kommt Erasmus dann erst im Schlußteil10 auf sein eigentliches Anliegen zurück und prangert dabei zuerst, in Konsequenz auch seines bisherigen Arbeitens und Lehrens, jenen Parteigeist an, der durch blindes und selbstverliebtes Beharren auf dem eigenen Standpunkt einer einigen Kirche im Wege ist. Wie wichtig es auch sei, Mißstände aufzudecken und zu benennen, so könnte dies doch nur dann dienlich sein, wenn darüber Fehler im eigenen Lager nicht übersehen werden. Im Zuge dieser Mißstände kommt er dann konkret auf verschiedene theologische Topoi zu sprechen, so auch auf den freien Willen, die Rechtfertigung und die Messe, z.T. mehrdeutig und, wie ich vermute, bewußt unscharf. Die meisten Probleme handelt er in der für ihn typischen Art ab. Solange die Mißstände keinen großen Schaden anrichten, sollen sie toleriert werden; wer sie plötzlich ausreißt, tut dem Gläubigen keinen Gefallen; Mißbräuche und Aberglauben, die sich durch Gewöhnung eingeschlichen haben, sind nur durch Entwöhnung, langsam und sicher, zu beseitigen." Zuletzt ruft er in diesem Sinne noch einmal auf: „Schon viel zu lange hat man sich diesen Streitereien hingegeben, laßt uns, die wir davon schon sehr ermüdet sind, Eintracht suchen ..."'2. Und man hat bei diesen Worten das Gefühl, als sei vor allem er es selbst, der so müde ist und der hier der Nachwelt sein Testament übergibt. Reicht aber dieser .testamentarische' Charakter, um von einem Einfluß des Erasmus auf die Vermittlungstheologen zu sprechen, die sich 1540/41 um die von ihm gewünschte und ersehnte Eintracht bemühten? Gewiß gibt diese Schrift allein nicht so viel her, wie etwa Jedin Glauben machen möchte.'3 Die letzte wirklich große und bedeutende Schrift, in die hinein ' LB V, 469 Α-B in eigener Übersetzung. 10 Vgl. LB V, 497-506. " Diese Art als „adogmatisch und relativistisch" zu bezeichnen (so Lortz, Joseph: Die Reformation in Deutschland, Bd. 2: Ausbau der Fronten - Unionsversuche Ergebnis, Freiburg 1940, S. 218), geht haarscharf an der Wahrheit vorbei; richtig dagegen Augustijn in seiner Erasmusbiographie (Augustijn, Cornells: Erasmus von Rotterdam. Leben - Werk - Wirkung, München 1986; hier S. 161). 12 LB V, 506 Β in eigener Übersetzung. 13 Geschichte ..., a.a.O. S. 290f.

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Erasmus all sein theologisch-humanistisch geprägtes Denken legte, war „De libero arbitrio ΔΙΑΤΡΙΒΗ sive collatio" von 1524. Danach widmete er sich vor allem der Übersetzung seiner wichtigen Werke vor 1525 und der Edition patristischer Schriften. Schon allein, was die Wirkungsgeschichte von „Liber de sarcienda ecclesiae concordia" betrifft, kann m.E. gar keine Rede davon sein, daß sie viel beachtet wurde14; zwar stimmt es, daß sie zweimal ins Deutsche übersetzt wurde15, aber das deutet im Vergleich etwa mit den 26 Auflagen der „Querela pads" oder den 37 des „Enchiridions" und seinen zahlreichen Übersetzungen auf eine verschwindend geringe Resonanz. Wichtiger aber scheint mir das zu sein, was Cornells Augustijn so formulierte: „Wohl haben sich Menschen auf Erasmus berufen, wenn sie bei ihm auf etwas trafen, was sie selbst bewegte. In diesen Fällen handelt es sich nicht um eine integrale Übernahme von erasmischen Ideen. Eher findet ein Wiedererkennen statt, und zwar ein Wiedererkennen einer bestimmten Form von Frömmigkeit."16 Zwar wird noch zu zeigen sein, daß gewiß hier und da im Stil und auch bzgl. einiger Positionen zum Rechtfertigungsverständnis Anleihen bei Erasmus gesucht wurden. Es ist auch nicht von der Hand zu weisen, daß gewisse gedankliche Strukturen und Voraussetzungen sowie vor allem die Vorstellung, mittels friedlicher Gespräche eine Einigung zu erzielen, Eingang in die zu besprechenden Texte gefunden haben, die sich auf Erasmus bzw. den Humanismus allgemein zurückführen lassen; doch reicht dies nicht aus, um in diesem starken Sinne von einem „Einfluß" oder gar einer „Partei der Erasmianer" (ein Paradoxon in sich, da Erasmus selbst am heftigsten gegen jede Form von Parteigeist kämpfte) zu sprechen.

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So Stupperich, Robert: Artikel „Religionsgespräche der Reformationszeit", in: EKL ΙΠ, S. 589-594, hier S. 590. 15 Vgl. hierzu Holeczek, Heinz: Erasmus deutsch, Bd.l. Die volkssprachliche Rezeption des Erasmus von Rotterdam in der reformatorischen Öffentlichkeit 15191536, Stuttgart/Bad Cannstatt 1983, S. 262-282. 16 Ebd. S. 176; vgl. auch die weiteren Ausführungen sowie seine Untersuchungen in seinem Aufsatz: Religionsgespräche ..., a.a.O. S. 49-51; ebenfalls vgl. die kritischen Bemerkungen von Braunisch: Enchiridion ..., a.a.O. S. 419-421, und die gleichfalls kritischen Bemerkungen von Luttenberger: Glaubenseinheit ..., a.a.O. S. 144 u.ö.

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2.2 Das Thema der Rechtfertigung in den Religionsgesprächen von Hagenau, Worms und Regensburg 1540/41

2.2.1 Das Vorfeld der Religionsgespräche Bevor untersucht werden kann, wie das Thema der Rechtfertigung auf den Gesprächstagen von Hagenau, Worms und Regensburg 1540/41 verhandelt worden ist, ist es zum Verständnis unerläßlich, zuvor einen kurzen Blick darauf zu werfen, wie dieser zentrale theologische Topos sich seit 1530 darstellt; sowohl die Altgläubigen als auch die Protestanten haben 1540 bestimmte Vorgaben, ein gewisses, mindestens terminologisches Gerüst, in das hinein sie ihre Aussagen stellen. Beide Parteien kommen aus einer Tradition, die es zuvor zu beleuchten gilt. Die Texte, die im Kontext der Religionsgespräche selbst zu analysieren sind, orientieren sich an Formulierungen und Inhalten früherer Aussagen, nehmen Bekanntes und Bewährtes auf und bemühen sich um Kontinuität auch unter der veränderten historischen Rahmenbedingung der angestrebten Religionsvergleichung. Unter der sich daran anschließenden Frage, welche älteren Texte maßgeblich als Vorlage in bezug auf Disposition, Terminologie und Inhalt gedient haben könnten und in der kontroverstheologischen Debatte der 30er Jahre eine entscheidende Rolle gespielt haben, fiel die Auswahl auf folgende Dokumente: - die Confessio Augustana Invariata von 1530, - die Confutatio der Altgläubigen von 1530, - die Apologie der CA von 1531, - die veränderte deutsche Fassung der CA von 1533, - die Loci Melanchthons von 1533 und 1536, - die Schmalkaldischen Artikel Luthers von 1537 und schließlich - der Leipziger Einigungsentwurf von 1539.' Diese Texte sollen nun in der notwendigen Kürze hinsichtlich ihrer Aussagen zum Themenkomplex der Rechtfertigung analysiert werden. 2.2.1.1 Die Confessio Augustana Invariata von 1530

Wenn man sich den Rechtfertigungsartikel der Confessio Augustana Invariata von 1530 anschaut, dann ist es bewundernswert, auf welch knappem Raum

' Die Institutio Calvins in ihrer jeweiligen Fassung von 1536 und 1539 wird im Rahmen der protestantischen Vorgespräche mitbehandelt werden (vgl. hier unter 2.2.3.2; die Aussagen Bucers und Groppers zum Thema der Rechtfertigung sollen eigens im unmittelbaren Zusammenhang des Wormser Buches dargestellt werden (vgl. hier unter 2.2.3.5). 50

dieser es versteht, das Proprium protestantischer Theologie präzise wiederzugeben. Freilich steht der vierte Artikel nicht allein; es gibt Voraussetzungen und Folgen dessen, was dort dann in konzentrierter Form auf die Frage nach der iustificatio hominis geantwortet worden ist. Infolgedessen muß nun skizzenartig beleuchtet werden, welche Punkte zu diesem Verständnis hinführen und welche Konsequenzen diese mit sich bringen.1 Die entscheidende Grundlage für das Rechtfertigungsverständnis ist im zweiten Artikel gelegt, wo über die Erbsünde2 verhandelt wird. Sie wird als bleibende Macht charakterisiert, die den Menschen in die heillose Gottesferne treibt. Sie ist eine Krankheit, ein Fehler, aber nichtsdestoweniger Sünde im Vollsinne des Wortes, und sie trifft jeden einzelnen in seinem Menschsein. Sie bewirkt für alle den ewigen Tod, die nicht durch Taufe und Heiligen Geist wiedergeboren werden. Die Taufe3 also ist es, die dem Menschen durch die Geistspende und die Gnadenzusage die Möglichkeit eröffnet, aus dieser Heillosigkeit zu entkommen. In dieser Darstellung spiegelt sich Luthers Erbsündenverständnis wider. Er hatte in Antithetik zur scholastischen, namentlich ockhamistischen Schultheologie von der Sünde gesprochen, die den Menschen auch nach der Eingießung des Heiligen Geistes in der Taufe in seinem Menschsein trifft. So sei die Sünde zwar peccatum regnatum, nicht mehr regnans; dennoch bestimmt sie weiterhin den Menschen, und zwar nicht nur okkasionell, als Möglichkeit in Form eines fomes peccati actualis, sondern als concupiscentia im Sinne eines peccatum radicale.4 Auch das Bild von der Erbsünde als Krankheit - mit allen Konsequenzen bei Übertragung dieses Bildes - hat einen Anhalt an Luther5: Der

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Gerade für diesen Text scheint eine nochmalige Aufarbeitung müßig, da diese aus naheliegenden Gründen schon oft geschehen ist. Jedoch ist eine wenigstens kurze Darstellung aus zwei Gründen unerläßlich: Einmal folgen einige inhaltlich bedeutsame sprachliche Beobachtungen, die bisher in der Literatur nicht zu finden sind; und dann ist es für eine angemessene Beurteilung des Variata-Textes von 1540 erforderlich, sich die Aussagen des ursprünglichen Textes noch einmal zu vergegenwärtigen. Zitiert wird der Text der Invariata nicht nach BSLK, sondern nach CR, da auch der Variata-Text nach CR zitiert werden wird. 2 Vgl. Artikel Π der CAinvar (CR XXVI, 273f): „Item docent quod post lapsum Adae omnes homines secundum naturam propagati, nascantur cum peccato, hoc est sine metu Dei, sine fiducia erga Deum, et cum concupiscentia, quodque hic morbus, seu vicium originis vere sit peccatum, damnans et afferens nunc quoque aetemam mortem, his, qui non renascuntur, per baptismum et spiritum sanctum." 3 Vgl. Artikel IX der CAinvar (CR XXVI, 277f): „... quod sit necessarius ad salutem, quodque per Baptismum offeratur gratia Dei ...". 4 Vgl. dazu zur Mühlen, Karl-Heinz: Nos extra nos. Luthers Theologie zwischen Mystik und Scholastik, (BHTh 46) Tübingen 1972, S. 116f und 209 mit den entsprechenden Quellenangaben. 5 Vgl. ebd. S. 120-123.

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Mensch ist krank „im Blick auf seinen wirklichen Zustand, zugleich aber ist er gesund aus der certa promissio des Arztes"6; hier manifestiert sich der unauflösliche Zusammenhang von Erbsünden- und Rechtfertigungsverständnis sowie soteriologischer und eschatologischer Dimension des Christusgeschehens: „... peccator re vera, Sed Iustus ex reputatione et promissione Dei certa"7. So ist also der Mensch der Herrschaft der Sünde entrissen, indem ihre Macht in der Kraft Christi beherrscht wird. Die Macht der Sünde ist damit gebrochen, nicht aber ihre Realität. Auch der freie Wille8 des Menschen steht unter der Realität der Erbsünde, so daß er zwar sehr wohl seinen Ort in der Welt hat, wenn es darum geht, gute und schlechte Werke - coram mundo - zu wählen und zu tun; vor Gott aber hat der Wille keine Kraft, die Gerechtigkeit zu erwirken. Eine iustitia operum ist vor diesem Forum ausgeschlossen; coram Deo ist der Sünder ausschließlich an die iustitia Christi gewiesen, die eine iustitia aliena extra nos bleibt. Die Abkehr des Menschen von Gott ist vom Menschen aus gesehen irreversibel. Selbst nach der Eingießung des Heiligen Geistes in der Taufe und der Annahme seiner Gaben im Hören des Wortes9 bleibt der Wille des Menschen unfähig zur Gerechtigkeit vor Gott. Hier kommt Luthers pointierte Ablehnung irgendeiner Form des Mitwirkens des freien Willens bei der Rechtfertigung zum Tragen, wie sie spätestens in der Heidelberger Disputation von 1518 auftritt und in der Auseinandersetzung mit Erasmus 1525 zum endgültigen Bruch mit dem Humanismus führt.10 Nach dem Sündenfall ist der freie Wille in bezug auf die Heilsdinge eine „res ... de solo titulo"11. Unter diesen Voraussetzungen formuliert die CA Invariata den Rechtfertigungsartikel in drei Teilen: 1. In einer negativen Formel stellt sie heraus, daß der Mensch weder durch eigene Kräfte noch durch Verdienste oder durch gute Werke vor Gott ge-

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Ebd. S. 120. WA 56, 272/17f.; vgl. dazu zur Mühlen: Nos extra nos ..., a.a.O. S. 145. 8 Vgl. Artikel XVIII der CAinvar (CR XXVI, 282-284): „De libera arbitrio docent, quod humana voluntas habeat aliquam libertatem ad efficiendam civilem iusticiam, et deligendas res rationi subiectas. Sed non habet vim sine spiritu sancto efficiendae iusticiae Dei, sei iusticiae spiritualis, quia animalis homo non percipit ea quae sunt spiritus Dei, sed haec fit in cordibus, cum per verbum spiritus sanctus concipitur ...". ® Hier hat dann auch die Bedeutung des Predigtamtes seinen Ort, vgl. Artikel V (CR XXVI, 275f), wo dieses neben den Sakramenten als Instrument des Heiligen Geistes genannt wird. 10 Vgl. zur Mühlen: Nos extra nos ..., a.a.O. S. 210-216; eine Übersicht über die umfangreiche Literatur zu diesem Thema bei Augustijn: Erasmus ..., a.a.O. S. 190f. " So die 13. These der Heidelberger Disputation mit ihrer Spitze gegen das Bielsche „facere, quod in se est" (WA I 354/5). 7

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rechtfertigt werden kann. Das ist eine klare Absage an all das, was in der traditionellen Theologie im Umfeld der Gnaden- und Rechtfertigungslehre zu finden ist. Alle Spielarten eines wie auch immer gearteten „proprium" sind hier versammelt, und die Aussage ist unmißverständlich. Alles, was der Mensch sein Eigen nennt oder er sich zu eigen macht oder von dem ihm gesagt wird, daß es sein Eigen wäre bzw. werde - das alles gilt vor Gott nichts; vor dem göttlichen Gericht gilt ein anderer Gerechtigkeitsbegriff als coram mundo. Keine Fähigkeit, keine Tugend, kein Verdienst, die Geltung in der Welt fanden, haben gegenüber der bedingungslosen Gnadenzusage Gottes im Kreuz Christi Heilswirksamkeit. Und zwar nicht, weil die iustitia operum etwa nur geringer zu bewerten wäre als die iustitia Christi, sondern weil es - coram Deo! - keine iustitia operum vor der promissio gibt. Die iustitia aliena Christi weist der Eigengerechtigkeit hinsichtlich irgendeiner dignitas nicht bloß einen geringeren Platz zu, sondern macht transparent, daß ohne Christus Rechtfertigung gänzlich unmöglich ist und auch nicht zu einem minimalen Teil vom Menschen aus geleistet oder erwirkt werden kann. 2. Im zweiten Abschnitt benennt der Artikel wiederum in drei Gliedern nun positiv die Momente der iustificatio: „gratis, propter Christum per fidem", wobei das „propter Christum" in einem Relativsatz näher mit dem „Tod für unsere Sünden" begründet wird, der eine satisfactio bewirkt. Schaut man sich an dieser Stelle die Sprache an, so fallen zwei Dinge ins Auge: Zum einen das „gratis". Nicht der Ablativ des Substantives .gratia' findet Verwendung, sondern sein Adverb. Dadurch reiht sich der Begriff einmal nahtlos in den Bereich des Geschäfts- und Gerichtslebens ein: Wie iustificatio und satisfactio dort hineingehören, so auch er. Das so vermittelte Bild einer Gerichtsverhandlung schützt vor jeder Möglichkeit, die Sünde des Menschen zu verharmlosen. Es geht hier um tatsächliche Schuld, tatsächlich einklagbare Sünde, einen wirklichen Richter und einen wirklichen Angeklagten. Daß in einem solchen Forum Rechtfertigung .gratis' - .umsonst' geschieht, verschärft noch einmal den Kontrast zwischen menschlichem Gerechtigkeitsempfinden und dem Liebeshandeln Gottes. Dann aber wird durch das „gratis" auch einer vorschnellen Instrumentalisierung vorgebeugt. Der Ablativ .gratia' - .aus Gnade' hätte den syntaktischen Wert eines ablativus instrumenti im engeren Sinne oder eines ablativus modi. Durch das Adverb aber wird der Gnadenbegriff viel stärker an das passive iustificari gebunden. Gnade steht somit nicht zwischen homo und iustificari, als buchstäbliches Mittel der Rechtfertigung, sondern ist untrennbar auf der Seite des Rechtfertigenden. Das gleiche Phänomen des vermiedenen Ablativs findet man noch einmal bei „per fidem". Hier steht statt des Ablativs „fide" die Verbindung mit der Präposition .per'. Zwar kann auch das .per' im instrumentalen Sinne gebraucht werden, aber es ist stärker an das räumliche .hindurch', .über' zu53

rückgebunden. Der Glaube ist nicht das Mittel zum Zweck, sondern der Raum, in dem Vertrauen auf die Heilstat Christi geschieht. Und noch ein drittes Mal wird der Ablativ aufgegeben, wieder zugunsten eines präpositionalen Ausdrucks: „propter Christum" statt „Christi causa" o.ä. Hier wird neben der betonten räumlichen Vorstellung (.propter' heißt auch .neben', ,in der Nähe') statt der Instrumentalisierung im Ablativ „causa" auch der ganze Aristoteles-lastige causa-Begriff der Scholastik in der Umgehung abgelehnt. Diese Beobachtungen wären sicher nur halb so bedeutsam (zumal z.B. in Artikel VI und Artikel XX der Ablativ durchaus Verwendung findet) - wenn nicht die Negationsformel ausschließlich mit Ablativen arbeiten würde und so die Antithetik auch sprachlich ganz konkret hervorträte.12 3. Das „propter Christum" sagt ganz deutlich, wo die Ursache für das „gratis" zu suchen ist. Sie liegt nicht in irgendeiner Würdigkeit seitens des Menschen, sondern im Kreuz Christi, das allein dem Menschen Heil zu bringen in der Lage ist. Nur so kann Versöhnung mit Gott stattfinden, indem diese Verheißung geglaubt wird. Leben, Tod und Auferstehung Christi wären geradezu sinnlos, hätte der Mensch irgendwelche Möglichkeiten, von sich aus das Verhältnis zu Gott in Ordnung zu bringen oder auch nur daran zu glauben oder darauf zu vertrauen, daß die Verheißung von der Vergebung der Sünden wahr ist. In der Apologie zur CA ist dies noch einmal scharf auf den Punkt gebracht, und zwar hier im Kontext der Erbsündenlehre, was die enge Verbindung der beiden Themen verdeutlicht: „Neque enim potest intelligi magnitudo gratiae Christi, nisi morbis nostris cognitis."13 Im letzten Teil schließlich wird noch einmal das Stichwort „Glaube" aufgenommen, welcher an die Sündenvergebung glaubt und den Gott „pro iustitia" anrechne. Daß mit Anrechung nicht gemeint sein kann, „daß der Glaube in sich etwas ist, sondern daß die einzige Gerechtigkeit, die Gott gegenüber denkbar ist, nämlich die Gerechtigkeit Christi, durch den Glauben ergriffen

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Es gibt in bezug auf das „gratis" auch die Ansicht, daß Melanchthon die Formel „iustificatio per gratiam" vermeiden wollte, in der sich dann u.U. die Altgläubigen hätten wiederfmden können (so Pfnür, Vinzenz/Müller, Gerhard: Rechtfertigung Glaube - Werke, in: Meyer/Schütte: Confessio Augustana..., a.a.O. S. 105-138, hier S. 116-119, bes. 117). Das mag soweit richtig sein; nur kann m.E. gar keine Rede davon sein, daß die „Rechtfertigung durch den Glauben" und die scholastische „Rechtfertigung durch die von Gott im Menschen geschaffene Gnade" dieselbe „Intention verfolgen" (so ebd. S. 116), denn der scholastischen Formel wohnt u.a. der habitus-Gedanke inne und damit die Vorstellung der inhalierenden Gerechtigkeit; vgl. auch später hier, dazu die Apologie (AC Π/116, BSLK S. 183), wo diese Position als „rectius" ins Spiel gebracht wird - und „rectius" ist nicht „recte"! 13 AC Π/33, BSLK 153. 54

wird"14, ist klar. Glaube ist nicht das Werk einer inhärierenden Gerechtigkeit oder dessen Spitze, sondern gründet in der iustitia aliena extra nos. Wenn nun dieser Glaube „angerechnet" wird, wird damit eine imputative Gerechtigkeit betont; dadurch wird die iustitia quasi .vorgezogen' und jeder Weg, eine Gerechtigkeit nach der Gnadenzusprechung von sich aus aufzubauen oder auch nur zu vervollkommnen, um dieser Gerechtsprechung zuzuwirken, von vornherein ausgeschlossen; dann aber wird auch die imputative Seite der iustificatio der effektiven vorgeschaltet. Zwar kommt dieses Moment auch zum Tragen in dem Augenblick, wo wir in die Gnade aufgenommen werden („in gratiam recipi"); aber dennoch wird hier ganz deutlich, daß die Rechtfertigung vor der Ethik steht und nicht umgekehrt. In dem „cum credunt" wird darüber hinaus noch deutlich, der Glaube sei weder die causa noch der modus iustificationis." Unter diesen Bedingungen ist natürlich die Behandlung der guten Werke ein wichtiges Element, zumal der Anfrage und dem Vorwurf begegnet werden mußte, durch ein „gratis" sei die Ethik gänzlich aus dem Blick verloren. Dazu muß vor allem anderen noch einmal betont werden, daß remissio peccatorum, gratia und iustificatio nur durch die fides erreicht werden können, die glaubt, daß man wegen Christus aufgenommen wird in die Gnade. Genau dieser Glaube, der dann auch die Gewissen tröstet, unterscheidet Christen von dem Teufel und den Gottlosen. Dieser Glaube entspringt dem Heiligen Geist, und damit einher geht die Wiedergeburt des Menschen im Herzen. Daher, weil der Glaube aus dem Heiligen Geist hervorgeht, bestimmen Wort und Sakrament das Predigtamt, denn durch sie wird der Heilige Geist geschenkt. Durch den Heiligen Geist aber, der einen neuen Menschen schafft, werden gute Früchte hervorbrechen können. Aber - und das ist das Entscheidende - da die Erbsünde weiter besteht und der totus homo totus iustus und totus peccator ist, gereichen diese Früchte nicht dazu, zur Rechtfertigung etwas beizutragen. Sie sind notwendige Folge. Die Charakterisierung als „notwendig" versteht sich aber nicht so, als konstituierten die guten Werke die iustificatio; auch sind sie nicht in der Lage, die eingegossene Gerechtigkeit zu vervollkommnen oder sich der zugesprochenen Gnade als würdig zu erweisen insofern, als sie sich dann verselbständigen könnten und unabhängig von der Person verdienstvoll wären. Für die Recht-

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Grane, Leif: Die Confessio Augustana. Einführung in die Hauptgedanken der lutherischen Reformation, 2. Aufl. Göttingen 1970, S. 47. 15 Cum mit Indikativ kann nur vier Bedeutungen haben: eine temporale (zwischen Haupt- und Nebensatz besteht nur ein äußerlich zeitliches Verhältnis, kein inneres ursächliches), eine iterative („immer dann, wenn..."), eine inverse (fällt wegen der Tempusforderung für den Hauptsatz aus) und eine koinzidente (zeitliches und sachliches Zusammenfallen der Handlung in Haupt- und Nebensatz); somit entfallen automatisch die kausale, modale und konditionale Bedeutung des ,cum*.

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fertigung ist allein der Glaube von Bedeutung, der der Verheißung der iustitia Christi sine propriis mentis hominis vertraut. Somit ist den guten Werken zwar ein wesentliches Gewicht beigemessen jedoch eines extra iustificationem. Für die iustificatio hominis gilt - auch wenn dies expressis verbis in der Confessio Augustana Invariata nicht formuliert ist uneingeschränkt das sola fide. 2.2.1.2 Die Confutatio von 1530'

Den Hauptanteil an der Arbeit zur katholischen Widerlegung der Confessio Augustana trug augenscheinlich Johannes Eck2; wenngleich in der entsprechenden Kommission zwischen 20 und 26 Theologen saßen', von denen mindestens sieben scharfe Gegner der Reformation waren, werden von Johannes Fabri neben Eck nur er selbst und Cochläus4 namentlich für die wesentliche Tätigkeit hinsichtlich der mündlichen und schriftlichen Formulierung erwähnt5. Sehr genau erkennt die Confutatio die Grenze zur reformatorischen Position. Schon in der Auseinandersetzung mit Artikel II, also der Erbsündenlehre, wird deutlich, daß im Ansatz eine tiefe Differenz besteht, die sich in der inhaltlichen Füllung der Termini „culpa" und „concupiscentia" manifestiert. Die Schuld im Sinne des Fehlens von Furcht und Vertrauen gegen Gott wird von der Confutatio als culpa actualis verstanden6; diese culpa actualis setzt den Gebrauch der ratio voraus7, so daß sie nur für die Erwachsenen gilt, nicht aber für Kinder. Während das peccatum originale in der Taufe aufgehoben wird, bleibt demnach nur die concupiscentia, die aber als solche nicht den Verlust der relationalen Hinwendung zu Gott bedeutet, sondern die Möglichkeit zu neuer, aktueller Tatschuld darstellt8. Das heißt nun konkret, daß die culpa als peccatum originis nach der Taufe nicht mehr gilt. Darin ist aber nicht nur die Anklage, der reatus aufgehoben, sondern auch das Essentielle des peccatum originis. Der Mensch ist in diesem Verständnis durch die Taufe hingeordnet auf Gott und ist nicht mehr im radikalen Sinne Sünder.9

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Vgl. Pfnür: Einig..., a.a.O. S. 222-234 und 244-250. Vgl. Die Confutatio der Confessio Augustana vom 3. August 1530. Bearbeitet von Herbert Immenkötter, (CCath 33) Münster 1979, S. 23 (Der Text wird im folgenden zitiert als „Confutatio" nach ebd.). 3 Die Angaben schwanken, vgl. ebd. S. 22. 4 Vgl. ebd. S. 23. 5 Vgl. zu allem Näheren ebd. S. 15-69. 4 Vgl. Confutatio 81/10; vgl. AC Π/1, BSLK 147. 7 Vgl. Confutatio 81/10. ' Vgl. Confutatio 81/17-83/2. 9 An dieser Stelle sind ganz deutlich Affinitäten zu Thomas von Aquin erkennbar. Vgl. dazu etwa STh 1 Π qu 85 a2: „RESPONDEO ... Unde non est possibile quod praedictum naturae bonum totaliter tollatur", woraus Thomas schließt, Sünde sei 2

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Dieser wesentliche Unterschied in den Voraussetzungen führt dann notwendig dazu, daß auch im Rechtfertigungsartikel selbst kein Konsens erzielt werden kann. Ist man sich noch in der Ablehnung der Pelagianer einig, so wird doch in dieser scheinbaren Übereinstimmung schon die Verschiedenheit klar. Die Formel „hominem propriis viribus seclusa gratia dei posse mereri vitam aeternam"10, die nach Ansicht der Confutatio abzulehnen ist, beinhaltet aber gleichzeitig - um die Formel aufzunehmen - den Gedanken: homo propriis viribus inclusa gratia dei potest mereri vitam aeternam. Genau diese Deutung wird später auch so positiv formuliert an der Stelle, wo von der assistentia gratiae divinae die Rede ist." In der Logik des Gesagten hieße eine Ablehnung der guten Werke nämlich gleichzeitig, sich gegen die göttliche Gnade zu wenden, die durch die Befreiung des Menschen von der Last der Erbsünde ihn befähigt, seine natürlichen Kräfte heilswirksam einzusetzen. Die Assistenz der göttlichen Gnade - verstanden hier als gratia operans et cooperans - ist zwar notwendig wegen der bleibenden concupiscentia als Neigung zur Tatsünde; insofern hat sie aber nur eine unterstützende Funktion und nicht eine allein wirkende. Konzentriert heißt es daher, wieder im Anschluß an Thomas von Aquin12, noch einmal am Schluß:

lediglich eine diminutio des Guten; durch die Taufe nun wird alle Sünde aufgehoben (STh ΠΙ qu 69 al); scheint es dabei zunächst noch so, als ob nur der reatus aufgehoben werde (vgl. STh ΠΙ qu 69 a2: „Et ideo ille qui baptizatur liberatur a reatu omnis poenae sibi debitae pro peccatis"), so wird doch bereits in den nächsten Artikeln deutlich, daß sich die qualitas animae durch die Taufe geändert hat, vgl. alO: „Et similiter quando aliquis baptizatur, accipit characterem, quasi formam, ut consequitur proprium effectum, qui est gratia remittens omnia peccata." Die Sünde müsse demnach unter zweierlei Aspekt betrachtet werden (STh 1 Π qu 87 a6): „... scilicet actus culpae, et macula sequens. Planum est autem, quod cessante actu peccati, remanet reatus, in omnibus peccatis actualibus. Actus enim peccati facit hominem reum poenae, inquantum transgreditur ordinem divinae iustitiae; ad quem non redit nisi per quandam recompensationem poenae, quae ad aequilitatem iustitiae reducit. ... macula peccati ab anima auferri non potest, nisi per hoc quod anima Deo coniungitur ... Coniungitur autem homo Deo per voluntatem. Unde macula peccati ab homine tolli non potest nisi voluntas hominis ordinem divinae iustitiae acceptet ... Dicendum est ergo quod, remota macula culpae, potest quidem remanere reatus non poenae simpliciter, sed satisfactoriae." 10 Confutatio 85/3. " Vgl. Confutatio 85/11-14: „Nam si quis intenderet improbare merita hominum, quae per assistentiam gratiae divinae fiunt, plus consentiret Manicheis quam ecclesiae sanctae catholicae. Omnino enim sacris litteris adversatur negare meritoria opera nostra." 12 Vgl. STh 1 Π qu 114 a5: „AD SECUNDUM dicendum quod Deus non dat gratiam nisi dignis. Non tarnen ita quod prius digni fuerint: sed quia ipse per gratiam eos facit dignos ..."; vgl. qu 110 a3: „AD PRIMUM ergo dicendum quod Augustinus 57

„Attamen omnes catholici fatentur opera nostra ex se nullius esse mereri, sed gratia dei facit ilia digna esse vitae aeternae."13 Hier ist eine pointierte Antithetik zum „gratis" der Confessio Augustana festzustellen, die die Gnade als exklusiv definiert hatte. Folgerichtig kann die Confutatio dann auch den Glauben und seine Aufgabe im Justifikationsgeschehen im Anschluß an Gal 5 und Thomas von Aquin14 nur bestimmen als: ,,fide[s] non sola ..., sed quae per dilectionem operatur ...", da in der Taufe Glaube, Liebe und Hoffnung eingegossen werden15. In dieser Formulierung der Confutatio wird zugleich evident, daß die Positionsformel der CA und der in ihr enthaltene Glaubensbegriff auf das „sola fide" zugespitzt sind, auch wenn die particula exclusiva dort nicht genannt ist. Sola fide kann nach Aussage der Confutatio keine Rechtfertigung geschehen, wo Gott selbst in der Taufe die natürlichen Kräfte des Menschen weckt und nach der Taufe durch seine Gnade begleitet. So kann zwar in Artikel VI zugegeben werden, daß der Glaube gute Früchte hervorbringen muß, aber nur so, daß damit nicht die Werke für die iustificatio ausgeschlossen werden, denn „... quis crediderit, si non operetur bonum, non est amicus dei"16. Das nun ist deutlich die Position einer Rechtfertigung aus Glauben und guten Werken. Gute Werke machen den Glauben vollkommen'7:

nominat fidem per dilectionem operantem .gratiam', quia actus fidei per dilectionem operantis est primus actus in quo gratia gratum faciens manifestatur." 13 Confutatio 87/1 lf; Thomas definiert den Zusammenhang von gratia und meritum folgendermaßen: „Et ideo sine gratia homo non potest mereri vitam aeternam." (STh 1 Π qu 109a5), „Huiusmodi autem donum vocatur gratia gratis data, quia supra facultatem naturae, et supra meritum personae, homini conceditur." (STh 1 Π qu 111 al) und „ ... nullum meritum potest esse nisi ex gratia" (STh 1 Π qu 112 a2). .Meritum' meint dabei „effectus gratiae cooperantis" (STh 1 Π qu 114), wozu dann weiter ausgeführt wird: „Nullus in statu peccati existens potest vitam aeternam mereri, nisi prius deo reconcilietur, dimisso peccato, quod fit per gratiam." (STh 1 Π qu 114 a2); gerade in diesem letzten Zitat aber wird deutlich, wie die merita als „effectus activae vitae, quibus homo disponitur ad contemplativam vitam" (STh 1 Π qu 69 a3) im Rechtfertigungsvorgang einen diesen konstituierenden Platz erhalten und schließlich als „causa subsequens" (STh 1 Π qu 114 a3) bezeichnet werden können, deren Wurzel die „dilectio caritatis" (STh 2 II qu 23 a2) ist (wobei die dilectio caritatis auch als „forma fidei" definiert ist, vgl. STh 2 Π qu 4 a3). 14 Vgl. hier zuvor, weiterhin STh 1 Π qu 108 a2: „Rectus autem gratiae usus est per opera caritatis."; in qu 110 a3 bezieht sich Thomas auf Augustin: „Dicit enim Augustinus quod gratia operans est fides quae per dilectionem operatur." 15 Confutatio 89/3-5. 16 Confutatio 91/18f. 17 So Confutatio 93/6f im Kolosser-Zitat. 58

„Nam et fides et bona opera sunt dona dei, quibus per misericordiam dei datur vita aeterna."" Auch in dieser Aussage wird zwar die Rückbindung der guten Werke an die barmherzige Gnade Gottes betont; jedoch ist eine Mitwirkung des Menschen notwendig zur Erlangung des Heils. Wo die Reformatoren mit der Zuspitzung auf das „sola" gleichzeitig die Erlösungstat Christi pointierten, da findet man wohl ein ähnliches Anliegen bei den Altgläubigen. Auch ihnen scheinen Gnade Gottes und Kreuz Christi nicht recht ernstgenommen und zur Geltung gebracht zu sein, sobald Glaube und Liebe - beides Geschenke Gottes - scheinbar auseinanderdividiert werden. Warum hätte Gott den Menschen mit solch guten Gaben ausstatten sollen, wenn er nicht zugleich gewollt hätte, daß dieser sie zum Einsatz bringt? Gute Werke als heilswirksam auszuschließen, sei gegen Gottes ausdrücklichen Willen; ein solcher Ausschluß der bona opera sei nur legitim bzgl. der Werke des Gesetzes", das heißt: Werke des Gesetzes dienen nicht zur Vergebung der Sünde, wohl aber Werke, die die göttliche Gnade gut und würdig macht, also solche, die im Glauben geschehen. In der Konsequenz kann die Confutatio dann auch nicht verstehen, daß Buße selbst schon conversio ist; dagegen wird gehalten, daß erst geglaubt werden muß, damit Reue geschehen kann. Das reformatorische Zusammen von iustificatio und ex iniusto iustus effici wird hier aufgesprengt. Mißverstanden ist schließlich der Artikel XVIII über den freien Willen in der Formel „... ne nimium tribuant libero arbitrio cum Pelagianis neque omnem libertatem ei adimant cum impiis Manicheis."20 Genau dieser Mittelweg zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig war ja in der Confessio Augustana ausgeschlossen worden. Der freie Wille ist in bezug auf die Rechtfertigung nichts, weder mit Gnade noch ohne, und daher ist an diesem „nichts" auch nichts zu deuteln. In Artikel XX wird die Gelegenheit noch einmal ergriffen, den Evangelischen einen Glauben ohne Werke und darin eine Lehre, die die Ethik nicht begründen kann, vorzuwerfen. Dieser Artikel sei nicht mehr als eine excusatio, eine Entschuldigung: „Der zwenzigist artickel ist nit so seer der fursten und der stet bekantnus als ein entschuldigung irer prediger."21 Gerade in dieser Einschätzung zeigt sich der tiefliegende Dissens. Hierin nämlich beweisen die Verfasser der Confutatio, gleichsam in Zusammenfassung

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Confutatio 93/16f. " Confutatio 95/2f. 20 Confutatio 117/13-15. 21 Confutatio 120/12f. 59

des Bisherigen, daß für sie eine Vergebung der Sünden, eine Rechtfertigung ohne Zutun des Menschen - wenn auch durch Einwirkung des Geistes und der Gnade - in keiner Weise denkbar ist; eine Ethik, die sich durch irgendetwas anderes begründen lassen könnte als durch notwendige Einbindung in eben dieses Rechtfertigungsgeschehen, ist für sie nicht definierbar. Ein Ausschluß der guten Werke aus dem Kausalitätszusammenhang Taufgnade-Geschenk der Ursprungsgerechtigkeit-Rechtfertigung würde bedeuten, Gottes implizitem Anspruch nicht gerecht zu werden. Somit zeigt sich in der Confutatio zweierlei Bedeutsames für die zukünftige kontroverstheologische Debatte. Zum einen würde stärkeres Gewicht auf eine differenzierte Darlegung der Erbsündenlehre gelegt werden müssen, denn es war offensichtlich, daß hier die Wurzel für ein tiefes Nicht-Verstehen-Können der jeweils anderen Position im Blick auf die Rechtfertigung lag; zum anderen würde es darum gehen müssen, von dort aus und von dessen notwendigen Konsequenzen für das Was und Wie der iustificatio hominis die Rolle der guten Werke im Rechtfertigungsgeschehen zweifelsfrei zu bestimmen. Die Confutatio ist daher ein eindrückliches Beispiel für den komplexen Zusammenhang von Christologie, Anthropologie und Soteriologie; dann aber ist sie auch ein Beweis dafür, daß es gerade wegen dieser Komplexität auf eine sorgfaltige Terminologie in jedem dieser Bereiche ankommt, wenn man -unbewußtes oder gar bewußtes - Mißverstehen oder eine interpretatio ad meliorem aut peiorem partem ausschließen will. 2.2.1.3 Die Apologie der Confessio Augustana von 1530/3Γ Dementsprechend mußte es nun für die Evangelischen darum gehen, die Mißverständnisse auszuräumen und gleichzeitig noch einmal deutlich herauszustellen, was die knappen Formulierungen der CA meinten und was sie nicht meinten; vornehmlich die Neubestimmung der guten Werke in einem Rechtfertigungsverständnis, das diese als Heilsweg rigoros ausschloß, war gefordert. Dieser Aufgabe unterzog sich Philipp Melanchthon in der Apologia Confessionis Augustanae. Melanchthon erkennt dabei die Notwendigkeit, zunächst das Verständnis des peccatum originis klar darzulegen. Jeder Versuch, die in der CA vertretene Rechtfertigungslehre zu erklären bzw. zu verteidigen, würde scheitern, wenn nicht zuvor ausgeschlossen ist, daß der Mensch nach der Taufe von der Macht der Sünde befreit wäre und das Gottesverhältnis bis auf die Neigung zu Aktualsünden grundsätzlich intakt ist.

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Vgl. dazu Greschat, Martin: Melanchthon neben Luther. Studien zur Gestalt der Rechtfertigungslehre zwischen 1528 und 1537, (UKG 1) Witten 1965, S. 115-133 und: Plitt, Gustav: Die Apologie der Augustana. Geschichtlich erklaert, Erlangen 1873, S. 109-130 und 208f. 60

So stößt er sofort auf den Dreh- und Angelpunkt der Kontroverse, wenn er betont, daß die Confutatio die culpa originalis leugnet und nur die culpa actualis bestehen läßt2, die sich in den Werken der concupiscentia manifestiert3. Dagegen verstünden die Protestanten unter concupiscentia „non tantum actus seu fructus ..., sed perpetuam naturae inclinationem."4 So seien dann die schlechten Früchte, also die Aktualsünden, nicht losgelöst zu betrachten von ihrer Ursache, nämlich der auch nach der Taufe weiterhin bestehenden Erbsünde, die sich im Verlust und im Entbehren von Gottesfurcht und Gottesvertrauen konzentriert5 - und damit in den Elementen, die das erste Gebot bezeichnen6. So kann Melanchthon den „scholastici"7 vorwerfen, daß sie für den Menschen material nur von einer geringen Schwächung der menschlichen Natur durch die Erbsünde ausgehen, wenn sie ihm zugestehen, daß er von sich aus etwa Gott über alles lieben oder seine Gebote erfüllen könne'. Damit verkennen sie aber den wahren Zustand der menschlichen Natur, den Melanchthon mit dem Begriff der „interior immunditia"9 charakterisiert'0. Melanchthon greift nun eine Formel zur Definition der Erbsünde auf, die im Kontext der Religionsgespräche noch eine große Rolle spielen wird: „peccatum originis carentiam esse iustitiae originalis"11. Diese seit Anselm von Canterbury12

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Vgl. AC D/1, BSLK 146. Vgl. AC D/3, BSLK 146. 4 AC D/3, BSLK 146; vgl. auch später AC D/24f, BSLK 151f; zu Luther vgl. zur Mühlen: Nos extra nos ..., a.a.O. S. 117. 3 Vgl. etwa AC D/7f, BSLK 148f: „Itaque cum de peccato originis loquuntur, graviore vitia humanae naturae non commemorant, scilicet ignorationem Dei, contemptum Dei, vacare metu et fiducia Dei, odisse iudicium Dei, fugere Deum iudicantem, irasci Deo, desperare gratiam, habere fiduciam rerum praesentium etc."; durch das beinahe schon pleonastisch gesetzte „Deus" in jedem der Elemente macht Melanchthon unmißverständlich klar, gegen wen und was sich „concupiscentia" eigentlich richtet. 3

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Vgl. Luthers Kleinen Katechismus zum ersten Gebot BSLK 507. Vgl. etwa AC D/8, BSLK 149. 8 Vgl. AC D/8-9, BSLK 149; damit trifft er freilich nicht jeden scholastischen Theologen, wohl aber Ockham und Biel (vgl. insgesamt Gross, Julius: Geschichte des Erbsündendogmas. Ein Beitrag zur Geschichte des Problems vom Ursprung des Übels Bd. DI: Entwicklungsgeschichte des Erbsündendogmas im Zeitalter der Scholastik (12.-15. Jahrhundert), München /Basel 1971). 9 Vgl. AC Π/12, BSLK 149. 10 Melanchthon wirft hier den „scholastici" vor, sie behandelten nicht ausreichend das Wort Gottes und könnten daher die Wahrheit über den Menschen nicht erkennen (AC D/13, BSLK 149): „Neque enim potest iudicari nisi verbo Dei, quod scholastici in suis disputationibus non saepe tractant." " AC D/15, BSLK 150. 12 Etwa: „Sed et hoc satis iustum est ut quod semel accepit iustitiam, semper earn debeat, nisi violenter amiserit. Et certe multum dignior natura probatur, quae vel 7

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in der Theologie der Scholastik bis in den Nominalismus etablierte Formel13 treffe aber - so Melanchthon - nur dann den Sachverhalt, wenn im Begriff der iustitia eben jener metus und jene fiducia gegen Gott eingeschlossen sind, die durch den Fall Adams verlorengegangen sind.14 Aufgehoben werde in der Taufe lediglich die Anklage der Sünde, nicht aber das materiale Element, die

aliquando habuisse et semper debere ut habeat tarn honestum bonum convincitur, quam quae hoc ipsum nec habere nec debere aliquando cognoscitur ... Aestimo etiam iam te cognoscere, cum iniustitia non sit aliud quam absentia iustitiae, nec iniustum esse aliud quam non habere iustitiam ..." (De casu diaboli 16 = Anselmi Opera I, 260/3-261/27); weiter: „Quare omne peccatum est iniustitia, et originale peccatum est absolute peccatum. Unde sequitur quia est et iniustitia. Si deus non damnat hominem nisi propter iniustitiam, damnat autem aliquem propter originale peccatum: ergo non est aliud originale peccatum quam iniustitia. Quod si ita est, et iniustitia non est aliud quam absentia debitae iustitiae ..." (De conceptu virginali et de originale peccato 3 = Anselmi Opera Π, 142/31-143/4). 13 Vgl. Gross: Erbsündendogma ..., a.a.O. S. 21; als formales Element der Erbsünde wurde der Verlust der Urstandsgerechtigkeit durch eine Verschmelzung von augustinischem und anselmianischem Erbsündenbegriff definiert bei Albertus Magnus (ebd. S. 220: „Materiale in originali est foeditas concupiscentiae sive corruptio vitii... Formale autem in eo est carentia debitae iustitiae. Et haec definitio est quorundam antiquorum doctorum, sed ex verbis Anselmi extrahitur."); zu Biel vgl. ebd. S. 353f, dazu Auer, Johannes: Die Entwicklung der Gnadenlehre in der Hochscholastik, 2. Teil: Das Wirken der Gnade, (FThSt 64) Freiburg 1951, S. 16f und Feckes, Carl: Die Rechtfertigungslehre des Gabriel Biel und ihre Stellung innerhalb der nominalistischen Schule, (MBTh 7) Münster 1925, bes. S. 54f; Biel selbst referiert die Tradition (Coll. Sent. Π, dist. 30 al): „... Anselmus ... patet, quod .peccatum originale est carentia' et privatio .originalis iustitiae debitae inesse'... Haec (sc. Thomae et Bonaventurae) opinio tenet quod in originali peccato duo considerantur: Unum tamquam materiale, scilicet concupiscentia, quae est qualitas quaedam morbida, maxime ilia, quae inhaeret animae; aliud est formale, et est carentia iustitiae originalis debitae." Er schließt dann: „Originale peccatum non tantum est poena, sed est iniustitia, iniquitas sive culpa." (ebd. concl. 2) und „Sed licet remaneat concupiscentia post baptismum; non tarnen dominatur et regnat sicut ante; imo per gratiam baptismi mitigatur et minuitur, ut post dominari non valeat, nisi quis reddat vires hosti eundo post concupiscentias. Nec post baptismum remanet ad reatum, quia non imputatur in peccatum; sed tantum poena peccati est; ante baptismum vero, poena est et culpa." (ebd. dist. 32, al); Thomas von Aquin formuliert (STh 1 Π q 82 a3): „Sic ergo privatio originalis iustitiae, per quam voluntas subdebatur Deo, est formale in peccato originali: omnis autem alia inordinatio virium animae se habet in peccato originali sicut quiddam materiale. Inordinatio autem aliarum virium animae praecipue in hoc attenditur, quod inordinate convertuntur ad bonum commutabile: quae quidem inordinatio communi nomine potest dici concupiscentia. Et ita peccatum originale materialiter quidem est concupiscentia, formaliter vero, defectus originalis iustitiae." 14 Vgl. AC Π/16-26, BSLK 150f.

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concupiscentia, die nach dem Vorhergesagten Sünde im Vollsinne des Wortes sei.15 Diese Macht der Sünde aber könne nur durch Christi Hilfe gebannt werden: non possumus nos propriis viribus ex ista Servitute eximere."16 Melanchthon führt somit das formale Element des peccatum originis aus dem passiven Verlust der Ursprungsgerechtigkeit in das aktive Moment des eigenverantwortlichen Entzugs aus der Gottesrelation.17 Erbsünde ist also nicht nur gewissermaßen ein unverschuldetes, ererbtes .Schicksal', sondern eine Entscheidung und ein Tun des Menschen, für das er zur Verantwortung gezogen werden kann. Mit dem zuletzt zitierten Satz als Zuspitzung eines radikalen Erbsündenverständnisses weist der Wittenberger Magister bereits direkt in die Rechtfertigungslehre. Die Apologie ist an dieser Stelle genau wie schon beim Erbsündenartikel sehr ausführlich. Wie gesehen, konnte sich die Confutatio in Konsequenz ihres Verständnisses des peccatum originis nicht damit abfinden, daß dem Menschen kein aktiver Anteil am Heilsgeschehen zukommen kann, und forderte Werke, die durch die Gnade Gottes würdig des ewigen Lebens seien. Die Apologie dagegen wehrt sich mit aller Macht, diesen praecipuus locus „besudeln" zu lassen". Gleichwohl erkennt sie die Notwendigkeit, den Ausschluß der Werke und das Unvermögen des Menschen zu heilbringendem Sein vor Gott weiter zu erläutern. Offenbar gab es an dieser Stelle gravierende Differenzen zur traditionellen Theologie, die vermutlich daraus resultierten, daß beide Seiten je eine grundsätzlich unterschiedliche Aussage über den Menschen coram Deo aus der Schrift heraushörten. Der Vorwurf Melanchthons an die Gegner lautet von daher, daß sie in ihrer unablässigen Betonung der guten Werke als heilbringendes Mittel etwas aus der Schrift hören, was dort nicht zu finden ist. Daher beginnt Melanchthon seine Ausführungen mit der Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium. In diesem Begriffspaar, das auch alle weiteren Aussagen bestimmt, liegt demnach gleichsam der hermeneutische Schlüssel, der das rechte Verstehen der Schrift eröffnet, diese lebendig macht und auf den sich jedes Theologumenon hin prüfen lassen muß." Die Fähigkeit, lex und evan· 15

Vgl. AC Π/35-38, BSLK 154f. AC Π/48, BSLK 157. 17 Dies im Anschluß an Luther unter Aufnahme der augustinischen Erbsündenlehre besonders gegen die ockhamistische Tradition (vgl. Gross: Erbsündendogma ..., a.a.O. S. 353 und 355). " Vgl. AC IV/2, BSLK 159. 19 Vgl. Loci communes von 1521, Kapitel 4, 4: „Duae in universum scripturae partes sunt, lex et evangelium. Lex peccatum ostendit, evangelium gratiam. Lex morbum indicat, evangelium remedium. Lex mortis ministra est ..., evangelium vitae ac pacis." (zit. nach Melanchthon, Philipp: Loci communes 1521. Lat./dt. Übersetzt 16

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gelium zu unterscheiden, ohne sie zu trennen, macht nach Luther einen Theologen erst zu einem Theologen.20 Gerade ein rechtes Schriftverständnis würde zu der Erkenntnis führen, daß der Mensch nicht in der Lage ist „mereri remissionem peccatorum, faciendo quod est in se"21. Diese Vorstellung ist - so sagt es der deutsche Text - ein erdichteter Traum22. Da das Gesetz für keinen Menschen als unter der Erbsünde Gefangenem erfüllbar ist, weist die lex auf das Evangelium als konstituierendes Element der remissio peccatorum und auf Christus als Erlöser hin. Wird hier in der Vorstellung der Altgläubigen die Erbsünde als natürliche Verkehrtheit (= Abkehr von Gott) nicht ernstgenommen und findet in ihr eine Art .Aufrechnung' mit Gott statt (auch wenn man diese „necessitas", die Gnade zu geben, nicht eine necessitas „coactionis", sondern eine „immutabilitatis" nennt23), so zeigt sich darin ein tiefes Mißverstehen des Schriftwortes. Melanchthon macht unmißverständlich deutlich, welchen Stellenwert die Auseinandersetzung um die Rechtfertigungslehre tatsächlich hat. Es geht in ihr nicht etwa nur um ein Adiaphoron, sondern an ihr erweist sich, wer das Wort Gottes in rechter Weise vernommen hat! Der Vorwurf der Altgläubigen im Blick auf die scheinbar fehlende Ethik im protestantischen Verständnis wird insofern umgekehrt, als sich nun die katholische Seite die Frage gefallen lassen muß: Stürzt nicht gerade das Vertrauen auf die eigenen Kräfte den Menschen in immer tiefere Verzweiflung und hindert ihn letztlich an seinem Fortschreiten? In Konsequenz der Aussagen zur Erbsünde ist es nämlich ein weiterer Trugschluß, daß die fremde Gerechtigkeit eine sei, die verinnerlicht werden könne, die zu einer eigenen Gerechtigkeit werde. Sie bleibt die iustitia aliena, die allein dem Menschen zum Heil angerechnet wird; zwar bewirkt sie eine iustitia operum aber diese gilt nur coram mundo. In diesem Zusammenhang nennt Melanchthon auch die Unterscheidung zwischen meritum de congruo und de condigno eine reine Wortspielerei, die - hier taucht der Gedanke erstmals auf - die Gewissen

von Hans Georg Pöhlmann, Gütersloh 1993, S. 158-160; vgl. auch Anm. 461 dort; vgl. dazu weiterhin Maurer, Wilhelm: Melanchthons Loci communes von 1521 als wissenschaftliche Programmschrift. Ein Beitrag zur Hermeneutik der Reformationszeit, in: LuJ 27 (1960), S. 1-50, hier bes. S. 16f. 20 WA 40 I, 207/17f und WA 7, 502/34f; vgl. dazu: Ebeling, Gerhard: Luther. Einführung in sein Denken, 4. Aufl. Tübingen 1981, S. 120-136; vgl. auch dessen Ausführungen zu Luthers Verständnis vom freien Willen, Person und Werk etc. 21 AC IV/9, BSLK 160 in der Ablehnung der Bielschen Formel. 22 Vgl. AC IV/9, BSLK 160. 23 AC IV/ 11, BSLK 161; vgl. dazu Anselm von Canterbury's Aussagen in CDh Π, 5 / 1 0 / 1 6 und 17, etwa: „Quae scilicet necessitas non est aliud quam immutabilitas honestatis eius ..." (CDh Π, 5) und „... improprie dicitur necessitas, ubi nec coactio ulla est nec prohibitio." (CDh Π, 10).

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jedoch nicht beruhigen kann, „nisi audiant praeter doctrinam legis evangelium de gratuita remissione peccatorum et iustitia fidei."24 Das Menschenbild, das die Tradition zeichnet, ist wider den biblischen Befund, und in dieses Trugbild - so fährt die Apologie fort - gehört auch die habitus-Lehre. Sie gaukle vor, Christus habe eine „prima[...] gratia[...]"25 für uns verdient, die ihrerseits eine Neigung zur Gottesliebe hervorrufe. Damit hätten die Gegner gleichzeitig aber den Glauben auf eine bloße „notitia historiae de Christo"26 verkürzt und Christum gleichsam „begraben"27. Alle diese falschen, trügerischen und die Gewissen in noch tieferes Unglück stürzenden Lehren der Widersacher lägen - so die Apologie - an der Nicht-Beachtung der ersten Tafel des Gesetzes28, in der vom Lieben und Fürchten Gottes die Rede ist und die es zu glauben gilt. Was aber ist Glaube? Er ist - so Melanchthons Antwort - nicht nur eine Kenntnis der Historie, sondern ist „velle et accipere oblatam promissionem remissionis peccatorum et iustificationis"2». In den zu besprechenden Texten der Jahre 1540/41 wird von katholischer Seite immer wieder der Vorwurf erhoben werden, daß das „sola fide" der Reformatoren den Glauben auf eine fides historica reduziere. Dagegen verwahrt sich die Apologie und kehrt abermals die Spitze um. Die fides ist der Gottesdienst, der von Gott angebotene Wohltaten annimmt; Gesetzesgerechtigkeit bietet Gott eigene Verdienste an. Im Glauben ist der Mensch Empfangender; im Tun versucht er, etwas zu geben, was er gar nicht hat.30 Verheißung und Glaube aber sind korrelative Begriffe.31 Dieser Glaube tröstet die Gewissen und schafft so ein neues und geistliches Leben.32 In diesem neuen

24

AC IV, 164. AC IV/17, BSLK 162. 26 Vgl. ebd. 27 Vgl. AC IV/17, BSLK 162f: „Ita sepeliunt Christum, ne eo mediatore utantur homines, et propter ipsum sentiant se gratis accipere remissionem peccatorum et reconciliationem, sed somnient se propria impletione legis mereri remissionem peccatorum et propria impletione legis coram Deo iustos reputari ...". 28 Vgl. AC IV/34, BSLK 166: „Interim primam tabulam non vident, quae praecipit, ut diligamus Deum, ut vere statuamus, quod Deus irascitur peccato, ut vere timeamus Deum, ut vere statuamus, quod Deus exaudiat." 2 » AC IV/48, BSLK 169f. 30 Vgl. AC IV/17, BSLK 162. 31 Vgl. AC IV/50, BSLK 170: „Quare inter se correlative comparat et connectit promissionem et fidem."; vgl. Luther zu Röm 4,14: „... fides et promissio sunt relativa; ideo cessante promissione cessat et fides et abolita promissione auffertur et fides et econtra." (WA 56, 45). 32 Vgl. AC IV/62f, BSLK 172. 25

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Leben ist dann allerdings die Erfüllung des Gesetzes möglich und nötig", so daß dann gesagt werden kann, daß Rechtfertigung beides heißt: „ex iniustis iustos effici seu regenerari" und „iustos pronuntiari seu reputari"34. Das beinhaltet sowohl den effektiven als auch den imputativen Charakter der iustificatio, nicht jedoch eine iustitia operum coram Deo. In dem Zusammenhang begegnet ein interessanter Satz: „Ideo primum volumus hoc ostendere, quod sola fides ex iniusto iustum efficiat, hoc est, accipiat remissionem peccatorum."35 Die Particula sola, im Anschluß verteidigt, wird zumindest hier nur auf den effektiven Teil des Rechtfertigungsgeschehens bezogen - für die „Anrechnung" ist das nicht expressis verbis zu finden. Gewiß lag es nicht in Melanchthons Absicht, dadurch in bezug auf die Imputatio eine engere Verbindung von Glaube und Liebe anzudeuten. Dafür spricht die Interpretation des efficere durch das accipere, und auch der Kontext erhebt diese nicht isoliert zu betrachtende Aussage über jeden diesbezüglichen Verdacht. Zuletzt wird auch der apologetische Ansatz zu bedenken sein, der von dem Wunsch getragen ist, dem Gegner erklärend entgegenzukommen. Dennoch sollte an dieser Stelle bereits die Apologie sensibel dafür machen, daß in der Wahl der Formulierung immer eine Gefahr für die Inhalte verborgen ist, sobald sich diese Formeln verselbständigen. Melanchthons Ausführungen selbst lassen allerdings dafür keinen Raum, wenn er sowohl das „sola fide" als auch die iustitia aliena betont: „Cum autem sola fide accipiamus remissionem peccatorum et spiritum sanctum, sola fides iustificat, quia reconciliati reputantur iusti et filii Dei"36 und ausdrücklich dann: „Iustificare vero hoc loco forensi consuetudine significat reum absolvere et pronuntiare iustum, sed propter alienam iustitiam, videlicet Christi, quae aliena iustitia communicatur nobis per fidem."37 Diese beiden Elemente des sola fide und der iustitia aliena extra nos schützen vor jedweder Einbeziehung guter Werke oder Verdienste des Menschen in den Raum des Rechtfertigungsgeschehens. 2.2.1.4 Die veränderte Ausgabe der deutschen Confessio Augustana von 1533 Aus dem Umstand, daß die CA von 1530 offensichtlich nicht in ausreichendem Maße das evangelische Rechtfertigungsverständnis darlegte, entstand zunächst die Apologie; freilich war damit noch nicht die eigentliche Aufgabe erfüllt, den Bekenntnistext selbst so zu erweitern, daß die Sache der Protestanten unmißverständlich klar und lückenlos nachvollziehbar wurde. Aus diesem Grund erschien

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Vgl. AC IV/70, BSLK 174 und AC IV/122ff, BSLK 185ff. AC IV/72, BSLK 174. 35 AC IV/72, BSLK 174. 36 AC IV/86, BSLK 178. 37 AC IV/305, BSLK 219. 34

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1533 eine veränderte Fassung der deutschen Confessio, die diesem Anliegen Rechnung tragen sollte. In ihr wird der Artikel IV sofort und ausdrücklich in den Kontext der Erbsünde gestellt, die den Zorn Gottes bewirkt und jedes noch so gute Werk nutzlos vor Gott macht. Erst Christus als Mittler, also das Evangelium, und die daraus folgende Buße, können Vergebung der Sünden schenken und die Gewissen dieser Vergebung gewiß machen. Daher sei die particula exclusiva „gratis" (nicht sola) so wesentlich und unumstößlich. Kein Werk kann mit Gott versöhnen, sondern nur der Christusglaube, der zu verstehen ist als das Vertrauen auf die Vergebung: „Also erlangen wir Vergebung der sunden durch glauben, darumb das der glaube vertrawet, nicht auff eigene wirdigkeit, sondern auff barmhertzigkeit inn Christo zugesaget, Denn die barmhertzigkeitt wird anders nicht erkand odder empfangen, denn durch solchen glauben."1 Daraus ergibt sich, daß solcher Glaube nicht bloße fides historica sein kann, sondern fiducia, zu der freilich die Historie gehört. In Artikel VI wird die Betonung der Vergebung der Sünden um Christi willen wiederholt und der imputative Charakter der Rechtfertigung aufgrund Christi Tat herausgestrichen: „Dieweil wir durch glauben gerecht geschetzt werden, haben wir ein friedlich gewissen gegen Gott."2 Die Erfahrungen mit der Confutatio aufnehmend ist dann der Artikel XX sehr ausführlich gestaltet, indem er zunächst die Vorwürfe der Gegner umkehrt, anschließend „Glaube" und schließlich „gute Werke" erläutert. Die Confutatio hatte ja diesen Artikel als Entschuldigung der Gegner hingestellt. Dagegen wehrt sich der Text im Sinne der Apologie heftig und legt in überzeugender Weise dar, daß gute Werke auch im evangelischen Verstehen einen bedeutenden Ort zugewiesen bekommen, nur eben nicht den der conditio iustificationis. Der Text wirft seinerseits den Katholiken vor, sie verdürben dadurch, daß sie Zweifel an der Gnade lehren, auch die zweite Tafel des Gesetzes und predigten statt Gottes Gebote Menschensatzungen. So werde der Glaube unterdrückt. Glaube aber gehöre zu verantwortungsvoller Predigt dazu, denn das Evangelium sei Predigt von Buße und Vergebung der Sünden. Noch einmal wird die particula exclusiva „gratis" hervorgehoben, die allein Trost bewirke. Trost, so heißt es zu Artikel V, wird mit dem Heiligen Geist in die Herzen eingegeben, der durch das leibliche Wort wirkt (wobei jetzt die Formel von 1530 des „per verbum et sacramentum tamquam per instrumenta" aufgegeben wird zugunsten einer Betonung des Wortgeschehens): „Wenn das hertz also mit glauben durch den heiligen geist getröstet wird, so erkent es gottes barmhertzgkeit recht, und hebet an rechte gottes forcht, recht

' CR XXVI, 728. CR XXVI, 729.

2

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vertrawen, rechte hoffnung göttlicher hülff und gnaden, und andere tügent von Gott geboten..."3. Dabei heißt es: Weder ein vorhergehendes noch ein folgendes Werk, weder Würdigkeit noch Verdienst, weder Reue noch Liebe, sondern allein Gottes Barmherzigkeit um Christi willen bringt Vergebung der Sünden: „Also sol man allezeit auch, so wir nu anheben gute werck zu thun, halten und wissen, das wir fur Gott gerecht geschetzt werden, das ist, Gott gefellig sind, gewislich umb Christus willen, nicht von wegen des angefangenen newen lebens, denn es ist noch unrein und nicht ein volkomner gehorsam."4 Hier greift das reformatorische simul-Verständnis. Auch wird abgelehnt, daß „der glaube inn uns eine newe tugent ist."5 Dagegen wird im Abschnitt über die guten Werke der Glaube selbst als das „höhist werck", das weitere Werke mit sich bringt, bezeichnet, aber: „... die werck gefallen derhalben, das Gott die person angenommen hat, schetzt und helt sie fur gerecht, umb Christus willen"6, nicht als ob der Glaube als Werk eine Eigendignität entwickele7. Und weiter heißt es: „Wenn aber die person Gott gefeit, durch glauben, so gefallen ihm auch die guten werck, wiewol sie nicht verdienen Vergebung der sunden, und das wir gerecht geschetzt werden, und kinder sind des ewigen lebens, denn diese stück müssen zuvor da sein, ehe man werck thun kann"». Hier ist also ganz deutlich unterschieden zwischen iustificatio gratis und guten Werken, die zwar Gott gefallen, aber selbst in keiner Weise zur Gerechtigkeit gereichen. Wohl aber gibt es eine Vergeltung in der Endzeit, einen höchsten Lohn: „Denn ob wol das ewige leben nicht verdienet wird, sondern wird geschenckt umb Christus willen, so ist es dennoch zu gleich auch ein uberschwenckliche reiche Vergeltung unserer leiden und guten wercke, wie ein kind das Erbe nicht verdienet, und wird dennoch dadurch des kindes trew gegen den Eltern belohnet."» Auch die Vergeltung also ist „gratis", unverdient. Mit dieser Gestaltung ist der Text dem Anspruch gerecht geworden, das Proprium des reformatorischen Rechtfertigungsverständnisses in angemessener 3

CR XXVI, 729. CR XXVI, 739. 5 CR XXVI, 739. 6 CR XXVI, 741. 7 Vgl. Luther WA 39 I, 283/18f: „Fides facit personam, persona facit opera, non opera fidem nec personam." « CR XXVI, 741. ' CR XXVI, 741. 4

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Weise zu erläutern. Der Standort der iustificatio hominis innerhalb des Ganzen der Theologie tritt klarer hervor als in dem Text von 1530 und macht deutlich, daß es für dieses Verständnis notwendige Ursachen (die Christologie und die Auffassung der Erbsünde als auch nach der Taufe bleibende Macht) und ebenso unabänderliche Folgen gibt (den Ausschluß der guten Werke aus der iustificatio und ihre Neubestimmung außerhalb dieses Kontextes). Der Text von 1533 nimmt dabei die Vorarbeiten der Apologie auf und integriert diese in den Bekenntnistext. So gewinnt der Rechtfertigungsartikel Profil, ohne an irgendeiner Stelle sprachliche Schärfe oder gar Inhalte einzubüßen. 2.2.1.5 Die Loci Melanchthons von 1533' und 15352

Mit Hilfe von Loci3 versucht Philipp Melanchthon von 1521 an, die reformatorischen Aussagen zu systematisieren und zu strukturieren. Stellte sich vorher die neue Lehre vornehmlich in Streitschriften, Predigten oder Disputationen dar, so sind die Loci des Wittenberger Gelehrten der erste Versuch einer Art .evangelischer Dogmatik'. Mittels rhetorischer Mittel und eines formallogischen Apparates werden zentrale Themen der Theologie entfaltet. Es liegt nahe, daß die Unterordnung unter die Logik das Lebendige des Glaubens ein wenig in den Hintergrund treten läßt und ebenfalls den Bekenntnischarakter des bisherigen protestantischen Schriftguts. Ihnen fehlt das Kämpferische, auch jeder defensive oder gar offensive Zug. Weniger erstaunlich ist unter diesen äußeren Voraussetzungen, daß hier die Schärfe der Sprache zurückgenommen ist; mehr verwundert es dagegen, daß teilweise auch eine Unschärfe in der Sache zu begegnen scheint." Gerade dort, wo eine klare Darlegung des Sachverhaltes erlaubt wäre, findet er nicht so statt, wie man es erwarten würde. In der ersten Fassung der Loci von 1521 bestimmte Melanchthon die Rechtfertigung als Vergebung der Sünden durch das Wort der Gnade, das in Christus versprochen ist5, und folgerte: „Nihil igitur operum nostrorum, quantumvis bona aut videantur aut sint, iustitia sunt, sed sola fides de misericordia et gratia dei in Jesu Christo iustitia est."6 Diese Bestimmung begegnet auch in den beiden neuen Fassungen, jedoch jeweils an späterer Stelle. In den Texten von 1533 und 1535 setzt Melanchthon in 1

CR XXVI, 253-332. CR XXVI, 333-558. 3 Vgl. dazu Maurer: Loci communes ..., a.a.O. 4 Diese dürfen m.E. auch nicht nur mit dem Konstrukt des sprachlichen und erkenntnistheoretischen Rahmens entschuldigt werden, wie etwa bei Greschat: Melanchthon ..., a.a.O. S. 147ff, oder Bröls, Alfons: Die Entwicklung der Gotteslehre beim jungen Melanchthon 1518-1535, (UKG 10) Bielefeld 1975, S. 153, 159 u.ö. zu finden. 5 Vgl. Mel. StA Π-1, 88. 6 Mel. StA Π-1, 88. 2

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der Bestimmung des Rechtfertigungsverständnisses ein bei der „corruptio naturae"7, die nicht mehr fähig ist zu einer ,,firma[...] de deo notitia[...]"'. Daher ist der Wille des Menschen nicht in der Lage, dem Gesetz Gottes Genüge zu tun durch „opera externa"9. Aus all dem folgt: „Quare natura hominis sine spiritu sancto non placet Deo, non habet iustitiam aut vitam aetemam."10 In dieser Radikalität stehen die Loci in nichts den Aussagen der CA oder der Apologie nach. Auch hier wird klar unterschieden zwischen den beiden Foren coram mundo und coram Deo, wobei die Verderbtheit der Natur jede iustitia vor Gott ausschließt, die nicht die iustitia aliena Christi ist. Insofern vermag auch der freie Wille lediglich noch etwas innerhalb der iustitia civilis. Ahnlich wie später in der Confessio Augustana Variata soll verdeutlicht werden, daß es für die Rechtfertigung sola fide notwendige Voraussetzungen in der Anthropologie gibt. Daher kann Melanchthon in den Loci von 1521 folgern, daß Werke, die vor der Rechtfertigung geschehen, diesen Namen nicht verdienen." In dem Zusammenhang erscheint in der Fassung von 1533 die interessante Formel: „Errant quod putant legi dei satisfieri tantum per civiles mores"'2 - das „tantum" schließt die civiles mores jedenfalls nicht vollständig im Blick auf die Rechtfertigung aus. Man wird an dieser Stelle zwar die antimonastische Spitze heraushören müssen und zugleich zu bedenken haben, daß auch für die Reformation die Gebotsforderungen etwa des Dekalogs und der Bergpredigt unbedingten Charakter hatten (sie waren eben nicht nur evangelische Räte für vermeintliche „perfecti"13)· Melanchthon kann es also an dieser Stelle nicht darum gehen, den civiles mores eine ursächliche Rolle im Rechtfertigungsgeschehen zukommen zu lassen"; ungeachtet dessen beinhaltet das „tantum" jedoch bei isolierter Betrachtung die Gefahr einer Interpretation, die zu stärkerer Anstrengung anleitet und mit dem Talionsprinzip feststellt: Je mehr Sittlichkeit und gute Werke, desto mehr Satisfaktion und desto mehr Justiflkation. In ähnliche Richtung weist die Begründung für den Ausschluß der bona opera aus dem Grund, „non quia nos nihil agamus, sed quia remissio et donatio, ut sit certa."15; auffällig ist nämlich die Konzentrierung auf die Gewißheit der Gewissen:

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CR XXVI, 275/379. CR XXVI, 276/379. ' CR XXVI, 277/375. 10 CR XXVI, 278. 11 Vgl. Mel. StA Π-1, 108. 12 CR XXVI, 280. 13 Vgl. Luther dazu in seiner Schrift „Von weltlicher Obrigkeit" WA 11, 249/9-23, besonders 250/21-29. 14 Vgl. CR XXVI, 421. 15 CR XXVI, 421. 8

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„Si promissio iustiflcationis penderet ex conditione legis fieret incerta. Sed oportet hanc promissionem conscientiis nostris, esse certam, Igitur necesse est gratis promitti iustificationem ac fide accipi non propter nostram dignitatem."16 Es ist unter dieser Betonung nicht mehr eindeutig zu unterscheiden, ob die Gestalt der reformatorischen Rechtfertigungslehre der Ausgangspunkt für die certitudo conscientiae ist oder nur die Folge, so daß der böse Vorwurf treffen könnte, das evangelische Verständnis sei eine Erfindung derjenigen, die an ihrer Unfähigkeit zu guten Werken gescheitert sind. Gewiß lag Melanchthon nichts ferner als eine solche Interpretation; jedoch gilt hier wie schon bei der Apologie, daß anderen Formulierungen sehr schnell mindestens Anklänge an andere Inhalte korrespondieren. Der Glaube - so heißt es weiter in den Loci - ist im Rechtfertigungsgeschehen insofern konstitutiv, als er die flmisericordia[...] promissa[...] propter Christum"" annimmt. Wie in den Texten zuvor wird die fides so vor einer Reduzierung auf eine bloße notitia geschützt und das accipere (fides als fiducia) betont. Damit wendet sich Melanchthon wie schon 1521 scharf gegen die nominalistische Begrifflichkeit von der fides acquisita seu informis im Gegensatz zur fides viva als fides formata. Dabei meine die „particula exclusiva gratis": non excludit nostram poenitentiam et bona opera, sed tantum conditiones dignitatis excludat."1" Sicher ist es kein Zufall, daß auch hier, wie in der deutschen Fassung der CA von 1533, das „gratis" als particula exclusiva definiert und das „sola fide" gar nicht erwähnt wird. In dieser Formulierung geschieht zweierlei: Einmal wird so das „sola" vermieden, das offenbar Verwirrung stiftete und darüber zum Widerspruch reizte, wie die Confutatio deutlich bezeugt hatte; gleichzeitig aber ist durch den Zusatz der Wendung „particula exclusiva" evident, daß „gratis" in nicht minder ausschließender Weise zu verstehen ist. Jede Verwechslung mit traditionell geprägten Vorstellungen war damit umgangen. Gnade im reformatorischen Verständnis hieß nicht: Die Gnade Gottes und durch die Gnade gewirkte, begleitete und vollendete Werke des Menschen rechtfertigen, sondern: Ausschließlich die Gnade Gottes rechtfertigt, ohne jedes Mittun des Menschen. Die Formel „particula exclusiva gratis" verhindert also ein Mißverstehen, vermeidet zugleich aber auch das Reizwort des „sola fide". Auf der anderen Seite aber wird man fragen müssen - insbesondere im Hinblick auf die Kolloquien 1540/41 -, ob nicht gegen die Absicht immer noch Raum für ein Mißverstehen gegeben war, jedenfalls dann, wenn man diese Formel unter Mißachtung des Kontextes interpretierte. Dies ist vor allem dort zu bedenken, wo die kontrovers16

CR XXVI, 305. CR XXVI, 423. 18 CR XXVI. 17

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theologische Debatte immer wieder darauf hinweist, daß die Wendung des „sola fide" offenbar eher in der Lage ist, die spezifische Differenz zwischen traditio nell-scholastischem und reformatorischem Rechtfertigungsverständnis transparent zu machen. Gerade die Tatsache, daß sich das „sola" als Reizwort erwiesen hatte, könnte deutlich machen, daß sich in ihm das Proprium evangelischen Verstehens konzentriert und sich deshalb wenigstens in der Auseinandersetzung mit den Altgläubigen als einzig geeignete Formel herauskristallisiert. Besonders im Vergleich zu den Loci von 1521 fällt der Rückbezug in altes Vokabular auf, denn dort hieß es noch in einer thesenartigen Zusammenfassung der Rechtfertigungslehre: „Siquidem ea sola fides iustificat, meritorum nostrorum, operum nostrorum nullus plane respectus est, sed solorum meritorum Christi."" Der Glaube wird zum Schluß in den Loci als höchstes Werk tituliert20, aber als solches ist er - wie in einer Reihe von abzulehnenden Syllogismen aufgelöst wird - unvollkommen. Nicht wegen der Würdigkeit des Glaubens sind wir gerecht, sondern weil dieser die Barmherzigkeit annimmt21. Im Zusammenhang mit dem Vergleich Paulus/Jakobus macht Melanchthon eine erstaunliche Aussage, die 1535 jedenfalls in dieser krassen Deutlichkeit zurückgenommen ist. Gute Werke gefallen, nicht aus sich selbst freilich, sondern weil vorher die Person, die versöhnt und gerecht ist, Gott gefällt22; das ist die Voraussetzung; dann aber heißt es: „Si ita fidei natura conservatur, recte postea dicis. Homo iustificatur fide et operibus. hoc est pronunciatur iustus seu habet iustitiam utramque quam debet habere fidei et operum."23 und „Postea vero sequens obedientia est iustitia, hoc est, placet Deo."24 In dieser Passage sind zwar die Werke eindeutig zurückgebunden an die Person. Jedoch wird die Differenzierung zwischen der iustitia Christi und der iustitia operum unscharf. Melanchthon gerät an dieser Stelle in die Gefahr, zugunsten der Harmonisierung biblischer Aussagen die Werke in einer Weise in das Rechtfertigungsgeschehen zu integrieren, die über die tres usus legis hinausgehen. Ein Mißverstehen, als gäbe es eine iustitia operum coram Deo mit heilbringender Kraft, ist nicht ausdrücklich genug ausgeschlossen. Hier deutet sich - wohl wider die Absicht Melanchthons - ein Verstehensansatz an, der eine Rechtfertigung „gratis" und eine Rechtfertigung „propter opera" kennt und der

" Mel. StA Π-1, 123. CR XXVI, 310. 21 CR XXVI, 443f. 22 CR XXVI, 310, 313, 320/430f. 23 CR XXVI, 323/438-440. 24 CR XXVI, 439. 20

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spätestens in der kontroverstheologischen Debatte dazu führen könnte, dem radikalen Ausschluß der iustitia operum coram Deo die Spitze abzubrechen.25 2.2.1.6 Die Schmalkaldischen Artikel Martin Luthers von 1537 Schon die Ablehnung der Schmalkaldischen Artikel auf der Bundestagung im Februar 1537 als zusätzlich verpflichtenden Bekenntnistext zur Confessio Augustana und Apologie beweist, daß in diesem Text eine sehr deutliche und für einen Großteil der Bundesverwandten: zu deutliche Sprache ihren Niederschlag fand.1 Anläßlich des von Papst Paul III. ausgeschriebenen Konzils wurde Luther von seinem Kurfürsten beauftragt, ein Bedenken insbesondere zur Frage des Papstprimats zu formulieren. Diesbezüglich hält Luther jede Autoritätsanmaßung des Bischofs von Rom über das einem Bischof angemessene Maß hinaus für eine gotteslästerliche Anmaßung; Haupt der Kirche sei allein Christus, und daher müsse sich auch der Papst auf der Basis der Schrift für all sein Tun und für seine Lehre und Entscheidungen verantworten und befragen lassen.2 Freilich sind diese Aussagen nur die Konsequenz aus einer radikal gefaßten, soteriologisch ausgerichteten Christologie. Jesus Christus - und nur er allein - ist Heilsmittler:

25

Interessant und wichtig für die rechte Beurteilung Melanchthons wäre in diesem Zusammenhang auch der Cordatusstreit 1536, als Melanchthon zum ersten Mal einen Fortgang von Wittenberg und eine Trennung von Luther erwog; vgl. dazu: Neuser, Wilhelm H.: Luther und Melanchthon - Einheit im Gegensatz. Ein Beitrag zum Melanchthon-Jubiläum 1960, (TEH 91) München 1961, hier S. 5-13; ebenso wichtig wäre eine Analyse des Römerbriefkommentars von 1532, vgl. dazu Greschat: Melanchthon ..., a.a.O. S. 133-150; für das Folgende vgl. ebd. S. 150-165; femer auch Maxcey, Carl E.: Bona opera. Α study in the development of the doctrine in Philip Melanchthon (BHRef 31), Niewkoop 1980, S. 84-175, bes. S. 174f; sowie die jeweiligen Abschnitte in Briils: Entwicklung ..., a.a.O. S. 142ff; zu Melanchthons Rechtfertigungslehre im Vergleich zu Luther vgl. u.a. Stupperich, Robert: Die Rechtfertigungslehre bei Luther und Melanchthon 1530-1536, in: Luther und Melanchthon. Referate und Berichte des Zweiten Internationalen Kongresses für Lutherforschung Münster, 8.13. August 1960, hg. von Vilmas Vajte, Göttingen 1961, S. 73-88, und Haikola, Lauri: Melanchthons und Luthers Lehre von der Rechtfertigung. Ein Vergleich, in: Luther und Melanchthon ..., a.a.O. S. 89-103. Melanchthons theologische Entwicklung in den 30er Jahren sowie seine Rolle auf den Religionsgesprächen 1540/41 ist bisher von der Forschung nicht zureichend bedacht worden; sie krankt zudem unter der zu geringen Beachtung der humanistischen Elemente und dem sofortigen Vergleich mit Luther. Hier ist ein wahres Desiderat der Forschung festzustellen, welches diese Arbeit verständlicherweise nicht beheben kann; sie kann daher nur sehr vorsichtig einige Beobachtungen festhalten, die bei intensiver und ausschließlicher Beschäftigung mit Melanchthons Theologie noch einmal kritisch befragt werden müßten. 1 Vgl. die Einleitung in BSLK XXIV-XXVI. 2 Vgl. BSLK 431/5-18. 73

„Von diesem Artikel kann man nichts weichen oder nachgeben, es falle Himmel und Erden oder was nicht bleiben will ... Und auf diesem Artikel stehet alles, das wir wider den Bapst, Teufel und Welt lehren und leben. Darum müssen wir des ganz gewiß sein und nicht zweifeln. Sonst ist's alles verloren, und behält Babst und Teufel und alles wider uns den Sieg und Recht."' In diesem Zusammenhang widmet sich Luther zunächst einigen Mißbräuchen (zu denen auch die Messe zählt); die Heiligenanrufung ist dabei für Luther der Mißbrauch, der wider den Hauptartikel des Glaubens streitet." Über folgende Punkte jedoch könne man nur mit gelehrten, vernünftigen Menschen verhandeln (wobei die Seite der Altgläubigen aus diesem Personenkreis sogleich ausgeschlossen wird5): über die Sünde, das Gesetz und das Evangelium, Buße und Beichte, die Sakramente Taufe und Abendmahl, Klostergelübde, Schlüsselgewalt der Priester, Priesterehe, Kirche und natürlich Rechtfertigung. In der Darlegung dessen, was Luther für die rechte Lehre hält, ist er unerbittlich und kompromißlos. Im Blick auf die Sünde bedeutet „rechte Lehre", daß er sie als „originale, haereditarium, principale et capitale peccatum"6 definiert. Er bestimmt dann die Früchte dieser Originalsünde positiv als „mala opera"7 und negativ als „caecitas seu excaecatio"8. In der folgenden Ablehnung der Schultheologie knüpft er an seine eigenen Aussagen und die der Confessio Augustana und Apologie an. Erbsünde ist also die Verderbnis der Natur, die sich auch nach der Taufe nicht zu einem bloßen fomes, einer bloßen inclinatio reduziert, sondern weiterhin die den Menschen treibende Kraft im Sinne des peccatum regnatum bleibt. Daraus resultiert die vornehmste Aufgabe des Gesetzes, „daß es die Erbsunde mit Fruchten und allem offenbare und dem Menschen zeige, wie gar tief und grundlos seine Natur gefallen und verderbet ist ..."'. Daneben spricht Luther auch vom secundus usus legis: In der Welt hat das Gesetz als lex iudicialis sehr wohl seinen Ort und muß dort auch befolgt werden.10 Aus dem wahren Sündenverständnis, das davon ausgeht, daß dem Menschen nach dem Sündenfall keine natürlichen Vernunft- und Willenskräfte zur Verfügung stehen, mit denen er seinem Heil zuwirken könnte, und dem rechten Gesetzesverständnis folgt dann für Luther unweigerlich auch das rechte Bußver-

3

BSLK 415/21-416/6. Vgl. BSLK 424/10-425/25. 5 Vgl. BSLK 433/7-10. ' BSLK 433/29f. 7 BSLK 434/24. » BSLK 434/26. ' BSLK 436/6-8. 10 Vgl. BSLK 435/18-27.

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ständnis, wie es bereits in der CA begegnete: Die Erkenntnis, daß kein Werk in der Lage ist, Gott Genüge zu tun, führt in die contritio und weist an den einzigen Heilsmittler Christus. So bleiben die Teile Zerknirschung und Reue zwar stehen, aber für eine Satisfaktion ist kein Raum mehr." In einem gesonderten Abschnitt bekräftigt Luther schließlich seine Lehre im Blick auf die Rechtfertigung. nämlich daß wir 'durch den Glauben'... ein ander neu, rein Herz kriegen und Gott umb Christi willen, unsers Mittlers, uns fur ganz gerecht und heilig halten will und hält. Obwohl die Sunde im Heisch noch nicht gar weg oder tot ist, so will er sie doch nicht rechnen noch wissen."'2 Der forensische Charakter der Zurechnung wird hier also besonders betont. Aus solchem Glauben folgen dann auch notwendig gute Werke, die aber nicht verdienstlich sind.'3 Neues ist aus den Artikeln in bezug auf Luthers Rechtfertigungsverständnis nicht zu entnehmen; lediglich die Konsequenzen auch für die anderen Themenbereiche der Theologie scheinen hier noch einmal pointierter auf den articulus stantis zurückgeführt zu sein, so daß die .Wittenberger Linie' eindeutig das wenn man es so nennen will: - .Wächteramt der Rechtfertigungslehre' in den Vordergrund stellt. Wenn auch die Artikel nicht allgemein angenommen wurden (freilich auch weniger des Rechtfertigungsartikels wegen), so wurden sie doch maßgeblich auch für die folgenden Religionsverhandlungen in Hagenau, Worms und Regensburg. Mindestens die lutherisch Gesinnten hatten in ihnen einen Anhalt, unter welcher Maßgabe über den Topos der Rechtfertigung zu verhandeln war.

2.2.1.7 Die Leipziger

Einigungsformel

von 1539'

Dieser Unionsentwurf aus dem Jahre 1539, der aus der Feder Martin Bucers und Georg Witzeis stammt, stellt den Abschluß des Leipziger Religionsgespräches dar, das unmittelbarer Vorläufer der Kolloquien in Hagenau, Worms und Regensburg war. Anders als die bisher besprochenen Texte ist er ausdrücklich als

" Vgl. Luthers umfangreiche Ausführungen BSLK 436/16-449/4. 12 BSLK 460/8-12. 13 Vgl. BSLK 460/13-461/6. 1 Vgl. den Text der lateinischen Übersetzung Heldings in ARC VI, 1-17, speziell 2f; die deutsche Fassung bei Cardauns, Ludwig: Unions- und Reformbestrebungen: Zur Geschichte der kirchlichen Unions- und Reformbestrebungen von 1538 bis 1542, (BPHIR V) Rom 1910, S. 85-108; doit auch zur Geschichte und Wirkung S. 9-24, zur Deutung des Textes S. 10-14; dazu wiederum die kritische Note Stupperichs: Humanismus ..., a.a.O. S. 47, Anm. 3; der deutsche Text findet sich jetzt auch in BDS IX/1, S. 23-29 mit entsprechenden einführenden Bemerkungen.

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Konsenspapier verstanden, legt also nicht das Bekenntnis einer theologischen Richtung ab; dieses Dokument steht vielmehr bereits deutlich unter den laufenden und in Aussicht gestellten Einigungsbestrebungen, ist auf Ausgleich gerichtet und versucht dementsprechend, beiden Seiten gerecht zu werden. Jedoch läßt die Beteiligung Witzeis2 erwarten, daß das reformatorische Rechtfertigungsverständnis nicht zur Geltung kommen wird. Er hatte im August 1538 eine „Antwort auff Martin Luthers letzt bekennete artickel, unsre gantze religion und das concilio belangend" verfaßt3, in der es heißt: „Denn wedder S. Paulus noch Joannes noch Esaias haben jhe geschriben, das es allein der blos glaube thue."4 Paulus, so führt Witzel weiter aus, wende sich gegen die opera legis, nicht jedoch gegen die opera fidei, wenn er gute Werke aus dem Kontext der Rechtfertigung ausschließe.5 Der Leipziger Vergleichsartikel selbst ist dann in der Tat ein Zeugnis für diese Vermutung: Die Anordnung der Themen ist sicher nicht zufallig. Da das Kapitel zum Topos der Rechtfertigung gleich den Auftakt bildet, ist davon auszugehen, daß hier tatsächlich der eigentlich neuralgische Punkt der Kontroverse gesehen wurde. Das Kapitel zum Thema Rechtfertigung ist tituliert: „Quomodo homo ex originali damnatione ad dei gratiam, iustitiam et aeternam salutem redeat."« Schon das „redire" am Schluß des Satzes anstelle etwa eines „reducitur" weist darauf hin, daß die Verfasser des Textes ganz offensichtlich von einer aktiven Beteiligung des Menschen an seiner Rechtfertigung ausgehen. Der Text selbst stellt zunächst fest, daß der durch die Erbsünde verderbte Mensch außerstande ist, mittels natürlicher Kräfte irgend etwas Gutes zu tun, geschweige denn dem

2

Zum Einfluß des Erasmus auf ihn und über die Meinung Melanchthons zu ihm vgl. Stupperich: Humanismus ..., a.a.O. S. 14f; dazu: Trusen, Winfried: Um die Reform und Einheit der Kirche. Zum Leben und Werk Georg Witzeis, (KLK 14) Münster 1957, hier besonders S. 19f; femer vgl. Luttenberger: Glaubenseinheit ..., a.a.O. S. 200-206; über Witzel ist jüngst eine Studie erschienen von Henze, Barbara: Aus Liebe zur Kirche. Reform. Die Bemühungen Georg Witzeis (1501-1573) um die Kircheneinheit, (RGST 133) Münster 1995; dort finden sich auch Bemerkungen zur Entstehung der Leipziger Formel (S. 152-158), zur Bedeutung der Kirchenväter als Basis des Konsenstextes (S. 173-208) und zu Witzeis Rechtfertigungslehre (S. 110122). 3

Text in: Drei Schriften gegen Luthers Schmalkaldische Artikel von Cochläus, Witzel und Hoffmeister (1538 und 1539), (CCath 18) Münster 1932, S. 65-115. 4 Ebd. 67/23f. 5 Vgl. ebd. 67/25-28. 6 ARC VI, 2/21 f. 76

Zorne Gottes und der ewigen Verdammung zu entfliehen. In der Aufnahme der reformatorischen Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium bringt der Text zum Ausdruck, daß jenes den Menschen seine Sündhaftigkeit und Verdammnis erkennen läßt und zu Buße und Zerknirschung führt, während durch das Evangelium der Mensch „vero cognoscat et credat deum per gratiam suam et filii sui domini nostri Jesu Christi meritum omnia peccata ipsius dimittere et aeternam donare vitam velle ..."7. Es fallt kaum auf, daß diese Darstellung um Haaresbreite an der protestantischen Position vorbeiläuft. Zunächst werden ganz unmerklich poenitentia und contritio auf eine Weise auf die Seite des Gesetzes geschlagen8, die den Eindruck erwecken könnte, als seien diese ohne das Evangelium möglich; dies aber wäre genau eine Auffassung, die etwa der in CA XII getroffenen Aussage zuwiderliefe. Die CA stellt fest, daß zunächst einmal die contritio ein Teil der Buße ist; das Ganze der Buße, zu dem dann die fides unbedingt dazugehört, ist eben durch diesen zweiten Teil bereits fest in das Evangelium gebunden. Nur der kann wahre Buße tun, der sich durch Christus angenommen weiß und sich bewußt ist, daß die Sünden um Christi willen bereits vergeben sind.9 Buße ist also gerade nicht ein Mittel, Gott zu nötigen, dem reuigen Sünder zu vergeben, sondern diese Reue ist erst vollkommen möglich im Lichte der zuvor geschehenen Vergebung; das Gesetz ist nur bedingt in der Lage, den Menschen bußfertig zu machen, wenn Buße im Vollsinne auch die Erkenntnis des eigenen Unvermögens und den Glauben an die ungeschuldete Gnade meint. Und noch ein weiteres Element fällt auf: das „velle". Es heißt nicht: „dimisit" und „donavit", wiewohl diese perfektische Wendung dem evangelischen Ansatz weitaus angemessener gewesen wäre; sondern mit dem „velle" wird das NochNicht der Rechtfertigung ausgedrückt, was andererseits die Möglichkeit eröffnet, diesem nunmehr nach hinten verschobenen letztgültigen Gnadenakt zuzuwirken. Schließlich aber ist es von großer Bedeutung, daß durch den Begriff der „poenitentia" der ekklesiologische Zusammenhang eröffnet wird. Der ecclesia als dem Raum, in dem den Getauften und Gläubigen das „medicamentum" der Buße auferlegt wird10, kommt damit im Gesamtzusammenhang der Rechtfertigung die eigentlich entscheidende Rolle zu „per verbum et potestatem clavium"11. Überspitzt ließe sich von dort aus formulieren: Nicht sola fide geschieht iustificatio, sondern: sola ecclesia.

7

ARC VI, 2/29-31. Vgl. auch das entsprechende Kapitel ΠΙ des Vergleichsentwurfs ARC VI, 4/55/11, bes. 4/9-11. 9 Vgl. CR XXVI, 278f. 10 Vgl. ARC VI, 4/38. 11 ARC VI, 4/14. 8

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Ganz protestantisch klingt es dann dagegen, wenn im folgenden bei der Behandlung der Frage nach den guten Werken das Bild vom Baum und den guten Früchten aufgenommen wird in der Weise, daß aus einem guten Baum gute Früchte wachsen und nicht umgekehrt; dadurch soll verdeutlicht werden, daß gute Werke die Folge, nicht jedoch die Voraussetzung der Rechtfertigung darstellen. Umso verblüffender ist, wie nach dieser Feststellung dann mit einer Selbstverständlichkeit gesagt werden kann: bona opera, quae ex vera fide et caritate promanant, ad vitam aeternam consequendam necessaria sunt."12 Der Text bemüht sich im weiteren darum, deutlich zu machen, daß diese Werke Belohnung finden nicht aus eigener Würde, sondern aus Gnade und dem Verdienst Christi, zumal Werke derer, die im Fleisch leben, unvollkommen sein müssen und im Übermaß beschenkt werden. Und wenn zum Ende ausdrücklich betont wird, daß Gott „credentis personam iam caram acceptamque habet, unde et bona ipsius opera ei placent"'3, dann muß man sich doch fragen, warum bzw. in welcher Weise dann noch gute Werke „necessaria" zum ewigen Leben sind. Hier greift wiederum die schon in dem oben kritisch erwähnten „velle" zugrundeliegende Vorstellung: Wo eine endgültige Rechtfertigung noch aussteht, da können, ja müssen gute Werke als Bestätigung des neuen Lebens in Christo eine Rolle spielen; wo Rechtfertigung und Heiligung mindestens zeitlich getrennt werden, da sind einer bedenklichen Einbeziehung der guten Werke in das Rechtfertigungsgeschehen über den tertius usus legis hinaus Tür und Tor geöffnet. Hier ist zugleich die Tragfähigkeit des Vergleichsentwurfs an ihrem Ende angelangt: Die necessitas der guten Werke weist der iustitia operum eine Stellung im Rechtfertigungsgeschehen zu, die ihr nach evangelischem Verständnis nicht zukommt. Dazu ist auch das folgende Kapitel „De libero arbitrio hominis et possibilitate bene operandi"14 erhellend. Hier wird jedes gute Wollen an die Gnade und das Wirken des Heiligen Geistes zurückgebunden15 - jedoch bleibt das Wollen ein durch die Gnade lediglich angestoßener, selbständiger Akt des menschlichen Willens. Luther hatte spätestens in seiner Auseinandersetzung mit Erasmus erkannt, daß eine solche Sicht in sich nicht logisch ist: Entweder ist der Wille frei - dann könnte er ohne jede äußere Hilfe zwischen Gutem und Bösem wählen; oder er ist nicht frei - dann ist er nicht einmal durch die Hilfe der Gnade in der Lage, die corruptio naturae aus eigenen Kräften zu beheben. Im Leipziger Unionsentwurf tritt jedoch deutlich das Unbehagen, das wohl von der humanistischen Herkunft der Verfasser herrührt, an einer Vorstellung zutage, die

12

ARC VI, 2/43-3/2. ARC VI, 3/13f. 14 ARC VI, 3/15. 15 Vgl. etwa ARC VI, 3/21-23 oder ebd. 27f und 4/3f.

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den Willen des Menschen als „servum arbitrium" definiert - auch nach der Eingießung des Heiligen Geistes in der Taufe. In der Konsequenz bedeutet dies: Die Vergleichsformel muß letztlich daran scheitern, daß das radikale Nein zu einer iustitia operum im Kontext der Rechtfertigung nicht stringent durchgehalten wird. Aus dem Versuch, die Ethik in das Justifikationsgeschehen einzubinden, gleichzeitig aber die Sündenvergebung ohne menschliche Eigenleistung zu postulieren, ist ein undifferenziertes Zusammen von Glauben und Werken geworden, das die Schärfe und Ausschließlichkeit des reformatorischen „sola fide" (das hier ja auch auffälligerweise keine Verwendung findet) nolens volens untergräbt. 2.2.1.8

Zusammenfassung

Die verschiedenen Dokumente der zehn Jahre zwischen dem Augsburger Reichstag und den Religionsgesprächen zeigen, daß die Zeit vor allem auf protestantischer Seite nicht ungenutzt geblieben ist. Die Evangelischen traten immer mehr aus ihrem apologetischen Schattendasein heraus und formulierten in Auseinandersetzung mit den Altgläubigen klar und scharf ihre Position vor allem auf dem Gebiet der Rechtfertigungslehre. Hier kristallisierte sich heraus, daß an dieser Stelle ein Gespräch mit den Altgläubigen schwierig werden würde. Zu sehr hatten sich die beiden Seiten nun auch begrifflich voneinander entfernt - gab es 1530 noch die Möglichkeit, sich über das „sola gratia" zu einigen, so mußte dies jetzt scheitern, wenn die particula exclusiva im Sinne des „sola fide" mit allen seinen Konsequenzen verstanden wurde, also als jede Mitwirkung des Menschen an seinem Heil rigoros ausschließende Formel. Selbst dort, wo unter verschiedenen Gesichtspunkten - vielleicht aus einem humanistischen Ansatz heraus - nicht in dieser Deutlichkeit formuliert wurde und die Werke im Sinne des tertius usus legis positiv besprochen wurden, da war dennoch genauso diese Erkenntnis unaufgebbar. Unter diesen verhärteten Fronten hatte auch schon der Leipziger Unionsentwurf zu leiden, der es daraufhin nicht vermochte, solche Formeln zu finden, die dem Anliegen beider Seiten standhalten konnten. Das hieß nun für die folgenden Religionsgespräche zweierlei: Die katholische Seite hatte sich mit einer evangelischen Lehre auseinanderzusetzen, die nicht mehr nur eine Anfrage an die traditionelle Theologie darstellte, sondern formal und inhaltlich so ausgereift war, daß sie sich als ernstzunehmender Gegenentwurf - fußend auf dem Zeugnis der Heiligen Schrift - verstehen konnte. Zum anderen aber hatte sich für jede Vergleichsformel eine gewisse Grenze herausgebildet, die sich - einmal mehr, einmal weniger scharf - in den Haupttexten der Protestanten in dem Begriff des „sola fide" konzentrierte. Hinter diese Grenze konnte kein Protestant mehr zurück - und an dieser Grenze mußte sich jeder Altgläubige stoßen.

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Einleitende Bemerkung zu den folgenden Texten Die Texte der Jahre 1530 bis 1540, in denen die Rechtfertigimg thematisiert wurde, waren auf ganz eigene Art ein Spiegel ihrer Zeit: Die protestantischen legten Zeugnis ab für einen theologischen Klärungsprozeß und für das Bestreben, bekenntnishafte Aussagen zu strukturieren, ihnen ein terminologisches Gerüst zu verleihen, sie in der Heiligen Schrift zu verankern und gleichzeitig von der Tradition abzugrenzen. Der Haupttext der Altgläubigen hingegen, die Confutatio, ist nicht nach innen ausgerichtet, sondern steht ausschließlich in der kontroverstheologischen Spannung; daher versteht sich dieses Dokument auch nicht in erster Linie als Position, vielmehr als Negation, und er ist weniger bemüht, das eigene Verstehen zu legitimieren. Ihm geht es darum, die protestantische Position als wider-traditionell zu entlarven; daher wird die eigene Position auch in keiner Weise kritisch hinterfragt. Die Unionsformel von Leipzig ist zum Abschluß dieser zeitlichen Periode dann ein Text, der den Übergang zu einem neuen Zeitabschnitt charakterisiert. Schon unter dem Eindruck eines angestrebten Religionsvergleichs verfaßt, zeigt sich in ihm ein erster Versuch, die Ergebnisse des je eigenen Klärungsprozesses und der in weiten Teilen abwartenden, wenig friedlichen Auseinandersetzung miteinander in eine Form zu bringen. In gleicher Weise sind auch die Dokumente zu lesen, die im Kontext der von Karl V. initiierten Religionsgespräche verfaßt worden sind als Gutachten, Gesprächsprotokolle oder Diskussionspapiere. Sie sind ein Konglomerat aus den drei obengenannten Beobachtungen: Sie bemühen sich, die eigene Position zu klären, sie setzen sich mit der Gegenseite auseinander und sie versuchen, Möglichkeiten und Grenzen für gemeinsame theologische Aussagen aufzuzeigen. Sie sind damit wie jede historische Quelle an ihren geschichtlichen Kontext gebunden; das Besondere an ihnen ist jedoch, daß sie - was Form und Inhalt betrifft genauso singular sind wie eben jener Kontext selbst, die Religionsgespräche 1540/41. Sie ragen damit aus der Vielzahl der kontroverstheologischen Literatur des 16. Jahrhunderts in einmaliger Weise heraus. Daher werden im folgenden bewußt ausschließlich die Dokumente hinsichtlich ihres Rechtfertigungsverständnisses untersucht werden, die ausdrücklich für die Religionsgespräche verfaßt wurden. In ihnen - und nur in ihnen - wird die Eigenart der Kolloquien transparent und das, was bzgl. einer Religionsvergleichung möglich oder nicht möglich war. Die Texte werden in ihrer chronologischen Reihenfolge analysiert werden, um zugleich die immanente Genese der Gespräche verfolgen zu können. Die Auswahl der Texte erklärt sich aus drei Interessen heraus: 1. Der Zeitraum der Religionsgespräche sollte möglichst lückenlos dokumentiert werden.

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2. Die innere Entwicklung der Religionsgespräche sowie die wechselseitige Beeinflussung der Texte sollte verdeutlicht werden. 3. Die Auswahl stellt den Versuch dar, umfassend die gesamte Bandbreite der .ökumenik' der beiden Jahre darzustellen vom Extrem der völligen Ablehnung bis hin zum Extrem der scheinbaren völligen Eintracht.

2.2.2 Hagenau 2.2.2.1 Das Wittenberger Gutachten vom 18. Januar 1540' „Es ist nicht ohne"2. Mit diesem Satz beginnt die „Consultation, ob die Evangelischen Fürsten einen weltlichen Friede mit den Bischöffen annehmen, und was oder in wieferne man im Streit der Religion ihnen nachgeben könne oder nicht."3 Und nicht nur, daß dieser erste Satz den historischen Sachverhalt genau trifft in seiner Wichtigkeit einerseits und seiner Schwierigkeit andererseits; vielmehr ist er zugleich in seinem Ton ein Spiegel der Atmosphäre: Ein Gemisch aus erhobenem Zeigefinger, aus ironischem Spott, aus nachdenklichem Abwägen und einem Quentchen Resignation drängt sich dem Leser auf, und die weitere Lektüre des Textes wird diesen ersten Eindruck bestätigen. Doch werfen wir zunächst einen Blick auf seine Entstehungsgeschichte. Der Gesamttext. In einem an Luther, Justus Jonas, Bugenhagen, Caspar Kreuziger und Melanchthon gerichteten Schreiben vom 29. Dezember 1539 fordert Johann Friedrich von Sachsen seine Theologen auf: sich alsbald über unsre Augsburgische Confession zu setzen, und dieselbige mit Fleiß zu erwägen, sich auch also geschickt und verfaßt zu machen, wie berührte Confession und Apologia mit göttlicher, heiliger Schrift zu vertheidigen, deßgleichen ob auch, und wie ferne und weit in etlichen Artikeln und Puncten, zeitlichen und äußerlichen Sachen und Dinge halben, mit Gott und Gewissen sollt zu weichen seyn, und solchs alles in ein schriftlich Verzeichniß zu bringen ..."4. Vorausgegangen war diesem Brief die Einladung des Erzbischofs von Lund, der im Auftrag des Kaisers angezeigt hatte: „... daß wir und unsre Mitverwandten uns mittler Zeit mit allem dem, das zu Vergleichung und Hinlegung der strittigen Religion dienlich, gefaßt und bereit machen sollen, auf daß wir und sie zu der Zeit, wenn wir nach Kais.

1

Text bei CR ffl, 868-871. CR m, 927. 3 CR ΙΠ, 927. 4 CR ΠΙ, 869f; dem Brief legte der Kurfürst ein Exemplar des Leipziger Vergleichsentwurfs bei, vgl. CR ΠΙ, 870. 2

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Μ. Ankunft erfordert, und fernere Handlung vorgenommen werden, solcher Erforderung und Handlung nachzukommen geschickt seyn mögen ..."5. Es scheint, daß das nahe Bevorstehen eines Vergleichsgesprächs nach dem, was der Frankfurter Abschied in Aussicht gestellt hatte, nun doch etwas überraschend für die Evangelischen kam und ein gleichsam schnelles Vorgehen erforderte. Gleichwohl fehlt aber jedes Überstürzte, im Gegenteil: Man gewinnt den Eindruck, als ob eines auf jeden Fall vermieden werden sollte: genau nämlich ein gehetztes und darin nicht mehr sorgfältiges, überlegtes Handeln. Vielmehr soll alles daran gesetzt werden, die schon lange atmosphärisch spürbare Stärke und Einheit im protestantischen Lager nunmehr schriftlich zu fixieren. Dazu soll dann insbesondere noch der auf den 1. März 1540 angesetzte Bundestag zu Schmalkalden dienen®, auf dem die verschiedenen Einzelgutachten bzw. - wie es hier formuliert ist - „Bedenken" auf einen Nenner zu bringen sind: „Darüber sehen wir für gut an, daß ihr als Columnae und Säulen dieses Handels den vornehmsten Theologis forderlich geschrieben, als Wenceslao [Linck], Osiandro und Vito [Veit Dietrich] gegen Nürnberg, Johann Brentio, Urbano Regio, Jacobo [Probesta] zu Bremen, Doctori Aepino zu Hamburg, Ambßdorff, Bucero und seinen Gesellen zu Straßburg, dem Schneppio ... und etlichen unsers Vettern des Landgrafen vornehmlichen Theologen, daß sie euch ihre Bedenken wollten zu erkennen geben ..."7. Die spätestens seit 1536 in der Wittenberger Konkordie gewonnene innere Einheit nach außen zu demonstrieren, das war, so wird hier besonders deutlich spürbar, oberstes Gebot, schon deshalb, um den Altgläubigen keine Angriffsfläche zu bieten; denn so klar wie die Tatsache, daß die Gegenseite versuchen würde, hier Verwirrung zu stiften, um die eigene Unsicherheit zu übertünchen, so klar war genauso, daß eben diese Taktik nicht ohne jeden Erfolg sein würde. Dieses vier Jahre alte Dokument diente damals eher dazu, sich gegen Strömungen und Wildwucherungen abzugrenzen, die sich an die reformatorische Bewegung angehängt hatten, war aber weniger dazu geeignet, ein unerschütterliches Lehrgerüst zu bereiten, das ein für allemal im eigenen Lager jede Diskussion um immer noch strittige Fragen im Keime ersticken konnte. Viele Probleme waren längst noch nicht so eindeutig und unumstößlich entschieden, daß es nicht auch noch innerhalb der Protestanten Debatten darüber hätte geben können; so schien besonders die Frage bzgl. des Papstprimates 5

CR m, 869. Vgl. CR ΠΙ, 870; die Akten dieses Tages finden sich vor allem in Weimar lb und Weimar lc; der Bundesabschied liegt in Weimar ld, fol. 61-110. 7 CR ΠΙ, 870; vgl. auch Weimar 6, fol. 66-7 lv, wo zu diesen Bedenken aufgefordert wird, auch nachdem sich die Schmalkaldener bereits auf das Wittenberger Gutachten geeinigt haben. 6

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Zündstoff zu internen Diskussionen zu liefern." Vor allem aber gab es in der jüngeren Theologengeneration keine Gestalt mehr wie Luther, der wortgewaltig und voll Inbrunst eine klare Linie zu verfolgen imstande war; Melanchthon etwa war zu sehr Humanist und Bucer zu sehr mit dem Landgrafen von Hessen verbunden. Somit ist es kein Wunder, daß der sächsische Kurfürst besonderen Wert darauf legte, daß eben Luther bei den Verhandlungen in Wittenberg zugegen ist.' Und genauso wenig ist es verwunderlich, daß das, was überhaupt zur Debatte steht, sich auf die „zeitlichen und äußerlichen Dinge" beschränken soll. Im Antwortschreiben der Wittenberger wird in der Nachfolge der Schmalkaldener Artikel erläutert, wie dies zu verstehen ist: „Denn so viel wir verstehen, stehet die Frag darauf, nicht was zu thun sey von der Lehr und nöthigen Stücken, sondern allein von den äußerlichen und mittlen Dingen ... Dieweil dann von diesen zweien Stücken, nämlich von der Lehr und nöttigen äußerlichen Sachen, kein Unterrede vonnöthen, hoffen wir, das dritte Stück von Mitteldingen dürf nicht groß Streitens."10 Damit ist ganz klar, daß in der Lehre nicht mehr zu diskutieren ist. Die Dinge, die über das Seelenheil entscheiden, die Säulen, auf denen das Christentum steht, sind entschieden und in keiner Weise mehr zu hinterfragen, wenn man nicht in „Flickwerk ... oder Sophisterei"" enden will. Es wurde bereits in der Einleitung festgehalten - und ein Blick auf die Entstehungsgeschichte unterstützt diese stilistische Beobachtung von ihrem historischen Sachverhalt her -, daß die Unterzeichner des Wittenberger Gutachtens kein Geheimnis daraus machen, unter welchen Vorzeichen sie diesen Text verstanden haben wollen: Zum einen sind sie sich des Ernstes und der Wichtigkeit des geplanten Gespräches wohl bewußt und bekunden ihre Bereitschaft zu solcher Unterredung. Dann aber warnen sie gleichzeitig davor, in eine von blindem Optimismus getragene Euphorie zu verfallen, die nur allzu schnell sich auf Wege einzulassen geneigt ist, die keine der beiden beteiligten Religionsparteien recht befriedigen können und der theologischen Wahrheit nicht entsprächen. Und schließlich und vor allem machen sie deutlich, für sie könne eine Einigung nur so aussehen, daß

' Vgl. etwa Weimar 3a, fol. 143 vom Wormser Tag: „... vermercken got Lob, das mann allenthalben uff die confession und Apologia dess Babsts primat belanngend ... gantz einig ..."; entsprechend deutlich ist auch die Bezeichnung des Papstes als Antichrist, vgl. CR ΠΙ, 940. ' Vgl. CR m, 870. 10 CR m , 920f. " CR ΙΠ, 920, das Stichwort des Flickwerks findet sich noch einmal in gleicher Schärfe ebd. 929. 83

„der Kaiser und die Bischöffe ihre Abgötterei und Irrthum abthun werden, und reine Lehr und rechte Gottesdienst annehmen."12 Freilich haben sie diesbezüglich „nicht große Hoffnung"'3; und man muß sich schon sehr anstrengen, das starke.Selbstbewußtsein nicht herauszuhören, wenn sie in dem Zusammenhang im nächsten Atemzug auf den Propheten Daniel verweisen, wo Streit und Abgötterei als apokalyptische Zeichen gedeutet werden, die darauf hinweisen, daß also „solche Spaltung Gott wohlgefalle"14 und sie „wissen, auf welcher Seiten wir uns sollen finden lassen"15. Die Frage, wer den rechten Glauben vertritt und wer mit Christus ist", ist zu diesem Zeitpunkt offenbar für die Unterzeichner des Gutachtens keine Frage mehr. Bei aller berechtigten Diskussion über das Problem, ab wann man von .Konfession', von einer evangelischen Kirche reden kann in dem Sinne, daß diese eine selbständige und sich dieser Selbständigkeit und Abgegrenztheit bewußte Größe ist", wird man doch an Äußerungen wie diesen festhalten müssen: Es gibt zu diesem Zeitpunkt mindestens die Tendenz, daß sich der Protestantismus bewußt durch seine Lehraussagen, hinter die es für ihn kein Zurück mehr gibt, im wahrsten Sinne des Wortes: definiert hat. Auch der Aufbau des Wittenberger Gutachtens ist noch einmal in besonderer Weise ein Zeugnis dafür. In drei Teilen sollen die zur Debatte stehenden Fragen abgehandelt werden: Der erste befaßt sich mit der Lehre", in dem u.a. die Rechtfertigungslehre thematisiert wird; im zweiten Teil wird von den „äußerlichen nöthigen Stücken" geredet", wozu der Gebrauch der Sakramente und die Zeremonien gehören; der dritte Abschnitt schließlich bespricht die sogenannten Adiaphora20, wozu die Frage von der Papstgewalt und den Klöstern zählen. Schon die Gewichtung ist mehr als auffallig, denn eigentlich sollte man erwarten, daß den breitesten Raum die Lehrartikel einnehmen; hier jedoch ist es genau umgekehrt. Gut drei Viertel des Textes befassen sich mit Fragen, die auf den ersten Blick nicht zum ,Status confessionis' gehören. Zwar war auch in der

12 13 14 15 lf

CR m , 928. CR ffl, 928. CR ΙΠ, 928. CR m , 928. Vgl. CR ΓΠ, 928.

17

Einen Überblick über die Konfessionalisierungsdebatte findet man bei Schmidt, Heinrich Richard: Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert, (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 12) München 1992. Hier ist die für die Debatte symptomatische Beschränkung auf rechtliche und strukturelle Fragestellungen gut zu beobachten: Auf theologische .Grenzziehungen' geht die Studie so gut wie nicht ein. 18

CR ΙΠ, 929-932. " CR ffl, 932-938. 20 CR ffl, 938-945. 84

Confessio Augustana das Gewicht auf die Artikel der Mißbräuche gelegt; hier jedoch gesellt sich noch ein zweites Moment hinzu, das sich in folgender Äußerung widerspiegelt: „Darauf ist unser Bedenken, daß wir uns nicht einlassen, neue, dunkle und ungewisse Artikel oder Flickwerk zu machen, sondern ihnen fürhalten, die Summa unsrer Lehr sey gefaßt in der Confessio und Apologia, von derselben Meinung gedenken wir nicht zu weichen."21 Hier geht es nur noch um ein Zustimmen oder ein Ablehnen, allenfalls um ein Erläutern und ein Erklären22, aber im Kern würde schon jeder Kompromiß einen Abschied vom rechten Verstand des Evangeliums, eo ipso ein Contra-Christum bedeuten. Und so formuliert der Text weiter in unmißverständlicher Schärfe: „Wollen sie es annehmen, ist gut; wollen sie nicht, so müssen wir es Gott befehlen. Dieß ist ja nichts unbilligs."23 Und wiederum schwingt auch eine gewisse Ironie oder vielleicht ein resignatives Staunen über so viel Unbelehrsamkeit mit, wenn dann aufgezählt wird, über welche Artikel der Lehre sie „grübeln wollen"24. Dazu gehört neben der Ekklesiologie25, der Heiligenanrufung24, den Klostergelübden27 und der Fegefeuerlehre28 vor allem die Lehre von Glaube und Rechtfertigung; wie die Argumentation innerhalb der anderen Themen geführt wird und die Tatsache, daß diese anderen Themen alle als Unterpunkte zu dem Kern des Streites, dem „sola fide", erscheinen, zeugen davon, daß das richtige Verständnis der Rechtfertigung auch das aller anderen theologischen Fragestellungen begründet. Fast kann man den einen oder anderen der Unterzeichner vor sich sehen, wie er sich ausmalt, in welcher Weise der Rechtfertigunsgartikel „gedehnt" wird2', wenn es dann heißt: „Sie lassen die hohe und heilsame Lehr vom Glauben nicht unverblendt, werden das sola fide nicht leiden wollen, darum werden sie aber etwas daran flicken wollen ,.."30, und der Reihe nach aufgezählt wird, was die Gegenseite wohl hinsichtlich des Themas vorbringen wird.

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CR ffl, 929. Vgl. CR ED, 929. 23 CR m, 930. 24 CR ffl, 930. 25 CR ffl, 930f. 26 CR ΙΠ, 931. 27 CR ffl, 932. 21 CR ffl, 932. 29 Vgl. CR ffl, 929. 30 CR ffl, 930. 22

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Recht betrachtet ist das ein geschickter Schachzug der Protestanten, den sich aber nur der Spieler leisten kann, der ohnehin in der günstigeren Ausgangsposition ist. Es wird nicht mehr expressis verbis positiv dargelegt, was die Gutachter unter Rechtfertigung verstehen, da wird nichts breit und ausführlich erläutert und debattiert; sondern kurz und bündig werden die Hauptthesen der anderen Partei vorweggenommen, dadurch als leicht durchschaubar entlarvt und als altbekannt abgetan. Ein Gegner, der nahezu starrsinnig auf längst Überkommenem beharrt, karikiert sich nach Ansicht der Unterzeichner selbst. So sind die Altgläubigen von vornherein in der Defensive, müssen sich nun ihrerseits verteidigen und auf die Suche nach neuen Argumenten gehen, wenn sie wirklich mit den Protestanten diskutieren wollen. Natürlich aber kann man an der Auflistung aller Punkte, die der Verfälschung der Lehre dienen, sehr wohl auch ablesen, was denn dagegen unter Glaube und Rechtfertigung verstanden werden muß; in jeder Negation steckt auch eine Position, und der Unterschied der beiden Wege liegt einzig darin, daß via positionis die Sache auf den Punkt gebracht, via negationis eher eingekreist wird. Im Wittenberger Gutachten begegnet freilich auch die erste via - allerdings auf das Allernotwendigste beschränkt, so daß es kaum ins Auge fallt -, und zwar in der Nennung des sola fide, das sich inzwischen als Schlagwort der protestantischen Rechtfertigungsposition etabliert hat. Was heißt nun konkret dieses sola fide, und womit würde es verfälscht? Das Rechtfertigungsverständnis. „Sie lassen die hohe und heilsame Lehr vom Glauben nicht unverblendt, werden das sola fide nicht leiden wollen, darum werden sie aber etwas daran flicken wollen ..."3I. Sehr optimistisch klingen diese Zeilen wahrlich nicht. Die Seite der Altgläubigen wird - so ist die Aussage - sich vermutlich auf das einlassen können, was die Protestanten zum Thema Glaube und Rechtfertigung zu sagen haben, an dem Wort „sola" aber werden sie sich stoßen. Genau in diesem sola aber kulminiert für die Gutachter das, was die evangelische Lehre von der traditionellen unterscheidet. „Sola fide" heißt: allein, ausschließlich aus Glauben; und jede Erweiterung dieses „sola" bedeutet eine Korrektur dieses Ausschließlichkeitsanspruches, ein „Glaube und ..." oder ein in diese oder jene Richtung zu verstehender, also um ein Attribut erweiterter Glaube. Schon in einem Gutachten vom 1. Juli 153932 zu dem von Pflug und Witzel verfaßten Vergleichstext heißt es: „Denn wiewohl sie setzen, man habe Vergebung durch den Glauben an Christum, so setzen sie doch an keinem Ort dazu diese exclusiva: und nicht um der Werke willen, oder durch Verdienst der Werke ..."".

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CR ΙΠ, 930. Vgl. CR ΙΠ, 728-738. 31 Ebd. 736; vgl. dazu Stupperich: Humanismus ..., a.a.O. S. 40-42. 32

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In anschaulicher Weise gibt das Gutachten selbst drei „Flickstücke" wieder, mit denen die Gegenseite das „sola" in den zukünftigen Verhandlungen wohl wird relativieren wollen: Die erste Korrektur an der particula exclusiva wird - so befürchten die Gutachter - durch den Zusatz der guten Werke versucht werden: wir sind gerecht durch Glauben und Werke"54. Dieses in dieser zugespitzten Form eher spätscholastische Verständnis, nach dem nur der Glaube rechtfertigt, der in Werken wirksam ist und tut, was in ihm ist, wird wohl gleichsam das erste Geschütz sein, das aufgefahren wird. Es ist freilich auch das liebste, denn hier - so ist anzunehmen - ist der wunde Punkt zu suchen bei einem Rechtfertigungsverständnis, das scheinbar ein Christentum postuliert, welches in einer duldsamen Innerlichkeit den Weg zum gnädigen Gott beschreitet, das von tätiger Nächstenliebe und konkreten Handlungsanweisungen, wie sie etwa in den Zehn Geboten oder der Bergpredigt begegnen, nichts wissen will, ja, nichts wissen darf, wenn denn Werke als Heilsweg ausgeschlossen werden müssen. Daß den Protestanten nichts ferner lag als eine Bestätigung dieses häufigsten Vorwurfs, ist hinreichend bekannt. Wie gesehen, nahm etwa in der Apologie der Confessio Augustana die Erklärung dessen, was dagegen die wahre Bedeutimg der guten Werke ist, breiten Raum ein und bestimmte fortan die Diskussion um das Verständnis der iustificatio sine operibus, wie es in der CA formuliert ist. So intensiv aber das Bemühen war (im Zuge von Luthers Freiheitsschrift etwa), deutlich zu machen, daß gute Werke geschehen, weil Gott sein Ja geprochen hat, und nicht, damit er es spricht, so vergeblich war es auch.35 Für das traditionelle Verständnis war es unvorstellbar, die guten Werke loszulösen vom Glauben. Ein Glaube, der sich nicht in guten Werken äußert, ist schlechterdings kein Glaube; also kann auch nur ein solcher Glaube rechtfertigen, der gute Werke hervorbringt; also rechtfertigen Glaube und gute Werke und nicht der Glaube allein. Als zusätzliches Argument dienten dabei die ethischen Forderungen des Alten und Neuen Testamentes, die eindeutig darauf hinwiesen, daß vom Menschen gute Werke gefordert werden, damit er ewige Seligkeit erlange. Von hier aus konnte den Protestanten offenbar leicht vorgeworfen werden, sie würden die Aussagen der Schrift in falscher Weise interpretieren und damit weiterhin die christliche Alltagspraxis in Frage stellen, ja gefährden. Oder man konnte die Evangelischen einer sophistischen Wortspielerei bezichtigen: Daß die Ursache der Rechtfertigung die Gnade und der Glaube sind, ist keine Neuerung der Reformation, warum also beharrten sie auf dem „sola"?

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CR m , 930. Es sei erlaubt, am Rande zu bemerken: bis heute! Und man kann sich trefflich darüber streiten, ob hier wirklich ein mindestens kritischer Punkt innerhalb des lutherischen Argumentationsgebäudes liegt - oder ob er im Gegenteil so klug ist, daß man ihn kaum verständlich machen konnte und kann. 35

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In der Tat, dieser Vorwurf scheint wirklich ein starkes Geschütz zu sein, denn es hat ganz den Anschein, als sei an dieser Stelle die Schwäche der evangelischen Rechtfertigungsposition gelegen. Um so auffallender ist, daß sich das Gutachten daraufhin nicht in eine apologetische Situation gedrängt sieht. Die Gutachter sehen sich dazu gezwungen, nunmehr ihre Ansicht über das Verhältnis von fides und bona opera darzulegen und gegen die Angriffe der Altgläubigen zu verteidigen. Jedoch paßt es zum Stil und zum Ton, in dem das gesamte Gutachten gehalten ist. Von daher scheint es in den Augen der Gutachter müßig zu sein, ständig von neuem die Sache erklären zu müssen, die in CA und Apologie bereits unmißverständlich transparent gemacht wurde, und sich dafür anhören zu müssen, daß man Gefallen an solchem „Wortgezänk"3« habe; seit nunmehr zehn Jahren sehen sich die Protestanten immer wieder genötigt, deutlich zu machen, daß der scheinbar doch so treffsichere Vorwurf der Gegenseite an der Sache vorbei und damit ins Leere geht; wie soll man schärfer formulieren, daß die Altgläubigen einen sinnlosen Kampf aufgenommen haben, als dies Luther bereits 1520 in „De libertate Christiana" getan hat, als er ihnen sein „Non sie, impii, non sie."37 entgegnete? Anstatt auch nur ein Gegenargument zu nennen, wendet sich das Gutachten einer weiteren, scheinbar raffinierten Variante gegen das „sola fide" zu: wir sind gerecht durch die Gnade; und verstehen [unter] Gnade die Liebe durch die Gnade ..."3". Mit diesem Argument der Gegenseite scheint das Neue der evangelischen Rechtfertigungsposition in sich zusammenfallen zu müssen. Meinen nicht selbstverständlich auch die Katholiken nichts anderes, als daß Rechtfertigung allein aus dem Gnadenhandeln Gottes geschieht und der Mensch aus eigenen Kräften nichts für sein Seelenheil tun kann? Die thomistische Tradition jedenfalls hat nie etwas anderes behauptet, als daß für die Rückkehr des Menschen zu Gott, für seine Hinwendung hin zu ihm und weg von der Sünde allein die Gnade Gottes zuständig ist. Ist also nicht tatsächlich dieses Beharren auf dem Wörtchen „sola" eitles Theologengezänk, selbstverliebte Wortspielerei? Das Wittenberger Gutachten trifft gegen dieses vermeintlich schwerwiegende Argument den zentralen Differenzpunkt. „Gnade" meint nämlich im herkömmlichen Verständnis eben nicht ein „allein aus Glauben", sondern einen „verbesserten", einen „wirksamen", und zwar: einen in der Liebe wirksamen Glauben. Die bekannte thomistische Formel der „Ildes caritate formata" drückt aus, daß nur der Glaube Kraft im Rechtfertigungsgeschehen hat, der in der durch Gnade geschenkten Liebe wirkt; bei Thomas wird die fides erst durch das Eingießen

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Vgl. CR ΙΠ, 931. WA 7, 59/28. 3 " CR m, 930. 37

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der Caritas zur fides formata und damit zur rechtfertigenden fides." Und in genau diesem Moment ist es nicht mehr das göttliche Handeln allein und der Glaube, der (um das treffende Bild aufzunehmen) „Baum", sondern sind es die „Früchte", die Werke also, die letztlich erst das Heil und die Vergebung der Sünden bringen. Dabei spielt es dann keine Rolle mehr, daß natürlich auch diese Werke im engsten Sinne von Gott gewirkt sind, da sie Gaben seiner Gnade sind; denn in dem Augenblick, da die Werke nicht mehr nur Folge sind der bereits geschehenen Rechtfertigung, sondern im Gegenteil ihre Voraussetzung ob nun als solche Gottes Werk oder Menschenwerk -, geschieht im eigentlichen Sinne keine Rechtfertigung des Sünders mehr, sondern eine Rechtfertigung des Gerechten. Und dann ist es auch im buchstäblichen Sinne keine Rechtfertigung' mehr, keine iusti,ficatio', sondern nur noch eine Anerkennung einer Tatsache, die der Mensch selbst geschaffen hat.40 In diese „Selbstrechtfertigung" des Menschen fügt sich dann der dritte Punkt wie von selbst ein: „Item vom Merito werden sie zanken, werdens auch glossiren, es sey nicht Verdienst aus eigner Würdigkeit, sondern dieweil es dazu angenommen und verordnet ..."4I. Mit dieser Unterscheidung zwischen meritum de condigno und meritum de congruo wurde schon seit Alexander von Haies versucht, die Verdienstlehre theologisch zu rezipieren gegen all diejenigen Kritiker, die gegen den Verdienstgedanken ankämpften mit dem Argument, daß Gott nicht in dem Sinne berechenbar ist, daß man für gute Werke ein entsprechendes Maß an Seligkeit zugesprochen bekommt. Dazu wurde zwischen Verdiensten unterschieden, die ein Äquivalent zu einem Werk darstellen, einen genau entsprechenden Lohn also (de congruo), und solchen, die sozusagen im Übermaß ein Gnadengeschenk sind und zu dem sie veranlassenden Werk in keiner Relation stehen (de condigno)42. Das Gutachten wendet sich mit der Aufnahme der beiden Begriffe 39

Vgl. STh 2 Π qu 3, qu 4 u.ö.; auch qu 7 a2: „Et ideo primum principium purificationis cordis est fides: quae si perficiatur per caritatem formatam, perfectam purificationem causat." 40 Vgl. u.a. Grane, Leif: Contra Gabrielem. Luthers Auseinandersetzung mit Gabriel Biel in der Disputatio Contra Scholasticam Theologiam 1517, (AThD IV) Gyldendal 1962, S. 346. 41 CR ΠΙ, 930. 42 Vgl. zu dieser Terminologie Thomas von Aquin (STh 1 II qu 114 a6): „Habet rationem meriti, secundum quod procedit ex libera arbitrio, inquantam voluntarie aliquid facimus. Et ex hac parte est meritum congrui. ... Ex quo patet quod merito condigni nullus potest mereri alten primam gratiam nisi solus Christus. ... Sed merito congrui potest aliquis alteri mereri." und (STh 1 Π qu 114 a7): „Respondeo dicendum quod nullus potest sibi mereri reparationem post lapsum futurum, neque merito condigni [welches „dependet ex motione divinae gratiae"], neque merito congrui." 89

„angenommen" und „verordnet" eindeutig gegen die bei Gabriel Biel ausgebildete Lehre43, daß es Gott de potentia ordinata möglich ist, demjenigen das ewige Leben zu schenken, der aufgrund der Eingießung der übernatürlichen Gnadenform ein meritum de condigno wirkt. Dies geschieht aus einem Zusammenwirken der acceptatio divina und des liberum arbitrium, das mit der Gnade zu einem meritum de condigno wirkte. Gegen diese Auffassung hat sich Luther schon früh gewendet44, da es in seiner Christologie und seiner dort begründeten soteriologischen Vorherrschaft, ja Alleinwirksamkeit der Gnade für ein liberum arbitrium keinen Platz gab. Christus bzw. sein Opfertod am Kreuz ist nicht nur das initium meritorum, sondern als iustitia aliena zugleich auch einziges meritum. Das Gutachten der Wittenberger Theologen begnügt sich mit diesen drei Punkten, von denen es fürchtet, daß die Gegenseite sie in die Diskussion bringen wird. Alle drei sind nach Ansicht der Unterzeichner Verzerrungen der christologisch rückzubindenden Rechtfertigungslehre. Die positive, nicht ausgesprochene Kemaussage des Textes ließe sich folgendermaßen zusammenfassen: Keine andere Formel als das „sola fide" ist in der Lage, die Rechtfertigung des Sünders in angemessener Weise zum Ausdruck zu bringen; jeder Versuch, die in dieser Formel verborgene Radikalität zu relativieren, relativiert zugleich auch die Heilstat Gottes im Kreuz Christi. Es liegt auf der Hand, daß die particula exclusiva sich auf andere Lehrstücke (etwa die Heiligenanrufung und die Klostergelübde45) auswirkt. Somit zeigt das Wittenberger Gutachten exemplarisch, daß das Wort vom „articulus stantis" nicht das Ergebnis einer romantisierenden, verklärenden Sicht ist, sondern in der Tat dem Sachverhalt entspricht. Die Bedeutung des Wittenberger Gutachtens im Vergleich zum Text der hessischen Theologen. Nicht nur der sächsische Kurfürst Johann Friedrich hatte seine Theologen angesichts des bevorstehenden Religionsgesprächs um ein Gutachten ersucht; auch der Landgraf Philipp von Hessen - im Blick auf seine durch die Doppelehe prekäre Lage noch weit mehr an einem Religionsvergleich interessiert46 - bat seine Theologen um eine Stellungnahme. Dieser auf dem Tag von

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Vgl. im folgenden zur Mühlen: Nos extra nos ..., a.a.O. S. 129-140; zur Akzeptations- und Verdienstlehre vgl. Dettloff, Werner: Die Entwicklung der Akzeptationsund Verdienstlehre von Duns Scotus bis Luther. Mit besonderer Berücksichtigung der Franziskanertheologen, (BGPhMA XL) Münster 1963, bes. S. 353-361. 44 Vgl. Grane: Contra Gabrielem ..., a.a.O. S. 299-302 schon für die erste Psalmenvorlesung Luthers 1513-1515. 45 Wie dies etwa auch in den Schmalkaldischen Artikeln anzutreffen war. 46 Vgl. zur Rolle des Landgrafen innerhalb der Religionsgespräche und insbesondere zu seiner Haltung zum Regensburger Buch Müller, Gerhard: Landgraf Philipp von Hessen und das Regensburger Buch, in: Bucer und seine Zeit. Forschungsbeiträge und

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Ziegenhain entstandene und u.a. von Adam Fulda, Antonius Corvinus und Johannes Pistorius unterzeichnete Text vom 3. Februar 1540 nimmt zum Thema der Rechtfertigung nur ganz am Rande, buchstäblich in einem Nebensatz Stellung. Daher soll dem hessischen Gutachten hier auch kein eigener Abschnitt gewidmet werden; jedoch muß angesichts der Tatsache, daß sich das Wittenberger Gutachten auf dem Schmalkaldischen Bundestag im März 1540 als „offizielles Interpretationsdokument"47 zur CA gegen den hessischen Text durchgesetzt hatte, wenigstens ein Seitenblick darauf geworfen werden. Im Vergleich zum Wittenberger Gutachten fällt zunächst einmal der milde Ton auf. Wiewohl er insbesondere aus der persönlichen Lage des Landgrafen heraus verständlich ist, ist doch der Optimismus hinsichtlich einer Einigung bemerkenswert. Charakteristisch hierfür ist etwa die Formulierung: „Dweyll aber bey unsern Widersachern, sonderlich denen, so nicht aus bosheit, sondern Unwissenheit mit uns uneins sein, solche warheit noch nicht offenbar, und nicht so clar, als got hab lob, bey uns ist, so muste man an Inen aus Christlicher liebe und zu erhaltung frieds, etwas In diesem fall, aber doch allein ein Zeitlang dulden, ,.."48. Im Sinne eines „quid pro quo" könne eine Vergleichung stattfinden, wenn beide Seiten an bestimmten Punkten nachgäben. Dieser „Austausch" zeigt sich interessanterweise just im Kontext der Rechtfertigungslehre. Diese wird ebenso wie im Wittenberger Gutachten nicht explizit dargelegt und nicht einmal - wie dort geschehen - via negationis behandelt. Im Reigen der ansonsten ausschließlich ekklesiologischen Fragestellungen (zur Messe, zu den äußerlichen Zeremonien, zur bischöflichen Gewalt, zur päpstlichen Autorität und zu den geistlichen Gütern) nimmt das Thema der iustificatio hominis einen verschwindend geringen Raum ein. Anders als im Wittenberger Gutachten spürt man hier deutlich, daß diese Frage nicht der zentrale Ausgangspunkt der Überlegung, sondern den praktisch orientierten Themen untergeordnet ist. Bzgl. des angesprochenen „quid pro quo" heißt es nun: „... Wan wir bey unser widerpart das erhalten können, das sie uns causam Justificationis rein lassen, und des glaubens gerechtigkeit, so nicht aus gesetzen, werken, eigenen Verdiensten, sonder allein aus der gnad Christi kompt, mit uns bekennen und leren wollen, so seind wir Inen aus Christlicher lieb, als Irrenden und schwachen In diesem fall zu weichen unbeschwert ... das ist etliche breuche und Ceremonien wolten wir gern mit inen

Bibliographie, hg. von Marijn de Kroon und Friedhelm Krüger, (VIEG 80) Wiesbaden 1976, S. 101-116. 47 Maurer: Confessio ..., a.a.O. S. 34. 48 Neudecker, Gotthold (Hg.): Merkwürdige Aktenstücke aus dem Zeitalter der Reformation, Erste Abtheilung Nürnberg 1838, S. 184. 91

... umb frids willen brauchen und halten, nicht das es notige cultus In der kirchen sein sollen oder müssen, sonder umb guter Ordnung willen ,.."4'. Getreu ihrer Eingangserklärung, an CA und Apologie festhalten zu wollen50, bezeichnen die Gutachter die Rechtfertigung positiv als sola gratia Christi und negativ als sine legibus, operibus, mentis. Wenn diese Voraussetzung von den Altgläubigen geteilt würde, wären sie bereit, sich in anderen Fragen anzupassen - eine nahezu ideale Einstellung für ein Religionsgespräch. Das Gutachten selbst faßt zusammen: „Summa, wo die brauche und Ceremonien als ein unnötig und frey ding zu erhaltung fridens und einigkeit den schwachen zu dienst von uns gefordert werden, da können und wollen wir gerne weichen, und uns Inen gleichförmig machen, Wo sie aber, als unnötige cultus ad salutem von uns gefordert werden, da wollen wir gar nicht weichen .,."5'. Hier wird unmißverständlich die Aussage der CA unterstrichen, kein Werk, keine natürliche Kraft des Menschen und kein äußerlicher Kult hätten eine konstituierende Rolle im Rechtfertigungsgeschen; in der iustificatio sei allein die Gnade Christi nötig und von Bedeutung. Andererseits aber ringt sich das Gutachten nicht zu der Radikalität des „sola fide" durch wie der Text der Wittenberger. Die particula exclusiva fehlt nicht nur formal. Auch inhaltlich wird sie dort aufgeweicht, wo zugunsten des sich möglicherweise abzeichnenden Kompromisses zugleich die Wahrheit über Gesetz und Evangelium relativiert wird: „Es ist war, das der glaub kein werk leiden kann, Aber nicht destoweniger ist auch das war, das die lieb In rebus indifferentibus weichen und sich andern In solchen Ceremonien gleichförmig machen kann ..."". So wird in diesem Passus des hessischen Gutachtens ein Kompromiß eingegangen, der den Wittenbergem unmöglich gewesen ist, wie ihr Text beweist. Zwar wollen auch die Hessen die Lehre von der Rechtfertigung allein aus Gnaden unangetastet lassen; gerade aber mit dem Terminus der Gnade und dem nicht näher definierten Gebrauch des Gesetzes eröffnen sie der Gegenseite Möglichkeiten, sich auf eine Einigung einzulassen, die allerdings dem, was mit dem „sola fide" ausgedrückt werden sollte, die Spitze abbricht. Noch deutlicher wird dies in den folgenden Passagen aus der Instruktion des Landgrafen Philipp für das Wormser Religionsgespräch: „Darumb wils unwidersprechlich den verstaut haben, das der glaub uns vor got rechtfertige, doch ein solcher glaube, so es der mentsch an der zeit und stunde hette zu leben, das er gute werk tun wurde, und solche werk, die got gebotte und aus der lieb gottes herfliessen, auch dem negsten zu gut kommen. Ein solcher glaube, der tetig ist durch die lieb, machet vor got recht

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Ebd. S. 185f. Vgl. ebd. S. 179f. 51 Ebd. S. 187. 52 Ebd. S. 186. 50

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fromme und selig und wirdet also dem mentschen die Seligkeit geben umb des sterbens und leidens Jesu Christi willen, so er das annimpt durch den glauben. ... darum können die reden wol uf beiden seiten gelitten werden: der glaub macht selig, widerumb der glaube und die werk, die von got gebotten sein, machen selig ..."53. Dieses undurchsichtige Zusammen aus Glauben und guten Werken, wie es hier sichtbar wird, hatte das Wittenberger Gutachten abgelehnt. Wo der Wittenberger Text gute Werke unmißverständlich aus dem Rechtfertigungsprozeß ausschließt, finden sie in der Instruktion des Landgrafen in der Formel „Ein solcher glaube, der tetig ist durch die lieb" wieder einen Eingang. Offensichtlich liegt an dieser Stelle ein Einfluß Bucers vor, der theologischer Berater des Landgrafen war und dessen eigene, nicht unproblematische Auffassung von der Rolle der guten Werke innerhalb der iustificatio später besprochen werden soll; die gerade genannte Formel findet jedenfalls ebenfalls im Regensburger Buch Verwendung. Abschließend läßt sich festhalten: Das Gutachten der hessischen Theologen ist im Blick auf die Rechtfertigungslehre von einer großen Kompromißbereitschaft getragen. Im Vordergrund der Betrachtung stehen ekklesiologische Fragen; die Rechtfertigungslehre ist diesen Fragen untergeordnet. Daher versteht es der Text auch nicht, die spezifische Differenz zur Position der Altgläubigen zu formulieren. Zwar halten auch die Hessen an der Rechtfertigung allein aus Gnaden fest; diese Formel jedoch läßt, wie die landgräfliche Instruktion beweist, Raum für eine Einbeziehung der guten Werke in das Rechtfertigungsgeschehen, die über ihre Rolle als bloße „Folge" und „Früchte" des Glaubens hinausgehen. Damit entspricht das, was sich im hessischen Gutachten und später in der Instruktion niederschlägt, der zweiten Verzerrung, die das Wittenberger Gutachten im Blick hatte, als es den in seinen Augen falschen Gnadenbegriff der Altgläubigen attackierte. Zusammenfassung. Aufgefordert von ihrem Kurfürsten, sich angesichts des bevorstehenden Religionsgesprächs über die Frage zu verständigen, in welchen Punkten und wie mit der Gegenseite zu diskutieren ist, ja, ob vielleicht hier und dort eine Annäherung möglich wäre, verfaßten die Wittenberger Theologen ein Gutachten, das eines ganz und gar nicht tut: sich an auch nur einer Stelle zu einem Kompromiß hinreißen zu lassen um der Erreichung eines äußerlichen Friedens willen. Im Gegenteil entlarvt der Text mit bissiger Schärfe die Position der Gegner im vorhinein und gibt die alten Argumente der Lächerlichkeit preis; dieses wird dadurch noch verstärkt, daß man es nicht einmal mehr für nötig hält, auf diese Argumente einzugehen.

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Urkundliche Quellen zur hessischen Reformationsgeschichte. Zweiter Band 15251547, bearbeitet von Günther Franz, (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck 11) Marburg 1954. 93

Das Gutachten ist im Blick auf den bevorstehenden Dialog nicht sehr zuversichtlich, daß es gelingen könnte, sich mit den Altgläubigen in der Hauptsache zu verständigen. Da es den Evangelischen im Punkt der iustificatio um Christi willen, wie er sich in der Schrift bezeugt, nicht möglich ist zu weichen, kann hier wohl keine Einigung erzielt werden, jedenfalls nicht, ohne daß das „sola" durch irgendeinen Zusatz erweitert oder relativiert wird. „Sola" ist und bleibt ein „allein" im ausschließlichen Sinne. Diese particula exclusiva ist es, die allein die Rechtfertigung des Sünders aus dem bloßen Gnadenhandeln Gottes durch Christus begrifflich, kategorial zu fassen imstande ist; wer daran etwas flickt oder zurechtrückt, hat nach Aussage der Gutachter das Evangelium der umsonst geschenkten Liebe Gottes nicht recht verstanden. Besonders bedeutsam ist, daß dieses Gutachten auf dem Schmalkaldischen Bundestag angenommen wurde; damit hat sich, wenn man so will, die strengere Linie gegenüber der weicheren, von Landgraf Philipp vertretenen, durchgesetzt.54 Damit aber war es nun auch dieser rigorose Anspruch des „sola fide" in seiner ganzen Radikalität, der auf den kommenden Gesprächstagen als Maßstab für die Protestanten gelten sollte. Ob dieser Maßstab und das Thema der Rechtfertigung ein protestantisches Proprium, fast schon: Privatissimum war oder ob es andere Fragen gab, die von gleich großer, vielleicht größerer Bedeutung waren, soll nun ein Blick auf zwei wichtige Texte von katholischer Seite zeigen. 2.2.2.2 Die Zusammenstellung der wichtigsten Streitpunkte zwischen Katholiken und Protestanten durch Johannes Fabri im März 1540 Das Wittenberger Gutachten ist in seinem Ton und in seinen Aussagen von einer großen Skepsis getragen, was den Erfolg des anstehenden Religionsgesprächs betrifft. Dieses Mißtrauen resultiert nicht zuletzt aus der historischen Situation, in der sich die Evangelischen 1540 befanden. Befreit von jedem apologetischen Druck und erfüllt von dem Bewußtsein, welch entscheidende Rolle ihre Haltung in dem bestehenden Religionskonflikt spielte, konnten sie anders agieren als in den Ausschußverhandlungen zehn Jahre zuvor. Die gegenüber 1530 veränderten Vorzeichen treffen in gleichem Maße aber auch die Seite der Altgläubigen. Die äußere Situation der Katholiken war ausgesprochen schwierig, und es stand zu befürchten, daß diese drückende Gesamtlage auch nach innen Auswirkungen zeitigte. Die Grundfesten des eigenen theologischen Gedankengebäudes waren nicht unwesentlich erschüttert worden. Somit galt es (vordringlicher noch als für die Protestanten) für die Altgläubigen, den eigenen Standpunkt zu klären, ihn untereinander zu erörtern und gegen die Ansichten der Protestanten abzugrenzen. Auch waren politische Strategien gefragt, die einen weiteren Mitgliederverlust verhindern konnten.

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Vgl. dazu Augustijn: Godsdienstgesprekken ..., a.a.O. S. 35.

Nach der pessimistischen Grundhaltung der Evangelischen dem Religionsgespräch gegenüber ist es nun um so interessanter, was auf katholischer Seite bzgl. der strittigen Fragen gedacht und geschrieben wurde. Würden die Theologen den Befürchtungen des Wittenberger Gutachtens entsprechen und auf ihren Ansichten beharren, oder sollte es doch möglich sein, in den wichtigen Problemen eine Annäherung zu erzielen? Diesbezügliche Texte von katholischer Seite, die im Lichte des anstehenden Kolloquiums die theologischen Differenzen bzw. die Gemeinsamkeiten herausarbeiten, sind deshalb mit größter Aufmerksamkeit zu betrachten. Ein solcher Text wurde im März des Jahres 1540, also vor dem für Speyer angesetzten Gesprächstag, durch den Bischof von Wien, Johannes Fabri', Berater und enger Vertrauter König Ferdinands, in Gent verfaßt. In 28 Kapiteln stellte Fabri diejenigen Punkte zusammen, die zwischen Katholiken und Protestanten strittig waren. Offenbar sollte diese Zusammenschau es erleichtern, sofort die wahrhaft diskussionswürdigen Topoi der Theologie kenntlich zu machen, damit man nicht wertvolle Zeit verliert mit Debatten über Fragen, die gar keine sind. Herausgekommen ist ein Papier von 19 Folioseiten, das aus katholischer Perspektive interessante Einblicke in die Kontroverstheologie der Zeit gewährt. Der Gesamttext. Der Text2 Fabris markiert insgesamt 126 Streitpunkte zwischen Katholiken und Protestanten, und dies in 28 Kapiteln. Man muß sich schon sehr bemühen, um allein in dieser Kapitelzahl nicht eine Anlehnung an die 28 Kapitel der Confessio Augustana und entsprechend der Confutatio zu sehen; Fabri will offenbar dokumentieren, daß er in einer gewissen Tradition steht, was .Religionsgespräche' betrifft. Sehr aufschlußreich ist der Aufbau des Textes. Nach den klassischen ersten Loci über Gott und die Trinität wendet sich der Wiener Bischof sogleich den Sakramenten zu, wobei er an der Siebenzahl festhält. Der dritte Abschnitt befaßt sich mit dem Amtsverständnis und der Frage des Papstprimates. Dann folgen drei ausgesprochen ungewöhnliche Punkte über den Kaiser, die Fürsten und die Türken; diesen Kapiteln ist die Einbindung des Gesamttextes in den aktuellen historischen Kontext deutlich anzusehen. Erst jetzt folgen die hier interessierenden Loci über Glauben und gute Werke. Dem angeschlossen sind die Kapitel über die Kirche und ihre Bräuche, über die Messe und die Heiligen. Merkwürdig hintangestellt sind dann noch die Behandlung der Vorschriften Gottes, des Gebetes und des freien Willens. 1

Zu seiner Person vgl. Helbling: Fabri ..., a.a.O., hier besonders S. 116-121. Der Gesamttext ist abgedruckt: Cardauns: Unions- und Reformbestrebungen ..., a.a.O. S. 108-131, im folgenden zit. als „Cardauns"; vgl. dazu Helbling: Fabri ..., a.a.O. S. 25-27 und 118; dort auch Nennung der Schriften Fabris, die hier Eingang gefunden haben; vgl. auch: Pfnür: Einigung a.a.O. S. 56-64. 2

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Dieser Aufbau ist sehr ungewöhnlich, besonders wenn man an die anderen, hier zur Debatte stehenden Texte denkt, die sich mit den Streitfragen zwischen Katholiken und Protestanten auseinandersetzen.3 Dort ging man eigentlich sofort und ausschließlich auf die Differenzen in theologischen Fragen ein, meistens sogar an erster Stelle auf den neuralgischen Punkt, nämlich die Rechtfertigungslehre. Der Text Fabris aber macht deutlich, in welcher Zeit und für welchen Anlaß er verfaßt ist und in welchem Kontext die Einigungsgespräche stattfinden würden. Die drei Kapitel fast in der Mitte des Gesamttextes zeigen somit auch die historische Mitte überdeutlich an. Ebenfalls ist die Gewichtung der theologischen Fragestellungen interessant. Zunächst ist auffallig, daß auch in der Gottes- und Trinitätslehre Unterschiede festgemacht werden, wo bisher immer für diese Bereiche völliger Konsens behauptet wurde. Dem schließt sich die Sakramentenlehre an, und es folgt den Kapiteln zur Rechtfertigung der Abschnitt über die Kirche; dies ist ein Beweis dafür, daß die ekklesiologischen Fragestellungen maßgeblich für jedes andere Problem sind. Fabri bringt so den Grundsatz des „extra ecclesiam nulla salus" in der Anordnung seiner Kapitel anschaulich zum Ausdruck. Unübersehbar ist auch, wie verengt Fabri nun die konfessionelle Kontroverse angeht, nämlich alleine und ausschließlich vom katholischen Gesichtspunkt aus. Fast schon ermüdend ist sein „Catholici tenent" stets zu Beginn beinahe aller 126 Einzelpunkte4; dazu bestimmt er die Gegenseite undifferenziert meistenteils als „Luther und die Lutheraner" o.a.; andere Reformatoren, weitere innerreformatorische oder gar schwärmerische Richtungen hat der Wiener Bischof zumindest ausdrücklich so gut wie überhaupt nicht im Blick.5 In einer Denkschrift für den Hagenauer Konvent vom Mai 1540 bemerkt er dagegen noch: necesse est itaque intelligere, an a suo Zwingliani cedere velint, nec ne."6 Er weiß also sehr wohl etwa um den Unterschied zwischen Lutheranern und Zwinglianern in der Abendmahls- und der Bilderfrage und hat zudem wohl seine Begegnung mit Zwingli während der ersten Zürcher Disputation 1523

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Vgl. etwa das Wittenberger Gutachten oder auch Wormser bzw. Regensburger Buch, dazu hier unter 2.2.2.1, 2.2.3.4 und 2.2.4.2. 4 Dies aber als „etwas Mechanisches, Geistloses" zu bezeichnen und ihm vorzuwerfen, zu einem innerlichen Erfassen der Probleme scheint er sich nirgends zu erheben." (so Cardauns: Unions- und Reformbestrebungen ..., a.a.O. S. 27), dürfte zu weit führen; vgl. dazu auch Helbling: Fabri ..., a.a.O. S. 118. 5 Im Artikel über das Abendmahl, über die Taufe und über die Heiligen nennt er allerdings auch Zwingli und Zwinglianer, in dem über die Taufe zusätzlich die Wiedertäufer; vgl. Punkte IX, ΧΧΠ und CXV, Cardauns 111, 114 und 130. 6 Cardauns 133.

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noch gut im Gedächtnis.7 Hier ist noch wesentlich mehr von der Aufspaltungstaktik, dem Nutzen der Lehrunterschiede innerhalb der Reformatoren spürbar. Um so erstaunlicher und aufschlußreicher ist, daß Fabri dies in seiner Zusammenstellung nicht stärker fruchtbar macht, sondern fast nur Widersprüche innerhalb Luthers eigener Lehre aufzudecken sucht. Damit scheint das Ziel klar zu sein: Ihm geht es darum, die gesamte reformatorische Bewegung gleich welcher Couleur als antikatholisch, ja als antichristlich zu disqualifizieren; feine Lehrunterschiede spielen dann dabei nur noch eine untergeordnete Rolle. Somit ist aber zugleich seine Schrift nicht als Disputationspapier an die Protestanten zu verstehen, sondern sie hat allein die Funktion, die eigene Seite gegen die Irrlehren abzugrenzen, auf die häretischen Elemente hinzuweisen und darauf vorzubereiten. Der Text soll nicht den Weg zu einer Einigung ebnen, sondern die Unmöglichkeit eines solchen Vorhabens illustrieren. Diese Einschätzung wird durch ein Schreiben Fabris an Morone unterstützt; es stammt aus dem Kontext des Wormser Kolloquiums vom 12. Dezember 1540; Fabri bittet Morone darin, an seiner Stelle dafür zu sorgen pro suo vere catholico animo nihil quod ad concordiam et pacem unanimitatemque et precipue catholicae apostolicae, veteris et orthodoxae ecclesiae ac sanctae relligionis ac fidei honorem et conservationem conducat, intermittat..."». Für die inhaltliche Charakterisierung sollen nun einige besonders markante Punkte herausgegriffen sein: Bzgl. des Abendmahls beharrt Fabri auf der Transsubstantiation; die Gründe für deren Ablehnung bei Luther scheint er allerdings mitnichten verstanden oder aber bewußt mißverstanden zu haben, wenn er bissig formuliert: „Lutherus et Lutherani docent etiam post consecralionem manere substantiam panis et vini, adeo ut hie nulla transubstantiatio sit aut credi debeatur."' Mit gewaltigen Worten verteidigt der Bischof den Opfercharakter der Messe und klagt die Reformatoren an, nahezu ein Sakrileg zu begehen, wenn sie diesen bestreiten.10 Er wendet sich dann auch scharf gegen die protestantische Praxis, daß Nicht-Geweihte und -Ordinierte die Konsekration vornehmen." Schon in der Denkschrift für Hagenau wird sichtbar, daß für Fabri der wichtigste Streitpunkt offenbar die Frage nach der Darreichung des Abendmahls sub utraque specie ist. Es ist jedoch genauso offensichtlich, daß dies nur gleichsam die Spitze des Eisberges ist. Der eigentlich neuralgische Punkt dabei ist die dem Postulat des sub-utraque anhängende Kirchenkritik Luthers, die der Wiener 7

Vgl. dazu Rogge, Joachim: Der junge Luther 1483-1521. Der junge Zwingli 14841523, (KGE 2) 2. Aufl. Berlin 1985, S. 295-301. 8 Friedensburg: Beiträge ..., a.a.O. ZKG 20 (1899), S. 256. ' Punkt XVI, Cardauns 112. 10 Vgl. Punkt XVffl, Cardauns 113. 11 Vgl. Punkt XIX, Cardauns 113. 97

Bischof anprangert. So fürchtet er, es werde eines Tages in den protestantischen Kirchen keine Eucharistie mehr gefeiert, wenn Luther eine Darreichung des Abendmahles sowohl unter einer als auch unter beiderlei Gestalt ablehne, sofern dies ein Konzil zugestanden hätte.12 Ferner ist Fabri das Amtsverständnis Luthers durch und durch zuwider; so versteht er vor allem das Priestertum aller Gläubigen als Angriff auf die Autorität der Amtsträger bzgl. der Verwaltung von Wort und Sakrament, ohne freilich auch nur einmal zu erwähnen, daß etwa die CA sehr wohl das „rite vocatus"13 kennt". Mit im Vergleich dazu überraschend wenig Eifer verteidigt Fabri den Papstprimat - er tut es, aber lediglich in drei Artikeln und nicht mit der gewohnten Vehemenz. Seine Kritik geht dabei eher wieder in die bereits beim Amtsverständnis eingeschlagene Richtung.'5 Hier hinein gehört auch die Äußerung, die auf das sola scriptura anspielt. Fabri besteht darauf, daß bei allen wichtigen theologischen Fragen und Entscheidungen die Kirche zu befragen ist, in der der Heilige Geist sozusagen zu Hause ist, und daß deshalb auch die Tradition eine wesentliche Rolle spielt", eine größere jedenfalls, als sie von den Lutheranern zugestanden wird. Luther selbst nehme mit der Ausschließlichkeit des sola scriptura und der daraus resultierenden Relativierung der Bedeutung der Tradition der Kirche „omnem autoritatem potestatemque"17. Ebenso richtet sich Fabri gegen das reformatorische Schriftprinzip in bezug auf die einzuhaltenden Gebote, die seiner Ansicht nach nicht unbedingt expressis verbis in der Schrift stehen, sich aber daraus ableiten lassen und als guter Brauch immer Nutzen gebracht haben; die Konsequenzen des sola scriptura stünden dagegen „contra nostram sanctam, veram et indubitatam fidem christianamque religionem."18 Es fällt auf, daß Johannes Fabri keinen eigenen Abschnitt über die Erbsünde hat; daß er sie mitbehandelt beim Sakrament der Taufe (wo er Luther u.a. vorwirft, die Kindertaufe zu verwerfen"), ist ein weiteres Indiz dafür, welch starke Rolle die Ekklesiologie und das Amtsverständnis für ihn gegenüber allen anderen Punkten spielen.

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Vgl. Punkt XXVI, Cardauns 114f. CA XIV, CR XXVI, 260. 14 Vgl. Punkte XLVI-XLIX, Cardauns 118f. 15 Vgl. Punkte LXXV-LXXVII, Cardauns 123. " Vgl. Punkte XCVü und XCVffl, Cardauns 126. 17 Punkt XCVm, Cardauns 126. " Punkt CXVm, Cardauns 130. " Vgl. Punkt ΧΠ, Cardauns 111. 13

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Besonders interessant sind die drei Mittelkapitel: Fabri wirft Luther vor, die Bauern aufgewiegelt und damit die Autorität des Kaisers untergraben zu haben.20 Damit habe Luther sozusagen Blut gesät und die christliche Einheit aufs Spiel gesetzt. Einen gleichen Angriff von seiten Luthers sieht der Bischof auch auf die Fürsten gerichtet.2' Dazu beurteilt er Luthers Äußerung, daß der, der gegen den Türken kämpft, gegen Gottes Willen handelt22, als offensichtliche Gegnerschaft gegen die Obrigkeit. Damit zeigt er für das kommende Religionsgespräch an: Mit der Unterstützung der Protestanten ist nicht zu rechnen, sie müssen im Gegenteil von vornherein als Obrigkeitsfeinde und Verräter, die alle Ordnung auf den Kopf stellen und aufrührerische Reden halten, verfolgt werden. Gerade an diesem letzten Punkt wird sehr schön deutlich, daß Fabri nicht unbedingt zu den Freunden eines Religionsgespräches zu zählen ist; zudem ist er, was die Streitpunkte im ganzen betrifft, nicht sehr bemüht, sich von Vorurteilen zu lösen und die Dinge genauer zu befragen. Für ihn sind die Protestanten, oder besser: Luther und seine Anhänger nach wie vor eine sektiererische Gruppe, die nichts anderes im Sinn zu haben scheint, als der Kirche, dem gläubigen Volk und darüber hinaus dem Kaiser und dem Staat Schaden zuzufügen. In der Darstellung des Wiener Bischofs begegnen die Reformatoren als wilde, unchristliche Rotte, die weit entfernt von aller guten Tradition steht und die Fundamente des Glaubens verrät. Besonders die Art, wie Fabri vorgeht, ist dabei bezeichnend. Strenggenommen stellt er nur dar, wertet allenfalls hier und dort und dann allerdings auch sehr pointiert - dabei aber ist das .katholisch' die nicht zu hinterfragende Schablone, an der jedes Argument und jede Kritik von anderer Seite unbesehen scheitern muß. Über die Rechtgläubigkeit entscheidet - und das zeigen die entsprechenden, diesbezüglichen Stellen klar - nicht allein die Schrift, sondern auch die Tradition, der gute Brauch, der sich nur eingeschränkt auf seine biblische Legitimation hin befragen lassen muß. Kaum merklich - und daher um so interessanter zu beobachten - findet hier auch eine Neudefinition von „traditio" statt: Diese ist nicht mehr nur das von den Vätern und Konzilien überlieferte Gut, sondern darüber hinaus das, was sich per consuetudinem in der kirchlichen Praxis etabliert hat. Daher versteht Fabri jede andere Ansicht eo ipso als Angriff auf die kirchliche Amtsautorität. Dies scheint der Maßstab zu sein, von dem aus er dann auch die reformatorische Rechtfertigungslehre aburteilt. Das Rechtfertigungsverständnis. Die eigentlichen Kapitel, die sich dezidiert mit den Topoi der Rechtfertigungslehre beschäftigen, nehmen im Gesamtkorpus 20

Vgl. Punkte LXXVÜI-LXXX, Cardauns 123f. Vgl. Punkt LXXXI, Cardauns 124. 22 Etwa in seiner Schrift „Vom Kriege wider die Türken" von 1529 (WA 30 Π, 107148) - freilich anders akzentuiert, als Fabri ihm unterstellt. 21

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einen verschwindend geringen Raum ein. Gleichwohl spielt diese Frage in Artikeln, in denen man es vielleicht nicht unbedingt erwarten würde, dann doch eine zusätzliche Rolle. So findet sich gleich zu Beginn im Kapitel über Gott eine sehr aufschlußreiche Stelle. Gott ist nach Ansicht Fabris der, von dem man bitten und - und das ist das Entscheidende - auch etwas empfangen kann. Luther und die Seinen dagegen lehrten wie vorher die Heiden: „... quod omnia, quae fiant, debeant ita fieri, neque orationibus, consilio, precationibus bonisque operibus praecaveri possint."23 Daß Luther mit entsprechenden Aussagen aber lediglich davor warnen will, Gott nicht berechenbar zu machen, weil er nicht nach dem Talionsprinzip mit dem Menschen handelt, das entgeht Fabri. Für ihn machen die Reformatoren durch eine solche Ansicht Gott zu einem Willkürgott, über dem dazu noch ein nicht näher bestimmbares Fatum zu stehen scheint, dem auch Gott sich noch beugen muß. Einer der wichtigsten Abschnitte ist natürlich der über das Sakrament der Taufe. Es wird genauso bei der Behandlung späterer Texte immer wieder zu sehen sein, daß die Entscheidungen in der Frage der Erbsünde - und zu ihr gehört das Taufverständnis hinzu - wesentlich die über die iustificatio hominis bestimmen. Bei der Behandlung des Themas Erbsünde im Kontext der Tauflehre wirft Fabri Luther vor allem dies vor, er und die Seinen behaupteten, durch die Taufe werde die Erbsünde nicht aufgehoben. Dagegen glaube die katholische Kirche daran, daß gelte: „sacramenta novae legis conferre gratiam et tollere peccata."24 Ganz gewiß gehört es zu den schwierigsten Kapiteln der Theologie, hier die Begrifflichkeiten sauber zu differenzieren und die hinter diesen Begriffen verborgenen Inhalte aufzuspüren. Auch Fabri versteht es sehr gut, hier ohne scholastisches Vokabular zu argumentieren, also den Anschein zu erwecken, als ließe er sich auf Formeln ein, die von keiner Seite hinterfragt werden, und vermeide solche, die als hier wie dort vorbelastete nur der Provokation dienen würden. Dennoch schimmert die traditionelle Theologie klar hindurch, wenn er den Reformatoren vorwirft, daß sie der Taufe eher das Geschenk der Gnade zusprechen als das Aufheben der Schuld.25 Und genau in diesem Wort der „Schuld" verbirgt sich die Sicht, in der Taufe werde nicht nur die Anklage der ursprünglichen Sünde aufgehoben, sondern darüber hinaus auch die Sünde selbst. So hält Fabri fest: Die Protestanten lehren, auch in dem Getauften bleibe Sünde.26 Wirklich ist ja dies die Kernaussage Luthers, daß der Mensch auch nach der Taufe als totus homo totus peccator bleibt, aber eben jetzt auch totus

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Punkt Π, Cardauns 109. Punkt Vm, Cardauns 110. 25 Vgl. Punkt Vm, Cardauns 110. 26 Vgl. Punkt XI, Cardauns 111.

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iustus ist durch den Gnadenzuspruch Gottes in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi; somit ist er nicht von der Sünde befreit, wohl aber von der Anklage der Sünde; er ist ein neuer Mensch, freilich immer noch nicht ein solcher, der durch eigene Leistungen Gottes Gnade erzwingen, mit ihm aufrechnen, ja überhaupt etwas vorbringen könnte, dessen Wert zu belohnen wäre. Um diese Erkenntnis (eben, daß er von sich aus nichts, aber auch gar nichts tun kann, um das Heil zu erlangen) ist er im Lichte des Glaubens reicher. Und dies ist wahrlich ein Reichtum: Dieses Wissen, verbunden mit dem bedingungslosen Vertrauen in Gottes gültige Verheißung macht ihn frei zu tätiger Liebe. Dagegen möchte Fabri den Menschen an der Erwirkung seines Heils beteiligen. Wo nicht nur die Anklage, sondern die Grunddefinition des Menschen als Sünder selbst aufgehoben ist, da steht er vor Gott als neuer Mensch, und das heißt nun: als Partner in einem Prozeß, in dem er durch gute Werke und durch die Sanierung seiner nunmehr freigelegten ursprünglichen Kräfte, Fähigkeiten und Tugenden seinem Heil näherkommt. Fabri weiß darum, daß in der reformatorischen Theologie die Rechtfertigungslehre Dreh- und Angelpunkt für alles andere ist. Er beweist dies damit, indem er sie auch im Abendmahlsartikel zur Sprache bringt. So ist es ihm ganz offensichtlich ein Ärgernis, daß die Reformatoren mit ihrer Aussage, „solam fidem ad salutem sufficere"27, den Brauch untergraben, regelmäßig das Altarsakrament zu empfangen. Und ganz offenbar - das wird aus der Gegenüberstellung ja deutlich - versteht er diesen Empfang und die regelmäßige Teilnahme an der Eucharistie als auf nicht näher beschriebene Weise zur Erreichung des Heiles notwendig, als gutes Werk bzw. als Ausdruck des Geistbesitzes. In Konsequenz dessen kann er es auch nicht nachvollziehen, daß bei den Reformatoren die satisfactio aus dem Bußverständnis herausfallt und statt der klassischen Dreiteilung in conditio, confessio und satisfactio nur noch die contritio stehenbleibt, wobei die beiden anderen Teile durch die fides ersetzt werden28; denn wo die Ansicht besteht, es gebe nach der Wiedergeburt die Möglichkeit, die Sünden (nach Aufhebung der Erbsünde verstanden als Aktualsünden) nicht nur zu erkennen, zu bereuen und zu bekennen, sondern auch durch gute Werke sich der Vergebung würdig zu erweisen, da muß die Auffassung befremden, daß der Reue der Glaube folgt, in dem das Bekenntnis der Sünde eingeschlossen ist sowie die Erkenntnis, die Sünde als weiterhin geltende Grundbefindlichkeit des Menschen könne durch kein noch so gutes Werk beseitigt werden. Was den Rechtfertigungsartikel selbst nun angeht, so fallt zunächst auf, daß Johannes Fabri ihn sofort auf die kritischen Punkte hin angeht, also das „sola

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Punkt XXV, Cardauns 114. Vgl. Punkte LV und LXIH, Cardauns 119f und 121.

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fide" und die Frage der guten Werke. Er kümmert sich nicht erst um das, was ohnehin unstrittig zu sein scheint, sondern weiß (wie schon die Verfasser des Wittenberger Gutachtens) genau um die Themen, die in der Debatte eine Rolle spielen werden. Besonders interessant scheint mir dabei der erste Punkt zu sein, in dem Fabri emotionslos feststellt: „Catholici docent Deum Deique gratiam iustificare hominem. Lutherus docet solam fidem iustificare hominem."2' Das ist in der Tat eine ganz überraschende Aussage, denn damit gibt der Wiener Bischof als einer der ganz wenigen katholischen Theologen zu30, welchen elementaren, kategorialen Unterschied das „per gratiam" und das „sola fide" darstellen. Bisher war man stets der Meinung gewesen - und es wird zu sehen sein, daß sich dies auch während der Religionsgespräche hier und dort noch durchhält -, daß die Lehre der Reformatoren so neu gar nicht war, denn nie hatten die Altgläubigen bestritten, daß die Gnade Gottes das entscheidende Element im Rechtfertigungsgeschehen ist. Das sola fide aber ist darüber hinaus noch ausschließender, was die Beteiligung des Menschen an seinem eigenen Heil betrifft, wie schon beim Wittenberger Gutachten festzuhalten war. Das „gratis" der Confessio Augustana war nur deshalb ausreichend, dieses Proprium evangelischer Theologie zum Ausdruck zu bringen, weil es in diesem Sinne als sola fide verstanden wurde. Fabri erkennt dies sehr genau und stellt es auch ganz überlegt an den Beginn seiner diesbezüglichen Ausführungen, denn damit hat er den Kern der Kontroverse benannt - ich möchte vermuten, zum Unverständnis einiger seiner Kollegen, die sich weit weniger bewußt waren, daß das sola fide tatsächlich noch einmal etwas anderes sein soll als die Betonung der Gnade. Der Vorwurf, daß sich für das „sola" kein biblischer Beleg finden läßt3' und daß Luther so gewissermaßen an seinem eigenen Schriftprinzip scheitern muß, ist nicht neu. Jedoch erhält er nach der Differenzierung zwischen „gratia" und „sola fide" eine schärfere Pointe. Fabri kann den Protestanten vorwerfen, inhaltlich von den Aussagen der Schrift abzuweichen, und sie damit der Häresie bezichtigen - der bisherige Vorwurf war dagegen eher ein formaler. Damit zieht der Wiener Bischof eine strenge Linie zwischen der Theologie der Altgläubigen und der der Reformatoren, wo bisher eine Verständigung über Begriffe vielleicht noch möglich schien. Die zweite Spitze richtet Fabri sofort gegen den Ausschluß der guten Werke, also die zweite empfindliche Stelle in der reformatorischen Rechtfertigungslehre. 29

Punkt LXXXIV, Cardauns 125 (Cardauns zählt hier LXXXVI, diese Zählung ist jedoch falsch). 30 Mit Verlaub: in weiterer Erkenntnis auch als manche heutigen Ökumeniker. 31 Vgl. Punkt LXXXVÜI, Cardauns 125; so vor allem auch in einem in Hagenau verfaßten Urteil zur CA, vgl. Pfnür: Einigung ..., a.a.O. S. 86-88. 102

Daß Luther mit seinem sola fide etwas anderes meine als die fides viva im Sinne der fides caritate operans32 - auch dies erkennt Fabri sehr gut -, ist für den Wiener Bischof ein Verständnis wider Paulus und die ganze Bibel. Er betont dagegen, es sei für die katholische Kirche dies unaufgebbar, daß gute Werke, die aus gutem Glauben geschehen, den Menschen bei Gott angenehm machen.33 Dazu dreht er die bekannte Formel von dem guten Baum und den guten Früchten so um, daß er behauptet, ein schlechtes bzw. gutes Werk mache einen schlechten bzw. guten Menschen. So kraß ausgedrückt findet man dies sonst kaum, sondern es wird im Gegenteil auch in der späteren Auseinandersetzung immer wieder darauf hingewiesen werden, daß natürlich darin mit den Protestanten Konsens herrsche, ein guter Mann tue gute Werke, die Werke seien also die Folge eines guten Glaubens - nur seien auch diese Folgen konstitutiv für das Rechtfertigungsgeschehen. So können diese Werke laut Fabri auch „auferre culpam et conferre seu impetrare remissionem peccatorem"34; abgesehen davon, daß er sich den Vorwurf des Widerspruchs gefallen lassen muß bzgl. seiner Aussage über die die Schuld tilgende Taufe (es sei denn, er wäre der Ansicht, die guten Werke bereiteten auch schon die Taufe), findet sich hier genau der Differenzpunkt: Wo die guten Werke in der protestantischen Lehre notwendig sind, weil Gott sie von dem Menschen, den er in seinem Sündersein gerechtfertigt hat, als ethisch gute Werke für den Nächsten fordert, sind sie für Fabri als Ausdruck der Vollzugsweise der iustificatio im Menschen notwendig; so erweist sich der bereits Gerechte des Heils würdig. Iustificatio ist also weniger eine Gerechtmachung als die Anerkenntnis einer iustitia propria.35 Auffällig unkommentiert läßt Fabri die Debatte um das liberum arbitrium; er erwähnt lediglich, der freie Wille gelte bei Luther nichts, und weist dies als gegen die Schrift und die „doctores" der Kirche stehend aus.36 Daß Luther selbst die Lehre vom freien Willen als Nukleus der Frage der Rechtfertigung verstanden hat (in ihr nämlich ist auch die Antwort auf die Frage eingeschlossen, was es um die Möglichkeiten und Fähigkeiten des Menschen tatsächlich ist bzw. nicht ist), übergeht Fabri gekonnt. Statt dessen nimmt er im Teil über das Gebet noch einmal den Anfangsgedanken auf, die Lutherischen meinten, daß durch kein Gebet der Sinn Gottes gewandelt werden kann37, und stellt dagegen heraus, das Gebet sei selbst ein

Vgl. Punkte L X X X V I und LXXXVD, Cardauns 125. Vgl. Punkt L X X X I X , Cardauns 125. 34 Punkt XCffl, Cardauns 125. 35 Bei Fabri wird dies sehr deutlich durch die Parallelisierung der Begriffe iustus und pius, während er für die lutherische Seite nur von iustus spricht (vgl. Punkt L X X X V , Cardauns 125); der Bischof weiß also sehr genau um den Unterschied. 36 Vgl. Punkt CXXVI, Cardauns 131. 37 Vgl. Punkt CXX, Cardauns 130. 32 33

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gutes Werk38. Und in dieser Behauptung findet sich abschließend noch einmal exzellent zusammengefaßt, was das gute Werk in Fabris Meinung vermag: den Sinn Gottes zu ändern. Und wo es möglich ist, den Sinn Gottes zu ändern, da ist in der Tat kein Platz für das, was sich im „sola fide" der Reformation manifestiert. Zusammenfassung. Das Gutachten Fabris für das Religionsgespräch in Hagenau liest sich wie eine Zusammenstellung unaufgebbarer Kanones katholischer Lehren und gleichzeitig wie eine Übersicht über die Irrtümer der Gegenseite. Denn daß es sich durchweg um Irrtümer, ja Häresien handelt, daran läßt der Bischof von Wien keinen Zweifel. So stellt er auch die Protestanten als diejenigen dar, die durch ihre Lehre das Reich und die Kirche in ihren Grundfesten erschüttern. Im Vorfeld des Wormser Kolloquiums ist er im Blick auf die Kritik an den Protestanten sehr zuversichtlich: super omnia enim vincit Veritas"3'; und er beklagt dabei sehr, daß nicht bereits in Hagenau jemand es gewagt hat, gegen die Evangelischen mit der nötigen Schärfe zu sprechen40 und die Wahrheit des katholischen Glaubens vehement zu verteidigen. Fabri ist in seinen Texten für die von ihm vertretene Religionspartei nicht weniger ausschließend wie das Wittenberger Gutachten für die Seite der Protestanten. Für ihn kann eine Einheit in der Religionsfrage nur dann erzielt werden, wenn die Abgefallenen in den Schoß der Kirche zurückgeführt werden.·" Was die Rechtfertigungslehre betrifft, so kommt ihr bei Fabri nicht die Hauptrolle in der Kontroverse zu. Schon vom Umfang her haben ekklesiologische Gesichtspunkte eine größere Bedeutung. Dennoch kennt er erstaunlich genau die Details der Differenz und nennt als einer der ganz wenigen den Unterschied zwischen „per gratiam" und „sola fide". Er weiß, was ansonsten gerne verschleiert wird: Wer behauptet, daß „sola gratia" und „sola fide" dasselbe ausdrücken wollen, der hat weder die katholische Theologie verstanden noch das, was die Reformatoren zum Ausdruck bringen wollten. Der Gnadenbegriff läßt Raum für ein Tun des Menschen, während die particula exclusiva Gott allein als Rechtfertigenden, als Gerechtmachenden zur Geltung bringt. 2.2.2.3 Das Gutachten Nauseas über die Confessio Augustana zum Hagenauer Konvent 1540 Johannes Fabri sollte nicht der einzige katholische Geistliche bleiben, der die Religionshandlung zum Anlaß nahm, ein Gutachten zu verfassen, in dem es sowohl um die Darlegung des eigenen Standpunktes als darin auch um eine 38

Vgl. Punkt CXXni, Cardauns 131. Cardauns 144f. 40 Vgl. ebd. 41 Vgl. dazu besonders Cardauns: Unions- und Reformbestrebungen ..., a.a.O. S. 29f, und Helbling: Fabri ..., a.a.O. S. 120. 39

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kritische Auseinandersetzung mit der Gegenseite ging. Ein nicht minder wichtiger Text stammt von Friedrich Nausea1, Fabris späterem Amtsnachfolger2, der ebenfalls im Kontext der Hagenauer Handlung verfaßt wurde und zur Confessio Augustana3 Stellung nimmt. Von Nausea, einem Mann des Ausgleichs, konnte Ludwig Cardauns sagen: „Wenn er auch, wie Cochläus und Fabri, durch die Wirren der Reformation auf die theologische Schriftstellerei gedrängt wurde, so ist in ihm doch der Humanist nicht im Theologen untergegangen."4 Wenn Cardauns im folgenden auch eher auf seinen Sprachstil eingeht und also seine Formulierung in dieser Richtung verstanden haben möchte, so sagt sie doch bemerkenswert mehr aus. Zeichen des Humanismus ist mindestens dies, daß er nicht von verhärteten Fronten ausgeht, sondern in der friedlichen Disputation, im Gespräch gemeinsam nach Wegen sucht, wo der Theologe - vielleicht aus guten Gründen - unversöhnlich parteiisch zu sein scheint. Und ein solcher Humanismus schien ja bei den Religionsgesprächen insbesondere gefordert zu sein, zeigte sich auch hier und da und ist wieder neu dort gefragt gewesen, wo offenbar durch Gutachten und Gespräche beider Seiten im Vorfeld und während der Kolloquien ein Konsens in den wesentlichen Punkten ausgeschlossen wurde. Er selbst formulierte in Rückschau auf die Gesprächstage: „Deus est mihi testis me nihil ardentius vehementiusque quam ecclesiae pacem et tranquillitatemque optare desiderareque ..."5. So beklagt er auch bitter die träge und behindernde Haltung der Präsidenten des Wormser Kolloquiums: „... ecclesiastici, qui sic ad omnia dormiunt in utranque aurem quasi non sua potissimum res ageretur, sic omnia neglegentes quasi religionem nostram potius destitutam quam restitutam, modo suos salvos habeant census et redditus."6 Im Dezember 1540 hat Nausea selbst auf privater Ebene das Gespräch mit den Reformatoren gesucht, sicher nicht zufällig mit denen, die ebenfalls zu den stark vom Humanismus beeinflußten Theologen gehörten, nämlich Melanchthon und

1 Einen ersten Einblick in Leben und Werk Nauseas verleiht Bäumer, Remigius: Nausea (ca. 1490-1552), in: Katholische Theologen der Reformationszeit 2, (KLK 45) Münster 1985, S. 92-103. 1 Er war dessen Hofprediger und Koadjutor in Wien von 1534 an; vgl. Cardauns: Unions- und Reformbestrebungen ..., a.a.O. S. 39-52. 3 Vgl. dazu die kritische Note Honees: Libell ..., a.a.O. S. 31, im Anschluß an Immenkötter. 4 Cardauns: Unions- und Reformbestrebungen ..., a.a.O., S. 39. 5 So in einem Brief an Kardinal Grimani am 11. April 1541, zit. nach Friedensburg: Beiträge ..., a.a.O. S. 538. 4 Nausea an Morone am 16. November 1540, zit. nach Friedensburg: Beiträge ..., a.a.O. ZGK 20 (1899) S. 531.

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Bucer. Mit ihnen korrespondierte er seit Mitte Dezember 1540; dazu fanden an drei Tagen, nämlich am 19.12.1540 sowie am 2. und am 16.1.1541, Gespräche zwischen ihnen statt unter wechselnder Beteiligung; dem Kolloquium am 2. Januar wohnten alle drei Theologen bei. Einblick in diese Gespräche gibt ein Band „Colloquia privata", dessen Veröffentlichung Nausea zwar nicht bedauert, aber doch auch nicht gefördert hat.7 Um so erstaunlicher ist, daß er sich zur selben Zeit in zwei Schriften an seine katholischen Mitgesandten wendet, in denen er sich äußerst scharf und heftig gegen die Protestanten äußern kann8 und in denen nichts mehr von einer Hoffnung auf Einigung zu spüren ist. Allerdings läßt auch schon eine Denkschrift zum Hagenauer Kolloquium9 erkennen, daß er einer öffentlichen Disputation mindestens skeptisch gegenüberstand, da diese nur neuen Streit und Verlust der Wahrheit hervorbringe, anstatt Frieden und Einheit zu fördern.10 Und ebenso deutlich ist im selben Dokument seine Terminologie. Wer von den Protestanten fast durchgängig von „haeretici" spricht, von dem ist nicht unbedingt große Verständigungsbereitschaft zu erwarten. Nausea scheint also eine widersprüchliche Persönlichkeit zu sein, in der sich einmal großer Einigungswille, dann wieder scharfe Ablehnung, beide gleich stark, äußern können. In seiner Person scheint sich gleichsam der Widerspruch der Zeit und der Religionsgespräche widerzuspiegeln: hin- und hergerissen zwischen Einigungsbestrebungen und der Herausbildung und Verteidigung klarer Fronten. Von besonderem Interesse ist nun daher, ob auch sein Gutachten zur Confessio Augustana diese Widersprüchlichkeit aufzeigt. Der Gesamttext. Nausea orientiert sich in seinem Text streng an den einzelnen Artikeln der Confessio Augustana, wobei man nicht erkennen kann, ob er die Variata vor Augen gehabt hat. Er geht allerdings dabei nicht so sehr auf Argumente der Protestanten ein, sondern nimmt im Gegenteil eher die thematischen Stichworte auf, um eine Art von Glaubenssätzen größtenteils selbständig zu formulieren. Dies geschieht zunächst in zwölf Hauptartikeln, wobei sich diese Zahl offenbar auch aus der Zahl der zwölf Apostel legitimiert." Auffallig ist dann, wie absolut er dabei vorgeht, wenn er jeden Artikel beginnen läßt mit der

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Colloquia privata, super publico Colloquio, pro concordandis nonnullis in Christiana religione controversiis, nuper Wormatiae coepto, Ratisbonae vero (quod faxit Deus. opt.) in Comitiis imp. consumendo, inter D. Fridericum Nauseam. Μ. Philippum Melanchthonem. et M. Bucerum habita, 1541; vgl. dazu: Kawerau, Gustav: Die Versuche, Melanchthon zur katholischen Kirche zurückzuführen, (SVRG 73) Halle 1902, S. 67-73, und Cardauns: Unions- und Reformbestrebungen ..., a.a.O. S. 40. 8 Vgl. Cardauns: Unions- und Reformbestrebungen ..., a.a.O. S. 49-52, Text S. 193200 (im folgenden zitiert als „Cardauns"). 9 Text bei ebd. S. 150-157. 10 Vgl. ebd. S. 153. " Vgl. Cardauns: Unions- und Reformbestrebungen ..., a.a.O. S. 158f. 106

Gerundiv-Formel „credendum est". Das läßt keinen Zweifel und keinen Widerspruch an der Richtigkeit seiner Aussagen zu. Noch bemerkenswerter, weil in der gesamten bisherigen Debatte einzigartig, ist dies, daß er - bis auf den ersten, den Einleitungsartikel - durchweg darauf verzichtet, die Bibel oder die Kirchenväter oder auch beide als Zeugen anzurufen! Beide Beobachtungen lassen m.E. den Schluß zu, daß Nausea nicht aus einer kontroverstheologischen Perspektive heraus sich bemüht, den eigenen Standpunkt mit einer großen Zahl von Zeugen zu kräftigen und gleichzeitig dem der anderen somit jede Legitimität abzusprechen; vielmehr scheint ihm daran gelegen, auf einer Basis, die selbstverständlich scheint (also auf dem Boden der Schrift bzw. der Urkirche und den altkirchlichen Symbolen) von der einen katholischen Kirche zu sprechen, in der es einige unumstößliche Wahrheiten gibt, die nicht hinterfragt werden können, über die nicht diskutiert werden muß, die aber auch nicht explizit verteidigt werden müssen. Die Kirche befindet sich schon nach außen nicht mehr in einer apologetischen Situation - geschweige denn nach innen! Dafür spricht auch, daß er das Gerundivum „credendum est" unpersönlich faßt. Er verzichtet auf einen Dativus auctoris, der etwa „Christianis" oder aber „Catholicis" hätte heißen können. Es geht hier eben nicht darum, was gut katholisch oder auch gut christlich wäre, sondern es geht um das, was geglaubt werden muß, also um die Inhalte des Glaubens - und damit betont Nausea das „credere" in erstaunlich starkem Maße. In den bisherigen Texten und auch in den nachfolgenden begegnet dieses nicht, daß losgelöst von der konkreten historischen Situation über die Theologie nachgedacht wird; überall wird viel stärker von der Kontroverse ausgegangen, die es zu beheben gilt - an keiner Stelle wird der Versuch unternommen, vom Kontext abzusehen und generell die Anfragen aus beiden Lagern zu hören, ernstzunehmen und zu diskutieren. Schon das Wittenberger Gutachten baute inhaltlich Fronten auf, indem es jede Kompromißbereitschaft ablehnte, die zu Lasten des sola fide gehen würde; in die gleiche Richtung ging der Text Fabris, jetzt aus katholischer Perspektive; was weiterhin auf protestantischer wie auf altgläubiger Seite begegnen wird, ist meistens davon bestimmt, die eigenen Standpunkte zu klären und zu erklären und mit Zeugen aus Schrift und Tradition als legitim und wahrheitsgemäß zu beteuern. Und selbst dort, wo offenbar eine Annäherung versucht wird, steht doch immer im Vordergrund, vom Zwiespalt ausgehend zu argumentieren. Nauseas Text ist bisher der einzige, der auf diesen kontroversen Ansatz im wesentlichen verzichtet - und es ist nicht zu viel verraten, wenn hier schon gesagt wird, daß er es auch bleiben wird. Wohl bringt er jeweils am Ende der Artikel eine Aussage, ob nun die „partes" darin einig sind oder zur Übereinstimmung gelangen könnten. Jedoch ist auch dies wieder neu, denn er stellt nur fest, beurteilt dabei aber nur mehr am Rande; er drängt die Protestanten nicht etwa, sich der katholischen Seite anzunähern (umgekehrt natürlich genausowenig); er klagt sie auch nicht an. Er tut eigentlich nichts anderes als Fabri: Er stellt Dinge fest. Anders aber als sein Vorgänger im Amt benennt er weniger Streit- als sehr oft Konsenspunkte, und vor allem versucht er eine Wahrheit zu 107

formulieren, die aber nicht eo ipso .katholisch' ist im Sinne einer klar von den Protestanten getrennten Gruppe von Gläubigen. Es ist selbstverständlich zu fragen, ob Nauseas Vorgehen der Situation angemessen ist, und es ist genauso darauf zu achten, ob Nausea inhaltlich durchhalten kann, was er sprachlich verspricht. Jedenfalls mag dieses Vorgehen für die Zeit als sehr beachtlich und für den hier zu besprechenden Kontext als singulär angesehen werden; denn damit stellt sich Nausea rein äußerlich weder auf eine der beiden Seiten noch einfach nur in die Mitte; er stellt sich über sie. Beide Seiten müssen sich offensichtlich immer an dem von ihm aufgestellten Maßstab der Lehre messen lassen, nicht nur eine - und dies kann man dann in der Tat als typisch humanistisches (vielleicht sogar: erasmianisches?) Element bezeichnen. Inhaltlich lassen sich drei Beobachtungen festhalten: - Im Kirchenartikel fällt positiv auf, daß er sehr eng an den Aussagen der Confessio Augustana bleibt und die ecclesia ebenfalls als corpus permixtum aus Guten und Bösen beschreibt; er verzichtet jedoch nicht darauf, ihr eine Lehrautorität zuzuschreiben, der es zu folgen gilt.12 - Zur Abendmahlsfrage äußert sich Nausea gut traditionell, indem er die Realpräsenz sowie die Transsubstantiation verficht13; er gestattet jedoch eine Darreichung sub utraque specie14. - Sein Amtsverständnis ist dem reformatorischen sehr nahe. Auch er fordert eine ordinaria vocatio für Predigtamt und Sakramentsverwaltung, aus dem aber noch nicht notwendig eine besondere Stellung des Priesters hervorginge. An diesen drei Punkten wird deutlich, daß Nausea in den Fragen, die damals wie heute neben der Rechtfertigungslehre kontroverstheologisch umstritten waren, auf der Basis der traditionellen Theologie bleibt, ohne sich jedoch an einer Stelle scharf gegen die protestantische Seite abzugrenzen. Indem er verschiedene Themen einfach nicht anspricht - etwa den Papstprimat -, gibt er zumindest zu erkennen, daß er an dieser Stelle eine Diskussion vermeiden will. Das Rechtfertigungsverständnis. Da Friedrich Nausea an den Artikeln der Confessio Augustana entlanggeht, kann man keine eigene Systematik erkennen, nach der er die Rechtfertigungslehre fassen würde; so läßt sich also vom Aufbau nicht feststellen, ob er die iustificatio hominis prozessual oder punktuell versteht. Daher geht nun die folgende Besprechung an den Hauptpunkten entlang, die zum Rechtfertigungsverständnis notwendig dazugehören.

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Vgl. Cardauns 161. Vgl. Cardauns 162. 14 Vgl. Cardauns 171. 13

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Schon mehrmals wurde festgehalten, welche entscheidende Rolle das Verständnis der Erbsünde für das der iustificatio spielt. Nicht anders ist es in diesem Text. Erbsünde wird von Nausea definiert als defectus originalis iustitiae.15 Damit hat er die anselmianische Formel gewählt, die eher einen moralischen Fehler zu beschreiben scheint als die grundsätzliche Verkehrtheit des Menschen, was seine Gottesbeziehung betrifft. Material läuft das Bleibende der Erbsünde nach der Taufe auch bei Nausea auf die concupiscentia hinaus; und wenn er formuliert, daß durch die Taufe die culpa aufgehoben wird16, dann scheint er damit auch dies einzuschließen, daß über die Anklage die Sünde als solche beseitigt ist. Der Sinn des Getauften ist nunmehr grundsätzlich auf Gott gerichtet, und es ist nur noch ein Rest in ihm, d.h. eine Neigung zum Sündigen. Merkwürdig bedeckt hält er sich, was die Frage danach betrifft, was nun konkret in der Taufe passiert. Den entsprechenden Artikel hätte er eigentlich zum Anlaß nehmen können, genau zu definieren, was durch den Akt der Taufe im Menschen geschieht; in der Konsequenz des eben Gesagten hätte er an dieser Stelle etwa formulieren können, daß die Taufe die Erbsünde aufhebt o.ä.; stattdessen sagt er, daß in der Taufe „homini gratia remissionis peccatorum per fidem conceditur"17, um dann den seltsamen Zusatz anzuschließen „et ... Deus cum ipso homine foedus ineat .,."18. Und genau dieser Zusatz weicht den schon sehr reformatorisch klingenden ersten Teil wieder auf. Ein Vertrag wird geschlossen zwischen Gott und Mensch, und das heißt nichts anderes, als daß Gott sich den Menschen zu einem gleichberechtigten Partner erwählt hat, der jetzt seinen Teil zu erfüllen hat, damit Gott seine Verheißung dereinst wirklich einlösen wird. Durch die Befreiung von der Schuld ist der Mensch auch in die Lage zurückversetzt, vor Gott wohlgefällige Werke zu vollbringen, das bedeutet vor allem: gegen die herrschende Neigung zur Tatsünde anzukämpfen. Indem der Mensch so an seiner Vervollkommnung mitarbeitet, also der Gnade gerecht wird, die Gott ihm geschenkt hat, wird er vor Gott würdig, so daß dieser ihn für sein gutes Tun belohnen kann und muß. Hier liegt ein Anklang an das Bielsche Verständnis des Zuteilwerdens eines meritum de condigno aufgrund der potentia Dei ordinata vor. Es ist nun nur konsequent, daß Nausea auch dem freien Willen eine Rolle im Rechtfertigungsgeschehen nicht absprechen wird. So bemerkt er, es sei „omnino necessarium"1', daß die Gnade dem Willen verbunden wird, der zwar das Gute nicht vollenden kann, aber mit Hilfe eben dieser Gnade „in omnibus rebus imbe-

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Vgl. Cardauns 150. " Vgl. Cardauns 159. 17 Cardauns 161. 18 Cardauns 16lf. " Cardauns 167. 109

cillitatem et insufficientiam agnoscat et fateatur"20. Und das wiederum ist ein Zeichen des Wiedergeborenen, daß nach der Taufe genau dieses Erkennen dem Menschen nun wieder möglich ist und eine Art der Mitarbeit an seinem eigenen Heil gewährleistet wird. Deshalb sind im Bußverständnis Nauseas auch wieder die drei Teile nötig, nämlich die contritio, die confessio und auch die satisfactio pro peccatis.21 Schon die Anklage muß vor einem Priester geschehen, der dann auch die Gewalt hat, den so Bereuenden von der Sündenschuld loszulösen.22 Was den Rechtfertigungsartikel selbst angeht, so befindet sich Nausea gänzlich auf der traditionellen Linie; fast ein wenig enttäuschend ist es, wie sehr er hier althergebrachtes Vokabular ins Spiel bringt, wie wenig er sich davon zu lösen weiß. So sagt er zwar auch, daß der Mensch nicht gerechtfertigt werden kann außer durch den Glauben, durch einen Glauben freilich, den er dann thomistisch definiert als fides per caritatem operans opera bona.23 Das ist genau das, was bisher immer von katholischer Seite begegnete. Ein Glaube, der nicht durch diesen Zusatz als tätiger Glaube ausgewiesen ist, als Glaube, der sich im Tun guter Werke erst verwirklicht - ein solcher Glaube kann nicht in der Lage sein, vor Gott das Heil zu erwirken. Auch die Gnade kann nicht einfach als gratia stehengelassen werden; auch sie wird noch ergänzt durch das bekannte „gratum faciens"24. Also nicht der Sünder wird gerechtfertigt, sondern die Gerechtigkeit dessen, der gute Werke vollbringt, wird festgestellt. Nausea aber geht noch einen Schritt weiter. Er beschreibt die remissio peccatorum als Geschehen, das „per gratiam gratum facientem una cum fide formaliter et per verbum et sacramenta instrumentaliter" geschieht25. Gnade und Glaube bewirken also formal die Vergebung der Sünden, während Wort und Sakrament die Instrumente sind. Schaut man sich aber die ähnliche Formel in CA V an26, so sind verbum und sacramentum die Instrumente, durch die der Heilige Geist geschenkt wird und dann der Weg zum Glauben eröffnet wird fides ex auditu. Hier dagegen klingt es mitunter, als seien Gnade und Glaube eine Sache, Wort und Sakrament eine andere, so wie zwei getrennte Wege zum Heil. Daß er dies nicht meint, ist durch die Begriffe „formaliter" und „instrumentaliter" gesichert - und doch wird man den Eindruck nicht recht abstreifen können, er möchte dadurch nahelegen, Gottesdienstbesuch und häufiger Sakramentsempfang wären an sich gute Werke, die einen Lohn verdienen.

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Cardauns 167. Vgl. Cardauns 163. 22 Vgl. Cardauns 162f. 23 Vgl. Cardauns 160. 24 Vgl. Cardauns 160. 25 Cardauns 160. 26 Vgl. CR XXVI, 275. 21

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Im anschließenden Abschnitt über die guten Werke selbst wird nun gänzlich offenbar, wie wichtig auch für Nausea die unbedingte Verbindung von Glauben und guten Werken tatsächlich ist. Ein Glaube ohne Werke ist vor Gott tot, so sagt er." Jedes gute Werk aber, das im Glauben geschieht, verdient vor Gott einen Lohn, zwar nicht „debito", sondern „gratuita"28, aber immerhin sei dies u.a. auch dazu geeignet, dem Menschen Trost zu spenden und Gott als gut und gerecht auszuweisen.2' Das „sola fide iustificamur" der Reformatoren ist - so lautet die Konsequenz Nauseas - ein Hindernis für Gott, sein Versprechen auf Vergebung der Sünden einlösen zu können. Gebote sind dazu da, erfüllt zu werden, und Gott hat sie deshalb gegeben, weil er wollte, daß sie Bestandteil seines Vertrages werden, eines Vertrages, der den Menschen durch die Taufe in den Stand versetzt, seine natürlichen Kräfte und Fähigkeiten mit der Hilfe des Heiligen Geistes zu gebrauchen, den eingegossenen Glauben in guten Werken wirksam werden zu lassen und so am Ende für sein Tun mit dem ewigen Leben belohnt zu werden. Zusammenfassung. So sehr die Form überraschte, die Friedrich Nausea für sein Gutachten über die Confessio Augustana wählte, so sehr sie versprach, losgelöst von der Enge der kontroversen Gegebenheiten die Apologie zu verlassen, um wahrhaft zu diskutieren, so wenig neu ist der Inhalt in bezug auf die Rechtfertigungslehre. Nausea kehrte nicht nur zu traditionell vorbelasteten Formeln zurück, er ist auch merkwürdig blaß in der Argumentation.30 So beweist sich aber an seiner Schrift, daß das sola fide, dessen Radikalität er wohl verstanden hat, für einen Katholiken nicht nachzuvollziehen ist. Jeder noch so gutgemeinte Einigungsversuch scheitert, wenn das sola fide in einen anderen Gültigkeitsbereich verlagert wird oder durch den Zusatz der Wirksamkeit durch gute Werke eben nicht mehr das sola fide ist, das die Reformatoren gemeint hatten: ein völliges Geschenk Gottes an den Menschen - und nicht ein Vertrag, den man unterzeichnen kann oder nicht, der Bedingungen enthält und in dem sich die Unterzeichner jederzeit ein Rücktrittsrecht vorbehalten können!

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Vgl. Cardauns 160. Vgl. Cardauns 168. 2 ' Vgl. Cardauns 169. 30 Vgl. auch Maurer: Confessio ..., a.a.O. S. 110. 28

2.2.3 Worms 2.2.3.1 Die Confessio Augustana Variata von 1540

Die Analyse der bisherigen Texte protestantischer und altgläubiger Herkunft hat einiges deutlich gemacht: Bereits in dem 1530 Kaiser und Reich vorgelegten Bekenntnistext hatte die reformatorische Theologie sich inhaltlich definiert. In dem Zusammen aus Negations- und Positionsformel der Confessio Augustana hatte sie sich dezidiert gegen das scholastische und namentlich das nominalistische Verständnis von Rechtfertigung abgegrenzt. In den Jahren bis 1540 ist das Bemühen zu erkennen, das spezifisch Reformatorische kategorial zu fassen und formal-sprachlich vor jedem Mißverständnis zu schützen. Spätestens das Wittenberger Gutachten stellt dabei einen Endpunkt dieses Bemühens dar, indem es die Formel des „sola fide" dazu benutzt, den kontroverstheologischen Differenzpunkt zu pointieren. Diese particula exclusiva war offenbar als einzige geeignet, die Ausschließlichkeit des Gnadenhandelns Gottes sprachlich zu fassen und gegen den Gnadenbegriff der von der Scholastik bestimmten Tradition abzugrenzen, der die Mitwirkung des Menschen bei der iustificatio nicht gänzlich ausschließen konnte. Von katholischer Seite hat dies Johannes Fabri in seinem Gutachten zum Hagenauer Konvent mit der Unterscheidung zwischen Rechtfertigung aus Gnade und Rechtfertigung allein aus Glauben zum Ausdruck gebracht. Fabri stellt dabei allerdings die Ausnahme von der Regel dar, denn die katholischen Texte zeugen sonst davon, wie das Andere, oder besser: Zugespitzte des „sola fide" gegenüber dem „sola gratia" nicht oder nur unzureichend wahrgenommen wird. Weniger die darin verborgene Radikalisierung der soteriologischen Dimension des Kreuzestodes Christi erregt auf altgläubiger Seite Anstoß als die Tatsache, daß sich für die Vokabel „sola" kein neutestamentlicher Beleg finden läßt; folglich lag hierin auch ein beliebter Vorwurf, denn eine Theologie, die sich in Diskussionen stets auf das „sola scriptura" berief, mußte sich wohl von solcher Argumentation beeindrucken lassen. Als im Frankfurter Abschied beschlossen wurde, die Religionsverhandlungen sollten auf der Grundlage der Confessio Augustana stattfinden, ergab sich für die Protestanten daraus fast zwangsläufig die Aufgabe, der theologischen Entwicklung innerhalb des alten Textes Rechnung zu tragen, d.h. der Bekenntnistext von 1530 mußte so verändert werden, daß bis dato nicht auszuschließende Mißverständnisse unmöglich wurden und die particula exclusiva „sola", wenn nicht expressis verbis, so doch ihrem Inhalt nach Niederschlag fand. Das Ergebnis ist die auf dem Wormser Religionsgespräch übergebene Confessio Augustana Variata, die es nun zu betrachten gilt.

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Der Gesamttext. Die Entstehungsgeschichte dieses Textes liegt in einem ausgesprochen merkwürdigen Dunkel. Das einzig sichere Datum ist die Übergabe des Bekenntnisses am 28. November in Worms.1 Andreas Frank berichtet: „Die Confession unnd Apologia der Confession ist uff den Ersten Sonntag des Advents, der da war der XXVIII. Novembris Anno etc. 40, von wegen der Augspurgischen Confession verwandten durch doctor Niclausen Holstein, Hartman Schleyer, doctor Philipsen Lanng unnd Erassmus Ebnern den Meintzischen Räthen, Nemlich Hern Johann von Erenberg, Thumdechan, Presidenten, doctor Conradten Braun, adiuncten, doctor Jacoben Reüter unnd Jacoben Sultzbach, scriba, in des dechans zu Wormbs hauss uberantwurt worden."2 Daß es sich dabei um die gegenüber von 1530 veränderte Fassung handelte, geht eindeutig aus der Erwähnung Ecks hervor, das offizielle Gespräch habe deshalb erst so spät beginnen können, weil die Katholischen sich erst auf den veränderten Wortlaut einstellen mußten.3 Ebenso sicher ist: Der Text ist nicht vor dem 29. Dezember 1539 entstanden, denn hier erst fordert der Kurfürst seine Theologen auf, sich über die Tragfähigkeit der alten Fassung auseinanderzusetzen. Was aber zwischen diesen beiden Daten geschah, ob Melanchthon den Text alleine verfaßte, wann und wie er den Evangelischen in der später überreichten Fassung vorgelegen hat (ob schon auf dem Bundestag zu Schmalkalden oder erst später), wie die Annahme des Textes geschah, ob es nicht doch notwendige Diskussionen darüber gab - darüber etwas zu sagen, ist nach bisheriger Quellenlage reine Vermutung.4

1

Vgl. ARC m , 206f, Anm. 284. Dresden, fol. 44v. 3 Vgl. Wien, fol. 271. 4 Auch die Vermutungen Maurers sind keineswegs überzeugend (Confessio ..., a.a.O. S. 136-142). Es ist rätselhaft, wie Maurer aus der angeführten Textstelle CR ΠΙ, 1150 darauf schließen kann, daß Melanchthon die Variata ankündigt (ebd. S. 142, Anm. 131); etwas zu schnell behauptet er dagegen, daß Nausea (Vgl. Cardauns: Unions- und Reformbestrebungen ..., a.a.O. S. 155) in seinem Gutachten für Hagenau nicht die Variata im Blick hat, sondern andere Textausgaben, denn nach der Bibliographie Neusers hat es so viele unterschiedliche Textfassungen nun nicht gegeben (Vgl. Neuser, Wilhelm H.: Bibliographie der Confessio Augustana und Apologie 1530-1580, Niuwkoop 1987); leider sind die Äußerungen Nauseas nicht ausführlich genug, um daraus zu schließen, daß die Variata vielleicht doch schon früher entstanden ist als - wie im Anschluß an Maurer bisher vermutet - im Spätsommer 1540. Eine freilich bisher singuläre Textstelle im Pfälzer Kodex von Hagenau könnte ebenfalls in diese Richtung weisen, wo von zwei Exemplaren der CA die Rede ist (vgl. ARC ΠΙ, Nr. 77B, S. 156); vielleicht sind dort aber auch CA und Apologie gemeint. Nicht auszuschließen ist auch eine spätere Datierung, da weder in den Vorgesprächen noch in den Gutachten der Altgläubigen ein Rekurs auf die veränderte Fassung spürbar ist. Es könnte so gewesen sein, daß Melanchthon die Ergebnisse der Vorgespräche in den neuen Bekenntnistext noch einfließen ließ; dafür gibt es vereinzelte Hinweise: Am 2

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Das Dunkel der Entstehungsgeschichte scheint die Forschung bisher daran gehindert zu haben, der Confessio Augustana Variata mit der gebührenden Sorgfalt zu begegnen. Anders ist es wohl nicht zu erklären, warum es bis 1962 gedauert hat, bis sich jemand mit der Confessio Augustana Variata von 1540 inhaltlich auseinandergesetzt hat5, und es seitdem zu diesem Thema nichts Neues mehr gegeben hat außer einer Übersetzung ins Deutsche anläßlich des 450jährigen Jubiläums der Variata.' Zudem muß man schlicht feststellen, daß die einzige, eben erwähnte Untersuchung von Wilhelm Maurer den waghalsigen Versuch darstellt, auf knapp 50 Seiten sowohl den geschichtlichen Kontext der Variata aufzuhellen als auch einen umfassenden Vergleich zur Invariata zu ziehen; es liegt auf der Hand, daß dieser Versuch Grenzen hat. Zwar kann Maurer nachdenkenswerte Anstöße liefern, aber der komplexe Sachverhalt wird nicht zufriedenstellend erschlossen. Auch die Übersetzung Neusers kann nicht mehr tun als das, was sie sich selbst zum Ziel gesetzt hat, nämlich den Text in ein verständliches Deutsch zu bringen; die wenigen Bemerkungen in der Einleitung7 aber sind dann doch zu allgemein, und seine Übersicht über die Veränderungen gegenüber der Invariata8 liefern in dieser Knappheit ein an manchen Stellen verzerrtes Bild der Tatsachen. Es wäre dringlich geboten, den Gesamttext einer gründlichen Untersuchung zu unterziehen'; das kann hier nicht gelei-

15. November forderte Melanchthon in einem Brief an Paul Eber 15-20 Exemplare der CA und Apologie an, die aber erst am 17. Dezember eintrafen. 5 Maurer: Confessio ..., a.a.O. * Neuser, Wilhelm H.: Das Augsburger Bekenntnis in der revidierten Fassung des Jahres 1540 (Confessio Augustana Variata), hg. vom Landeskirchenrat der Evangelischen Kirche der Pfalz (Prot. Landeskirche), Texte und Dokumente 2, Speyer 1990; Cornells Augustijn nimmt in knappen Worten zur CA Variata Stellung in seiner genannten Studie zum Regensburger Reichstag (The Quest..., a.a.O. S. 66f). 7 Neuser: Bekenntnis ..., a.a.O. S. 7-10. ' Ebd. S. 8. ® Erstaunlich ist das Urteil Augustijns: „Het is niet noodzakelijk, diep op deze nieuwe versie van de Augustana in te gaan, daar zij in het vervolg slechts een geringe rol heeft gespeeld." (Godsdienstgesprekken ..., a.a.O. S. 48, Anm. 9). Abgesehen davon, daß dies kein Kriterium sein dürfte, ist seine Beobachtung auch nur z.T. richtig; vgl. zur Weiterentwicklung der Variata Neuser: Bekenntnis ..., a.a.O, S. 10, femer Kretschmar, Georg: Die Bedeutung der Confessio Augustana als verbindliche Bekenntnisschrift der Evangelisch-Lutherischen Kirche, in: Fries, Heinrich/ Iserloh, Erwin u.a.: Confessio Augustana. Hindernis oder Hilfe, Regensburg 1979, S. 31-77, sowie Mehlhausen, Joachim: Zur Wirkungsgeschichte der Confessio Augustana im 19. Jh. Eine historisch-theologische Skizze, in: MEKGR 30 (1981), S. 41-64; dazu vgl. zur Folgegeschichte Schwarz, Reinhard: Lehrnorm und Lehrkontinuität. Das Selbstverständnis der lutherischen Bekenntnisschriften, in: Brecht/Schwarz: Bekenntnis ..., a.a.O. S. 253-270, besonders S. 256-259; zur Rolle der Variata als Unionsbekenntnis der pfälzischen Kirche vgl. Bonkhoff, Bernhard H.: Evangelisches Bekenntnis in der Unionskirche, in: Vielfalt in der Einheit. Theologisches Studienbuch zum 175jährigen 114

stet werden. Daher sollen nun einige wenige Beobachtungen festgehalten werden, die den veränderten Status und Stil des Textes gegenüber der Invariata von 1530 kennzeichnen. Während die Praefatio und der Schlußteil - beide wesentlich mit der Funktion betraut, die Rechtgläubigkeit der Evangelischen herauszustellen - unverändert übernommen wurden, nimmt der Abschluß der Lehrartikel in der variierten Fassung etwa viermal soviel Platz ein wie 1530'°, und hier gibt es dann auch gegenüber dem ursprünglichen Text bedeutsame Veränderungen. Gleich im ersten Satz entfallt das „fere". 1530 hieß es noch: „Haec fere summa est doctrinae apud nos, in qua cerni potest, nihil inesse quod discrepet a scriptoribus, vel ab Ecclesia Catholica vel ab Ecclesia Romana, quatenus ex scriptoribus nota est."11 Jetzt wird diese Übereinstimmung mit den prophetischen und apostolischen Schriften sowie mit der katholischen und schließlich12 auch der römischen Kirche, soweit sie in den Schriften der „probati scriptores" (wie die Variata hinzusetzt) zu finden ist, festgestellt nicht mehr nur für eine Beinahe-Zusammenfassung, sondern für die Lehre in unabänderlicher Gänze. Trotz Confutatio also, trotz aller geführten Diskussionen etc. behauptet man immer noch, in keiner Weise häretisch zu sein, sondern in allem sich auf dem Boden der Kirche zu befinden. Der Streit hingegen und die widersprüchlichen Ansichten befaßten sich nur, so hieß es 1530, „de quibusdam abusibus, qui sine certa autoritate in Ecclesias irrepserunt."13 Dies fällt in der Neufassung schärfer aus: „Constat enim plerosque abusus irrepsisse in Ecclesiam, qui emendatione opus habent. Et cum propter gloriam Christi, tum propter salutem omnium

Jubiläum der Pfälzischen Kirchenunion, im Auftrag des Landeskiichenrates hg. von Richard Ziegert, Speyer 1993, S. 125-136. 10 Vgl. Maurer: Confessio ..., a.a.O. S. 120f; hier geht Maurer allerdings m.E. in der Konsequenz (letzter Abschnitt S. 121) an der Sache vorbei: Der Wortlaut trägt ja nicht nur dem Folgenden Rechnung, sondern auch dem Vergangenen; das Religionsgespräch war eher Anlaß, die CA neu zu überdenken, aber nicht Ursache. Anders ist, denke ich, auch nicht zu erklären, daß die Variata sich 20 Jahre als autoritativer Text gehalten hat. Wäre der Text nur aus „Disputationsthesen" bestehend gewesen, wie Maurer meint, wären diese spätestens nach dem Scheitern der Gespräche gefallen und wäre vielleicht ein ganz neuer Text zustande gekommen und nicht einer geblieben, über dessen .evangelische Reinheit' man sich trefflich streiten könnte. " CR XXVI, 290; BSLK 83c,1 setzt: „... quatenus ex scriptoribus nobis nota est." 12 In der Variata fällt dazu die Unterscheidung zwischen römischer und katholischer Kirche durch ein eingeschobenes „Postremo etiam" (CR XXVI, 373) noch klarer ins Auge. 13 CR XXVI, 290f; BSLK 83c, 2 setzt: „... de paucis quibusdam abusibus ...".

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gentium maxime optamus, ut diligenter cognitis his controversiis, Ecclesia repurgetur, et ab iis abusibus liberetur, qui dissimulari non possunt ..."u. Man beachte dabei vor allem auch die Nennung einer praktisch-theologischen, einer seelsorgerlichen Note neben der christologischen Rückbindung in einem Atemzug. Ferner macht das „repurgari" deutlich: Es geht in der Tat um eine Rückführung der Kirche zu ihren reinen Ursprüngen, um eine Beseitigung von Mißbräuchen, nicht um eine .neue Kirche'. Und schließlich wird auch hier durch die Hervorhebung des „diligenter" jedem überschnellen Handeln vorgebeugt, welches dann vielleicht zwar einen kurzfristigen Frieden zu erreichen, aber weder pro gloria Christi noch pro salute gentium irgendetwas auszurichten imstande sein wird. Eigentlich aber sei mit einer solchen sorgfaltigen Reinigung eine Synode zu beauftragen (das Wort „Konzil" wird hier nicht mehr gebraucht!), die deshalb auch „omnes boni viri in omnibus nationibus expetunt"15. Geschickt wird im folgenden der Bogen geschlagen in die Richtung, daß der Kaiser Sorge für seine Untertanen trage. Durch den Vergleich mit Konstantin stellt der Text die Protestanten als die schutzbedürftigen Christen hin, die vom Kaiser gegen die Heiden verteidigt werden müssen. Die Erklärung für diese Erwartung lautet: „... nullum dogma contra Catholicam Ecclesiam, nullam impiam aut sediciosam opinionem"16 lehren die Protestanten, lediglich im Bereich der äußeren Überlieferung habe man Mißbräuche geändert, was aber im Grunde bedeutungslos ist für die Einheit der Kirche: „Nam unitas Catholicae Ecclesiae consistit in doctrinae et fidei consensu, non in traditionibus humanis, quarum semper in Ecclesiis per totum orbem magna fuit dissimilitudo."'7 Die Einheit der Kirche wird hier interessanterweise in einem gewissen Fundamentalkonsens der Lehre und des Glaubens begründet; es sei nicht nötig, in allen Punkten übereinzustimmen, soweit diese nicht notwendig doctrina und fides berühren. Das ist ein Gedanke aus CA VII, nach dem die notae der Kirche allein Wort und Sakrament sind. Es ist dies aber auch ein Gedanke, der im Wittenberger Gutachten überdeutlich betont wird; die Confessio Augustana Variata steht also in diesem Fall ganz auf der Basis des Gutachtens. Ob man das nur als „Schutzbehauptungen" entlarven darf", muß in dieser Form jedenfalls bezweifelt werden. Zwar ist es sicher richtig, daß auch in den rechten Zeremo-

CR XXVI, 373. CR XXVI, 373. " CR XXVI, 374. 17 CR XXVI, 374. " Vgl. Mühlhaupt, Erwin: Das Augsburger Bekenntnis 1530 in gesund ökumenischer Sicht, in: MEKGR 30 (1981), S. 1-19, hier S. 12-14. 14

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nien sich das rechte Verständnis der Lehre widerspiegelt", jedoch ist es m.E. zu kurz gegriffen, hierin nur den Versuch sehen zu wollen, wenigstens nach außen den Schein zu wahren. Die Konstruktion ist interessant. Während Vorrede und Schlußteil unverändert übernommen werden, steht der Mittelteil deutlich unter den Zeichen der neuen Zeit. Man kann nur vermuten, warum ausgerechnet und ausschließlich der Mittelteil einer so einschneidenden Änderung unterzogen wurde. Hauptsächliches Anliegen war, erkennbar zu machen, daß die Veränderungen vor allem auf den ersten Teil, also auf die Lehrartikel hin, gelesen werden müssen; hier wäre dann mit den Protestanten nicht mehr zu diskutieren, die Beweislast läge eindeutig und unumkehrbar bei den Katholiken, die Debatte erstreckte sich dann ausschließlich auf die Mißbräuche. Darin würde sich das Mißtrauen gegen das gesamte Unternehmen „Religionsgespräche" spiegeln, welches in dieser Form auch schon im Wittenberger Gutachten herauszuhören war. Man könnte aber auch - ein gleichwohl eher moderner Gedanke - eine Übereinstimmung von Form und Inhalt annehmen: in der Mitte Aktualisierungen, die doch von einem traditionellen Rahmen gehalten werden, an dem es nichts zu rütteln gibt. Als dritten Aspekt schließlich könnte man ein taktierendes Vorgehen vermuten. Jedem Leser wird suggeriert, daß die Variata zunächst einmal nicht von der Invariata abweicht. Die Protestanten treten so mit starkem Selbstbewußtsein auf, die rechte Lehre zu vertreten und mit dieser Lehre in völliger Übereinstimmung mit der Schrift und der „katholischen" Kirche zu sein. Als Häretiker werden dagegen die Altgläubigen bezeichnet, gegen die die Protestanten vom Kaiser geschützt werden müssen. Dazu findet sich auch gleichzeitig eine deutliche Spitze gegen das Mittel des Religionsgesprächs (und damit implizit auch gegen den Kaiser, der schließlich Initiator desselben war20), denn dieses kann nicht mit einer Synode verglichen werden; allein eine Synode sei der rechtmäßige Weg, solche Problematik zu bereinigen. Schon an diesen Rahmentexten läßt sich die gesamte veränderte Situation von 1540 deutlich ablesen. Aber auch die Artikel, die hier nicht betrachtet werden, reden eine der Zeit angemessene Sprache. Aus Artikel XXIV etwa ist - im Gefolge des Wittenberger Gutachtens - eine deutliche antirömische Spitze herauszulesen21, aus Artikel XXIII ist ein „kirchenpolitischer Affront"22 geworden; und in Artikel XI wird eine Damnatio sogar gegen die gegenwärtige

" So etwa Neuser, Wilhem H.: Die Confessio Augustana. Apologie - Bekenntnis Leisetreterei, in: MEKGR 30 (1981), S. 21-59, hier S. 24-26. 20 Deshalb ist Maurers diesbezügliche Argumentation (Maurer: Confessio ..., a.a.O. S. 137-142) so auch nicht zu halten. 21 Vgl. Maurer: Confessio ..., a.a.O. S. 116f. 22 Maurer: Confessio ..., a.a.O. S. 118. 117

römische Theologie ausgesprochen23. Wichtig ist aber auch die innerprotestantische Note, wie sie besonders im Abendmahlsartikel zutage tritt, wenn es dort gegenüber der Fassung von 1530 heißt: cum pane et vino vere exhibeantur corpus et sanguis Christi Diese Formulierung trägt den Ergebnissen der Wittenberger Konkordie von 1536 Rechnung.25 Auffallig ist, was aus den wenigen Zeilen des Rechtfertigungsartikels von 1530 geworden ist, nämlich regelrecht eine kleine Abhandlung. Das Rechtfertigungsverständnis. Wenn man sich den Artikel IV der Confessio Augustana Invariata von 1530 anschaut, dann ist es bewundernswert, auf welch knappem Raum er es verstand, das Proprium protestantischer Theologie präzise wiederzugeben. Um so mehr fällt die Breite des veränderten Artikels ins Auge. Der Rechtfertigungsartikel der Confessio Augustana Variata besteht aus vier Teilen: 1. Die Ursachen für das Verständnis der Rechtfertigung; 2. was iustificatio ist und was sie nicht ist; 3. das Wirken der Gnade, nämlich die consolatio conscientiae; 4. was Glaube meint. Gleich im ersten Satz des überarbeiteten Artikels wird mit der Aussage „ut autem consequamur haec beneficia Christi, scilicet remissionem peccatorum, iustificationem, et vitam aeternam"26 das Rechtfertigungsverständnis unmißverständlich in die Christologie zurückgebunden; der Artikel ergibt sich somit notwendig aus dem Christusgeschehen und stellt nicht nur eine Privatmeinung dar. Hier ist sicherlich eine Auseinandersetzung mit der altgläubigen Kontroverstheologie zu sehen. Gerade dies klarzumachen, daß iustificatio so und nicht anders die Konsequenz aus dem rechten Christusverständnis darstellt, mußte das Anliegen sein. Noch ein zweiter Strang führt unweigerlich auf das Iustifikationsverständnis hin: die Erbsünde, in Artikel II als „horribilis caecitas et inobedientia"27, als Blindheit, als irreparable „naturae humanae corruptio, defectus iusticiae seu integritatis, seu obedientiae originalis"28 bezeichnet; sie bewirkt, daß kein Mensch dem Gesetz Genüge tun kann. Die Abkehr von Gott manifestiert sich hier im „Ungehorsam", in der Unfähigkeit, Werke zu tun, die Gott gefallen; in

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Vgl. CR XXVI, 358f. CR XXVI, 357; in der CAinvar hieß es: corpus et sanguis Christi vere adsint, et distribuantur vescentibus in coena Domini..." (CR XXVI, 278). 25 Vgl. hier insbesondere Maurer: Confessio ..., a.a.O. S. 133-135. 26 CR XXVI, 352f. 27 CR XXVI, 351; vgl. auch Maurer: Confessio ..., a.a.O. S. 124, der dies eine eher augustinische Formel nennt. 21 CR XXVI, 351. 24

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dieser Betonung der „inoboedientia" scheint die Last der Erbsünde auf einen moralischen Defekt verkürzt zu werden, und somit scheint es erklärtes Ziel der Rechtfertigung zu sein, in den Stand der „integra natura" zurückzuversetzen, den Menschen genau dazu zu befähigen, das Gesetz Gottes wieder erfüllen zu können. Auch der freie Wille wird in Artikel XVIII zuvorderst deshalb als nichtig erklärt, weil er unfähig ist, das Gesetz zu erfüllen.2' Hinsichtlich der spirituales motus30 wird eine infirmitas festgestellt, die der Hilfe des Heiligen Geistes bedarf. Dieses hieße bei einer interpretatio ad malam partem: Der freie Wille ist nicht tatsächlich nichts, sondern er ist nur dann nichts, wenn er nicht regiert wird vom Heiligen Geist.31 Mit Hilfe des Heiligen Geistes wird die „spiritualis iusticia"32 in uns gewirkt. So sehr auf der einen Seite festgehalten wird, der Mittler Christus wäre völlig umsonst, wenn der Mensch durch sich selbst etwas vermöchte, und der Mensch „non potest efficere, nisi Spiritus sanctus gubernet et adiuvet corda nostra"33 bzgl. seiner interiores motus, so muß doch auf der anderen Seite deutlich gesehen werden, daß eine Unfähigkeit des freien Willens lediglich festgestellt wird beim forensischen Teil der Gerechtigkeit, und das auch nur, wenn er nicht qualitativ verbessert wird durch die Hilfe des Heiligen Geistes. Wo aber der freie Wille nicht unmißverständlich als vollständig wirkungslos entlarvt wird und als unfähig in bezug auf das Rechtfertigungsgeschehen, da wird die Tür mindestens zu einem synergistischen Verständnis geöffnet. Weiter stellt die Variata fest: Weil der Mensch so verderbt ist, klagt das Evangelium (sie!) die Sünden an und verweist auf den, der allein Mittler ist: Christus. Sowohl die Wahrheit über Gott bzw. Gottes Sohn und die Wahrheit über den Menschen weisen eindeutig in die Richtung, in der die Wahrheit über Gott und den Menschen gesehen werden muß. Dies lehrt das Evangelium. Beide Attribute für das Evangelium finden üblicherweise im Anklang an die Aussagen des Galaterbriefes im Kontext der Lehre vom Gesetz ihre Verwendung. Die Zusammennennung hier mit dem Evangelium hat zunächst zwei wesentliche Bedeutungen: einmal in die Richtung, daß Gesetz und Evangelium als die zwei Weisen des Redens Gottes zu den Menschen nicht voneinander zu 29

Vgl. CR XXVI, 363. Vgl. CR XXVI, 362. 31 Schon bei Thomas von Aquin fand sich Ähnliches; vgl. dazu Vorster, Hans: Das Freiheitsverständnis bei Thomas von Aquin und Martin Luther, (KiKonf 8) Göttingen 1965, S. 210; ebenso vgl. Auer, Johannes: Die menschliche Willensfreiheit im Lehrsystem des Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus, München 1938, hier bes. die Seiten 273-283. Zur Haltung Melanchthons in den Loci vgl. Brüls: Die Entwicklung ..., a.a.O. S. 166-180. 32 CR XXVI, 362. 33 CR XXVI, 363. 30

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trennen sind; dann aber wird vor allem das rechte Verstehen des Gesetzes erst vom Evangelium her deutlich. Nur indem das Evangelium die Unmöglichkeit entlarvt, dem Gesetz Genüge tun zu können, kann dieses so verstanden werden, daß selbst eine mögliche Erfüllung keinen Schritt aus der Gottesferne herausführt.34 Noch ein dritter Punkt kommt darüber hinaus zum Tragen. Für die erschreckten Herzen, von denen noch die Rede sein wird, liegt in der Betonung und der Hervorhebung des Evangeliums ein großer Trost. Das anklagende Gesetz ist nicht das Ende des Heilsweges, sondern sein Anfang insofern, als das Herausrufen aus dieser Anklage immer schon unlösbar damit verbunden ist. Wenn also hier das Anklagen und das Lehren mit dem Evangelium zusammen genannt werden, dann u.a. deshalb, um die verzweifelten Gewissen sofort in die Liebe und die Gnadenzusage Gottes zu bergen. Trotz dieser offensichtlichen Intention geschieht durch diese Attributverschiebung etwas Wesentliches, vielleicht nicht Beabsichtigtes. Das Evangelium überlagert in ganz eigenartiger Weise das Gesetz, so daß dieses völlig hinter der Bedeutung des Evangeliums zurücktreten muß. Und eben dies ist dann in letzter Konsequenz kein unterschiedenes Beieinander mehr, sondern eine Überdeckung des einen durch das andere; es schleicht sich bei aller guten Absicht eine Sichtweise ein, nach der dann Gott nicht mehr in zwei Weisen redet, sondern mit der einen die andere einschränkt, was dann auch Konsequenzen für die Ethik hat. Sie muß bei dieser Hintansetzung des Gesetzes in einen Kausalitätszusammenhang mit dem Evangelium gestellt werden.35 Dies wiederum scheint ein klares Zeichen dafür zu sein, daß gute Werke keinerlei Eigendignität haben, sondern immer nur als Konsequenz der Gnadenzusage betrachtet werden dürfen. Dennoch muß gefragt werden, was das Gesetz dann noch für eine Bedeutung hat. Geht man aus von den tres usus legis, so wird der usus theologicus als anklagendes Gesetz zurückgestellt, denn diese Aufgabe hat das Evangelium in der Formel des „Anklägers" übernommen; sicher bleibt der usus civilis oder politicus; schwierig aber wird es mit dem tertius usus, der von der Möglichkeit einer Erfüllung des Gesetzes nach der Gerechtsprechung redet. Ist das Gesetz vom Evangelium eingeschränkt, wie es die Formulierung der Variata nahelegt, so wird nicht mehr eigentlich das Gesetz erfüllt, sondern ein „neues" Gesetz, das von der Gnadenzusage des Evangeliums lebt. Somit wird zwar - wie erwähnt - die Heilszusage vor jedes Werk gestellt und damit jedes opus als vom Heiligen Geist gewirktes seiner Proprietät und Eigendignität beraubt; gleichzeitig aber ist diese Aussage nicht ausdrücklich und ausreichend vor einem Verständnis gefeit, das - stärker als es durch den tertius usus beabsichtigt war - zu

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Zum Gesetzesbegriff bei Luther und Melanchthon vgl. Haikola: Melanchthon ..., a.a.O. 35 Vgl. dazu Maurer: Confessio ..., a.a.O. S. 128, der den Zusammenhang mit dem „Evangelium praedicat poenitentiam" (CR XXVI, 415) herstellt. 120

der Meinung gelangen könnte, daß eben diese guten Werke nicht bloße, sondern notwendige Früchte sind. Auch die Betonung der consolatio ist letztlich nicht unproblematisch. Bei der Behandlung der Tröstung der Gewissen verschärft sich der Eindruck, eben diese consolatio scheine das Rechtfertigungsverständnis zu bedingen. Nur durch den Glauben kann Vergebung gewiß sein, wenn sie nämlich nicht abhängt von unserer Würdigkeit36, von vorhergehenden Werken oder von der Würdigkeit der Buße. In dieser Spitze gegen die spätscholastische These des „facere, quod in se est" und gegen das monastische Ideal eines von Buße erfüllten und daher seligmachenden Lebens scheint der Gewißheitsfaktor wiederum der Ausgangspunkt, nicht die Folge der Rechtfertigung zu sein („Fieret enim"). Melanchthon unterstreicht, die Sündenvergebung wäre ungewiß, wenn sie zuteil würde „postquam earn praecedentibus operibus meriti essemus, aut satis digna esset poenitentia."37 Er befindet sich hier deutlich in der Diskussion mit seiner Ansicht nach die Gewissen verwirrenden Positionen in der Rechtfertigungslehre; aus dieser Perspektive sind sowohl die Ausklammerung der nachfolgenden Werke als auch der Zusatz, die Buße sei nicht ,jatis digna", erklärlich. Jedoch sind die Formulierungen bei isolierter Betrachtung auch für die altgläubige Seite lesbar. Insbesondere die Tatsache, daß der Wittenberger expressis verbis an dieser Stelle nur von den praecedentia opera spricht, scheint im Hinblick auf seine Aussagen in Artikel XX von Bedeutung zu sein. Dort ist nicht immer eindeutig genug herauszulesen, auch die Werke des Gerechtfertigten seien nicht aus sich heraus verdienstlich. Eine ähnliche Rückführung in die anthropologische Notwendigkeit einer so und nicht anders zu verstehenden Rechtfertigung ist im dritten Abschnitt zu finden. Hier ist noch einmal explizit von der „firma et necessaria consolatio" die Rede, die durch das Wissen darum geschieht, daß „eam [i.e.: remissionem] non pendere ex conditione nostrae dignitatis, sed donari propter Christum."38 Da das Gewissen kein Werk findet3', das dem Zorne Gottes entgegenstehen kann, wird Christus uns geschenkt und als Versöhner vor Augen geführt. Das Zitat am Schluß streicht das „sola fide" für die Heilung ausdrücklich heraus. 36

Zum Begriff „dignitas" statt „meritum" vgl. Maurer: Confessio ..., a.a.O. S. 127f; die Konsequenz S. 127 kann ich so jedoch nicht teilen. 37 CR XXVI, 353. 38 CR XXVI, 353. 39 Vgl. Melanchthons Schrift „Die fürnemisten Unterschied zwischen reiner Christlicher lere des Evangelii und der Abgöttischen Papistischen Lere" (bei: Stupperich, Robert. Der unbekannte Melanchthon. Wirken und Denken des Praeceptor Germaniae in neuer Sicht, Stuttgart 1961, S. 158-169), wo er (S. 165) nur Werke anprangert, die „eigene ... on Gottes bevelh" ausgegeben werden. 121

Dieses „sola fide" wird nun im letzten Teil bzgl. des Glaubensbegriffes näher erläutert, wobei ein bloßer historischer Glaube scharf abgelehnt wird gegen einen Fiduzialglauben, der ein „credere et assentiri huic promissioni" ist und „remissio peccatorum, iustificatio et vita aetema"40 anzeigt. Denn diese Wohltat sei „finis historiae". Leid und Auferstehung41 Christi haben darin ihr Ziel, die Vergebung der Sünde und ewiges Leben zu schenken. In dieser Schlußformel wird die iustificatio ausgeklammert, was durch den Hinweis auf das Apostolische Glaubensbekenntnis verständlich wird. Zusammenfassend betrachtet ist die Neufassung des Artikles IV über die Rechtfertigung des Menschen nur teilweise geglückt in dem Sinne, daß sie eine adäquate Explikation dessen wäre, was 1530 formuliert wurde und sich in den vergangenen zehn Jahren bis 1540 als Interpretation dessen etabliert hat. Die Umgehung des sola fide, obwohl sich diese Formel als Zuspitzung des reformatorischen Propriums durchgesetzt hatte, ist in diesem Zusammenhang problematisch. Dies gilt um so mehr, als es Melanchthon nicht zur Zufriedenheit gelungen ist, andere Formeln zu finden, die die particula exclusiva vermeiden, aber ihren Inhalt doch zum Ausdruck bringen können. Zwar macht er durch die unauflösliche Bindung des Rechtfertigungsverständnisses an die Christologie und die Erbsündenlehre deutlich, daß unter diesen Voraussetzungen keine scholastische Position - in welcher Nuancierung sie auch immer auftreten mag - mehr Geltung haben kann; dennoch läuft er mit der Überbetonung der Gewißheit der Gewissen Gefahr, die anthropologische Note in der Rechtfertigungslehre gegenüber der Soteriologie zu stark zu gewichten. Dieser Eindruck wird durch die Betrachtung des Artikels XX noch verstärkt. Dort wird gleich zu Beginn dem Spitzenvorwurf der Gegner, die Ethik aus der Justifikation auszublenden, eben diese Spitze abgebrochen, indem nunmehr ihnen unterstellt wird, sie ordneten das Christusgeschehen in seiner Bedeutung den guten Werken unter und trösteten so die Gewissen in keiner Weise. Auch hier ist bereits an dieser exponierten Stelle die Rückbindung in die Anthropologie gesetzt, auch hier ist die consolatio conscientiae ein wesentlicher Ausgangspunkt. Von nun an wiederholen sich viele Gedanken. Die Vergebung der Sünden gratis propter Christum, die erst wahre Tröstung bringt, ist dabei die Kernaussage. Weder „propter dignitatem contricionis, dilectionis, aut aliorum operum"42

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CR XXVI, 353. Statt „resurrexit" steht hier das passive „resuscitatus est"; das verstärkt den Eindruck, daß Christus zum Mittel der Versöhnung wird und nicht die Versöhnung sich von ihm her begründet. 42 CR XXVI, 358. 41

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noch „propter ... merita"43 kann Vergebung der Sünden und Rechtfertigunggeschehen, sondern allein propter Christum. Diese pointierte Betonung der Verankerung in der Christologie hat dabei zwei Seiten. Zum einen gibt die Christozentrik dem Rechtfertigungsverständnis durch dieses solus Christus Rückhalt im sola scriptura und schützt damit vor Angriffen aller Art sowie vor Verdrehungen aus dem eigenen Lager; stets wird auf Christus und sein Zeugnis der geschenkhaften Gnade zurückverwiesen. Dann aber wird auch die fides als einziges Mittel zur Rechtfertigung vor einer möglichen Interpretation in Richtung einer Instrumentalisierung als besonderes Werk bewahrt. Zur wahren evangelischen Predigt gehört nichtsdestotrotz beides: „Euangelium de fide, ad erudiendas et consolandas consciencias, debet etiam proponi, quae sint vere bona opera, qui sint veri cultus Dei."44 Dazu ist das Predigtamt eingesetzt, den Glauben aus dem Hören zu schenken45 und den Heiligen Geist, der dann als durch Wort und Sakrament wirkender46 Früchte trägt. Durch die Vorschaltung der Evangeliumspredigt wird an dieser Stelle einem Verständnis vorgebeugt, das aus dem Predigen der guten Werke eine Einbindung dieser in die iustificatio heraushören könnte. Das Evangelium klagt die Sünden an, verheißt aber gleichzeitig allen, die glauben, die Vergebung dieser Sünden, und zwar wirklich allen, was z.B. auch jede leidige Diskussion um die Frage der Prädestination ausschließt.47 Die dadurch erreichte Tröstung aber bewirkt, so heißt es im Artikel V (Vom Predigtamt): „... concipiunt corda caeteras virtutes, agnoscunt vere misericordiam Dei, concipiunt veram dilectionem, verum timorem Dei, fiduciam, spem auxilii divini, invocationem, et similes fructus spiritus."4« Hier erfolgt der Schritt in die moralische Konsequenz sehr plötzlich, und die Hinzusetzung des „verus" ist in der Form mindestens mißverständlich, kann dies doch auch so verstanden werden, daß diese Elemente vorher lediglich unvollkommen waren, während sie nun diese „Tugenden" voll entfalten können. Genau in diese problematische Richtung weist auch eine Formel aus Artikel VI (Vom neuen Gehorsam): „... necessario sequi debeat, iusticia bonorum operum."4'

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CR XXVI, 354. CR XXVI, 364. 45 Vgl. CR XXVI, 354. 46 Vgl. CR XXVI, 354. 47 Vgl. Maurer: Confessio ..., a.a.O. S. 128f. 4 « CR XXVI, 354. 4 ' CR XXVI, 355. 44

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Neben der iustitia civilis gibt es nun auch eine iustitia spiritualis, wobei diese von Gott gewirkt ist, jene im Machtbereich des Menschen liegt.50 Dieser bemerkenswerte Ausdruck ist nicht von der Hand zu weisen, auch wenn im folgenden immer betont wird, daß der neue Gehorsam nur gefällt, „non quia legi satisfacit, Sed quia persona est in Christo reconciliata fide, et credit sibi reliquias peccati condonari."51 Somit wird vielleicht nicht unbedingt in der Sache, zumindest aber in Worten einer Verselbständigung der Werke hinsichtlich einer Eigendignität im Rechtfertigungsgeschehen Vorschub geleistet.52 Es wundert somit kaum noch, wenn in Artikel XX formuliert wird, daß Glaube der höchste Gottesdienst ist, ein „opus spiritualis", der als vertrauender und die Verheißung annehmender53 Glaube nicht nur „parit multas alias virtutes", sondern selbst virtus ist54, der wie alle guten Werke Lohn hat, „cum in hac vita, tum post hanc vitam in vita aeterna".55 Die gesamte bisher eher angedeutete Doppelbödigkeit der überarbeiteten Fassung dessen, was auf evangelischer Seite unter Rechtfertigung zu fassen ist, kommt dann noch einmal zum Ausdruck, wenn es heißt: „Quanquam igitur haec nova obedientia, procul abest a perfectione legis, tarnen est iusticia, et meretur premia, ideo quia personae reconciliatae sunt."56 In diesem Satz ist klar das Bemühen erkennbar, nicht von irgendeiner etwaigen iustitia propria des Menschen zu sprechen oder von einer Annahme und Würdigung der guten Werke, die von der Person absehen könnten. Dennoch fehlt diesen Sätzen die Kraft, weil es nur Nebensätze sind. So läßt sich schlimmstenfalls interpretieren, daß das „fieri nos ex iniustis iustos", der effektive Teil der Rechtfertigung, vermengt wird zu einer moralischen Qualität im Menschen; jedenfalls ist eine deutliche Unterscheidung nicht festzustellen. Wer genau hinschaut, findet in Aufbau und Aussagen der Confessio Augustana Variata erstaunliche Parallelen zu der überarbeiteten deutschen Fassung von 50

Vgl. zur Andeutung in der Invariata Maurer, Wilhelm: Studien über Melanchthons Anteil an der Entstehung der Confessio Augustana, in: ARG 51 (1960), S. 158-207, hier S. 192-199. 51 CR XXVI, 355. 52 Nach Maurer: Confessio ..., a.a.O. S. 126 „im Grunde nichts Neues"; sicher ist es nicht neu, daß Glaube und Werke zusammengehören; aber daß diesen Werken - auch als Gabe Gottes - Gerechtigkeit zuerkannt wird, ist neu! Vgl. seine eigenen Bemerkungen S. 130-132. 53 Vgl. CR XXVI, 367; zu der hier aufgenommenen Paulus/Jakobus-Kontroverse vgl. auch unter 2.2.3.2. 54 CR XXVI, 368. 55 CR XXVI, 371. 56 CR XXVI, 369. 124

1533. Gerade Artikel IV zeigt hier auffällige Anklänge z.B. in der ausdrücklichen Einbindung des Artikels in das Erbsündenverständnis und die Hineinnahme der Gewißheit der Gewissen, die nur durch eine iustitia aliena extra nos gewährleistet sein kann; der Schlußabschnitt der CAvar wirkt wie eine fast wörtliche Übersetzung dieses Textes. Darüber hinaus aber lassen sich auch Unterschiede feststellen, die die gesamte Problematik der Variata offen zutage treten lassen. So kann die Schrift von 1533 zwar auch von den moralischen Konsequenzen der Erbsünde sprechen, ohne jedoch diesen Defekt in der Weise zu exponieren, wie es dann die Variata tun wird; sie betont dagegen die „sundliche natur" und die Verdammung in jeder Hinsicht. Ferner findet noch nicht die zwiespältige Überlappung des Gesetzes durch das Evangelium statt. Zwar „lehrt" auch hier das Evangelium die Vergebung der Sünden ohne Verdienst, aber es ist nicht „Ankläger" im streng gesetzlichen Sinne. Ausdrücklich betont die Schrift an zwei Stellen, es könne kein Werk gefunden werden (weil es nämlich keines gibt), welches Gott wohlgefällig wäre, wo die Variata nur formulieren kann, daß das Gewissen kein Werk findet (was eben nicht heißt, daß nicht doch eines existiert). Und schließlich: Wo die Variata von dem „finis historiae" durch die beneficia Christi spricht, da fehlt just nur diese Stelle in der veränderten deutschen Fassung; und das heißt für die Variata: Mit dem finis historiae wird zugleich auch die historia Christi und die Geschichte vor dieser historia relativiert. An dieser Stelle ist eine Aufweichung alles „Prae-Evangelischen" zu beobachten, die - wie gesehen - gewisse Probleme aufwirft hinsichtlich der Einbindung der guten Werke in das Leben des Gerechtfertigten unter dem Evangelium; denn so kann nicht mehr scharf unterschieden werden, ob es sich um Werke handelt, die geschehen, weil Rechtfertigung geschehen ist, oder ob man dies nicht doch auch so verstehen kann, als ob sie immer noch geschehen müssen, damit die verheißene und zugesprochene Gerechtigkeit dann letztendlich angerechnet wird. Zusammenfassung. In der Confessio Augustana Invariata fand unter Ausnutzung der Feinheiten der lateinischen Sprache eine Abgrenzung gegen die traditionelle Theologie statt, wie sie schärfer nicht sein konnte. Ohne Wenn und Aber wurde dort ein „gratis propter Christum per fidem" gegen jede noch so subtile Form einer wie auch immer gearteten iustificatio propriis viribus, meritis et operibus gestellt, ohne daß die particula exclusiva „sola fide" explizit genannt werden müßte. In der kontroverstheologischen Auseinandersetzung führte genau das Fehlen dieser beiden Wörter in der Folgezeit zu Mißverständnissen und Fehlinterpretationen. So entstand die Notwendigkeit, den Text an dieser Stelle erläuternd und erklärend zu überarbeiten. Geschah dies zunächst ohne Veränderungen am eigentlichen Textbestand, statt dessen in Form der Apologie, also gewissermaßen in einer langen Fußnote", ist in der veränderten deutschen

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Wie an anderer Stelle durch den „Tractatus de potestate et primatu papae". 125

Fassung von 1533 bereits deutlich spürbar, daß im Bekenntnistext selbst Raum sein mußte für Zusätze, die der Klarheit dienlich sind, ohne am inhaltlichen Kern etwas zu ändern. Was in diesem Sinne 1533 voll und ganz gelungen ist, nimmt aber 1540 angesichts der Religionsgespräche und also dem zusätzlichen Bemühen, der Seite der Altgläubigen entgegenzukommen, Formen an, die diesem Anspruch nicht mehr in jeder Hinsicht gerecht werden können. Statt bloß zu verdeutlichen, woher sich ein Justifikationsverständnis legitimiert, das nur so und nicht anders aussehen kann, und statt bloß den Ort der guten Werke evangeliumsgemäß zu bestimmen, fließt in den neuen Bekenntnistext nahezu unmerklich ein Ton ein, der zugunsten einer vor allem auch praktisch orientierten Anthropologie argumentiert; die Verzweiflung der Gewissen angesichts der Unmöglichkeit der Erfüllung göttlicher Gebote und die Tröstung derer durch die Gewißheit der iustificatio gratis propter Christum nimmt sowohl in Artikel IV als auch in Artikel XX einen so breiten Raum ein, daß eine vielleicht unbeabsichtigte Verschiebung in der Wertigkeit eintritt. Sollte damit der gegnerischen Seite das Faktum menschlicher Unzulänglichkeit überdeutlich vor Augen geführt werden, um damit jede nur denkbare Variante einer aus eigenen Möglichkeiten erreichten Gerechtigkeit coram Deo auszuschließen, so gelangt genau dadurch auf der anderen Seite ein psychologisierendes Moment in die Argumentation, welches die Strenge der Lehre sola scriptura aufzuweichen droht. Dazu kommen in beiden Artikeln sowie auch vereinzelt in anderen immer wieder Formulierungen vor, womit die particula exclusiva just dieser Exklusivität beraubt zu werden scheint oder sie jedenfalls nicht hinreichend unterstützt wird. Man kann annehmen, durch diese Neuformulierungen sollte bewußt eine gewisse Öffnimg zum katholischen Lager geschaffen werden, so daß sich gerade die schwankenden Stände vielleicht hätten entschließen können, sich gänzlich der evangelischen Seite zuzuneigen. Insofern wäre es auch etwas zu weit gegriffen, dem Verfasser der Variata, also Melanchthon, etwa vorzuwerfen, er vertrete eine Form von Werkgerechtigkeit; dennoch wäre es genauso verfehlt, über die Variata zu urteilen, daß Melanchthon in ihr „diese [reformatorische] Theologie weder verleugnet noch verfälscht" hat58. Das „gratis" und das „sola" werden im Zuge der Loci Melanchthons mit mindestens mißverständlichen Formeln entschärft. Wenn auch die Vokabeln noch stehen, muß die Frage erlaubt sein, ob nicht bei konsequentem Weiterdenken die Inhalte dieser Vokabeln aufgegeben werden, und dies nicht allein aus „logischen Sachzwängen", sondern aus einem dann doch grundsätzlich anderen theologischen Ansatz heraus, der von einer

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So Maurer: Confessio ..., a.a.O. S. 132; er führt dazu auch einige Lutherworte an, die in dieselbe Richtung zu gehen scheinen; ich denke aber, er rückt das Bild hier etwas zurecht: Wenn Luther sagt „opera sunt necessaria ad salutem, sed non causant salutem, quia fides sola dat vitam" (zit. nach ebd. S. 133 Anm. 104), dann ist das etwas anderes, als wenn die Variata eine Gerechtigkeit für die Werke nennen kann, obwohl sie diese in Nachsätzen immer wieder relativiert.

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positiveren Anthropologie ausgeht und immer noch Gott alles, aber dem Menschen nicht mehr nichts zuschreibt. Besonders deutlich scheint mir dies im Vergleich zum Wittenberger Gutachten zu sein, in dem man befürchtete, es würden wieder Versuche unternommen werden, um aus dem „sola" ein „fide et operibus" usw. zu machen." Genau das aber, was hier als Irrtum glossiert wird, deutet die Variata schließlich selbst an. In den Loci von 1533 steht expressis verbis®, was in der neubearbeiteten CA von 1540 latent auch herauszulesen ist: Homo iustificatur fide et operibus. Diese Öffnung hin zum traditionellen katholischen Verständnis nur auf die historischen Umstände (sprich: die Religionsgespräche und den Versuch, einige Territorien für sich zu gewinnen) zu schieben, scheint mir ebenso nicht ganz zweifelsfrei. Insbesondere bei der Ämterfrage und in dem die Mißbräuche behandelnden zweiten Teil der Confessio Augustana Variata ist diese Offenheit keineswegs spürbar - warum also ausgerechnet im Herzstück der reformatorischen Lehre, von dem es - wie auf der Schmalkaldischen Bundestagimg beschlossen - in keiner Hinsicht zu weichen galt? Es sei noch einmal betont, daß es einer genauen Untersuchung des melanchthonischen Rechtfertigungverständnisses bedürfte, um die Veränderungen der CA Variata noch angemessener zu beurteilen. Mindestens soviel wird man festhalten dürfen, daß sich der Wittenberger Magister in den Augenblicken, wo es darauf ankam - etwa beim Gespräch mit Johannes Eck oder insbesondere bei den Debatten des Regensburger Reichstages -, als strenger Vertreter des sola fide, seiner Voraussetzungen und seiner Konsequenzen, erwiesen hat. Diese Tatsache darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß es Melanchthon in der CA Variata nicht immer überzeugend gelungen ist, das Proprium reformatorischer Rechtfertigungslehre sprachlich zu fassen. 2.2.3.2 Die Vorgespräche der Protestanten vom 9. bis 18. November 1540 Bei der Behandlung der Confessio Augustana Variata trat zutage, daß mit Melanchthons eigenen Vorstellungen über den Begriff der Rechtfertigung Formulierungen und Gedanken in den Bekenntnistext von 1530 eingetragen wurden, die, möglicherweise ohne es zu wollen, mindestens der sprachlichen, dann aber auch der inhaltlichen Schärfe und Klarheit des „sola fide" Abbruch tun; wurde dieses 1530 auch nicht ausdrücklich benannt, so war es dennoch aus den überlegten Formulierungen deutlich herauszulesen. Dabei erheben sich nunmehr zwei wesentliche Fragen: Zum einen ist es natürlich ein berechtigter Einwand, daß in der Tat auch 1540 kein .Dogma' zur

" Vgl. die Erörterung dazu hier unter 2.2.2.1. 60 Wenn auch nur in der Kontroverse Paulus/Jakobus; freilich nimmt die Variata diesen Punkt auf (CR XXVI, 367) und übersieht nolens volens, daß Jakobus ja nicht dem historischen den zustimmenden Glauben entgegensetzt, sondern Werke - und also widersprechen sich Paulus und Jakobus doch, und zwar elementar; vgl. dazu hier später. 127

Rechtfertigung im strengen Sinne existierte, also eine gewisse Freiheit im Umgang mit Texten und Formeln bestand und die CA nicht rechtsverbindlich oder verpflichtend im heutigen Sinne war. Auch die Tatsache, daß sie Bekenhtnisgrundlage für die „Augsburger Religionsverwandten" 1536 in der Wittenberger Konkordie de iure wurde (de facto vielleicht schon früher), hindert nicht daran, am Wortlaut etwas zu ändern, sofern davon der Inhalt nicht berührt wurde. Gewiß kann man schon eher von einer Konfessionalisierung in dem Sinne sprechen, daß es deutlichere Grenzen in der Lehre gab, als die Forschung, ausgehend von der rechtlichen Bestimmung, den Anschein erweckt.' Von daher also ist zu fragen, wie die Protestanten selbst 1540 über das Thema der Rechtfertigung dachten und disputierten, ob sich etwa in ihren Stellungnahmen und Voten Gedanken finden, die erhellend auf das Problem wirken, was in der CA Variata noch reformatorisch ist und was nicht, ja, was 1540 überhaupt der status quo hinsichtlich des Justifikationsverständnisses war. Dann aber ist es von Wichtigkeit und großem Interesse, ob diese - der Begriff in Anlehnung an das Urteil Luthers über die CA Invariata sei erlaubt - .LeisestTreterei', diese Aufweichung der particula exclusiva Proprium melanchthonischen Denkens und Formulierens war, oder ob es allgemein im protestantischen Lager Tendenzen in diese oder aber in ganz andere Richtungen gab. Die Beantwortung dieser Frage wird insbesondere da relevant werden, wo es um die Einschätzung der erzielten Einigungsformeln im Wormser bzw. Regensburger Buch geht. Wer konnte sich in diesen Formeln wiederfinden, und bei wem mußten sie auf Ablehnung stoßen? Galt allgemein, was der sächsische Kurfürst Johann Friedrich in Anlehnung an das Wittenberger Gutachten in der Instruktion zum Wormser Tag seinen Gesandten mit auf den Weg gab: „Aber inn allewege sollenn unnsere Rete und Theologen darann sein, damit man dises tails bei den artickeln inn unnser Confession unnd Apologia Inn Wortten unnd Sinnen bleibe ... Unnd Sollenn ... dermassen dabei... bleibenn, das sie auch nicht einreumen sollenn, solche artickel mit neuen, unvorstentlichen oder unngewarlichen wortten zuvortunckeln oder misvorstenndig zumachen lassen."2 Klarheit bringen diesbezüglich die Aufzeichnungen über die Vorgespräche in Worms, die namentlich in den Aufzeichnungen des Augsburger Sekretarius Wolfgang Musculus vorliegen und einen unvergleichlichen Einblick gewähren in die Atmosphäre im protestantischen Lager in diesen Tagen. Dazu sei zunächst ein Blick auf die historischen Umstände und den Gesamttext geworfen. Der Gesamttext. Wie in der allgemeinen historischen Einführung erwähnt wurde, verzögerte sich der für den 29. Oktober vorgesehene Gesprächsbeginn

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Freilich ist eine Begrifflichkeit, die sich formaljuristisch orientiert, auch wesentlich unverfänglicher - auf den ersten Blick jedenfalls. 2 Weimar 4, fol. 13-13v. 128

um gut einen Monat. Zähe Diskussionen um den Verhandlungsmodus schoben ihn immer wieder heraus. Dies wurde allseits - zumindest offiziell - beklagt; doch keiner der Beteiligten unternahm etwas Wirkungsvolles, um zu einem schnelleren Beginn zu kommen. So zermürbend und nicht zuletzt kostspielig dies auf der einen Seite auch war, so ergab sich doch auf der anderen Seite sowohl für die Altgläubigen als auch für die Protestanten die Möglichkeit, noch einmal verschiedene Themen intern zu disputieren, um dem Gegner entsprechend entgegentreten zu können. Gerade den Evangelischen mußte daran gelegen sein, als geschlossene Einheit aufzutreten; denn der Versuch der Katholiken, mit einer Aufspaltungstaktik die Brüche im eigenen Lager zu verdecken, war abzusehen. So fanden vom 9. bis 18. November die Vorgespräche der Protestanten statt über die Themen Rechtfertigung, Gelübde, Meßopfer und Papstprimat. Zwar war auf dem Bundestag zu Schmalkalden deutlich bekräftigt worden, alle Bundesverwandten stünden einmütig hinter den Aussagen der Confessio Augustana und der Apologie; dennoch schien in diesen Punkten noch Klärungsbedarf zu bestehen, damit verhindert würde, daß etwa in Privatgesprächen einer der Gesandten in eine Richtung abdriftete, die letztlich die ganze Sache gefährden könnte. Ein Ansatzpunkt in diesen entscheidenden Fragen hätte u.U. schon genügt, die katholische Seite zu stärken, die reformationsfreundlichen Stände ins altgläubige Lager zurückzuführen und die ohnehin konservativen Kräfte in ihrer Ansicht zu bestärken, die Evangelischen seien ja nicht einmal unter sich einig. Die Auswahl gerade dieser vier Themen, über die intern diskutiert wurde, ist sicher nicht zufallig; schon Luther hatte sie (wie zuvor dargelegt) in den Schmalkaldischen Artikeln als diejenigen herausgestellt, über die mit Rom nicht zu diskutieren sei. Die inhaltliche Begründung für die Exponierung dieser Themen liegt dabei auf der Hand. Der Bereich der Justifikation war - gerade weil Dreh- und Angelpunkt des genuin Reformatorischen - stets auch der empfindlichste; hier wäre jede Unsicherheit gleichbedeutend gewesen mit einer frühzeitigen Aufgabe; an dieser Stelle mußte sich beweisen, ob die .Neuerer' in der Lage waren, tatsächlich sola scriptura solo Christo etwas zu sagen über das Verhältnis Gott/Mensch. Und es war klar, wie schnell besonders auf diesem Terrain Pfade beschritten werden konnten, die den Aussagen der CA und der Apologie in letzter Konsequenz nicht mehr gerecht werden würden; eine saubere, unzweifelhafte Sprache war hier gefordert, jede Formulierung war bedeutend. Zudem galt es, für das Rechtfertigungsverständnis sola fide den Schriftbeweis zu erbringen, da mit dem Vorwurf gerechnet werden mußte, diese Formel finde sich in der Schrift nicht explizit; es war also eine intensive Vorbereitung auf eine exegetische Auseinandersetzung nötig. Martin Bucer hatte 1539 in seinem fiktiven Dialog im Blick auf die Religionsgespräche erkannt:

129

„Nun ist dieser articul von der justification ... der hauptarticul, an dem eynmal alle reformation der Kirchen hanget."3 Die Frage des Meßopfers bzw. die gesamte Abendmahlsproblematik war 1540 erklärlicherweise noch offen. Auch wenn mit der Wittenberger Konkordie eine vorläufige Konsensformel mit den Oberdeutschen gefunden war, so lag doch hier noch genügend Zündstoff verborgen, der nur darauf wartete, in Brand gesetzt zu werden. Dazu kam, daß auf jeden Fall ein Dilemma wie in Augsburg zehn Jahre zuvor vermieden werden mußte. Es durfte unter keinen Umständen eine neue offensichtliche Spaltung geben zwischen den Oberdeutschen und den Anhängern des Augsburger Bekenntnisses; es galt, die Evangelischen als eine Gruppe zu demonstrieren und nicht als Konglomerat verschiedenster Parteien, die nur in einer Gegnerschaft zur Papstkirche ihr einigendes Band fanden. Dieser letztgenannte Punkt drängte ebenfalls nach einer endgültigen Stellungnahme. 1530 hatte er dem Bekenntnis den Ruf der „Leisetreterei" eingebracht. Das klare Nein zum Papstprimat stand immer noch aus. Zwar gab es den „Tractatus de potestate et primatu papae" Melanchthons, der ein für allemal die Ansprüche des Papsttums in die Schranken wies; aber dieser Text hatte noch nicht den offiziellen Bekenntnischarakter wie die CA und die Apologie. Somit waren auch hier ein Handlungsbedarf und die Notwendigkeit gegeben, eine klare, einmütige Aussage zu treffen, zumal wohl allenthalben bewußt war, welch entscheidende Rolle diesem Religionsgespräch zukam. Die Protestanten waren in einer ausgesprochen guten Ausgangslage. Angesichts folgender beider Tatsachen: a) sie wurden wegen der Türkengefahr dringend gebraucht und b) die gegnerische Partei befand sich in einem mehr als desolaten Zustand, konnten sie sich eine ganze Menge herausnehmen, ohne ernstliche Konsequenzen befürchten zu müssen. Hier war also eine Chance zu sehen, wie sie vielleicht nicht wiederkommen würde und die es daher zu ergreifen galt. Etwas fremd in diesen Hauptstücken nimmt sich dagegen die Debatte über die Gelübde aus, die am 17. November geführt wurde; doch auch die Diskussion hierüber ist verständlich, denn es zeigt sich hierin, ob das Verständnis dessen, was die iustificatio impii meint, auch in diesem Bereich gegriffen hat, der davon lebt, daß es perfecti und imperfecti gibt und ein monastisches Leben Gott wohlgefällt. So fanden also an zwei Tagen, am 9. und 10. November, die Gespräche über Rechtfertigung und Erbsünde statt, am 11. und 12. wurde über den Abendmahlsartikel debattiert, am 17. November über die Gelübde und am 18. schließlich über den Papstprimat.''

3

BDS Vn, 434/3-5. Zu den Gesprächsteilnehmern vgl. die Biogramme bei Neuser: Vorbereitung ..., a.a.O. S. 56-65. 4

130

Über die Vorgespräche der Protestanten gibt es zwei wesentliche Quellen: Das Protokoll des Augsburger Sekretärs Wolfgang Musculus, der in den Listen als Notar der Evangelischen aufgeführt wird5, gibt relativ detailliert die einzelnen Stellungnahmen wieder; die Aufzeichnungen des Hamburger Gesandten Martin Frecht verstehen sich eher als Zusammenfassungen und sind nicht so ausführlich wie die Notizen Musculus'; zudem liegt der Bericht Frechts leider nicht mehr original vor6, sondern nur noch im Druck Paul Röders7, so daß hier, was die Genauigkeit betrifft, Vorsicht geboten ist. Gleichwie läßt sich aus diesen Aufzeichnungen recht gut ein Stimmungsbild aus dem protestantischen Lager ablesen und ein Einblick gewinnen in den theologischen Standort der einzelnen Teilnehmer; bedauerlich ist nur, daß die einzelnen Positionen uns lediglich eher statementartig begegnen und es daher nicht möglich ist, etwa eine wirkliche Debatte oder Diskussion nachzuvollziehen. Begonnen hatten die Vorgespräche am 9. November zur 7. Stunde in der Unterkunft der sächsischen Gesandten, und zwar offenbar auf Veranlassung des sächsischen Kurfürsten, der selbst nicht anwesend war, dessen Gesandte Franz Burkhardt und Kilian Goldstein jedoch im Frechtbericht ausdrücklich erwähnt werden. An der Confessio Augustana entlang wurden die einzelnen strittigen Artikel dann verhandelt, wobei Melanchthon die Rolle des Gesprächsleiters zufiel. Er war derjenige, der die ersten drei Artikel über Gott, Christus und Erbsünde als nicht diskussionswürdig überging, beim Artikel „De peccato" mit der Begründung „cum sanioribus adversariis facile posse transigi.'" Mit dieser Bemerkung ist dann aber gleichzeitig etwas anderes sehr deutlich. Es ging in diesen Vorgesprächen weniger darum, innerhalb der Protestanten erst zu einem Konsens zu finden, als vielmehr darum, wie in einer eventuellen Diskussion mit den Gegnern der eigene Standpunkt so vertreten werden konnte, daß mit den „sanioribus" (d.h. wohl denjenigen, die den Evangelischen ohnehin zuneigten) eine Vergleichung möglich wäre. Ähnliches läßt sich aus dem Parallelbericht Musculus' herauslesen, wenn dort bereits beim ersten Artikel festgestellt wird: „in quo nobis adversandum putent'".

5

Vgl. etwa Bern, fol. 44, Düsseldorf, fol. 44, München 2, fol. 108a u.ö. (gedruckt in ARC ΠΙ, Nr. 99, S. 226). 6 Entsprechende Archivanfragen waren bisher ergebnislos; somit scheint sich zu bestätigen, was Neuser S. 49, Anm. 102 bemerkt: Das Tagebuch ist verschollen. 7 Ex Diario MSC. Frechti, Theologi Ulmensi, in: De colloquio Wormatiensi Ad A.O.R. MDXXXX inter Protestantium et Pontificiorum Theologos coepto quidem sed non consummate» plena et succincta disquisitio ex msc. Ebneriano facta et elaborata per Jo. Paullum Roederum Norinbergae A.O.R. MDCCXXXXnn. 8 Neuser 116. ' Neuser 117.

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Nach der zwei Tage dauernden Verhandlung über diesen Topos begann dann die Debatte über die Messe, die „Melanchthon vocabat nervum Pontificatus"10, wie Frecht bemerkt. Das ist mehr als bedeutsam, denn wiederum wird hier eine intrakonfessionelle Konsensnotwendigkeit zwar auch erwähnt („Si ergo nostra bene confirmata sunt in isto articulo, facile hostium acta diluemus""); wichtiger scheint zu sein: An diesem Artikel hängt die gesamte Ekklesiologie hinsichtlich des Amtsverständnisses, und die ist in der Tat ein elementarer Nerv der gesamten Diskussion. Zunächst wurde daher die „theatricae missae applicatio"12 abgelehnt, die „Pugnat... cum doctrina fidei"13. Der Grund für dieses Gegenüber zur Lehre lag darin, daß „meritum passionis Christi transfert in opus sacerdotis"14. Im weiteren Verlauf des internen Kolloquiums brachten Johannes Brenz, der Gesandte von Schwäbisch Hall, und Erhard Schnepf, der Gesandte Württembergs auf den Punkt, was damit gemeint ist. Brenz betonte die Unterscheidung zwischen Glaube einerseits und Wort und Sakrament andererseits („... fide non administratur sed acceptatur Christi meritum, verbo autem et sacramento administratur et applicatur credentibus'"5); Simon Gryneus rückte die Einzigartigkeit Christi als summus pontifex in den Mittelpunkt: „... arbitrariam applicationem ... non esse nisi in eius potestate, qui et fidem dare potest. Hanc autem nec ecclesia nec sacerdos dare potest, sed unus ille summus pontifex, caput electorum, Christus. Ergo vanum esse, quod isti de applicatione hac meriti Christi tradunt."16 Gerade an diesem letzten Votum wird besonders schön die enge Verflechtung zwischen Abendmahlsartikel und Amtsverständnis sichtbar. Niemand außer Christus ist in der Lage, den allein rechtfertigenden Glauben zu schenken; kein Priester, ja nicht einmal die Kirche als solche, von der bislang galt: extra ecclesiam nulla salus, kann dieses tun. Ihre Aufgabe ist ein rein administrativer Dienst an den Gläubigen, aber sie ist keine Heilsvermittlerin; diese Aufgabe erfüllen Wort und Sakrament, die wirksam sind durch die Einsetzung durch Christus und nicht, indem sie vom Priester gewirkt werden. Am zweiten Tag der Debatte um das Abendmahl ging es bei den Vorgesprächen in Worms um den Opfercharakter der Messe, der aber aufs schärfste abgelehnt wurde, wie in einer Aussage Melanchthons unmißverständlich deutlich wird:

10

Neuser " Neuser 12 Neuser 13 Neuser 14 Neuser 15 Neuser 16 Neuser 132

138. 138. 138. 138. 139. 145. 145.

„At ista oblatio non est tradita a Christo, sed exhibitio corporis et sanguinis ipsius. Ergo non habent, quod Christus instituit.'"7 In die gleiche Richtung ging ein Votum Capitos: „Sacrificium, quod veteres dixerunt esse memoriale praeteriti sacrificii, non erat tale, quale est, quod isti tradunt."18 Aus einem Diskussionsbeitrag von Brenz wird wiederum die Nähe zum Amtsverständnis ersichtlich, welches mit diesem Punkt steht und fällt: „In lege minores sacerdotes non sacrificabant summo sacerdote offerente. Ergo et nos minores sacerdotes sacrificare non debemus, postquam summus noster sacerdos sacrificavit semel seipsum."" Im Bericht des Wolfgang Musculus wurde die Aussage Brenz' sogar noch erweitert: „Habemus publicum sacrificium, evangelii scilicet praedicationem ,.."20. Melanchthon brachte die gesamte Problematik, die sich daran anschließt, dann noch einmal auf den Punkt, wenn er feststellte: „Non est possibile constitute ilia theatrica missa, quam fingunt, ut non sequantur omnes reliqui errores Papistici, proinde nullo modo illis concedenda est."21 Die Debatte über die Gelübde ließ keine Frage offen, wie die protestantische Seite dazu stand; ein wenig mehr als zuvor hat man hier den Eindruck, daß die einzelnen Aussagen doch stärker von Emotionen getragen sind, wenn es beinahe pleonastisch etwa bei Melanchthon - und ähnlich dann auch bei Amsdorf und Oslander22 - heißt: „Imo et ipsa vota impossibilia, stulta, impia sunt, imposturae merae et res commenticiae."23 Hierfür wurden dann auch Bibelstellen bemüht, in denen gegen die monastischen Gelübde die evangelische Freiheit thematisiert würde, z.B. der Galaterbrief.24 Calvin dagegen betrachtete unter drei Gesichtspunkten Gelübde für zulässig und sogar nützlich und Gott wohlgefällig: 1. aus Dankbarkeit gegen Gott in einem jährlichen Ritus; 2. als eine Art der Selbstverurteilung für ein Über-die-Stränge-Schlagen; 3. als pädagogisches Mittel, um zu großem Müßiggang Einhalt zu gebieten.25 Alles andere aber (Calvin greift die Jungfräulichkeit

17

Neuser 147. " Neuser 147. " Neuser 146. 20 Neuser 149. 21 Neuser 149. 22 Vgl. Neuser 152f. 23 Neuser 150. 24 Vgl. Neuser 152-155. 25 Vgl. Neuser 156f.

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heraus) sei „plena temeritatis et audaciae"26, weil dies wie das Prophetenamt allein Geschenk Gottes sein kann, aber nicht in der eigenen Macht liegt. Am 18. November schließlich wurde als letztes über den Papstprimat verhandelt. Es scheint, als läge hier die größte Unsicherheit der Protestanten, wie dem wirkungsvoll begegnet werden kann, wenn Melanchthon formuliert: oportet habere firmam aliquam rationem contra hunc primatum."27 Es war klar: Hier war vor allem gegen eine sehr starke Tradition zu kämpfen, die sich auf das berühmte „Tu es Petrus" (Mt 16,18) berufen zu können glaubte und die anscheinend auch in den eigenen Reihen Respekt einflößte.28 Dagegen hielt Melanchthon fest, es gehe bei diesem Wort um ein Amt, nicht aber um „locorum et personarum aestimatio et successio"2'. Gerade an diesem empfindlichen Punkt der Diskussion mit den Gegnern wurden erstaunlicherweise auffallig wenig Argumente eingebracht, die zudem nicht so überzeugend sind und vor allem nicht mit der Vehemenz vorgetragen wurden, wie man es eigentlich erwarten würde. Gerade im Vergleich zu der Heftigkeit, das Thema der Gelübde betreffend, fallt dies auf. Die Schwierigkeit lag wohl in folgendem Punkt: Man war gar nicht einmal so sehr darauf aus, den Papstprimat als solchen zum Ziel des Angriffs zu machen, wenn er sich denn so verstünde, daß damit ein primum ministerium und nicht eine prima auctoritas verbunden ist. Es zeigte sich als Problem, hier einen Ton und Formeln zu finden, die beides deutlich machen konnten: Einerseits sei der Autoritätsanspruch des Papsttums durch nichts zu rechtfertigen, und andererseits müßte an dem Amt als solchem - freilich unter dieser Voraussetzung - nicht notwendig etwas geändert werden. Wenn es darum ging, ein Gespräch mit den Altgläubigen allein aus diesem Grunde schon nicht bereits von vornherein im Keime zu ersticken, mußte hier sehr vorsichtig taktiert werden. Das Rechtfertigungsverständnis in der Theologendiskussion. Bevor die Debatte über den Artikel IV der Confessio Augustana eröffnet wurde, fand eine Darlegung dieses Artikels statt; ob diese Erläuterung von Melanchthon selbst stammte und ob sie in den direkten Kontext der Vorgespräche gehörte, ist dabei allerdings nicht so sicher, wie in der Edition durch Neuser nahegelegt wird.30 26

Neuser 156 und 157. Neuser 159. 28 Dies scheint mir aus einem Votum Oslanders ersichtlich, wenn er die Vätertradition als Hindernis dafür erwähnt, eine ganz neue Auslegung dieser Bibelstelle anzuführen (vgl. Neuser 161). 29 Neuser 161. 30 Dazu einige Bemerkungen vorweg: Neuser ordnet selbständig die Folioseiten um (Bern lr-lv, die eben diese Erläuterung enthalten, werden von ihm in 2r eingefügt, zwischen die Vorstellung der ersten drei Artikel und die Diskussion um den Artikel IV); der Kodex selbst liefert diese Anordnung nicht. Dazu gibt es inhaltliche 27

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Die Betrachtung stellt eine Zweiteilung des Rechtfertigungsartikels in einen negativen und einen positiven Teil fest.31 Bevor nun diese beiden Teile näher behandelt werden, wird zunächst die Überlegung angestellt, ob der Schlußsatz des Artikels, der das Wort „iustificatio" definiert, auch zu verstehen ist als „iustum reddere, ex iniusto iustum facere, amota impietate pium efficere"32, ob also Imputatio und effektiver Teil des Rechtfertigungsgeschehens in dieser Formulierung eingeschlossen sind. Diese Frage wird positiv beantwortet mit einem Hinweis auf die Apologie. Nach dieser Vorüberlegung wird dann zunächst die Negationsformel behandelt. Hier ist auffallig, daß sofort auf die Kontroverse mit den Altgläubigen verwiesen wird, auf die allein sich die folgende Betrachtung richten wird; es wird wie ja schon im Wittenberger Gutachten - vermutet, was für Argumente die Gegner ins Feld führen könnten; anders jedoch als das Gutachten wird hier gleichsam als Handwerkszeug für etwaige Debatten ein kleines Argumentationsinstrumentarium an die Hand gegeben, das vor allen Dingen aus Bibelstellen besteht, die sola scriptura eventuellen Einwänden begegnen. Dabei wird zunächst festgehalten, die Gegner könnten die Tatsache nicht leugnen, daß „neminem iustificari coram Deo", weil dies quasi ein Zitat aus Psalm 143,2 sei.33 Ebenso könnten sie die drei Glieder der Negationsformel „propriis viribus, meritis aut operibus" nicht leugnen, wenn unter diesen alles das verstanden wird, was zeitlich vor dem Glauben und der Gnade Christi geschieht, was „humanitus fiant"34. Das ist wiederum eine recht interessante Unterscheidung, so als könnten Werke, Kräfte und Verdienste nach der Heilstat Christi doch als „propria" zur Rechtfertigung beitragen. Der Text selbst läßt zwei Interpretations-

Beobachtungen, die die Autorschaft Melanchthons in Frage stellen: Die deutliche Hervorstreichung des effektiven und imputativen Charakters der Rechtfertigung (S. 119) kollidiert mit der Auffassung des Wittenberger Magisters, diese beiden Momente stärker zu trennen (vgl. etwa Stupperich: Rechtfertigungslehre ..., a.a.O. S. 83); die Wortwahl und die Beschränkung auf Argumente aus der Apologie deuten einigermaßen sicher darauf hin, daß hier nicht die Variata zugrunde gelegt war (wie etwa offensichtlich bei der Besprechung des Erbsündenartikels), sondern die Invariata. Die Aufnahme der Witzeischen Position könnte dennoch ein Hinweis sein, daß der Text auf jeden Fall nach dem Leipziger Gespräch entstanden ist. Die Argumente dieser Position jedoch finden im weiteren Verlauf der Diskussion keinerlei Beachtung, der Name Witzeis fällt an keiner Stelle; außerdem ist im Parallelbericht Frechts keine Rede von dieser langen Einleitung, was m.E. ein weiteres Indiz dafür ist, daß deren Kontext an anderer Stelle gesucht werden muß als dort, wo Neuser ihn ansiedelt. 31 Schon diese Beschreibimg macht deutlich, hier kann nur die originale Fassung von 1530 zugrunde gelegt sein. 32 Neuser 119. 33 Vgl. Neuser 119. 34 Neuser 121. 135

möglichkeiten zu. Die erste würde davon ausgehen, daß in diesem Satz die Position der Gegner dargelegt wird, was dann gleichzeitig hieße: Diese könnten den zweiten Schritt (= auch die nachfolgenden Werke können Gott nur gefallen, weil sie von ihm selbst gewirkt sind) nicht mehr nachvollziehen. Die zweite Möglichkeit, das „humanitus fiant" zu verstehen, wäre, die Ansicht der Protestanten selbst dort widergespiegelt zu sehen; hiermit ergäbe sich dann eine ähnliche Öffnung in Richtung einer Werkgerechtigkeit, wie sie auch die Confessio Augustana Variata bot. Da später nicht mehr von den Werken nach der iustificatio die Rede ist, muß die Frage nach der rechten Deutung offen bleiben. Der zweite Teil setzt sich mit der Positionsformel der Confessio Augustana Invariata auseinander, ihrer Bestimmung des Glaubens und der Heilstat Christi, in welcher der Grund für das Rechtfertigungsverständnis zu suchen ist. Auch hier wird die Betrachtung sofort kontroverstheologisch eingebunden und möglichen Einwänden mit Bibelstellen begegnet. Dabei ist der Text wiederum sehr zuversichtlich, die Gegenseite dürfte an keiner Stelle Widerspruch erheben. Weder könnte sie die Rechtfertigung aus dem Glauben leugnen noch das Wort „gratis", und auch über die Heilstat Christi in seinem Tod für unsere Sünden könnte es keine Debatte geben35; deshalb würde der Streit - hier befindet sich der Text im Einklang mit dem Wittenberger Gutachten - über die particula exclusiva, also das „sola" gehen, weil dieses keinen Anhalt in der Heiligen Schrift habe. Darauf sei zu antworten, daß „gratis" und „sola" gleichermaßen ausschließend seien; selbst wenn also das sola so nicht in der Bibel zu fmden sei, so sei doch der Sachverhalt damit getroffen, denn es gebe genug Stellen, die von einem Geschenk der Gnade „umsonst" und „absque operibus" sprächen; zudem habe man als Zeugen weiterhin namhafte Kirchenväter - es werden Ambrosius36, Hilarius37 und Chrysostomus3' genannt -, die eben jene Stelle mit einem „sola" wiedergegeben hätten. Man hat hier ein wenig den Eindruck, als ob nicht mit sehr viel Eifer das sola verteidigt würde; gerade im Gegensatz zum Wittenberger Gutachten fällt auf, daß hier scheinbar auch auf dieses Wort

35

Vgl. Neuser 123. Vgl. etwa: „... et ex operibus legis nemo iustificatur ..." (Epistolae in duas classes distributae 73 = PL 16, Sp. 1307). 37 „Et remissum est ab eo, quod lex laxare non poterat; fides enim sola iustificat." (Commentarius in Matthaeum 8,6 = PL 9, Sp. 961) 38 Vgl. etwa: „Igitur quamprimum credideris, simul et operibus ornatus eris, non quod desint opera, sed quod per seipsam fides plena sit operibus bonis. Opera quidem erga homines et ex hominibus sunt: fides autem ex hominibus erga Deum ... Nullus sine fide vitam habuit ... opera autem per se nullos umquam operarios iustificarint." (De fide et lege naturae et sancto spiritu Sermo 1 = PG 48, Sp. 1081f) 36

136

verzichtet werden könnte, denn das „gratis" gebe ja in gleicher Weise wieder, was mit dem „sola" gemeint sei, nämlich ein „absque operibus". Auf der Basis der Aussage der Confessio Augustana Invariata und der Apologie ist dies ja auch stimmig: „gratis" und „sola fide" werden dort nahezu synonym gebraucht. Dies muß man natürlich auch bei dem vorliegenden Text zum Vorgespräch der Protestanten bedenken und nicht zuletzt seinem Verfasser zugute halten. Dennoch ist mit nicht minder großer Aufmerksamkeit zu beachten, daß sich das „sola fide" in der Zwischenzeit zu der einzig angemessenen Interpretation des reformatorischen Rechtfertigungsverständnisses durchgesetzt hat. Die Vehemenz, mit der das Wittenberger Gutachten für die particula exclusiva eintrat, war dafür ein eindrückliches Zeugnis. Besonders in der kontroverstheologischen Debatte um die Frage nach dem Heil des Menschen erwies sich das „sola" als um vieles präziser gegenüber dem auf dem Hintergrund der scholastischen Tradition mißverständlichen „gratis". Für die Altgläubigen war es unvorstellbar, daß eine creatura Dei, die mit einem liberum arbitrium ausgestattet ist, nicht wenigstens nach der Eingießung des Geistes imstande sein soll, dieser Liebestat gerecht zu werden durch das Tun guter Werke, die als fides caritate formata einer Rechtfertigung nicht mehr des Sünders, sondern des Gerechten zuwirkt. Ein Austausch des „sola fide", nachdem es sich als Ausdruck des Justifikationsverständnisses durchgesetzt hat, durch das „gratis" ist also nicht unproblematisch. Zwar werden deutlich „gratis" und „sola" parallelgestellt, und es wird sogar von „particulae illae exclusivae"39 gesprochen; dennoch kann man nicht von der Hand weisen, daß ein Verzicht auf das „sola" - etwa in einer Kompromißformel - der Seite der Altgläubigen in einer Weise und einem Maße entgegenkommen könnte, die der protestantischen Position in letzter Konsequenz das Proprium abbricht. Ganz kurz wird ein Argument Georg Witzeis dargestellt, der 1539 zusammen mit Martin Bucer in Leipzig den bereits besprochenen Kompromißentwurf entwickelt hatte. Demnach gestehe Witzel zu, der Mensch werde allein durch Glauben gerechtfertigt, und zwar in dem Sinne, daß man zuerst durch den Glauben zu Christus kommen muß. Eine weitere Kommentierung findet an dieser Stelle nicht statt. Nun wurde ja hier schon eine Betrachtung über dieses Vergleichspapier angestellt. Wenn also nun in den Vorgesprächen auf das Witzeische „sola"-Verständnis verwiesen wird, dann ist ganz deutlich diese Verwendung gemeint, die vom „sola fide" der Rechtfertigung, aber offenbar nicht mehr von einem „sola fide" der Heiligung sprechen kann. Es ist sicher nicht angebracht, mit einem argumentum e silentio die Nicht-Kommentierung dieser Auffassung in der Weise zu belasten, daß sich der Zitierende, also Melanchthon, damit identifiziere; jedoch muß man auf der anderen Seite

39

Neuser 123. 137

festhalten, daß gerade er es ja in der CA Variata ebenfalls nicht verstanden hat, positiv von guten Werken zu sprechen, ohne sie präzise genug gegen die iustificatio allein aus Glauben abzugrenzen. Die exegetische und hermeneutische Aufgabe, die Aussagen des Paulus und des Jakobus in Übereinstimmung zu bringen, ist ein Problem, das Melanchthon bereits in den Loci zu lösen versucht hatte; er harmonisierte die konträren Aussagen in der Art, daß die beiden neutestamentlichen Autoren j e von einem verschiedenen Glauben sprächen und insofern beide recht hätten, als Jakobus die treffende Explikation des paulinischen Gedankens sei, deutlich ihn dort fortsetze, wo Paulus nicht klar genug wäre; Jakobus richte sich also gegen einen entarteten Paulinismus und nicht gegen den Kern dessen, was Paulus mit seiner Umschreibung des „sola fide" gemeint habe. Somit könne bedenkenlos mit Jakobus gesagt werden, Glaube ohne Werke sei tot, ohne die Ausschließlichkeit des Glaubens für das rechtfertigende Handeln Gottes zu betonen.40 In der in den Vorgesprächen aufgeworfenen Form jedoch liegt noch einmal eine Akzentverschiebung vor, die noch weniger befriedigend ist als Melanchthons Lösungsansatz, da es nicht ausreichend sein kann, Jakobus einen „leeren und toten" Glaubensbegriff vorzuwerfen, während Paulus von einem „lebendigen und wirksamen" Glauben spricht; denn das hieße im Sinne Luthers41, Jakobus die Kanonizität absprechen zu müssen und überall Paulus den Vorzug zu geben. Es ist erstaunlich, wie schnell dieses Thema dann am 10. November, am zweiten Tag der Vorverhandlungen also, abgehandelt wurde mit einem einzigen Hinweis, hier sei „nihil prorsus ... periculi"42, weil Paulus von einem rechtfertigenden und wahren Glauben spreche, Jakobus dagegen von einer fides, „quam passim iactabant falso christiani". Dabei ist nicht sicher, ob hier davon ausgegangen wird, Jakobus selbst habe den paulinischen Glaubensbegriff in der Weise mißverstanden, als spiele Paulus den Glauben gegen die Werke aus, oder ob Jakobus im Gegenteil als Retter auftritt für diesen Glaubensbegriff, indem er ihn genau vor diesem Mißverständnis bewahren will. Interessant ist, wie auch hier - wie schon in den Loci und anklingend in der CA Variata - die Verbindung gesucht wird mit der Thematik des bloß historischen Glaubens. Unmittelbar zuvor43 war die eigene Aussage des Paulus, ein Glaube ohne die Liebe sei nichts, so erklärt worden, hier wäre von einer „fides miraculorum" die Rede, nicht vom rechtfertigenden Glauben; diesen historischen Glauben hätten nun auch die Dämonen (und hier kann man sich dann vortrefflich auf die unterstützende Jakobusstelle 2,17-19 berufen), und an ihm sei nichts spezifisch Christliches; dagegen stellt schon die Variata die „fiducia", die den Glauben über diesen

40 41 42 43

138

Vgl. dazu auch Braunisch: Enchiridion ..., a.a.O. S. 348. Vgl. WA.B VI, 10 und WA.TR V, 382. Neuser 137. Vgl. Neuser 137.

Begriff, welcher „inanis" ist, hinaushebt und ihm eine neue Qualität zuspricht, die ihm dann auch seine ausschließliche Position als Grund der Rechtfertigung ermöglicht. Auf diesen Punkt hatte am Tag zuvor besonders Calvin insistiert.44 Abgesehen davon, ob das nun dem exegetischen Befund gerecht wird, ist es mindestens aufschlußreich, wie entschieden einer eventuellen Verbindung von Glaube und Werken bzw. Glaube und Liebe entgegengewirkt wird. Noch aufschlußreicher aber scheint mir zu sein, mit welchem - ja, ich möchte es wirklich so nennen - Geniestreich Jakobus .zurechtgebogen' wird45: Jakobus spricht zwar tatsächlich von einem leeren Glauben, den auch die Dämonen haben; aber dies ist bei ihm eben nicht der (falsche) bloße historische Glaube gegen einen (richtigen) Glauben, welcher auf die ungeschuldete Vergebung vertraut und daher rechtfertigt; sondern gerade umgekehrt redet Jakobus ausgesprochen pointiert davon, daß der Mensch durch Werke gerecht wird, nicht durch Glauben allein (2,24). Hier liegt ein Harmonisierungsversuch vor, der zwar verständlich ist und recht geschickt sein mag, aber letztlich nicht überzeugen kann. Sehr intelligent dagegen ist der Zusatz, den der Protokollant der Vorgespräche, Wolfgang Musculus, selbst in die Diskussion brachte.4® Er bemerkte, daß Paulus und Jakobus nicht nur im Begriff des Glaubens differieren, sondern auch im Verständnis dessen, was „Rechtfertigung" meint. So spreche Paulus in dem Sinne des „iusti reputamur" davon, Jakobus aber im Sinne des „iusti esse declaramur"; dieses ist nun just die Unterscheidung, die man moderner mit synthetischem Urteil einerseits und analytischem Urteil andererseits bezeichnen könnte. Und damit traf Musculus den exegetischen Sachverhalt exakt. Die unterschiedliche Aufnahme des Abraham-Beispiels in Rom 4 und Jak 2, 2 I f f gibt nämlich Zeugnis von einer Beschreibung des Vorganges durch Paulus, der von einer Reihenfolge Glaube - Gerechtmachung - gutes Werk ausgeht, während Jakobus umordnet zu Glaube - gutes Werk - Gerechtsprechung. Und das ist dann in der Tat ein ganz unterschiedlicher Begriff von Glaube und Rechtfertigung. In der paulinischen Reihung der Begriffe erhält die fides die Qualität des die Rechtfertigung erwirkenden Grundes; bei Jakobus erwachsen aus dem

44 Vgl. Neuser 127; freilich ist Neusers Anmerkung (Anm. 26) falsch, Calvin kritisiere damit die CA Variata, denn in dem erweiterten Artikel IV ging es ja im Schlußabschnitt gerade darum, den Fiduzialglauben gegen einen bloß historischen zu betonen. 45 Luther hatte denjenigen, die solches versuchen, in einer Tischrede vorgehalten: „Wer die zusamen reymen kan, dem wil ich mein pirreth auffsetzen und wil mich yhn einen narren lassen schelten." (WA.TR, Nr. 3292a, 253/27-29); es sei wenigstens am Rande bemerkt, daß die heutige Exegese ebenfalls die Unvereinbarkeit von Jakobus und Paulus betont (vgl. etwa Schlage, Wolfgang: Der Jakobusbrief, (NTD 10) Göttingen 1973, S. 5; Eichholz, Georg: Jakobus und Paulus. Ein Beitrag zum Problem des Kanons, (TEH 39) München 1953, S. 3; Lohse, Eduard: Glaube und Werke. Zur Theologie des Jakobusbriefes, in: ZNW 48 (1957), S. 1-22, hier S. 21). 46 Vgl. Neuser 139.

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Glauben die Früchte des Glaubens, und erst ihr Zusammen ist der Ausgangspunkt der Rechtfertigung. Während im paulinischen Verständnis der Sünder ohne vorhergehende Werke für gerecht erklärt wird, wird bei Jakobus die Gerechtigkeit des im Geiste des Glaubens und der Liebe Handelnden festgestellt. Der erste echte Diskussionsgang rankte sich um die Frage: „An non fern possit, ut opera dicantur iustificare abusive"47. Dabei wurde zunächst der Zusammenhang zwischen Werken und Glauben mit einem recht eindrücklichen Beispiel geklärt; wie man einen alten Mann zwar an seinen weißen Haaren erkennen kann, diese aber Folge und nicht Ursache seines Alters sind, so sind auch die guten Werke nur Folge des Glaubens und daher vielleicht etwas wie ein Erkennungsmerkmal, aber keineswegs dem Glauben vorgeordnet. Wie einleuchtend dieses Bild auch sein mag, so sehr drückt es doch andererseits das ganze Schillernde des Verhältnisses aus. Alter hat nicht zwingend weiße Haare zur Folge; und ebenso kann umgekehrt nicht zwingend von weißen Haaren auf Alter geschlossen werden. Wie ist das nun bei Übertragung des Bildes? Sind gute Werke notwendige Folge des Glaubens? Und kann davon ausgegangen werden, daß der, der gute Werke tut, Glauben hat? Sicher darf man die gewählte Metapher nicht überbelasten, denn der Kern der Aussage - eben, daß der Glaube gute Werke bedingt und nicht umgekehrt - ist ja durchaus getroffen. Dennoch zeigt sie auch die Problematik auf, die sich aus dieser Reihenfolge ergibt und die vielleicht auf protestantischer Seite bis heute nicht befriedigend gelöst ist. Hier würde Rückbesinnung auf Luther guttun4': Nach ihm ist jedes Werk, das aus dem Glauben an die Verheißung geschieht, gut; umgekehrt aber läßt weder die Quantität noch etwa die soziale Qualität eines Werkes auf ein Mehr oder Weniger des Glaubens schließen; vor allem aber ist der Mensch als weiterhin in dem peccatum regnatum verhafteter weder in der Lage, ,rein' gute Werke zu vollbringen noch über die Werke anderer zu urteilen. Das steht alleine Gott zu. Und Grundlage dieses Urteils ist dann nicht das Werk, sondern der Glaube an die Verheißung. Das Stichwort der promissio war es auch, welches Wenzel Link, der Nürnberger Gesandte, aufnahm.49 Das Vertrauen auf die promissio ist das einzige Mittel, mit dem die Gnade Christi aufgenommen werden kann. Spätestens in der Apologie wurde schon das enge Geflecht von Verheißung, Gerechtigkeit Gottes und merita Christi deutlich.50 Wenn nun Evangelium und promissio nahezu 47

Neuser 125. Vgl. etwa seine Aussagen in „Von den guten Werken,, (StA 2, insbesondere S. 20, S. 26 u.ö.) sowie in „De libertate Christiana" (StA 2, insbesondere S. 285-296). 49 Vgl. Neuser 125. 50 Vgl. AC IV/53, BSLK 170; vgl. Fagerberg, Holsten: Die Rechtfertigungslehre in Confessio Augustana und Apologie, in: Iserloh, Erwin (Hg.): Confessio Augustana und Confutatio: Der Augsburger Reichstag 1530 und die Einheit der Kirche; Interna48

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synonyme Begriffe sind5', dann bedeutet die Annahme dieser promissio eine Annahme des Evangeliums, eine Annahme des Gottes, der die durch das Gesetz in Verzweiflung gestürzten Gewissen aufrichten will. So sei dann das „sola fide" zu verstehen als in der Tat exklusives Mittel, dieser Verheißung zu trauen und sich in dieses Gnadenhandeln hineinnehmen zu lassen. Nach einer in Hinsicht auf die Frage des protestantischen Traditionsverständnisses sehr interessanten Bemerkung Erhard Schnepfs52 schaltete sich Calvin53 ein mit seiner bereits oben erwähnten Betonung des Fiduzialglaubens; ein weiterer Einwurf seinerseits aber ist: „iustificatio" dürfe nicht verstanden werden als ein „ex impio iustum efficere", sondern als ein „iustum reputare"54. Diese Unterscheidung soll dem Mißverständnis vorbeugen, als sei für das Bestehen im Gericht55 eine Eigengerechtigkeit im Menschen maßgeblich; alleine die fremde Gerechtigkeit Christi aber ist es, die anerkannt werden kann. Nicht der Gerechte wird gerechtfertigt, sondern der Sünder, der der Verheißung glaubt, ihm werde als Sünder die Gnade in Christus geschenkt. Später führte Calvin aus, daß Gott eine unvollkommene Gerechtigkeit doch wohl nicht gefallen kann; schon deshalb könne nur von einer Rettung durch die Gerechtigkeit Christi gesprochen werden.56 Calvin betont hier also stark den forensischen Charakter der Rechtfertigung. Wie an dieser Stelle die Religionsgespräche auf seine eigenen theologischen Veröffentlichungen gewirkt haben, läßt sich an einem Vergleich der Ausgaben seiner „Institutio" von 1539 und 1543 ablesen (der Zusatz von 1543 ist kursiv gesetzt):

tionales Symposion der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum in Augsburg vom 3.-7. September 1979, (RGST 119) Münster/Westf. 1980, S. 325-345, hier S. 335-337. 51 Vgl. BSLK 168. 52 Er argumentierte, man müsse im Falle eines Streites erklären, daß die Kirchenväter, die Paulus nicht gefolgt sind in seiner Ausklammerung der Werke aus dem Rechtfertigungsgeschehen, eben geirrt haben (zumal es ja auch welche gebe, die Paulus so verstanden haben wie die Evangelischen); das heißt nun aber nichts anderes als: sola scriptura contra traditionem, oder noch pointierter: in dubio pro scriptural 53 Zu Calvins Rechtfertigungsverständnis vgl. Stadtland, Tjarko: Rechtfertigung und Heiligung bei Calvin, (BGLRK 23) Neukirchen-Vluyn 1972; Calvin hatte 1539 seine Institutio in erweiterter Form mit einem streng forensischen Rechtfertigungsbegriff vorgelegt; vgl. auch Neuser: Calvins Urteil..., a.a.O., bes. S. 178-183. 54 Neuser 127. 55 Auf diesen Begriff der iustitia fidei im Gegensatz zu einer illuminatio, purgatio und generatio novarum affectuum in diesem Leben legt gleich im Anschluß Brenz wert. Er selbst verstand unter der iustitia fidei die condonatio iniustitiae (vgl. Fricke, Otto: Die Christologie des Johannes Brenz im Zusammenhang mit der Lehre vom Abendmahl und der Rechtfertigung, (FGLP ffl) München 1927, S. 135). 56 Vgl. Neuser 129. 141

„Iustificari ergo operibus ea ratione dicetur in cuius vita reperietur ea puritas ac sanctitas, quae testimonium iustitiae apud Dei thronum mereatur: seu qui operum suorum integritate, respondere et satisfacere illius iudicio queat. Contra iustificabitur ille fide, qui operum iustitia exclusus, Christi iustitiam per fidem apprehendit, qua vertitus in Dei conspectu non ut peccator, sed tanquam iustus apparet. ha nos iustificationem simpliciter interpretamur acceptationem qua nos Deus in gratiam receptos pro iustos habet. Eamque in peccatorem remissione ac iustitiae Christi imputatione positam esse dicimus Dieser explizit forensische Begriff der iustificatio gegen ein effektives Verständnis läuft in dieser Vehemenz dem Gedanken aus der Apologie58 zuwider, die sich gerade darum bemühte, iustificatio als Einheit von regeneratio und reputatio herauszustreichen. Melanchthon und Calvin treffen sich dann aber wieder in der Betonung dessen, daß die reputatio nicht aufgrund der eigenen Gerechtigkeit stattfindet, sondern aufgrund der iustitia Christi.59 Deutlich wird hier ein Problem angesprochen, das die CA selbst offengelassen hat. In der Schlußformel des vierten Artikels der Invariata könnte man allenfalls aus der Tatsache, daß statt „reputatio" von der „imputatio" die Rede ist, darauf schließen, die Rechtfertigung des Sünders rücke in den Vordergrund; die Variata dagegen läßt diesen Punkt gänzlich unberührt. Nun konnte ja schon bei der Betrachtung der Apologie festgestellt werden60, daß Melanchthons Ausführung dort vor allem deshalb nicht ganz unproblematisch ist, weil die particula exclusiva expressis verbis jedenfalls nur für den effektiven Teil der Rechtfertigung zu finden ist, was Rückschlüsse auf die Wertigkeit der Werke zulassen könnte, auch wenn dies von Melanchthon so nicht gemeint sein sollte. So wird man Calvins Einwand gegen diese Verbindung von imputativer und effektiver Gerechtigkeit sicher auch in die Richtung verstehen müssen, daß genau ein solches, durchaus mögliches Mißverständnis vermieden werden soll. Auch gute Werke nach der Wiedergeburt, nach der Gnadenzusage können nicht konstituierend für Gottes Gnadenhandeln sein. Erstaunlicherweise reagierte Melanchthon offenbar im Rahmen der Vorgespräche darauf nicht. Um so deutlicher lehnte er dafür die drei Interpretationsansätze des Gryneus ab." Weder sei der Glaube gleichzusetzen mit dem Begriff der Gerechtigkeit (dies hätte ja aus der Formel der CA Invariata „pro iustitia" nahegelegen), noch

57

COS IV, 183. " Vgl. AC IV/72, BSLK 174. Vgl. Calvins „Institutio" von 1539: „Hic est fidei sensus, per quem peccator in possessionem venit suae salutis, dum ex Evangelii doctrina agnoscit Deo se reconciliatum: quod intercedente Christi iustitia, impetrata peccatorum remissione, iustificatus sit: et quanquam Spiritu Dei regeneratus, non in bonis operibus, quibus incumbit, sed in sola Christi iustitia repositam sibi perpetuam iustitiam cogitat." (COS IV, 200). 60 Vgl. hier unter 2.2.1.3. 61 Vgl. Neuser 127. 5

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sei er die causa (welches die Gnade sei); vielmehr sei der Glaube so etwas wie das Instrument, mit dem die Gerechtigkeit angenommen werde. Nicht also der Glaube wird gerechtfertigt, was bedeuten würde, daß der Glaube vielleicht das Über-Werk schlechthin sei; sondern die rechte Definition des Glaubens lautet: Durch die fides wird die Verheißung angenommen, die fremde Gerechtigkeit Christi mache den Sünder in den Augen Gottes angenehm. Hier muß festgehalten werden, daß mit der Charakterisierung des Glaubens als Instrument ein Schritt hinter die CA Invariata zurück gemacht wird. Für sie wurde ja gerade durch die gezielte Vermeidung des Ablativs in der Positionsformel ein Schutz gegen jede Instrumentalisierung festgestellt. Wenn Melanchthon nun durch den Relativsatz sofort wieder an Gott verweist und so das empfangende Element heraushebt, gelingt ihm zwar die Abwehr einer Interpretation, die über das Instrument dessen Benutzer in die Rechtfertigungshandlung einbezieht; dennoch aber bleibt eine gewisse Öffnung in diese Richtung spürbar. Der nächste Diskussionsgang befaßte sich mit der Frage des meritum de condigno®2; die meritum-Lehre zu thematisieren ergab sich fast zwangsläufig vor allem im Rahmen einer an der Schrift orientierten Debatte. Natürlich wäre es doch problematisch gewesen, die gesamten Lohn-Aussagen des Neuen Testaments zu ignorieren bzw. so zu interpretieren, daß dennoch nicht von einem aufrechenbaren Zusammen von Werken und Gnadengeschenk geredet werden mußte. Die Aufgabe bestand für die Protestanten darin, den Begriff des „Verdienstes" neu zu füllen, d.h. es mußte deutlich werden, es gebe zwar eine Art Belohnung für die guten Werke, aber dieser Lohn könne nicht etwa das Heil, die Rechtfertigung selbst sein, die durch den Kreuzestod Christi bereits ungeschuldet geschehen ist und das Tun guter Werke überhaupt erst ermöglichte. Ebenfalls war die Frage zu beantworten: Wenn Einigkeit darüber bestünde, daß Werke vor der Wiedergeburt durch den Heiligen Geist keinerlei „Anspruch" auf Belohnung haben - gilt dies in gleicher Weise für die Werke nach der regeneratio, die ja im Glauben geschehen? Verdienen sie nicht doch einen Lohn? Und in direktem Kontext dazu ist auch das dritte Problem zu sehen: Ist in dem Gerechtfertigten eine vollkommene Gerechtigkeit denkbar; gibt es also - so die Frage zugespitzt - wirkliche Heilige im Sinne von perfecti? Die Evangelischen behandelten die drei Fragen im Zusammenhang und stellten sie dabei für den Bekehrten schlechthin, nämlich den Apostel Paulus. Denn niemand wird leugnen können, es müsse für jeden anderen gelten, was für ihn gilt, dessen conversio eine so totale und unbedingte gewesen war. Dies macht insbesondere die Position Brenz' deutlich, der selbst für den bekehrten Paulus ein Urteil Gottes annehmen kann, das viele Verfehlungen auch dieses Mannes

62

Vgl. dazu hier unter 2.2.1.1.

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feststellen muß.63 Wenn also nicht einmal Paulus für seine Werke Lohn einfordern kann - kann es dann jemand, der noch viel weniger Gutes getan hat?64 Eröffnet aber wurde die Debatte dazu mit einer Stellungnahme Oslanders65, der deutlich die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen iustitia selbst und den Folgen dieser iustitia macht. So würden auch gute Werke bei Gott Gefallen finden, aber nur wegen des Glaubens, der sie wirkt. Bis dahin klingt Oslanders Position ganz reformatorisch; im nächsten Atemzug aber deutet sich bereits seine fragwürdige Ansicht der iustitia inhaerens an, die zu den späteren Auseinandersetzungen mit Melanchthon führte. Der Gedanke des Innewohnens der Gerechtigkeit Christi, der dem forensischen Charakter widerspricht, zeichnet sich ab, wenn er sagt: „Nec dicendum, quod iustitia nobis tantum imputetur, sed et infundatur Von einer solchen Äußerung ist es in der Tat nicht mehr weit zu einer habitusVorstellung, die aus der fremden Gerechtigkeit eine eigene macht. In die gleiche Richtung und doch schon ungleich verschärfter geht eine spätere Äußerung, daß Lohn nicht „wegen" (propter), sondern „gemäß" (secundum) den Werken als Zeugen der inneren Gerechtigkeit vergeben werde.67 Das ist dann unübersehbar eine Werkgerechtigkeit. Nach dieser Vorstellung wird gerade soviel Gnade zugeteilt, wie es die Dignität der Werke fordert. Entsprechend brachte Melanchthon auch sofort eine Korrektur an. Es könne immer nur von der Glaubensgerechtigkeit gesprochen werden, die angerechnet wird, nicht von derjenigen, „qua novos motus in corde acquirimus"68. Das schließt freilich nicht ein ex-impio-iustum-efficere aus, was zuvor Calvin gefordert hatte; es stellt aber doch klar, daß für das Justifikationsgeschehen alleine die imputative Gerechtigkeit entscheidend ist und nicht die gerechten Handlungen, die guten Werke, die nach der Eingießung des Heiligen Geistes möglich und nötig sind und Gott deshalb gefallen, weil die Person, die diese Werke tut, vorher Gott gefällt und von ihm angenommen ist. Auffälligerweise kommt Melanchthon an dieser Stelle wiederholt auf die Tröstung der Gewissen zu sprechen, die ja auch in der CA Variata eine so entscheidende Rolle gespielt hat. Und wieder wird man den Eindruck nicht ganz verhindern können, daß dieses psychologisierende Element die gesamte Rechtfertigungslehre nicht mehr ausschließlich biblisch begründen will, sondern zugunsten der Anthropologie zu

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Vgl. Neuser 131. Vgl. dazu Hermelink, Heinrich: Johannes Brenz als lutherischer und schwäbischer Theologe, Stuttgart 1949, S. 16-18; dazu Fricke: Christologie ..., a.a.O. S. 119. 65 Zur Rolle Oslanders auf den Religionsgesprächen vgl. Seebaß, Gottfried: Das reformatorische Werk des Andreas Oslander, (EKGB XLIV) Nürnberg 1967, S. 145151; zu seiner Theologie Hirsch, Emanuel: Die Theologie des Andreas Oslander und ihre geschichtlichen Voraussetzungen, Göttingen 1919, bes. S. 194-201. 66 Neuser 129. 67 Neuser 131. 68 Neuser 129. 64

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Zugeständnissen bereit sein kann, die dann eben nicht mehr reformatorisch sind und sich mit den Ansichten der Altgläubigen (die ja viel mehr dem „Menschlichen" entgegenkommen, dem es einfacher ist, dem „do-ut-des"-Prinzip gemäß gute Werke und Gnadenmaß aufzurechnen) decken können. Dennoch muß man Melanchthon auf der anderen Seite zugute halten, daß er sich auch sehr scharf gegen eine Vermischung von Werken und Glauben wenden kann, etwa in der Abwehr der occamistischen Position." Am zweiten Tag der Vorgespräche beschäftigten sich die Protestanten im wesentlichen mit exegetischen Diskussionen, und zwar mit den vier Bibelstellen, die eventuell die Gegner als Argumente gegen die reformatorische Position ins Spiel bringen könnten: Mt 19,17; Lc 7,47; 1 Kor 13, 2 und die bereits oben besprochene Jakobusstelle (2,17). Insbesondere taucht auch hier wieder die Frage auf, wie die guten Werke begründet werden können, ohne sie konstituierend ins Rechtfertigungsgeschehen einzubinden. So könnte etwa der Aufruf, die Gebote zu achten (Mt 19,17), als scheinbare Bedingung zur Erreichung des ewigen Lebens die protestantische Sicht der Rechtfertigung ohne Werke untergraben. Hierauf antwortete Melanchthon, natürlich sei die Beachtung der göttlichen Vorschriften geboten, aber - und das ist das Entscheidende - die Wiedergeburt und der Glaube seien notwendig vorgeschaltet. Nur dann ist - wenn überhaupt - eine Erfüllung der Gebote möglich; dies, so unterstützt ihn Oslander mit Rom 8, war dem Fleisch vor der Entsendung des Sohnes nicht möglich.70 Aus dem Parallelbericht Frechts erhellt: Auch Oslander betrachtet die Liebe als Frucht des Glaubens" und verschmelzt nicht etwa die beiden Begriffe miteinander oder ordnet sie für das Rechtfertigungsgeschehen; im Gegenteil bringt gerade er unvergleichlich eindringlich die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium ins Spiel: „Adolescens a Christo vocatus ad legem, in qua impossibilitate sua cognita adspiret ad Christum."72 Das Gesetz also ist dem Menschen nicht darum gegeben, damit er es erfüllen könne, sondern um ihn an Christus zu verweisen, in dem die Erfüllung des Gesetzes73 oder - wie es in der CA Variata heißt - der finis historiae74 gegeben war. Freilich - und hier fügte Oslander ein Beispiel aus dem alltäglichen Leben ein - will er offensichtlich die Gebote durchaus auch im Sinne eines tertius usus verstanden wissen. Wie mit der Geburt das Bürgerrecht erworben wird und " Neuser 131: „Occam operum iustitiam definivisse, esse causam sine qua non. Ego vero id fidei tribuerim et gratiam Dei per Christum fecerim causam, per quam iustificamur et salvamur." 10 Vgl. Neuser 133. 71 Vgl. Neuser 132. 72 Neuser 132. 73 Vgl. Neuser 133. 74 CR XXVI, 353.

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später davon zum Schutz Gebrauch gemacht wird, so bedeute der Glaube an Christus das Recht und die Pflicht, dem Gesetz nunmehr Gehorsam zu leisten. Allerdings wird in beiden Stellungnahmen, der Melanchthons und der Oslanders, zunächst immer noch nicht hinreichend deutlich klar, ob die Werke nach der Wiedergeburt nicht dann doch notwendig sind zur Rechtfertigung etwa in dem Sinne, diese zu vervollkommnen. Daß hier offenbar nicht so scharf differenziert wurde, wie uns dies etwa in der CA Invariata oder auch noch im Wittenberger Gutachten begegnete, bringt m.E. besonders die Bemerkung Martin Bucers75 an den Tag, welcher „a reliquis assensum est"76. Er kann die bemerkenswerten Sätze formulieren: „... videtur scriptura opera novae vitae aliquo modo causam facere salutis. Concedendum itaque est, quod Deus utatur nobis ad perficiendam novam istam vitam et salutem nostram cooperariis."77 In dieser Aussage ist nun genau das geschehen, wovor das Wittenberger Gutachten so eindringlich gewarnt hatte, wofür es aber bereits in der Confessio Augustana Variata Ansätze gab. Zum einen sind die Werke des neuen Lebens nun Ursache des Heils im Sinne einer causa materialis; zum anderen ist der Mensch Mitarbeiter an diesem neuen Leben bzw. seiner Vervollkommnung und seinem eigenen Heil. Das ist in der Tat eine ungleich schärfere Aussage als die mißverständlichen Formeln der Confessio Augustana Variata. Hatte diese wenigstens noch stets betont, die Werke des neuen Lebens verdienten Lohn nicht wegen einer ihnen eigenen Würdigkeit, sondern wegen der durch Gott im Glauben geschenkten Würde der Person, so verläßt Bucer vollends den reformatorischen Bereich durch die beiden genannten Elemente. Das „aliquo modo" ist dabei so unscharf, daß es in jede beliebige Richtung interpretiert werden kann. Vor allem aber schützt es nicht vor einem Verständnis, das mindestens die Werke des neuen Lebens konstitutiv in das Justifikationsgeschehen einbringt. Im Gegenteil: Auch durch die zweite Wendung, die den Menschen als „cooperarius" definiert, wird diese Vorstellung gestützt, die opera novae vitae seien heilsnotwendig. Dies ist dann allerdings eine Absage an das sola fide, wie sie deutlicher kaum sein kann! Ebenfalls läßt sich danach in der Position Calvins eine merkwürdige Verschiebung erkennen. Verheißungen des ewigen Lebens seien durchaus auch im Gesetz zu sehen; da jedoch eine Erfüllung des Gesetzes wegen der Fehlerhaftigkeit des Fleisches nicht möglich ist, rekurriere Paulus wieder auf die Verheißungen des Evangeliums. Durch die Milde Gottes würden aber sogar die verfehlten

75

Zu Bucers stark ethisch ausgerichtetem Rechtfertigungsverständis vgl. später hier im Zusammenhang des Wormser Buches. 76 Neuser 135. ,7 Neuser 135. 146

Taten des Menschen vor ihm Gefallen finden im Lichte der promissio evangelii.78 War vorhin festgestellt worden, daß Evangelium und Verheißung in der Apologie nahezu synonyme Begriffe darstellen, so muß von daher die Verschiebung hin zum Gesetz in der Aussage Calvins wie eine Relativierung, ja wie eine Aufweichung des Terminus und der dahinterstehenden Theologie erscheinen. Gesetz und Evangelium werden - nicht so deutlich wie bei Bucer, aber immerhin - auf eigentümliche Weise miteinander vermischt. So wird das Proprium der evangelischen Verkündigung, nämlich die unbedingte Liebe Gottes zu seinem sündigen Geschöpf, eingeschränkt; die Kraft der Verheißung wird vermindert, wenn das Gesetz nicht mehr Ankläger im radikalen Sinne ist. Freilich begegnet auch im Gesetz der liebende Vater-Gott, das ist keine Frage. Aber über dem Versuch, das deutlich zu machen und die Gebotsforderung in das eigene System zu integrieren, wird die Sicht vom radikalen Sünder-Sein des Menschen eingeschränkt. Offensichtlich bemüht sich Calvin, eine Gottesvorstellung zu vermeiden, die einen tyrannischen, ja geradezu zynischen Willkür-Gott vor Augen hat, welcher Freude daran hat, den Menschen in die Verzweiflung zu treiben. Jedoch entwickelt sich die gute Absicht in letzter Konsequenz gegenläufig, denn nicht nur das Gottesbild wird zurechtgerückt, sondern auch das Menschenbild. Aus dem Menschen, der nicht gehorcht, weil er in der radikalen Gottesferne lebt und nicht gehorchen kann, wird der, der gehorchen könnte, wenn er nur wollte. So wird das Gesetz als Heilsweg nicht mehr vollkommen ausgeschlossen, sondern bloß vorläufig zurückgestellt. Daraus folgt aber auch: Es wird nicht mehr ausdrücklich genug ernstgemacht damit, daß das Verhältnis des Menschen zu Gott nur durch den Glauben an Christus wieder in Ordnung gebracht werden kann. Einfach macht es sich dann auch Brenz, wenn er zunächst die Matthäus-Stelle abtut mit einem „esse concionem legis, quam alienam se Christus usurpa[ve]rit"7', um dann wieder zwei Wege der Rettung zu benennen, von denen der Gesetzesweg ausgeschlossen ist, weshalb dann der andere „gratiae per fidem"80 beschritten werden muß. Auch hier muß wieder gefragt werden, ob beide Wege als Heilswege bezeichnet werden können, wenn die Absicht klar ist, nämlich die Unmöglichkeit des einen Weges deutlich zu machen. Muß nicht radikaler die Aufhebung des Heilsweges „Gesetz" durch den Heilsweg „Evangelium" betont werden? Auch die Lösung der zweiten in die Diskussion geworfenen Bibelstelle Lc 7,47 gelingt nicht vollständig, wenn Oslander hier die Beschreibung eines Kirchentyps vorschlägt, der Sünden vergibt, wo er ein sicheres Urteil über

" Vgl. Neuser 135. " Neuser 137. " Neuser 137.

147

Glaube und Buße hat." Muß denn das nicht heißen, es könne tatsächlich von dem Maß der guten Werke rückgeschlossen werden auf die Qualität des Glaubens? Etwas, wovon eben noch gesagt wurde, es könne nicht sein? Man muß den Evangelischen insgesamt einen etwas unsicheren Umgang mit den Bibelstellen vorwerfen, denn auch die letzten beiden Stellen aus dem Korinther- und dem Jakobusbrief werden, wie gesehen, nicht letztlich befriedigend interpretiert. Hier zeichnet sich dann die exegetisch-hermeneutische Aufgabe ab zu überprüfen, ob das reformatorische Prinzip des „sola" dem biblischen Befund standhalten kann. Dies soll hier nicht diskutiert werden; es sei aber in Konseqenz des bisher Gesagten bemerkt: Luther, die CA Invariata, die deutsche Fassimg der CA von 1533 sowie das Wittenberger Gutachten waren sola scriptura in der Lage, die guten Werke zu postulieren, ohne sie in den Rechtfertigungsprozeß als causa zu integrieren - bei den Vorgesprächen mißlang genau dies weitgehend, was vielleicht weniger daran lag, daß plötzlich ein Bruch zwischen den Aussagen der Schrift und reformatorischer Lehre auftrat, sondern an der Tatsache, daß in erster Linie solche Theologen disputierten, die selbst an entscheidender Stelle zur Unschärfe neigten und dazu, die Radikalität des „sola" aufzugeben. Zusammenfassung. „Incredibile est, qua gratia, humanitate, concordia inter se fratres hie omnes convenient."'2 So positiv äußerte sich Simon Gryneus über die Vorverhandlungen, und auch Adam Kraft war über die dokumentierte Eintracht hoch erfreut." Die Gesandten des sächsischen Kurfürsten berichten in gleichem Maße von der großen Einigkeit gerade im Gegenüber zu dem Streit innerhalb der katholischen Partei." Und sicher ist es richtig: Die Vorgespräche der Protestanten haben viel dazu beigetragen, die eigene Position gegenüber den Altgläubigen noch weiter zu stärken. Es war nicht anders zu erwarten, als daß die Diskussion um den Rechtfertigungsartikel innerhalb der Vorgespräche in Worms einen relativ breiten Raum in Anspruch nehmen würde. Und der Gang der Debatte sowie hier und dort die Argumentationen zeigen doch auch, wie unsicher man teilweise war, wie den Altgläubigen auf ihre Einwände zu begegnen sei. Ganz offen zutage tritt dieses Schwankende auf evangelischer Seite bei der Erörterung der dem sola fide scheinbar widersprechenden Bibelstellen. Schien vorher die Ausgangsbasis eben dieses sola fide noch völlig unangetastet zu sein (bis auf Ausnahmen, z.B. Osiander) und nur die konkrete Definition des Terminus iustificatio erläute-

" Vgl. Neuser 137. 82 Zit. nach Augustijn: Godsdienstgesprekken ..., a.a.O. S. 53, Anm. 5. 83 Vgl. Neuser: Vorbereitung ..., a.a.O. S. 46. 84 Vgl. Weimar 3a, fol. 143v. 148

rungsbedürftig, so scheint man doch hier der drohenden Wucht des Gegenarguments etwas hilfloser gegenüberzustehen, denn bei allem guten Willen wird doch manchmal der Eindruck erweckt, als seien die Disputanten selbst nicht letztgültig zufrieden mit dem, was sie vorbringen. Bedeutsamer aber noch als diese Unsicherheit scheint mir das, was sich im Zuge dessen ebenfalls beobachten läßt, nämlich ein Aufweichen der Position hinsichtlich einer mit der Glaubensgerechtigkeit mindestens gekoppelten Werkgerechtigkeit, wie sie in der Stellungnahme Bucers begegnet. Anstatt wie in der CA Invariata und sogar noch in der Variata die guten Werke als notwendig insofern zu postulieren, als sie etwa im Sinne des tertius usus dem Verheißungsglauben folgen müssen (und deshalb auch Lohn verdienen, nicht jedoch aus eigener Würdigkeit heraus, sondern lediglich als Früchte), wird ihnen - zumindest bei Bucer - jetzt ein Eigenwert zugeschrieben. Sie scheinen nicht mehr geschehen zu müssen, weil Gottes Gnade gilt, sondern damit sie eintritt.

2.2.3.3 Die Gutachten der Altgläubigen zur Confessio Augustana vom 15. Dezember 1540' Die bisherigen Texte - das konnte immer wieder festgestellt werden - gewähren einen tiefen Einblick auch in die historische Situation, in deren Kontext sie entstanden sind. Da die Beweislast, welche der beiden Religionsparteien die Wahrheit des Evangeliums auf ihrer Seite hat, sich seit 1530 umgekehrt hatte, waren es nicht mehr die Protestanten, die sich darum zu bemühen hatten, ihr Stehen in der Tradition der Kirche zu verteidigen, sondern plötzlich befanden sich die Katholiken in einer apologetischen Situation. Die zehn Jahre seit dem Augsburger Reichstag hatten für die Augsburger Religionsverwandten gearbeitet, welche immer mehr Anhänger gewannen; sie nutzten die Zeit, intrakonfessionell ihre Einheit zu stärken, sie bauten ihr Lehrsystem argumentativ aus. Auf katholischer Seite dagegen wuchs die Resignation zusammen mit der Erkenntnis, daß die Protestanten sich als schwieriger Gegner erwiesen hatten und dies bei den zukünftigen Verhandlungen auch bleiben würden. Von verschiedenen Positionen würden sie nicht weichen. Nicht zuletzt aber bestand die deutliche Gefahr, weitere Territorien an die Reformation zu verlieren. Die Skepsis gegenüber den Religionsgesprächen, wie sie fast überall auf der Seite der Altgläubigen an den Vorabenden der Kolloquien spürbar ist, ist daher mehr als verständlich. Je nachdem, wie gut die Gegenseite gerüstet sein würde, war es nicht auszuschließen, daß die ganze Angelegenheit mit einer Niederlage für die Katholischen enden würde. Zudem verhieß der Hagenauer Abschied bzgl. des Verhandlungsmodus' nichts Gutes, denn wenn der Punkt, beide Seiten sollten elf Stimmen haben, so zu verstehen sei, daß jede einzeln gezählt wird, hätte dies bei eventuellen Abstimmungen für die Seite der Altgläubigen eine 1

Vgl. auch die einführenden Bemerkungen Pfeilschifters ARC III, 304. 149

Stimmenminderheit bedeutet, da mindestens drei Stimmen (die Brandenburgs, Jülichs und der Pfalz) im Verdacht standen, mit den Evangelischen zu sympathisieren; auch auf Köln konnte man sich nicht zweifelsfrei verlassen. Der Kölner Kanzler Bernhard Hagen etwa wurde bereits im Kontext der Frankfurter Verhandlungen von Melanchthon angeschrieben mit der Bitte, „ut ea quae sunt accurate et utiliter scripta a nostris legere et expendere pergas, et in iudicando dexteritatem adhibeas, ... non admittas quorundam sophisticam, qui nunc astute omnes abusus mitigare conantur et fucos inveniunt. Spero enim, te genus doctrinae non solum probaturum sed etiam amaturum esse, si dextre de eo iudicabis."2 Bucer erwähnt Pfalz, Köln, Brandenburg und Jülich sehr positiv und hofft, sie könnten dem Einfluß von Mainz und Bayern entgegenwirken.3 In einem Kodex mit Wormser Aktenstücken u.a. aus der Hand von Andreas Frank erhalten in einem Personenverzeichnis der katholischen Teilnehmer diese vier Stände ein Zeichen, das erklärt wird mit „Stymmen uff unser seyten mochten seyn mit + signirt", wobei einzig Köln den Zusatz „noch zweiffei" erhält4. Und die Gesandten des sächsischen Kurfürsten melden am 14. November: „Wir werdenn auch bericht, das die Maintzischenn, Baierischenn unndt Saltzburgischen sampt des bischoffs vonn Strassburg Rethen unnd gesanndten vilmals beieinannder gewesen unnd Rath gehalten, Dartzu doch die andernn jhenesteils Rethe unnd potschafften Alß Coin, Branndenburg und Gulch kein malh erfordert sein, sollen Darauß zuvermuten, daß sie selbst unnder sich der Sachen noch nicht einig."5 Wolfgang Musculus schließlich, der protestantische Notar, hält fest, es bestehe „Dissensio inter adversarios de iustificatione fidei"6, und er zählt nicht weniger als acht divergierende Positionen auf, die jedoch insgesamt darin übereinstimmen, die Caritas als das der fides im Rechtfertigungsgeschehen korrespondierende Element zu betonen. Für Johannes Eck allerdings wird festgehalten, er sei nicht weit von der protestantischen Position entfernt.7 Das so zähe und langwierige Ringen um eben diesen Verhandlungsmodus war also nicht verwunderlich. Man mußte ihn in dem Sinne interpretieren, daß alle

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CR ΙΠ, 669. Lenz 228: „Der churfurst von Brandenburg hatt geschicket, die gar unser sind, Gulich gar gute, Coin desgleichen ... Ich sorge, die Baierischen und Konigschen mit den Mentsischen werden machen, das wir nit erlangen, so fil wir wolten. Hoffe aber, es sollen auch Pfaltz, Collen, Brandenburg, Jülich machen, das auch jene böse leut nit erlangen werden, was sie begeren.". 4 Dresden, fol. 30. 5 Weimar 3a, fol. 143. 6 Bern, fol. 27. 7 Vgl. ebd. 3

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Stimmen zusammengezählt wurden und daraus dann ein Votum gemacht wurde, um eine offensichtliche Spaltung im eigenen Lager zu übertünchen und vor allem als Stimmensieger hervorgehen zu können. Dennoch konnten die konservativen Kräfte nicht verhindern, daß diese mißliche Ausgangslage der Altgläubigen offen zutage trat. An der vielleicht empfindlichsten Stelle brach die gesamte Unsicherheit auf und lieferte ein Bild der zerstörten inneren Einheit, wie es deutlicher nicht sein konnte: Als es darum ging, zu der Confessio Augustana Stellung zu nehmen und sich also mitten in die theologische Debatte einzulassen, waren die elf katholischen Stände nicht in der Lage, ein gemeinsames Gutachten zu erstellen. So gab es am Ende vier: ein Mehrheitsgutachten der acht konservativen Kräfte (Mainz, Trier, Köln, Magdeburg, Salzburg, Straßburg und die beiden Bayern-Herzoge) und jeweils eins von Pfalz, Brandenburg und Jülich-Berg. So sehr damit einerseits natürlich die Uneinheit der Katholiken im Ganzen auffällt, so ist doch andererseits genauso deutlich, daß die kontra-konservativen Kräfte ebenfalls nicht auf einen Nenner zu bringen waren. Somit ist es nun von höchstem Interesse, die theologischen Aussagen dieser Gutachten zu betrachten, die sich intensiv jeweils mit der Frage nach der Rechtfertigung und dem Verhältnis von Glauben und guten Werken auseinandersetzen. Offenbar hatte also das Wittenberger Gutachten vollauf recht, wenn es vermutete, daß hier der Nerv der gesamten Debatte liegen würde; nicht die Diskussion um den Papstprimat, das Amtsverständnis oder das Abendmahl würde die Religionsgespräche bestimmen, sondern in der Tat die Auseinandersetzung um das „sola fide".

Das Rechtfertigungsverständnis' 2.2.3.3.1 Das Mehrheitsgutachten'. Als einziges der vier Gutachten erwähnt dieses die Tatsache, daß aus der Verschiedenheit der vorgelegten Bekenntnisse eine Zeitverzögerung eingetreten ist: „... diversitas confessionum et Apologiarum, que ex variis exemplaribus non eodem tempore impressis deprehenditur."2 Da jedoch im folgenden keinerlei Rekurs auf die veränderte Fassung erkennbar ist, .kann man von einer Schutzbehauptung ausgehen. Wohl weniger die verschiedenen Exemplare waren ausschlaggebend für die lange Beratungszeit der Katholiken, sondern eben die Tatsache, daß man sich über eine Erwiderung nicht einigen konnte.

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Im folgenden wird nach der Vorlage von Karlsruhe 2 zitiert, da dort auch die jeweils deutschen Fassungen existieren; zur sonstigen Archivlage und zum Druck siehe ARC ΙΠ, 304-323. 1 Vgl. Einleitung bei Pfeilschifter ARC ΙΠ, 304f. 2 Karlsruhe 2, fol. 71. 151

An der Gestaltung des Majoritätsgutachtens ist in erster Linie Johannes Eck maßgeblich beteiligt.3 Der Text orientiert sich bei der Behandlung der einzelnen Artikel streng an der Vorlage der Confessio Augustana, so wie es ja auch mehrmals gefordert wurde. Nachdem beim ersten Artikel Konsens festgestellt wird, ist der erste erläuterungsbedürftige Punkt der zweite Artikel über die Erbsünde. Dabei werden die Protestanten gewissermaßen in Schutz genommen: „nova finiendi dicendique figura'" geschehe es, daß Irrtümer Eingang finden in die Bestimmung dessen, was Erbsünde meint und für Folgen zeitigt. Besser sei es, die von Vätern und Kirche benutzten Wörter zu verwenden, da „omnis novitas suspecta est, ne sub novatione verborum errores irrepant"5; das traditionelle Vokabular schütze also davor, mit den Vokabeln auch die Inhalte aufzugeben freilich ein nicht ganz von der Hand zu weisendes Argument, denn wie entscheidend gerade auch die Vokabeln sind, durfte ja hier schon des öfteren festgehalten werden! In diesem Sinne müsse zur Erbsünde bekannt werden - so das Gutachten weiter -, qua Abstammung aus Adam würden alle Menschen gleichermaßen behaftet mit dem peccatum originale geboren und dem Zorne Gottes anheimgestellt werden. Der Terminus Erbsünde aber wird nun, definiert als Fehlen der originalen Gerechtigkeit, verknüpft mit der concupiscentia, die auch nach der Taufe bleibt und „ad peccatum semper inclinet"6. Insofern könne man nach der Taufe zwar noch von Sünde sprechen, aber weder im eigentlichen, noch im wahren Sinne noch formal („proprie nec vere nec formaliter esse peccatum"7)· Statt dessen müsse eingesehen werden, daß die Anklage der Originalsünde durch die Taufe aufgehoben ist durch das Verdienst Christi und danach jeweils nur die Aktualsünden bestehen bleiben, hervorgerufen durch eine Art „fomes peccati". Dies nun ist genau der Punkt, der dem reformatorischen Verständnis der Erbsünde zuwiderläuft. In der Confessio Augustana Invariata war die Erbsünde als Sünde im Vollsinne des Wortes definiert worden, und es war sogar ein Verdammungsurteil gegen diejenigen ausgesprochen worden, die das Gegenteil behaupteten"; ganz eng war hier schon die Verflechtung zum Rechtfertigungs-

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Vgl. Lipgens, Walter: Theologischer Standort fürstlicher Räte im sechzehnten Jahrhundert. Neue Quellen zum Wormser Vergleichungsgespräch 1540/41, in: ARG 43 (1952), S. 28-51, hier S. 38. 4 Karlsruhe 2, fol. 71v. 5 Karlsruhe 2, fol. 71v. 6 Karlsruhe 2, fol. 72. 7 Karlsruhe 2, fol. 72. 8 Vgl. CR XXVI, 273f: „Damnant Pelagianos, et alios qui vicium originis negant esse peccatum, et extenuent gloriam meriti, et beneficiorum Christi, disputant hominem propriis viribus rationis coram Deo iustificari posse."

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Verständnis, denn das Postulat, der Mensch bliebe auch nach der Annahme durch Gott in der Taufe Sünder, forderte zugleich, es müsse dem Menschen unmöglich sein, aus eigenen Kräften dieses gestörte Gottesverhältnis in Ordnung zu bringen. Und trotz des vielleicht mißverständlichen Zusatzes „damnans et afferens nunc quoque aetemam mortem, his qui non renascuntur, per baptismum et spiritum sanctum'" macht die CA ernst mit dem totus homo totus peccator: Auch nach der Taufe, auch nach der Wiedergeburt, auch nach der Eingießung des Heiligen Geistes bleibt der Mensch als Ganzer, als Ungeteilter Sünder, der nicht mit Mitteln der Vernunft vor Gott gerechtfertigt werden kann, sondern nur durch dessen Gnade. Dabei ist die Konkupiszenz nicht nur ein Teil des SünderSeins; entscheidender für die Definition der Sünde ist aber der Verlust des metus und der fiducia Dei, der dann zur Begierde führt. Dieses „carere iustitiae originalis" spricht auch das Gutachten der Altgläubigen in Nachfolge zu Anselm und Thomas mit; jedoch scheinen der Verlust von Furcht und Vertrauen in der Taufe aufgehoben zu sein bis auf eben jene Begierde, die zur Tatsünde verleitet. Hier ist die CA in ihrer Aussage wesentlich schärfer; und die Variata spricht eine noch unmißverständlichere Sprache. Sie redet von der „horribilis caecitas"10; wo das Gutachten der katholischen Mehrheit in Worms an der Stelle nur von einer Krankheit" spricht, da betont die CA Variata einen bleibenden Defekt und eine bleibende corruptio, die substantiell aus dem Verlust der ursprünglichen Gottesliebe und des natürlichen Gehorsams besteht und durch die concupiscentia vervollständigt wird. Somit sei es in der Konsequenz ein „Traum"12 zu glauben, daß der Mensch von sich aus, mit eigenen Kräften diesen Defekt beheben könnte. Im Gegenteil seien diese Defekte, nämlich „carere ilia luce ac noticia Dei, ... item carere illa rectitudine, hoc est, perpetua obedientia, vera, pura ac summa dilectione Dei, et similibus donis integrae naturae"13, von Natur aus „damnatae res", und nichts kann sie aufheben als allein der durch Christus geschenkte Glaube. Wenn also das Mehrheitsgutachten in Konsequenz traditioneller Aussagen die Sünde auf einen moralischen Defekt verkürzt mit der Alleinwirksamkeit der Konkupiszenz, die zu Aktualsünden verleitet, dann zeigt es damit klar, daß es eben nicht nur um neue Vokabeln geht, sondern um eine radikal andere Anthropologie und damit eo ipso auch eine radikal andere Theologie. Somit liegt es auf der Hand, daß nach einer Konsens-Feststellung zum dritten Artikel nun die Behandlung der Frage Glaube/Rechtfertigung/gute Werke einen

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CR XXVI, 273. CR XXVI, 351. " Vgl. Karlsruhe 2, fol. 72. 12 Vgl. CR XXVI, 352, wo die Vokabel „somnium" aus der Apologie übernommen wird. 13 CR XXVI, 351. 10

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recht breiten Raum einnimmt und schon die Aufteilung erkennen läßt, es könne hier mit den Protestanten keine Einigung erzielt werden. Es wird nicht zuerst über den Glauben disputiert, sondern von vornherein wird der gesamte Themenkomplex aus der Perspektive des Verhältnisses von Glauben und guten Werken betrachtet. Damit bestätigt sich die Vermutung des Wittenberger Gutachtens, das sola fide werde niemals Anerkennung bei den Altgläubigen finden, sondern immer und zugleich werde die Werkgerechtigkeit mit in das Justifikationsverständnis eingebunden. Folgerichtig können die Verfasser des Mehrheitsgutachtens der protestantischen Auffassung zustimmen, niemand könne aus eigenen Kräften gerechtfertigt werden. Diese Übereinstimmung mit dem Wortlaut der Confessio Augustana Invariata kann aber lediglich für die Werke „ante iustificationem" gelten; hier sei es in der Tat so, daß die Kräfte „ad bene operandum" außerhalb des moralischen bzw. bürgerlichen Bereiches unwirksam sind.14 Doch schon diese Formulierung ist verdächtig. Die Auffassung von der Unwirksamkeit der Kräfte schließt jedenfalls nicht aus, daß solche Kräfte nicht vorhanden sind und bei rechtem Einsatz - und sei es, daß sie durch den Heiligen Geist quasi .geweckt' werden - dann eben doch wirksam werden könnten! Und der Verdacht wird auch sogleich bestätigt, wenn es dann weiter heißt, diese Werke verdienten zwar die Rechtfertigung nicht, wirkten ihr jedoch als „preperatoria ... et dispositive gratie iustificantis accipiende"15; wie auch die Furcht des Herrn der Anfang der Weisheit sei, so seien die guten Werke der Anfang der Gerechtigkeit. Auch der Nachsatz, die rechtfertigende Gnade werde aus dem Verdienste Christi geschenkt, schützt somit nicht davor, daß ganz klar hier die alte, von Thomas stammende Position beibehalten wird, die Gnade setze eine Bewegung in Gang, die schließlich aber auf eigentümliche Art die Gnade bedingt. Es ist dann eben nicht mehr die Gnade allein, die die Rechtfertigung bewirkt, sondern es sind die durch die Gnade gleichsam befreiten Kräfte. Dazu sei das Bild der caecitas aufgegriffen, welches in der Beschreibung des protestantischen Verständnisses der Erbsünde Verwendung gefunden hatte: Im Gutachten der Altgläubigen stellt sich der Sachverhalt so dar, die Erbsünde sei gerade keine Blindheit, sondern eine Art Sehschwäche, die durch die von Gott geschenkte Brille der Gnade soweit behoben wird, daß der Mensch mit dieser Sehhilfe den Weg erkennen kann, der ohne Umwege zu Gott und Gnade hinführt: „... divina motione preveniente ad parandas domini vias ante gratiam iustificantem"1' - die so gewirkten Werke sind in der Lage, vorbereitend wirksam zu werden, bereit zu machen für den Empfang der Gnade. Ist also hier schon eine Mitwirkung des Menschen festzuhalten, so zeigt sich dies noch stärker bei den guten Werken post iustificationem. Gott handelt mit

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Karlsruhe 2, fol. 72v. Karlsruhe 2, fol. 72v. " Karlsruhe 2, fol. 72v. 15

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uns, durch uns, nicht ohne uns, und die guten Werke sind Zeugnisse dieses Handelns mit und am Menschen. Somit kann auch die Vokabel des meritum nicht wegdiskutiert werden, und sie hat ihre Berechtigung insofern, als sie Anerkennung findet „Non vero propter opens nostri dignitatem ex se, sed gratie impellentis et opus perficientis."17 Das sieht beim ersten Lesen wie eine Übernahme der entsprechenden Stellen des 20. Artikels der Confessio Augustana Variata aus, aber auch wirklich nur beim ersten Lesen; bei genauerem Hinschauen fallt auf, daß es letztlich doch das Werk ist, welches zwar durch die gratia operans et cooperans sowie durch die gratia perficiens begleitet und vervollkommnet wird und deshalb verdienstvoll ist, aber eben nicht die Person. Nicht der Sünder wird gerechtfertigt, sondern das Werk dessen, der durch die Gnade zu gutem Tun ermächtigt wird. Deutlicher ist dies zu erkennen, wenn es kurz darauf heißt, die Gnade mache die Werke würdig." Die Würde liegt also nicht im Werk als solchem bereits eingeschlossen, sondern es wird durch die Gnade würdig. Auch dies klingt zunächst beinahe reformatorisch, indem die Gnade eindeutig dem Werk vorgeschaltet ist; dennoch bleibt es das opus, das Würde verdient, nicht die bereits gerechtfertigte Person. Dies bedeutet nun aber: Nicht durch Glauben geschieht Rechtfertigung, sondern durch das in der Gnade gewirkte Tun des Menschen. Zwar werden in gewissem Maße die eigenen Kräfte und Werke ausgeschlossen, wie es die Negationsformel der CA Invariata gesagt hatte, indem eine durch die Gnade geschenkte „fremde Würde" postuliert wird"; bemerkenswert ist jedoch, daß weder die „propria merita" ausgeschlossen werden noch klar die Linie zwischen rechtfertigendem Gott und Mittun des Menschen gezogen wird. Dies ist dann iustificatio in Anlehnung an die thomistische Lehre. Die gratia praeveniens versetzt den Menschen in den Zustand und die Möglichkeit, gute Werke zu tun, Gehorsam gegen Gottes Gebot zu üben und seinem Gesetz Folge zu leisten; die gratia operans et cooperans begleitet sein Tun und verhilft zu ständigem Wachsen in der Gnade mittels stets besser werdender Werke; und schließlich macht die gratia perficiens dieses unter dem Vorzeichen der concupiscentia auch immer wieder ins Negative zurückfallende Tun vollkommen und hebt den Menschen, der sich bemüht hat, in den Stand der Seligkeit. Nicht anders ist es zu interpretieren, wenn das Mehrheitsgutachten formuliert: „... operibus nostris, que sua gratia inchoavit, perfecit et sanctificavit, amplissimam et incomparabilem mercedem."20

" Karlsruhe 2, fol. 72v. Karlsruhe 2, fol. 73. " zur Mühlen stellt hier die Verbindung zur ockhamistischen Gnadenlehre her, nach der ebenfalls erst die acceptatio Gottes das Werk in Wahrheit verdienstvoll macht (vgl. ders.: Edition ..., a.a.O. S. 57). 20 Karlsruhe 2, fol. 73. 18

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„Verdienst" wird also darüber hinaus hier im Sinne des meritum de condigno definiert. Ausgesprochen problematisch ist generell die Aufteilung, die das Gutachten - und in seinem Gefolge auch die Texte von Pfalz und Brandenburg vornimmt in einen Bereich „ante iustificationem" und „post iustificationem". Dadurch wird ein anthropologisches Raster aufgebaut, das jeweils nur eine Teilwahrheit über den Menschen zu sprechen imstande war: eine Wahrheit über den Menschen vor der Rettung durch Christus, eine nach der darin erfolgten Gnadenzusage. Beide Wahrheiten gingen dabei grundsätzlich von einem durchweg positiven Menschenbild aus. Prinzipiell ist der Mensch als Ebenbild Gottes dessen Freund und Mitstreiter, der von Gott so geschaffen ist, daß er seiner Wesensbestimmung entsprechen kann; zu diesem Zweck nämlich hat ihm der Schöpfer ein liberum arbitrium mitgegeben auf seinem exitus-reditus-Weg. Durch den Sündenfall sind diese natürlichen Gaben verschüttet durch das NichtHaben der originalen Gerechtigkeit und durch die Begierde, den amor sui, der größer und mächtiger ist als der amor Dei. Nun aber kommt der entscheidende Unterschied zur protestantischen Position. Durch das Evangelium und die Annahme dieses Evangeliums in der Taufe werden die erwähnten, von Gott eingesetzten Gaben befreit von dieser Sünde, dieser Krankheit, und es bleibt nur noch ein Stachel im Fleisch, der zu einzelnen Tatsünden verleitet. Generell aber befindet sich die Kreatur Gottes nun wieder auf dem von Gott bestimmten Weg zur Seligkeit, und durch die von der Gnade Gottes gewirkte Befreiung seiner natürlichen Kräfte, die auf Gott hin gerichtet sind, kann der Mensch nun seinerseits seinen Gang auf diesem Weg beschleunigen, helfend mitwirken, als Partner Gottes die Gründe für seine Rechtfertigung liefern, sich ihr als würdig erweisen. Die Reformatoren sahen es dagegen als unmöglich an, daß der Mensch sich in der Weise auf seinem Heilsweg befindet; im Gegenteil: Er befindet sich nicht auf dem Weg, sondern eigentlich ist er in dem Moment schon angekommen, in dem Gott durch das Kreuz Christi Ja zu ihm gesagt hat, und zwar in dem Augenblick sein Ja gesprochen hat, in dem der Mensch weiter denn je von Gott entfernt war, als er blind, taub und verstockten Herzens die Wahrheit und die Liebe an zwei Balken genagelt hat. Er hat also gerade nicht dem seine Gnade geschenkt, der dieser Gnade würdig gewesen wäre, sondern dem, der am allerunwürdigsten war. Mag die traditionelle Theologie bis zu diesem Punkt noch gleichlautend sein21, so kann sie sich nun aber nicht mehr vorstellen, daß der Mensch im Grunde ein Unwürdiger bleibt, also nicht in einen Stand versetzt wird, der es ihm nun ermöglicht, von seinen guten Gaben, die ja nur verschüttet waren, nun wieder Gebrauch zu machen. Thomas von Aquin etwa konnte von einem status gratiae sprechen, der den status corruptionis ablöst. In reformatorischer Sicht bilden status corruptionis und status gratiae dagegen eine Einheit, die die Person in die ungeheure Spannung des simul

21

Bei Betrachtung der weiteren Denkschritte wäre in der Tat auch anzufragen, ob nicht schon bis hierher andere Vorstellungen vorausgesetzt werden müssen bzgl. dessen, was dem Menschen zuzutrauen ist oder nicht. 156

iustus et peccator hineinnimmt, eine Spannung, die nur der aushält, der beide Wahrheiten als Anspruch und Zuspruch versteht! Und beide Wahrheiten treffen den Menschen als Ganzen, totaliter, ohne Wenn und Aber, so daß es strenggenommen auch kein Vorher-Nachher gibt in dem Sinne, daß eine Wahrheit die andere abgelöst oder aufgehoben hätte. Im Abschnitt über die iustificatio fidei ist festzustellen, daß die Altgläubigen offensichtlich nicht klar erfaßt haben, was die Reformatoren unter diesem Wort gemeint haben. So verdrehen sie das sola fide zu einer fides viva, „que per dilectionem operatur, quam ecclesiastici doctores 'formatam' appellant"22. Sie verwahren sich explizit gegen eine Auffassung, die von einem „tantum" oder einem „sola" spricht; der Grund dafür ist dabei interessanterweise jeweils ein praktisch-theologischer, zumindest nach außen. In beiden Fällen - so die Befürchtung - könnte die Formel beim Volk zu Mißverständnissen führen. So sympathisch dieses Anliegen zunächst auch erscheinen mag, wenn es vor einer passiven Innerlichkeit und einem unchristlichen Quietismus zu warnen vorgibt, so wird doch schnell der eigentliche und dann auch sehr problematische Hintergrund sichtbar. In beiden Fällen nämlich wird betont, daß die Liebe, „sine qua nemo iustus esse potest"23, bei einem solchen Rechtfertigungsverständnis herauszufallen droht. Kein Mensch, so schwingt unausgesprochen mit, würde sich noch in der Nächstenliebe üben, wenn ihm eingeredet wird, daß der Glaube ohne Früchte ausreicht, Gott zu gefallen. Das sittliche Verhalten soll also gerettet werden. Wie fatal jedoch eine so begründete Ethik dann ist, liegt ebenso auf der Hand. Welchen Wert hat eine gute Tat am Nächsten, wenn diese in ihrem Innersten nicht um des Nächsten willen geschieht, sondern dazu dienen soll, den „Täter" vor Gott angenehm und gerecht zu machen? Gleichwie, für die Altgläubigen besteht kein Zweifel daran, daß „durch Glauben gerecht sein" nur heißen kann: durch den Glauben gerechtfertigt werden, der in der Liebe wirksam wird. Und das ist dann genau keine Alleinwirksamkeit der Gnade Gottes, sondern ein Mittun des Menschen an seinem eigenen Heil. Fälschlicherweise ziehen die Katholiken dabei den Schluß, aus der Forderung der Evangelischen, daß der Gerechte gute Werke tun muß, könne gefolgert werden, beide Parteien meinten im Grunde dasselbe. Das Gutachten übersieht geschickt: Die Protestanten fordern sehr wohl ethische Verantwortung eben von dem Gerechten ein, d.h. von dem, der bereits im Vollsinne in der Gnade steht und sie sich nicht mehr verdienen muß. Somit ist dieser Text der konservativen Kräfte mehr als ein Beweis für alles, was das Wittenberger Gutachten von der Seite der Altgläubigen befürchtet hatte: In dem Punkt des sola fide wird es zu keiner Einigung kommen, ohne daß 22 23

Karlsruhe 2, fol. 73. Karlsruhe 2, fol. 73v. 157

dieses sola so lange gedreht und gewendet wird, bis es nicht mehr das ist, was die Reformatoren damit zum Ausdruck bringen wollten: das radikale Sündersein des Menschen auch nach der Taufe; die radikale Liebe Gottes, die sich nicht erst an dem entzündet, was liebenswert ist, sondern sich das Liebenswerte erst schafft24; das radikale Gerettet-Sein allein und ausschließlich durch diese Liebe Gottes im Gekreuzigten! 2.2.3.3.2 Das Gutachten der PfälzerZusammen mit Brandenburg wurden die Pfälzer nach der Übergabe ihres Gutachtens dazu aufgefordert, sich mit der Mehrheitspartei zu vergleichen.2 Dazu wurden sie am 20. Dezember aufgefordert, zu Pelargus und Eck zu kommen, um sich mit ihnen auf den Mehrheitstext zu einigen. Sie willigten in das Gespräch ein; verhandelt wurde mit den Ständen getrennt, als erste mit den Pfalzgräfischen. Diese zeigten sich jedoch in keiner Weise bereit, von ihrem Text abzuweichen.3 Der Prädikant zu Heidelberg, Heinrich Stoll, bringt dabei sogar noch eine besonders dramatische Note ein: „... sonder sind die Pfaltzgrevischen theologen und sonderlich der Predicant zu Heidelberg uf seiner meinung pliben und gesagt, er wisse on Verletzung seines gewissens nit von der ubergebnen schlifft zuwychen, sonder wol bey der pliben und beharren und sin leib und leben darüber lassen."4 Dies läßt erwarten, daß der Text sich in besonderer Weise der Gegenseite zu öffnen scheint. Auch das Gutachten der Pfälzer beginnt mit einer Darlegung der Erbsündenlehre.' Ihm jedoch kann man schon deutlich anmerken, daß der Text eher auf einen Vergleich hin angelegt ist. Sein Ton ist freundlicher, milder, spricht darauf an, offensichtlich bestehe doch in der Auffassung Konsens, was der Inhalt der Erbsünde sei, nämlich das Entbehren der natürlichen Gerechtigkeit. Dann aber wird das Bleibende dieser Sünde im Einklang mit dem Mehrheitsgutachten auf das „materiale" reduziert, nämlich auf die concupiscentia6; jedoch werden die Begriffe des „fomes peccati" und der inclinatio ausgelassen, so daß die empfindlichsten Vokabeln wenigstens nicht von vornherein als Reizmittel in die Debatte Vgl. die 28. These der Heidelberger Disputation WA 1, 354/35f. Vgl. die Einführung bei Pfeilschifter ARC ΠΙ, 322; dazu Luttenberger: Glaubenseinheit ..., a.a.O. S. 129-139. 2 Vgl. dazu weiter oben. 3 Vgl. München 2, fol. 113v: „Doch das die substantzs nicht abbrachen wurde ...". 4 Karlsruhe 2, fol. 100. 5 Am 17. Dezember benannten die pfälzischen Gesandten im Präsidentenrat die Erbsünden- und die Rechtfertigungslehre als diejenigen Punkte, die debattiert werden müßten, und sie erkannten die enge Verflechtung beider Themen: „Aber befinden, das der span sei in 2 puncten: des ein in der erbsunde, zum 2. der iustification halb. Do mocht man sich in 1 puncten, wo einer des andern nerte." (München 2, fol. 57). 6 Vgl. Karlsruhe 2, fol. 79. 24 1

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geworfen werden, wenn sie auch inhaltlich noch mitschwingen mögen. Auch wird ausdrücklich daraufhingewiesen, die Schuld, der Reat, werde aufgehoben7, worin Einigkeit mit den Protestanten besteht. Auch nach der Taufe bleibt der Mensch Sünder, und zwar als totus homo totus peccator - aber eben auch totus iustus. Und diese Zweiheit, dieses simul zweier Bestimmungen, wie sie konträrer nicht sein können, bereitete den Altgläubigen Verstehensschwierigkeiten; für sie war nur ein scharf getrenntes Entweder-Oder denkbar. Es findet hier also eine sehr weit gehende Annäherung an die reformatorische Position statt, die in ihren Formulierungen zumindest so offen ist, daß sie auch für die Protestanten annehmbar wäre. So ist das Gutachten sehr zuversichtlich, die Evangelischen könnten sich nach weiterer Klärung auf diese Auffassung einlassen. Man muß jedoch entgegen dem Optimismus der Pfälzer beachten, daß in der Reduktion des bleibenden Sündenbegriffs auf das materiale peccati die reformatorische Position nicht hinreichend getroffen ist. Als zweiten Punkt greifen die Pfälzer den Topos des meritum auf, den sie von der Erweiterung „meritum congrui" befreit behandeln wollen, wiederum deshalb, um nicht mit einem offenbaren Reizwort einen Streit zu provozieren." Statt dessen soll vom „meritum dispositivum" gesprochen werden. Dieses Attribut wird in der deutschen Fassung mit „furberaitlich"' wiedergegeben und so verstanden, „das die gerechtigkeit des gesetz bezwinge die ungebesserten unnd onverneuten unnd soll doch geleist werden, dann solang der mensch zusündigen verhart wider die gewissen unnd widerstet dem vermanenden heiligen geist, so empfaht er kein gnad."10 Das nun ist wiederum eine klare Absage an das „sola fide", denn hier wird das Tun des Menschen eindeutig aufs engste verflochten mit dem Empfang der Gnade; fast noch stärker als im Mehrheitsgutachten wird das verdienstvolle Tun vor die Gerechtsprechung, ja sogar vor das Annehmen der Gnade gestellt. Hierfür wird das Gesetz argumentativ ins Spiel gebracht, welches in der Lage ist, den Menschen zu bezwingen; die Erfüllung des Gesetzes solle deshalb von diesem 7

Vgl. Karlsruhe 2, fol. 79. ' Vgl. Karlsruhe 2, fol. 79: „De merito predispositivo, ne meritum congrui pariat disceptationem, esset commodius et clarius dicere." ' Karlsruhe 2, fol. 81. 10 Karlsruhe 2, fol. 81f; vgl. auch die ausführlichere deutsche Fassung des kurfürstlich-brandenburgischen Gutachtens Karlsruhe 2, fol. 87vf, die stellenweise identisch mit diesem Textstück ist: „Achten wir, es solt Richtiger unnd klerer sein, das man also lere, das die, so noch nicht wider geboren sind, muessen durch das gesetz in der zucht gehalten werden. Unnd das solche zucht oder gerechtigkeit des gesetzes Auch darumb muesse gehalten werden, dann solang der mensch beharret in sünden wider das gewissen und widerstrebt dem heiligen geist, der in Reitzet, so kan er die gnad nit empfahen ...". 159

geleistet werden; also ist dies ein Hinweis darauf, es müsse ein den Gnadenempfang sozusagen vorbereitendes Tun geben. Ganz entfernt mag hier der Versuch anklingen, die reformatorische Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium aufzunehmen. Das Gesetz ist - nach Gal 3,24 - der „Zuchtmeister" (das klingt in dem „bezwingen" schön an) auf Christus hin; jedoch wird der entscheidende Schritt des Paulus und im Anschluß an ihn der Protestanten nicht mehr mitvollzogen. Das Gesetz ist Zuchtmeister gerade nicht in dem Sinne, daß es den Menschen wegen seiner Abkehr von Gott in eine Befolgung der Gebote zwingt und einen Gehorsam entsprechend entlohnen würde, sondern es verweist im Gegenteil auf Christus als den einzigen Heilsmittler. Das Gutachten der Pfälzer macht den Empfang der Gnade von einer inneren und äußeren Bereitschaft des Menschen abhängig - und genau das ist es, was Luther etwa mit der 28. These der Heidelberger Disputation" abgewehrt hat. Im Gegensatz zur menschlichen Liebe entzündet sich die Liebe Gottes nicht an etwas in seinen Augen Liebenswertem, sondern genau am scheinbar nicht Liebenswerten; deshalb kann der Mensch nach protestantischer Sicht Gott gegenübertreten und wird von ihm angenommen, ohne daß er vorher ein anderer, durch Werke und Verdienste besserer Mensch werden müßte. Freilich versuchen die Pfälzer noch einen Schritt weiter zu gehen: Sündenvergebung geschieht „gratis, non propter dispositiones precedentes aut ulla alia opera, sed propter Christum fide."12 Und doch gelingt auch hier die Abnabelung von traditionellen Verstehensrastern nicht vollständig. Dieser Sündenvergebung wird nunmehr die wahre Buße und Zerknirschung vorgeschaltet; nun war diesbezüglich schon zu sehen, daß die protestantische Bußlehre den Glauben an die Rechtfertigungsgnade bereits als integralen Bestandteil der poenitentia versteht, also gerade nicht losgelöst betrachtet von der bereits geschehenen iustificatio. Sündenvergebung ist im Kreuz Christi geschehen - dem kann nur vertraut und geglaubt werden. Buße ist in ihren beiden Bestandteilen (als Erkenntnis des totalen Angewiesenseins auf Gott und als Glaube an seine promissio) nur möglich nach dem Empfang des Heiligen Geistes, der von der Blindheit der Verstrickung in das Vertrauen auf eigene Kräfte herausführt in die befreiende iustitia aliena. Gegenüber dem Majoritätsgutachten behandelt der Pfälzer Text nur noch die Verdienste der guten Werke in den Gerechtfertigten; auch dieses darf sicher als vorsichtige Annäherung an reformatorische Terminologie und darüber hinaus an reformatorische Theologie gewertet werden. Anhand der Apologie wird dabei eine Übereinstimmung festgestellt hinsichtlich der Auffassung, gute Werke würden gefordert und belohnt. Tatsächlich hatte sich die Apologie besonders darum bemüht, die guten Werke für den Christen einzufordern, ohne sie als für

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Vgl. wiederum WA 1, 354/35f. Karlsruhe 2, fol. 79.

das Rechtfertigungsgeschehen konstituierend zu bestimmen, und in gewisser Weise war es ihr gelungen, diesen schärfsten Angriff der Gegner abzuwehren; so verwundert es also nicht, wenn das Gutachten sich die Apologie als Zeugen heranruft; eher versetzt in Erstaunen, daß nicht mit der veränderten Fassung der Confessio Augustana gearbeitet wird, die ja ebenfalls für die Frage der guten Werke breiten Raum zugestanden hatte und der katholischen Position soviel Offenheit wie möglich und so wenig wie nötig entgegengebracht hatte, wobei die Klarheit und Unmißverständlichkeit des sola fide sine operibus schon fast nicht mehr gehalten werden konnte. Auch im nächsten Abschnitt wird die Apologie bemüht als Zeugin für die in beiden Lagern herrschende Ansicht, Glaube sei nicht nur ein historischer, sondern ein „opus spiritus sancti regenerantis et sanctificantis hominem"13. Gleichwohl ist sofort die sowohl von der Apologie als auch von der CA Variata abweichende Nuancierung bei genauem Hinschauen nicht zu übersehen. In dem Partizipialausdruck schleicht sich sofort wieder eine Ethisierung des Glaubensbegriffes ein, der ihn aus einem bloß historischen zu einem lebendigen machen will (ganz ähnlich, wie es bei der Paulus/Jakobus - Kontroverse zu sehen war14); nicht der der Verheißung vertrauende Glaube ist der korrigierende Begriff, sondern der Glaube, der „in contritione vivificatur ... et se subiicit deo"15, der also (nach dem bisher Gesagten bzgl. der Buße dürfte das deutlich sein) eigene Werke einbringt und dem Gebote Gottes Folge zu leisten willens und in der Lage ist. Zwar geschieht auch hier immer alles mit der Hilfe von Gottes Barmherzigkeit; das ist erkennbar an der Relativverschränkung „quo opere" und dem Zusatz „agnoscens misericordiam promissam'"6; dennoch scheint sich hinter dem „promissam" nicht die Glaubens- und Heilsgewißheit, die die Reformatoren gemeint haben, zu verbergen, sondern eine noch ausstehende, nicht verläßliche Zusage, die es durch Zuwirken abzusichern gilt, die man sich erst noch im Vollsinne verdienen muß. Es ist also nicht der grenzenlos vertrauende Glaube im Gegenüber zur fides der Dämonen angesprochen, sondern es ist einmal mehr der, mit dem Gott im Endgericht aufrechnet. Im deutschen Text ist dies noch um einiges deutlicher zum Ausdruck gebracht, indem bereits in dem Adversativsatz ein zweites Glied eingebracht wird. Nicht nur der bloße historische Glaube werde von der Apologie abgelehnt, sondern auch ein toter Glaube."

13

Karlsruhe 2, fol. 79v. Vgl. hier besonders unter 2.2.3.2. 15 Karlsruhe 2, fol. 79v. 16 Karlsruhe 2, fol. 79v. 17 Vgl. Karlsruhe 2, fol. 81v-82: „Im artickel von glauben wurdt kein widerspennigkeit sein in Ansehung der declaration unnd erclerung in der protestierenden hern Apologia, dieweil sie antzeigen, das sie den glauben nit allein fur ein Erkantnuss 14

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Der nächste Abschnitt untermauert die Feststellung, wie sehr auch das Pfalzer Gutachten noch im traditionellen Denken verhaftet ist, eindringlich. In ihm wird das „sola" zunächst einmal interpretiert als „sine ceteris virtutibus et bonorum operum fructu"". Schon in der Verwendung des „ceteris" aber wird das Mißverstehen offenbar, als sei der Glaube doch so etwas wie ein „Über-Werk", das aufgrund seiner Stärke und Kraft dann vielleicht keine weiteren Werke mehr braucht, aber an sich eben ein opus ist respektive eine Tugend. Glaube ist ein Werk mit einem besonderen Stellenwert - aber nichtsdestotrotz ein Werk. Das Gutachten geht aber noch weiter. Ein solcher sola-Begriff wird dann vehement abgelehnt; auch die Väter meinten bei seiner Verwendung nicht, daß Werke und Tugenden im Rechtfertigungsgeschehen keine Rolle spielten. Vielmehr sei „sola" ein anderer Ausdruck für die von Paulus benutzte particula exclusiva „gratis sine operibus". Und nunmehr wird in eindrücklicher Weise die gesamte Problematik offengelegt: „gratis" wird richtig verstanden als „gratia" - aus Gnaden; und dies paßt dann in die scholastischen Schemata. Zwar ist die Gnade immer und absolut das entscheidende Moment im Rechtfertigungsgeschehen - aber der Mensch und seine Fähigkeiten und Möglichkeiten sind eben auch nicht nichts! Zwar wollen die Pfalzer um der Vermeidung von Streitigkeiten willen auf die Wendung der fides caritate formata verzichten"; aber allein die Formulierung zeugt davon, daß sie inhaltlich nicht ganz von ihr lassen können. So sehr sie auch betonen, es wäre eine „Absurdität", die Rechtfertigung nicht dem Glauben an den Versöhner zuzuschreiben20, so sehr liegt ihnen doch andererseits an der Verschränkung mit der Buße und den guten Werken, die mindestens vorbereitende Wirkung in bezug auf den Gnadenempfang haben. Somit ist dieses Pfälzer Gutachten ein Dokument für den zaghaften Versuch, sich über die Terminologie an einen Ausgleich mit den Evangelischen heranzutasten - gleichzeitig aber genauso dafür, wie auch die Begriffe versagen müssen, wenn sie nicht in rechter Weise gefüllt werden!

wissen, Auch nit fur ein todten glauben unnd falschen, erdichten wan versteen, Sonnder ein werck des heiligen geists, den menschen wider geberende und heilig machende ...". " Karlsruhe 2, fol. 79v. " Vgl. Karlsruhe 2, fol. 82v: „So wir Nun hintzu setzten, wir möchten gerecht werden durch den formirten glauben, wurt villeicht der zweyfel Neu wen zanck pat. „ambiguitas novas excitaret rixas" fol. 80] erwecken, dann so die Scholastici sagen, der formiert glaub thue es, Alsdann legen sy dem glauben nit die gerechtigkeit zu." 20 Vgl. Karlsruhe 2, fol. 80: „Et esset magna absurditas dicere, homines aliter consequi remissionem peccatorum quam fide propter Christum." 162

2.2.3.3.3 Das Gutachten Brandenburgs'. Aus dem historischen Kontext ist ersichtlich, daß Brandenburg schon längere Zeit mit den Protestanten mindestens sympathisierte und sein Kurfürst, Joachim II., einer derjenigen war, welche die Ausgleichspolitik des Kaisers nicht nur förderten, sondern in nicht unwesentlichem Maße auch angeregt haben.2 In der Instruktion für seine Räte zum Wormser Tag heißt es sogar z.B.: „Sie solten das wörtlein sola wieder mitbringen, oder selbst nicht wiederkommen."3 Es erstaunt demnach kaum, wenn auch die Brandenburger sich nicht bereit zeigten, von ihrem übergebenen Text zur Confessio Augustana zu weichen. Als sie hörten, nach dem Gespräch mit den Pfälzern wäre nun die Reihe an ihnen, äußerten sie: „... sye megen wol leiden, das nun mit inen handien, aber ee sye von ir ubergebne schlifft wychen wollen, Ee wolten sye sich verbrennen lassen."4 Somit ist es nicht verwunderlich, wenn auch in der Beurteilung der Confessio Augustana und der Apologie ein eigener, milder und freundlicher Weg gesucht wird, der eher auf eine Einigung als auf harten Konfrontationskurs bedacht ist und bereit ist, den Protestanten entgegenzukommen. Schon in der Einleitung des Gutachtens wird darum festgehalten, zu welchem Zweck dieses Kolloquium überhaupt stattfindet und auch die Gutachten abgefaßt werden: „ut possit coire concordia"5. Dennoch aber läßt man sich nicht unter einen .Einigungszwang' stellen, welcher der ganzen Angelegenheit nur abträglich sein und im Gegenteil höchstens mehr Verwirrung und Streit erregen kann; es kann nicht um eine nebulöse und undifferenzierte Begriffsverschmelzung gehen, sondern vielmehr um eine Klärung dessen, was auf beiden Seiten die Meinung ist.6 Es fallt gerade im Vergleich zu den Gutachten der Mehrheitspartei und der Pfalzer auf, mit wie vielen Bibelstellen bei den Brandenburgern argumentiert wird; zudem wird für die Tradition ausschließlich Augustin bemüht, der ja nun den Protestanten als Kronzeuge für ihre Ansichten oftmals dienlich ist.7 Es kann

Vgl. die Einführung Pfeilschifters ARC ΠΙ, 320. Vgl. dazu u.a. Stupperich: Humanismus ..., a.a.O. S. 49-52; dazu Luttenberger: Glaubenseinheit ..., a.a.O. S. 124-129. 3 Zit. nach Lipgens: Standort ..., a.a.O. S. 41, Anm. 31. 4 Karlsruhe 2, fol. lOOvf. 5 Karlsruhe 2, fol. 84. 6 Vgl. Karlsruhe 2, fol. 84: „... tarnen, quia quedam ab ipsis ambigue posita videntur, veremur, ne ambiguitas postea novas discordias pariat ...". 7 Vgl. dazu Schindler, Alfred: Augustin als Vater der Ökumene. Zu einem Grundsatz des Dokuments: Lehrverurteilungen - kirchentrennend?, in: Logos. FS für Luise Abramowski, hg. von Hanns Chr. Brennecke/Ernst L. Grasmücke u.a., (BZNW 67) Berlin/New York 1993, S. 607-618. Schindler kommt allerdings in seiner 1

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gar keine Frage sein, daß darin zum einen eine deutliche und wohl beabsichtigte Frontstellung besonders zum Mehrheitsgutachten besteht, zum anderen aber dadurch auch in Richtung des anderen Lagers und der einigungsfreudigen Initiatoren und Gesprächsteilnehmer signalisiert werden soll, auf welcher Basis tatsächlich mit den Protestanten nur gesprochen werden kann: nämlich mit der Schrift. Wie auch in den beiden vorigen Gutachten wird hier zunächst die Erbsündenlehre behandelt. Dabei ist allerdings keinerlei Öffnung in Richtung der protestantischen Position spürbar, wenn über die übliche Definition der Erbsünde als carentia iustitiae originalis und viciosa concupiscentia hinaus wiederum festgehalten wird, zwar bleibe die Konkupiszenz als „materiale peccati", „reatum vero in Baptismo tolli"8. Wieder wird nicht der Schritt getan, daß zwar natürlich die Schuld getilgt und nicht angerechnet wird, der Mensch aber Sünder bleibt; und zwar bleibt die Sünde nicht nur als Aktualsünde, sondern sie ist tiefste Ursache für alle Tatsünden, nämlich die bleibende Unfähigkeit des Menschen zur Gerechtigkeit vor Gott. Man kann bereits davon ausgehen, dieses gemilderte Sündenverständnis werde Folgen haben. Wo der Mensch nicht radikal Sünder bleibt, da eröffnen sich ihm Möglichkeiten, an seinem Heil mitzuwirken. Im Abschnitt über die guten Werke wird zunächst erstmals nicht unterschieden zwischen Werken vor und Werken nach Empfang der Gnade, so daß zumindest von der Denkstruktur nicht sofort der Trugschluß nahegelegt wird, als könnten vires, opera und merita der Wiedergeborenen etwas zur Rechtfertigung beitragen. In fast wörtlicher Übereinstimmung mit dem pfalzischen Gutachten wird dabei zunächst die Begrifflichkeit des meritum congrui abgelehnt in Rücksicht auf dessen fehlerhafte Funktion; demgegenüber wird das rechte Verständnis interpretiert mit dem Hinweis, das Gesetz halte diejenigen in Zucht, die nicht wiedergeboren sind.9 Und mit der gleichen Schärfe wird dieser Gesetzesgehorsam nicht als Disposition für die Sündenvergebung in Geltung gebracht, sondern wird diese dem Glauben zugeschrieben; ebenso werden Reue und Buße als Zeichen für die wahre Bekehrung gewertet, aber eben nur als Zeichen, nicht als Voraussetzungen. Gleichwohl muß natürlich auch hier festgehalten werden, was es schon beim Text der pfalzischen Theologen zu beachten galt. Hier findet eine Annäherung an reformatorische Theologie statt - aber auch nicht mehr. Dieses gilt in gleichem Maße auch für den nächsten Punkt. Nachdem nun doch noch die Aufteilung in gute Werke vor und nach der Rechtfertigung erfolgt, wieder in fast wörtlicher Übereinstimmung mit dem Untersuchung zu dem Ergebnis, Augustin könne eher atmosphärisch denn inhaltlich als .Vater der Ökumene' gelten. 8 Karlsruhe 2, fol. 84v. ' Vgl. Karlsruhe 2, fol. 84v. 164

Pfalzer Gutachten, wobei also die Werke der Gerechtfertigten verdienstvoll genannt werden müssen, gibt es an dieser Stelle eine sehr interessante Formulierung: Fatemur fide gratis nos iustificari"10. Das klingt insofern vielversprechend, als hier ein Nebeneinander von fides und der particula exclusive gesucht wird, was tatsächlich so etwas wie eine Kompromißformel ist. Es ist der Glaube als alleiniger Grund der Rechtfertigung festgehalten und gleichzeitig das gratis, das jedes Werk ausschließt. Beiden Anliegen der Reformatoren, dem „sola fide" und dem „sola gratia" in ihrer radikalen Ausschließlichkeit, wird also scheinbar Rechnung getragen. Um so enttäuschender ist es, wenn im Nebensatz die aus dem pfalzischen Gutachten bereits bekannte Formel angeschlossen ist, daß unter dieser exclusiva gegen den bloß historischen Glauben der lebendige verstanden wird. Hier ist allerdings die deutsche Fassung näher an der evangelischen Position, als es die wortwörtliche Übernahme des lateinischen Textes der Pfälzer erwarten läßt. In ihr fehlt dieser Hinweis auf den lebendigen Glauben, und sie verweist stärker an den Verheißungsglauben, wenn sie formuliert: „... durch welches werck der mensch in der reu, so er von wegen seiner sünd erschrickt unnd in engsten ist, widerumb getrost unnd lebendig wurt unnd helt sich an die verheissne gnad ..."". Hier ist ein ähnlicher Rückbezug auf die verzweifelten Gewissen und deren Tröstung zu finden wie in der Confessio Augustana Variata. Jedoch kann sich das brandenburgische Gutachten trotz dieses bemerkenswerten Ansatzes weder terminologisch noch inhaltlich zu einem „sola fide" durchringen, im Gegenteil: Diese Formel wird wie im Pfälzer Text abgelehnt, es sei denn, daß darunter das in gleicher Weise verkürzt verstandene „gratis" des Paulus gefaßt werde.12 Schärfer und ausführlicher jedoch als die Pfälzer in ihrem Gutachten setzen sich die Brandenburger mit der „ambiguitas"'3 der Formel der fides formata auseinander, die folgendermaßen verstanden werden kann: Nicht mehr der Glaube allein rechtfertigt, sondern der durch die Liebe wirkende, wodurch die Liebe „esse formalem iusticiam"14. Liebe sei im Verständnis der Scholastiker als gratia iustificans das formale iustitiae; Glaube ohne Liebe sei eine leere Vokabel, eine bloße historische Kenntnis, und hebe sich dadurch in nichts von dem ab, was auch die Dämonen vermögen.15 Soweit das auch richtig sein mag, verdreht sich das rechte Verständnis in dem Moment ins Gegenteil, wenn die Liebe dem bloß historischen Glauben wenigstens den Worten nach scheinbar vorgeschaltet wird; dies jedoch widerspräche den Aussagen des Pau-

Karlsruhe 2, fol. 85. " Karlsruhe 2, fol. 88v. 12 Vgl. Karlsruhe 2, fol. 85-86. 13 Karlsruhe 2, fol. 85v. 14 Karlsruhe 2, fol. 85v. 15 Vgl. Karlsruhe 2, fol. 85v. 10

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lus, ja Christi selbst. Hier verwahrt sich also das Gutachten eindeutig gegen eine Vermischung oder gar Unterordnung von Glaube und Liebe. Der Glaube ist das entscheidende Glied im Rechtfertigungsgeschehen. Freilich - und hier wird wieder die Verstrickung in Altbekanntes spürbar - wird Glaube sofort als „das leben der gerechten"" interpretiert und damit dann doch eine Verbindung von fides und Caritas gesucht. Auch das Brandenburger Gutachten schafft es also nicht, sich von einer Vorstellung zu lösen, die gute Werke oder ein Leben in der Nachfolge der letztgültigen iustificatio vorschalten muß. Auch für sie ist es undenkbar, daß Gott den totus homo peccator so, wie er ist, gerechtsprechen könnte; der Glaube alleine ist nicht in der Lage, Gnade bei Gott zu erwirken; zwar stimmt es, daß der Glaube rechtfertigt, aber nicht der historische Glaube, die nackte notitia, sondern der Glaube, der in der Nachfolge Christi, im Tun guter Werke diese bloße Kenntnis verinnerlicht und nach außen umsetzt. So könne der Glaube auch nicht in denen bleiben, die Todsünde tun, oder er wäre kein rechter Glaube, sagt weiter der Text.17 Das scheint für die brandenburgischen Theologen nun der endgültige Beweis dafür zu sein, daß ein Glaube, der sich nicht in der Liebe erweist, schlechterdings kein Glaube ist; und damit zeigen sie überdeutlich an, wie wenig für sie das reformatorische simul iustus et peccator nachvollziehbar ist, und zwar deshalb, weil sie Gerechtigkeit zwar ebenfalls als zugesprochene verstehen, es aber nicht dabei belassen; was zunächst noch iustitia aliena ist, das wird, ja das muß zu einer iustitia propria werden. Denn genau daran erweist sich der rechte Glaube: an einem gerechten Leben. Wenn also auch zugestimmt wird, der Mensch werde gerechtfertigt „non propter dignitatem nostrorum virtutum aut operum, sed propter filium dei"", wenn die Caritas als forma der fides abgelehnt wird wegen der darin enthaltenen Verschleierung, ja Verdrehung der Wirklichkeit, weil der Glaube der Liebe subordiniert wird, dann gelingt dennoch der wichtigste Schritt nicht, nämlich den Glauben aus dem Schattendasein eines bloßen Instrumentes für die Liebe bzw. für die guten Werke herauszulösen und ihm die ausschließliche und gerade darin befreiende Rolle in der iustificatio zuzuschreiben. Der Mensch bleibt auch in diesem Gutachten der von Gott in die Lage versetzte, durch Tugenden und Werke sich seine Gnade mitzuverdienen. 2.2.3.3.4 Das Jülicher GutachtenDas Gutachten der jülich-klevischen Gesandten Johann von Hatten, Conrad von Heresbach und dem Dürener Karmeliterprior Albert König ist vor der Übergabe am 8. Dezember den in Düsseldorf

16

Karlsruhe 2, fol. 89. Karlsruhe 2, fol. 86. " Karlsruhe 2, fol. 86. ' Vgl. Einführung Pfeilschifters ARC ΙΠ, 310; Text ebenfalls in Düsseldorf, fol. 117-124v. 17

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versammelten Räten zur Ansicht vorgestellt worden; diese billigten es und legten es anschließend dem Herzog vor.2 Auffällig ist auch hier, in welchem Maße der Text sich um eine Auseinandersetzung mit der Heiligen Schrift bemüht; wie auch beim Brandenburger Gutachten darf also davon ausgegangen werden, daß darin vielleicht nicht eine Öffnung, aber doch eine Bereitschaft besteht, die protestantische Prämisse des sola scriptura zu teilen. So paßt es dazu, wenn auf die Versuche, zur Annahme des Mehrheitsgutachtens zu bewegen, geantwortet wird: das ir andwort der schriefft gemes. Darumb sie verhoffen, daby zu blyben, und verhoffen, das keiner andern declaration von noten."3 Es wird hier expressis verbis festgehalten: „ad scripture regulam"4. Darüber hinaus wird zudem auf jegliche Bestätigung irgendeiner Position durch Väterzitate verzichtet, was ein zusätzliches Indiz dafür ist, daß dieses Gutachten sich nicht nur klar gegen das Mehrheitsgutachten bzw. dessen überzogenen Konservativismus richtet, sondern über die schon rein äußerlich feststellbare Annäherung an die Evangelischen dann auch die innere sucht. Im Gegensatz zu den anderen beiden Sondergutachten hält sich der Text der Jülicher Gesandten wie auch das Mehrheitsgutachten an den genauen Ablauf der Confessio Augustana, nimmt sich also nicht sofort die umstrittenen Artikel vor, sondern handelt dem Hagenauer Abschied und dem kaiserlichen Ausschreiben gemäß5 die einzelnen Punkte nacheinander ab. Somit wird erwartungsgemäß zunächst eine Übereinstimmung im ersten Artikel über Gott wie dann auch später in dem dritten über Christus vermerkt. In der Behandlung der Frage um die Erbsünde ist dieses Gutachten dann von einem erfrischenden Optimismus, was die Einigungsmöglichkeit betrifft. Hatten alle anderen Texte hier sehr richtig die bereits vorentscheidende Differenz angemahnt (vielleicht ohne sich dessen in jeder Hinsicht bewußt zu sein), gehen die Jülicher davon aus, daß, P)si utrique velimus concordie concedere, pacisci de hoc articulo posse putemus"6. Und tatsächlich entfernen sich die Verfasser des Textes um einiges von der Theologie der übrigen Gutachten. Zwar wird auch hier „quedam pronitas et concupiscentia" betont, die nach der Taufe blieben7, 2

Vgl. dazu Redlich, Otto: Jülich-Bergische Kirchenpolitik am Ausgang des Mittelalters und der Reformationszeit, Bd. I Urkunden und Akten 1400-1553, (PGRKG 28, 2/1) Bonn 1907, S. 310, Anm. 2; bei ihm liegt der Text auch gedruckt vor S. 310-314; zur Person des Conrad von Heresbach und seinem Einfluß in Jülich-Kleve vgl. Stupperich: Humanismus ..., a.a.O. S. 38; dazu Luttenberger: Glaubenseinheit..., a.a.O. S. 116-124. 3 München 2, fol. 114. 4 Karlsruhe 2, fol. 91. 5 Vgl. etwa Neuser: Vorbereitung ..., a.a.O. S. 110. 4 Karlsruhe 2, fol. 91. 'Karlsruhe 2, fol. 91v. 167

und es fällt sogar wieder das vorbelastete Wort der inclinatio ad deteriora8, jedoch erhalten diese Aussagen eine ganz andere Nuance durch die Klammer, in die sie hineingestellt sind: die verderbte Natur. Vorab wird festgestellt: «... natura nobis omnibus maneat"9, im Anschluß wird (mit Verweis auf Eph 2) gesagt: „Natura enim sumus filii ire ..."10. Und es klingt tatsächlich ganz protestantisch, wenn in direkter Beiordnung zu diesem Satz weiter formuliert wird: in Baptismo autem inpartiatur nobis spiritus sanctus, cuius ductu, non nostris viribus, sed illius virtute de concupiscentia ac diabolo triumphemus."" Das ist ein ganz eigener Ausdruck einmal für die Radikalität der Erbsünde auch nach der Taufe. An keiner Stelle wird die Unterscheidung zwischen dem Bleiben der bloßen concupiscentia als materiale peccati und dem Aufheben der tatsächlichen, der formalen Sünde gemacht; dazu läßt der Komparativ „deteriora" vermuten, daß das „Schwache", „Schlechte" ohnehin grundsätzlich vorhanden ist, sich dann aber aktualisiert in der Tatsünde. Weiterhin ist diese Klammer auch Zeichen für eine Übernahme des nicht minder radikalen simul-Verständnisses. Die Natur des Menschen bleibt - er ist totus peccator, grundsätzlich von Gott abgekehrt, seinem Zorne unterworfen; aber er ist ebenso grundsätzlich auch befreit von Sünde und Tod durch den Heiligen Geist, durch die unbedingte, unteilbare Liebe Gottes. Hier hinein gehört auch die Ablehnung irgendeines Vermögens des liberum arbitrium für das Heilsgeschehen.'2 Das ist weit entfernt von dem, was sich an traditioneller Theologie in den übrigen Gutachten finden läßt. Obwohl z.T. an alten Begrifflichkeiten festgehalten wird - vielleicht auch deshalb, um das Neue annehmbar zu machen -, findet doch eine starke Annäherung an die evangelische Position und die Auffassung vom peccatum regnatum statt. Ebenfalls in Übereinstimmung mit dem Mehrheitsgutachten werden die Artikel 4, 5, 6, 16 und 20 der Confessio Augustana zusammen betrachtet. Wohltuend fallt dabei auf, daß zwar die Verdienste als erstes genannt werden bei der Aufzählung dessen, was zusammenschauend behandelt werden soll, aber im folgenden weder durch gliedernde Überschriften noch durch sonstige Einschnitte eine Art Stufen-Rechtfertigung entwickelt wird, die sich in ein Vorher/NachherSchema pressen lassen muß und den Wert von Werken, Tugenden und Verdiensten je nachdem, von welcher Seite aus er betrachtet wird, unterschiedlich bewerten muß. Hierin unterscheidet sich das Jülicher Gutachten von den anderen drei Texten, und es ist festzuhalten: Wenn das Gutachten es unterläßt, den Wert jedes menschlichen Propriums in ein solches Schema zu integrieren, dann be-

' Karlsruhe 2, fol. 91v. 9 Karlsruhe 2, fol. 91 f. 10 Karlsruhe 2, fol. 91v. 11 Karlsruhe 2, fol. 91v. 12 Vgl. ARC ΠΙ, 318.

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weist es auch daran, wie sehr sich seine Verfasser dem Rechtfertigungsbegriff der Reformatoren inhaltlich angenähert haben, ihrer Anthropologie und - wo jede anthropologische Aussage immer und zugleich auch eine theologische ist ihrer Theologie. Unter diesen Bedingungen wird in Aufnahme der Formulierungen des Mehrheitsgutachtens jedes menschliche Mittun am Rechtfertigungsgeschehen abgelehnt.13 Das ist nun in seiner Aussage von größerer Radikalität, als es die acht Konservativen in ihrem Text gefaßt hatten, denn sie hatten die Unwirksamkeit aller Taten und Fähigkeiten seitens des Menschen nur für die Werke vor der Rechtfertigung behauptet. Auch die beiden anderen Separatgutachten konnten sich nicht dazu durchringen, in dieser Ausschließlichkeit und dieser Totalität den Menschen aus dem Rechtfertigungsgeschehen herauszunehmen. Bei dieser bis hierhin wirklich bemerkenswerten Offenheit des Jülicher Textes hin zu der protestantischen Auffassung sollte nun beinahe zu erwarten sein, daß diese Annäherung auch für das „sola fide" durchgehalten wird. Diesbezüglich aber wird man enttäuscht. Auch die Jülicher schaffen diesen entscheidenden Schritt nicht zur Gänze. Zunächst wird festgehalten, der Glaube rechtfertige vor Gott14; und wieder zeigt der Text, diesmal durch die Aufnahme des „coram'-Begriffes, eine starke Annäherung an protestantisches Gedankengut, denn in diesem relationalen Gefüge ist die Wahrheit über den Menschen verborgen.15 Nun kann der Text doch nicht umhin, die guten Werke ins Spiel zu bringen: „... et cum ea viva sit, ociosa esse non potest, quin operetur bona opera."16 Gerade im Vergleich zu den anderen Texten ist die vorsichtige Art und Weise, wie von den guten Werken gesprochen wird, ausgesprochen auffällig; an keiner Stelle erwähnt das Jülicher Gutachten, daß bona opera sein müssen, um Gottes Gnadenhandeln an uns zu vervollkommnen oder sich dieser Tat als würdig zu erweisen, lediglich als "non otiosus" wird das Wirken des Glaubens durch gute Werke bezeichnet. Obwohl also der Glaube den altbekannten und darin verdächtigen Zusatz des "viva" erhält, entsteht dadurch doch nicht automatisch ein Bedingungsgefüge, welches die guten Werke als Voraussetzung der Rechtfertigung postuliert. Interessanterweise übergeht der Text jede Diskussion um den meritum-Begriff. Es fällt nicht ins Gewicht, ob Werke de congruo oder de condigno oder sonstwie belohnt werden, weil diese Frage letztlich wiederum nur für den von 13

Vgl. Karlsruhe 2, fol. 91v. Vgl. Karlsruhe 2, fol. 91v: „Fidem autem in Christo Ihesu nos iustificare coram deo ...". 15 Vgl. etwa Ebeling, Gerhard: Disputatio de homine 3. Teil. Die theologische Definition des Menschen. Kommentar zu These 20-40, (Lutherstudien Bd. Π), Tübingen 1989, S. 421 (zu These 32). 16 Karlsruhe 2, fol. 91v. 14

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Bedeutung sein kann, der sich von der Beantwortung erhofft, sich etwas ausrechnen zu können. Erst für den, der sich bewußt ist, daß kein Werk in der Lage ist, näher zu Gott zu führen, als er in Christus auf ihn zugekommen ist, spielt der Lohngedanke keine Rolle mehr, da er der Verheißung glaubt und ihr vertraut. Der Topos des Vertrauens spielt nun auch im Jülicher Gutachten eine Rolle. Wie schon in den anderen Texten wird hier der Fiduzialglaube gegen einen bloß historischen Glauben postuliert17, und in diesem Zusammenhang und nur bezogen auf die fides historica wird das „sola" abgelehnt"; ansonsten aber wird zu der particula exclusiva keine Stellung bezogen, und gerade dieses Schweigen darf im Kontext der übrigen Aussagen und insbesondere im Vergleich zu dem mehr oder minder scharfen Nein dazu in den anderen Gutachten als leise Zustimmung gewertet werden. Ein zusätzliches Indiz dafür scheint auch dies zu sein: Die beiden particulae „gratis" und „sola" werden nicht gegeneinander ausgespielt". Dadurch vermeiden die Jülicher ausgesprochen geschickt die beiden Reizwörter. Der Fiduzialglaube nun richtet sich auf das Erbarmen Gottes und - und dies nimmt sich besonders in der Beiordnung etwas merkwürdig aus - das Werk der Liebe20; so kann es wohl nur verstanden werden als Gottes Liebeswerk. Der bemerkenswerte Schluß nun lautet, dieses Vertrauen ziehe - etwa im Sinne des Nachfolge-Gedankens - die Notwendigkeit nach sich, die Predigt über den Glauben immer auch zu verbinden mit der Predigt über Buße und gute Werke.21 Und das ist nun ein elementar reformatorischer Gedanke, der etwa in der Confessio Augustana Variata im erweiterten fünften Artikel über das ministerium verbi begegnet: „Cum igitur fide nos consolamur, et liberamur a terroribus peccati per spiritum sanctum, concipiunt veram dilectionem, verum timorem Dei, fiduciam, spem auxilii divini, invocationem, et similes fructus spiritus"",

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Vgl. Karlsruhe 2, fol. 92. " Ganz ähnlich, wie es aus der Paulus/Jakobus-Kontroverse und den Harmonisierungsversuchen dazu bekannt ist; vgl. Karlsruhe 2, fol. 92: „... atque ita ad penitenciam per fidem et opera bona provocentur, ne sola fide historica iactata vulgus servari se putet...". " Es war ja schon öfters zu sehen, daß die Altgläubigen das „gratis" noch mitsprechen zu können glaubten, das „sola" aber ablehnen zu müssen meinten; vgl. hier etwa unter 2.2.1.2 und 2.2.2.2. 20 Vgl. Karlsruhe 2, fol. 91v-92: „... facit credentes bene operari neque fidem esse posse sine fiducia misericordie dei et opere Charitatis ...". 21 Vgl. Karlsruhe 2, fol. 92: „... ut predicationi fidei semper adiungatur penitencia et bonorum operum commendatio." 22 Vgl. CR XXVI, 354. 170

öder noch starter in Artikel XX über diese Geistesfrüchte hinaus mitten in den Bereich der Ethik: „Debet enim in Ecclesia extare utraque doctrina, videlicet Evangelium de fide ..., debet etiam proponi, quae sint vere bona opera, qui sint veri cultus Dei."23 Nicht einmal eine Verpflichtung auf die guten Werke wird im Gutachten der Jülicher gefordert, sondern eine „commendatio", eine Anempfehlung. Und die Verbindung mit der Predigt hat nicht zu überhörende Anklänge an die fides ex auditu. Die guten Werke werden - wiederum in Übereinstimmung mit der protestantischen Sicht - als „fructus"24 benannt, nicht mehr und nicht weniger. An einer letzten Stelle wird sichtbar, wie weit sich die Jülicher auf die Protestanten zubewegten, sich aber doch auch noch nicht völlig lösen konnten von alten Vorstellungen: in der Tatsache und im Wie der Aufnahme der Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium. Immer noch im Zusammenhang mit dem Fiduzialglauben und der sich daraus ergebenden Verpflichtung, gute Werke als Gaben des Heiligen Geistes dem Glaubenden zu predigen, wird von den. erschreckten Gewissen gesprochen, die zunächst die Sündhaftigkeit erkennen und dann aufgerichtet werden durch die Gnade.25 Diese Aufrichtung aber bewirkt (hier ist eine interessantere Vokabel gebraucht: provocare -wie weit sind sie also freiwillig?) Buße und gute Werke. Zur poenitentia wird allerdings sogleich wieder das „per fidem" gesetzt.26 Dennoch scheinen die Jülicher selbst noch etwas unsicher zu sein, ob sie den guten Werken jede Berechtigung absprechen dürfen. Das Gesetz wird so dargestellt, daß es noch einen sinnvollen Dienst erweisen kann, in dem es zu sittlichem Verhalten anhält. Auch hier (nicht so stark, aber doch ähnlich wie bei Melanchthon in der CA Variata) tritt das Gesetz in einer Weise hinter das Evangelium zurück, die aus dem unterschiedenen Beieinander ein Hintereinander macht. Abschließend läßt sich daher festhalten: So offen wie das Jülicher war keines der anderen Gutachten gewesen.27 Wenn in diesen auch immer die Gnade das 23

CR XXVI, 364. " Karlsruhe 2, fol. 92. 25 Vgl. Karlsruhe 2, fol. 92. 26 Vgl. Karlsruhe 2, fol. 92. 27 Sowohl Augustijn: Godsdienstgesprekken ..., a.a.O. S. 51, als auch zur Mühlen: Edition ..., a.a.O. S. 61 sprechen hier stärker von dem vermittlungstheologischen Ansatz dieses Textes, demgegenüber die beiden anderen Gutachten eine stärkere Öffnung zur protestantischen Seite zeigen; ich denke jedoch, daß hier in der Tat über den Vermittlungversuch eine größere Annäherung geschieht als bei Pfalz und Brandenburg, wie die Einzelanalyse gezeigt haben mag; die heftige Reaktion sowohl Brandenburgs als auch der Pfalz auf den Versuch, sie zu einem Konsens mit dem Mehrheitsgutachten zu bewegen, sowie auch ihre weitere, zu Mainz und Bayern konträre Haltung mag 171

entscheidende Element im Rechtfertigungsgeschehen war, so trugen die Werke doch noch eine gewichtige Rolle; und von irgendeiner Spielart einer fides caritate formata konnte und wollte man sich nicht so absolut trennen; sie waren jedes für sich ein Dokument dafür, was die Wittenberger in ihrem Gutachten bei Diskussionen dieser Art gefürchtet hatten, nämlich eine Aufweichung der Radikalität des totus iustus/totus peccator und der particula exclusive „sola". Der Jülicher Text aber ist auf dem besten Wege, reformatorische Gedanken zunächst einmal zu verstehen und dann auch über die Terminologie inhaltlich nachzuvollziehen. Aber es gibt auch Grenzen dieses Nachvollziehens, interessanterweise Grenzen, die ansatzweise ebenfalls bei Melanchthon festzustellen waren. Kann oder muß man gar vermuten, daß hier das humanistische Element daran hindert, die letzten Schritte auch noch zu gehen? Zusammenfassung. Nirgendwo zeichnet sich der desolate Zustand des katholischen Lagers im Zusammenhang der Religionsgespräche 1540/41 deutlicher ab als in den Dezembertagen des Wormser Kolloquiums durch die Vorlage vier unterschiedlicher Gutachten zur CA, die die gesamte Skala dessen widerspiegelten, was katholischerseits nötig und möglich war hinsichtlich des neuralgischen Punktes der Debatte mit den Protestanten: der Rechtfertigungslehre. Entsprechend freudig reagieren die protestantischen Gesandten; die sächsischen Räte etwa schreiben an den Kurfürsten: „Alls hatt der almechtig got die sachenn also geschickt, daß beider Churfursten Pfaltz unnd Branndenburg, auch unnsers gnedigen herrnn von Gulch Rethe und verordente zu dem gesprech ire Meinung den artikeln in der Confession gemess angetzeigt, Aber die anndernn acht Stymmen seint das mit inen nicht ainig gewesen, sonndern ire alte Sophisterei vertaidigen wöllenn."2' Dabei läßt sich in den Sondergutachten der Pfälzer, der Brandenburger und Jülichs - diese Reihenfolge versteht sich klimaktisch - mindestens der Wille ablesen, sich der evangelischen Seite zu öffnen; dies geschieht zunächst, indem man wenigstens Diskussionsbereitschaft bekundet; ein nächster Schritt ist, daß man sich auf eine Debatte auf dem Boden der Heiligen Schrift einläßt und vorbelastete und negativ besetzte Termini meidet; nicht zuletzt aber ist über diese Aufgabe von Begriffen dann auch zu spüren, daß mit den Begriffen auch die Inhalte erst nur schwanken, dann aber sogar fallen können, wie dies insbesondere in dem Gutachten Jülichs auffällt. Jedoch wird bei diesen Texten ebenso deutlich, daß es für echten Konsens entweder schon zu spät war, wofür das Mehrheitsgutachten ein Beweis wäre, das in keinem Punkt wich; oder aber es war dafür noch zu früh, wofür der Wille in den Sondergutachten Pate stünde, der in den entscheidenden Momenten die These der beiden Forscher unterstützen - allerdings: Über die Reaktion der Jülicher haben wir keine Nachricht, was ja nicht heißt, daß es keine gegeben hätte. 28 Weimar 3b, fol. 89-89v.

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dann wieder hinter das Festhalten an der althergebrachten Theologie zurücktritt. Dabei wird klar, daß in dem diskutierten Punkt der Rechtfertigungslehre letztendlich keine Kompromißformel ausreichend trägt, ohne der einen oder anderen Seite am Dreh- und Angelpunkt Abbruch zu tun. Schon in der Hinführung über den Begriff der Erbsünde werden jeweils tiefe und bleibende Differenzen sichtbar; und wenn über den gesamten Bereich der iustificatio mit allen seinen notwendigen Konsequenzen disputiert wird, dann ist festzustellen: Das sola gratia ist für die Altgläubigen noch nachzuvollziehen - nicht aber mehr das sola fide. Damit hat sich erfüllt, was das Wittenberger Gutachten prophezeit hatte: ein Aufweichen und Drehen und Wenden dieser particula exclusiva, die aus einem grundsätzlichen Mißverstehen dessen geboren ist, was die Reformatoren damit meinten. Wer aber - dies muß zum Schluß in aller Schärfe formuliert werden - das sola fide nicht mittragen kann, der kann aus reformatorischer Sicht auch nicht das sola gratia recht verstehen - und der hat vor allem nicht begriffen, was es um das solus Christus ist! 2.2.3.4 Die Stellungnahmen Melanchthons zu Erbsünde und Rechtfertigung von 1540 Nach dem Vorschlag Granvellas, schriftlich über die umstrittenen Artikel der Confessio Augustana zu disputieren, hatten als erstes die katholischen Gesandten des Wormser Gesprächstages ihre Voten eingereicht. Daß auch die Seite der Augsburger Religionsverwandten sich ganz offenbar auf eine schriftliche Auseinandersetzung vorbereitet hatte, ist bis heute der Forschung weitgehend entgangen. Zwar weiß man aus den Vorgesprächen, über welche Themen sich die Evangelischen auseinandersetzten und wie sie den Gegnern begegnen wollten; diese Gespräche aber hatten keinerlei offiziellen Charakter, dienten vielmehr der internen Stabilisierung. Um so interessanter ist daher, was Philipp Melanchthon höchstwahrscheinlich im November oder Dezember 15401 als protestantisches Votum niedergeschrieben hat, vermutlich in Entsprechung zu den katholischen Texten; ein Hinweis auf die Datierung könnte eine Nachricht Melanchthons sein, in der er am 2. Dezember mitteilt, er sei mit eifrigem Schreiben beschäftigt gewesen.2 An den Artikeln der Confessio Augustana entlanggehend, entwickelt Melanchthon in kontroverstheologischer Auseinandersetzung die Darlegung des evangelischen Standpunktes. Es ist dabei sprachlich nicht festzustellen, welche Ausgabe des Bekenntnistextes er vor Augen hatte, jedoch spricht die Aufnahme verschiedener Argumentationspunkte dafür, daß er mit der variierten Fassung gearbeitet hat. Inhaltlich unterscheiden sich die Aussagen nicht von dem, was bereits aus der Confessio Augustana Invariata, der Apologie, der CA Variata und den Stellungnahmen innerhalb der Vorgespräche bekannt ist. Bei den Aufzeichnungen han1 2

Zur Datierung vgl. die Bemerkungen Scheibles in MBW 3, S. 115f. CR ΙΠ, 1188: „Scripsi pleraque hic in otio ...". 173

delt es sich eher um eine nochmalige Zusammenfassung der wichtigsten Argumente. Auffällig ist, wie sehr jeweils die Einmütigkeit mit der Auffassung der „catholicae ecclesiae Christi, patrum, prophetarum, apostolorum et scriptorum ecclesiasticorum et recentiorum peritiorum"3 in den Vordergrund gerückt wird. Ähnlich wie in der CA ist das Bemühen unübersehbar, die Rechtgläubigkeit zu betonen und die Beweislast der Gegenseite anzuhängen. Genauso aber wird der Konsenswille unterstrichen. Bei der Behandlung der strittigen Punkte zählt Melanchthon jeweils zuerst die Übereinstimmungen auf, bevor er sich den Differenzen widmet. Zwar sind diese dann stets so bedeutend, daß man sehr wohl fragen könnte, welches Gewicht unter dieser Bedingung den Gemeinsamkeiten noch zukommt; jedoch ist allein an der Reihenfolge abzulesen, daß man im protestantischen Lager nicht von vornherein einer Einigimg ablehnend gegenüberstand. Die Erinnerung an den besprochenen Text Nauseas drängt sich auf, der ebenfalls von dem gemeinsamen Gut ausgehend seine Überlegungen angestellt hatte. Thematisch legt Melanchthon besonderes Gewicht auf den Erbsündenartikel. An der Gewichtung gerade im Vergleich zum Rechtfertigungsartikel wird ersichtlich, welch hohe Sensibilität bei den Evangelischen dafür vorhanden war, wie wichtig vor allem die Klärung dieses Topos für das rechte Justifikationsverständnis war. Dazu wird bei der Behandlung der Fragen um die Rechtfertigung immer wieder der Rekurs zum Verständnis des peccatum originale gesucht. Inhaltlich erfährt man dabei allerdings nichts Neues, so daß hier auch eine kurze Übersicht über die Aussagen genügen mag. Denjenigen wird unangemessenes Philosophieren vorgeworfen, „qui aut sustulerunt aut extenuarunt hoc malum"4. Dabei hätten diese „philosophi" sehr wohl die „infirmitas" und „pronitas ad vicia" gesehen, aber nicht erkannt, woher diese entstanden seien.5 In gleicher Weise hätten die scholastischen Doktoren Augenwischerei betrieben, wenn sie behaupteten: „... homo possit legi dei satisfacere", infolgedessen die concupiscentia lediglich eine „contumacia adpetitus sensitivi" sei und die Strafe ein Adiaphoron.' Richtig verstanden aber sei die anselmianische Definition der Erbsünde als „illius iusticiae debitae inesse carencia seu defectus"7 gerade ein Ausweis dafür, die von Adam propagierte Sünde sei stets Sünde im Vollsinne. Iustitia originalis meine nämlich:

3

Wolfenbüttel fol. 53v; so auch am Ende des Artikels fol. 60v und wiederholt auch später. 4 Wolfenbüttel fol. 53v. 5 Vgl. ebd. 6 Vgl. ebd. 7 Wolfenbüttel fol. 54. 174

„... lux et noticia firma de deo, conversio voluntatis ad deum, denique omnium virium rectitudo deo obediens seu facultas et inclinatio ad prestandam integram obedienciam."" Das hieße dann jedoch in der Konsequenz, die Neigung zum Sündigen, die auch nach der Taufe bleibt, habe ihre Wurzeln in eben dieser grundsätzlichen Abkehr von Gott. Daher gelte: „Cum igitur dicimus in baptismo tolli peccatum originis, hoc volumus condonari peccatum et dari spiritum sanctum, ... sed tarnen adhuc manet maxima pars defectuum, scilicet caliginis in mente et pravitatis in voluntate, τ α ρ α ξ ί α ς in appetitu sensitivo carenciae seu defectus et manent inclinationes pravae."9 Wenn die Evangelischen davon redeten, daß das materiale der Erbsünde bleibe, dann meinten sie - so Melanchthon - allerdings damit nicht nur die concupiscentia, sondern das, woher diese Begierde stamme, also „morbum ipsum, magnam de deo caliginem Et pravas inclinaciones'"0 und - wie es später heißt - die ,,conturbacion[...] harmoniae et ordinis""; das formale jedoch, was Melanchthon mit den Vokabeln condemnatio oder reatus klassifiziert, sei in der Taufe aufgehoben.12 Genau an dieser Stelle lag der neuralgische Punkt der Auseinandersetzung zwischen den Altgläubigen und den Protestanten, wie in den bisher besprochenen Texten immer wieder festgestellt werden konnte und bei der Besprechung der Diskussion zwischen Melanchthon und Eck in Worms noch festgestellt werden wird. Bei der unterschiedlichen Auffassung darüber, wie radikal der Mensch auch nach der Taufe Sünder bleibt, liegt die Differenz verborgen in der Frage darum, was für Kräfte dem homo novus zu seiner Rechtfertigung zur Verfügung stehen. Nach katholischer Ansicht ist die Sünde durch die Taufe soweit reduziert worden, daß der Mensch nun in der Lage ist, durch gute Werke mit Gottes Hilfe an seiner iustificatio mitzuwirken; nach evangelischer Meinung aber sind die Sünden in der Taufe zwar vergeben, der Mensch aber bleibt Sünder, er ist weiterhin in der radikalen Gottesfeme, die nur Gottes Gnade durchbrechen kann. Kein Werk des Menschen ist fähig, von sich aus Gott zuzuwirken. So stellt der Text Melanchthons weiter fest, es müsse daher gesagt werden, selbst in den Heiligen bleibe die Sünde. Dies war ein wesentliches Thema der Vorgespräche gewesen, und so kommt auch hier deutlich zum Ausdruck, nicht

"Ebd. Wolfenbüttel fol. 55. 10 Wolfenbüttel fol. 55. 11 Ebd. fol. 74. 12 Vgl. ebd. fol. 55vf; und fol. 74: „Recte, proprie et erudite dicitur Reatum esse formale peccati ... Docemus igitur et fatemur sicut semper sensu catholicae ecclesiae Christi: tolli reatum per baptismum et manere in nobis pravas inclinaciones ...". 9

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einmal ein noch so gottgefälliges Leben sei ein Zeichen für Sündlosigkeit, und es könne infolgedessen nichts zur Rechtfertigung beitragen.13 So müsse dreierlei bekannt werden: 1. Man habe keine Sündenvergebung wegen eigener Verdienste; 2. man habe in Konsequenz dessen die Sündenvergebung wegen des Sohnes Gottes; und 3. zu dieser Erkenntnis und zu diesem Bekenntnis sei der Glaube notwendig. Darum sei es auch richtig, von einem „sola fide" zu sprechen. Damit seien nicht contritio, dilectio oder andere Tugenden ausgeschlossen; aber ihnen werde so der einzige Platz zugewiesen, der ihnen gebühre: „... condicio meriti excluditur a remissione peccatorum, ut sit certa; nec aliter utimur exclusiva sola quam Paulus usus est exclusivam gratis. Est igitur sentencia 'sola fide iustificamur' non, quod sit sola, sed quod sola fiducia misericordie propter Christum promissae iustificamur, idest consequamur remissionem peccatorum et simus accepti deo et donemur spiritu sancto."14 Nur aus dem Glauben an Christus könne Rechtfertigung geschehen, wenn man diese Rechtfertigung auffasse als vivificatio und vera consolatio.15 Wie schon in der Confessio Augustana Variata spielt hier die Gewißheit der Gewissen eine entscheidende Rolle. Und wie auch dort drängt sich der Verdacht auf, dieser Punkt habe gegenüber den christologischen und soteriologischen Voraussetzungen das stärkere Gewicht in der Argumentation. Ebenso wichtig ist in diesem Zusammenhang die vorsichtige Zurücknahme der radikalen Ausschließlichkeit der particula exclusiva. Melanchthon will dem katholischen Vorwurf, als spiele die Ethik für die Protestanten keinerlei Rolle, begegnen; darauf erwidert er nachdrücklich, mit „sola fide" könne kein toter Glaube gemeint sein, der passiv, ohne Liebe und geistliche Tugenden, zu verstehen wäre; doch diese notwendigen Folgen der Eingießung des Heiligen Geistes stellen kein konstituierendes Prinzip dar, keine Formalursache16 für die Rechtfertigung. Sie sind Folgen der fiducia17, die das Heil allein der göttlichen Gnade und der Rettungstat Christi anvertraut - nicht mehr und nicht weniger. Um dies deutlich zu machen bedient sich Melanchthon aber einer Formulierung, die die Vermutung jedenfalls nicht explizit genug ausschließt, als könnten die guten Werke doch irgendwie eine Rolle im Rechtfertigungsgeschehen spielen. Wie es noch bei den Einigungsformeln des Regensburger Buches und seiner Vorläufer zu sehen sein wird, ist an diesem kritischen Punkt eine Annäherung an das Lager der Altgläubigen mindestens schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Ohne Zweifel beabsichtigt Melanchthon wohl nicht mehr, als die Position der Protestanten verständlich zu machen; so lehnt er z.B. auch sehr deutlich die Haltung der Gegner ab, die glauben, daß 13

Vgl. ebd. fol. 57v. Wolfenbüttel fol. 67; diese Einschränkung des sola folgt noch einmal fol. 79. 15 Vgl. ebd. fol. 80. " Vgl. ebd. fol. 79v: „... tarnen non sunt causse remissionis peccatorum ...". 17 Diesen Begriff definiert er an späterer Stelle als die Christus schauende Kraft, die ihn als Versöhner erkennt (vgl. ebd. fol. 78v). 14

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„bona opera iustorum mereri vitam eternam de condigno, hoc est esse legis impletionem seu iusticiam dignam, quam Deus adprobet et pro qua det vitam eternam."" Zwar seien diese neuen geistgewirkten Tugenden, die Buße und die contritio" notwendig, jedoch verdienten sie eben nicht die remissio peccatorum und die iustificatio.20 Dabei gerät der Wittenberger Gelehrte aber immer wieder in die Gefahr, das Radikale und Ausschließliche der göttlichen Gnade im Justifikationsprozeß aufzuweichen bzw. - vorsichtiger formuliert - nicht klar genug zu benennen. Wären diese Aufzeichnungen zur Veröffentlichung gelangt, hätte die katholische Seite diese zumindest an dieser Stelle nicht ausreichend deutliche Ausdrucksweise als Annäherung an ihre Position interpretieren können. So aber trat an die Stelle der geplanten schriftlichen Auseinandersetzung zwischen den Religionsparteien in Form von Thesenpapieren ein anderes, von Theologen beider Seiten verfaßtes Schriftstück; diese Theologen waren von vornherein als konsensfreudig einzustufen, und von ihnen durfte also gar nichts anderes erwartet werden als ein Kompromiß, der bisweilen an den Rand des für beide Seiten Akzeptablen gehen mußte. 2.2.3.5 Das Wormser Buch vom Dezember 1540/Januar 1541 Die Gutachten der Altgläubigen zur Confessio Augustana und Apologie sind die ersten offiziellen Dokumente der Religionsgespräche in theologischer Hinsicht. Bisher hatten - wie schon mehrfach erwähnt - endlose Debatten um den Verhandlungsmodus die Diskussion, deretwegen man eigentlich zusammengekommen war, immer weiter hinausgezögert; und es war klar, daß das Ergebnis der Gutachten bzw. allein die Tatsache keiner einheitlichen Stellungnahme diese Verzögerungstaktik eher noch unterstützen würde. Noch mehr aber zeichnete sich in den Dezembertagen des Jahres 1540 ab: 1. Das Mehrheitsgutachten hatte sich im großen und ganzen von einer Unversöhnlichkeit gezeigt, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließ; unübersehbar waren hier die Differenzpunkte zutage getreten, in denen es keine Einigung geben würde. Von dem Großteil der katholischen Stände also war es nicht zu erwarten, daß Schritte auf die Protestanten zu gemacht würden. 2. Jedoch bedeutete das nicht eo ipso, es hätte von daher gar keinen Sinn, die Debatte überhaupt anzufangen. Es würde nicht nur eine Farce sein, wenn man sich dennoch miteinander unterhielte. Spätestens im Gutachten der Jülicher Theologen wird zudem eine Öffnung zu protestantischen Positionen sichtbar, die Hoffnung macht in Hinsicht " Wolfenbüttel fol. 69. " Vgl. ebd. fol. 79. 20 Vgl. ebd. fol. 77.

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eines von Erfolg gekrönten Einigungsgespräches; was hier beobachtet werden konnte, ist aus katholischer Sicht sehr gewagt, aus evangelischer Sicht sehr anerkennenswert. Jedenfalls läßt sich an diesem Text sehen, wie unter gewissen Voraussetzungen und Bedingungen sehr wohl eine Verständigimg mit den Protestanten möglich war. 3. Auch die Vorgespräche der Evangelischen hatten zweierlei zutage treten lassen. Einmal hatten die Teilnehmer keinen Hehl daraus gemacht, es würden gewisse Punkte ihrer Theologie unaufgebbar sein; dies gilt in Hinsicht auf das Rechtfertigungsverständnis insbesondere für die particula exclusiva. Gleichwohl findet man in den Beiträgen mancher Disputanten die gleiche vorsichtige Öffnung in Richtung des Lagers der Altgläubigen wie in den Sondergutachten. Auch hier wird darüber nachgedacht, wie hinderlich manche Formeln sein können, auch hier müssen sich manche Äußerungen bzw. die dahinterstehenden Männer bezüglich ihrer .Rechtgläubigkeit' ernsthafte Fragen gefallen lassen. 4. Aber auch dies muß festgehalten werden: Wieder einmal ist dem Wittenberger Gutachten eine gewisse .prophetische Gabe' nicht abzusprechen. Seinen Autoren war völlig klar, eine Einigung in Religionssachen könne nur so aussehen, daß die Katholischen sich zu dem Bekenntnis der Protestanten führen ließen - und nicht umgekehrt. Schaut man sich nun an, was in den November- und Dezembertagen passiert ist, so ist genau dies eingetreten. Eher ist auf altgläubiger Seite diese Öffnung zu evangelischen Positionen zu beobachten als der andere Weg. Denn so problematisch manche Punkte in der Diskussion unter den Protestanten auch waren, so muß man doch auch dies festhalten, daß sie wohl nicht aus einem bewußten Abweichen von protestantischem Gedankengut geäußert worden waren. Vielleicht sind sie geschehen aus einem tiefen Unverständnis für das, was einst Luther und auch Melanchthon in der CA Invariata gemeint hatten und wie radikal ausschließend in allen Konsequenzen das sola fide wirklich ist; jedoch darf man etwa Bucer nicht vorwerfen, ihm sei völlig klar gewesen, wie weit er sich tatsächlich von reformatorischer Theologie entfernt hat mit seinem „aliquo modo'" in bezug auf die Frage, welche Bedeutung die Werke für das Rechtfertigungsgeschehen haben. Genau dieses Bewußtsein darf man den Verfassern der Sondergutachten aber unterstellen. Sie waren sich sehr wohl darüber im klaren, in welchen Punkten sie mit dem Mehrheitsgutachten und damit mit der traditionellen Theologie noch auf einem Boden standen und wo nicht. Zwar muß man ihnen letztendlich ebenfalls Unverständnis vorwerfen hinsichtlich des Propriums reformatorischer Theologie; jedoch zeigt gerade das Jülicher Gutachten, wie weit eine Annäherung bis zu dieser Verstehensgrenze dennoch möglich ist. Dieser Text zeigt klar,

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Vgl. dazu hier unter 2.2.3.2.

welch kleine Schritte es bis zur letzten Hürde nur noch sind, wenn Konsens in den Voraussetzungen besteht. Dies alles nun mag auch der kaiserliche Orator Nikolaus Granvella gedacht haben, als er angesichts der nicht absehbaren öffentlichen Disputation Geheimverhandlungen initiierte zwischen dem Kölner Johannes Gropper und dem kaiserlichen Berater Gerhard Veltwyck für die katholische Seite und Martin Bucer und Wolfgang Capito für die evangelische.2 Das Ergebnis dieses Gesprächs ist das sogenannte „Wormser Buch", welches dann auf dem Regensburger Reichstag 1541 - nunmehr „Regensburger Buch" tituliert - die Verhandlungsgrundlage bot. Da die Bezeichnungen auch in der Forschungsgeschichte offenbar Verwirrung zu stiften durchaus in der Lage sind, soll nun zunächst dieser Wormser Vorentwurf betrachtet werden, um ihn dann um so besser mit der Vorlage in Regensburg vergleichen zu können.3 Spärlich sind die Nachrichten über das Werden dieses Konsenspapieres4; zwar liegt es in der Natur der Sache, bei Geheimverhandlungen5 so wenig Information wie möglich an die Öffentlichkeit dringen zu lassen, doch ergibt sich daraus natürlich für den Historiker, daß vieles, allzuvieles, pure Spekulation bleibt. Einige historische Fakten jedoch lassen sich mit Gewißheit festhalten.6 Mitte Dezember, am 14.12., gelangte durch Gerhard Veltwyck an Martin Bucer und Wolfgang Capito die Einladung zu Verhandlungen, an denen von katholischer Seite der Kölner Johannes Gropper teilnehmen sollte. Offenbar war Bucer durch diese Aufforderung überrascht, denn er holte sich erst einmal Rat bei dem hessischen Kanzler Johannes Feige und bei Johann Sturm7, die wohl beide wenig Bedenken hatten. Dennoch wurde die ausdrückliche Genehmigung des

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Es ist m.E. keine Frage, daß die Initiative tatsächlich primär vom kaiserlichen Orator Granvella ausging und nicht etwa von Gropper. 3 Im folgenden werden sowohl Wormser Buch als auch Regensburger Buch nach ARC VI, Nr. 2 zitiert; da Pfeilschifter selbst den Wormser Entwurf bis auf den Rechtfertigungsartikel nur im textkritischen Apparat bietet, erklärt sich die in dieser Hinsicht dann nicht originalgetreue Zitierweise; die Textfassungen nach BDS IX/1 werden in Klammern dazugesetzt. 4 Auch die neuesten Veröffentlichungen dazu in BDS IX/1 (S.323-330) sowie in dem aus dieser Editionsarbeit entstandenen Aufsatz Augustijns (Wormser Buch ..., a.a.O. S. 8-12) bieten hier keine erhellenden Erkenntnisse. 5 Ein Hinweis aus der Hand der sächsischen Gesandten vom 23. Dezember 1540 in einem Bericht an ihren Kurfürsten sollte aufgenommen werden, wenngleich nicht sicher ist, ob er sich auf diese Geheimverhandlungen bezieht; es heißt dort: „Wir habenn noch nicht gemerckt, das sich [an dieser Stelle folgt Geheimschrift] mit privat hanndlung der Religion halbenn ichtwas unnderstannden ..." (Weimar 3b, fol. 61). 6 Vgl. u.a. Stupperich: Humanismus ..., a.a.O. S. 75-94, und BDS IX/1, S. 323-326. 7 Vgl. Lenz 274. 179

Landgrafen Philipp eingeholt8, der wegen seiner prekären Lage sofort seine Zustimmung gab. Es konnte für ihn gar nichts Günstigeres eintreten, als daß er die Pläne des kaiserlichen Orators unterstützen durfte, denn sollten die Verhandlungen von Erfolg gekrönt sein, würde seine Doppelehe nur noch halb so schwer ins Gewicht fallen. Er gab Bucer mit auf den Weg: Die Norm für die Gespräche sollten die Schrift und die Väter sein, und er solle die Lehre vertreten, wie sie bei Luther zu finden sei. Am 15.12. - dem Datum, an dem die katholischen Gutachten zur CA übergeben wurden - traf man sich erstmals in Groppers Herberge. Offenbar hatte der Kölner schon Vorschläge bereit - sein „Enchiridion"' und seine „Artikell, vor Christlich und der gesunden katholischen Lehr gemäß anerkannt"10 mögen dafür die Grundlage gewesen sein. Die anderen Disputanten nahmen zu diesem Entwurf Stellung und fügten ihrerseits Korrekturen ein." Melanchthon berichtet später, Gropper und Veltwyck hätten das Buch verfaßt; Musculus, der protestantische Notar, habe ihm aber berichtet, Bucer habe ihm einige Charta zur Abschrift übergeben, die nachher im Konsenstext gefunden worden sind.12 Es ist bis heute umstritten, wieviel Anteil Bucer einerseits und Gropper andererseits an dem Papier zuzuschreiben ist. Hier ist die Forschung insbesondere bzgl. Bucer noch nicht sehr weit vorgedrungen.13 Aus diesem Grunde soll hier auch vor der Besprechung des Rechtfertigungsartikels jeweils kurz das Justifikationsverständnis Groppers und Bucers skizziert werden. Das Ergebnis dieser Überarbeitung ist dann das Papier, das als Wormser Buch durch Bucer und den Landgrafen an Granvella übergeben wurde14; intern wurde es dann u.a. vom Kurfürsten Joachim von Brandenburg geprüft, der sich sehr dafür einsetzte. Über ihn gelangte der Entwurf an den sächsischen Kurfürsten, der ihn am 4. Februar an Luther schickte mit der Bitte um Durchsicht und folgender Bemerkung: „... daß von etlichen gutherzigen, gottfürchtigen und gelehrten Leuten jenes Theils eine Schrift gestellet, die in den Artikeln der Lehre von des Menschen Fall und Wiederbringung, von der Natur und eigenen Kräften Unvermögen, von göttlichen Gnaden und dem Verdienst Christi, vom Glauben und guten Werken, von Sacramenten, von der Buße und von christlicher Zucht dermaßen stehet, daß sie verhoffen, sie sollten der Wahrheit nicht ungemäß, und ' Vgl. ebd. 282. 9 Siehe dazu weiter unten. 10 Vgl. dazu zur Mühlen: Einigung a.a.O. S. 335. " Vgl. auch Lenz 532. 12 CR IV, 578f. 13 Vgl. zu Groppers Rechtfertigungslehre Braunisch: Enchiridion ..., a.a.O.; dazu Stupperich: Humanismus ..., a.a.O. S. 15-18 und 105-124; dazu die ältere Arbeit von Lipgens: Gropper ..., a.a.O.; mit diesem Werk kann man wenigstens ein wenig Groppers Anteil am Wormser Buch erhellen; vgl. auch zur Mühlen: Einigung ..., a.a.O. S. 336-339; auch BDS IX/1, S. 329f, nimmt zu diesem Problem nicht erhellend Stellung. 14 Lenz 297; zur deutschen Fassung vgl. BDS IX/1, S. 326 und 332f. 180

deshalb unserm Theil zum Anfang christlicher Vergleichung leidlich seyn ms

Luther antwortete in seinem Schreiben vom 21. Februar ausgesprochen ablehnend: „Diese Leut..., wer sie auch sind, meinen es sehr gut; aber es sind unmögliche Fürschläge, die der Papst, Cardinal, Bischof, Thumbherren nimmer nicht können annehmen ... Zudem sind viel Stück darinnen, die wir bei den Unsern nicht erheben werden können."16 Wenn man die Namen der Beteiligten dieses inoffiziellen Kolloquiums hört, so kann man sich ein erstes Urteil über dessen Qualität wohl erlauben. Besonders die Namen Bucer und Gropper sprechen dafür, daß Granvella bewußt Männer ausgewählt hat, die am ehesten geeignet schienen, eine Vermittlungsposition einzunehmen und sprachlich zu formulieren. Beide - Gropper wie Bucer - waren in Worms zugegen als Gesandte von Territorien, die in ähnlicher Lage waren. Philipp von Hessen, dessen Berater Bucer war, war - wie gesehen - aus politischen Gründen auf einem Ausgleichskurs; Köln war in den vierziger Jahren durch die Person seines Erzbischofs Hermann von Wied auf stark reformationsfreundlicher Linie. Wenngleich aus verschiedenen Gründen, standen doch beide also politisch und konfessionell dort, wo sich ein Konsens abzeichnen könnte, d.h. in der Mitte. Die beiden Theologen hatten sich bereits in Hagenau kennengelernt und gegenseitig ihre Hauptschriften - Bucer seinen Römerbriefkommentar und Gropper sein „Enchiridion" - ausgetauscht; danach fand ein reger Briefwechsel zwischen ihnen statt.17 Zudem konnte ja im Rahmen der Vorgespräche bereits festgestellt werden, wie sehr Martin Bucer in Gefahr stand, sich inhaltlich von dem fortzubewegen, was den Kern protestantischen Denkens ausmacht; und auch Johannes Gropper vertrat keineswegs eine rein katholische Lehrauffassung, sondern hatte in seinem

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CR IV, 93f. CR IV, 96. 17 Vgl. etwa Postina, Alois: Der Karmelit Eberhard Billick. Ein Lebensbild aus dem 16. Jahrhundert, (Erläuterungen und Ergänzungen zu Janssens Geschichte des Deutschen Volkes Π/2, 3), Freiburg i.Br. 1901, S. 42f; dazu Vairentrapp, Conrad: Hermann von Wied und sein Reformationsversuch in Köln. Ein Beitrag zur deutschen Reformationsgeschichte, Leipzig 1878 S. 108; weiter: Köhn: Bucers Entwurf ..., a.a.O. S. 3335; Franzen, August: Bischof und Reformation. Erzbischof Hermann von Wied in Köln vor der Entscheidung zwischen Reform und Reformation, (KLK 31) Münster 1971, hier bes. S. 62-68; über Kontakte von Sachsen, Hessen und dem Kölner Erzbischof berichtet Stuttgart, fol. 380-382v: „Den ΧΧΠ. Junii Ao. etc. XL Seind unser gnedigst unnd gnedig hern, des churfursten zu Sachsen unnd Landtgraven zu Hessen etc., verordnete Räthe zu Hagenau durch unsern gnedigsten hern, denn Ertzbischoff zu Coin, churfursten, inn seiner churf. gn. herberg eigner person uff ihr vorgends angeben gnedigklich gehört." (fol. 380) 16

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„Enchiridion" von 1538 seine Lehre von der doppelten Gerechtigkeit entwickelt, die selbst schon so etwas wie der Versuch war, zwischen dem Anliegen der Evangelischen und der Schultheologie zu vermitteln. Es wird bei der folgenden Betrachtung immer wieder zu spüren sein, wie sehr gerade das Enchiridion und die „Artickell" des Kölners auf den Wormser Vorentwurf gewirkt haben. Wenn also Granvella diese beiden als Hauptkolloquenten für das Geheimgespräch bestimmt, dann ist klar, in welcher Absicht dies geschieht. Er will, daß diese beiden ein Papier erarbeiten, welches als Diskussionsgrundlage für den bereits in Aussicht gestellten Regensburger Reichstag dienen soll. Nicht mehr über die Confessio Augustana soll debattiert werden - wo das hinführt, hatte man ja gerade schmerzlich erfahren -, nicht mehr über Begriffe, von denen man im vorhinein absehen konnte, wie indiskutabel sie für die Gegenseite sind, nicht mehr über Heilige Schrift und/oder Kirchenväter - sondern es soll über ein Papier gesprochen werden, das bereits eine Vermittlungsposition beinhaltet. Das ist recht betrachtet eine ausgesprochen kluge Strategie. Es ist so, als ob nicht mehr die Fronten abgeschritten werden, sondern als ob bereits ein vorläufiger Frieden geschlossen ist, der jetzt nur noch im Detail ausgefeilt sein will. Und darüber läßt sich trefflicher reden, als wenn man erst einmal besagte Fronten klären müßte. Der Gesamttext. Das Wormser Buch gliedert sich in 23 Kapitel." Dabei befassen sich Kapitel I-V mit dem Themenkomplex Erbsünde und Rechtfertigung, Kapitel VI-IX mit der Kirche, Kapitel VIII behandelt die Buße nach dem Sündenfall, Kapitel IX beschäftigt sich mit der Frage der Auslegungsautorität der Kirche; die Kapitel X-XVII sind den Sakramenten gewidmet, Kapitel XVIII stellt als dritte nota ecclesiae die Liebe heraus; in den Schlußkapiteln XIXXXIII werden dann Amtsverständnis und Kirchenordnungsfragen erörtert. Schon dieser Aufbau ist bedeutsam. Zunächst fallt auf, daß der Text sehr gezielt mit den „strittigen Artikel" beginnt; nicht ein Themenkomplex ist darin enthalten, über den seit jeher Konsens bestanden hätte. So werden weder die Loci „De Deo" noch „De Christo" behandelt. Im Gegenteil wird sofort der Dreh- und Angelpunkt der Kontroverse erörtert, nämlich das Verständnis der Rechtfertigimg. Auch hier ist wiederum die Anordnung von großem Interesse. Nachdem zunächst eine Art grundsätzlicher Anthropologie vorgestellt wird, geschieht die Darstellung des freien Willens vor der Betrachtung des Ursprungs der Sünde; und nachdem die Erbsünde behandelt worden ist, wird über die Rechtfertigung nachgedacht. Über die Bedeutung dieser Anordnung wird noch zu sprechen sein.

" Vgl. den Index, ARC VI, S. 23; zu einer sehr knappen Charakterisierung des Gesamtinhalts vgl. Augustijn: Wormser Buch ..., a.a.O. S. 16-20. 182

Nun ist es von immenser Wichtigkeit, daß sogleich über die Zeichen und die Autorität der Kirche gesprochen wird. Hier darf nämlich kein direkt neuer Abschnitt gesehen werden, was spätestens dann deutlich wird, wenn die Buße nach dem Sündenfall den Inhalt des nächsten Kapitels ausmacht. Hier wird also ganz deutlich die Kirche als Heilsvermittlerin verstanden, die das Gnadenmittel der Buße in ihren Händen hält. Diese Beobachtung läßt sich nun auch inhaltlich stützen." Zunächst wird Kirche begrifflich definiert als „congregatio hominum omnium locorum et temporum, qui vocati sunt in unionem professionis unius eiusdemque fidei, doctrinae ac sacramentorum Christi secundum catholicam et apostolicam doctrinam."20 Im weiteren werden als Erkennungszeichen der Kirche, die äußerlich ein corpus permixtum ist21, genannt: „sana doctrina, rectus sacramentorum usus et vinculum caritatis"22. Zu „vinculum caritatis" ist dazu in einem besonderen Kapitel ausgeführt, was darunter zu verstehen ist, nämlich „vinculum caritatis et pacis"23. Der äußerliche Friede, die äußere Einheit der Kirche also ist eine ihrer notae - klarer kann man keine Aussage in den gegenwärtigen geschichtlichen Zustand hinein formulieren, eine Aussage freilich, die beide Seiten gleichermaßen schmerzlich treffen muß, sofern sie die Spaltung hervorruft, fördert oder auch nur nicht weiter verhindert!24 In dieser Kirche nun „est remissio peccatorum, quae non solum in baptismate, sed etiam post baptisma confertur poenitentibus"25. Die Buße hat eine entscheidende Stelle innerhalb des Rechtfertigungsgeschehens inne, wie noch zu zeigen sein wird, und darüber hinaus bringt die Formulierung „remissio peccatorum" unmißverständlich zum Ausdruck: extra ecclesiam nulla salus26; von da aus ist deutlich, wie sehr die Rechtfertigung ekklesiologisch zurückgebunden wird. Schon die Beschreibung der notae macht deutlich, daß der Text des Wormser Buches von einem ganz anderen Kirchenbegriff ausgeht als etwa die CA, obwohl er als notae von einer rechten Lehre, einem rechten Gebrauch der Sakramente und vor allem von einer notwendigen äußeren Einheit der sichtbaren

" Zu Bucers ekklesiologischen Aussagen vgl. insbesondere Hammann, Gottfried: Maitin Bucer 1491-1551. Zwischen Volkskirche und Bekenntnisgemeinschaft, (VIEG 139) Stuttgart 1989. 20 ARC VI, S. 55/2-5 (BDS IX/1, 401/21-23). 21 Vgl. ARC VI, 55/31-33 (BDS IX/1, 403/23-25). 22 ARC VI, 56/15f (BDS IX/1, 405/12f). 23 ARC VI, 73/4 (BDS IX/1, 445/16). 24 Vgl. Hammann: Bucer ..., a.a.O. S. 113f. 25 ARC VI, 58/2f (BDS IX/1, 409/12f). 24 Hier ist u.a. ein Einfluß Bucers anzunehmen, vgl. Hammann: Bucer ..., a.a.O. S. 197.

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Kirche ausgeht"; denn er verkündet eine Bindung der iustificatio in dieses Kirchenverständnis, das eher auf eine Abhängigkeit etwa von Eucharistie und Priester, von Absolutionsvollmacht und kirchengerechtem Verhalten sieht als auf die Zugehörigkeit zum Volk der Gläubigen. Darüber hinaus kommt der Kirche ganz entscheidende Macht zu, wenn sie Autorität besitzt „iudicandi inter scripturas et discemendi canonicam a non canonica"28 und „interpretandi scripturas"2'. Da ist nichts mehr zu spüren von Luthers Auffassung der Schrift als ihrer eigenen Auslegerin30, sondern die gesamte Auslegungsautorität liegt bei den Verwaltern der Kirchenämter - das ist nicht sola scriptura, sondern sola ecclesia. Dann jedoch sagt der Text, die auctoritas interpretandi liege nicht bei „singula membra, sed apud totam ecclesiam ..."3I; da aber die sana doctrina als ein „signum" (es fällt auf, daß der Terminus „nota" vermieden wird) der Kirche aufgefaßt wird, ist ein Verständnis übergroßer Personenautorität nicht zu vermeiden. Denn aus welcher anderen Quelle läßt sich eine reine Lehre gewinnen, wenn nicht aus der Schrift? Das zweite signum stellen für das Wormser Buch die Sakramente, die eingesetzt sind als „signacula" oder „tesserae"32 der Kirche und als „certa et efficacia signa voluntatis et gratiae dei erga nos"33, die nicht nur „signent", sondern „sanctificent et nos de accepta gratia certos efficient utque in nobis fidem excitent et ad mutuam dilectionem, sanctos et christianos mores provocent et inhortentur Diese Formulierung kennt man indes aus dem Artikel XIII der CA, wo es ganz ähnlich hieß: „... non modo ut sint notae professionis inter homines, sed magis ut sint signa et testimonia voluntatis Dei erga nos, ad excitandam et confirmandam fidem in his qui utuntur proposita."35 Gleichwohl kann man die Akzentverschiebung hinsichtlich einer Ethisierung feststellen, die so in der CA nicht spürbar war.

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Hier läßt sich deutlich der Einfluß von Erasmus' Schrift „De amibili ecclesiae concordia" ablesen. 28 ARC VI, 61/12f (BDS IX/1, 417/1 lf). 29 ARC VI, 61/34 (BDS IX/1, 419/9f); vgl. Hammann: Bucer ..., a.a.O. S. 107f. 30 „Sic habet universa scriptura, ut collatis undique locis velit seipsam interpretari et se sola magistra intelligi." (Vorlesung über das Deuteronomium 1523/24; WA 14, 556/26-28). 31 ARC VI, 62/7 (BDS IX/1, 419/19). 32 Vgl. ARC VI, 64/16f (BDS IX/1, 427/11). 33 ARC VI, 64/22f (BDS IX/1, 429/2f). 34 ARC VI, 64/24-26 (BDS IX/1, 429/3-5). 35 CR XXVI, 279; fast unverändert in der Variata, vgl. CR XXVI, 359. 184

Im folgenden werden die sieben Sakramente betrachtet: das „sacramentum ordinis", welches nicht beinhalte, daß Wort und Sakrament abhingen von der Würdigkeit des Spenders36 (ein Gedanke, den auch die CA gegen die Donatisten ins Feld führte37); das Sakrament der Taufe, deren Kraft darin liegt, von der Sünde zu reinigen und aus Kindern des Zornes Kinder Gottes zu machen38; das Sakrament der Firmung, dessen Element die Handauflegung ist und durch welches eine Art Erziehung und Unterrichtung über die Religion geschieht39; das Sakrament der Eucharistie (wobei der traditionelle Wortgebrauch gegenüber dem in der CA verwendeten Begriff „coena Domini" auffällt40), wofür Realpräsenz und Darreichung sub utraque specie festgehalten werden und dessen sakramentale Wirkungskraft durch die Einsetzungsworte geschieht41; das Sakrament der Buße oder Absolution, dessen Ziel es ist, den Büßenden von Sünden loszulösen und mit der Kirche zu versöhnen42; das Sakrament der Ehe, welches zur Einsicht führen soll, daß die Ehe eine Verbindung nicht durch menschliche, sondern durch göttliche auctoritas ist43; und schließlich das Sakrament der Krankensalbung44. In jedem einzelnen dieser Artikel wird dabei zunächst das entsprechende Einsetzungswort genannt, dann das Element und eben die Kraft, der Wirkungsbereich dieses Sakraments. Schon die Differenz zu der Zweier- bzw. Dreier-Zahl des reformatorischen Sakramentsbegriffs in bewußter Aufnahme aller sieben, durch die Tradition legitimierten Sakramente macht den eher .katholischen' Charakter des Wormser Buches in diesem Punkte deutlich; aber auch inhaltlich lassen sich evangelischerseits Anfragen stellen, wie sie in diesem Überblick schon hier und da angeklungen sein mögen. Nach einem kurzen Artikel über die dritte nota der Kirche, das Band der Liebe und des Friedens, wird dann in drei Kapiteln über Verwaltung, Ordnung und Disziplin der äußeren, sichtbaren Kirche gesprochen. Dabei wird zunächst die hierarchische Struktur mit den diversen Charismen legitimiert45; in einem für protestantisches Verständnis ganz seltsam klingenden Abschnitt werden sodann verschiedene dogmata benannt, die sich zwar nicht aus der Schrift selbst herleiten lassen, aber ihre Berechtigung aus der Tradition gewinnen, wie z.B.

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Vgl. ARC VI, 65/4-6 (BDS IX/1, 429(12-15). Vgl. CA VH, CR XXVI, 356. 38 Vgl. ARC VI, 66/31-33 (BDS Di/1, 433/13f); vgl. Hammann: Bucer ..., a.a.O. S. 165-168. 39 Vgl. ARC VI, 67/24-68/12 (BDS IX/1, 435/8-437/2); vgl. Hammann: Bucer ..., a.a.O. S. 242-250. 40 Vgl. CA X, CR XXVI, 278 (Invar.)/357 (Var.). 41 Vgl. ARC VI, 69/13-23 (BDS IX/1, 437/21-439/8). 42 Vgl. ARC VI, 70/20-24 (BDS IX/1, 441/1-5). 43 Vgl. ARC VI, 71/19f (BDS IX/1, 441/17f). 44 Vgl. AC VI, 72/6-26 (BDS IX/1, 443/10-445/14). 45 Vgl. ARC VI, 73/20-35 (BDS IX/1, 447/3-16). 37

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die Heiligen- und Reliquienverehrung (hier taucht wiederum ein sehr erasmischer Gedanke auf, der besagt, das Abgleiten in den Aberglauben liege hier sehr nahe, aber deshalb müsse die Sache nicht beseitigt werden, wenn man eben darauf achtete, daß dieses Abgleiten nicht geschieht4®) und - und dies ist bemerkenswert - der Opfercharakter der Messe. Was den rechten Gebrauch der Sakramente und Zeremonien betrifft, so gelingt es dem betreffenden Kapitel zunächst nur, die verschiedenen Auffassungen zu benennen, etwa über die Darreichungsform des Abendmahls unter einer oder beiderlei Gestalt oder über den Gebrauch der lateinischen oder deutschen Sprache in der Messe, über die Gelübde und auch über die Schlüsselgewalt hier wird keine Lösung angeboten, sondern lediglich wieder unter erasmischem Einfluß sehr hoffnungsvoll bemerkt: facile convenerit, si viris aliquot piis iuxta ac doctis hoc negotii delegetur, ut haec omnia ad eam mediocritatem reducant ..."47. Schon dieser grobe Überblick über Aufbau und Inhalt des Wormser Buches macht mehrerlei deutlich. Zum einen ist ein gewisser Vorrang katholischer Sichtweise sicher nicht von der Hand zu weisen; dazu reichen die .evangelischen Rettungsversuche' nicht aus, um aus den einzelnen Punkten echte Vergleichsformeln zu machen, die nicht dem protestantischen Verstehen in einem hochgradigen Maße Abbruch tun müssen; zum anderen ist vielfach ein humanistischer Einfluß spürbar, der praktisch ausgerichtet ist und eher dazu neigt, in der Tradition verhaftet zu bleiben, wenn dafür gesorgt ist, daß man hier nicht im bloßen Traditionalismus verharrt oder gar in Aberglauben abgleitet; am entscheidensten aber ist die Überbetonung der Kirche als sichtbare und unsichtbare, vor allem eben aber als sichtbare (der Text selbst ist m.E. nicht in der Lage, hier immer sauber zu trennen). Die Herausstellung ihrer Bedeutung ist es letztlich, die aus diesem Papier ein katholisches macht, welches so für die reformatorische Seite nicht tragbar sein kann. Wo es statt solus Christus sola ecclesia oder solus Christus et sola ecclesia heißt, da wird ein Amtsverständnis verkündet, das den einzigen Heilsmittler Christus zu einer bloßen Erstursache degradiert. Bevor nun das Rechtfertigungsverständnis des Wormser Buches näher untersucht wird, soll zu dessen angemessener Bewertung erst ein kurzer Blick auf die Rechtfertigungslehre Martin Bucers und Johannes Groppers geworfen werden. Das Rechtfertigungsverständnis Martin Bucers. Die Rechtfertigungslehre des Straßburger Reformators Martin Bucer ist verknüpft mit dem Begriff der

46 47

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Vgl. „De amabili ..." LB V, 501B-502A. ARC VI, 88/13-15 (BDS IX/1, 483/15-17).

pietas.4' Diese ist verstanden als Ausdruck der gläubigen Annahme des Rechtfertigungshandelns Gottes am Menschen in dessen Liebeshandeln. Somit gehen von vornherein Glaube und Liebe, Empfangen und Tun, fides und opus eine klare und enge Verbindimg ein. Bucer definiert dabei den Glauben als Geschenk Gottes und Werk des Geistes folgendermaßen: „Proinde fidem in Deum recte definiemus si dicamus esse persuasionem, Deum esse ut omnium rerum authorem, bonorumque fontem ita et nostrum conditorem, servatorem, atque aeternum beatorem: sie fidem Christi certam persuasionem, eum nostrum esse redemptorem ac instauratorem.'"" Hier verbinden sich also fides historica und assensus bzw. fiducia miteinander, wobei letztere zu einer Glaubensgewißheit führt, so daß sich Glaube und Zweifel einander ausschließen müssen.50 Das Wissen um das geschenkte Heil setzt sich in Bewegungen und Handlungen des wiedergeborenen Menschen um: „Omnis enim firmus et verus assensus etiam quae fit verbis humanis, impellit hominem ad certa vota, actiones, ac motus, pro modo ipsius assensus."51 Der Zuspruch der Gerechtigkeit wird dann sichtbar im Wandel des Gerechtfertigten; forensischer und effektiver Teil der Rechtfertigung korrespondieren einander: „Fide iustificari et salvari, hoc est, iustos et salvos evadere."52 Zeigt sich bis hierhin der ehemalige Dominikanermönch noch als verständiger Schüler des lutherischen Rechtfertigungsbegriffs, entwickelt sich jetzt die Betonung der effektiven gegenüber der forensischen Fassung des Justifikationsgeschehens dem zuwider. Werden „iustus censi" und „iustus reddi" etwa im Römerbriefkommentar parallelisiert53, bestimmt dann fortan der Einschluß der guten Werke in das Rechtfertigungsgeschehen die Bucersche Lehre zur Erhaltung und Sicherung der ethischen Existenz des Glaubens. So heißt es: „Atqui ista interpretatione, qua iustificationem nostri, per proprium suum ac primum, eundemque certum ac etiam potentiorem effectum, qui est gignere virtutes et bona opera, declaramus, eoque pacto illam depellimus calumniam,

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Vgl. dazu de Kroon, Marijn: Maitin Bucer und Johannes Calvin. Reformatorische Perspektiven. Einleitung und Texte, Göttingen 1991, S. 125-141. 49 Zit. nach Koch, Karl: Studium Pietatis. Martin Bucer als Ethiker, (BGLRK 14), Neukirchen-Vluyn 1962, S. 43 (im folgenden zit. als „Koch"). Bei ihm vgl. auch weiterhin. 50 Vgl. ebd. 51 Koch 44. 52 Koch 45. 53 Vgl. Koch 45. 187

qua dicimur tollere bona opera: aut etiam quorundem socordiam extimulamus, qui de fide gloriantur, quam in vita sua maligne exhibent."54 In dem bereits in der historischen Einleitung erwähnten fiktiven Dialog Bucers von 1539" heißt es zur Frage der iustificatio hominis dementsprechend: Man ermanet bei uns trewlich zu allen guten wercken und zeiget mit allem ernst an, das der ware glaube durch die liebe zü allen guten wercken muß thetig sein oder ist keyn glauben. ... Man schweiget auch nit des Ions, den der Herre den guten wercken verheyssen hat und vergältet doch alleyn aus gnaden. Weil aber, wenn eyner gleich aller heyligen alle gute werck, die uff erden je geschehen, gethon hette, noch wurt er sich Verzeihung der Sünden, in die er geporen und die im als mit anhangen und einfallen, der gnaden Gottes und ewigen lebens alleyn auff die gnade Gottes und durch den tod und ufferstendnüs Christi vertrösten müssen und gar nit uff sein gerechtigkeyt."56 An dieser Textstelle ist deutlich das undurchsichtige Zusammen von Glauben und guten Werken zu erkennen, wenngleich die Verankerung im sola fide bzw. korrekter im sola gratia noch gesichert scheint. Gute Werke als testimonium für die Rechtfertigung" können von Bucer schließlich aber sogar als deren Zweitursache charakterisiert werden. So heißt es bei ihm: „Omnino igitur probe facta, causae sunt, ut Deus nobis benefaciat, sed non primae, nec per se, verum secundariae, et id etiam non nisi ex ultronea benevolentia Dei."58 Von dort aus gelangt Bucer zu einer Lehre der doppelten Rechtfertigung. Schon im Evangelienkommentar von 1530 beschreibt er die Rechtfertigung durch den Glauben als den effektiven Teil; das imputative Justifikationselement manifestiert sich dagegen in opera und dicta.59 Hierin erweist sich Bucer als Humanist, speziell als Erasmusschüler.80 Die Rechtfertigung der Werke bzw. des sittlichen Verhaltens des durch die Gnade Gottes restituierten Gläubigen garantieren die Ehre und Würde des Menschen, dessen Freiheit und Begabungen im Sinne der Mitarbeiterschaft zu ihrem Recht kommen, gewürdigt und erhalten

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Koch 205, Anm. 39. Vgl. hier unter 2.1.2.1. 56 BDS VE, 434/21-435/5. 57 „Etenim ilia ipsa iustitia, et bona opera, quae in nobis spiritus Christi operatur, testimonium sunt illius nostrae apud Deum gratuitae acceptationis." (Koch 46). 5 ' Koch 46; vgl. de Kroon: Martin Bucer ..., a.a.O. S. 61. 59 „Fide iustificamur, id est, iusti efficimur, operibus ac dictis, iustificamur, id est, iusti declaramur et iudicamus." (Koch 47); „Duplex est iustificatio, non una, fidei et operum." (Koch 48). 60 Vgl. Stupperich: Humanismus ..., a.a.O. S. 105ff. 55

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werden." Darin bewahrt sich auch die Identität des Menschen vor und nach dem Sündenfall. Die verbliebenen Reste der ursprünglich guten Natur werden durch den Gnadenzuspruch erweckt, vermehrt und bestärkt, sie sind gewissermaßen der Grundstock für die Realisierung einer cooperatio.62 So ist das lumen rationis naturalis, das an der lex aeterna partizipiert, zwar imstande, die Gebote Gottes zu erkennen, nicht aber, sie zu erfüllen. Dazu bedarf es der Kraft des Heiligen Geistes.43 Wenn aber so das Evangelium als Kraft zur Erfüllung der lex moralis definiert wird, quasi als Steigerung des Gesetzes, wird letztendlich das Evangelium dem Gesetz subordiniert.64 Dies hat dann unweigerlich zur Folge, daß auch die Werke gegenüber der fides eine größere Bedeutung haben. Ziel der renovatio ist es, die in der Sünde verlorene Gottebenbildlichkeit wiederherzustellen. Das durch Christus und den Heiligen Geist erneuerte Bild Gottes ist darauf das neue Sein des Christen; aus diesem neuen Sein jedoch erwächst das Sollen. Damit charakterisiert Bucer die Sünde weniger als Zustandsbeschreibung des Menschen denn als soziales Phänomen63, als Defekt der Sittlichkeit; dann aber entwickelt sich auch das Handeln des Christen zum pflichtgemäßen Handeln, die Werke werden oftmals als „officia" bezeichnet.66 Als solche verdienen die Werke dann merces, aber nicht meritum; der Begriff des meritum ist reserviert für die ultimative Rechtfertigung des Menschen im Eschaton.67 So ist nach Bucer letzten Endes nicht die iustitia aliena die wahre Gerechtigkeit, sondern die iustitia propria hominis, die dem Willen Gottes gehorsam ist.68 Karl Koch faßt pointiert zusammen: „Das Wesentliche der christlichen Existenz verschiebt sich von der fides Christi auf die fides viva, syncera, officiosa, vivifica, ,quae per dilectionem operatur', von der Tat Gottes am Menschen, der zur Liebe befreit, auf das Handeln des Menschen, das durch das Gebot der Liebe als Zusammenfassung des Gesetzes bestimmt ist."6' Das Zusammen aus Glauben und Werken im Kontext der Rechtfertigung, wie es im Rahmen der protestantischen Vorgespräche bei Bucer begegnete, ist also kein singuläres Phänomen gewesen, sondern bestimmt seine Rechtfertigungslehre wesentlich. Hier verrät sich seine scholastische wie seine humanistische Herkunft, die ihn dem „sola fide" der Reformation entfremden. Schon in Reaktion 61 62 63 64 65 66 67 68 69

Vgl. Koch Vgl. Koch Vgl. Koch Vgl. Koch Vgl. Koch Vgl. Koch Vgl. Koch Vgl. Koch Koch 77.

49, dazu 206 Anm. 60, 62 und 63. 91. 75f. 67. 95f. 101. 103. 100.

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auf Luthers Heidelberger Disputation bringt er zum Ausdruck, daß er eine Rechtfertigung „sola gratia", nicht aber eine „sola fide" akzeptieren kann.70 Diese Ansicht läßt Bucer zu einem geeigneten Gesprächspartner für einen Theologen wie Johannes Gropper werden. Denn dessen Rechtfertigungsverständnis weist zu dem Bucers einige Parallelen auf. Das Rechtfertigungsverständnis Johannes Groppers. Für Gropper besteht das Wesen der Rechtfertigung in zwei Elementen: „Iustificatio duo proprie complectitur, nempe remissionem peccatorum et interioris mentis renovationem seu repurgationem."71 Die Sündenvergebung als gratia innovans ist für den Kölner zugleich Formalursache der Rechtfertigung; sie bewirkt eine Seinserneuerung und verleiht Partizipation an Christus und seiner Gerechtigkeit.72 Auch für Gropper ist das Ziel des rechtfertigenden Handelns Gottes, den Menschen in die Lage zu versetzen, mittels der freigesetzten vires naturales dem göttlichen Gesetz Genüge zu tun.73 Dieses Gesetz als lex spiritualis ist aktiven Charakters, es schafft neues Leben". Somit ist unter „renovatio" nicht bloß die forensische Zurechnung der iustitia aliena gefaßt, sondern die metaphysisch-ontische Erneuerung des menschlichen Seins.75 Hieraus ergibt sich dann eine iustitia propria, die anders als bei den Reformatoren zwar auch an die Person zurückgebunden wird, jedoch aufgrund der neuen Seinsqualität und der nova vita verdienstlich ist. Gropper lehrt eine Verbindung von Sein und Handeln, die ihm erlaubt, unter der Voraussetzung der gratia iustificans et cooperans (bzw. subsequens) eine secunda iustificatio operibus fidei anzunehmen.76 Das bedeutet konkret: Die gratia praeveniens mit ihren beiden Teilen der poenitentia, Sündenerkenntnis und Bußwerke77, führt zu

70

Vgl. WA IX, S. 160-169, etwa: „Eam ipsam appellari quoque subinde gratiam, nonnumquam fidem, legem vitae, legem spiritus ac etiam novam legem." (163/3f) und „In XXV. tarnen advertendam hoc est, non ilium contendere iustum esse absque operibus, sed non opera eum, verum fidem efficere iustum: iustus enim ex fide vivit." (169/1-3); gerade an diesem Schreiben wird auch schön Bucers Verbindung von humanistischer und lutherischer Gedankenwelt deutlich, wenn er formuliert: „Cum Erasmo illi conveniunt omnia, quin uno hoc praestare videtur, quod, quae ille dumtaxat insinuat, hic aperte docet et libere." (162/8-10). 71 Zit. nach Braunisch: Enchiridion ..., a.a.O. S. 360 (im folgenden zit. als „Braunisch"). 72 Vgl. Braunisch 366f. 73 Vgl. Braunisch 377. 74 Vgl. Braunisch 175. 75 Vgl. Braunisch 179. 76 Vgl. Braunisch 180, 214 und 404. 77 Vgl. Braunisch 225 u.ö.

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einer Mitarbeiterschaft des Menschen bereits in diesem ersten Stadium der iustificatio. Gropper versteht unter Glaube: „De hac fide loquimur, qua proprie in deum credimus, hoc est, credendo in deum pio affectu tendimus."78 Dieses „Streben" stellt er jedoch auch in den Bußwerken fest, so daß die cooperatio zwar an den Glauben (verstanden als assensus und fiducia") zurückgebunden wird; dennoch ist das Leisten von Bußwerken, ja schon die Sündenerkenntnis und die Zerknirschung darüber eine Vorbereitung auf die Rechtfertigung: „De hisce spiritus et fidei operibus, tum quae in poenitentia, per operationem gratiae praevenientis iustificationem praecedunt, tum quae in ipsa iustificatione peraguntur, tum quae iustificationem sequuntur, proprie dixit apostolus Iacobus ,.."80. Es ergibt sich an dieser Stelle ein Zusammen von Gnadenhandeln Gottes und menschlicher Leistung, denn es besteht für Gropper kein Zweifel darüber, daß in der Taufe das Wesen der Sünde, nämlich ihre schuldhafte Begierlichkeit", eben dieser Schuld entrissen wird und die concupiscentia als materiale peccati in der nova vita des Getauften nur noch die Rolle eines fomes, einer inclinatio spielt." Reinhard Braunisch pointiert: „Wohl ist im Menschen der Sündentrieb weiterhin dauernd lebendig; Gott aber hat den Menschen so gerechtfertigt, daß er nicht nur nicht mehr verdammt, weil er es so gnädig beschlossen hat, sondern auch, weil es nichts mehr zu verdammen gibt, da er eine neue Kreatur geschaffen hat."83 Die vires superiores, nämlich die Kräfte des Verstandes und des Willens, sind durch die Befreiung der Gnade aus ihrer Verstrickung unter das peccatum regnans in die Lage versetzt, die vires inferiores zu leiten und zu rechtem Gottesdienst zu ermächtigen.84 Dabei hilft die gratia subsequens seu cooperans.85 Daraus ergibt sich ein Verständnis, welches die fides iustificans immer zugleich

78

Braunisch 231. ' Vgl. Braunisch 312. 80 Braunisch 231, Anm. 190. 81 Vgl. Braunisch 120; in den Artikeln Groppers heißt es: „... und das derhalben, obewol in dem Newgebornen die fleischliche begirlichkeit pleibe, die man materiale peccati originis heisset, so werde doch das stuck, darin das wesen der sunde bestehet, welchs die schult ist, hinweggenommen." (BDS IX/1, 487). 82 Vgl. Braunisch 128 und 132f. 83 Braunisch 132. 84 Vgl. Braunisch 377 u.ö. 85 Vgl. Braunisch 398. 7

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auch als fides viva oder fides operans faßt.86 Insofern ist die iustitia operum im eigentlichen Sinne eine iustitia fidei, die wiederum, da sie ein Geschenk der gratia iustificans seu innovans ist, gleichzusetzen ist mit der iustitia aliena. In dieser Hinsicht verschmelzen bei Gropper iustitia propria und iustitia aliena. Die nicht nur zurechnende, sondern geschenkte Gnade ist so zwar immer die causa, und zwar die causa formalis"; die Liebe jedoch und die aus ihr erwachsenden Werke sind Bestandteil des neuen menschlichen Seins und, als im letzten von Gott gewirkte, „altera iustificationis pars"." Für die zweite, sich dauernd im Vollzug befindliche Rechtfertigung ist die gratia innovans die Wirkursache." Es gilt: „Iustificationem non assequimur propter nostram novitatem, sed novitas, quam deus operatur in nobis, haec est iustificatio nostra.'"0 Den Unterschied zum melanchthonischen Rechtfertigungsverständnis faßt Braunisch kategorial in den Begriffen ,in' und ,für': „Gropper würde sagen: Wir sind gerechtfertigt, denn Gott ist in uns, Melanchthon: Wir sind gerechtfertigt, denn Gott ist für uns."" Somit ergibt sich zusammenfassend bei Johannes Gropper ein unaufgebbares Zusammen von Glaube und Werken, von Gnade und Liebeshandeln des Menschen; zwar ist jedes Tun rückgebunden an die gratia iustificans, doch wäre die Rechtfertigung, losgelöst von den Werken der nova creatura, unvollkommen.92

Das Rechtfertigungsverständnis des Wormser Buches. Bereits bei der Betrachtung des Gesamttextes fielen zwei Dinge auf, nämlich zunächst rein äußerlich, daß die Lehre von der Rechtfertigimg und ihre angrenzenden Bereiche, also Erbsünde, freier Wille und Buße, das erste Thema bilden; demnach erkennt das Wormser Buch sehr genau, wo der Dreh- und Angelpunkt für alles andere liegt; die zweite, inhaltliche Beobachtung jedoch scheint diese erste schon wieder zu " Vgl. Braunisch 354 u.ö., dazu die „Artikell": „Also das diser lebendiger glaube eyn soelcher glaub sey, der beide die barmhertzigkeit Gottes in Christo ergreiffe und zudem den heiligen Geist empfahe, der die liebe und alle tugenden mitbringet. Also das der glaub, der gerecht machet, eynmal alleyn der glaub sey, der kreffiig ist durch die liebe." (BDS IX/1, 487) 87 „... gratia dei nos innovans = proprie causa formalis iustificationis..." (Braunisch 395). " Braunisch 394; vgl. auch 395. 89 Vgl. Braunisch 396. 90 Braunisch 397. " Braunisch 133. 92 Zur Abhängigkeit der Rechtfertigungslehre Konrad Brauns von der Groppers vgl. Rößner: Braun ..., a.a.O. S. 100-113. 192

relativieren: die starke Einbindung in die Ekklesiologie, in die Kirche, die durch die Verwaltung der Sakramente und die Autorität der rechten Schriftauslegung sozusagen die Schlüssel zum Heil in ihrer Hand hält. Doch ist es erst einmal angebracht, sich noch genauere Gedanken über die Bedeutung des Aufbaus der fünf Artikel zu machen, die sich mit der Justifikationslehre befassen. Die Anordnung der Kapitel geht von einem heilsgeschichtlichen Ablauf aus und stellt somit auch die Rechtfertigung prozessual dar: der Mensch vor der Sünde; die Ursache der Sünde; die Erbsünde; die Rechtfertigung. Auffällig ist, daß etwa im Gegensatz zu den Gutachten zur CA kein Abschnitt erfolgt über die conditio hominis nach der Rechtfertigung; damit wird offenbar bewußt die Problematik der Bedeutung der guten Werke nach Gottes Gnadenakt außen vor gelassen, die ja in den Gutachten eine so entscheidende Rolle gespielt und die bleibende Kontroverse ans Tageslicht gebracht hatte. Zugleich aber wird eine neue Problematik aufgeworfen bzw. ein wesentlicher Faktor des reformatorischen Verständnisses damit ebenfalls vernachlässigt. Es klingt so, als ob mit der Rechtfertigung das Ende des Zeitabschnittes „Sünde" gekommen sei, was so ja dem simul-Verständnis widerspricht. Hier ist also sehr genau auf die Inhalte zu achten, ob sie dem entsprechen, was die äußere Form nahelegt. Besonders auffallig ist die Stellung des Kapitels zum freien Willen. Indem er in die Mitte zwischen natürliche integritas des Menschen und Ursache der Sünde gesetzt wird, kann man ohne inhaltliche Beobachtung nicht sagen, auf welche Seite das liberum arbitrium gehört oder ob es gar in beiden Momenten seinen Platz hat. Auch hier deutet sich schon vom Aufbau her ein Kompromiß an, der aber letztlich zuungunsten der Protestanten ausgehen muß, denn für ihre Seite war klar, das liberum arbitrium gehöre eindeutig in die Zeit vor den Sündenfall und sei danach im Blick auf das Heil eine bloße Formel. Es stellt sich nunmehr die Frage, ob auch die Inhalte zuungunsten der reformatorischen Ansichten gestaltet sind. Das erste Kapitel ist tituliert „De conditione hominis et ante lapsum naturae integritate"93. Durch den Satzbau wird mit den Substantiven „conditio" und „integritas" eine syntaktische Klammer errichtet, die diese Begriffe dadurch exponiert und gleichzeitig parallelisiert. Es ist ganz offensichtlich, daß die Verfasser des Wormser Buches als die Grundbedingung und Grundbestimmung'4 des Menschen seine integritas voraussetzen. So ist er von Gott gewollt, darin zeigt sich die Gottebenbildlichkeit, was durch den ersten Satz „Deus hominem

'3 ARC VI, 24/1 (BDS IX/1, 339/1). 94 Der lateinische Begriff der conditio bindet die Bestimmung des Menschen an seine Schöpfung zurück: Derjenige, der den Menschen geschaffen hat, bestimmt ihn auch, er be-gründet ihn, gibt ihm seine causa, seinen Grund, sein Ziel, seinen Sinn. 193

ad imaginem et similitudinem suam, hoc est ad filium, qui est imago patris invisibilis in spiritu sancto, condidit"95 sofort aufgenommen wird. Interessant ist die Fortsetzung der traditionellen imago-Lehre in die Christologie, wodurch Christus zum Vorbild der humanitas stilisiert wird. So liegt es nahe, die Nachfolge Christi dann in der Logik als eine Entsprechung seiner eigenen ursprünglichen Bestimmung zu verstehen, d.h. das Sein in Christus ist ein Sein in der integritas. Diese Ebenbildlichkeit meint eine geistliche, nicht eine körperliche. „Zum Bilde Gottes sein" heißt dann also nicht, aussehen wie er, sich bewegen wie er, sprechen wie er, meint also nicht: Theomorphismen (wenn man diesen Kunstbegriff einmal wählen will); sondern „zum Bilde Gottes sein" bedeutet, ausgestattet zu sein mit „arbitrii libertate, sapientiae luce et innocentiae pulchritudine ac ita quadam sui participatione"*. Dies beinhaltet eine notitia und ein rechtes Urteil bezüglich aller Dinge, eine brennende Liebe und einen brennenden Gehorsam gegen Gott. Im Vergleich zu den reformatorischen Formulierungen etwa in der CA fällt hierbei die Betonung eher von intellectus und voluntas auf als eben dieses Gehorsams. Auch ist - und dies nun ebenfalls im Gegensatz zu den katholischen Gutachten - an keiner Stelle von einer natürlichen Gerechtigkeit die Rede. Die bisherigen Beobachtungen deuten bereits darauf hin, daß die gesamte Rechtfertigungslehre des Wormser Buches von der Anthropologie her gedacht ist. Nicht Gott steht letztendlich im Mittelpunkt, sondern der Mensch; daher ist es konsequent, auch die Rettung des Menschen eher auf seine eigenen Kräfte hinzuordnen und nicht auf die alleinige Gnade bzw. auf deren unauflösliches Zusammen. Hier ist ein starkes humanistisches Moment spürbar, welches ebenfalls die Theologie der Anthropologie unterzuordnen geneigt war, ohne sich dessen wohl gänzlich bewußt zu sein. Es war den humanistischen Denkern unmöglich, eine christliche Freiheit zu formulieren, die nicht mindestens am Rande einer Autonomie stand; ein Freiheitsbegriff, wie Luther ihn in „De libertate Christiana" beschrieb als Freiheit in und zu, nicht als Freiheit von, bedeutete für sie eine Aufgabe der libertas, zu der Gott den Menschen aber bestimmt habe, indem er ihn zu seinem Ebenbild schuf. Auch aus diesem Abschnitt des Wormser Buches ist ersichtlich, daß die conditio humana nicht so sehr das Sein des Menschen vor Gott ist, sondern sein Ausgerüstetsein von ihm, ausgestattet mit Kräften und Fähigkeiten, die es ihm erlauben, den Weg zum Heil weitgehend allein zu gehen, zu wirken. Im Vergleich mit dem Erbsündenartikel der CA fallt dies besonders stark ins Auge, wenn dort der Urzustand beschrieben wird mit Vokabeln wie „vera, pura ac summa dilectione Dei'"7.

93

ARC VI, 24/2 (BDS IX/1, 339/2f). * ARC VI, 24/5f (BDS IX/1, 339/6f). " CA Π (var.), CR XXVI, 351. 194

Im Kapitel über den freien Willen begegnet nun eine Anlehnung an die thomistische Auffassung der vier status. Der freie Wille nämlich müsse, so der Text, unter vier Gesichtspunkten betrachtet werden: vor dem Fall, nach dem Fall vor der Wiederherstellung (reparatio), nach dem Fall nach der Wiederherstellung, nach der Verherrlichung (glorificatio)." Dabei fallt auf, daß die Umschreibung „liberum arbitrium" bis auf die Überschrift nicht einmal auftaucht, sondern immer von der „libertas arbitrii" gesprochen wird. Es ist zu vermuten, daß es in der Intention der Autoren des Wormser Buches lag, damit einem gewissen Reizwort die provozierende Spitze abzubrechen. Zudem werden durch die Verwendung zweier Substantive sowohl libertas als auch arbitrium betont unter Hervorhebung der libertas, während in der attributiven Konstruktion das arbitrium und damit der rationale Teil stärker betont würden." Die libertas arbitrii gehört, wie gesehen, zu der conditio hominis unbedingt dazu; sie wird definiert als freie Entscheidung des Menschen dahingehend, ob er den Auftrag und die mit der Ebenbildlichkeit verbundenen Verpflichtungen bewahren will oder ob er Ruhm und Ehre verliert und das ewige Leben gegen den Tod eintauscht.100 Es ist interessant, daß schon in der Einleitung des Kapitels die Verbindung mit der angenommenen und helfenden Gnade gesucht wird sowie mit der Kraft des Heiligen Geistes. Wenn schon hier Gnade und Geist mitwirkend in der Willensentscheidung hin zum Guten sind - wie sehr sind sie dann erst notwendig in dem Moment, wo der Mensch aus dieser urständlichen innocentia herausgelöst ist! Für die Bestimmung der Freiheit vor dem Fall heißt dies nun: «... nihil in natura sua impediebat, ut faceret bene, nihil impellebat, ut faceret male."10' Diese Freiheit „faciendi boni et continendi se a malo"102 ist durch den Sündenfall verlorengegangen. Zwar gibt es immer noch eine Willensfreiheit; diese aber ist nur wirksam in äußerlichen Dingen, und zwar gerichtet zum Bösen wie zum Guten; was wahre Gerechtigkeit jedoch und gute Werke coram Deo betrifft, ist die Freiheit unwirksam, und zwar vom Anfang („inchoandam") bis zum Ende

" ARC VI, 24/20-22 (BDS IX/1, 339/19-21). Klassisch die Definition beim Lombarden, aus der dies deutlich wird: „Liberum verum arbitrium est facultas rationis et voluntatis, qua bonum eligitur gratia assistente, vel malum eandem desistente. Et dicitur liberum, quantum ad voluntatem, quae ad utrumlibet flecti potest. Arbitrium vero, quantum ad rationem, cuius est facultas vel potentia ilia, cuius etiam est discerne inter bonum et malum." (Lib. sent. Π, dist. 24, 5. = PL 192, Sp. 702) 100 Vgl. ARC VI, 24/15-18 (BDS DC/1, 339/15-18). 101 ARC VI, 24/24f (BDS IX/1, 339/23f). 102 ARC VI, 24/26 (BDS DC/1, 339/25). 99

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(„efficiendam")103. Durch die Aufnahme des Römer-Zitates wird dann auch gleich kenntlich gemacht, was dagegen „efficax" ist in bezug auf die guten Werke gegenüber Gott, nämlich der Glaube. Bis hierhin bewegt sich der Text durchaus auf evangelisch-katholischem Konsens-Boden. Nun jedoch schleicht sich eine Sicht ein, die reformatorischerseits so nicht zu tragen ist, die aber - dies war zu sehen104 - in der Confessio Augustana Variata bereits anklang und bei Bucer und Gropper ausgebildet war. Nach der „reparatio" des Menschen durch Christus scheint der Wille mit der Hilfe des Geistes wieder in seiner gesamten ursprünglichen Freiheit zu bestehen. In diesem Abschnitt ist es sehr auffallig, wie fast ausschließlich mit Bibelzitaten argumentiert wird; es findet sich so gut wie keine freie Formulierung. Waren die Autoren selbst nicht so sicher, wie es mit diesem Punkt aussieht? Wußten sie, welche Schwierigkeiten er bringen könnte, und stellen sie sich damit bewußt so sehr in den biblischen Kontext? Jedenfalls wird dadurch deutlich, daß der freie Wille nicht nichts bleibt, sondern wieder etwas wird, wenn auch nur durch die Unterstützung des Heiligen Geistes, aber immerhin. Das schließt jetzt freilich eine Mitwirkung des Menschen an seinem Heil qua Übertäte arbitrii nicht mehr gänzlich aus. Dabei ist es bemerkenswert, wie sehr sich der Text über die Wirksamkeit dieses nunmehr wieder instandgesetzten Willens bedeckt hält.105 Konnte er vorher über dessen Fähigkeiten und Vermögen genauestens Auskunft geben, schweigt er hier. Auch die angeführten Bibelstellen sprechen nicht explizit von der Kraft des freien Willens; in ihnen geht es um die Knechtschaft der Sünde und die Befreiung daraus; und das gehört in den Kontext der Frage, was Rechtfertigung ist und wie sie geschieht, nicht aber, was der freie Wille nach der Rechtfertigung vermag. Es bleibt zu fragen, ob diese Verschiebung aus einer etwaigen Unsicherheit der Autoren an diesem kritischen Punkt entsteht oder ob der freie Wille nicht doch irgendetwas zum Heil des Menschen beizutragen in der Lage ist. Verstehen kann man diesen Abschnitt durchaus auch in letzterem Sinne - und das wäre dann für die katholische Seite eine Möglichkeit, ihm vorbehaltlos zuzustimmen. Hinweisen muß man auch auf den an Thomas angelehnten Terminus „reparatio". Warum wird der Begriff iustificatio vermieden? Vielleicht deshalb, weil vorher iustitia auch nur im aktiven Sinn gebraucht wurde? In der Tat sieht es so aus, als würde Gerechtigkeit immer als virtus hominis im klassischen Sinne verstanden, nicht aber als eine aktive, wirkende Eigenschaft Gottes, die den

103

Vgl. ARC VI, 24/27-25/5 (BDS IX/1,339/28-341/3). Vgl. hier unter 2.2.3.1. 105 Gropper selbst formuliert in seinen Artikeln sehr viel deutlicher: „Das diser freier will dem menschen, nachdem er wider zu gnaden bracht ist, durch den Son Gottes vermittelst der wirckung des heiligen Geists widderzugestelt sey ... Und das wir durch die erloesung ... warhafftig frey gemacht werden ..." (BDS IX/1, 488). 104

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Menschen trifft, die ihm zuteil wird, die er passiv erfährt. Noch etwas anderes aber wird durch die Verwendung separatio" erreicht. Etwas, was vorher beschädigt, nicht mehr funktionstüchtig war, wird repariert, ist also wieder heil; es bleibt nichts über von dem vorherigen Schaden, die Funktionstüchtigkeit ist wiederhergestellt. Das heißt nun im konkreten Fall: Die corruptio des Menschen ist offenbar nach Christi Heilstat aufgrund der Gnade aufgehoben; es ist also nicht nur so, daß die Sünde nicht angerechnet wird, sondern es besteht keine Sünde. Selbst wenn an dieser Stelle nur von der reparatio des Willens die Rede sein sollte - das ist aus dem Text nicht eindeutig zu erschließen -, dann hieße dies wohl in der Konsequenz der einleitenden Worte, der Mensch wäre nunmehr in den Stand zurückversetzt, seine Kräfte und Tugenden zur Erhaltung seiner conditiones einzusetzen. Über den Zustand des freien Willens nach der glorificatio wird eine vollständige Befreiung von jedem Irrtum im Urteil und von der concupiscentia festgehalten, so daß quasi status integritatis und status glorificationis in bezug auf das liberum arbitrium einander entsprechen. Im Schlußteil dieses Kapitels wird dann die Problematik ganz offenbar, die sich aus diesen verschiedenen status, unter denen der freie Wille betrachtet werden muß, ergibt. Hier nämlich wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß theoretisch nach der „redemptio" die Möglichkeit besteht, „se continere a peccato, oboedire deo et facere eius mandata""*. Zwar wird auch hier darauf gleich zu Beginn verwiesen, dies sei nur in Christus möglich, und später: der Mensch sei auf die Unterstützung des Geistes angewiesen; dennoch aber ist die Gebotserfüllung möglich und nötig („summo studio contendere debeat"107, heißt es dazu). Und wenn dies aufgrund der infirmitas und der inclinatio nicht gelingen sollte - hier deutet sich schon an, wie sicher die Erbsünde verstanden werden wird -, dann ist die Ursache dafür jedenfalls nicht beim Willen zu suchen, so wird mit Hinweis auf Gal 5, 16f gesagt. Etwas merkwürdig ist, wie eine völlige Sündlosigkeit des Menschen in diesem Leben ausgeschlossen ist und wie der Text deshalb noch einmal eindringlich auf Christus hinweist, von dem alles abhängt; das vorher Gesagte kann dadurch jedenfalls nicht ungesagt gemacht werden, und zudem bekommt es dann noch einmal eine ganz fatale Wendung in der Mahnung, mit Zittern und Furcht durch dieses Leben gehen zu müssen, weil man sich der Gnade und des Geistes nie sicher sein kann; im Gegenteil müsse man stets darauf bedacht sein, diese beiden Größen sich geneigt zu halten durch ein wohlgefälliges Leben. Dies läuft nun genau dem zuwider, was in der Confessio Augustana Variata so eindrücklich betont zu finden war, daß nämlich die Gnade gewiß ist, die erschreckten Gewissen tröstet und aus Zittern und Furcht befreit. Was hier im Wormser Buch genannt ist, treibt den Menschen dagegen abermals in den Teufelskreis hinein. In den Stand

106 107

ARC VI, 25/22 (BDS IX/l,343/4f). ARC VI, 25/23 (BDS IX/1, 343/5f). 197

zurückversetzt, gute Werke tun zu können, muß er immer darauf bedacht sein, durch ein tugendhaftes Leben Gott wohlgefällig zu sein, der ihm sonst dieses Gnadengeschenk wieder abnehmen könnte. Vor die nun anstehende Behandlung der Erbsünde haben die Autoren noch ein im Kontext der 1540/41 entstandenen Texte etwas fremd wirkendes Kapitel über die Ursache der Sünde eingeschoben. Darin werden der böse Wille des Teufels und der Mensch, der sich vom Teufel hat verführen lassen, als Urheber der Sünde genannt. Ursache wiederum für diesen verkehrten Willen des Teufels sei der Neid, und der Kern der Menschensünde sei der Ungehorsam. Beides führe zur Abkehr von Gott und habe für den Menschen die Konsequenz: „fidem et amorem dei perdidit et horum loco sui fiduciam et amorem imbibit"108. Es ist offensichtlich, daß mit diesem Abschnitt eine Art Theodizee versucht wird. Nicht Gott ist verantwortlich für die Übel dieser Welt, und der Mensch kann nicht mit Hinweis auf den Teufel aus seiner Verantwortlichkeit entlassen werden.109 Gleichzeitig aber stellt das Kapitel einfach auch eine inhaltliche Überleitung dar, was durch das „itaque""0 im ersten Satz des nächsten Kapitels unterstrichen wird. Der freie Wille ist jetzt als Ausgangspunkt definiert für das, was im folgenden erörtert wird: die Erbsünde. Dieser Abschnitt gehört sicher nicht zufällig zu den ausführlichsten des Wormser Buches. Gerade durch die Gutachten der Altgläubigen hatte sich gezeigt, daß in diesem Themenbereich der Grundstein dafür zu suchen ist, wie später Rechtfertigung zu fassen ist. Wer die Erbsünde nicht in der ganzen Radikalität als Grundbestimmung des Menschen qua Menschsein versteht, wird dann auch nicht sein radikales Angewiesen-Sein auf die alleinige Gnade Gottes nachvollziehen können. Somit beginnt das Kapitel mit einer Definition der Erbsünde als carentia seu defectus originalis iustitiae.1" Mit dieser Aufnahme der Formel Anselms befindet sich der Text ganz im Gefolge traditioneller Theologie; die Folgen dieses Verlustes sind eine adversitas gegen Gott und sein Wort, Unglaube und Ungehorsam, die aus der Unkenntnis Gottes und aus der fehlenden Liebe geboren werden."2 Auch diese Aussage steht auf dem gemeinsamen Boden von Tradition und Reformation.

" ARC VI, 26/12f (BDS IX/1, 343/250Dies ist wiederum eine Übereinstimmung mit Groppers „Enchiridion", vgl. Braunisch: Enchiridion ..., a.a.O. S. 106; sicherlich ist hier auch eine Ablehnung zu Luthers scheinbaren doppelten Prädestination in „De servo arbitrio" zu sehen, die z.T. so verstanden wurde, als ließe Luther Gott auch das Böse wirken. 110 ARC VI, 26/15 (BDS IX/1, 345/2). Vgl. ARC VI, 26/15f (BDS Di/1, 345/2f). m Vgl. ARC VI, 26/16-20 (BDS K / 1 , 345/3-7). ,0

109

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Nun ist im Text ein gewisser Bruch zu verzeichnen. Wie in der Aufnahme des Terminus „iustitia originalis" aus dem Vorsatz soll nun auch mit der „concupiscentia" ein in der Definition verwendeter Begriff näher erläutert werden."3 Nun findet sich dieser aber nur noch in der Druckausgabe Groppers'"1 und nicht mehr im eigentlichen Text, so daß etwas erklärt werden soll, was gar nicht bzw. nicht mehr vorhanden ist. Man darf sich dies wohl so erklären, daß die Frage der concupiscentia in der Diskussion gewesen ist, wegen des Reizcharakters aber letztendlich keine Verwendung in der Definition gefunden hat. Nichtsdestotrotz wird der, der genau liest, gerade dadurch spüren, wie sie implizit auch schon in der Definition wenigstens mitgedacht ist. Die Beschreibung selbst liest sich nun wie ein Konglomerat aus altgläubiger und reformatorischer Begrifflichkeit. So wird von „corruptio" gesprochen, im nächsten Atemzug von „inclinatio in malum". Es stellt sich dabei zunächst eine Unsicherheit ein, wie stark damit die Macht der Erbsünde gedacht ist, nämlich radikal, was sich durch „corruptio" nahelegt, oder vermeidbar, was durch „inclinatio" angedeutet wird? Der nächste Satz beweist, daß letztere Annahme zutrifft, wenn ermahnt wird, man solle sich vor dieser lex peccati hüten.115 Ein neuer Gedanke tritt im nächsten Absatz auf. Hier wird darüber geredet, die beiden Elemente der Erbsünde, also Fehlen der iustitia originalis und concupiscentia, hätten etwas Gleichzeitiges und Verbundenes. Gerade diese Betonung des Gleichzeitigen und Verbundenen setzt nun aber voraus, beide Größen wären durchaus auch getrennt denkbar. Und das wiederum heißt, man könnte der natürlichen Gerechtigkeit entbehren, ohne deshalb konsequent Tatsünden begehen zu müssen; die weitere Bedeutung aber ist, daß Tatsünden begangen werden könnten, ohne daß dies ein Zeichen für das Stehen in der Erbsünde wäre. Ersteres würde etwa bedeuten, kein Heiliger, der sich aller Aktualsünden enthielte, stünde nicht dennoch unter dem Fehlen der Gottesgerechtigkeit; im zweiten Fall würde die Ethik nicht mehr nicht nur Zeichen der Rechtfertigung sein, sondern nicht einmal mehr die gute Frucht des guten Baumes. Wenn an dieser Stelle also die notwendige Verbindung beider Elemente genannt ist, dann meint dies: Der Verlust der natürlichen Gerechtigkeit führt unweigerlich zur Herrschaft der Begierde, die ihrerseits auf jede Art von Tatsünde zuläuft. Es

Der erste Satz lautete: „Peccatum itaque originale dicimus esse carentiam seu defectum originalis iustitiae debitae inesse." Dann wird ausgeführt: „Originalem esse ..."; danach folgt ebenfalls als Explikation gedacht, jedoch ohne daß der Begriff vorher genannt wurde: „Concupiscentiam vero intelligimus ..." (vgl. A R C VI, 26/15-21 = BDS IX/1, 345/2-7). 113

114 Vgl. die einleitenden Bemerkungen Pfeilschifters A R C VI, 22, Anm. 2, dazu ebd. 26, textkritische Anm. h; der Bruch findet sich auch in der deutschen Übersetzung Bucers: „Die erbsunde ist der geprechen und mangel der angeborn gerechtigkeit, die wir haben sollten, sampt dem bösen gelüste." (BDS IX/1, 344/3). 115

Vgl. A R C VI, 26/23f (BDS IX/1, 345/10f).

199

gibt daher - jedenfalls vor der Rechtfertigung - keine Möglichkeit eines heiligen Lebens, das man sich durch Vermeiden von Tatsünden verschaffen könnte. Der Nachsatz „in non renatis""6 legt den Schluß nahe, als könnten die beiden genannten Größen nach der Wiedergeburt doch getrennt auftauchen, d.h. die Urstands-Gerechtigkeit wäre grundsätzlich durch die Taufgnade wiederhergestellt, während nur noch die Konkupiszenz als materialer Rest bleibt. Das bedeutet, nur noch die concupiscentia sei in den Wiedergeborenen wirksam, obwohl die iustitia originalis formal mächtig ist. Und dies ist dann das schon bekannte Mißverstehen der Altgläubigen, die aus dem Nicht-Anrechnen der Erbsünde ein Nicht-Existieren machen. Genau betrachtet, findet diese Sicht an dieser Stelle auch im Wormser Buch ihren Niederschlag, das bisher in diesem Punkt sehr bemüht war, .konsens-theologisch' zu formulieren. Es ist danach kaum anders zu erwarten: Nun wird auch die Unterscheidung zwischen Aktual- und Erbsünde in der Weise vorgenommen, daß es einen Verlust der iustitia originalis in Verbindung mit einer inclinatio ad peccatum gibt (wobei hier sogar von einem „habitus vitiosus""7 die Rede ist), während darüber hinaus aber Tatsünden existieren, die im Denken, Sprechen und Wirken zutage treten."" Wie schon zuvor wird damit auch hier eine Differenzierung ins Spiel gebracht, die der Sache insofern nicht angemessen ist, als keine Tatsünde losgelöst gesehen werden darf von der ursprünglichen, sie verursachenden formalen Sünde. Es muß in der Tat von einem Mißverständnis des Wesens der Erbsünde ausgegangen werden; dies verdeutlichen die nächsten beiden Absätze. Die Erbsünde - so wird zunächst gesagt - trifft auch die, die nicht gesündigt haben, will heißen, daß sie keine Tatsünden begangen haben. Jeder Mensch ist qua Geburt Sohn des Zornes, der Kenntnis Gottes und der Liebe zu ihm verlustig.'" Ferner aber wird behauptet, daß dennoch in allen Menschen ebenfalls qua Geburt „vestigium quoddam imaginis dei reliquum sit"120; diese „Spur", dieser Rest sei das „lumen naturae", wodurch es dann trotz dieser Verderbtheit möglich ist, zu einer Kenntnis Gottes zu gelangen, wohlgemerkt: zu einer Kenntnis des gerechten Gottes. Was wirksam ist zur wahren Gerechtigkeit, das bleibt dem Menschen am Ende doch verschlossen, da die Verderbnis zu schwer ist, diese Erkenntnisgrenze zu durchbrechen. Obwohl das Wormser Buch mit diesem Nachsatz davor bewahren will, eine etwaige rechtfertigende Kraft dieses lumen

1,6

ARC VI, 26/28 (BDS IX/1, 345/15). Vgl. ARC VI, 27/3 und 12 [BDS IX/1, 345/20 und 347/7; im deutschen Text wird dies mit „die suchtig und böße art und aigentschafft" (344/27) sowie mit ,,bose[...] suchtig[...] neygung" (344/29 und 346/19) wiedergegeben], 1,8 Vgl. ARC VI, 26/29-27/5 (BDS IX/1, 345/17-22). Vgl. ARC VI, 27/11-14 (BDS IX/1, 347/5-9). 120 ARC VI, 27/17f (BDS IX/1, 347/10f). 117

200

naturale zu konstruieren, kann es doch zumindest eine Öffnung zu diesem Verständnis nicht verhindern. In dem Wunsch, Altgläubigen wie Protestanten gerecht zu werden, erweist es sich als Kompromißpapier. Es bringt es - und hier fühlt man sich an die Gutachten zur CA erinnert - nicht fertig, einen Gedanken konsequent weiterzuführen; zwei Ansätze werden so miteinander vermischt, daß jeweils der eine doch noch auf die Denkgrenze des anderen stoßen muß und somit letzten Endes nichts gewonnen ist. Wenn dagegen in eine Richtung weitergegangen wird, dann eher in die der Altgläubigen. So zeugt der nächste Absatz von jenem geäußerten Verdacht eines vorliegenden Mißverstehens dessen, was eigentlich in der Taufe geschieht: „Dissolvitur autem hoc originale peccatum per lavacrum regenerationis et renovationis in verbo vitae per meritum passionis Christi."121 „Dissolvitur" heißt es; und mag diese Vokabel für sich genommen auch noch als „freisprechen" interpretiert werden, so läßt doch das Folgende schon deutlich erkennen, daß sie stärker im Sinne von „loslösen", „auflösen" gemeint ist. Die Herrschaft der concupiscentia wird eingeschränkt, wird durch das Geschenk des Geistes zu „novos et sanctos ... motus"122 angeregt. Und bereits vorher wird ausdrücklich von einer Wiederherstellung der Gnade Gottes gesprochen, wo die CA noch von einem „offerre" redete123. Beides weist unmißverständlich darauf hin, daß offenbar die Erbsünde als solche vollständig in der Taufe getilgt ist, was wie schon oben gesagt wurde - weit über das Nicht-Anrechnen hinausgeht. Nun wird der Gedankenschritt getan, der sich bereits bei der Differenzierung zwischen iustitia originalis und concupiscentia aufdrängte. Nach der Taufe bleibt nur noch das Materiale der Sünde, nämlich die Konkupiszenz; die Verbindung mit der Anklage wird aufgehoben.124 Dabei ist zu beachten, daß noch nicht von einem Aufheben der Erbsünde gesprochen wird, sondern erst von einer NichtAnrechnung; auch die nachfolgenden Sätze lassen sich mit viel gutem Willen noch .protestantisch' interpretieren, können aber in beide Richtungen verstanden werden. Nur eine Formulierung deutet die .katholische' Linie unübersehbar an: „... reliquum huius mali non imputatur in peccatum neque est hoc malum in iis, qui Christo insiti sunt, revera et formulare peccatum ,.."125. Hier läßt sich dann doch vermuten, wie das Wormser Buch dies alles verstanden wissen will. Das materiale peccati bleibt in Form der concupiscentia; das formale peccati, der Verlust der Gerechtigkeit, wird nicht nur nicht angerechnet, sondern ist im strengen Sinne keine Sünde mehr, ist durch Christi Gnadentat als den Menschen bestimmendes Element aufgehoben. Der Text

121 122 123 124 125

ARC VI, 27/23f (BDS IX/1, 347/16f). ARC VI, 27/27 (BDS IX/1, 347/19f). Vgl. CR XXVI, 277 (invar.)/357 (var.). Vgl. ARC VI, 28/5-7 (BDS K / 1 , 349/1-3). ARC VI, 28/12f (BDS IX/1, 349/7-10 liest richtig „formale" statt „formulare"). 201

selbst unterstreicht diese Beobachtung noch einmal eindrücklich in der Aufnahme von Rom 8: „Nihil ergo damnationis est iis, qui sunt in Christo Jesu, qui non secundum carnem ambulant."12' Bemerkenswert ist nun die Anrufung Augustins127 als Zeugen für die Richtigkeit der eigenen Aussagen, denn in den angeführten Zitaten12' kommt strenggenommen exakt die gegenteilige Ansicht ans Licht. Das Gesetz der Sünde ist aufgehoben in der Wiedergeburt der Gläubigen, ist aber gleichzeitig auch bleibend, weil sowohl peccata als auch crimina lediglich aufgehoben, nicht aber ausgelöscht würden.12' Direkt im Anschluß aber wird daraus wieder die Folge gezogen, lediglich die Konkupiszenz bilde den Rest der Erbsünde nach der Wiedergeburt, und dies könne nun nicht peccatum i.e.S. sein. Hier macht sich der Einfluß Groppers bemerkbar. Wenn man sich den Ablauf der Argumentation bis hierhin verdeutlicht, so wird man festhalten müssen, wie sehr verwirrend der Text traditionelles und reformatorisches Gedankengut durcheinandermischt. Was nun eigentlich als „Sünde" bleibt, versteht das Wormser Buch mit vielen Worten so geschickt zu verschleiern, daß nicht mehr recht deutlich wird, ob es nun nur die Begierde ist oder nicht doch mehr. Auch folgender Versuch gehört in dieses Verwirrspiel, der wiederum in einem Augustinzitat die concupiscentia noch einmal mit der inoboedientia verbindet und jene insofern doch Sünde nennt, ja noch mehr, sie ist nicht nur Sünde, sondern auch „poena peccati" und „causa peccati"130. Und im nächsten Atemzug und erneut mit Augustin als Zeugen heißt es dem zum Trotz: Konkupiszenz ist zwar Sünde, aber nicht „eodem modo"131. Der Text wendet sich daraufhin den Aktualsünden zu. Wegen dieser Tatsünden müßten auch die Heiligen stets um Vergebung der Verfehlungen bitten.132 Das Wormser Buch macht hier offenbar ein Zugeständnis in Richtung der simulAuffassung. Man erinnere sich an die Vorgespräche, in denen es ja u.a. um genau diese Frage ging und wo man zu dem Schluß kam, selbst Paulus könnte im Gericht auf kein Werk, sondern nur auf seinen Glauben verweisen; dennoch bringt der Wormser Text eine andere Nuancierung ins Spiel, denn er setzt gerade nicht den Glauben gegen die Sünden, sondern ein noch tugendhafteres 126

ARC VI, 28/15f (BDS IX/1, 349/12f). Vgl. dazu die entsprechenden sachkritischen Anmerkungen in BDS IX/1. '2, Contra Iulianum 2, 3, 5 = PL 44, Sp. 675; 6, 16, 49 = PL 44, 850f; ebd. 5, 3, 8 = PL 44, Sp. 787 und ebd. 2, 3, 9 = PL 44, Sp. 696; dazu Contra duas epistulas Pelagianorum 1, 13, 26 = PL 44, Sp. 562. 129 Vgl. ARC VI, 28/19-28 (BDS Di/1, 349/15-351/2). 130 Vgl. ARC VI, 29/5 (BDS IX/1, 351/1 lf). 131 ARC VI, 29/7 (BDS IX/1, 351/14). 132 Vgl. ARC VI, 29/20f (BDS IX/1, 351/26f). 127

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Leben, freier von den Verführungen der concupiscentia. Es besteht also hier theoretisch immer noch die Möglichkeit, ein rein gottgefälliges Leben zu führen - eine Auffassung, die von Seiten der Reformatoren abgelehnt werden muß. In denen, die nicht wiedergeboren sind - so der Text weiter -, sind Schuld und concupiscentia; in den Wiedergeborenen dagegen ist die Anklage aufgehoben, die Begierde aber bleibt.133 Dies ist wieder ein vortreffliches Beispiel für das Schillernde des Textes an diesem Punkt. Rein formal klingt diese Beschreibung durchaus für alle Seiten annehmbar; bei genauerer Sicht vor allem auf den Kontext aber steht hier zwischen den Zeilen, es scheine eben nicht nur die Schuld zu sein, die aufgehoben ist, sondern das, was die Sünde zur Sünde macht, das formale peccati. Erhalten bleibt nach der Taufe das materiale peccati, der fomes, der Stachel im Fleisch, aber auch nicht mehr. Was bleibt, ist ein Defekt, eine Unzulänglichkeit, die aber mit gutem Willen behebbar ist, ausgetilgt werden kann durch eigene Kraft und die Hilfe des Heiligen Geistes. Mit einer solchen Auffassung kommt das Wormser Buch dann sogar zu der etwas sophistisch anmutenden Konsequenz, die Konkupiszenz sei für die Gläubigen ein „exercitium humilitatis et fidei"134, mit anderen Worten: Dieser nach der Taufe verbleibende Rest der Ursprungssünde ist nicht mehr in der Lage, „materia ruinae"135 zu werden, sondern dient dazu, einzuüben in Demut und Glauben; zwar wird nicht ausdrücklich gesagt, man solle daher die Versuchung suchen, aber gänzlich ausgeschlossen ist auch dies nicht. Und solche „Exerzitien" können doch schlußendlich nur einen Sinn haben: Wenn die Verlockungen der Sünde überwunden sind, sind durch sie Glaube und Demut gewachsen - und das heißt zuletzt nichts anderes, als mit eigenen Kräften und Tugenden an seinem Heil mitgewirkt zu haben. Entsprechend ergeht zum Schluß nun auch noch eine praktisch-theologische, pädagogische Note. Drei Dinge müßten dargelegt werden: 1. Durch die Wohltat Christi rechnet Gott die Übel nicht an. 2. Es bleibt eine infirmitas, so daß die Heilung nicht abgeschlossen ist, sondern man sich durch Gebet und Buße dem Arzt Christus anvertrauen muß. 3. Das Leben des Menschen ist ein ständiger Kampf mit sich selbst gegen seine Fehler und Begierden, wobei dieser Kampf dazu dient, das Werk des Geistes zu erbitten, zu bewachen und sich selbst zu widerstehen.I3i Diese ethischen Gebote verdeutlichen ganz klar, worum es dem Wormser Buch also geht. Tatsächlich versetzt die Wiedergeburt in die Lage, gegen die Konkupiszenz zu kämpfen, in Glaube und Demut fortzuschreiten; dabei wird alles der Hilfe der Gnade zugeschrieben, aber doch nicht nichts den menschlichen Kräften, die nun, befreit von der Anklagesituation, wieder ihre ursprünglichen Möglichkeiten und Fähigkeiten wirkungsvoll im Heilsgeschehen

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Vgl. ARC VI, 29/22-25 (BDS IX/1, 351/28-30). ARC VI, 29/27 (BDS IX/1, 353/1). 135 ARC VI, 29/26 (BDS IX/1, 353/1). 136 Vgl. ARC VI, 30/2-11 (BDS IX/1, 353/3-12). 134

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einsetzen können. Nichts anderes sagt der Artikel über die Erbsünde selbst in seinem Schlußteil: „Contra vero non minore studio vis gratiae in baptismo acceptae mirifice celebranda atque adeo docendum est, earn esse maiorem, modo non negligatur, sed fide exerceatur."'37 Hier zeigt sich wiederum die ganze Undurchsichtigkeit, die schon die gesamte Zeit über spürbar war. Die Kraft der Gnade wird nicht allein wirksam postuliert, sie wird lediglich als „maior" beschrieben - maior ist aber nicht „sola". Eigenwerk des Menschen und die Gnade gehen also in der Taufe ein kooperatives Verhältnis ein. Gott schenkt dem Menschen durch die Aufhebung der formalen Sünde, d.h. der Anklage, die Möglichkeit, das materiale der Sünde seinerseits nun durch eigenes Tun, durch Übungen im Glauben auszutilgen. Somit weist der Abschnitt des Wormser Buches über die Erbsünde bereits darauf hin, wie die Rechtfertigung jedenfalls nicht verstanden sein wird, nämlich als iustificatio sola fide; denn dies wäre nach den bisherigen Voraussetzungen ein Widerspruch in sich! Nach dem Verwirrspiel des Erbsündenartikels ist rein formal der über „restitutione regenerationis et iustificatione hominis gratia et merito, fide et operibus"138 auf den ersten Blick theologisch konsequenter. Zwar bemühte sich auch Artikel IV um eine klare Darlegung, scheiterte aber letztlich an dem Bemühen, das .Katholische' und Traditionelle zu verbergen; hier jedoch ist die Richtung von vornherein ganz eindeutig, und der Artikel versucht gar nicht erst, irgendeiner Seite mehr entgegenzukommen; man merkt diesem Abschnitt an, wie klar er durchdacht ist. Man kann deutlich spüren, daß hier ganz offensichtlich mit einer bereits bestehenden Vorlage gearbeitet wurde, nicht erst nach Formulierungen und Gedankensträngen gesucht werden mußte und hier nichts dem Zufall überlassen wurde. Ebenfalls ist hier der Einfluß Groppers unübersehbar. Daher werde ich zunächst auch nur deskriptiv am Text entlanggehen und - im Gegensatz zu der bisherigen Vorgehensweise - die Interpretation und Wertung im Anschluß vornehmen, nachdem man sich die Struktur dieses Artikels im ganzen vergegenwärtigen konnte. Der Artikel beginnt mit einer Definition des Terminus „Rechtfertigung" als „gratuita per Christum peccatorum remissio et cum deo reconciliatio"13', durch

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ARC VI, 30/12-14 (BDS IX/1, 353/13-15). ARC VI, 30/22f (BDS IX/1, 353/22f liest richtig „regeneratione" statt „regenerationis"); zur Überschrift vgl. Stupperich: Humanismus ..., a.a.O. S. 107f; im folgenden ebd. S. 109-118. 139 ARC VI, 30/27f (BDS IX/1, 355/lf). 138

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die eine „mirifica metamorphosis seu transformatio hominis animalis"140 geschieht. Das „Christum" ist durch den Satzbau hier in die Mitte gestellt, wodurch schon stilistisch auf einen späteren Punkt hingewiesen wird, daß nämlich Christus das fundamentum iustificationis ist.141 Zuvor aber wird noch betont, Rechtfertigung sei als doppelte zu verstehen: einmal als regeneratio, die „nullis nostris praecedentibus operibus aut mentis ... gratis per fidem"142 geschieht und angenommen wird und insofern eine iustificatio impii ist143; dann als iustificatio operum, wobei die Werke aus Glaube und Liebe entspringen und den Glauben zur Vollendung bringen.144 Das Fundament, die Basis der Rechtfertigung, und zwar offenbar für beide Teile, ist Jesus Christus, wofür dann eine Reihe Bibelstellen bemüht wird sowie das Zeugnis der Propheten.145 Als causae iustificationis werden nach aristotelischem Schema vier aufgezählt: die causa efficiens, die Wirkursache - Gott; die causa materialis, die Materie bzw. der Ort - der Geist des Menschen; die causa formalis, das Formprinzip - die Gnade Gottes; die causa finalis, die Zweckursache - die Ererbung des ewigen Lebens.146 Die iustificatio und regeneratio bedeuten ein Absterben des alten Menschen und die Wiedergeburt des neuen Menschen, wobei das Mittel, welches diese beiden Aspekte verbindet, der Glaube ist.147 Fides wird weiter verstanden als Geschenk Gottes, das nicht aus uns selbst kommt, sondern vermittelt wird durch das Licht der Natur oder eine ähnliche Wohltat Gottes, denn fides geht über den bloß historischen Glauben, den auch die Dämonen und die Ungläubigen haben können, hinaus, sie schenkt vielmehr die Erkenntnis Gottes und seines Willens, die Gewißheit und Festigkeit, die der Verheißung glaubt; dieser Glaube wächst und vermehrt sich.148 Im folgenden werden nun die beiden Gnadenweisen näher betrachtet. Die erste ist die Schöpfungsgnade, die den Menschen als animal rationem habens über die anderen Werke der creatio hinaushebt und umsonst ohne vorhergehende Werke dem Menschen zuteil wird; die zweite Gnade ist die rechtfertigende, heiligende, glorifizierende Gnade, durch die der Mensch im Glauben an Christus gerettet wird. Sie unterteilt sich wiederum in vier Schritte: 1. die gratia praeveniens, mit der Gott nach seinem Willen vor der Schaffung der Welt in Christus prädesti-

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ARC VI, 31/1 (BDS IX/1, 355/3). Vgl. ARC VI, 30/27f (bes. 31/24) (BDS IX/1, 355/1 und 355/25), dazu hier im folgenden. 142 ARC VI, 31/10f (BDS K / 1 , 355/12f). 143 Vgl. ARC VI, 37/14 (BDS IX/1, 373/32). 144 Vgl. ARC VI, 31/16-18 (BDS IX/1, 355/17-19). 145 Vgl. ARC VI, 31/23-32/3 (BDS IX/1, 355/24-357/23). 146 Vgl. ARC VI, 32/8-29 (BDS IX/1, 357/28-359/16). 147 Vgl. ARC VI, 32/25 (BDS IX/1, 359/12f). 14 ' Vgl. ARC VI, 32/39-41 (BDS IX/1, 359/25-361/1) und 33/42-34/4 (BDS K / 1 , 369/21-26). 141

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niert; 2. die gratia iustificans, die vor Gott angenehm macht, wobei dieser dazu den Glauben gewährt, der die Herzen reinigt und denen den Geist schenkt, die seinem Wort zustimmen; 3. die gratia subsequens, die hilft, in uns Wollen und Vollenden zu wirken; 4. die gratia perficiens, die das in uns Angefangene vollendet und das ewige Leben schenkt.'49 Durch die Werke der gratia praeveniens nimmt die rechtfertigende Gnade nun ihren Anfang, und zwar im Gesetz, welches hinweist auf die concupiscentia und die corruptio und die multiplex praevaricatio in uns aufdeckt. Diese Entlarvung unseres Angeklagt-Seins bewirkt Zerknirschung und ist somit erstes Element der oben genannten ersten Rechtfertigung.150 Das Gesetz bzw. die Zerknirschung über die darin enthaltene Entdeckung des eigenen Sünder-Seins regt an zu einer Sehnsucht nach Rettung und zum Haß der impietas. Dabei tritt der Heilige Geist als Helfer auf, zur Erlangung der rechtfertigenden Gnade voranzuschreiten. Es erinnert ein wenig an das platonische Höhlengleichnis15', wie der Mensch Schritt für Schritt aus der Blindheit herausgefühlt wird in das klare und unverfälschte Schauen im Licht des Evangeliums."2 So ist Inhalt der geistgewirkten christlichen Evangeliumspredigt, die Macht und Kraft Jesu Christi als Sohn Gottes zu verdeutlichen. Wenn der Mensch ihn als Gottmensch betrachtet, kann er nicht anders als Vertrauen zu fassen in dessen vor den Machenschaften des Teufels bewahrende Allmacht.153 Dazu ist Gott Mensch geworden, um zum Opfer und darin zum Versöhner der gefallenen Menschheit zu werden.1" Hierhin gehört dann schließlich auch der Glaube, der Gott glaubt, die Wahrheit seiner Worte nicht anzweifelt; durch diese „temporaria fides"155 wird das Herz affiziert, aber nicht ergriffen in dem Sinne, daß es das Wort wirklich verinnerlichte; dieser Glaube kommt über das bloße Hören des Wortes und der Verheißung noch nicht hinaus.156 Gleichwohl ist er der Glaube, den der Heilige Geist zum rechtfertigenden Glauben vollendet, der der Verheißung bzgl. der Vergebung der Sünden vertraut. Entsprechend besteht auch der Unterschied zwischen Altem und Neuem Testament im Unterschied zwischen Buchstabe und Geist, das heißt nicht nur die Anklage des Gesetzes zu hören, sondern auch die im Evangelium verheißene Rechtfertigung zu schauen.157 Von diesem Glauben kann dann auch mit Fug und Recht gesagt werden, er sei „una et sola"15'. Nach einem ausführ-

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Vgl. ARC VI, 33/21-41 (BDS IX/1, 363/1-20). Vgl. ARC VI, 34/5-20 (BDS IX/1, 365/1-16). 151 Vgl. Piaton: Der Staat, Werke Bd. IV, bearbeitet von Dietrich Kurz, Darmstadt 1971, 514a-517a. 153 Vgl. ARC VI, 34/38-44 (BDS K / 1 , 367/10-16). 153 Vgl. ARC VI, 34/45-35/11 (BDS K/1, 367/17-27). 154 Vgl. ARC VI, 35/21-25 (BDS K / 1 , 369/7-11). 155 Vgl. ARC VI, 35/44 (BDS IX/1, 371/1). 156 Vgl. ebd. 157 Vgl. ARC VI, 36/17-39 (BDS IX/1, 371/18-373/14). 15 » ARC VI, 37/5 (BDS IX/1, 373/23). 150

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liehen Rekurs auf Bernhard und Augustin wird dieser Zusammenhang noch einmal auf den Punkt gebracht: „Cum ergo quaeritur, quomodo iustificemur iustificatione illa prima, respondendum est, nos iustificari gratis nullis praecedentibus meritis et sine operibus legis ,.."15'. Dabei beschränkt sich das „sine operibus" auf die Möglichkeit der Werke des Menschen vor der heiligmachenden Gnade und schließt die des Heiligen Geistes bzw. der gratia praeveniens nicht aus; auch das gratis exkludiert nicht den Willen des Menschen, der schließlich nötig ist, damit der Glaube die heilende Gnade annimmt, was ihn wiederum befähigt, das Gesetz zu erfüllen.160 So ist in Konsequenz dessen das Verdienst der ersten Gerechtigkeit eindeutig Christus zuzuschreiben, dessen Gerechtigkeit somit zur causa formalis unserer Gerechtigkeit wird.161 Diese Wohltat nimmt der Glaube an Christus an, der wirksam und also lebendig ist, aus den Ungerechten Gerechte macht und alles Gute wirkt. Hier wiederholt sich ein Gedanke, nämlich in diesem Sinne könne gesagt werden: „sola fide iustificamur"162. Anschließend wird die Wirksamkeit des Glaubens erläutert mit dem Bild von der Wurzel und den Früchten. Der durch die Liebe wirkende Glaube ist die Wurzel, die Werke des Glaubens und der Liebe sind die Früchte.163 Diese Früchte sind notwendig, ohne sie ist der Glaube leer, so daß zur Vermeidung eines naheliegenden Mißverständnisses in der Predigt immer auch auszuführen ist, daß „sola fide" meine nicht „sine caritate"164. Denn wiewohl in der Taufe die umsonst geschenkte Gnade angenommen wird, so bewirkt doch eben diese Gnade nicht nur ein Aufheben der Verfehlungen der Erbsünde, sondern auch eine Mäßigung der concupiscentia und darin dann ebenfalls ein Hervorbringen neuer geistlicher Tugenden, die empfänglicher machen für die Einsicht des Evangeliums und der darin enthaltenen Verheißungen.165 Denn wie das Bleiben der concupiscentia auch nach der Taufe feststeht, so steht infolgedessen fest, kein Mensch wäre, solange er lebt, völlig sündlos und bedürfte nicht mehr der iustitia Christi; das Gesetz Christi aber besteht darin, Gott zu lieben und den Nächsten wie sich selbst. Das bedeutet im Bekenntnis seines eigenen Sünderseins das Vertrauen an Gottes vergebende Liebe; es bedeutet aber eben auch, aus diesem Glauben an Gott und Christus zu leben, aus einer Partizipation am Reich Gottes und am zukünftigen Leben jetzt und hier dieses Reich Gottes

159 160 161 162 163 161 165

ARC VI, 38/37-39 (BDS IX/1, 379/11-13). Vgl. ARC VI, 38/41-39/4 (BDS IX/1, 379/15-20). Vgl. ARC VI, 39/5-18 (BDS IX/1,379/21-381/9). ARC VI, 39/22f (BDS IX/1, 381/14f). Vgl. ARC VI, 39/26-28 (BDS IX/1, 381/18-20). Vgl. ARC VI, 39/34-41 (BDS IX/1, 383/1-8). Vgl. ARC VI, 41/7-12 (BDS IX/1, 385/24-387/3).

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teilweise zu verwirklichen im eigenen Tun.1" Insofern kann von einer Rechtfertigung durch Werke gesprochen und können sie gelehrt werden, als dieses Ausdem-Glauben-Leben die Gerechtigkeit Christi in uns wachsen läßt und vervollkommnet.167 Und auch für diese Rechtfertigung gelten beide Elemente: mortificatio und vivificatio, deren Mitte der wirksame Glaube ist. Dabei geschieht die mortificatio in der Buße, die aus den Teilen Kreuz (Vernichten der Überreste der alten Sünde nach der Wiedergeburt) und Trauer (über das Übel der concupiscentia) besteht. Der Glaube - wiederum verstanden als aus dieser Sündenerkenntnis geborenes Vertrauen auf den Fürsprecher Christus - führt dann sofort in die vivificatio, die sich in den Werken des Geistes wie z.B. misericordia und patientia, besonders aber in der Caritas äußert.168 Die Werke, die dieser vivificatio entspringen, sind dann auch verdienstvoll, nicht freilich deshalb, weil sie für sich ausreichend wären, sondern weil Gott seine Werke in uns durch sein ungeschuldetes Wohlwollen krönt; sie bringen ferner mit sich eine „gloriatio conscientiae" und vervollkommnen unser Heil.16' Zurückzuweisen aber ist, die remissio peccatorum sei etwas anderem zuzurechnen als dem Verdienst Christi, der diese Werke überhaupt erst in uns wirkt und diese dann anrechnet; ebenso darf das Heil nur in dem lebendigen Gott gesucht werden und nicht in den Werken. Der Mensch erfüllt Gottes Gebote und das, was ihm gefällt, er strebt, aber empfängt letztlich von ihm.170 Somit ist es abschließend nicht „absurdum dicere, quod renati per huiusmodi opera fidei et caritatis sanctificentur et iustificentur."171 Dieser Glaube, der in der ersten Rechtfertigung angenommen wird und an Gott als Urheber alles Guten verweist, gibt Gott den Ruhm, nicht sich selbst; durch diesen Glauben lebt der Gerechte und sieht ein, daß er alles Gute von Gott empfangen hat, und erwartet das ewige Glück. Dieser Glaube ist das Mittel, mit dem der Übergang vom Tod zum ewigen Leben ermöglicht wird.172 Es fällt schwer, diese erste Fassung auch nur als den Versuch zu charakterisieren, eine Kompromißformel zwischen katholischem und protestantischem Rechtfertigungsverständnis zu finden. Zu deutlich sind die traditionellen Teile unverändert übernommen, zu klar erinnern manche Passagen an das, was bereits in der Betrachtung der Gutachten zur Confessio Augustana als tiefes Mißverstehen dessen zutage trat, was die Evangelischen mit ihrer Betonung des „sola 166

Vgl. ARC VI, 41/14-41 (BDS IX/1, 387/6-389/2). Vgl. ARC VI, 41/42-45 (BDS IX/1, 389/3-6). ,